Es gab gerade die Zeit um die vierte und fünfte Nachmittagsstunde an einem Märztage. Der Wirth vom Café Caesar stand hinter dem Buffet und zählte Geld. Das Klimpern und Klirren der Metallstücke klang deutlich zu dem Tische herüber, an dem Herr Dr. Adam Mensch und Herr Referendar Clemens von Bodenburg saßen. Bodenburg zog sich jetzt hinter den Figaro zurück. Nur ein Paar Gäste noch lebten da und dort im Lokal herum. Der Verkehr war im Ganzen geringfügig um diese Stunde.
Adam Mensch trank den letzten Schluck seines cognacgemischten Kaffees aus und rückte seiner Börse auf den Leib.
»Kellner!«
»Herr Doctor!«
»Bitte zahlen!«
»Jawohl!«
Der Kellner kam herangelaufen.
»Ein Kaffee – schwarz – und einen Cognac –«
»Vierzig Pfennige!«
Adam gab einen Fünfziger hin: »Bitte!«
»Danke sehr!«
Der Kellner, der sich seiner Zeitungen entledigt hatte und eben um das Buffet bog, stürzte wieder auf Adam zu, um ihm beim Anlegen behülflich zu sein.
»Danke!«
»Bitte!«
Da that sich die Thür des Café's auf und eine Dame trat herein, machte ein paar Schritte, blieb sodann stehen, wurde etwas verlegen, etwas roth, sah sich fragend um, ging noch einen Schritt weiter – und blieb wiederum stehen.
Das Buffet war jetzt leer, der Wirth zufällig abwesend.
Nun tauchte vom hinteren Raume des Café's der Zeitungskellner, ein kleiner,
beweglicher Gesell mit einem angenehm verkniffenen Gesicht, auf. Er trug eine Zeitung
in der Hand, die er der Dame übergab. Diese drehte sich, ohne ein Wort zu sagen, um
und verließ mit nicht ganz sicherem Schritt das Lokal. Adam bemerkte, wie sie von den
Blicken der meisten Gäste zuvorkommend hinausbegleitet wurde.
»Wer ist die Dame eigentlich –?« fragte Adam den Kellner, der noch immer in seiner Nähe stand und natürlich an der allgemeinen Aeugelei theilgenommen hatte. »Ich habe sie schon mehrere Male um diese Zeit hier gesehen«, fuhr der Herr Doctor fort.
»Ich glaube, Fräulein Irmer heißt sie – sie holt immer die Volkszeitung für ihren Vater – der hat nachabonnirt«, berichtete der Kellner.
»So! Danke schön! Adieu, Herr von Bodenburg!«
»Adieu, Herr Doctor!«
Adam Mensch ging langsam hinaus, Herr von Bodenburg sah ihm nach und schüttelte den Kopf. »Sonderbarer Kerl!« murmelte er. »Kellner, nehmen Sie das Schachbrett weg und bringen Sie mir noch – ach ja! ich wollte ja einmal Ihren Absynth probiren – also bitte! ...« rief der wackere Herr Referendar sodann laut.
»Ja wohl –!« –
Adam hatte vor dem Café nach rechts und links ausgeschaut, um die Spur von Fräulein
Irmer – »ja ja! so hieß sie doch –? hatte der Kellner nicht diesen Namen genannt?« –
wiederzufinden. Richtig! Da drüben ging sie. Nud jetzt bog sie um die Ecke. Sollte er
ihr folgen? Aber warum? Hatte er einen Grund dazu –? Ließ er
Einige Minuten später hatte der grübelnde Herr Doctor die Dame dicht vor sich.
Fräulein Irmer ging langsam, einförmig, beinahe schwerfällig. Sie wandte sich nicht
nach rechts noch nach links, gerade aufgerichtet trug sie den Kopf und mußte, wie
Adam aus ihrer Haltung schloß, stets in der Richtung ihres Weges vor sich hinstarren
– und doch über all' die Menschen, die vor ihr hergingen oder ihr begegneten,
hinwegsehen, unberührt von den lärmenden, zuckenden Schatten, mit denen das unstäte
Leben sie umgab. Adam
Nun fiel es ihm gerade ein, sich der Dame einmal bemerklich zu machen. Er ging hart an ihr vorüber, sah sie scharf von der Seite an und schritt ihr dann voraus. Jetzt blieb er vor dem Schaufenster eines großen Delicatessengeschäftes stehen und wandte sich auffällig um, als er annehmen konnte, daß Fräulein Irmer in seiner Nähe war. Er fixirte sie scharf und suchte ihr Auge festzuhalten. Die Dame streifte ihn mit einem kurzen Blicke und sah dann über ihn hinweg. Das ärgerte den Herrn Doctor ein Wenig. Er hielt sich jetzt in ihrer intimen Nähe und folgte ihr dicht auf den Sohlen. Fräulein Irmer wurde augenscheinlich unruhig. Der Kopf senkte sich und drehte sich in kurzen, harten Bewegungen, bald nach links, bald nach rechts. Sie hatte begonnen, von ihrem Begleiter Notiz zu nehmen.
Die Dämmerung wuchs. Die Schatten der auseinanderquellenden Nacht fielen dichter und dunkler. Jetzt flammten die ersten Laternen auf.
Eine Buchhandlung lag am Wege. Fräulein Irmer trat in den Laden, Adam Mensch folgte
ihr nach einigen Secunden. Er hörte, wie sich die Dame mit etwas belegt-ansgefranster
Stimme Eugen Dühring's
Adam bestellte flugs ein Exemplar desselben Werkes. Das mußte doch auffallen. Und es schien auch Fräulein Irmer aufzufallen. Sie wandte sich zu ihrem Nachbar um, schlug die braunen ernsten Augen groß auf ... und fragte mit ihnen eine stumme, tiefe Frage, auf die Adam nur eine gleiche, stumme Antwort wußte, die für ihn plötzlich nicht minder tiefen Inhalts war.
Das Werk fand sich natürlich nicht auf Lager. Der Gehilfe erbat sich die Adressen und versprach die Exemplare in spätestens acht Tagen besorgt zu haben.
»Hedwig Irmer – oder senden sie das Buch bitte direct an meinen Vater: Dr. Leonhard Irmer, Herderstraße 7 III ...«
»Danke verbindlichst, mein gnädiges Fräulein – soll geschehen! Und Sie, mein Herr –?«
»Dr. Adam Mensch, Gartenstraße 14 II ...«
Der Herr Doctor erhielt jetzt zwei verwunderte Blicke. Dem Gehilfen schien ein Mensch, der Adam Mensch heißen könnte, bisher unmöglich gewesen zu sein.
Auch Fräulein Irmer war betroffen. Adam gab ihren Blick mit einem diskret-ironischen Lächeln zurück. Die Dame wurde vorwiegend verlegen.
Nun wandten sich die beiden zum Gehen. Adam öffnete die Thür und ließ das gnädige Fräulein zuerst hinaustreten. Dann folgte er schnell.
Aber Adam ging noch immer dicht hinter der Dame. Man war allmählich in einen stilleren Stadttheil gekommen.
Plötzlich fand sich Adam an der Seite Fräulein Irmers vor! Er stutzte einen Moment, verstand sich nicht und ... fragte schließlich, indem er etwas linkisch und rathlos den Hut zog: »Erlauben Sie, mein gnädiges Fräulein, daß ich Sie –«
Keine Antwort.
»Verzeihen Sie, mein Fräulein – aber Sie werden unschwer – –«
»Ich verstehe Sie nicht, mein Herr! Was wollen Sie? – Verlassen Sie mich! –«
»Noch einmal – verlassen Sie mich – ich ersuche Sie dringend – oder ...«
Adam war plötzlich sehr selbstbewußt und trotzig geworden. Er betippte nachlässig
seinen Hut, wandte sich ab, ging einige Schritte zurück, stampfte einmal recht
erbittert aufs Pflaster und lachte sehr indignirt. Was nun? Er drehte sich noch
einmal um. Und es dünkte ihn, als ob Fräulein Irmer recht langsam ginge – zudem –
zudem noch gar nicht so besonders weit entfernt von ihm wäre – sollte sie doch –
sollte er – – aber nein! – nichts da! – Unsinn! – – – Adam schob sich entschlossen
wieder um und wanderte nach Hause. Nach einer halben Stunde stieg er die Treppen zu
seiner Wohnung empor. Die Glieder waren ihm schwer und die Schläfen schmerzten wieder
heftiger. Und es fiel ihm ein, daß man doch im Grunde kaum Herr seiner Handlungen
ist. Plötzlich, im wahren Sinne »unvorbereitet,« hatte er vor einer kleinen Weile vor
Fräulein Irmer gestanden. Wie war er an ihre Seite gekommen? Urtheil – Vorstellung –
Willensimpuls – Coordinationscentren – Muskelcontraction – – – Alles Blech! Adam
wußte nur, daß man einmal ebenso »unvorbereitet« eine ... Waffe in der Hand haben
könnte – – und daß man unter Umständen schon nicht mehr sein könnte, ehe man es
überhaupt bewußt gewollt hatte. Aber ... aber aus dem Leben gehen, ohne ... Hedwig
Irmer – hm! – ohne! – ja! was denn: »ohne?« – ohne –
Grauschwarze Dämmerungsflocken lagen im Zimmer. Es pochte. Die Wirthin erschien, die flammende Lampe in der Hand. Nach einer kleinen Frist: – »Sie sehen recht blaß aus, Herr Doctor –«
»Hm!« –
Wie einer seiner Vorfahren eigentlich dazu gekommen war, sich schlechtweg »Mensch« zu
nennen oder zu einem derartigen Besonderheitsmenschen sich ernennen zu lassen, hatte
Adam wirklich nicht ergraben und ergründen können. Ja! Er hatte sich alle Mühe
gegeben, sotanes Geheimniß zu entlarven, und manche Stunde war darüber vergrübelt
worden. Uebrigens gefiel ihm sein Familienname, dieser Name, der das Moment des
Typischen und des Individuellen so intim vereinigte, der ebenso originell und
tiefsinnig, wie gewöhnlich, oberflächlich und trivial war, gar nicht übel. Und nicht
übel paßte objectiv und behagte seinem Besitzer auch subjectiv der Vorname Adam –
»Adam Mensch«: eine originelle Idee seines Vaters war es doch gewesen, die
Familienüberlieferung, nach welcher jeder Erstgeborene den Vornamen Gottfried
erhalten sollte, zu durchbrechen und seinen Erstling »Adam« zu taufen! Manchmal war
der Name seinem Träger allerdings mehr eine Last, denn eine Lust gewesen: zu den
Zeiten, da er die Volksschule seiner kleinen Vaterstadt besucht und mit Kameraden auf
einer Bank hatte sitzen müssen, die an sich wohl
Adam war in engen, drückenden, rohen Verhältnissen aufgewachsen. Sein Vater,
Gottfried Mensch, hatte einen Bäckermeister vorgestellt. Ein Mann, verschwommen an
Leib und Geist, eigenwillig, aufbrausend, unstät in Stimmungs- und Willensgegensätzen
lebend, von schnurrigen Einfällen behaftet, nicht ohne eine gewisse Eigenart und
Kraft, aber ohne die Sicherheit, ohne die Lebensgarantie der Beschränktheit. Er hatte
sich in seiner Natur ausgelebt – das heißt: er hatte nach Welt und Menschen nicht
viel gefragt und nur dem bunten Bündel seiner Neigungsströme gefröhnt. Dabei war das
Geschäft natürlich heruntergekommen – und unbewußt, naturgemäßig-nothwendig, im
Besitze des Muthes, Alles gehen zu lassen, wie es geht, und
Nach dem Tode des Vaters hatte der Bäckergeselle Karl Salge den Kopf ordentlich in
die Höhe gereckt und sich an's Meisterspielen gemacht. Das
Und nun kam die lange, drückende, ausmergelnde Leidenszeit Adams. Wie engten ihn die Schulwände ein! Wie gaben sie ihm so blutwenig Luft und Licht und Freiheit und Wind! Wie langsam schleppten sich die Jahre hin – und wie viel Fleisch von todten, crepirten Fischen wurde ihm als Geistesspeise zum Hinunterschlingen vorgesetzt! Wie oft mußte er sich verleugnen, sich demüthigen, zu Kreuze kriechen, um die Brosamen nicht zu verlieren, die man ihm bewilligt hatte – und die man ihm Jahre lang so gern und so freudig gab!
Aber die Stunde, da dieses Zusammenleben mit dem Buchstabendogma der Kirchenlehrer,
dieses Erkaltenmüssen in den todten Schnee- und Eis- und Gletscherregionen der
galvanisirten Antike Ciceros und Vergils aufhörte, sie kam doch. Und nun sprang das
Thor auf – und der Mulus lief wie wahnsinnig vor Freude im ostwindverkühlten
Sonnenschein der jungen Märztage herum ... und dachte nicht daran, daß er doch
eigentlich verdammt wenig Aussicht besäße, ein rechtschaffenes Burschenleben auf der
Universität führen zu dürfen. Der Glückliche, der mit Patent entlassene Sträfling,
dachte nicht daran, daß
Und die Stunden, Wochen, Monate und Jahre kamen und gingen – und Adam Mensch
durchlebte sie: ein Sclave seiner Armuth und ein Freier zugleich. Die große Fluth des
Lebens umbrandete ihn. Aber er hatte kaum einen Platz an der Tafel dieses Lebens.
Durch Ertheilen von Privatunterricht verdiente er sich nothdürftig die paar Kreuzer,
die dazu gehörten, um ihn überhaupt über Wasser zu erhalten. Manchmal, wenn es ihm
gar zu heiß in der Brust wurde, sprang er mitten ins Leben hinein und spielte trotzig
va banque. Dann staunte er wohl auch dieses so bunte, so verwickelte Leben an, und es
dünkte ihn bisweilen gar nicht so schwer, Fuß in ihm zu fassen und auf all das
tausendfältig Kleine und Besondere, das sich nun plötzlich vor ihm aufrollte,
liebevoll einzugehen. In Stunden des Taumels riß er ein verlorenes Weib an seine
Menschenbrust und lachte und schwelgte und weinte mit der Armuth und mit der Schmach.
Sein
An dem Progymnasium einer kleineren Provinzialstadt absolvirte er sein Probejahr.
Hier wurde das Maß voll. Adam konnte durchaus nicht begreifen, warum er seinen
Schülern außer den interessanten Anfangsgründen der lateinischen Syntax auch noch die
Schönheiten alttestamentlicher Mythen, Märchen und mindestens sonderbarer
Opfergeschichten zu Gemüthe führen sollte. Zudem ekelten ihn die kleinen und engen
Verhältnisse dieser lobesamen Spießerwelt unbeschreiblich an. Und so schnitt er das
Tafeltuch zwischen sich und einer soliden, gesicherten Zukunft entzwei – einer
Zukunft, welche so gern eine der reizenden Honoratiorentöchter des
Hm! So war er denn wirklich ein »moderner« Mensch geworden. Und so saß er zu dieser
Stunde dort auf dem Sopha, zog seine Virginia-Cigarette mechanisch durch die Lippen,
gab den Qualm mechanisch von sich, preßte ab und zu Zeige- und Mittelfinger der
linken Hand gegen die linke Seite seiner Schläfen und dachte manchmal an Hedwig
Irmer. Wie dumm ihm jetzt die Geschichte vorkam, die er vor kaum einer Stunde mit
dieser Dame in Scene gesetzt! Nein! Er wußte es: er besaß kein ... wenigstens noch
kein tieferes Interesse für dieses Weib ... Ob er wohl jemals in den Besitz dieses
»tieferen Interesses« für Fräulein Irmer gelangen würde? Kaum ... Er konnte sich
allerdings nicht trauen. Zuweilen überraschte ihn sein sonderbar complicirtes Ich mit
Thatsachen, die ihn in Erstaunen setzten. Er hätte eigentlich immer en vedette sich
gegenüber sein müssen. Doch vorausbestimmen konnte er absolut Nichts. So mußte er
sich denn eben überraschen lassen. Besaß er Ellenbogen? O ja! Aber er gebrauchte sie
nicht, sich Platz auf der Welt zu verschaffen. Wollte er sie nicht dazu gebrauchen?
Hm! War er blasirt? Gâté? Nein! Nein! Er kannte ja das Leben noch kaum. Es war ja
eigentlich noch gar nicht so lange
Hedwig Irmer war die drei Treppen zu ihrer Wohnung langsam emporgestiegen. Sie hatte
beim Hinaufgehen öfter inne halten, öfter stehen bleiben und Athem schöpfen müssen.
Was war ihr nur? Es lag ein Druck auf ihr, den sie sich nicht erklären konnte.
Schreckte sie auf einmal zurück vor der Enge, Einförmigkeit und Kärglichkeit der
Existenz, die sie mit ihrem halb gelähmten, halb blinden, schwerhörigen Vater führte?
Nun schon seit Jahr und Tag führte? Sie kam wieder einmal draußen aus der Welt. Wohl
war sie im Grunde sehr gleichgültig durch diese sie umflirrende Welt gegangen. Sie
besaß nicht das Talent, sich in die Herzen der Menschen hineinzudenken. Sie hatte
nicht das Bedürfniß, hinter jeder Gesichtsmaske ein Schicksal zu suchen. Sie dachte
an die Menschen eigentlich kaum, sie dachte kaum an sich, sie lebte nur auf,
bestätigte sich nur, wenn sie mit ihrem Vater in intim-wissenschaftlichen, zumeist
philosophischen Verkehr trat. Eine tiefere Tendenz ihrer Natur stellte dieses ernste
Studium allerdings auch nicht dar. Sie mußte sich oft zwingen, zu den Büchern zu
greifen, wenn nicht eine
Hedwig hatte auf dem schmalen, engen, von
In seinem Sessel vor dem Schreibtisch sitzt Doctor Leonhard Irmer. Er hat sich
zurückgelehnt, der Kopf hängt ein Wenig der Brust zu, die Arme liegen auf den Lehnen
des Sessels. Die Augen zumeist halb geschlossen, blinzelnd, öfter ganz überlidert.
Das gedämpfte Licht der mit einem grünen Schirm bedeckten Lampe fällt auf sein
Gesicht. Dieses Gesicht hat einen großen, fesselnden Zug, einen außergewöhnlichen
Stil. Leidend, sehr leidend erscheint
»Guten Abend, lieber Papa!« Hedwig begrüßt ihren Vater mit angenommener Munterkeit.
»Guten Abend, mein Kind! Du bist recht lange heute ...« Herr Doctor Irmer spricht langsam, schleppend, halblaut, undeutlich. Mehr mit den Lippen, denn mit dem inneren Munde.
»Findest Du, Papa? Ich bin etwas langsam gegangen – mag sein! Hier ist die Volkszeitung. Soll ich Dir jetzt vorlesen oder nach Tisch? Das Buch von Dühring war nicht vorräthig. Ich habe es bestellt. In acht Tagen werden wir's haben. Brauchst Du's zu irgend einer Arbeit? ...«
Der Vater schüttelt den Kopf.
»Na! dann schadet's ja nichts! Dann können wir ja warten. Emma holt wohl ein zum Abendbrot? Schmerzt der Kopf noch so, Papa? Wenn Du Dich nur entschließen könntest, wieder einmal eine Straße zu gehen – die ewige Stubenluft thut Dir nicht gut –«
»Morgen vielleicht ... morgen, Hedwig ... Ich möchte Dir eigentlich noch vor Tisch
... vor Tisch
Hedwig rückt sich einen Stuhl neben den Sessel ihres Vaters, faltet die Zeitung auseinander und liest zuerst die Telegramme.
Vater und Tochter haben mit der Zeit ein eigenthümliches Verhältniß zu einander gefunden.
Irmer ist ein hoher Fünfziger, Hedwig dreiundzwanzig Jahre alt. Sie hat sich,
allerdings mit einer gewissen Aeußerlichkeit, in die Anschauungen ihres Vaters
eingelebt, sie hat es gelernt, sich seinen Gewohnheiten zu fügen. Sie ist seine
Gehilfin, seine Schülerin, seine einzige, zuverlässige Lebensstütze geworden. Die
Stürme ihrer Seele sind vorüber, ihr Blut ist todt, sie braucht sich nicht mehr zu
bezwingen, sie kann alles mechanisch, alles hübsch automatenhaft bewältigen. Ihr
Vater fragt nicht viel darnach, ob sie sich zur gläubigen, wirklich überzeugten
Anhängerin entwickelt. Er besitzt den Egoismus des Kranken, des Leidenden, des
Hülflosen. Er lebt ganz in der Welt seiner Gedanken. Die andere Welt, der Mutterboden
der geistigen, dünkt ihn so ziemlich verschollen. Die Sphäre der Idee hat für ihn
fast etwas Körperliches, formell Reales angenommen. Er sinnt über die Räthsel der
Dinge nach. Er sieht, denkt, träumt, visionirt, combinirt, gewinnt. Nichts ist ihm
das Individuum mehr.
Hedwig hat keine Neigung, sich über ihren Vater zu wundern. Sie hat eben überhaupt keine Neigungen mehr. Liebt sie ihren Vater? Er erhält sie, sie darf bei ihm wohnen, zusammenwohnen mit ihm in den wenigen, engen Räumen, für die er den Miethszins nothdürftig zusammenarbeitet. Ein paar Heller sind ihnen noch aus früheren, volleren, runderen Zeiten geblieben. Die beiden Leute kommen einigermaßen aus. Hedwig kann sich sogar noch ein »Dienstmädchen« halten.
Es ist ein farbloses, eintöniges Leben, das sie lebt. Wird es ihr öfter nicht doch zu
Sinn, als müßte sie aufspringen, einmal laut ... laut aufschreien – aufschreien, wie
Jesus, ehe er am Kreuze verreckte – und dann hinausstürzen aus dieser lähmenden Enge
– irgendwohin – irgend Etwas, von dem sie sich beängstigend-unklar bezwungen fühlt,
befriedigen –? In dieser dämonischen Oscillation sich ausleben? ... Wird es ihr also
nicht öfter doch zu Sinn? Nein! Sie kann sich nicht erinnern, von solchen elementaren
Erschütterungen heimgesucht zu sein. Vielleicht dann und wann einmal ein jähes
Aufzucken – mehr war's nicht – nein! mehr nicht. Manchmal sagt sie sich ganz klar und
vernunftsmäßig: dies und das im Leben müßte doch eigentlich auch für mich noch
Hedwig ist bei dem Verzehren ihrer Sardellenleberwurst und bei dem Hinunternippen
ihres Glases Dresdener Tafelbiers sehr schweigsam gewesen. Sie hat ihrem Vater die
Bissen zurechtgeschnitten und selbst sehr mechanisch die Speisen zu sich genommen.
Nun streicht sie sich mit der Serviette über den kleinen, feinlippigen Mund und
schellt. Emma tritt ein und deckt ab. Herrn Doctor Irmer ist es nicht aufgefallen,
daß seine Tochter während des Essens so verschlossen gewesen. Ihm ist es sehr
gleichgültig, was für Selbstbetrachtungen sie anstellt. Er ist, ohne daß er es
eigentlich weiß, so verbissen in seine Art, geistig abgelöst, hinweggesondert, zu
existiren, daß er kaum mehr im Stande, die leichteste Spur eines subjektiven
Zwiespalts zu vermuthen. Wenn es ihm gerade einfällt, bestätigt er sich, daß er durch
seine Philosophie seiner Tochter das innere Gleichgewicht, das sie einmal verloren
hatte, wiedergegeben. Und er fügt wohl unwillkürlich noch als Ergebniß
In den nächsten Stunden liest Hedwig ihrem Vater einige Kapitel aus Hartmanns »Phaenomenologie des sittlichen Bewußtseins« vor. –
Gestern um die Mittagsstunde, als Adam eben zum Speisen gehen wollte, war er mitten
auf dem Marktplatze Herrn Traugott Quöck in die Arme gelaufen. Sapristi! hatte sich
dieser Mensch doch gefreut! Adam hätte es gar nicht für möglich gehalten. Er war
beinahe ganz entsetzt gewesen über diese Freudensprünge und Hühnerhundscapriolen.
Hatte er dem Manne denn jemals Gelegenheit gegeben, ihn für einen approbirten
»Freund« von sich, wenigstens für einen »Freund seines Hauses,« zu halten –? Ih
bewahre! Keine Spur! Es giebt Leute, die aus ehrbarer menschlicher Lebenslangeweile
immer guter Dinge, immer in der besten, weltfreundlichsten Laune sind. Traugott Quöck
gehörte nicht ganz zu diesen Stoikern des Optimismus, aber doch sehr theilweise. Er
war halb und halb mit der Couponscheere auf die Welt gekommen. Das giebt gewiß ein
ganz nettes und bequemes Rundreisebillet durch's »menschliche Leben« ab. Traugott
Quöck sen. war in einer sächsischen Provinzialstadt Tuchmacher gewesen, hatte es aber
in den letzten Jahren seines gesegneten Erdenwallens fertig gekriegt, sich zum
»Fabrikanten« umzuzüchten
Traugott Quöck sen. besaß einen Sohn, an den er »viel drangewandt« hatte, das heißt: Viel Geld, viel Mühe, Geduld, Lebensspesen, Nachsicht – und schließlich war es ihm auch nicht darauf angekommen, ein kleines Bündel unerfüllt gebliebener Hoffnungen an seinen eingeborenen Filius noch extra »dranzuwenden«. –
Nach dem Tode seines Vaters hatte es Traugott Quöck jun. für nützlich befunden, sich
schon in jüngeren Läuften seines angenehm gesicherten Lebens zum jovialen Menschen
heranszufexen. Er hatte die »Fabrik« seines Vaters, deren Mitinhaber er ein paar
Jahre hindurch formell gewesen, nach dem Tode ihres Begründers schleunigst verkauft,
war in die nächste größere Stadt versiedelt – und »verwaltete« nun sein Vermögen,
»spekulirte« ein Wenig zum Zeitvertreib, war Mitglied einer bierbräulichen
Aktiengesellschaft – er saß sogar in ihrem »Verwaltungsrathe«! – und genoß im
Uebrigen sein Leben harmlos, einfach, bescheiden, gemüthlich, höchstens mit einem nur
ganz kleinen, nur ganz spröden Stich in's Raffinirte, befriedigte zeitweilig, wie es
gerade kam, auch seine »geistigen Bedürfnisse«, ging 'mal in's Theater, 'mal in's
Concert, unterstützte mit Vorliebe einen Verein, der es sich angelegen sein ließ, für
Vermehrung der öffentlichen Aborte und Retiraden Sorge zu tragen, trug einen
Allerdings! in den letzten sechs Wochen war Adam Mensch nicht dazu gekommen, in die gastfreundliche Burg seines »jovialen Freundes« einzukehren, dieses Mannes, der schon seit erklecklicher Zeit gerade in seinen »besten Jahren« stand und vermuthlich noch in Zukunft eine beträchtliche Weile also weiterstehen würde.
Hatte Adam irgend ein ernsteres Etwas von dieser »Einkehr« zurückgehalten? Nein. Er
erinnerte sich nicht. Aber das Leben reißt so hin und her, verzettelt, verkrümelt und
zerkrümelt so, ist so bei der Hand mit dem Entwegen, Verschieben,
»Um Gottes Willen –«
»Was erschrecken Sie denn so –? Werden mir noch dankbar sein. Das heißt, lieber Doctor –: Sie sind in gewissen Dingen 'n kleener Schwerenöther, ich weiß wohl – aber hier – –«
»Sie haben die Vorhand, Herr Quöck – versteht sich! – versteht sich! – wir mogeln
grundsätzlich
Adam erinnerte sich wirklich nicht mehr, bei welcher Gelegenheit er Herrn Quöcks Bekanntschaft gemacht hatte. Ein ganz nettes Zeitweilchen war's immerhin doch schon her. Aber das war ja jetzt sehr schnuppe. Der »Zufall« ist ein so gediegener, ein so zuverlässiger Improvisator. –
Es war also heute Samstag Abend um die achte Stunde. Adam Mensch hatte sich natürlich ein Paar neuer Glacés erstanden, die er mit großem Behagen, mit großer Selbstgefälligkeit über seine weißen Hände zog, als er die Treppe hinunterschritt, um gen Quöck-Heim zu wallfahrten. Der Herr Doctor trug leidenschaftlich gern Glacéhandschuhe. –
Es gab viel Unrast und Bewegung in den Lüften. Die Zeit lief wieder einmal dem
Kalenderfrühling in die Arme – und dabei war einiger Windrumor, verschiedentliches
Stürmen und Blasen und Pfeifen unumgänglich nothwendig. Aber die Temperatur war noch
kaum angelenzt. Der Wind kalt, schneidend, stechend, als wirbelte er kleine, spitze
Eiskristalle durch die Luft. Es hatte am Nachmittage geregnet, und große Pfützen
standen auf den Straßen. Das Pflaster hatte ein sehr schmieriges, breiiges, klebriges
Gesicht aufgesteckt. Die Gasflammen zuckten nervös in ihren Glaskäfigen hin und her
und spiegelten sich unruhig in den Pfützen wieder. Am Himmel war schläfrigdämmernde
Adam sagte sich, daß dieser Aufruhr in der Natur ein köstliches Frühlingssymbol sei. Und doch dünkte ihn dieser stechende Stecknadelwind impertinent. Er klappte den Kragen in die Höhe und schob die frierenden Hände resignirt in die Rocktaschen. Ja! Es gehörte ein sehr biegsamer und an's Pariren gewöhnter »Wille« dazu, um an dieses Frühlingssymbol glauben zu können.
Adam schlug den Rockkragen wieder nieder und drückte auf den Knopf der elektrischen Klingel. Das Gaslicht lag dick auf dem gelben, funkelnden Metallschild, das den Namen »Traugott Quöck« eingravirt trug.
Ein Diener öffnete. Er complimentirte den Ankömmling in den Vorsaal hinein und war ihm beim Ablegen des Ueberziehers behülflich. Dann stieß er die Thür zum Salon auf.
Adam trat ein. Herr Quöck schnellte von einem Fauteuil auf und eilte seinem Gaste entgegen.
»Willkommen, Herr Doctor –«
»Guten Abend, Herr Quöck –«
»Darf ich Ihnen meine – ich sagte ja Ihnen gestern schon – Sie werden sich erinnern – also meine Cousine – Frau Lydia Lange – vorstellen –?«
»Herr Doctor Mensch –«
Adam verneigte sich sehr ceremoniell. Die Dame nickte kurz.
»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Doctor? –«
»Wenn Sie gestatten –«
Adam warf sich in einen Fauteuil. Er knöpfte seine Glacé's auf und sah zu der Frau hinüber, die näher getreten war und jetzt am Sophatisch stand.
Hm! Frau Lange besaß allerdings Etwas, das – gewiß! das »eigenthümlich« war, das interessiren, das unter Umständen sogar – hm! – sogar –
»Na! nur nicht gleich so hitzig!« bremste Adam seine schmunzelnde Zufriedenheit fest
... und gestand sich nun eine volle, die durchschnittliche Mittelgröße ein Wenig
überragende Gestalt; einen, wie die Dame so dastand, durch kleine, runde, gelenke
Bewegungen mit den Armen, mit dem Kopfe, Elasticität und Geschmeidigkeit verrathenden
Körperbau; eine prachtvoll durch das Corset zu eleganter Wölbung herausgecurvte
Brust; volle, warme Arme, die durch das glatt und eng anliegende Kleid entzückend
bestimmt hervortraten – einen breit und gebärtüchtig sich ausladenden Unterkörper –
»allerdings! derartige Frauen sind sehr oft unfruchtbar« – – und schließlich ein,
wenn auch nicht gerade »durchgeistigtes,« so doch sehr regelmäßiges
»Das ist also unser berühmter ›Proletarier des Geistes‹ – sagtest Du nicht, liebe Lydia, daß Du Dich für den Ul-k – – pardon, Herr Doktor! – interessirtest? Ich erzählte Dir doch neulich davon ... nicht wahr – der Herr Doctor sieht gar nicht so proletarierhaft aus, gar nicht so ...? –«
Frau Lydia Lange und Adam Mensch sahen sich scharf in die Augen. Dann rümpfte die Dame ein Wenig das feine Näschen und meinte leichthin:
»Es kommt so oft vor, daß man in Wirklichkeit doch das ist, was man sich – einbildet –«
»Aber Lydia –« wehrte Herr Quöck mit poussirlicher Erschrockenheit ab.
Adam war einen kleinen Augenblick verblüfft. Auf eine derartige ... hm! immerhin paradoxe Conversation war er kaum gefaßt gewesen. Dann verzog er den Mund zu einem nachsichtig-ironischen Lächeln und parirte ab:
»Sie haben so Unrecht nicht, gnädige Frau. Aber ich möchte mir eine Lanze, sogar eine
›warme‹ Lanze, wie man zu sagen pflegt, für die andere Seite Ihrer
Behauptungsmedaille – ›wie geschmacklos!‹ dachte er bei sich, als ihm diese nette
›Metapher‹
Herr Quöck that sehr verwundert über diese Art von Unterhaltung. Die Beiden schienen ja sogleich beim ersten Sichbegegnen sehr energisch Notiz von einander nehmen zu wollen. Er blickte erst zu Adam hinüber, dann wandte er sich, eine stumme Frage in den Augen, zu seiner Cousine hin.
Diese mußte auch ein wenig erstaunt sein. Wagte ... wollte ... dieser – nun ja! der Herr hieß ja curios genug thatsächlich »Mensch« – – also wagte ... wollte' dieser – Mensch ihr eine ... Impertinenz sagen? Das wäre doch unerhört gewesen –
»Sie meinen damit, Herr Doctor –?« kam es darum sehr indignirt von ihren Lippen.
»Nun ... ich meine damit, gnädige Frau, um mich Ihrer Urtheilsart an–zu–schließen – – noch einmal, wenn Sie gütigst gestatten, anzuschließen – – ich meine damit, daß es Individuen giebt, die zu viel ... und zumeist zu viel innerlich erlebt haben, als daß sie nicht so weit ... also so weit unklar über sich sein sollten, um das zu behaupten, wofür sie keine direkten Beweise besitzen ...« redete sich Herr Doctor Adam Mensch sehr dunkel aus und zwar, indem er sehr langsam, sehr gedehnt sprach ...
Frau Lydia Lange war wie verwandelt. Sie lachte hell auf, zupfte unruhig an ihrer
Uhrkette
»Ich eigentlich auch nicht, gnädige Frau –« versicherte Adam treuherzig. Er mußte nicht minder lachen.
Traugott Quöck sah ziemlich verdutzt aus. Da öffnete sich die Thüre zum Nebenzimmer und Frau Möbius trat über die Schwelle. Adam begrüßte die Dame und erkundigte sich sehr theilnehmend nach ihrem Befinden. Die »alte Schachtel« war enorm gerührt.
»Es ist Alles so weit fertig, Traugott –« bemerkte sie nun zu ihrem Neffen – »wir könnten anfangen –«
»Schön, liebe Tante! Aber Du vergißt ganz – wir haben ja noch Fräulein Irmer und Herrn Referendar Oettinger geladen – – so müssen wir denn wohl noch einen Augenblick warten – ich denke: die Beiden kommen noch. Oder haben sie in letzter Stunde absagen lassen –?«
»Nein! – aber es ist schon so spät – und der Braten –«
»Die Geschichte wird ja immer famöser,« plauderte sich Adam zu und wollte sich einreden, daß er nicht im Mindesten verwundert wäre. Also kannte Herr Quöck auch Hedwig – das heißt –: jedenfalls ihren Vater –? Aber seit wann denn eigentlich –? Na! dös war nun halt 'mal so! da ließ sich Nix gegen machen – also 'mal zu, Kutscher, bis zur Pechhütte!
Die Klingel schlug an. Die Thür ging auf und ein ... Herr trat in den Salon. Herr Referendar Oettinger wurde den Anwesenden, soweit er ihnen unbekannt war, vorgestellt.
Herr Referendar Oettinger besaß im Ganzen sehr nichtssagende, sehr nichtsthuende Züge. Ein mattrothes, ziemlich volles, prahlerisch gesundes Gesicht. Das Haar mit zudringlicher, beleidigender Sauberkeit in der Mitte gescheitelt. Ein süßliches Gesellschaftslächeln um den unschönen, langweilig breiten Mund. In Kleidung und Haltung natürlich tadellos, natürlich »patent.« Ein discreter Moschusduft quoll von ihm aus durch den Raum.
»Fräulein Irmer bleibt aber wirklich etwas lange –« urtheilte Herr Quöck, der ziemlich hungrig sein mochte.
»Warten wir doch noch 'ne Sekunde! Wir werden doch nicht 'gleich verhungern –« schlug
»Sie kommen eben aus Italien, Herr Referendar –?« fragte Herr Quöck seinen Gast, weniger aus Theilnahme oder objectivem Interesse, als aus dem Bedürfniß heraus, sich über die peinliche Zwischenaktsfrist nach Kräften hinwegzutäuschen. Er hatte wirklich redlichen Hunger.
»Ja –! Das heißt – ich bin schon vier Wochen wieder in Deutschland ... Es war ja ganz nett jenseits der Alpen – natürlich! Aber es gab doch 'n Bissel zu viel – Schmutz ... Die Damen verzeihen, allein die Wahrheit über Alles –«
»Bravo, Herr Referendar!« rief Adam ungenirt. Ihm kam das Geständniß und zumal die Entschuldigungsphrase Herrn Oettingers überaus drollig vor.
Der platzte dem Bravorufer mit einem ungnädigen Blicke entgegen, in welchem Blicke allerdings zugleich ein verhaltenes Erschrockensein lag. Frau Lydia trug ein moquantes Lächeln um die Mundwinkel. Sie sah Adam an, der erwiderte ihren Blick. Und Herr Oettinger, welcher dieses Herüber und Hinüber der Augen bemerkt, schaute wirklich einen Moment lang rechtschaffen unzufrieden aus.
Der Märzwind schnob die Straße entlang. Das war ein wüthiges Brausen, als stünde das Herz des körperlosen Athemgottes in hellen Zornesflammen, als suchte er etwas Verlorenes, das ihm entwischt wäre ... und das er durchaus nicht wieder finden könnte ... durchaus nicht ...
»Das ist aber windig –« unterbrach Frau Möbius die Stille. Die alte Dame besaß entschieden das Talent, zur rechten Zeit sehr richtige Bemerkungen zu machen.
»Frühlingssymbol, gnädige Frau –!« erläuterte Adam scherzend.
Frau Lange verzog den Mund zu einem gegenstandslosen Lächeln.
»Es symbolt sich 'was, Herr Doktor –!« urtheilte Herr Quöck mit gezwungenem Gesichtsausdruck. Sein Hunger schien entschieden wieder ein tüchtiges Stück gewachsen zu sein.
»In Palermo hatten wir einmal – –« begann Herr Oettinger – da klang ein spitzes, scharfes Läuten auf.
»Das wird doch endlich Fräulein Irmer sein –« hoffte der Wirth des Hauses brummig.
Die Dame war es denn auch.
»Ich bitte um Entschuldigung, daß ich so spät komme – mein Vater – –« begann Hedwig,
als sie in den Salon getreten war und die Anwesenden kurz begrüßt hatte. Ihre Stimme
gab einen hastigen Stoß, im Ausdruck tief, monoton, etwas verschleiert, etwas heiser.
Frau Möbius stellte ihr die beiden Herren vor, die zum Souper mitgeladen waren.
Fräulein Irmer wurde ein Wenig verlegen,
»Nun darfst Du Deinen Willen haben, liebe Tante –« wandte sich Herr Quöck großmüthig zu Frau Möbius, die sich auch sofort nach dem Speisezimmer kehrte.
»Darf ich bitten –?« lud der Wirth seine Gäste ein.
Adam saß zur Rechten Herrn Quöcks, diesem zur Linken Herr Referendar Oettinger. Neben letzterem Frau Lydia, also Adam schräg gegenüber. Seine rechte Nachbarin war Fräulein Irmer. Frau Möbius, die kleine, purzlige Frau mit dem harmlosen Gesicht – der goldene Kneifer, den sie bald aufsetzte, bald wieder von dem Rücken der scharfgefalteten Nase herunterholte, nahm diesem Gesicht nichts von seiner blasigen Teigheit – Frau Möbius rundete die kleine Gesellschaft liebenswürdig ab.
Adam war vollständig ein Opfer der Situation geworden. Die Atmosphäre berührte ihn
außerordentlich sympathisch, stimmte ihn überaus einheitlich. Die Gegenwart Fräulein
Irmers dünkte ihn ausnehmend pikant, kam ihm wie das Vorspiel eines interessanten
Abenteuers vor – eines Abenteuers, das ihm ein tüchtiges Maß bunter Reize zuwerfen
mußte. Da stand etwas bevor, das ihn mit einer köstlichen Unruhe erfüllte. Und Frau
Lydia? Sie coquettirte doch ein klein Wenig mit ihm. Auch das schmeichelte ihm. Seine
Beziehungen zu ihr
Herr Quöck aß sehr tapfer drauf los. Der saftige Rehbraten mundete ihm vortrefflich. Die Ouvertüre: delicate grüne Erbsen mit Beilage, hatte er ziemlich unbehelligt vorübergehen lassen. Er schien sich an das Körperlichere halten zu wollen.
»Nehmen Sie Rum oder Rothwein zum Thee, Herr Doctor –?« fragte Frau Möbius Adam.
»Danke sehr, gnädige Frau! Ich habe mich schon mit Rum bedient –«
»Ich gieße mir immer Rothwein hinzu –« gestand Quöck.
»Und Sie, Herr Referendar –?«
»Auch ich, gnädige Frau, habe mir schon erlaubt, Rum vorzuziehen –«
»Wie geht es Ihrem Herrn Vater, Fräulein Irmer –?« fragte der Wirth des Hauses und schob ein ansehnliches Stück Rehrücken zwischen die Zähne.
»Danke, liebes Fräulein, danke –! Ich glaube, Ihr Herr Papa arbeitet zu viel ... er sollte sich mehr Ruhe gönnen ... das viele Denken strengt so an –«
»Mag sein, Herr Quöck – aber das ist nun einmal sein Leben – und ich glaube, man kann die Gesetze, nach denen sich ein individuelles Leben regelt, nicht ungestraft verletzen –«
Herr Quöck kaute gerade an einem etwas heißen Stück Bratkartoffel herum und konnte darum nicht sogleich zu Wort kommen. Adam wandte sich zu seiner Nachbarin hin –:
»– Wenn ich mich nicht irre, mein gnädiges Fräulein, hörte ich neulich – ich erinnere mich freilich nicht gleich, wo? –, daß Ihr Herr Vater auch – hm! auch Bücher zu schreiben pflegt –? – Ich huldige zeitweilig leider auch dieser tristen Praxis – es wäre mir darum ganz interessant und zudem eine hohe Ehre, Ihren Herrn Vater gelegentlich persönlich kennen lernen zu dürfen – ›Collegialität‹ ist zwar sonst nicht gerade –«
»Papa ist, wie gesagt, sehr leidend ... wir leben sehr zurückgezogen ... empfangen selten Besuche ... Papa ist so ungesellschaftlich geworden ... das ist ja natürlich ... Aber wenn Ihnen daran liegt, Herr Doctor – – ich werde Papa vorbereiten – –«
»Sehr liebenswürdig, mein Fräulein!« dankte Adam reservirt und wollte sodann fortfahren: »Der Werth des Lebens –«
Da fiel Frau Lange ein: »Pardon, Herr Doctor, wenn ich Sie unterbreche – ich – ich –«
Frau Lange wußte entschieden nicht recht, was sie eigentlich von Adam wollte in diesem Augenblick. Es schien ihr nur unbequem zu sein, ihn und Fräulein Irmer in ein ernsthafteres, längeres Gespräch kommen zu sehen.
Als Adam die Worte »– Werth des Lebens –« über die Lippen gebracht, war Hedwig zusammengefahren. Er wird doch nicht – – –
»Ja!« fuhr Frau Lydia fort, »Sie haben, Herr Doctor –«
»Darf ich Ihnen noch einmal Thee eingießen, Herr Referendar –?« fragte Frau Möbius an ...
»Wenn ich bitten darf, gnädige Frau – –.«
»Mir auch noch 'n Schluck, liebe Tante, ja –?« bat Herr Quöck.
»Recht gern, Traugott –«
»Ich mache Ihnen mein Compliment, gnädige Frau,« hub Herr Oettinger an, »– Ihre Küche ist vorzüglich! Ich habe selten ein so delikates Stück Fleisch – –«
»Uebrigens,« wandte sich Lydia an Adam – »sagen Sie, Herr Doctor: – sind Sie denn immer so ... so steif ... so ceremoniell –? Ich hörte zufällig vorhin, als Sie zu Fräulein Irmer – Sie geben ja in der That keinen einzigen ... wie soll ich sagen –? keinen ... keinen einzigen Naturlaut von sich –.«
Adam war ein Wenig verblüfft. Er reichte gerade die Schüssel mit Bratkartoffeln seiner Nachbarin hin.
»Immer so –?« wiederholte er befangen-mechanisch. Er wußte nicht sogleich, was er antworten sollte.
Lydia lachte hell auf: »– Aber, Herr Doctor–«
»Aber, Lydia –!« monirte verlegen-unwillig ihr Vetter.
Herr Oettinger schmunzelte. Um diese süße Freude über Adams kleine Abfuhr ein Wenig zu verhüllen, griff er schnell nach seiner compote mêlée ...
Adam hatte sich gefaßt. Er schlug die Augen groß auf und sah scharf zu Lydia hinüber. Dann kniff er den Blick etwas zusammen – und während ihm ein wegwerfendes Lächeln Mund und Nase umkräuselte, fragte er seine schöne Gegnerin: »Wollen Sie es dem Schornsteinfeger verdenken, gnädige Frau, daß er sich zuweilen ... wäscht –?«
Fräulein Irmer blickte ihren Nachbar erstaunt-erwartungsvoll von der Seite an. Was meinte er damit –?
Der Herr Referendar hielt das Gesicht gebeugt und stocherte mit dem kleinen Löffel in seinem steifschleimigen Fruchtbrei herum. Seine rosigen, wohlgepflegten Fingernägel glänzten.
Adam legte Messer und Gabel über seinen Teller und lehnte sich zurück. Er sah Frau Lydia herausfordernd an.
Herr Quöck blickte bei seinen Tischgästen fragend herum und machte sich dann an das Geschäft, seinen goldgelben Rüdesheimer zu verschenken.
»Pythius –!« warf Lydia provokant hin.
»›Pythius‹ –?« – Adam lachte. »Nein! gnädige Frau scherzen ... Ich weiß ganz genau, was ich will ... was ich gesagt habe ... Uebrigens gestehe ich recht gern zu, daß Ihnen meine Worte weniger dunkel –«
»Heraklitisch dunkel –« warf Herr Oettinger ein.
»Ganz Recht, Herr Referendar! ... also ›heraklitisch‹ dunkel und räthselhaft erscheinen würden, wenn ich die Ehre genösse, von Ihnen näher gekannt zu werden –«
»Na! Dazu kann ja eventuell noch Rath werden –« äußerte Lydia offen und sah Adam groß und coquett- versprechend an. –
Hedwig machte ein ziemlich müdes und gelangweiltes Gesicht. Was wollten eigentlich
diese Leute von ihr –? Was gingen sie diese Menschen an –?
Die Gläser klangen zusammen.
Frau Lydia hatte ihren ›Kelch‹ zuerst an den Adams klingen lassen. Der lächelte ironisch. Dann wandte er sich auffallend seiner Nachbarin zu. Er begegnete ihrem müden, theilnahmslosen Blicke. Und er bemühte sich, diesen Blick festzuhalten und ihm damit ein eigenes Feuer, einen besonderen, selbständigen Werth zu geben. Plötzlich stieg ein leises, diskretwolkiges Roth in Hedwigs Gesicht.
Lydia, welche diese kleine, überflüssige Scene beobachtet hatte, war etwas pikirt und kehrte sich mit nervöser Plötzlichkeit zu ihrem Nachbar: »– Wie lange waren Sie in Italien, Herr Referendar –?«
Herr Oettinger, der soeben von seinem Weine getrunken, schluckte den köstlichen Tropfen hinunter, jedenfalls zu hastig für sein Gefühl, und antwortete: »Fünf Monate, gnädige Frau! Gerade genug, um die Schönheiten und, wie gesagt, auch – den Schmutz dieser Dorados der guten Nordländer kennen lernen zu können –«
»Fünf Monate –« wiederholte Lydia mechanisch und sah zu Adam hinüber, der zerstreut-gedankenvoll an seiner Serviette herumspielte.
»Wollen Sie nicht einmal von diesem Apfelsinencompot kosten –?« wandte sich Frau Möbius an Hedwig. Diese nahm dankend an, schöpfte ein paar Löffel des Nachtisches auf ihr Tellerchen und gab die kleine Terrine weiter an Adam.
»Wissen Sie übrigens schon, lieber Doctor –« hub er jetzt zu Adam Mensch zu sprechen an, »– daß meine verehrliche Frau Base auch – auch – schriftstellert – das heißt –«
»Bester Traugott –«
»Ich bin erstaunt, gnädige Frau –,« heuchelte Adam –: er wunderte sich doch ein Wenig, daß Herr Quöck manchmal so merkwürdig taktfest im gesellschaftlichen Lügenspiel sein konnte.
»Na! So schlimm ist das nicht –« gab Lydia lachend zu – »schwache Versuche, die –«
»Nette ›schwache Versuche‹, wenn man gleich 'ne ›moderne Bibel‹ schreiben will –« flüsterte Herr Quöck mit drolligem Geheimnißvollthun über den Tisch –
»Das ist ja außerordentlich interessant –« versicherte der Herr Referendar –: »eine ›moderne Bibel‹ –«
»Ja –? finden Sie?« fragte Lydia neckisch-boshaft.
»Auf Ehre, gnädige Frau –!«
»Ich habe einen Gedanken, liebe Cousine –« nahm Herr Quöck wiederum das Wort –
»Und das wäre –? Du hast, wenigstens so weit ich es vorläufig beurtheilen kann, so selten Gedanken, bester Herr Vetter – daß ich wirklich gespannt bin –«
»Sei doch nicht so ... so eigenthümlich liebenswürdig, Lydia – höre mich doch erst an
– vielleicht
»Na! – nur nicht böse sein, Vetter! Ich widerrufe ja gern, wenn – –«
»Also ... Ja! ... Wie wäre es, wenn Du im Verein mit ... Herrn Doctor Mensch Deine ebenso schöne wie tiefe Idee ausführtest –? Der Herr Doctor ist wohl, wenigstens soweit ich urtheilen darf – ich habe ja die Ehre, ihn schon seit mehreren Jahren zu kennen – also der Herr Doctor möchte Dir ein ganz famoser – verzeihen Sie gütigst, Herr Doctor, dieses etwas burschikose Beiwort – aber mein Jugendfreund Saldern gebrauchte das Wort öfter – und da habe ich es mir denn auch un poco – –«
»Ah! ›un poco‹! Süßer Laut der schönen Fremde –« fiel Herr Oettinger affektirt-pathetisch ein. Der Wein schien ihm die Zunge etwas schwippig gemacht zu haben.
»Also auch etwas angewöhnt – – ja! ... um den Satz endlich fertig zu bringen –« fuhr Herr Quöck fort – »ein ganz prächtiger Mitarbeiter sein ... Ich glaube nämlich ehrlich, daß das Buch Aufsehen machen – unter Umständen sogar einen sensationellen Erfolg haben würde, wenn es nur erst ... erst fertig wäre –«
Frau Lange sah zu Adam hinüber. Der war immerhin etwas betreten. Diese Wendung des
Gesprächs kam ihm zu unerwartet. Sollte das den
»Hm! ... hm! –« begann Lydia. Sie wunderte sich ein Wenig, daß Adam nicht sogleich freudig und hingerissen auf den Vorschlag einging. Das ärgerte sie.
»Ja! Ja! Der Gedanke ist ... ausnahmsweise wirklich nicht so übel ... Ich danke Dir, lieber Vetter ... nur fragt es sich, ob ... ob der Herr Doctor – ich – ich – gewiß! – mir behagt die Idee sehr ... sehr ... ich finde sie ganz ausgezeichnet, aber eben –«
»Na! Mir gefällt sie natürlich auch –« versicherte Adam brüsk.
Lydia stutzte. Der Ton, in welchem diese Worte gesprochen waren, mußte ihr auffallen. Sie wollte eben eine spitze Bemerkung loslassen – sie hatte allerdings vorläufig bloß das Gefühl, das thun zu müssen, ohne im Augenblick schon zu wissen, wie sie die Unart dieses ... unverschämten Menschen rügen sollte – als dieser, ein Wenig moquant-lächelnd, seine Worte wieder mit den alten Farben der steif-gespreizt-ironischen Höflichkeit zu bemalen begann –: »Vorausgesetzt natürlich, gnädige Frau, daß Sie es der Mühe für werth halten, mich intimer in Stoff und Motiv einzuführen –«
Sie reichte ihre kleine, fleischige, ringblitzende Hand über den Tisch zu Adam hinüber. Der brachte seine Finger mit der Sammthaut Lydias in eine vornehm-zurückhaltende Berührung. Frau Lange's Augen strahlten. Adam fragte scherzend –: »Theilen wir nun, gnädige Frau, die Arbeit systematisch–? Dann möchte ich mir das moderne neue Testament zur Bewältigung ausbitten –«
»Wie wir's anstellen – nun! das werden wir ja noch finden, Herr Doctor! Sie trinken vielleicht in den nächsten Tagen, wenn Sie über sich verfügen können, eine Tasse Thee bei mir –? Dann können wir ja das Problem in aller Ruhe einmal näher anschauen. Aber warum erbaten Sie sich vorhin das ›neue‹ Testament zur Bearbeitung –? Ist Ihnen das alte –«
»Das alte – hm! – das alte Testament, gnädige Frau, ist mir, wenn ich offen sein soll, ist mir ein Wenig zu ... zu semitisch ... Gewiß! es hat gewaltige, von der bewußten ›elementaren‹ Poesie strotzende Capitel – aber –«
»Ah! das freut mich, Herr Doctor! Sie scheinen auch Antisemit zu sein?« – fragte Herr
Oettinger
»Ob ich gerade regelrechter ›Antisemit‹ bin – ›Antisemit‹ mit allen Chikanen – – das – das weiß ich eigentlich nicht recht, Herr Referendar ... Aber ich glaube kaum ... Die Frage, die gewiß eine ›moderne‹ und zudem gewiß auch eine sehr ›brennende‹ ist, bedeutet bei mir weniger eine neutrale Angelegenheit des Intellekts mit dem Stempel der Selbstverständlichkeit – selbstverständlich aus wirtschaftlichen, politischen, socialen, philosophischen und tausend anderen ›Vernunfts‹-Gründen – als vielmehr eine Art von Herzensbedürfniß ... Meine Weltanschauung ist, den Haupttendenzen, der Polarität meiner Natur gemäß, eine vorwiegend ästhetische ... Sogenannte ›Principien‹ habe ich nicht, höchstens nur in sehr schwachen Ansätzen – sie ›liegen‹ meiner Natur nicht ... und ich halte sie darum für geschmacklos und langweilig ... u.s.w. – aber verzeihen Sie! – ich bin ganz abgeschweift – –«
»›Abgeschwiffen‹ – Pflegte Otto von Saldern immer zu sagen« – warf Herr Quöck lachend ein.
»Also! . ja! . – sehen Sie« – nahm Adam das Gespräch wieder auf, halb zu Lydia, halb zu Oettinger hingewendet – »der große Marx z.B. war auch ein Jude – dann Lassalle- und nehmen wir Heine, Börne – –«
»Marx? – Marx? – Ist das nicht – nicht der ... der –«
»Ganz recht, Herr Referendar, der ... der –
»Nein! – Gott sei Dank! nicht –«
»Aber – Pardon! – Sie sind doch Jurist–«
»Allerdings! Und ich muß zu meinem allergrößten Bedauern bemerken, daß ich sehr – sehr viel jüdische Collegen habe ... Diese Herren mögen die Thesen ihres Heros besser kennen, als ich – ich bin streng – ich bin à tout prix monarchisch, Herr Doctor – stockconservativ, wenn Sie wollen – mein Kaiser braucht bloß zu winken, so lege ich mit tausend Freuden mein Haupt auf den Block für ihn – dulce et decorum, pro imperatore mori, Herr Doctor! Heilig – heilig ist mir die Regierung – unantastbar – –«
»Unfehlbar –« warf Lydia ein, die sich zurückgelehnt hatte und amüsirt, ein verhaltenes, halb spöttisches, halb gutmüthiges Lächeln im Gesicht, den Versicherungen ihres Nachbars zuhörte.
»Jawohl, gnädige Frau! In gewissem Sinne sogar ›unfehlbar‹ ist mir die Regierung! Und
ich wäre glücklich, sollte es mir vergönnt sein, dereinst einmal ein guter Hüter und
Wahrer und Pfleger des Gesetzes zu werden – des Gesetzes, das für mich vorläufig nur
einen Fehler hat – nämlich den, daß es in mancher Beziehung zu mild, zu tolerant ist.
So sollte z.B. Jeder – ich wähle das Beispiel, weil mir gerade kein anderes einfällt
– so sollte also Jeder, der im öffentlichen Besitze einer Waffe gefunden
»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Herr Referendar –?« fragte Adam belustigt.
»Wollen Sie nicht auch einmal den Käse kosten, Herr Doctor?« bot Frau Möbius, die aufmerksame Wirthin, an. Sie benutzte den Moment, wo das Gespräch sich wieder gabeln zu wollen schien.
Auch Hedwigs Gesicht hatte einige Ausdrucksgrade seines Ernstes verloren. Auch ihr mußten die Geständnisse Herrn Oettingers etwas drollig und schattentöterig-bizarr vorkommen.
»Zweifeln Sie daran, Herr Doctor? – Ich bitte doch sehr ... Allerdings – Sie scheinen mir in dieser Beziehung etwas laxere Ansichten zu haben –« entgegnete der Herr Referendar ein Wenig indignirt. Er führte sein Weinglas an die Lippen und sah furchtbar moralisch entrüstet aus.
»›Laxere‹ ... hm! – ich weiß nicht, Herr Referendar, ob gerade ›laxere‹ – – jedenfalls ... hm! nun! jedenfalls modernere ...« warf Adam mit einem kleinen Anflug von Spott hin.
»Was verstehen Sie eigentlich unter ›modern‹, Herr Doctor? – Man hört das Wort heute
so oft. Man kann sich gar nicht mehr retten vor ihm –« fragte Lydia dazwischen. Sie
schien momentan ganz
»Ja! das ist schwer zu sagen mit einem Worte, gnädige Frau ...« begann Adam. Auch ihm fiel der Umstand, daß gerade Lydia ihn um eine Art von Begriffsbestimmung gebeten, weiter nicht auf. »›Modern‹ sein heißt, heißt, gnädige Frau – ja! also sagen wir – heißt: sich auf Etwas vorbereiten, was Einen im Grunde gar nichts angeht – – ich meine: auf Etwas, dessen Eintreten in die Welt man sicher nicht erleben wird, das sich vielleicht erst in einer sehr fernen Zukunft erfüllt – ›modern‹ sein heißt aber zugleich: – bei dem Vorbereiten auf dieses problematische Etwas ganz gefälligst ... zu Grunde gehen –« fuhr Adam sodann mit einem spröden Stich ins Paradoxe und Bittere fort.
Hedwig sah ihren Nachbar erstaunt-theilnehmend an. Herr Oettinger machte ein verblüfft-ungläubiges Gesicht. Von Lydia erhielt Adam einen sehr eigenthümlichen Blick. Und nun erkundigte sie sich etwas leichthin –: »Gehört das ›Zu-Grunde-Gehen‹, wie Sie sich ausdrückten, Herr Doctor, absolut dazu –?«
»Allerdings, gnädige Frau,« erwiderte Adam ernst, »das gehört dazu, wenn man treu sein will ... und sich, wenigstens in der Hauptsache, in den Grundzügen, in den Kernlinien seiner Natur, erkannt hat – das heißt: wenn man weiß, daß man nicht treu sein kann ... Der incarnirte Widerspruch ist immer Subtrahent –«
»Herr Gott! Wieder einmal Pythius! Wenn Sie
»Meinen Sie, gnädige Frau? – Ob aber die Concordanz immer addirt –?«
»Himmlischer Vater! Nun fehlt bloß noch das Multipliciren und Dividiren ... Die armen vier Spezies! –«
Hedwig konnte sich nicht mehr verbergen, daß Adam sie jetzt interessirte. Und sie mußte sich gestehen, daß sie in ihrem Denken und Fühlen diesem merkwürdigen Causeur unter den Anwesenden jedenfalls am Nächsten stände. Das machte sie immerhin eine Idee stolz und befriedigte sie. Tiefer in Anspruch genommen wurde sie allerdings auch kaum, es war ihr nur lieb, daß in das Gespräch einmal ein paar kühnere, neuere Töne hineinklangen.
»Sie scheinen nicht gerade religiös zu sein, Herr Doctor–?« interpellirte jetzt Oettinger Adam.
»›Religiös‹? Sie etwa, Herr Referendar–?« fragte Adam barsch entgegen.
»Ich – ich schmeichle mir allerdings, mein Herr, in gewissem Sinne religiös zu sein – ja! Gott sei Dank! noch religiös zu sein –« gab Oettinger etwas von oben herab zur Antwort.
»Na! das ist kennzeichnend –: ›in gewissem Sinne‹ – hm!« –
Herr Quöck wurde unruhig: »Prosit, meine
Dieser hatte plötzlich die ganze Situation, zumal sein Verhältniß zu Frau Lange, klar erfaßt und wandte sich jetzt mit einer auffälligen Wendung zu Hedwig hin ... und zwar so beklemmend nahe, als wollte er dieser Dame Etwas ins Ohr flüstern. Hedwig sah verwundert auf. Ihre Brauen zogen sich zusammen. Verstand sie das Manöver –?
»Ich muh doch bitten, Herr Doctor –« nahm Oettinger das Gespräch wieder auf.
»Um was –?« flegelte Adam.
»Ja! . Aber ... Gewiß bin ich religiös ... wenn auch – – wie ich mir schon einmal zu
bemerken erlaubte –: in erster Linie bin ich conservativ – und dieser Standpunkt
schließt ja ein mehr oder weniger intimes Verhältniß zu den Satzungen der
Landeskirche ganz von selber ein – – ich klebe durchaus nicht am Dogma – gehe sogar
so weit, in gewissem Sinne – verzeihen Sie! – nun! wie soll ich sagen? – ja! – frei –
vielleicht ›modern‹ zu sein – es ist wahr: ich besuche selten die Kirche – vertrete
aber als Jurist, als Gesetzeshüter, ganz entschieden die Ansicht, daß die Masse der
Religion bedarf – und sollte das – Sie sehen, ich bin ganz aufrichtig – und sollte
das auch nur nothwendig sein, damit sie, die Plebs, der Mob, kurz: das Volk – damit
dieses also stets in der Gewalt, in den Händen der ›oberen Zehntausend‹
Adam lächelte sehr ironisch.
Er spielte mit den Fingern der rechten Hand an dem Griffe seines Weinglases herum und warf nun mit gutmüthig-boshaftem Gesichtsausdruck die Frage über den Tisch zu seinem Gegner hinüber: »Dann gehören Sie also, Herr Referendar, so ungefähr zu den Leuten, die im Grunde als erste Autorität über sich ihren – Cylinder anerkennen –?«
Frau Möbius sah recht erschrocken aus. Lydia lächelte wie zustimmend, lenkte dann aber mit feinem Takte ab: »Und die Cigaretten, Herr Vetter –?«
Traugott Quöck verstand. Er erhob sich, warf dabei Adam einen nicht gerade »gnädigen,« kaum freundlichen und aufmunternden Blick zu und wünschte seinen Gästen »Gesegnete Mahlzeit!« –
»Sie rauchen doch, Herr Referendar –?«
Oettinger starrte noch immer auf Adam hin. Es schien ihm unbegreiflich zu sein, daß dieser Mensch gerade ihm mit seinen Impertinenzen zu kommen wagte. Sollte er die Beleidigung auf sich sitzen lassen –? Sollte er einen Skandal provociren –? Er war unschlüssig. Adam machte ein unschuldig-heiteres Gesicht. Er wandte sich jetzt zu Fräulein Irmer, die hinter ihrem Stuhle stand und theilnahmslos vor sich hinsah, mit der Frage: »Rauchen Sie auch, mein gnädiges Fräulein?«
»Nein!« kam es kurz und schroff von Hedwigs Lippen.
Man verbeugte sich ziemlich steif gegen einander.
Lydia sah nach ihrer kleinen, goldnen Uhr. »Schon Zehn durch! Um Elf kommt mein Wagen –«
»Um Elf schon –?« fragte Frau Möbius, wohl nur, um überhaupt Etwas zu sagen.
»Wenn es Ihnen recht ist, Fräulein Irmer, fahren Sie mit mir –? Wir wohnen ja nicht weit auseinander. Ich werde Friedrich sagen, daß er durch Ihre Straße den Weg nimmt –«
»Sehr liebenswürdig, Frau Lange, ich nehme mit Dank an –«
»Aber was fangen wir nun an -–?« überlegte Lydia. »Die Herren spielen natürlich den unvermeidlichen Scat ... Ach! Wir armen Frauen –!«
»Traugott spielt eigentlich selten Scat –« bemerkte Frau Möbius schüchtern.
»Ich werde mir wahrhaftig noch die Geheimnisse dieses verteufelten Scatspiels beibringen lassen – man ist ja sonst rein verloren heute ... Ob der Doctor Mensch auch spielt –? Er sieht gar nicht so aus ... Was meinen Sie, Hedwig –?«
»Warum sollte er nicht –?« antwortete die Gefragte kurz, etwas geringschätzig. Die beiden Frauen sahen sich an. Eine jede wußte, was die andere im Stillen dachte, was sie wissen wollte, zu hören verlangte, und was doch keine von ihnen aussprach .... keine aussprechen mochte.
»Bitte, Cousine –!« Herr Quöck war aus dem
»Versuchen Sie es doch auch einmal, Fräulein Irmer –!« forderte er halb im Scherz, halb im Ernste auf. »Die Damen rauchen heute alle ... Es ist so fashionable ...«
»Ich danke, Herr Quöck –«
Lydia saß im Fauteuil und spie ganz respectable, weißgelbe Rauchwolken durch die Lippen. Sie hüstelte ein Wenig.
»Wir spielen natürlich Scat, Lydia. Der Doctor ist nämlich auch ein leidenschaftlicher Scatverehrer, wie er neulich versichert hat –«
»So –?«
Lydias und Hedwigs Augen fanden sich wieder einmal.
Aus dem Nebenzimmer klang gedämpftes Sprechen. So leise die Unterhaltung geführt wurde – man hörte doch immer den gereizt-markirten Ton heraus.
Hedwig hatte in einem Album geblättert. Jetzt sah sie auf und horchte gespannt hinüber.
Lydia erschien sehr gleichgültig. Sie blies eine dicke, weißgelbe Dampfwolke nach der anderen vor sich hin. Im Zimmer machte sich schon das Cigaretten-Parfüm deutlich riechbar. Es war Frau Lange entschieden sehr behaglich zu Muthe.
Herr Quöck war nach dem Salon hinübergegangen. Er arrangirte den Scattisch. Frau
Möbius hatte sich nach der Küche begeben. Oettinger und Adam waren natürlich gegen
einander gerathen.
»Aber bitte – das ist doch heute die Anschauung jedes gebildeten Menschen –«
»Das weiß ich recht gut. Der Standpunkt ist auch ein dieser gebildeten Menschheit vollkommen würdiger. Ich erlaube mir nämlich die Ansicht zu haben, Herr Referendar, daß diese famose ›Bildung‹ und der bodenlose Indifferentismus in religiösen, philosophischen, künstlerischen Dingen heutzutage so ziemlich identisch sind mit einander –«
»Hm! . Mag sein! ... Aber bitte, Herr Doktor – wir kommen ganz von dem Punkte ab, dessen Erörterung mir momentan zumeist am Herzen liegt – Sie gebrauchten bei Tisch ein Bild – einen Vergleich – ein – ei-n-e – nun! – es bleibt Ihnen ja unbenommen, auch mich unter diese Indifferenten zu rechnen – –«
»Pardon, Herr Referendar! Wenn mir das
»Ich glaube aber kaum, Herr Doctor, daß es erlaubt ist, derartige etwas – verzeihen Sie! – immerhin – immerhin etwas boshaft-gesuchte Consequenzen öffentlich auszusprechen ... Ich kann – ja! ich muß das geradezu als eine persönliche Beleidigung auffassen – und ich sähe mich genöthigt, wenn Sie nicht revociren – –«
Adam lachte: »›Beleidigung‹! – – ›revociren‹ – – Sie scherzen, Herr Referendar! Sie scherzen jetzt, wie ich vorhin – gescherzt habe – wir sind also quitt – nicht –?«
»Das ist eine sonderbare Auffassung, Herr Doctor –«
Herr Quöck trat wieder ein.
»Wie schmeckt Ihnen das Kraut, Doctor –?«
»Vorzüglich, Herr Quöck ... etwas schwer zwar–«
»Ach! Nee! schwer –? Finden Sie auch, Herr Referendar –? Aber bitte, meine Herren – – es ist Alles bereit – kommet und gehet ein in den Freudenhimmel, allwo duftende Blumen in Fülle wachsen – wo es Könige giebt und Fürsten – –«
»Auf Kartenblättern – famos, Herr Quöck! Die Herren dieser Welt sind doch eigentlich
furchtbar witzige Kerle, daß sie ihre Bilder auf Münze und Karte malen lassen ...
immer noch malen lassen ...
»Still, Doctor, – das klingt ja ganz gefährlich – Sie sind des Teufels –« wehrte Herr Quöck erschrocken ab.
»Pflegen Sie das ... Geld auch so ... wegwerfend zu behandeln, Herr Doctor –?« fragte Oettinger.
Man trat gerade in den Salon ein. Lydia hatte ihren Fauteuil im Speisezimmer verlassen und stand jetzt am Spieltisch. Sie hielt die rändervergoldete Scatkarte zwischen Daumen und Mittelfinger ihrer kleinen, weißen, rechten Hand, ungefähr in Schritthöhe über dem Tisch, und ließ nachlässig, träumerisch, gedankenabseits ein Blatt nach dem anderen auf die Fläche niedertaumeln.
»Leider!« erwiderte Adam, einen komisch-drolligen Ton des Bedauerns in der Stimme.
Lydia wandte sich um. Sie sah die Herren fragend an.
»Wo steckt denn Tante Möbius–?« ärgerte sich Herr Quöck laut. Er schien irgend ein Anliegen zu haben.
»Die wird wohl noch in der Küche sein –« vermuthete Lydia.
»Es ist doch genug Wein da –? ... Nein! Wo die alte – ich hätte beinah' was gesagt – nur steckt –?«
Hedwig erschien im Rahmen der Thür. Sie sah sehr verschlossen und gelangweilt aus.
»Die Damen werden entschuldigen – aber der Scat – dieses jöttlichste aller Spiele – –
bitte,
»Und schöne Frauen!« complimentirte Oettinger, indem er den Scat auslöste –
Lydia brannte sich eben eine neue Cigarette an. Hedwig hatte sich wieder ins Nebenzimmer zurückgezogen. Das knisternde Umschlagen von großen Buchseiten drang ab und zu herüber.
»Sie reizen, Herr Doctor –«
»Ich passe –«
»Tournée –?«
»Carreau! Carreau-Solo aus der la main! ...«
Die Karten flogen auf den Tisch. Man spielte sehr flott. Herr Quöck beschrieb beim Ausspielen immer erst einen Halbkreis mit seinem Blatte. Adam warf seine Karten mit einem gewissen pathetischen Bogenschwung von oben herunter, Oettinger ließ sie nachlässig-graziös fallen.
»Einundsechzig! ... Teufel! ... Das Spiel war überhaupt gewagt. Ohne Renonce in Pique –« begann Herr Oettinger frohlockend ...
»Das fängt ja jut an –« brummte Herr Quöck, ein klein Wenig erbost. –
»Langweilen – warum, Herr Doctor –? Eine Cigarette ist eine vorzügliche Gesellschafterin. Uebrigens – Scat mußt Du mir doch noch beibringen, lieber Cousin! Wenn Ihr Männer so versessen darauf sein könnt, muß das Spiel doch etwas ... Anziehendes, etwas Pikantes haben ...«
»Gewiß hat es das!« versicherte Herr Oettinger eilfertig. »Vielleicht dürfen wir Sie, gnädige Frau, schon heute Abend in unsere köstlichen Geheimnisse einweihen –?«
»Na! na!« wehrte Herr Quöck erschreckt ab. Der Herr Referendar war doch etwas zu galant! Sie hatten kaum angefangen zu spielen – und nun womöglich erst wieder das umständliche Dociren – die langwierige Erklärung – und nachher dann noch die ersten stümperhaften Spielversuche Lydias mitaushalten müssen – nein! nein! – ganz undenkbar –!
Aber Lydia war schon aufgesprungen. »In der That – eine ganz prächtige Idee, Herr Referendar – ich danke Ihnen! Ich muß Ihnen nämlich gestehen, Herr Doctor, daß Sie nicht so ganz Unrecht hatten mit Ihrer Vermuthung, daß ich mich ... langweilte ... Wir Frauen sind ja alle so ... so gedankenarm ...«
Adam erhielt einen herausfordernden Blick. Lydia war zu ihm hingetreten.
»Man braucht doch nicht immer Gedanken zu haben!« schmollte Lydia neckisch.
»Aber, liebe Cousine –« versuchte Herr Quöck das drohende Scatverderben noch einmal zu beschwören, einen zärtlich abrathenden Ton in der Stimme –
»Die Grundgesetze des Seats, gnädige Frau –« hub Oettinger an.
Adam klappte mit pathetischer Resignation sein zierliches, goldschnittgeziertes Rechnungsbüchlein zu.
Frau Möbius trat über die Schwelle. »Wo steckst Du nur in aller Welt, Tante –?« mußte sie sich von ihrem Herrn Neffen etwas barsch anfahren lassen.
»In der Küche, lieber Traugott – Du weißt ja: auf Marien ist kein Verlaß ... Und die Herren wollten ja auch spielen – –«
Herr Quöck leerte sein Glas. »Ist denn noch genug Wein oben –?« fragte er ärgerlich.
»Ich denke –« antwortete Frau Möbius mit sanfter Gelassenheit.
Man sprach nun viel und trank im Ganzen recht tapfer. Herr Quöck hatte sich
einigermaßen gefügt. Er wanderte im Zimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken,
stellte sich gelegentlich an den Ofen, blies dicke, blauschwarze Rauchwolken aus Nase
und Mund. Ab und zu warf er eine humoristischkaustische
Adam war zu Hedwig getreten.
Diese hatte ihren rechten Oberarm weit, nachlässig, unkritisch, über den aufgeschlagenen Band, in dem sie geblättert, gelegt und den Kopf in die Handhöhlung gestützt. Der linke Arm hing schlaff herunter. Der Blick gedankengebannt oder phantasieverloren. Da fiel der Schatten einer fremden Gestalt in ihren Kreis. Sie schrak zusammen.
Adam trat ganz dicht an sie heran. Er athmete
Aus dem Salon klang buntes, sich gegenseitig verhakendes Stimmengewirr. Aber wie ferne, dumpfe, monotone Brandung dünkte es Adam. Die Situation nahm ihn ganz hin. Jetzt allerdings schnellte die Stimme Oettingers scharf, zackig, hart in die Höhe. Dann sprach Lydia auch lauter, auch artikulirter.
Adam hatte nach der rechten Hand Hedwigs gehascht, sie hatte sie ihm mit zufahrender Heftigkeit entzogen. Und doch neigte sie jetzt den Kopf ein Wenig. Ein schmales Stück des weißen, glänzenden Halses wurde sichtbar.
Da packte es Adam. Es rüttelte und schüttelte an ihm, schlug ihm die Zähne in die Nerven. Er wußte nicht, wie es so jäh, so bezwingend über ihn kam. Der Wein hatte sein Blut aufgejagt, hatte zuckende, von unten herauf bohrende Flammen hineingeschmissen. Er war seiner nicht mehr mächtig. Es flimmerte ihm roth vor den Augen. Er beugte sich nieder, sog sich eine Sekunde lang fest an diesem weißen, glänzenden Halse und lallte Fräulein Irmer im nächsten Augenblicke ein heißes, leidenschaftliches »– Hedwig!« in's Ohr.
Jetzt fuhr die Dame auf. Ihr Gesicht war weiß, die Augen starr, groß aufgerissen, ohne Pol.
Durch den Salon kugelte sich gerade ein lautes
»Hedwig –!« wiederholte Adam dringend, bebend vor Erregung. »Weib! ich liebe Dich ja –!« fuhr er wie im Taumel fort.
Hedwig schoß mit einem jähen Rucke in die Höhe.
»Ich muß Dich sprechen, Hedwig – laß mich Dich nach Hause be-gleiten –« bat Adam mit mühsam geduckter Leidenschaft. Seine Stimme rasselte heiser, die Finger zuckten.
»Ich danke, Herr Doctor –« erwiderte Hedwig auffallend laut – »ich fahre mit Frau Lange –« Und zugleich ging sie an ihm vorüber, der Thür nach dem Salon zu.
»Verflucht! –« knurrte Adam wüthend vor sich hin, zugleich bedeutend ernüchtert. Dann begann er mit gemachter Hast in dem großen Bande zu blättern, über welchen Hedwig vorhin ihre Träumereien ... oder die Nachtfalter ihrer schwarzen Schwermuth hatte hinflirren lassen.
In dem Augenblicke, da Hedwig über die Schwelle in den Salon trat, war dort das
Gespräch jäh verstummt. Unwillkürlich, wie auf Verabredung, richteten sich aller
Augen auf sie. Was wollten diese Augen nur von ihr –? Was zwang die Leute da, so
plötzlich ihre vorher doch recht laute, auffallend laute Unterhaltung abzubrechen –?
Hatte man Hedwigs letzte, mit unwillkürlich gesteigerter Stimme gesprochenen Worte
verstanden – diese
Herr Quöck, der sich schon vorhin bei Tische im Besitze des glücklichen Talentes gezeigt hatte, einem Gespräche, das eine unwillkommene Wendung genommen, ungezwungen eine andere zu geben, verstand es auch jetzt vorzüglich, durch eine an sich recht banale Bemerkung über die peinliche Situation hinwegzuhelfen.
»Aber! Fräulein Hedwig – wir haben Sie ja ganz vergessen – ich glaube entschieden,
Sie sind zu kurz gekommen in Puncto des Weins – Sie müssen nachholen – – und nun
wollen wir wieder einmal anstoßen, meine Herrschaften – wo steckt denn nur wieder der
Doctor –? – – Doctor! – Kommen Sie! – Prost! – Prost! – Auf daß meine innig verehrte
Frau Base den auch in weiteren Kreisen mit Recht so beliebten Scat, wie mein
Busenfreund Saldern immer zu sagen pflegte, recht bald capirt habe – auf daß sie eine
würdige Partnerin werde, die ihrem würdigen Scatmentor Ehre mache – die – die – aber
Prost! – Prost – meine Herren und Damen – wollte sagen: meine Damen und Herren – und
trinken Sie aus, Fräulein Hedwig
Adam hatte sein Glas auf einen Zug geleert. Er sah düster, geärgert aus. Lydia coquettirte mit dem Referendar. Sie blickte ihn schwärmerisch, dankbar, beinahe herausfordernd an. Adam's und Hedwig's Augen waren noch einmal kurz aneinander vorbeigegangen. Beide wußten, daß es nun ein Etwas für sie gab, das einer dem ander'n nicht restlos vergessen konnte.
Da tönte das eckige Rasseln eines mit fast beleidigender Exaktheit angefahren kommenden Coupés von der stillen Straße her in's Gemach.
»Mein Wagen!« fuhr Lydia auf.
»Nanu! Schon so spät?« fragte Herr Quöck verwundert. Er zog seine große, schwere, goldene Uhr.
»Gnädige Frau –!« bat Oettinger geschmeidig-vor wurfsvoll. Er war ganz selig. Er glaubte an seine Zukunft. Er war überzeugt von seiner Unwiderstehlichkeit.
Lydia blickte zu Adam hinüber, der mit forcirter Ruhe seine Cigarre wieder in Brand setzte. Adam sah nicht auf, obwohl er den Blick Lydia's deutlich auf sich fühlte. Es war ihm, als ob ihm die Netzhaut plötzlich brennend heiß würde.
»Wenn Sie nun noch mit mir fahren wollen,
»Wenn Sie gestatten –«
Die Damen verabschiedeten sich. Oettinger küßte hingerissen Lydias Hand. Dann wandte sich Frau Lange zu Adam ... und ohne ihm die Hand zu reichen, meinte sie leichthin, gleichgültig: »– Also, vergessen Sie unsere Verabredung nicht, Herr Doctor –! Kommen Sie in den nächsten Tagen einmal zu einer Tasse Thee – – wie wäre es, wenn Sie mir schon etwas ... Fertiges mitbrächten – – vielleicht – vielleicht eine Art von – – von ...nun! – vielleicht ein modernes ... ›hohes Lied‹ oder etwas Aehnliches – ja? – – Aber, pardon! – ich vergaß ganz – Sie baten sich ja das neue Testament aus – nun! – ich überlasse Ihnen die Auswahl – es wäre zu nett, könnten wir 'gleich mit einem kleinen fait accompli an die Arbeit gehen –«
Lydia hatte die Worte langsam, zögernd herausgestoßen, als fiele es ihr schwer, sie zu sprechen – und doch zugleich in einem Tone, mit einem Accente, der deutlich verrieth, daß sie ärgern, spotten, sich rächen, aber auch stimulieren wollte.
Adam verneigte sich stumm. Er behielt Hedwig im Auge, er verfolgte jede ihrer Bewegungen. Diese verabschiedete sich mit einem oberflächlichen Gruße von ihm. Sie hatte den Kopf zurückgeworfen und sah sehr hochmüthig aus.
Frau Möbius zog sich bald zurück.
Herr Oettinger erzählte allerhand italienische Reiseabenteuer. Die Ueberzeugung von seiner Unwiderstehlichkeit, die er heute Abend aus dem Benehmen Lydias ihm gegenüber folgern zu müssen geglaubt, verleitete ihn, seine an sich recht harmlosen Geschichten mit kühneren erotischen Pointen auszuschmücken. Der Herr Referendar bekundete in seiner Weinlaune eine ganz respectable Phantasie.
Man spielte sehr unregelmäßig ... und man erlaubte sich schon allerlei kleine Freiheiten. Man guckte sich gegenseitig in die Karten und ignorirte kühn die Unantastbarkeit des Scats. Dabei wurde dem Weine wacker zugesprochen. Und die Stunden schienen etwas Besonderes darin zu suchen, sich überschnell aus dem Staube zu machen.
Mit der Zeit wurde Adam matt, abgespannt.
Nach drei Uhr trennte man sich. Der Herr Referendar wankte und schwankte ein Wenig. Adam nahm sich des armen Kerls an und schob seinen Arm unter den Oettingers.
Die Straßen lagen in tiefer Stille. Ab und zu begegnete den einsamen Nachtwandrern ein langsam heranspazierender Wächter. Manch' einer dieser edlen Herren blieb breitspurig auf dem Trottoir stehen und beäugelte kritisch die vorüberstapfenden Spätlinge. Der Herr Referendar konnte einige herzhafte Redensarten über diese »zu–dringliche, ganz ver–fluchte O–cu–cular-Inspection« nicht unterdrücken. Er sprach überhaupt etwas laut, der ehrenwerthe Cylinderenthusiast. Die »Angströhre« saß ihm allerdings schief und verrätherisch nach hinten geschoben auf dem jugendlichen Haupte, das der erste, zarte Flaum einer discreten ... Platte zierte, wie Adam heute Abend mit dem banalen Genugthuungsgefühl eines berechtigten Sarkasmus wahrgenommen.
»Feudales Weib, diese Lydia, nicht, Doctor –?« phantasirte Herr Oettinger,
»Göttergestalt – fescher
Adam ließ die Rede Oettingers Monolog bleiben. Er begnügte sich, die kargen Ueberreste seiner geistigen Wachbarkeitskräfte vor Allem zur Steuer ihrer nicht mehr ganz seetüchtigen Leibesfahrzeuge zu verwenden. Er hatte seine liebe Noth, den Herrn Referendar von allzu intimen Berührungen mit verschiedenen Häuserwänden zurückzuhalten.
Plötzlich fühlte Adam das brennende Bedürfniß, allein zu sein. Ein Gedanke war in ihm
aufgezischt, ein Wunsch war in ihm emporgesprungen, dessen Erfüllung der
merkwürdigen, halb träumerisch-müden, halb bewegt-reizsuchenden Stimmung, die ihn
gekapert hatte, entsprach. Er wollte noch einmal durch die Straße gehen, in welcher
Hedwig wohnte, wollte noch einmal vor ihrem Hause stehen, noch einmal zu ihrem
Fenster hinaufschauen. Vielleicht ... vielleicht gab es hinter den Gardinen, hinter
den Vorhängen noch ein spätes, heimliches
Adam trottete eine Weile hin, ganz im Zwange seiner hüpfenden Gedankenschemen. Da merkte er, daß er sich in der Richtung geirrt. Er mußte umkehren. Und am Besten wäre es, wenn er die Straße, in die vor einer kleinen Weile Oettinger hineingeschwankt, kreuzte. Wahrhaftig! Da drüben auf der andern Seite – da stapfte sein wackerer Zechgesell immer noch redlich fürbaß. Adam konnte sich nicht enthalten, mit verstellter, dumpf gurgelnder Stimme ein diabolisch-mysteriöses »Oettinger!« über den Straßendamm hinüberzuknurren. Der geheimnißvoll Angerufene wandte sich jäh um und blieb stehen. Adam setzte seinen Weg mit großen Schritten fort und kicherte leise in sich hinein.
So! ... Nun war der Herr Referendar in den Schatten der Nacht hinter ihm
verschwunden. Adam schluckte mit Behagen den kühlen Wind ein und setzte seine Füße
emphatisch auf die Asphaltflächen. Grell, in scharf abgekantetem Rhythmus,
Adam traf auf eine Brücke. Er lehnte sich eine kleine Frist hindurch über das Geländer und sah auf das träge, gleichgültig hinschleichende Wasser hinab. Ein nörgelnder, zupfender Wind pustete jetzt über die Fluth hinweg. Und es nahm sich aus, als wäre der Spiegel mit einer Legion von kleinen, braungrünen Schildkrötenrücken gepolstert.
Nun stand Adam vor dem Hause, da Hedwig mit ihrem Vater wohnte. Aber oben war Alles dunkel. Allenthalben tiefe, nur von den verhaltenen Athemzügen des feuchten Nachtwindes monoton durchsummte, zaghaft durchmunkelte Stille.
Und der einsame Wandrer setzte sein Wandern fort, das ihn endlich nach seiner Klause führen sollte. Verworrener Gedanken, einer dunklen Sehnsucht war seine Seele voll. –
»Ah, lieber Doktor! Das ist ja famos von Ihnen, daß Sie sich wieder 'mal sehen lassen! Nun – wie gehts Ihnen? Viel gearbeitet? Aber Sie schauen immer noch sehr angegriffen aus. Wie wäre es heute mit der Revanchepartie? Hätte Lust – Sie auch – ja ...?«
Herr von Bodenburg hatte den »Figaro« aus der Hand gelegt und stocherte mit dem Löffel auf ein Stück Zucker los, das er soeben in seinen Kaffee geworfen. Er sah erwartungsvoll zu Adam Mensch auf.
»Verdammt windig heute. Bei einem Haar wäre mir mein Hut in irgend 'n Weltmeer oder in 'ne Pfütze geflogen ... Macht der Krakehler von Frühlingswind Aufhebens! ... Impertinenter Stachelbursche! ...«
Herr von Bodenburg lächelte.
Adam warf sein Cigarrenetui auf den Tisch und rückte sich einen Stuhl zurecht.
»Viel Zeit habe ich gerade nicht – wollte auch ein paar Zeitungen durchfliegen –
bringt der ›Figaro‹ etwas Interessantes? Ach! die leidige Gewohnheit! Man büßt
wahrhaftig nichts ein, wenn
»Die Gallensteinablösung war nicht übel, Herr Doctor – aber ich möchte doch vorschlagen, daß wir – pardon! – nun – wenn auch gerade nichts ›Vernünftigeres‹, so doch ... na! so doch etwas Amu–santeres vornähmen – also wie wäre es mit der Revanche? Wollen Sie? Kommen Sie! Ja?«
»Meinetwegen denn, Herr Referendar, warum auch nicht? Wenn Sie durchaus wollen! ...
Aber – – jetzt ist es dreizehn Minuten nach Drei
»Kellner! Das Schachbrett ...«
»Jawohl!«
»Was trinken Sie, Herr Doctor?«
»Was? Ja – – ach! Kaffee? – Nee! Bringen Sie mir 'n Absynth!«
»Sehr wohl!«
Die beiden Herren vertieften sich in ihr Spiel. Es wurde nicht viel gesprochen. Adam spielte auch heute mit sehr getheilter Stimmung. Er wußte die Schwächen des Gegners nicht zu gebrauchen, er übersah seine eigenen Vortheile. Mit großem Behagen dagegen schlürfte er seinen kupfergrünen Absynth.
»Kennen sie einen Referendar Oettinger, Herr von Bodenburg?«
»Oettinger? Oettinger? Ja wohl! Sehr patentes Individuum – nicht? Elegant – Cavalier – Lieutenantsscheitel – langweilige Visage – ja! ja! – bin ihm gelegentlich 'mal vorgestellt – scheint mir nicht besonders viel los zu sein mit dem Herrn. Kann mich allerdings auch irren. Was ist mit ihm? Haben Sie 'n Rencontre mit ihm gehabt? Kartell schleifen? Ich stehe Ihnen zur Verfügung, Herr Doctor!«
»Sehr liebenswürdig, Herr Referendar!« Adam lächelte discret. Dabei goß er seinem
Absynth einen
»So! ...«
»Ich dachte, Sie kennten den Herrn zufällig näher. Es wäre ja möglich gewesen. Der gute Mann entwickelte bei Tisch seltsam praehistorische Ideen ... ich war zuerst ganz verblüfft. Und sein Standpunkt zur Religion – – es ist eine Schmach, daß dieses Gesindel, das geistig noch auf der primitivsten Entwicklungsstufe steht – daß diese ordinäre Sippschaft – diese Larven und Marionetten, diese Hohlhänse überhaupt Gelegenheit haben, öffentlich Proben ihrer approbirten Bornirtheit abzugeben! Und eines Tages gehört dieser Lumpenbagage womöglich noch höchst persönlich den sogenannten ›leitenden Kreisen‹ an! Ich verstehe den schreienden Unsinn – diese sociale Barbarei nicht!«
»Ereifern Sie sich nicht so furchtbar, Doctor!
»Gott sei's geklagt – ja! ich weiß – ja doch! – meinetwegen! – also gardez! haben Sie mir – aber was zu stark ist, ist zu stark! Man darf schlechterdings nicht zu sehr in Schimmel und Grünspan verliebt sein ...«
Da öffnete sich die Thür, und Fräulein Irmer trat in's Café. Der Zeitungskellner lief nach dem Schränkchen in der hinteren Ecke des Lokals, in welchem die ausgespannten Nummern vom Tage vorher aufbewahrt wurden. Nun überreichte er der Dame das Blatt.
Adam hatte Hedwig scharf fixirt. Als sie sich umwandte, hinauszugehen, nachdem sie diesmal mit einem kurzen, leise hingeworfenen Dankeswort die Zeitung in Empfang genommen, streifte sie Adam mit einem jähen, vorüberschießenden Blicke. Sie schrak ein Wenig zurück. Adam lächelte befriedigt. Hedwig hatte die Thür zugeschlagen.
Der Herr Doctor sprang auf, zog hastig seine Börse und warf das Geld für den Absynth auf den Tisch.
»Nanu!?«
»Verzeihen Sie, Herr Referendar! Dispensiren Sie mich, bitte, heute – ja? Diese Dame
–
»Danke sehr, Herr Doctor!« Fritz strich das Geld ein und schickte sich an, beim Anlegen des Ueberziehers behülflich zu sein.
»– Die ich Ihnen vorhin von Herrn Oettinger erzählte – muß sehen, daß ich das Weib abfange – lauter kleine Historien – ich bitte noch einmal um Verzeihung – vielleicht morgen, wenn Sie – um dieselbe Zeit – ja? – aber ich muß mich beeilen – auf Wiedersehen, Herr Referendar –«
Adam stürmte hinaus.
»Das ist verdächtig, Herr Doctor –« rief Bodenburg indignirt-belustigt dem Flüchtling nach.
»Na! bringen Sie mir auch noch 'ne Karaffe Absynth –« wandte er sich sodann an den Kellner, der noch immer in der Nähe des Tisches stand und sich jedenfalls alle Mühe gab, die Situation zu begreifen. Er hatte ein blödsinnig-schläuliches Gesicht aufgesteckt.
»Noch ein Absynth –? Sehr wohl!« – –
Adam hatte sich in die unmittelbare Nähe Fräulein Irmers zu machen gewußt. Er war
erregt, sein Gang nicht ganz sicher, mechanisch sprach er immer wieder allerlei
Phrasen in sich hinein, mit denen er Hedwig, auf den Leib rücken wollte. Als er
bemerkte, daß die Dame durch verschiedene, an sich kaum auffällige, aber doch
unwillkürlich für
Nun bog Fräulein Irmer in eine Nebenstraße ein, die viel Vornehmes, Stilles, Reservirtes, Selbstgenügsames besaß. In den kleinen Gärten vor den Häusern, die zumeist Villenanstrich hatten, sah es peinlich sauber, regelmäßig, sehr leer aus. Man hatte das Gefühl, als müßten es die Bewohner dieser Straße unter ihrer Würde halten, der Außenwelt die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Man war einander fremd und nahm mit sich allein fürlieb. Es mochte in Wirklichkeit kaum so sein. Aber diese menschenlosen Fenster mit den eleganten, kalten Vorhängen; diese großen, schweren, massiven, mit stolzer Selbstverständlichkeit geschlossenen Thüren; diese aufdringlichen und doch zugleich unsäglich discreten Namenschilder; die natürliche Leblosigkeit der Vor- und Zwischengärten: das Alles gab der Situation den Ausdruck innerer Leere und Theilnahmslosigkeit.
Adam war an die linke Seite Hedwigs getreten. Fräulein Irmer vollzog unwillkürlich
einen kleinen Schritt nach rechts und sah ihren Verfolger finster, zurückweisend an.
Die über der Nasenwurzel
»Verzeihung, mein gnädiges Fräulein, daß ich so kühn bin, mich zum zweiten Male auf offener Straße Ihnen zu nähern. Nehmen Sie, bitte, heute meine Begleitung an. Ich möchte Sie – ich fühle das Bedürfniß – Sie erinnern sich der kleinen ... der kleinen Scene, die sich neulich Abend zwischen uns abspielte – – vergeben Sie mir meine eigentlich unverzeihliche Dreistigkeit – ja? ...«
Die ersten Worte dieser Ansprache an das Opfer seiner neulich bei Herrn Traugott Quöck improvisirten Liebeserklärung waren Adam sehr glatt und sicher abgeflossen. Dann hatte sich die Stimme doch ein Wenig eingeklemmt, war ein Wenig leiser, stockender geworden, war gleichsam gestolpert und hatte erst am Schluß wieder mühelose Beweglichkeit und die intime Färbung der Aufrichtigkeit gewonnen.
Hedwig schwieg. Die beiden gingen eine kleine Weile schweigend neben einander. Oefter sah Adam Hedwig von der Seite an, fragend, bittend, doch zugleich auch merkwürdig amüsirt – und dadurch ganz tüchtig ironisch gestimmt.
»Fräulein Hedwig – haben Sie kein Wort für mich –?«
»Mein Herr –!«
»Hedwig –!«
Das klang bestimmt, dringend, entrüstet, aber auch flehend, ein ehrliches Betrübtsein verrathend.
Adam fuhr auf. Er stampfte mit dem rechten Fuße indignirt auf den Boden und gab sich sehr ungesammelt. Mit nervöser Hast knöpfte er an seinen Handschuhen herum.
»Sie wollen mich nicht verstehen, mein Fräulein! Heiliger Nepomuk! Giebt es denn heute auf Gottes Erdboden keinen Menschen mehr, dem man zwanglos, dem man unmittelbar begegnen darf – dem man so gegenübertreten kann, wie es Einem gerade ums Herz ist – wie man gerade Stimmung hat? – Ist denn heute das kleinste Bißchen Unmittelbarkeit verpönt? Soll man Nichts – gar Nichts improvisiren dürfen? – Soll man immer wieder erst die chinesische Mauer der dummen, urdummen conventionellen Redensarten zwischen sich und seinen Nächsten schieben – soll man auf Niemanden mehr stracks losgehen? Fräulein Hedwig –«
»Mein Name ist Irmer –«
Adam lachte aufgeräumt. »Bon! Irmer! Sehr liebenswürdig, mein gnädiges ... Fräulein ... Irmer ...«
»Mein Herr!«
»Lassen Sie doch endlich einmal einen anderen Ton zwischen uns aufkommen!« bat Adam,
einen neckisch-vorwurfsvollen Accent in der Stimme. »Aufrichtig, ich ertrage das
nicht länger! Sie kennen mich noch nicht. Sie wissen noch nicht, daß ich ein
sonderbares Gemisch von ... von Naivetät und ... und Raffinement bin. Vielleicht
coquettire ich auch
»Ich denke! Aber was soll das mir –? Warum sagen Sie das mir –? Darin verstehe ich Sie allerdings nicht –«
»Warum ich Ihnen das sage, Hedwig? Nun, ich denke: das ist doch einfach genug. Ich
gestand Ihnen schon: Sie interessiren mich. Aber Sie sprechen
Hedwig schwieg zu dieser prachtvollen Auseinandersetzung. Sie verstand sie,
wenigstens im Großen und Ganzen, und mußte Manchem darin zustimmen. Sie constatirte
auch mit einer gewissen inneren Befriedigung eine starke Geistesverwandtschaft
So fügte Adam nach einer Weile, während welcher sie schweigend neben einander hergeschritten waren, hinzu: »– Darauf kommt es ja auch gar nicht an, was man ist, sondern darauf: wie man das ist, was man ist ...«
»Wollten Sie nicht einmal meinen Vater besuchen, Herr Doctor?«
Die Frage klang liebenswürdig, einladend. Unwillkürlich münzte sie Adam zur zustimmenden, Verständniß und verwandte Anschauung verrathenden Antwort auf seine Auseinandersetzung um. Er freute sich darüber, aber, merkwürdig und erklärlich zugleich, veranlagte ihn diese Frage zu einer gespreizt-höflichen Erwiderung: »Gewiß, mein gnädiges Fräulein! Ich werde mir mit Ihrer Erlaubniß demnächst die Ehre geben –«
Hedwig sah ihren Begleiter wegwerfend von der Seite an.
Adam fing den Blick auf und erklärte ihn sich. Er lächelte.
»Hedwig!«
»Herr Doctor –?«
»Ich danke! Ich gehe so freier –«
»Gefühl ... Verständniß für Freiheit – das Bedürfniß derselben sind gewiß große, schöne, bedeutende Dinge ... Aber man darf eine Passion nicht in äußerliche, kleinliche Pedanterie'n und Willkürlichkeiten zersplittern –«
»Ich bin übrigens sogleich zu Hause –«
»Hedwig! Wollen wir uns denn immer so fremd bleiben? . Ich habe Geduld, unter Umständen viel Geduld – aber ich bemerkte Ihnen schon–: ich muß zeitweilig sehr despotisch sein –«
»Ich bitte, Herr Doctor –«
»Sind Sie mir noch böse von neulich? – Ich handle immer nur aus dem Rahmen meiner Stimmung heraus –«
»Darüber brauche ich wohl nicht zu reden. – Aber hier sind wir ... Adieu!«
»Sie malträtiren mich geradezu, mein Fräulein! Aber wie Sie ... wie Sie wollen ... Also adieu! Empfehlen Sie mich, bitte, Ihrem Herrn Vater! . Ich habe die Ehre ...« Adam lüftete den Hut und verneigte sich sehr ceremoniell. Dann blieb er noch einen Augenblick vor der geöffneten Thür stehen. Auch Hedwig war stehen geblieben. Beide sahen sich fest in die Augen. Um Adams Lippen kräuselte es sich wie ein verhaltenes Lächeln der Befriedigung.
Als Hedwig Irmer die Treppen zu ihrer Wohnung hinaufschritt, war es ihr plötzlich zu
Sinn, als verstünde sie diesen Adam Mensch besser, als er sich
Adam ging langsam nach Hause. Es war zwischen fünf und sechs Uhr. Die eben aufkeimende Abenddämmerung des jungen Frühlingstages ließ ihre ersten, leisen, so wundervoll discreten, so entzückend verschämten Schatten spielen. –
Adam Mensch waren einige Tage in ziemlich blödem Einerlei hingegangen. Er hatte die
physiologischen Nachwirkungen jener durchgenossenen Wein- und Spielnacht über sich
ergehen lassen müssen. Eine unleidliche Gemüthsdepression war jetzt über ihn
gekommen. Eine peinliche Schwere hatte sich seiner bemächtigt, die wie ein
unaufrührbarer Bodensatz auf dem Grunde seiner Seele lag. Eine Fülle von Gedanken und
Gefühlen stieg in ihm empor, aber jede Einheitlichkeit fehlte und jede Neigung, die
Anläufe und Fragmente zu packen, zu vertiefen, zu erschöpfen, zu vollenden.
Unheimlich scharf schaute er zeitweilig in Welt und Leben hinein, und die Nachtseiten
des Daseins erschlossen sich ihm in zermalmender Klarheit. Er fühlte, wie ungeheuer
weit er davon entfernt war, ein Kind der Stunde sein zu können, ein von der
mechanisch-regelmäßigen Erfüllung einfacher Pflichten befriedigter Mensch. Er sehnte
sich nach einer neuen Umgebung, nach neuen Verhältnissen, die ihn ganz
herausforderten, die im Stande wären, ihn ganz hinzureißen. Er sehnte sich nach einem
großen Schicksal, nach vollen,
Diese Gedanken und Betrachtungen, diese mehr oder weniger gültigen und richtigen Bruchstücksresultate waren zu dieser Frist auf- und niedergestiegen in Adam. Ungeläufig konnten sie ihm allerdings kaum sein. Er hatte sie, zumeist schon in seiner kleinen Schrift »Das Proletariat des Geistes,« an der er ab und zu einige Seiten schrieb, ausgesprochen.
Merkwürdig, wie wenig er sich eigentlich mit Lydia und Hedwig beschäftigte. Er warf
sich diese Gleichgültigkeit, diese Kälte selbst vor. Aber es gelang ihm doch nicht,
über sie hinauszukommen. Oefter fiel ihm wohl dieses oder jenes Moment ein, das sich
neulich bei dem Souper zwischen Lydia und
Eines Abends hatte sich Adam von einer stilleren, flüssigeren Stimmung in Beschlag
nehmen lassen. Stunden eines klaren, kräftigen Denkens waren vorhergegangen. Eine
gewisse, nicht gerade ganz triviale Zukunftshoffnung war in seiner Seele
emporgewachsen. Und wenn es wahr ist, hatte sich Adam schließlich gesagt, daß es ein
Wesensmoment des
Adam wartete zwei Tage. Von Lydia kam keine Antwort. Hatte ihr die spontane Auslassung mißfallen? Jedenfalls doch! Aber was that das? Das war im Grunde so nebensächlich, so belanglos. Ein Wenig allerdings war Adams Eitelkeit verletzt. Und der Herr Doctor bedauerte wirklich aufrichtig, seinen bunten Augenblickskram abgeschickt zu haben. Zudem war er heute wieder in einer ganz anderen Stimmung. Seine normale Apathie hatte von Neuem Gewalt über ihn genommen. Die Welt rempelte ihn zu wenig an. Er mußte Waffen klirren hören. Dann konnte er noch aufflammen.
Mittags beim Speisen fiel Adam ein, heute bei Doctor Irmer den beabsichtigten Besuch zu machen. Mit Hedwig zusammenzutreffen – es hatte immerhin Etwas für sich. Und doch reizte es ihn auch eigentlich nicht. So beschloß er denn zu der Stunde, wo Hedwig in Café Caesar die Zeitung abzuholen pflegte, also von Hause abwesend war, ihren Vater heimzusuchen. –
»Ist Herr Doctor Irmer zu sprechen –?«
Adam suchte seine Karte hervor und hielt sie dem Mädchen hin. Dabei warf er einen kurzen, scharfen Blick auf das Dirndl. Das wurde ein Bissel verlegen und erröthete. Das Ding war nicht übel. Eine kleine, untersetzte, volle Gestalt. Allerdings etwas lotterig und unsauber, von Spuren grober häuslicher Arbeit übersäet. Das Mägdlein wischte sich die rothen, unfeinen, unappetitlichen Hände an der dreckigen Schürze ab, ehe sie Adam die elegante, elfenbeingelbe Visitenkarte zaghaft-täppisch abnahm.
»Der Herr Doctor läßt bitten ...«
Das Mädchen ging auf dem schmalen, schattendurchdunkelten Corridor vor Adam her. Der konnte sich nicht enthalten, einen Augenblick die Finger seiner glacégantirten Rechten um den vollen, linken Oberarm der kleinen ancilla amandissima zu spannen.
Ein leises, Entrüstung, Ueberraschung und heimliches, verhaltenes Vergnügen zugleich verrathendes »Na!« ließ sich hören. Der Arm entschlüpfte.
Adam ging auf Herrn Doctor Irmer zu, der im Sessel vor seinem Schreibtische saß und den Kopf halb zu dem Eintretenden hingewandt hielt.
»Verzeihen Sie, Herr Doctor, daß ich mir die Freiheit nehme, Sie aufzusuchen. Aber –
nun – offen gesagt: Sie interessiren mich. Ich hatte neulich die Ehre, Ihr Fräulein
Tochter gelegentlich eines Soupers bei Herrn Quöck kennen zu lernen. Und
»So ... so! ... Aber bitte ... nehmen Sie doch Platz, Herr Doctor ... Ich habe leider keine Gewalt mehr über mich ... kann mich nur wenig bewegen ... Sie müssen mir schon erlauben, hier sitzen zu bleiben ...«
Die Worte waren leise, mühsam, fast ohne jede Tonfärbung gesprochen. Auf dem bleichen Gesicht Herrn Irmers lag ein Ausdruck, der halb Hülflosigkeit, halb Verlegenheit verrieth. Irmer war nicht gewöhnt, Besuche zu empfangen. Zudem befremdete ihn wohl auch die etwas burschikose Art, die abgebrochene Geständnißhaftigkeit Adams.
Adam schob seinen großen Schlapphut nachlässig ungenirt in ein Fach des Bücherrücks und warf sich in die Sophaecke.
Eine Pause entstand. Doctor Irmer blickte fragend, erwartend, verlegen zu seinem Gaste hinüber.
»Sie schriftstellern also auch?« fragte er endlich.
Das war leichthin, nachlässig gesprochen, ohne weitere innere Theilnahme, mit dem Accente halb ehrlicher, halb affectirter Selbstironie.
Herr Doctor Irmer nickte mit dem Kopfe. Wiederum trat eine Pause ein. Was wollten die beiden Menschen nur von einander?
Adam musterte seine Umgebung. Zur Noth konnte man diese Einrichtung ja behaglich
nennen! Und doch athmete das Zimmer einen Geruch der Aermlichkeit aus, der kaum
verschleierten, kaum zu verkennenden Nüchternheit, der Adam etwas beklemmte. Er
liebte den mit feinem, ästhetisch durchgebildetem Geschmacke angewandten Luxus. Er
bewohnte selbst zwei sehr comfortabel ausgestattete Zimmer, die ihn eigentlich mehr
kosteten, als er nach seinen Verhältnissen an Miethszins dafür hätte ausgeben dürfen.
Aber es war ihm Bedürfniß, in
»Was enthalten denn die Brochüren, die Sie jetzt geschrieben haben, Herr Doctor?« fragte Irmer endlich.
»Ach Gott! das sind mehr feuilletonistische Stilübungen. Ich lege weiter keinen Werth auf sie. Moderne, zeitgemäße Themata übrigens. Hoffentlich bringen sie mir ein paar Dreier ein. In dem einen Hefte habe ich allerlei Pikanterie'n über das specifische Wesen des deutschen Gymnasiallehrers ausgekramt – – ich hatte nämlich selbst einmal die Ehre, einem Präceptorencollegium anzugehören, Herr Doctor – na! und da lernt man ja diese famose, menschliche pêle-mêle-Speise kennen – in dem ander'n Hefte, das aber noch nicht ganz fertig ist, plaudere ich über – – oder sagen wir meinetwegen: liefere ich eine psychologische Analyse des geistigen Proletariats von heute – ›modern,‹ wie gesagt, ›zeitgemäß‹ sind die Motive jedenfalls ...«
»Ja! ... Ja! ... versicherte Doctor Irmer zustimmend. Er sah vor sich hin. Sein Gesicht nahm sich sehr nachdenklich aus. Zugleich etwas schmerzhaft verzogen. Adam konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß sein Gegenüber bedauerte, auf den Gedanken, derartige ›brennende Fragen‹ zu behandeln, nicht selbst gekommen zu sein.«
»Ich interessire mich aufrichtig für die Dame,« gestand Adam lachend. »Sie kennen die orientalische Methode, Herr Doctor, zwei Wesen zu copuliren, die sich nie gesehen haben: so kommt es mir immer vor, wenn ich an mich und meine Zukunft denke ... Schließlich ergeht es ja jedem Individuum also ... aber Unsereiner – hm! nun! ich wiederhole: ich interessire mich sehr ... sehr ... für meine ... Zukünftige ...«
»Ihr Fräulein Tochter ist nicht zu Hause –?« fragte Adam nach einer Weile. Er hatte vergeblich einer Erwiderung Irmers auf seinen spaßigen Vergleich geharrt.
»Nein! . die macht sich um diese Zeit immer etwas Bewegung. Das arme Mädchen kommt ja sonst nicht viel heraus. Hedwig ist mein Ein und Alles, ohne sie wäre ich vollständig hülflos, sie liest mir vor – ich dictire ihr – ich habe sie ganz in meine philosophische Weltanschauung eingeführt. Ich glaube, sie hat überwunden und die große Lebensillusion erkannt ...«
»Prost!« wäre es Adam beinahe über die Lippen gefahren. Im letzten Augenblicke hakte er das fatale Wörtchen noch zurück. »Sie sind Schopenhauerianer, Herr Doctor?« vermochte er nun zu fragen.
»Nicht eigentlich ... Ich bin überhaupt kein Anhänger eines bestimmten Systems – eben
aus Philosophie ... Sie erinnern sich des Schiller'schen
»Gewiß! Aber um erkennen zu können, bedarf man, abgesehen von der psychischen Grunddisposition, einer gewissen inneren, durchgesiebten Fülle, die indentisch mit Stille und feiner, leise vibrirender, seelischer Gespanntheit ist ... Und der Besitz dieser Gespanntheit hängt doch vielfach von den äußeren Verhältnissen ab – von Verhältnissen, die man in der Erkenntniß als werthlose Illusionen verwerfen muß ... und die trotzdem die Bedingungen sind, sine quibus intelligi non possit, nicht wahr? Das Reale ist vom Abstrakten abhängig, nicht das Abstrakte vom Realen ...«
»Hm ... hm ...« Irmer fuhr sich mit den weißen, schmalen, knochigen Fingern seiner rechten Hand über die hohe, durchfurchte, krankhaft ausgebleichte Stirn. »Und schließlich wissen wir doch Nichts –« fügte er mit leiser, müder, umflorter Stimme hinzu.
»Haben Sie's fertig gebracht, ganz zu verzichten, Herr Doctor?« fragte Adam, weniger, um das Gespräch zu vertiefen, als um es weiterzuspinnen. Es war ihm plötzlich eine bezwingende Sehnsucht nach Hedwig in die Seele getreten. Er hätte heute zu gern noch einmal ihr trotzig-gleichgültiges Gesicht vor sich gehabt, zu gern noch einmal den Blick ihres schweren, dunklen Auges herausgefordert. Also durfte er die Unterhaltung um keinen Preis an der galoppirenden Schwindsucht crepiren lassen.
»Aber warum denn überhaupt verzichten, Herr Doctor? Ich finde zeitweilig das Leben
dämonisch schön ... dämonisch berauschend ... ich glaube fast: sogar auch in diesem
Augenblicke ... Ja! Gewiß! Es kann Einem jede Sekunde eine Dachziegel auf den Kopf
fallen ... und man läuft immer Gefahr, irgend einen Fuß oder irgend ein Genick zu
brechen ... Aber warum soll man den der menschlichen Natur immanenten Leichtsinn –
und nur er exportirt ja das Oel, welches die schaurig-groben Reibungen des Lebens
verringert – ›tragisch‹ nennen, wie so viele alte und junge Unglückstanten thun?
Leben wir doch drauf los! Mag's doch kommen, wie 's will! Eine geradezu fanatische
Lebenssehnsucht krampft sich manchmal in meinem Herzen zusammen. Es giebt ja namenlos
viel Unglück und Elend auf der Welt ... ja! ... ja! . ich weiß es recht gut ... Was
die Armuth leidet, die nackte und die versteckte, – es ist unsagbar ... Der Mensch
liebt das Vergleichungsverfahren. Das ist sein Grundelend. Ich wohnte einmal bei
einer Familie, wo die Frau Tag ein, Tag aus, vom frühen Morgen bis zum späten Abend,
weiter Nichts zu thun hatte, als Magd und Mutter zu spielen ... Unsereiner kann die
Enge, die Monotonie, die Schmucklosigkeit, das grenzenlos Mechanisch-Marionettenhafte
einer solchen Existenz gar nicht fassen. Und dabei diese Bedürfnißlosigkeit! . Es ist
unglaublich,
Irmer lächelte, halb gutmüthig-belustigt, halb ironisch. »Ich habe das Gefühl, Herr
Doctor,« begann er sodann, nachdem er eine kleine Pause nach der buntscheckigen Rede
Adams hatte verstreichen lassen, – »daß das Alles gar nicht Ihr Ernst ist ... Ich
höre nicht gut ... und Sie sprechen auch nicht sehr laut, aber mir kommt es vor, als
ob Ihre Stimme etwas spöttisch geklungen hätte vorhin. Nun ... ich habe eine andere
Art ... wenn ich damit auch nicht gesagt haben will, daß ich nicht auch einmal so wie
Sie gedacht, gewollt und gewünscht hätte ... das ist aber schon ein Weilchen her ...
so ein paar Jahrzehnte. Gehen Sie hinaus in die Welt, lieber Doctor! Sie sind noch
jung ... Und wenn Sie älter ... alt – älter ist manchmal weniger, als alt – geworden
sind, auf ganz gewöhnliche, hergebrachte Weise alt ... physiologisch kühler und enger
... dann kommen Sie wieder ... und Sie sind wieder ›Pessimist‹, wie es Kant,
Schopenhauer, Goethe, Humboldt und die ganze Gesellschaft von Kerlen, die Etwas
bedeutet haben, gewesen sind ... On revient toujours ... Sie verstehen – das ist auch
in der philosophischen Weltanschauung
»Hm! Ich muß allerdings gestehen, daß es mit meinen ethischen Principien ziemlich schlecht bestellt ist ... Aber ... verzeihen Sie, Herr Doctor ... da kommt mir eine Frage – ich will im Himmelswillen nicht indiscret sein – nun – also: finden Sie es mit Ihren ethischen Normen vereinbar, daß Sie Ihr Fräulein Tochter, die jung ist, wie ich, und gewiß Stimmungen, Bedürfnisse, Wünsche hat, wie ich – ich schließe einzig und allein per Analogie – daß Sie Ihr Fräulein Tochter also ganz in die Hände Ihrer Entsagungsphilosophie liefern? – Halten Sie diese Praxis für absolut richtig –?«
Adam sah bei diesen, nicht ganz sicher und unbefangen gesprochenen Worten auf die Fingernägel seiner rechten, nach innen gekrümmten, in Schrittweite dem Gesicht genäherten Hand – er hatte die Glacés, die ihm nicht besonders zu der schlichten Umgebung zu passen schienen, schon vorher abgezogen – er sah auf die Fingernägel seiner rechten Hand, als wollte er sich in den kleinen, glänzenden Flächen spiegeln.
»Ah ... Hedwig! ... Nun ... Nun ... ich ... ich – meine Tochter hat schon viel
durchgemacht, Herr Doctor ... sehr viel. Ich glaube, es ist Zeit, daß sie zum Frieden
kommt. Und dann ... warum soll ich's nicht gestehen? ...
Adam erhob sich und griff nach seinem Hute.
»Ich danke Ihnen, Herr Doctor, für die Anregung, die Sie mir gegeben ... Und hoffentlich ... hoffentlich ist es nicht das letzte Mal, das wir zusammengeplaudert. Die Welt ist gemein ... ganz Recht! ... und die Menschen sind Bestien ... sie schwatzen und klatschen und kritisiren und ... keifen und ... zucken die Achseln und treten einander todt ...
›Hülfreich ist der Mensch,
Edel und gut –
Doch zuweilen, wenn er gerade Durscht hat,
Säuft er seines ›Nächsten‹ Blut ...‹
Eh bien! ... Das ist eine bekannte Geschichte ... Doch das ist der Pessimismus der
Jugend, der zwanziger Jahre ... Man findet Alles gemein, weil man Alles noch zu
allgemein findet ... finden
»Bitte! ...«
»Also auf Wiedersehen! ... Wollen Sie mich gütigst Ihrem Fräulein Tochter empfehlen ... Ich habe die Ehre! ...«
»Adieu! ...«
Adam verließ das Zimmer. Auf dem Corridor athmete er einmal tief auf und schaute unwillkürlich nach der feschen Dienstmaid aus. Er hätte zu gern eine kleine Abwechslung gehabt. Aber das Mädel blieb unsichtbar.
Als Adam die letzten Treppenstufen hinunter schritt, betrat Hedwig den Hausflur. Der Herr Doctor ging langsam an ihr vorüber und grüßte sehr förmlich. Die Dame nickte kurz.
An der Thür wandte sich Adam noch einmal um. Fräulein Irmer stieg ruhig die Treppe hinauf.
Adam gab einen kurzen, grellen, scharfen Pfiff von sich. Dann schlug er die große, schwere, ungefüge Thür hinter sich zu. –
Endlich war Nachricht von Lydia gekommen. Frau Lange schrieb mit kleiner, schräger, nicht besonders geübter, kaum charakteristischer Schrift:
»Werther Herr Doctor! Wollen Sie morgen Abend die bewußte Tasse Thee bei mir trinken
–? Gegen acht Uhr – ja? Bitte, bringen Sie doch die Stimmung wieder mit, in der Sie
den Brief geschrieben! Er hat mir viel Vergnügen gemacht, trotzdem ich ihn wohl noch
nicht ganz verstanden
Lydia Lange.«
Am nächsten Tage schwankte Adam unaufhörlich in seinen Stimmungen hin und her. Er
wußte wieder einmal nicht ein noch aus. Es war ihm wieder einmal das Talent ganz
abhanden gekommen, sich von der Widerspenstigkeit der Objecte anziehen, belustigen zu
lassen. Das kann doch zuweilen wirklich sehr amüsant sein. Zweifelte er an sich, an
seinen Kräften und Fähigkeiten? Er besaß ein sehr schlechtes Gedächtniß für sich.
Eine erneute Stimmung nahm ihn immer so ganz hin. Und war das gerade eine Stimmung
marternder Geisteszerrissenheit, so mußte er ganz vergessen, daß ihm einmal klarer,
einfacher, unmittelbarer, praktischer zu Sinn gewesen. Es lastete ein unerklärlicher
Druck auf ihm, eine gerechtfertigt-ungerechtfertigte Trauer ... eine peinigende,
gegenstandslose Betrübniß ... kein schneidender Gethsemaneschmerz ... eine lähmende,
zusammenzwingende Schwere. Er hatte keine Freude daran, die kleinen Arbeiten des
Lebens auf sich zu nehmen. Nichts Großes erschütterte ihn, das kleine Gewürm halber,
angedeuteter Gefühle verleidete ihm das Leben, welches ihm doch manchmal mit seinem
bunten Wirrwarr, seinem unermüdlichen Farben- und Formenspiel so unendliche Reize
bieten konnte. Warum
In tadellosem, schwarzem Gesellschaftanzuge; mit einem Gesicht, das halb müde Gleichgültigkeit, halb obligate, gegenstandslose Neugier und Gespanntheit ausdrückte, trat Adam Mensch einige Stunden später in das Cabinet Lydias.
»Sie haben mich gerufen, gnädige Frau – ich bin gekommen ...«
»Ich danke Ihnen, Herr Doctor!«
Lydia hatte bei dem Eintreten Adams vor ihrem zartgliedrigen Luxusschreibtische, der
so gar nicht für ehrliche, schwere Arbeit auf der Welt zu sein schien, gesessen und
war nun aufgestanden. Ein leiser Moschusduft lag im Gemach. Auf dem Schreibtische
brannte inmitten einer Fülle eleganter Nippes, inmitten einer zwanglos und doch
geschmackvoll arrangirten Kleinwelt von Statuetten, Photogrammen, Portraits,
Goldschnittbändchen, lose durcheinandergezetteltem Pergamentpapier, Muscheln und
Steinen, eine grünverhangene Broncelampe. Das mittelgroße Zimmer war von den Schatten
anheimelnder Dämmerung durchdunkelt. Die Umrisse der Möbel verschwammen, die Farben
und Muster
Lydia hatte die Lampe auf den kleinen, runden Tisch gestellt, der, umgeben von einer Fauteuils-Corona, vor dem Sopha an der gegenüberliegenden Breitseite des Zimmers stand.
»Ich muß doch wohl für etwas mehr Licht sorgen –«
»Wenn ich bitten darf, gnädige Frau ... diese Lichtstimmung ... es ist so poetisch, dieses Zusammenfließen von Hell und Dunkel –«
»Ja? Nun ... dann ... ich habe diese Beleuchtung auch sehr gern ... gerade dieses clair-obscur ... Aber modern ... ›modern‹ ist es doch eigentlich kaum, Herr Doctor ... So mittelalterlich ... so romantisch ... Nun suchen Sie sich bitte einen Fauteuil aus ... und dann will ich den Thee bestellen ... oder ... oder – Emma wird ihn allerdings schon bereitet haben ... aber das thut ja nichts ... sie mag ihn 'mal selbst probiren – ich schlage vor, Herr Doctor, daß wir unsere erste Sitzung mit einem Glase Steinberger Cabinet einweihen – ja ...?«
»Gnädige Frau – ich ... meinetwegen –«
»Jetzt ist er schon so weit, daß er ›meinetwegen‹ sagt!« fiel Frau Lange neckisch ein. »Diese Gnade, lieber Doctor! ... Ich danke Ihnen! ...«
»Ich bitte ... Sie haben mich mißverstanden, gnädige Frau ...«
Lydia schellte. Ein Diener trat ein.
»Denken Sie, Doctor, dieser junge Mann, dieser Weinapostel, heißt August – schrecklicher Name ... nicht? Aber er läßt ihn sich nicht abgewöhnen ... diese Leute haben auch ihren Stolz ... Was will ich machen? So sehr ich mich empöre – ich muß mich schließlich fügen. Es bleibt mir nichts Anderes übrig. Und der Mensch ist doch sonst ganz tüchtig und zuverlässig ...«
Adam antwortete nicht. Eine spitze, bittere Bemerkung lag ihm auf der Zunge. Aber er unterdrückte sie. Da klagte ihm eine schöne, vornehme Dame ihr Leid ... ein Leid, das im Grunde wirklich außerordentlich schwer und herb war. Und sie fand es der Mühe werth, an ein Nichts eine ganze Reihe von Worten zu verschwenden. Wußte sie wirklich nicht, daß man sich manchmal noch in ganz ... andere Dinge fügen muß?
»So schweigsam, Herr Doctor? Warum? Nein! ... heute Abend ... heute Abend lieber nicht! ... Melancholisch? Nun ... vielleicht löst Ihnen der Wein die Zunge ... Lassen Sie doch die alten, odiosen Gespenster! Bei meinem Vetter ... neulich ... fiel es mir schon auf, daß ... doch .... hören Sie! Draußen tobt der April! Wir wollen uns recht gemüthlich fühlen ... die letzte, karge Wintergemüthlichkeit ... es wird leider so bald auch außerhalb des Kalenders Frühling ... und dann ...«
»Und werden? Was Sie sich einbilden, Doctor! Doch ... pardon! ... Ja ... ich hoffe auch – Mai ... Juni – nun! Wir wollen uns vornehmen, einen recht intimen Frühling zu verleben ... einverstanden? ...«
»Lydia! ...« Adam war der Vorname Frau Lange's entfahren – er wußte nicht, wie ...
»Dummheit, Herr Doctor! Was fällt Ihnen ein! Wir sind doch zwei ganz vernünftige Menschen! Nicht wahr? ... Was macht übrigens Ihr Bibel-Capitel? ... Nein! Wie mich Ihr hübscher Brief amusirt hat! – Aber was hat die Emma nur?«
Frau Lange schellte zum zweiten Male. In demselben Augenblicke trat das Mädchen ins Zimmer, eine ziemlich umfangreiche Tablette nur mit Mühe vor sich her balancirend.
»Was soll das nur heißen, Emma! Du hast Dir wohl den Thee erst 'mal näher besehen? ... Dazu war doch nachher auch noch Zeit! Und auch der ... der August bleibt mit dem Weine – ich glaube gar, Ihr ... Emma! ... ich will nicht hoffen – – Ihr fliegt alle Beide an die Luft – das kann ich Euch sagen ...«
Emma war roth geworden. »Gnädige Frau ...« stotterte sie –
Adams Auge weilte wohlgefällig auf der vollen, ebenmäßig abgerundeten Gestalt des
Mädchens. Das war nicht zu viel und nicht zu wenig. Diese Arme unter dem straffen,
enganliegenden Kleide ... diese Brust
»Sie sind ein Epicureer, Herr Doctor!« sagte Frau Lange spöttisch.
»Wieso, gnädige Frau? Weil ich für Ihre reiche Tafel kein Auge ... kein Verständniß zu haben scheine? Verzeihen Sie! ...«
»Sie gestehen also? ...«
Emma schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. An der Thür wußte sie sich noch einmal so zu drehen, daß sie einen vollen Blick auf Adam werfen konnte.
»Emma!« rief Lydia laut nach. Das Mädchen trat in den Thürrahmen zurück.
»August mag sich ein Wenig beeilen – und dann bring' die große Lampe aus dem blauen Salon herüber ... Sie sollen Ihre Augen nicht zu sehr anstrengen, Herr Doctor!« fügte Frau Lange, zu Adam gewendet, ironisch hinzu.
Adam und Lydia sahen sich fest an. Sie verstanden sich. –
»Aber ... Sie sind doch noch nicht fertig, Herr Doctor? Ich bitte Sie! Wollen Sie
nicht noch 'n Stück Fleisch nehmen? Bitte ... ja! Es ist delicat, wie ich, ohne meine
Küche rühmen zu wollen, sagen darf ...
»Ich bitte, gnädige Frau! ... Ich habe gar kein Recht, etwas Besonderes scheinen zu
wollen, sintemalen ich gar nichts Besonderes bin ... Wenigstens momentan ... In den
letzten Wochen, wenn nicht Monaten, bin ich meinem ganzen Denken und Fühlen nach ein
verzweifelt alltäglicher Mensch gewesen ... Ich finde nichts Neues mehr ... ich
erkenne Nichts mehr ... ich habe keine Interessen mehr ... ich bin gegen Alles
grenzenlos gleichgültig ... Alles ist todt, verschüttet, ausgestorben in mir. Ein
Druck liegt auf mir – ich sage Ihnen: furchtbar! Ganz furchtbar! Und Nichts ...
Nichts reißt mich aus dieser Verstumpfung heraus ... Ich glaube ... ich fürchte:
meine beste Zeit ... die Zeit, wo ich geistig aktiv sein durfte ... wo ich für
tausend Reize empfänglich war ... wo ich nach allen Seiten hin Anregung gab und
Anregung empfing, ist vorüber ... Und ... und gewöhnlich vermisse ich absolut Nichts.
... das ist das Entsetzlichste. Nur manchmal, wie eben
Lydia sah den ihr gegenübersitzenden Adam gespannt an. Sie hielt sein Gesicht auch mit dem Auge fest, als August eintrat und den Wein brachte. Frau Lange verstand den Herrn Doctor im Grunde wohl kaum. Aber mit dem feinen Instinkt des Weibes fühlte sie, daß ihr Gast da etwas aus seinem Seelenleben preisgab, was für ihn schmerzliche Wahrheit und Gültigkeit besaß.
»Nun ... nun, Herr Doctor ... in diesem Sinne – – ich wollte durchaus keine Beichte herausfordern ... verzeihen Sie, wenn ich Ihnen Gelegenheit zu einem Mißverständniß gab ... Bei meinem Vetter übrigens ... neulich Abends ...erschienen Sie mir durchaus nicht so pessimistisch ... haben Sie inzwischen – doch pardon! ... Und ... und damals empfing ich auch den Ein druck von Ihnen, daß man Sie durchaus nicht mit dem ersten besten Strohmann – bewundern Sie nur meine Scatkenntnisse! – mir schien es also, als ob man Sie durchaus nicht für einen Strohmann des Lebens halten dürfte ... Und darum meinte ich vorhin – – ach! ... Wissen Sie übrigens, Herr Doctor, daß ich Ihnen eigentlich ... eigentlich ein Wenig böse sein sollte? Sie –«
Lydia hatte sich erhoben und füllte die Gläser. Dabei sah sie, am Tische diskret
eingewinkelt nach
»Böse? Sie erschrecken mich, gnädige Frau! Warum böse, wenn ich fragen darf?«
»Verstellen Sie sich nur nicht! Sie wissen ganz genau, was ich ... was ich ... meine – oder sollten Sie ... sollten Sie? Das wäre doch zu naiv! . Nicht wahr –?«
»Ich bin immer noch rathlos –«
»Vergessen wir den Wein nicht! ... Und nun lassen Sie Ihre Reserve ein Wenig fahren, Herr Doctor – ja? Sie geben sich in der Unterhaltung so ohne Pathos ... so – ich weiß gar nicht ... ich liebe die Force, das Spontane ... das Unberechenbare ... und Sie scheinen doch sonst das Zeug zu haben, ein eigenes Gesicht zu machen ... einen eigenen Menschen vorzustellen – heute sind Sie so conventionell – wie ich schon vor hin sagte ... so ... so ... nun! ... man erwartet gar Nichts von Ihnen ... kurz: heute sind Sie ganz schrecklich, Herr Doktor! ... Was fehlt Ihnen nur –?«
»Mir? ... Nichts ... gar Nichts, gnädige Frau! ... Im Gegentheil: ich fühle mich sehr wohl ... sehr behaglich ...«
»Nun! dann wollen wir 'mal anstoßen – bitte!«
Die Gläser trafen sich, aber auch die Augen. Schlumernde Flammen wurden da geweckt, brachen heraus und züngelten heftig in einander.
»Also ... Sie wissen noch nicht –?«
Lydia wandte sich ab. Sie nestelte an ihrer Uhrkette und sah nach dem Schreibtische hinüber.
»Wie geht es eigentlich Fräulein Irmer, Herr Doctor«? fragte sie nach einer kleinen Pause leichthin, ohne Adam anzusehen.
Jetzt hatte der Herr Doctor allerdings verstanden. In seinem Gesicht zuckte es. Und da wandte sich ihm Frau Lange auch wieder voll zu. Sie bemerkte den ironischen Zug um Adams Mund und Nase, bemerkte die etwas zusammengekniffenen Augen. Ein sehr verzweigter, im Ganzen aber doch mehr angedeuteter, als erschöpfend ausgeführter Gefühlscomplex: momentane Wuth ... Haß ... Zorn ... Neid ... drängte sich ihr auf. Dieser Mensch konnte doch zu impertinent, zu moquant sein. –
»Nun?« fragte Frau Lange indignirt.
»Hedwig Irmer, gnädige Frau ...« – Adam setzte absichtlich, mit einer kleinen, unscheinbaren und doch, wie er wußte, nicht wirkungslosen Betonung den Rufnamen voran – »Hedwig Irmer – ja! ... habe ich die Dame denn seitdem – – seitdem? – richtig! ich machte ihrem Vater neulich einen Besuch – und da –«
»Gefällt Ihnen Hedwig, Herr Doctor –?« Frau Lange hatte sich zurückgelehnt und
streckte die Hand nach ihrem Weinglase aus. Die wundervolle Plastik des Armes trat
berückend hervor. Der Aermel straffte sich zurück, und das volle, runde Handgelenk
schimmerte verführerisch auf in seiner
»Warum sollte mir Fräulein Irmer nicht gefallen –?« erwiderte Adam spöttisch-nachlässig. »Die Dame hat entschieden etwas sehr Eigenthümliches. Sie scheint auch intellektuell nicht unbedeutend zu sein. – Allerdings! ein Bissel zu viel triste, dürre Abstractions-Philosophie hat sie unter der Anleitung ihres Herrn Vaters wohl doch schon geschluckt. Unmittelbares ... Ursprüngliches geht ihr vollkommen ab. Ich glaube, man muß sich ... man müßte sich erst durch einen dicken Wall von Vorurtheilen und Voreingenommenheiten hindurcharbeiten – ganz abgesehen von der seelischen Schwerfälligkeit, die gar nicht zu brechen sein wird –«
»Hm! ...«
Adam sah Frau Lange an. Sie verstanden sich wieder einmal.
» ... Die gar nicht zu überwinden sein wird ... sein würde – – wenn ... wenn also ein
seelisch einigermaßen intimer Verkehr ermöglicht werden sollte. Interessant ist die
Dame aber zweifellos. Nun ... es wird nachgerade Zeit, auf Urwüchsigkeit überhaupt zu
verzichten. Man hat sie ja selbst längst ... längst eingebüßt – es ist rabbiater
Unsinn, sie immer wieder mit Pathos zu fordern und zu erwarten. Wenn man bedenkt, wie
bescheiden man eigentlich schon geworden ist! Es ist mitunter rein zum Todtlachen!
Das heißt: man wird ... man ist unkritisch geworden.
»Aber Sie wollten ja von Fräulein Irmer sprechen, Herr Doctor ... Sie begannen doch wenigstens in der Tonart – und nun sind Sie wieder einmal ... wieder einmal bei mir angelangt – das ist doch –«
Die Beiden sahen sich an. Und Adam versuchte, Frau Lange's linke Hand – Lydia saß rechts von ihm auf dem Sopha – zu erhaschen. Es gelang ihm. Lydia hatte sich abgewandt. Sie athmete erregter. Einen Augenblick fühlte Adam die kleine, warme, weiche Hand der schönen Frau zwischen seinen bebenden Fingern. Ein heftiges Begehren durchschüttelte ihn. Er bezwang sich. Und elegant zog er Lydias Hand an seine Lippen. Frau Lange seufzte leise auf und erhob sich.
»Da haben Sie's, Herr Doctor: das Mädchen läßt sich nicht wieder blicken. Es ist unerhört. Nun, ihre längste Zeit ist sie hier gewesen, die Dame. Ich muß doch 'mal selber nachschauen, wo sie eigentlich steckt. Verzeihen Sie – ich bin sogleich zurück –«
»Bitte sehr, gnädige Frau ...«
Lydia verließ das Zimmer. Im nächsten Augenblick öffnete sie noch einmal die Thür von außen und rief ins Cabinet zurück: »Ich hatte ganz vergessen ... die Cigaretten ... wollen Sie sich bedienen, Herr Doctor! – auf meinem Schreibtisch – rechts ... neben dem Couverts-Carton ... steht die Schachtel ... fangen ... fangen Sie nur Feuer –!«
Lydia lächelte berückend zu Adam hinüber.
»Sehr liebenswürdig, gnädige Frau ...«
Lydia verschwand wieder. Der Herr Doctor hatte sich erhoben. Er fühlte sich sehr
behaglich. Er stand einen Augenblick mitten im Zimmer still und dehnte und reckte
sich. Ein kleiner Drang zum Gähnen befiel ihn. Aber er unterdrückte ihn tapfer. Das
dünkte ihn denn doch zu undankbar. Mit großer Genugthuung sog er die Atmosphäre des
elegant-gemüthlichen Cabinets ein. Diese von der matten Beleuchtung mehr
durchdunkelte als erhellte Umgebung entsprach sehr intim seinen Bedürfnissen und
Neigungen, gebar ihm eine eigenthümlich reizvolle Stimmung. Und das Begehren ward in
ihm lebendig, dauernd unter solchen, in sich gesicherten Bedingungen zu leben. Und
Lydia? Adam sagte sich, daß er ihrer pikanten, vollen, reifen Frauenschönheit heute
Abend zum Opfer gefallen war. Starken Eindrücken war er ja so zugänglich ...
wenigstens konnte er sich für eine kurze Zeitspanne ganz von ihnen aufzehren lassen.
Nun! Er wollte den Genuß der Stunde auskosten. Wer weiß, was ihm noch bevorstand!
Oder sollte er selbst versuchen, mit starker Hand in die Speichen seines kleinen
Adam trank sein Glas leer und ging zu Lydias Schreibtisch hinüber. Er betrachtete einige Augenblicke sinnend das kleine, feine, entschieden distinguirte, jetzt nur zu undeutlich beleuchtete Möbel. Nein! Das war Alles viel zu zierlich, das war Alles viel zu geschmackvoll arrangirt, zu feingeistig zusammengeordnet, um mehr, denn eine schöne Dekoration zu sein. Diese engen, flachen Schubkästen waren nur dazu bestimmt, schmale, dünne, discret parfümirte Briefchen, die wohl eine roth- oder blauseidene Schlinge einschnürt, aufzunehmen. Diese kleine, dünne, feuchtbraun glänzende Platte ertrug höchstens den reservirten Druck eines zärtlich-vorsichtigen Frauenarms, duldete wohl gerade nur die Gegenwart eines Briefblattes, auf welches eine schöne, ringblitzende Damenhand allerlei Koseworte, ein schillerndes Wortgetändel, krause Gedankenarabesken niedertropfen läßt ... oder die Gegenwart eines graciösen Goldschnittbändchens, in dem man blättert, um hier einen elegant geformten Satz, dort einen geschmeidigen Reim aufzupicken, oder eine perlende, schillernde Strophe, die leise eine Saite der Erinnerung anschlägt ... eine Saite, die nun verhalten aufklingt ... und in zarten Schwingungen Bilder um Bilder empordämmern läßt ...
An diesem Tische muß eine schöne Frau wunderbar träumen und sinnen und plaudern können ... Plaudern mit den Gestalten ihrer Träume, ihrer Phantasie'n ...
»Mit Ihrer Erlaubnis, gnädige Frau, habe ich also soeben ... soeben Feuer gefangen ...«
»Bravo, Herr Doctor!« Lydia lächelte, aber etwas gezwungen. Unmuth und Aerger lagen auf ihrem Gesicht.
»Wie glücklich sind doch diese Menschen!« ließ Frau Lange jetzt verlauten – »Sitzen die beiden, August und Emma, seelenvergnügt in der Küche zusammen und schwatzen sich tausend Dummheiten vor ... Alles Andere wird ganz gemüthlich vergessen – die Leutchen scheinen rechtschaffen verliebt ineinander zu sein ... Geschmacklos – finden Sie nicht auch, Herr Doctor? Diese dumme Plebejerliebe! ...«
»Geschmacklos – warum, gnädige Frau? Warum nennen Sie das Natürliche ›geschmacklos‹?
Und Sie finden doch auch, daß die Menschen glücklich sind! Ja! Ich glaube es beinahe
auch: glücklicher sind sie, als Unsereiner ... Sie dürfen so viel ungenirter, so viel
zwangloser, unmittelbarer, derber, ehrlicher sein! Allerdings ... für uns ist unter
Umständen ja gerade das Unnatürliche ... glücklicherweise das Natürliche ... das
Pikante, das Reizende, Anreizende, Schaffende. Ich wenigstens liebe
Lydia hatte sich Adam gegenüber auf einen Fauteuil niedergelassen und zündete sich jetzt eine Cigarette an.
Es klopfte.
»Herein!«
Emma brachte zwei Flaschen Wein und schickte sich an, das Geschirr abzuräumen. Das Mädchen sah sehr kleinmüthig aus. Adam erhielt einige scheue, unbeholfene Blicke. Lydia schien ganz von ihrer Cigarette engagirt zu sein. Eine peinliche Stille lag im Zimmer. Emma hantirte unsicher, ihre Hände zitterten. Einige Male ließ sie sehr unsanft das Geschirr zusammenklappern.
»Nun schmollt die Dame auch noch –« begann Frau Lange, als das Mädchen das Zimmer wieder verlassen hatte.
»Wie haben Sie eigentlich das Rauchen gelernt, gnädige Frau?« fragte Adam in der Absicht, dem Gespräche eine andere Wendung zu geben.
»Wie? Komische Frage, Doctor! So viel ich mich erinnere, habe ich mich diesem
abscheulichen Laster schon sehr früh ergeben. Das heißt –: geboren bin ich mit einer
Cigarette im Munde gerade nicht ... aber später ... einige Jahre darauf ... in der
schönen, schönen Backfischzeit – da rauchten wir Selektanerinnen eben alle ...
Ueberhaupt, Doctor, Sie können sich keinen Begriff davon machen, wie ... gescheit so
eine ›höhere Tochter‹ schon ist! ... Sie weiß ... sie weiß so
Die beiden thaten einen tüchtigen Zug. Unerwartet war durch den offenen, burschikosen Ton, den Lydia angeschlagen, eine frischere, intimere Bewegung in die Unterhaltung geflossen.
»Also Ihr Amazonenclub, gnädige Frau –?«
»Nein! ... Von dem will ich doch lieber stille sein ... Wir haben tolle Geschichten gemacht – weiß Gott! – aber bedienen wir uns nur wieder einmal des bekannten Schleiers der christlichen Liebe –«
»Gnädige Frau! ...« bat Adam sehr eindringlich. Das Thema interessirte ihn aufrichtig. Er hätte zu gern noch einige harmlose Einzelheiten aus sotanem Capitel erfahren.
»Ih! Wie werd' ich denn, Herr Doctor! Und warum Ihre Neugier? Wir sind allzumal
Sünder! Also ... später – später verheirathete ich mich. Mein seliger Mann rauchte
leidenschaftlich. Er konnte es nicht lassen, obwohl es ihm seiner defekten Lunge
wegen der Arzt streng untersagt hatte. Mein
Lydia hatte die letzten Worte mit leiser, stockender, zitternder Stimme gesprochen. Sie war sehr nachdenklich geworden, beinahe weich, vielleicht so etwas wie sentimental. Auf ihrem Gesicht stand ein Ausdruck ehrlicher Trauer, eines beinahe zärtlichen Schmerzes. Adam stutzte. Nun wurde er doch verwirrt. Das hatte er nicht erwartet. Er hatte sich so ganz daran gewöhnt, Frau Lange als ... nun! ... eben gleichsam als jungfräuliche Wittwe zu betrachten ... losgelöst von allen Beziehungen, die ihm etwa peinlich, unbequem hätten sein, die ihm hemmend hätten werden können. Und jetzt bewies diese schöne, verführerische Frau plötzlich die innigste Theilnahme für ihren verstorbenen Gatten. War ihre Trauer echt, ihr Schmerz wahr? Oder coquettirte sie nur? Wollte sie ihn durch diesen schluchzenden Schmerz nur reizen? Oder hatte sie ihren Mann wirklich ... geliebt?
Adam sog noch einmal an seiner Cigarette und legte den mürben, runzligen Rest dann weg.
Lydia fuhr auf. Sie strich sich mit den kleinen,
»Prost, Doctor! Nun wollen wir wieder vernünftig sein! Was kann das schlechte Leben
helfen! Es ist so dumm, ewig mit der Vergangenheit zu ... zu ... nun ... Ihnen kann
ich's ja sagen – Sie werden es wohl auch selbst gemerkt haben –: ich habe nur
coquettirt! Wahrhaftig! ich habe nur coquettirt! Verlassen sie sich d'rauf! Ich
wollte Sie 'n Bissel – was? – Sie glauben mir nicht? Sie unschuldsvoller Engel Sie!
Jawohl! Glauben Sie's nur! Ich bin eine ganz herzlose Coquette! Ich bin ein sehr
schlaues, listiges, berechnendes Weib! ... Nun thun Sie mir aber den Gefallen – und
sehen Sie nicht so – ich hätte beinahe gesagt: nicht so – dumm aus! Pardon! So Etwas
ist Ihnen noch nicht vorgekommen? Ja! Ihr Männer! Ihr glaubt immer, Ihr hättet die
Originalität allein gepachtet! So'n armes, dummes Weib kann auch 'mal ›genial‹ sein –
warum denn nicht? Ihr seid durch die Bank eben so eitel, wie wir! Es ist ja alles
ganz gleich: der eine ist 'n Trefle-Bube, der andere 'ne Carreau-Sieben – zu
Kartenkunststücken müssen wir alle herhalten ... Lassen wir die Todten ihre Todten
begraben! Da haben sie wenigstens Etwas zu thun! O über dieses tiefsinnige Leben!
Leben! Leben! Ich lebe! Ich will leben! Ich vergehe vor Appetit auf das Leben! Mein
lieber, guter Männe! Nicht wahr – Du bist Deinem kleinen Weibchen nicht
»Gnädige Frau! ...«
»Na ja, Doctor! ... Was – der Wein ist gut? Ja, ja! Mein Mann hatte eine feine Zunge.
Mir ist ganz merkwürdig zu Muthe. Ich sehe plötzlich Alles so unheimlich scharf – das
Bedeutende löst sich kräftig heraus – ich komme so unheimlich nahe an die Dinge heran
... weiß gar nicht ... gar nicht – – – haben Sie, Doctor ... wollen wir nicht in
dieser Stimmung – – – ganz sonderbar! – haben Sie Nichts – Nichts – kein Gedicht oder
so Etwas bei sich? ... Irgend einen Dithyrambus der Freude – ich bin ja jetzt alles
Kleine und Enge los – doch richtig! Sie sind ja kein Dichter! Vorlesen? Nein! Nein!
Das ist zu abgeschmackt! Musik! Musik! Sie spielen auch
Auch über Adam war es plötzlich mit berauschender Gewalt gekommen. Die tolle, ekstatische Stimmung Lydias hatte ihn angesteckt, entzündet, hatte ihn mitfortgerissen, träge, unbeholfen zuerst, nachdem sie ihn anfangs beinahe angewidert, zurückgeschreckt hatte, nachdem sie ihn sehr ironisch und spottlustig gestimmt – nachher aber unwiderstehlich ... Nun jagte er hin, und der Taumel war in ihm. Der Wein ebnete den Weg, minderte die Reibung, glättete die Geleise.
Da hatte sich Adam von einem elementaren Zwange packen lassen müssen. Es stieß ihn wie mit einer übergewaltigen Faust von seinem Fauteuil herunter und warf ihn vor die Füße Lydias. In diesem Augen blicke liebte er das Weib fanatisch. Sein Denken war ausgelöscht, sein ganzes Ich ein einziges großes, dämonisches Gefühl ... ein einziges aufdampfendes Begehren. Adam hatte den Kopf in Lydias Schooß gelegt und schluchzte, seine Arme hingen schlaff herab.
»Aber Doctor –!« hatte Lydia mit unnatürlich leiser, halberstickter Stimme hervorgestoßen und mit jähem Rucke aufspringen wollen.
Adam richtete seinen Kopf empor ... langsam, fast feierlich, beschwörend. In seinen
verthränten
Im Zimmer war es still. Nur das Licht der Lampe surrte leise ... und ungleich, heftig hastete der Athem der beiden Menschen, die, ganz hingenommen, ganz berauscht von ihren verworrenen Gefühlen, eine kleine Weile in eng zusammengeschmiegter Gemeinschaft beieinander waren. Zu dieser Zeit waren beide gut, besser, denn sie je gewesen. Alles, was das Leben in ihnen verzerrt hatte, war ausgeglichen. Fülle und Kraft lebte in ihnen, Hoffnung, Sehnsucht, Erwartung und eine mächtige Gespanntheit aller Sinne und Gefühle.
Nun richtete Lydia das Gesicht Adams mit discretem Nachdruck zu sich empor.
»Steh auf, Adam! Wir waren einen Augenblick zwei dumme, thörichte Kinder – jetzt wollen wir wieder vernünftig sein – ja? Komm! –«
»Lydia! ...«
»Na, was denn, Herr Doctor? Ich weiß gar nicht – – lassen Sie mich! Bitte – na? ...« Die Worte waren mit zweideutiger Betonung gesprochen. Es schien Frau Lange halb und halb mit ihrem Abwehren ernst zu sein ... und doch war ihr vielleicht eine drängende, stürmische, beharrliche Zärtlichkeit Adams noch mehr willkommen.
»Lydia!« bat Adam noch einmal, dringend,
»Stoß' mich nicht von Dir, Lydia! Ich gehöre ja ganz Dir – nur Dir allein! Ich habe keinen Vater und keine Mutter mehr und habe keine Heimath mehr ... Lydia! Ich liebe Dich grenzenlos –«
Unwillkürlich war Adam doch wieder wärmer, ehrlicher, natürlicher geworden. Da lag er in einem eleganten Cabinet zu den Füßen einer schönen Frau ... und er durfte die Kleider dieser schönen Frau berühren ... ihre Hände, ihre Arme ... er fühlte ihren wärmeren Athem, er fühlte ihre heftig auf und nieder gehende Brust – ja! ja! er liebte dieses Weib ... er begehrte es ... er lechzte nach seinen Küssen – es riß ihn unaufhaltsam in die Arme dieser Frau – dieser – dieser – –
»Lydia!« schrie er noch einmal auf – –
Frau Lange schien nachgeben zu wollen. Sie lehnte sich einen Augenblick wie
gebändigt, wie besiegt, gegen die Rücklehne des Fauteuils –
»Herr Doctor –!«
Aber noch gab Adam die Partie nicht verloren. Diese Frau trotzte ihm. Seine ganze, widerspenstige, zu despotischem Imperium geneigte Natur brach nun durch. Und doch ließ er sich nicht völlig von seinem Zorne, seiner Wuth hinreißen. Ein unklares Gefühl sagte ihm, daß eine gewisse sentimental-nachgiebige Zurückhaltung sehr wirksam sein müßte.
»Glaubst Du mir nicht, Lydia? – Habe ich das verdient –?«
Frau Lange schwieg, sie war einige Schritte nach rechts, mehr nach dem Innern des Zimmers zu, getreten.
»Sie sind ein großer Phantast, Herr Doctor!« nahm sie nun das Wort. »Sie bilden sich ein, daß Sie mich ... mich ... ›lieben‹, wie Sie sagen – weiter Nichts als Einbildung, mein Herr! Wir haben beide unser'n Stimmungen nachgegeben – wir haben uns überrumpeln lassen – wir haben einen Augenblick geträumt – vielleicht auch ... ganz schön geträumt – nun lassen Sie uns aber wieder wach sein – wir wollen ein fettes Punctum hinter diese Scene machen – und wir wollen sie alle beide so schnell als möglich vergessen –«
Adam wandte sich ab. »Herzlos!« knurrte er in ehrlicher Entrüstung, im Zwange eines ernsten, redlichen Schmerzes, durch die Zähne.
»Gnädige Frau –?«
»Es ist genug –«
Lydia ging zu ihrem Schreibtisch hinüber. Dort stand sie, Adam abgekehrt, eine Weile starr, bewegungslos, wie in einen tiefen Strudel tumultuarisch ringender Gedanken und Gefühle hinabgezogen.
»Sie erlauben mir noch eine Ihrer köstlichen Cigaretten, gnädige Frau –?«
Lydia wandte sich langsam wieder um. Sie war sehr bleich. Von der Nase zum Munde herunter zog sich eine scharfgeschnittene Falte, wie ein Signal bodenloser Verachtung.
»Bitte sehr, Herr Doctor!« Die Stimme klang müde und höhnisch zugleich.
»Sie sehen, gnädige Frau ... das Feuerfangen ist gefährlich ... und ... und ...
undankbar ...« stichelte Adam – »aber es wird Zeit, daß ich mich aufmache ...« fuhr
er fort und zog seine Uhr – »Sie sind müde von den ... den Anstrengungen des
Lydia stand einen Augenblick unbeweglich. Dann streckte sie Adam langsam ihre rechte Hand entgegen. Der zog diese entzückende, nur jetzt etwas schweißfeuchte Hand galant an seine Lippen und küßte sie.
»Und nun gute Nacht, liebe, gnädige Frau ... doch ... ach ja! was wird ... was wird nun aus unserer modernen Bibel –? Soll sie für immer – ungeschrieben bleiben ... oder ...?«
»Nun ... wir haben ja heute Abend ... wir haben ja ein Capitel aus ihr – erlebt ... renken Sie's ein, Herr Doctor, und ... und bringen Sie's mir gelegentlich ... ich bitte darum ... für die Zukunft dürfte es sich allerdings kaum empfehlen – –«
Lydia versuchte ihre Worte in einem leichten, harmlos-liebenswürdigen Tone vorzubringen. Aber es wollte ihr nicht so recht gelingen. Ihre Stimme klang unsicher, hart, etwas heiser, verwalzt.
»– dürfte es sich kaum empfehlen, daß wir wieder so ... so plastisch verfahren, wie
es ... leider heute der Fall gewesen,« ergänzte Adam – »seien Sie unbesorgt, gnädige
Frau! . Aber ... wenn Sie
»Sie tragen immer Siebenmeilenstiefel, Herr Doctor ... gewöhnlich geht doch Alles viel langsamer auf der Welt – warum denn nur immer so stürmisch –?«
Frau Lange hatte das »immer« auffällig betont. Adam stutzte.
Ah! Nun verstand er! »Ja! ...« erwiderte er mit süffisant-melancholischem Tonfall, »der Eine klappert schwerfällig mit Pantoffeln durch's Leben ... der Andere durchsaust das reizende Dasein auf einem Bicycle. Da hat nun ein Jeder so seine Art, so seine kleine Methode ... Verzeihen Sie noch einmal mein ... mein ... nun! mein Bedürfniß, zuweilen sehr offen ... sehr wahr zu sein, Lydia ... unpraktisch offen ... unangenehm wahr. Aber vielleicht haben Sie auch darin Recht: dieses Bedürfniß ist wohl auch weiter nichts, als – Einbildung. Und nun – gute Nacht –!«
»Gute Nacht –!«
Adam verließ schnell das Zimmer. Als er den Corridor betrat, kam August, der schon
gewartet zu haben schien, langsam auf ihn zugestapft. Ein Zug des Unwillens, des
Verdrusses, stand auf seinem Gesicht. Mit Mühe unterdrückte er das Gähnen.
Der Diener geleitete ihn durch das Vorhaus zur Thür. Adam fröstelte es. Er schlug den Rockkragen in die Höhe.
»Gute Nacht, Herr Doctor!«
»Gute Nacht!« Eine Sekunde vorher noch das obligate Verdrücken eines Silberlings. Nun donnerte dumpf krachend die schwere Thür hinter ihm zu. –
»Hallali! Jetzt seid Ihr wieder einmal aus einem Paradiese vertrieben, Monsieur!« – sprach zu sich selber der einsame Mensch, der da durch die kühle, windige Frühlingsnacht hinschritt. –
Und wie der einsame Mensch durch die kühle, windige Frühlingsnacht weiterschritt,
fand er Zeit, Gelegenheit und allmählich auch immermehr wachsende Stimmung, noch
Näheres wie Ferneres mit sich und zu sich zu sprechen. Zunächst ging der Herr Doctor
allerdings eine kleine Weile sehr gedankenlos fürbaß. Er beschäftigte sich, unter dem
Drucke einer einförmigen Müdigkeit leidend, unwillkürlich mit allerhand sehr
äußerlichen Dingen. Er betrachtete ohne Theilnahme den leicht überwölkten Himmel;
sein Auge, nahm gleichgültig von den paar Sternen Notiz, die da und dort schläfrig,
mattblinzelnd auf die Erde herunterguckten; der Menschen, die ab und zu, bald
schneller, bald langsamer, an ihm vorüberstapften, achtete er nur mechanisch, er sann
ihnen nichts nach, spann ihnen nichts zu, vermuthete und verglich, verknüpfte nicht,
wie es wohl sonst seine Gewohnheit war; die unklare, verworrene Welt der nächtigen
Schatten, die sich durch spärliches Gaslicht compromittiren lassen mußten, reizte ihn
nicht – es war zunächst eine große Leere, Stumpfheit und Gleichgültigkeit in ihm.
Dann fiel ihm Dieses und Jenes ein, was er vorhin ...
Aber – hielt sich Adam plötzlich selber auf – wie oft schon habe ich dieses dumme,
triste, oberfaule Zeug durchgewürgt! Es ist ja leider Alles so scandalös richtig,
doch sollte man sich das Blech nicht zu oft vorkauen. Lassen wir wieder einmal die
Zukunft eben – Zukunft und die Gegenwart eben – Gegenwart sein! Das Andere ›findet
sich‹ schon von ›janz alleene‹ ... Trinken wir lieber noch 'n Glas Absynth! Den
ersten Schluck auf
Adam sah nach der Uhr. Es war kurz nach Eins. So hatte er sich doch fast eine Stunde in der Stadt herumgetrieben. Und was hatte er von der endlosen Konversation mit seinem höchsteigenen Ich profitirt? Er hatte sich eine Reihe tödtlich langweiliger Thatsachen vorerzählt und war schließlich zu keinem Resultate gekommen. Nun! das war ihm schon öfter passirt. Darüber brauchte er sich nicht mehr zu ärgern. Schließlich würde er ja schon handeln, wir er mußte – wie er gezwungen sein würde. Und das ließ sich abwarten ... bequem abwarten.
Adam orientirte sich. Er bemerkte, daß er aus der stillen, vornehmen Gegend, in der
Frau Lange wohnte, unwillkürlich in die Mitte der Stadt seinen Weg genommen. Da
konnte es ja bis zum Wiener Café nicht mehr weit sein. Nach einigen Minuten hatte
Adam sein Ziel erreicht. Er trat ein. Es war sehr schwül, dunstig in dem großen,
hellerleuchteten, vollbesetzten Raume. Die Gerüche von Kuchen, Kaffee, Cigaretten,
Billardkreide, Menschenschweiß schwammen in der dicken, schweren, von schwarzblauen
Rauchschwaden und Dunstpolstern durchlagerten Luft. Dazu ein wirres, gesetzloses,
unregelmäßiges Gesumme und Gebrause von Menschenstimmen ... die Musik
aneinandergeschlagener Tassen ... das schrille Klappern der Löffel ... das kalkige
Rollen der Billardbälle ...
Aber jetzt tauchte vorerst ein Kellner auf.
»Was darf ich bringen? ...«
»Einen Absynth und 'n paar Cigaretten –«
So gut wie Deine Sorte, geliebte Lydia, monologisirte Adam leise, werden sie wohl nicht sein ... aber Feuer zu fangen ... hm! ... dazu wird man sie wohl auch noch bewegen können –
Das kleine Weib hat ein verdammt hübsches Profil, constatirte der Herr Doctor jetzt
mit großer Befriedigung. Und Er dagegen! Stutzerhaft elegant, sehr patent, sehr
rasirt und tadellos frisirt. Aber wie dumm, wie ausgefahren war dieses Gesicht! Der
liebe Gott mußte schlechterdings gerade am Asthma gelitten haben, als er diesem
Menschen da, seinen Odem in die Nase blies. Aber was so'n Fatzke für Glück hat! Das
Mädel war wirklich sehr appetitlich. Die zollschmale, im Gaslicht discret mattroth
aufschimmernde, entzückend abgerundete Fleischspanne am rechten Unterarm zwischen dem
Die beiden schienen sich nicht viel zu sagen zu haben. Das kleine Weib sog öfter
durch die zarten, sauberen Strohröhrchen an seinem Eiskaffee und schaute sich sonst
fleißig im Saale um. Adam bemerkte, wie der Dame von einigen Herren, die hinten in
der einen Ecke des Zimmers saßen, zugenickt wurde. Die Cumpane grinsten
geärgert-amüsirt. Nun ja doch! Was wunderte er sich denn? Immer wieder das alte
Erstaunen und der alte Unmuth ... das alte Bedauern? Nun erhielt auch Adam einmal das
volle Gesicht seiner Nachbarin und einen kurzen, scharfen Blick dazu. Jetzt wurde er
von dem Herrn, dem Ritter und Liebhaber der reizenden Donna, nachdrücklich fixirt.
Der Her Doctor ließ sich nicht aus der »Contenance« bringen. Er bereitete sich sehr
ruhig seinen Absynth, der unterweilen vor ihm hingeschoben war, that einen vollen Zug
und brannte sich nachlässig-herausfordernd eine Cigarette an. Die erste Ladung Rauch
blies er seinem Gegenüber etwas unhöflich in's Gesicht. Der hustete ein Wenig, wurde
etwas roth, ließ es auch an einem ziemlich wüthigen Blicke nicht fehlen, begnügte
sich sodann aber sehr praktisch damit, nach
Und wie er so behaglich dasaß, jetzt einen Schluck Absynth zu sich nahm, jetzt an
seiner Cigarette zog, an seiner reizenden Nachbarin in aller Ehrbarkeit
herumschnüffelte und ihren Liebhaber mit mitleidig-impertinenten Blicken spickte,
fiel es ihm plötzlich ein, daß ihm vorhin bei seinem Selbstgespräche zu
mitternächtigster Stunde Hedwig gar nicht in den Sinn gekommen war. Das frappirte ihn
und doch wunderte es ihn eigentlich nicht. Was war ihm Hedwig, wenn er vor Lydia auf
den Knieen lag? Und was war ihm Lydia, wenn er Hoffnung hatte, mit seiner schönen
Nachbarin hier eine süße, köstliche Nacht ... eine Nacht berauschenden Minnespiels,
genießen zu dürfen? Und was würde ihm dieses Weib sein, wenn er morgen ein anderes
fände, das ihm noch größere, feinere, heftiger lockende Reize entgegenbrächte –? Er
suchte ja langst nicht mehr im Weibe ein Weib ... ein besonderes, individuelles,
Adam beugte sich vor und legte den Rest seiner Cigarette auf den Aschenteller. Der
Herr ihm gegenüber erhob sich jetzt plötzlich mit einem halblaut zu seiner Dame
geknurrten »Verzeih!« und
»Sie haben einen ganz vorzüglichen Geschmack, mein gnädiges Fräulein –« begann er mit unwillkürlich ein Wenig stockender, undeutlich verschleierter Stimme.
Die Dame schien Adams Anrede vollständig überhört zu haben. Sie klopfte mit dem Löffel sehr energisch an ihr Kaffeeglas und bestellte bei dem Kellner, der herangestürzt kam, noch einen Eiskaffee. »Mein Kind! Ich bitte Dich! Thu' doch nicht so! Du hast Dich eben 'mal versehen! ... Dieser Fatzke! Dieses anlackirte Rhinoceros – – kannst Du Dich denn nicht losmachen? Komm! Es ist viel gescheiter, wenn wir beide heute zusammenschlafen –« Adam hatte schon etwas lauter und zudringlicher gesprochen. Die Apathie der Dame ärgerte ihn. Aber das kleine Weib rührte und regte sich nicht. Es saß sehr steif, sehr abgewandt, sehr unnahbar da.
Jetzt kam das Getränk. »Noch ein Eiskaffee!« Die schöne Sünderin beugte sich graziös über die beiden zarten, sauberen Strohröhrchen und zog sie zwischen die schmalen, dünnen, blaßrothen Lippenlinien. Gerade dabei erhielt Adam einen kurzen, äußerst liebenswürdigen und aufmunternden Seitenblick.
Der Herr Doctor hatte die Belagerung schon abbrechen wollen. Aber seine Sache schien doch gar nicht so ungünstig zu stehen. Wenn nur der Mensch ... der unbequeme Bursche noch ein paar Sekunden bleiben wollte, wo er war.
»Wie soll ich ihn denn los werden –? Heute muß ich schon ... morgen – wir können uns ja irgendwo treffen –«
»Ach was morgen! Heute! Es ist übrigens schon längst ›heute‹, mein Kind – und wir thun sehr gut, wenn wir dieses ominöse ›heute‹ recht früh anfangen ... mir wäre es recht, wenn wir es auch – –«
Adam hielt plötzlich inne. Er hatte zufällig nach dem nächsten Billard hinübergesehen und bemerkt, daß dort der Ritter der Dame stand, anscheinend dem Spiele zusah, in Wahrheit aber seine Auserwählte und ihren neuen Galan scharf beobachtete.
»Der Würfel ist gefallen, Kind – Dein Herr und König hat schon Lunte gerochen – die Sache wird sich sofort entscheiden –«
»Um Gottes Willen –!«
Jetzt kam der gute Mann affektirt-nachlässig, die Hände in den Hosentaschen, im Gesicht einen Ausdruck furchtsamer Verbissenheit, nach seinem Stuhle zurückgeschlendert. Er setzte sich langsam, nachdrücklich nieder, griff nach seinem Glase und würdigte die Dame seines Herzens keines Blickes.
Adam aber Hub an, also zu ihm zu sprechen: »Gestatten Sie, mein Herr, daß ich mich
vorstelle! Mein Name ist Doctor Mensch. Ich sehe, daß Sie
Auf diesen feierlichen Appell schien der Herr allerdings nicht besonders vorbereitet gewesen zu sein. Er machte ein mehr verblüfftes, denn verwundertes Gesicht und fuhr mit den Augen rathlos zwischen Adam und seinem ungetreuen kleinen Weibe hin und her. Endlich knirschte er ein gepreßtes »Mein Herr –!« heraus, dem gleich darauf ein ebenso heiseres »Emmy –!« folgte.
Die Dame ließ ihre beiden Kämpen sich balgen. Sie saß wieder sehr steif, sehr reservirt, sehr unnahbar da. An den Nachbartischen war es auffallend ruhiger geworden.
»Unverschämte Frechheit –!«
»Aber ... mein Gott! Wünschen Sie denn noch etwas?« wandte sich Adam mit gemachtem
Erstaunen an sein Gegenüber. »Die Sache muß
Adam warf eine Visitenkarte auf den Tisch, die sein Gegner sehr schnell zu sich steckte und dafür die seine hinschleuderte.
»Ah ... mein Herr ... nun! ... wie ich sehe, sind Sie ... mein Gott! Sie sind ja wirklich Kaufmann ... Vertreter der Firma ... Firma Dietz & Sperling ... Seidenmanufactur ... Freiberg ... hm! ... Alle Hochachtung – doch ... nun – das wird sich ja finden – also ... vorläufig – ich wäre für Sie ausnahmsweise zu Hause ... doch – pardon! – noch eine Frage – sind Sie ... vielleicht sind Sie Reserve-Officier? Es könnte ja doch sein, obwohl auf Ihrer Karte –«
»Nein!«
»Ich danke!«
»Kellner! Zahlen!«
»Sehr wohl!«
»Ein Bier ...«
»Fünfundzwanzig Pfennige – und zwei Eiskaffees –«
»Die bezahle ich natürlich!« erklärte Adam mit vorspringendem Pathos.
»Ah! Sehr wohl! Danke sehr!« begriff der Kellner.
»Also – wir sprechen uns noch –«
»Wird mir natürlich eine Ehre sein –«
Der geschlagene Held – »ein patenter Jammerkerl!« urtheilte ihm Adam halblaut nach – verließ die Wahlstatt.
Eine kleine Frist darauf verließ Adam mit seiner köstlichen Kriegsbeute das Lokal. Die beiden schritten Arm in Arm, eng aneinandergeschmiegt, durch die stillen Straßen dahin und plauderten miteinander und neckten sich und kosten, als stellten sie vor ein bräutlich liebend Paar. Und der Nachtwind strich um sie herum und zauste zaghaft an ihnen und blies sie sanft an und lauschte auf die Ouvertüre der Liebesnacht, welche zwei Menschenkinder feiern wollten, die sich vorher noch nie begegnet waren ... die der Gott der Stunde heute zusammengethan ... Es war zwischen zwei und drei Uhr. Der Himmel ließ soeben sein starres, gebundenes Schwarz in die erste hellere, mehr dunkelblaue Farbenwellung hinüberschlüpfen. Der Schlummer des Lichts begann unmerklich leiser und leiser zu werden. Bald mußte es aufwachen und den ganzen Horizont überflammen.
Adam aber vergaß in den weißen Armen seiner
In immerhin ziemlich prägnantem Einsiedlerstyle durchlebte Adam die nächsten Tage und Wochen. Der zeitweilige Verkehr mit Emmy, die ihn öfter besuchte, und mit welcher er ab und zu kleinere Spaziergänge machte, hatte für ihn kaum etwas Anschraubendes, Bestimmendes, Ablenkendes, Hinauszwingendes. Emmy war doch ganz feinfühlig und zurückhaltend.
Wohl gestand sich der Herr Doctor mit leisem Bedauern ein, daß ihm in dieser Zeit der Stille und Ebbe alles geistig Größere, Bedeutendere, Imposantere fern und versagt blieb. Aber dieses Bedauern war doch schließlich nur ein sehr nüchternes und oberflächliches. Adam verspürte zuweilen einen Mangel, den er sich halb unwillkürlich, halb künstlich, aus Erinnerungen und zufälligen Vergleichen zwischen früheren, bewegteren Tagen und dem gleichmäßigeren Jetzt zusammenbuk. Das war aber mehr eine correkte, etwas wehmüthig angesprenkelte Abstraktion, denn ein redlicher Vollschmerz.
Adam hatte sich zwar vorgenommen, die Beziehungsfäden zu Lydia nicht leichtsinnig zu
verschleppen ... aber wie er so von Tag zu Tag
Eines Tages war Adam wieder einmal von Emmy um die Mittagsstunde abgeholt worden. Sie
pflegten dann zusammen zu speisen ... aus Pietät und Anhänglichkeit in jenem Café, in
dem sie sich kennen gelernt, eine Tasse Melange zu trinken ... und nachher eine Weile
zu promeniren. Sie tändelten und plauderten mit einander ... sie erzählten sich Dies
und Das ... sie langweilten sich fast ... und waren doch eigenthümlich angeregt, wenn
auch sanft nur und verhalten. Ab und zu ließ Adam, mehr zufällig denn absichtlich,
ein ernsteres Wort fallen, das Emmy mit drolliger Gewichtigkeit aufnahm und manchmal
zum selbständigen Gesprächsmotiv zu machen versuchte. Adam verstand das kleine Weib
und mußte lächeln. O! Emmy wußte die Ehre zu schätzen ... die Ehre, mit Herrn Doctor
Mensch verkehren zu dürfen. Sie war nicht unbeanlagt und gewiß geistig nicht ganz
bedürfnißlos. Oefter schon hatte sie Adam, halb im Ernste, halb im willkommenen
Spaße, den Vorwurf gemacht, daß er sie zu geringschätzig behandelte ... zu sehr die
Geliebte ... zu wenig den Menschen in ihr sähe. Aber war sie denn im Stande, den
Untergrund seines Gedankenlebens aufzuwühlen? Wenn sie zu
Nun ja! Kellnerin war sie gewesen – und jetzt »privatisirte« sie. Aber jeden
Augenblick konnte sie wieder irgendwo Stellung nehmen – schließlich wieder in ein
Geschäft als Verkäuferin eintreten ... oder als Putzmacherin, Maschinennähterin,
»kalte Mamsell« oder so etwas Aehnliches »gehen« – jedoch ... war dazu nicht immer
noch Zeit? Warum denn nicht? Jetzt lebte
Und nun promenirten sie heute in dem kleinen Stadtpark. Nach dem Walde waren sie lieber nicht hinausgegangen. Es sah aus, als ob es jeden Augenblick regnen wollte. Die Luft ging kühl ... ganz gewiß zu kühl für die letzten Maitage. Die Natur machte ein halb bekümmertes, halb gleichgültiges Gesicht. Adam erschien sie wie verwittwet, wie verwaist. Da hatten alle Quellen eines ehelichen Sonnenlebens zu sprudeln aufgehört – ernst und zurückhaltend, wie in windstillen Oktobertagen, stand Baum und Strauch da ... nur die prahlerischen Farbensymphonie'n des Herbstes fehlten – aber Adam war es zu Sinn, als ob dieses schwere, stumpfe, glanzlose Grün nicht echt – als ob es von den Cypressen der ganzen Welt zusammengeborgt wäre ....
Der Herr Doctor war heute wieder einmal sehr schweigsam. Die Sprödigkeit und
Neutralität der Natur zwangen ihn noch mehr in sich zurück. Es lastete kaum ein
besonderer Druck auf ihm. Und doch konnte er es nicht über sich gewinnen, sich in ein
längeres, zusammenhängendes Gespräch mit Emmy einzulassen. Ab und zu fiel ein Wort,
welches aber mehr aus dem Bedürfniß heraus, das Peinliche und Drückende dieser Stille
zu vermindern, gesprochen
»Adam! Du bist heute unausstehlich! ...« Emmy hatte nicht länger an sich halten können.
»Hm! . Unausstehlich ... warum, Kind? Ich träumte nur wieder einmal allerlei dummes Zeug zusammen ... Du kennst ja meine Schwäche ... Aber wir wollen bald umkehren – ja? Ich möchte, solange es Tag ist ... so ... -lange es ... Tag ist – hm! ... Emmy, weißt Du: die Sonne ist eigentlich ein furchtbar überflüssiges Möbel – –«
»Aber Adam! ...«
»Was denn? . Sieh mal, wenn – also wenn – – denke Dir zunächst 'mal einen Laubfrosch – –«
»Einen Laubfrosch? ... Das wird ja immer hübscher –« Emmy lachte sehr aufgeräumt.
»Eine Perrücke? Adam! Ich glaube, Du bist – –«
»Und denke Dir drittens eine Schale Spargelsalat – –«
»Aber nein! – sei still! ... das ist ja zum Verrücktwerden! ...«
»Ja! – also – aber Du hast mich ganz aus dem Konzept gebracht – nun hör' zu: wir setzen den jrasjrünen Laubfrosch in den Spargelsalat und decken die Perrücke darüber – jetzt rathe 'mal, was das ist? .«
»Ich halte mir die Ohren zu ... sei still ... sei still! ...« Emmy drückte die Finger gegen ihre allerliebsten Ohrmuscheln und trippelte mit komischer Eile einige Schritte voraus. Nun mündete der schmale Spazierpfad, auf dem die beiden bis jetzt hingeschritten waren, in den breiten Hauptweg des Parkes aus.
Quer über den Alleedamm kam ein Herr auf das Paar zu.
»Ah! Herr Doctor! . Habe ich endlich einmal wieder das Vergnügen – ich dachte, Sie wären längst nach unseren Kolonie'n als kaiserlich deutscher Dolmetscher oder mit sonst 'nem Ulke chargiert ausgewandert ... Und nun ... hier ... auf altem Boden noch – dazu in reizender Damenbegleitung –«
Herr von Bodenburg hatte den Hut gezogen, mit eleganter Verbeugung seine rechte Hand Adam entgegengestreckt und zugleich, ein Lächeln des Erstaunens und der Genugthuung im Gesicht, einen kurzen, prüfenden Blick auf Emmy geworfen.
»Helfen Sie mir, Herr Referendar – ich suchte meine Frau soeben über die inneren Beziehungen, in welchen ein Laubfrosch zu einer Schüssel Perrückensalat steht, aufzuklären – aber sie will mich durchaus nicht verstehen –«
»Hm! hm! ...« lächelte Herr von Bodenburg wohlwollend, herablassend, als hätte er recht gut verstanden, »daß es sich um einen barocken Spaß handelte – ›Perrückensalat‹ – nicht übel, Herr Doctor –!«
»Nicht wahr – Sie wissen, was ich meine? ... Natürlich wissen Sie's – dann können Sie's mir vielleicht sagen, Herr Referendar? Ja? Ich bin mir nämlich in diesem Augenblick selbst ein riesiges Räthsel ... Ich weiß absolut nicht, was ich mir unter ›Perrückensalat‹ vorstellen soll – Goethe sagt zwar, die Welt sei ein Sardellensalat, aber – aha! Lassen Sie uns nachdenken, meine Freunde! . Wir finden sie – ich sage Ihnen: wir finden sie, die Lösung nämlich dieses Räthsels ... wir finden sie – ich wette um einen Korb Röderer, Herr Referendar, daß wir sie finden, die verdammte Hexe –!«
Adam lachte aus vollem Halse, unangenehm energisch, dröhnend. Er schüttelte sich und
lachte, daß ihm die Thränen über die Backen liefen. Ein
»Also, meine Freunde – es wird Zeit, daß die Götterdämmerung endlich losgeht! – Ich ersticke an diesem tristen Zuschauerjargon, den man immer radebrechen muß ... Emmy! Sehen Sie, Herr Referendar – das ist nun auch ›so Eine‹ ... ich habe das kleine, entzückende Weib neulich Abend einem überflüssigen Laffen abgejagt – aber glauben Sie wohl, daß es bisher zum geringsten tragischen Konflikte zwischen uns ge kommen wäre? . Keene Spur, Verehrtester! Es ist so blutig langweilig auf der Welt – die Leidenschaft ist todt – und die großen Gefühle sind pensionirt ... Lassen wir wir uns dito pensioniren, lieber Mitmensch – –«
»Sie sind heute in einer eigenartigen Stimmung, Herr Doctor!«
»Was hast Du nur, Adam –?«
»Ich? Nichts, Kind! Gar Nichts! Aber wollen wir nicht heimwärts ziehen, wie die ... nun! ... Wie die bewußten Schwalben im Herbst? ... Meine Stunde wenigstens ist gekommen ... Sie begleiten uns vielleicht, Herr Referendar –?«
»Wenn Sie gütigst gestatten –«
»Bitte sehr –«
Die drei kehrten um. Da kam ihnen ein offener,
Mit verlegener Hast grüßte Adam. Er hatte im Augenblicke keine Zeit, über die Frage nachzugrübeln: Warum er denn jetzt nicht dort neben dieser schönen Frau säße ... neben dieser schönen Frau, die – die – hm! ... na ja! – und so weiter ...
Er fühlte das Auge Emmys auf sich liegen, nun lasten. Doch da setzte das Pferdegetrappel plötzlich aus. Adam sah sich um, ungewollt und halb unbewußt erfreut, daß er eine Gelegenheit erhielt, die unvermeidliche Frage Emmys noch hinauszuschieben. Aber er war ihr doch eigentlich gar keine Rechenschaft schuldig. Der Wagen hielt in einiger Entfernung ... und der Herr Doctor bemerkte, wie sich Frau Lange über den Schlag lehnte und ihn zu sich heranwinkte. Er war unschlüssig. Er wurde aufs Neue verlegen. Er warf scheue Blicke auf Emmy und Herrn von Bodenburg, die ihn fragend, erstaunt ansahen.
»Erlaube, Emmy! .« stieß er endlich heraus – »Pardon, Herr Referendar – ich – ich ... bin sogleich zurück –«
»Sind Sie frei, Herr Doctor? ...« redete ihn Frau Lange an und streckte ihm ihre
kleine, volle, schwarzbehandschuhte Rechte entgegen. »Dann steigen
Adam war in peinlichster Verlegenheit. Er konnte doch Emmy unmöglich stehen lassen. Aber – nein! – das ging auch nicht! – zugeben durfte er doch auch nicht, daß er ... er der Ritter ... der Liebhaber dieser Dame wäre – – er zögerte, er wurde immer befangener – »gnädige Frau –« stammelte er – –
»Ach so, Herr Doctor – nun ... wenn Sie engagirt sind – natürlich – dann verzichte ich – – Ihre Dame – –«
»Pardon! . Davon kann wohl keine Rede sein – ich begegnete vorhin dem Herrn in Begleitung der Dame – ein Bekannter von mir, Referendar von Bodenburg – aber ich ... ich ... ich müßte mich doch erst entschuldigen und verabschieden, ehe ich Ihrer liebenswürdigen Aufforderung folgen dürfte – gestatten Sie also, gnädige Frau –«
»Bitte! ...« Das klang sehr gleichmüthig ... es war eben nur mit den Achseln gezuckt, kaum mit dem Munde gesprochen. Lydias frische, volle Stimmung schien einen herzhaften Sprung erhalten zu haben.
Als Adam vom Wagen Frau Langes zu Emmy und Herrn von Bodenburg, die, vielleicht
absichtlich mit feiner Diskretion, vielleicht unabsichtlich, in entgegengesetzter
Emmy sah mit einem halb ironischen, halb traurigen Blicke Adam an. Natürlich! Sie hatte ihn verstanden. Der Herr Referendar war entzückt. Ihm gefiel das kleine Weib ausnehmend. Ha! . »So Eine« – Schwerebret! – »so Eine« war schließlich auch einmal für ihn zu Hause. –
»Gnädige Frau! –«
»Lügen Sie mir doch nichts vor, Herr Doctor! . Ich erkannte Sie längst, bevor Sie mich sahen ... Sie gingen auf der linken Seite der Dame – das sagt doch genug – nicht wahr?«
»Wenn Sie eine Zufälligkeit – eine pure Zufälligkeit – nun ja doch! ... so besonders schwer ist es ja nicht, einen Menschen zu verdächtigen –« Adam hielt es für praktisch, den Beleidigten zu spielen. Mit verschränkten Armen so dastehen ... sich nicht vertheidigen, obwohl man alles Recht auf seiner Seite hat ... sich ruhig abschlachten lassen im süßen Vollgefühl, daß der Gegner ein schreiendes Unrecht begeht, indem er sotanes Abschlachten eben vollbringt: oh! . auch das kann Wollust ... beißende, betäubende Wollust sein ...
»Herr Doctor – ich bitte Sie! ... Aber lassen wir das! . Was ... was gehen mich Ihre
Neigungen – Ihre ... Ihre Gewohnheiten – Ihre sonstigen ... Beziehungen an! ... Ich
wollte Ihnen einen famosen Spaß erzählen, den ich heute früh erlebt habe – nun ... um
es gerade heraus zu sagen: ich – ich habe mich – heute früh verlobt ... Was? das ist
doch göttlich – nicht? Und Sie sehen, wie glücklich ich bin! ... Ich sage Ihnen: wie
neugeboren! da weiß man doch wenigstens
Adam war doch zusammengefahren. Das hatte er nicht erwartet. Einen Augenblick dachte und fühlte er nichts. Wie gelähmt war er. – Dann zischte das Leben wieder gewaltig in ihm auf. Eine scharfe Blässe bedeckte sein Gesicht, an welchem jetzt alles Ungleichmäßige, was es besaß, in greller Klarheit hervortrat. Nun wurde er glühend roth, er zitterte an allen Gliedern, die Sprache versagte ihm, er athmete gepreßt, der Blick seines Auges wurde unsicher ... es war ihm, als ob in seiner Brust eine Faust in die Höhe wachse und sich mit aller Wucht in den Kehlkopfpresse – und doch sagte er sich, daß er sich beherrschen ... gewaltsam zur Ruhe zwingen müßte, wenn er sich nicht vor Lydia unsterblich blamiren wollte – er ärgerte sich wüthend über sich ... er verachtete sich ... er bemerkte entsetzt, daß sich all' seine Willenskraft plötzlich vollkommen machtlos erwies – endlich knirschte er ein heiseres, kaum verständliches »Lydia –!« hervor.
Frau Lange hatte den Eindruck, den ihr Geständniß auf den Herrn Doctor gemacht, sehr
genau beobachtet. Sie freute sich zunächst außerordentlich über diese erschütternde
Wirkung. Dann wurde sie sehr ernst. Wenn Adam von der Nachricht, daß sie sich verlobt
habe, so furchtbar angefaßt wurde dann – – nun dann mußte sie für ihn ... mußte sie
in seinem Leben doch eine größere Bedeutung
»– Herr Doctor –!« Lydia wußte nicht recht ... sie war erschrocken, verlegen, fast bekümmert – aber Alles nicht ganz rein, es zweifelte etwas Unklares in ihr –
Adam hatte sich gefaßt. Seine Stimme klang noch gepreßt und stockend, aber äußerlich nahm er sich doch bedeutend kühler und ruhiger aus.
»Sie haben Recht, gnädige Frau – da bleibt mir wirklich nichts weiter übrig, als Ihnen meine herzlichsten Glückwünsche auszusprechen –«
»Ich danke Ihnen verbindlichst, Herr Doctor! .« Lydia lächelte schelmisch-ironisch.
Dann schwiegen beide eine kleine Weile. Nun begann Lydia wieder, einen
schmollend-vorwurfsvollen Ausdruck in der Stimme: »Aber Sie fragen ja gar
»Ich bitte Sie, gnädige Frau! Einem armen Burschen, der todeswund am Boden liegt, ist es so ziemlich gleichgültig, wer ihm die Kugel in die Brust gejagt hat – er weiß nur, daß man ihm das Aufstehen verleidet hat –« antwortete Adam mit affektirter Trauer und Resignation.
»Na – nehmen Sie's nur nicht zu tragisch, Herr Doctor! . Sie thun ja gerade so, als ob ... nun! – jedenfalls sind Sie wieder einmal auf dem besten Wege, Ihnen und mir Etwas vorzulügen –«
»Sie sind doch eine unverbesserliche Zweiflerin, Lydia! .« Das hatte Adam in ehrlichstem Ernste, wirklich bekümmert, gesprochen.
»Ich will Ihnen reinen Wein einschenken, lieber Freund! Die Geschichte von der
Verlobung war natürlich nur ein Scherz ... Ich habe heute früh allerdings einen
Heirathsantrag erhalten – von – aber das ist Ihnen ja gleichgültig ... Ein Major
außer Dienst – nebenbei Weinhändler und Agent einer Lebensversicherungsgesellschaft –
natürlich von Adel – übrigens 'n ganz passabler Mensch – nur 'n Bissel zu alt ... 'n
Bissel zu unbedeutend und ... und 'n Bissel zu verschuldet – hat mich schon seit Jahr
und Tag mit seinen Aufmerksamkeiten verfolgt – ist mir nachgereist – u.s.w. – u.s.w.
– aber – pardon! – das interessirt Sie ja nicht – also ... nun! – ich habe für die
Ehre gedankt, Frau von ... von X oder Y zu werden ... Mein
»So? – Glauben Sie, gnädige Frau? –«
Adam hatte sehr kalt und gleichmüthig geantwortet. Er vermied es, Lydia anzusehen. Er wandte sich ab und schien die ihm gegenüber liegende Front des Parkes mit außerordentlicher Aufmerksamkeit zu betrachten. Seine Finger trommelten mit nervös schwirrendem Nachdruck auf dem Wagenschlage herum.
Der Wagen hatte das ganze Gehölz durchfahren und näherte sich jetzt – auf einer anderen Seite – der Stadt. Die ersten Tropfen eines leichten Regens rieselten nieder.
Lydia war empört. Eine verworrene Fülle von Gedanken und Gefühlen durchgährte sie. Sie wußte nicht, wie sie ihrem Aerger, ihrer Erbitterung auf eine besonders maliziöse Weise Luft machen sollte.
Man kam der Stadt immer näher.
»Gestatten Sie, daß ich hier aussteige, gnädige Frau –« begann Adam jetzt und sah Lydia von der Seite an ...
»Ah! – Fräulein Irmer ... gewiß mit ihrem Vater! . Der Mann sieht sehr leidend aus – er scheint doch recht hinfällig zu sein –«
Adam wandte sich schnell um ... und bemerkte, wie Herr Doctor Irmer, von Hedwig
geführt, langsam ... sehr langsam, zusammengebückt, mit dem Stocke in der linken Hand
unsicher vor sich hintastend, herankam. Adam grüßte mit zufahrend pathetischer
»Gestatten Sie, daß ich hier aussteige, gnädige Frau! ...« wiederholte Adam, als der Wagen kaum noch hundert Schritt von dem Ausgang des Parkes entfernt war – »und« – fügte er leiser hinzu – »wann werden Sie einmal für mich zu Hause sein, Lydia? Das geht so nicht weiter – das ertrage ich nicht länger – die Sache muß zur Entscheidung kommen – – oder – ja! – das ist besser – ich schreibe Ihnen –«
»Wie Sie wollen, Herr Doctor. Ich weiß übrigens nicht, was Sie mir – doch – nebenbei bemerkt – ich verreise demnächst auf einige Wochen –«
Frau Lange ließ halten. Adam stieg aus und zog den Hut.
»Adieu! ...« Das klang entsetzlich kurz und schroff.
Der Wagen rollte davon. Es regnete stärker.
Adam schlug die Richtung nach seiner Wohnung ein. Das leise Prickeln und verhaltene
Stechen der Regentropfen that ihm fast wohl. Bei einer solchen Naturstimmung fliegen
keine großen Gedanken
Er fand einen Brief von seinem Bruder vor, welcher schrieb, daß er sich verlobt hätte. Adam las die nichtssagende, umständlich-unbeholfene Epistel flüchtig durch und warf sie in den Papierkorb. Was ... wer war ihm sein Bruder? Er hatte ihn seit Jahren nicht gesehen. Adam besaß so gar kein Talent, verwandtschaftliche Instinkte bei sich zu pflegen.
Aber noch ein Brief war angekommen: eine sehr liebenswürdige Einladung von Irmers für
übermorgen Abend: »Zu einer Tasse Thee«. »Ah! So kommst Du also wieder einmal an die
Reihe, geliebte Hedwig –« versetzte halblaut vor sich hin dieser Mensch, um den sich
... andere Menschen zu »reißen« schienen, »sieh da! das ist hübsch von Dir! ...« Ihr
wechselt Euch fürwahr sehr nett ab, Kinder! »Lydia – Hedwig – Emmy – Emmy – Hedwig –
Lydia – Hedwig – Lydia – Emmy –:
In der folgenden Nacht schlief er sehr unruhig. Er wachte öfter auf – und so oft er aufwachte, mußte er daran denken, daß dieser dumme Kerl von Referendar und seine Emmy jetzt wohl in süßem Minnespiel beieinander wären. Es war zum Rasendwerden.
»Wahrhaftig! Nächstens werde ich mich auch noch in die Hure verliebt haben ...« knurrte er einmal erbost vor sich hin. –
Und nun war die Stunde gekommen, da Adam sich aufmachen durfte, der Irmer'schen Einladung Folge zu leisten.
Um die Zeit, da der Nachmittag Miene zu machen begann, sich zum Abend auszuwölben, war der Herr Doctor natürlich mit sich einig gewesen, nicht zu Irmers zu gehen, sich noch entschuldigen zu lassen.
Er war soeben erst nach Hause gekommen.
Am Vormittage hatte er sich, von einer unerträglich zerfaserten und zerkrümelten
Stimmung gequält, fast aus seiner Wohnung geflüchtet ... hatte er sich geflüchtet vor
sich selber ... vor einem Gespenst ... vor der furchtbaren Entdeckung, daß er in
dieser Stimmung Welt und Leben gegenüber vollständig waffenlos wäre. Die stille,
köstliche Heiterkeit des Herzens, mit welcher er gestern heimgekehrt war, hatte sich
ihm bis auf den letzten, mageren Nachglanz entzogen ... er verstand sie nicht mehr
... er konnte nicht begreifen, daß er sie besessen ... er verachtete sich, weil er
das nicht begreifen, weil er keinen Zusammenhang finden konnte ... und
Und so war er denn auch vor seiner Stimmung geflohen ... hatte sich mit eintöniger
Nachdrücklichkeit eingeredet, daß er einige Besorgungen, die er schon längst hatte
machen wollen, nicht länger aufschieben könnte ... war, von den Eindrücken der
Außenwelt bestürmt, überhäuft, zerstreut, endlich auch etwas ruhiger geworden ...
hatte dann mit auffälligem Appetit zu Mittag gespeist ... und schließlich den größten
Theil des Nachmittags im Café Caesar verstumpftsinnt. Einmal war hier Herr von
Bodenburg vor ihm aufgetaucht, hatte sich aber mit merkwürdiger Eile sehr bald wieder
empfohlen. Adam hatte lächeln müssen: der Herr Referendar schien wahrhaftig ein böses
Gewissen zu haben! Er sollte die Emmy, die eben doch weiter nichts als auch »so Eine«
war, nur ruhig zu seinem Privatgebrauche engagiren – er, Adam Mensch, würde nicht das
Geringste dagegen einzuwenden haben! Was war ihm denn diese schöne Sünderin mit dem
verzettelten Herzensleben und dem beschränkten Intellekt?
Aber der Groll gegen sich selbst ... der Aerger über seinen taktischen Schnitzer
hatte doch nicht entscheidend bei Adam nachgewirkt. Nun er zu Hause war und sich
mechanisch auf den Besuch bei
Apathisch lag Adam auf dem Sopha. Es dünkte ihn erschütternd komisch, daß er sich soeben einen frischen Kragen umgeknöpft. Aber im nächsten Augenblicke ertappte er sich schon dabei, wie er nach einem besonders drastischen und impertinenten Motive suchte, mit dem er heute Abend Fräulein Irmer traktiren wollte. Adam wurde sich klar darüber, daß er das unnatürliche Verhältniß, in welchem heute das männliche und weibliche Geschlecht zu einander stehen, einmal mit rücksichtsloser und, wenn nothwendig, mit cynischer Offenheit einer Dame gegenüber zur Sprache bringen mußte. Und diese Dame abzugeben ... nun! – dazu schien Fräulein Irmer, dieses blasse, spröde, in einem engen Leben hinkümmernde Weib, vorzüglich geeignet zu sein. Es war jedenfalls so etwas wie eine »That«, einmal mit der Brandfackel zu hantiren ... ein verlöschendes Dasein noch einmal den Traum von einem vollen, glühenden, ungehemmt vorwärtsstürmenden Leben träumen zu lassen ...
Aber auch dieser Vorsatz erschien dem Herrn
Wenn er gehen wollte, mußte er übrigens bald aufbrechen. Aber warum sollte er denn gehen? Und doch ... mein Gott! – warum sollte er denn nicht gehen? Warum nicht? Man thut so Vieles in dieser Welt, weil man absolut nicht weiß, warum man es nicht thun sollte ... Und zudem: es war ja auch schon zu spät, sich noch entschuldigen zu lassen. Getröstet von dem Gedanken, daß er ohne Verletzung des »gesellschaftlichen Anstandes« jetzt nicht mehr ausbleiben konnte, machte sich Adam auf den Weg zu Irmers. Er pfiff das unsterblich schöne »Komm herab, o Madonna Theresa –« leise vor sich hin, löste es einige Male mit Motiven aus Wagners »Fliegendem Holländer« und »Siegfried« ab ... und schluckte mit verhaltener Wollust die schweren, schwülen Lüfte des zusammendämmernden, letzten Maiabends ein. Adam dachte nicht mehr an sich und vergaß, daß er nicht wußte, wer er war ... was er von der Welt ... und was diese Welt von ihm wollte. –
Ja! Es war doch recht heiß bei Irmers ... in dem doch recht engen und niedrigen Wohnzimmer, in welchem die Drei, Vater, Tochter und Adam Mensch, um den runden Sophatisch beisammensaßen und einen »Imbiß« zu sich nahmen ... also einen kleinen Imbiß, den Adam wirklich etwas »frugal« finden mußte. Der Herr Doctor dachte unwillkürlich an den vornehmen Stil, an die Eleganz von Lydia's Wohnräumen zurück ... an die anheimelnde Lichtstimmung ... die behagliche, geschmackvolle Fülle, die sich im Arbeitscabinet Frau Lange's so wohlthuend dem empfänglichen Geiste mittheilte ... an das diskrete Werben des taktvoll arrangirten Reichthums um verständnißvolle Anerkennung – und ihn fror ein Wenig in dieser Umgebung, die nur von dem wehmüthigen Parfüm der notdürftig verhangenen, mühsam verschleierten Armut durchzittert wurde ...
Die Unterhaltung wollte nicht recht in Gang kommen. Hedwig schien verstimmt zu sein.
Ihr Gesicht war fast noch blässer und ernster, ihr Blut fast noch schwerer, als
sonst. Bläulich schwarze Halbringe unter den Augen deuteten auf schlaflos
Herr Doctor Irmer hustete viel ... einen kurzen, trockenen, heiseren Stoßhusten. Er sah sehr zusammengedrückt und entwaffnet aus ... sehr muthlos und ängstlich. Oefter preßte er die langen, mageren, wachsgelben Finger der rechten Hand gespreizt gegen die Brust ... und athmete fast stöhnend.
»Papa hat sich vorgestern erkältet ...« erklärte Hedwig mit einem kurzen, nicht ganz
beziehungslosen Seitenblick auf Adam. Der Herr Doctor verstand. Das gnädige Fräulein
hielt es also für überflüssig, auf Grund und Gelegenheit dieser Erkältung näher
einzugehen. Hm! . Sie waren sich ja begegnet. Adam mußte sich das Uebrige selbst
sagen können. Das that er denn auch. Zugleich ärgerte er sich aber, daß es Hedwig
augenscheinlich vermeiden wollte, jene Begegnung selbst zu berühren. Sie war so
harmlos. Und doch war Adam nicht im Stande, das gewiß nicht heikle, höchstens etwas
pikante und widerhakige Motiv zur Sprache zu bringen.
Die Fenster standen offen. Auf der Straße war es still. Nur ab und zu stolperte ein
Wagen über das Pflaster. Nun strich ein Luftzug herein, raschelte in den Papieren auf
dem Schreibtische, zupfte an der grünen Gardine vor dem Bücherregal und gab der
Lampenflamme ein kurzes, stechendes Zusammenzucken. Adam fühlte sich mit einem Male
sehr angeheimelt von dieser einfachen, mit verhalten geschwätzigem Schweigen
erfüllten Umgebung. Eine gewisse Stimmung ... ein zartes Fluidum rührender Poesie
ließ sich schließlich auch aus dieser Gruppirung der Atome herausfühlen ... Der Herr
Doctor wurde wärmer ... er erinnerte sich einiger Träumereien seiner Jugend ...
einiger Träumereien, die ihm als Ideal ein schlichtes, bücherüberfülltes
Arbeitszimmer vorgegaukelt ... und er saß unter seinen Schätzen, weltentrückt,
»Ich danke recht sehr –«
Eigentlich aß Adam Caviar sehr gern. Aber der ihm von Fräulein Hedwig angebotene sah nicht besonders appetitlich aus ... schien doch schon ein Wenig alt, trocken, zähe, salzig geworden zu sein.
»Aber etwas Wurst oder Käse oder etwas Beef nehmen Sie doch noch – ja? . Bitte! .«
»Wenn Sie gütigst gestatten –« Adam bediente sich.
»Papa, Du vergißt Dein Bier ganz ... willst du nicht 'mal trinken? . Es ist zwar etwas warm ... unser Keller taugt nicht viel –«
»Mir ist gar nicht recht, Kind ... Du weißt ja ... und Bier – ich glaube, es ist besser, wenn ich's stehen lasse – es könnte mich noch mehr reizen – gieb mir bitte lieber noch einen Schluck Thee – obwohl Thee meinen Nerven – aber verzeihen Sie nur, Herr Doctor! Wir haben's diesmal schlecht getroffen ... Sie hätten uns übrigens schon längst wieder einmal aufsuchen sollen ... Hedwig sprach öfter von Ihnen – ich bin heute leider sehr unpäßlich – vorgestern fühlte ich mich so wohl und frisch, wie lange nicht – und nun –«
Ein neuer Hustenanfall unterbrach die mühsam, schleppend, unter stoßendem Athmen hingelispelten Worte Irmers.
Adam sah zu Hedwig hinüber. Sie hatte sich zu ihrem Vater gekehrt und wischte diesem
mit einem frischen, leinenen Tuche den Schweiß von der in
»Was arbeiten Sie jetzt, Herr Doctor?« fragte Irmer nach einer kleinen Weile und sah mit müdem, erloschenem Blick zu seinem Nachbar hin.
»Ach Gott! Dies und Das! Es ist nicht der Mühe werth. Ich mache jetzt anthropologische Studien – die sind werthvoller und ... nothwendiger –« bemerkte Adam kurz.
Hedwig sah mit unsäglich wehmüthigem Blicke zu ihrem Vater hin.
Eine längere Pause entstand. Adam betrachtete mit sehr gemischten Empfindungen die
beiden Menschen, die da vor ihm saßen. Er fühlte sich nicht wohl bei ihnen – nein!
Ihre Hülflosigkeit machte ihn nervös ... peinigte, beklemmte ihn. Und doch
appellirten sie, gewiß ganz, ohne daß sie es wollten, an sein Mitleid. Sie erwählten
ihn unwillkürlich zum Vertrauten ihrer Schmerzen ... und sie wandten sich, gewiß
nicht minder unbewußt, an ihn um Hülfe ... um Linderung ... Rettung ... Nun fiel es
Adam schwer aufs Herz ... nun that es ihm sehr weh, daß er nicht helfen konnte ...
Das »Schicksal« mußte wieder einmal seinen üblichen Lauf nehmen. Eines Tages würde
Irmer sterben und
Doch nein! Das ging zu weit. Das war überflüssig. Was sollten diese tragikomischen Betrachtungen hier? Adam sagte sich nicht mehr klar, fühlte aber instinktiv, daß er auf diesem Wege wieder einmal zu jenem Gebiete gelangen würde, mit dem er sich so oft in lautem Wort und leisem Gedanken beschäftigt: eben zu dem leidigen Verhältnisse, in das die beiden Geschlechter zu einander von Jugend auf durch Herkommen und Erziehung gestellt werden. Ach ja! Er hatte dieses Thema heute Abend Fräulein Irmer gegenüber auf's Tapet bringen wollen! Nun! Vielleicht kam die Gelegenheit dazu noch ...
Adam fühlte Hedwigs fragenden Blick auf sich. Das hülflose, verlassene Weib hatte
plötzlich alle Konvenienz bei Seite geschoben. Nichts mehr lag zwischen ihm und dem
Manne, der ihm in ernstem, bewußtem Schweigen gegenübersaß. Nichts mehr sollte nach
diesem Blicke, der zugleich unendlich trostlos und unendlich begehrend, zwischen
ihnen liegen. Adam fühlte sich gewaltig ergriffen. Es wäre ein Frevel gewesen, ein
Verbrechen an dem »heiligen Geiste der Menschheit« – an den Adam allerdings in seinen
Die Kuckucksuhr über dem Sopha vermeldete glucksenden, mürrisch-verrosteten Tones die neunte Stunde.
Hedwig erhob sich leise seufzend und wünschte mit müder, klangloser Stimme »Gesegnete Mahlzeit!«
Adam war unschlüssig. Sollte er noch bleiben oder sollte er lieber gehen? Diesem
Gefängniß ...
Adam verspürte einen bezwingenden Appetit nach einer guten Cigarre. Doch ... hier im Krankenzimmer wurde nicht geraucht. Er mußte sich den Appetit schon verkneifen. Das ärgerte ihn ein Wenig. Und nun knurrte er sich im Geiste schon wieder an, daß ihn eine solche Bagatelle überhaupt ärgern konnte. Allein er kam nicht über das peinigende Gefühl des Mangels hinweg. Was kümmerte ihn jetzt das Schicksal Hedwigs? Und der Anblick dieses leidenden, zusammengedrückten Mannes war ihm jetzt über Alles lästig.
Um die unbequeme Stimmungsscene zu wechseln, wandte sich Adam eine Andeutung nach rechts und streifte mit müder, zögernder Hand die grüne Gardine vom Bücherregal zurück. Langsam drehte ihm Doctor Irmer sein bleiches, weißes Gesicht zu.
Jäh ließ Adam die Gardine fahren. Er mußte seinem Impulse folgen. Er konnte nicht
widerstehen. Er fühlte sich plötzlich auf's Tiefste durch die Geduld beleidigt, mit
der Irmer sein elendes Leben trug, weitertrug, weiterschleppte. Nichts von Mitleid
mehr und Verständniß war in ihm. Ein kochender Groll über dieses reizlose, werthlose
Ertragen und
Hedwig hatte mit dem Mädchen, welches die zusammengestellten Teller abgeholt, das Zimmer verlassen. Sie trat in dem Augenblick wieder ein, als Adam ihren Vater, ohne jede äußere Vermittlung, barsch anfuhr: »– Aber ich bitte Sie, Herr Doctor – warum haben Sie diesem Hundeleben nicht schon längst ein Ende gemacht –?«
Hedwig blickte halb erschreckt, halb erstaunt zu Adam hinüber, der, von seiner Offenheit selbst ein Wenig betroffen, wieder an der grünen Gardine zupfte. Ein leichtes Verlegenheitsroth stand doch auf seinem Gesicht.
Irmer schien den psychologischen Proceß, der sich in Adams Brust abspielte, zu begreifen, zu durchschauen. Ein verhaltenes, nur markirtes, aber doch unverkennbar souveränes Lächeln legte sich auf eine kleine Weile über seine scharfen Dulderzüge.
»Sie täuschen sich, Herr Doctor«, antwortete er nun mit seiner müden, schleppenden, heiseren Stimme, »– wenn Sie glauben, daß Ihr Leben etwa weniger elend sei, als das meine ... Ich leide nur sichtbarer, als Sie ... erkennbarer für jedes Laienauge – Sie – –«
»Pardon! Ich fühle mich sehr wohl auf der Welt ... Aber verzeihen Sie mir meine brutale Geradheit – es fuhr mir so heraus –«
»– Als Sie mich wie ein Häufchen Unglück vor sich sitzen sahen – ich begreife, Herr Doctor –«
»Was ist's denn, daß Sie noch an diesem Hundeleben festhält, wie Sie sagen –? Was denn –?«
»Eigentlich nichts ... uneigentlich sehr viel –« erwiderte Adam gleichmüthig. Er hatte seine volle Selbstbeherrschung wiedergewonnen.
»Mit dem ›uneigentlich‹ – das ist so 'ne Sache! Nun – Sie werden sich wohl ebenso
täuschen, wie ich mich getäuscht habe, als ich in Ihren Jahren war ... Damals waren
mir einzelne pessimistische Ahnungen und Stimmungen gleichsam Surrogate, wenn's mit
dem Leben selber einmal nicht recht klappen wollte ... So wird's bei Ihnen auch sein.
Aber Sie werden so sicher wie ich zu der Erkenntniß kommen, daß Sie sich belogen –
allerdings Ihrer psychischen Combination gemäß belügen mußten ... Das ist ja eben das
sogenannte ›Glück‹ der Jugend, daß sie sich an jedem Daseinsmomente zu sättigen
vermag ... nach der Kette der Entwicklung aber, dem logischen Zwange der Fortbildung,
nichts fragt. Es giebt natürlich noch Millionen andere Spielarten von Seelenanlage.
Aber ich ging jetzt von der meinen aus und von der Ihrigen, die, wenn ich mich nicht
sehr täusche, der meinen doch immerhin ziemlich verwandt ist ... Und darum werden
Sie, Herr Doctor, mit der Zeit, früher oder später, zu denselben Resultaten kommen,
zu denen ich gelangt bin. Ihr Selbstbetrug besteht nur darin, daß Sie Ihre
Weiterentwickelung jetzt noch nicht voraussehen können. Jawohl: können!
Adam dünkte diese Ausführung Doctor Irmers gar seicht und oberflächlich. Was sollte er darauf erwidern? Hatte denn Irmer gar nicht herausgefühlt, daß er jene barsch herausgeschleuderte Vorwurfsfrage in tiefstem Grunde nur an sich selber gerichtet? Oh! Er war trotz seinen jungen Jahren in der »Erkenntniß« schon weiter vorgeschritten, als dieser arme, eingekapselte Entsagungsfanatiker und Kartoffelsuppenmeergreis glaubte. Ihre Seelenanlagen waren doch wohl unter sich ausnehmend verschieden. Allein – es tickte ihn, den Unmündigen und Kurzsichtigen zu spielen – sich so zu geberden, als coquettire er eigentlich nur mit seiner Blasirtheit ... als sei er noch voll von flammendem Jugendfeuer ... als halte er es wirklich noch der Mühe für werth, für ein Dutzend »bedeutender Ideale« einzutreten.
Hedwig hatte sich einen Stuhl an den Tisch gerückt und eine Häkelarbeit vorgenommen. Sie hielt den Kopf über die Arbeit gebeugt ... sah nur zuweilen zu ihrem Vater auf ... und in ihrem Blick lag dann die ganze Sorge um den Leidenden, zugleich aber auch, wie es Adam schien, ein Wenig Ungeduld, ein Wenig Zorn. Selten schielte sie einmal zu Adam hinüber. Blendend hob sich das weiße Garn von der kirschbraunen Tischdecke ab. Mit diesem dunklen Untergrunde, den weißen Fingern, dem blaßgelben Teint und dem schwarzen Haar Hedwigs bildete es eine Farbengruppe voll einfach-bizarrer Plastik.
»Sie beurtheilen mich vielleicht doch etwas zu sehr nach sich, Herr Doctor –
verzeihen Sie, daß ich sogleich mit einer deductio ad personam beginne. Es klingt ein
Wenig paradox, enthält jedoch sehr viel Richtiges, wenn ich behaupte, daß wir, das
heißt: ich und verschiedene Andere meiner Generation – wir sind übrigens so frech,
uns immerhin zu den Besten des jungen Nachwuchses zu zählen! – also daß wir mit dem
Momente – ich möchte beinahe sagen: angefangen haben, mit dem Sie und mit Ihnen gewiß
Unzählige Ihrer Generation aufhören. Ihre Entwicklung hat sich den individuellen
Verhältnissen gemäß, von denen Sie ausgingen, ganz organisch, ganz normal vollzogen.
Aber die unsere nicht minder. Zu Ihren Resultaten sind wir in unserem Gedanken- und
Gefühlsleben schon vor Jahr und Tag gelangt. In einem Punkte mögen Sie allerdings
Recht haben: die Jugend, das heißt: unsere allerdings vielfach lädirte,
durchbrochene, beeinträchtigte Kräftegruppe, läßt sich nicht verleugnen – sie muß
sich nach den natürlichen Gesetzen alles Geschehenen auslösen und in Handlungen
umsetzen. So arbeiten wir trotz all' unserer Müdigkeit ... und ›Blasirtheit‹ –
arbeiten ... einmal zielbewußt ... zumeist aber nur im Zwange jenes so genannten
metaphysischen Stadiums, wo das Individuum über sich
Adam unterbrach sich. Er wischte sich mit dem Taschentuche über die schweißfeucht
überlaufene Stirn und nippte an dem Bierglase, das Hedwig vorhin wieder frisch
gefüllt hatte. Im Allgemeinen war er mit sich ganz zufrieden. Er fühlte zwar sehr gut
heraus, daß er hier und da den Nagel durchaus nicht auf den sogenannten Kopf
getroffen hatte ... daß mancher Wurf fehl gegangen ... daß mancher Hieb abgerutscht
war ... Vieles hatte er, ein Opfer seiner augenblicklichen, durchaus nicht so
unbequemen, immerhin ganz »gemüthlichen« Situation, nur logisch aus der Erinnerung
nachkonstruirt – Schwere, Tiefe und Ernst seines Motivs keineswegs erschöpft. Halb
bewußt, halb unbewußt hatte er hier ein Zuviel, dort ein Zuwenig gegeben ... manchen
Accent falsch aufgesetzt ... Lichter und Farben öfter etwas willkürlich vertheilt ...
Aber das ist ja schließlich unvermeidlich, tröstete sich Adam. Im Monolog wie im
Dialog ist die Anknüpfung und Fortführung der Gedankenreihe eine mehr oder weniger
zufällige ... von der Associationsgewohnheit des Individuums abhängige ... Nicht die
innere Geschlossenheit und
Aber welchen Eindruck hatte er denn eigentlich erzielen ... was hatte er bekämpfen ... wofür hatte er eintreten wollen? Adam mußte lächeln. Er kam sich einen Augenblick fast wie ein Beamter einer hochwohllöblichen Missionsgesellschaft vor. Doch ... zu Ruinen von der Zukunft predigen? Aber das war ja eben das Komische. Und nun stieg es also wieder wie Mittleid in ihm auf ... wie Mitleid vor Allem mit Hedwig, die verwelkte und verkümmerte ... und es so gar nicht verdiente. Und eine Art von sentimental-cynischem Erlöserdrang kam über ihn ... und er beschloß, um dieses Leben, dieses arme, verblühende Leben, für eine kleine Weile einen breiten, goldenen Sonnengürtel zu legen ... einen Sonnengürtel erheuchelter Liebe ... Dann konnte die Kerze ja langsam ausflackern, langsam verknisternd erlöschen ....
»– Der Unterschied zwischen Ihnen und mir,« begann jetzt Irmer, nachdem er sich ein
Wenig emporgerichtet und einmal tief aufgeathmet hatte, »ist nur der, daß mein
Resignationsstandpunkt mehr ein
»– Das ist doch aber natürlich genug«, bemerkte Adam entgegen – »Sie scheinen ganz zu
vergessen ... Herr Doctor, daß die Entwicklung des Individuums doch eine ausgemacht
psychophysiologische ist! Das Alter ist eben etwas total Anderes, als die Jugend –
sein specifisches Organ ist der Intellekt – Alter und Jugend, deren specifisches
Organ meinetwegen das Herz ist, um mich der herkömmlichen Terminologie zu bedienen,
verstehen sich im Grunde überhaupt nicht ... kommen sich nur durch gewisse logische
Schlüsse in Diesem und Jenem näher – ebensowenig wie zum Beispiel der Kulturmensch
unserer Tage seinen Urururahn, ich meine die Sippschaft der sogenannten ›ersten
Menschen‹, versteht ... der ersten Menschen, bei denen das Gefühl jedenfalls auch das
Primäre gewesen ist – das Gefühl, welches, in den ersten sprachlichen Tastversuchen
objectivirt, zur Ausbildung des Denkververmögens als eines Organes, wenn ich so sagen
darf, führte – was dann wiederum zurückwirkte und in seinem Reagens zur
Differenzirung der Sprache Anlaß gab ... Wenn es möglich wäre – aus
gesellschaftlichen und socialen Gründen ist es eben unmöglich –: dann sollten Alter
und Jugend höchstens eine Partie Scat miteinander spielen, sich aber um Gotteswillen
nicht auf irgendwelche ›tieferen‹ Gespräche, auf ›wesentliche‹ Debatten, kurz! auf
einen intimeren Verkehr miteinander einlassen
»Nun begreife ich allerdings Ihre erste Frage, Herr Doctor, erst vollständig – die Seite, die Sie eben berührten, hatte ich bisher ganz außer Acht gelassen –«
Adam fühlte sich von diesem Vorwurfe seines Wirthes – denn als etwas Anderes konnten
die Worte kaum aufgefaßt werden – sehr unangenehm berührt. Nun blickten ihn auch die
ernsten, schweren Augen Hedwigs fragend und zugleich bittend an. War er zu weit
gegangen –? Eine Reihe vererbter, sogenannter »Anstandsgefühle« nahm von ihm
Beschlag. Aber er war einmal im Zuge. Und er spürte, wie er lebendiger, wärmer,
leidenschaftlicher geworden. Uebrigens – was wissen Herbst und Winter eigentlich vom
Frühling? Aber er – verkörperte er in seiner Natur nicht alle vier Jahreszeiten
zugleich? Und doch! Gab dieses Moment, wenn es thatsächlich existirte, nicht einen
Widerspruch zu der von ihm Doctor Irmer gegenüber ausgesprochenen Anschauung ab? Es
nahm sich fast so aus. Nein!
In einem Zuge trank Adam sein Bier aus. Gedankenverloren spielte er mit den Fingern noch an dem Henkel des Glaskruges herum. Hedwig erhob sich, eine neue Füllung zu besorgen. Zufällig ... wie zufällig berührten sich beider Hände. Sie sahen sich an. Grüßte die Jugend die Jugend? Sie wollten wenigstens beide jung sein. Das lag in diesem tiefen, sich einbohrenden Blick, mit dem sie umeinander warben. Ein diskreter Luftzug strich zu den offenen Fenstern herein. Die Lampe flackerte ein Wenig. Irmer lag wieder ganz zusammengesunken im Lehnstuhl und hatte die Augen geschlossen. Adam fühlte sich von einem Schwarme heftiger, unklarer Gefühle bestürmt. Es ging auf zehn Uhr.
Langsam schlug Irmer seine Augen wieder auf und blickte ausdruckslos vor sich hin.
»Willst Du Dich nicht lieber zurückziehen, Papa –? Du bist schläfrig –« fragte Hedwig.
Adam erhob sich und bekundete damit, daß er sich empfehlen wollte.
»Na! der Wink mit dem Zaunpfahl war eigentlich überflüssig,« knurrte er in sich hinein, natürlich verstimmt von der Taktlosigkeit Hedwigs.
»Aber bitte, Herr Doctor–« begann jetzt diese ... und brach dann jäh ab. Sie konnte Adam doch unmöglich zum Bleiben auffordern. Der wußte nicht recht, was er machen sollte –
Hedwig führte ihren Vater, der mit Mühe einen Hustenausbruch unterdrückte, hinaus.
Adam war allein. Er trat an's Fenster und legte sich weit über die Brüstung. Die
Nacht war schwül. Am Himmel ein einförmiges Wolkengewirr ... schwere,
»Ich habe Ihrem Herrn Vater doch nicht weh gethan vorhin, mein gnädiges Fräulein? Ich war einige Male allerdings ziemlich offen und geradezu – –«
»Ach bitte, Herr Doctor! Uebrigens ... sagten Sie nicht selbst, daß es keine Brücke zwischen dem Alter und der Jugend gebe – da mußten Sie doch offen und geradezu sein – nicht ...?«
»Sie zürnen mir doch, mein Fräulein ... Ich höre es aus Ihren Worten heraus – ich
bedauere sehr – aber Geschichten, die Einem am Herzen liegen ... und die Einem so
sonnenklar sind – und die doch – – aber – – und dann nimmt man ja immer nur ein
winziges Moment aus der ungeheuren Fülle der Gegensatzmotive heraus – gerade das
Moment, auf welches man durch eine, allerdings nur scheinbar zufällige
Ideenassociation trifft – so macht sich dem überall eine gewisse Willkür breit – eine
Willkür, die aber
Eine kleine Pause entstand. Hedwig lehnte am Tische und nestelte gedankenversponnen an ihrem Garnknäuel herum. Auch Adam war an den Tisch getreten. Er sah dem Spiel ihrer weißen Finger zu. Bunte Gedanken flogen durch seine Brust.
Und ein bezwingendes Träumen kam über ihn ... ein bezwingendes Träumen, das doch zugleich ein helles und klares Wachen war. Und es ergriff ihn, zu diesem Weibe zwanglos von dem zu reden, was ihn erfüllte ... zwanglos, so wie es in ihm aufstieg und von ihm sich löste. Närrisch dünkten ihn die Schranken, die sich die Menschen zwischen einander aufbauen. Mit einem leisen Fingerdruck stieß er sie nieder. Und er sprach zu dem Weibe, das neben ihm stand –:
Adam brach ab. Hedwig hatte ihren Platz am Tische, den sie bis dahin unverändert innebehalten, bei der letzten Wendung, die Adam's buntförmige Rede genommen, verlassen und war an das offene Fenster getreten. Sie stützte die rechte Hand auf den Schreibtisch ihres Vaters.
Adam fühlte sich doch ein Bissel beklemmt. Er bereute fast seine Offenheit ... er
konnte jetzt seine Kühnheit kaum begreifen ... er ärgerte sich über sich und zugleich
über Hedwigs Prüderie. Sie verstand ihn also doch nicht. Aber er – verstand er sich
denn noch in diesem Augenblick? Und doch hätte er noch so Manches auf dem Herzen
gehabt und sehr gern noch eine kleine Weile weiterdozirt, wie er sein breitspuriges,
allerdings sehr doktrinäres Schwatzen und Salbadern im Stillen titulirte. Und nun
wurde es ihm wieder zu Sinn, als wäre Hedwig weniger
Hedwig hatte die linke Hand über die Augen gelegt. Den Kopf hielt sie gebeugt. Ein leises, verhaltenes Schluchzen ging jetzt von ihr aus. Adam athmete schwer auf.
Draußen lag die Nacht ... die letzte Mainacht ... ruhig, schwarz. Nur ein nervöses Erzittern der Schwüle prickelte zuweilen durch die Luft.
Adam Mensch verspürte sich wieder einmal ganz im Zwange seiner Stimmung. Wie ein
unendliches Mitleid mit sich selber ergriff es auch ihn. Unklare, halbfertige
Sinnlichkeitsaffekte lösten sich in ihm aus. Diese nächtige Schwüle bedrückte ihn.
Dieses schluchzende Weib quälte ihn ... und beglückte ihn doch zugleich unsäglich.
Eine schicksals-mächtige, fanatische Nothwendigkeit bändigte ihn jetzt zu Hedwig hin.
Aber nein! Er durfte sich nicht überwältigen lassen. Er dachte an Lydia, er dachte an
Emmy. Ach! es ekelte ihn vor sich. Das war
»Adam!« sträubte sich Hedwig.
»Hast Du mich denn nicht ein Wenig lieb –?« Die Worte waren leise, langsam, stehend gesprochen, eine große Traurigkeit und Bekümmerniß verrathend ... und wie eine schwere Enttäuschung zugleich.
Hedwig stand da, den Kopf gesenkt, ihre Hände lagen auf dem Fensterbrett.
Und Adam nahm diese kleinen, mageren, blaßgelben Hände und zog an ihnen das Weib, das er liebte, an seine Brust. Und er berauschte es mit glühenden, stechenden Küssen. Die Lippen wollten nicht von einander lassen, und es war, als wollten sich die Beiden gegenseitig das Leben aussaugen und auftrinken.
Hedwigs Arme umschlangen seinen Hals. Eine unendliche Hingebung und Zärtlichkeit sprach und bat aus ihren verthränten Augen.
»Nun haben wir uns doch gefunden –« flüsterte sie und legte den Kopf an Adams Brust, als schämte sie sich ihrer Worte ... als wollte sie sich vor sich selber verstecken.
»Jawohl!« antwortete Adam sehr laut und lächelte eine Stecknadel lang spöttisch. Das kleine Weib war doch eigentlich etwas zu sentimental.
Langsam lockerten sich Hedwigs Arme. Der Herr Doctor verstand. Hm! So leicht zu verletzen? Aber da packte ihn auch wieder die Leidenschaft – und von Neuem riß er das Liebste, was er zu dieser Frist auf der Welt besaß, an sich und erstickte es fast mit seinen Küssen und Umarmungen.
»Mein Weib! Mein süßes, einziges Weib!« stieß er gepreßt hervor und zwang Hedwig mit Ueberkraft zu sich heran ... bis ihnen der Athem abriß und sie langsam von einander lassen mußten.
Nun standen sie neben einander und sahen in die Nacht hinaus, die ruhig, schwarz, schwül zwischen Himmel und Erde hing.
»Was soll mit uns werden, Adam –?« kam es nach einer kleinen Weile leise von Hedwigs Lippen.
»Du antwortest nicht –« begann Hedwig wieder. Mühsam unterdrücktes Aufschluchzen gab ihrer Stimme etwas Hartes, Rauhes, Gezacktes.
»Was mit uns werden soll, mein Lieb? Aber wir wissen doch, daß wir zu einander gehören! Ist das vorläufig nicht genug? Wollen wir uns die Schönheit und Größe dieser Stunde durch kleinliche, philiströse und trivial-prosaische Erwägungen stören lassen? Zwei Lebensläufte sind nun zusammengeflossen und haben eine Richtung erhalten ... und ein Ziel ... Und ... nun ja! – aber wirklich, meine Liebe – laß das jetzt – ja? Wir sehen und sprechen ... und ... küssen uns ja nun alle Tage ... und da werden wir wohl gelegentlich schon 'mal eine Stunde finden, wo wir so einfältig und nüchtern und ... und so kalt und trocken sind, daß wir auch einige unvermeidliche praktische Fragen erledigen können. Komm, mein Lieb – gieb mir jetzt lieber noch einen recht herzigen Kuß –!«
Hedwig trat einen Schritt zurück und wehrte sanft ab. »Das ist es nicht, Adam, was
ich meine – das nicht. Wir müssen tiefer gehen. Ich weiß: Du fühlst den Zwiespalt
ebenso gut, wie ich ... und willst ihn Dir wohl jetzt nur nicht eingestehen. Du weißt
ebenso gut, wie ich, was uns trennt ... was uns immer trennen wird. Deine jähe
Leidenschaftlichkeit hat mich besiegt – ich habe Dir nachgegeben. Es war ja auch
nicht so schwer, mich zu
Adam hatte die Auseinandersetzung Hedwigs schweigend angehört. Er hatte sie einige
Male unterbrechen wollen, auf ihre Bitten aber immer wieder an sich gehalten. Ja!
Gewiß! Sie hatte in Vielem ... wohl schließlich in Allem Recht – er mußte ihr
beistimmen, wenn er ehrlich gegen sie und gegen sich selber sein wollte. Nur – nur
mit der
Adam athmete schwer. Er wollte einen leichten, lustigen, burschikosen Ton anschlagen, aber es gelang ihm nicht.
»Eine Vergangenheit –?« fragte er ebenso leise, wie Hedwig ihre letzten Worte geflüstert hatte.
»Ja! –«
»Aber zum Teufel –« nun brach der Grimm über seine altehrwürdige Auffassung bei Adam doch durch – »aber zum Teufel, mein Lieb, – was geht mich denn Deine sogenannte ›Vergangenheit‹ an? Oder glaubst Du etwa, ich hätte keine ›Vergangen heit‹? Da irrtest Du Dich doch gewaltig–«
»Ach so? Na! das ist wieder einmal die bewußte alte, aber Gott sei's geklagt! ewig neue Geschichte! Dir ist verwehrt, was mir erlaubt ist? – Hm! das kann vielleicht eine Formel aus dem ›Guten Tone‹ – oder ein lobesamer Passus in dem Moralexercitium eines philosophasternden Theologen sein – aber vernünftig ist dieser ekelhafte Gemeinplatz – diese abgedroschene Trivialität beileibe nicht – und zwei Menschen wie Du und ich sollten sich am Allerwenigsten von dieser capitalen Dummheit irre machen lassen. Habe ich nicht Recht –?«
»Vielleicht, Adam – aber – –«
»Aber? Ihr Weiber seid doch Alle über einen Leisten! Und meine Hedwig ist um kein Haar klüger ... denkt um kein Haar freier, als die ganze andere Gesellschaft! Nur so weiter, mein Lieb! Da wirst Du schon ganz ›vernünftig‹ werden mit der Zeit – paß 'mal auf –«
»Adam! –«
»Nun ja! . Oder hätte ich Unrecht? Ich wüßte nicht ... Wenn das am grünen Holz geschieht – –«
»Adam! ...«
»Pardon! ›Grünes Holz‹ – – ich werde unangenehm – ich werde boshaft – verzeih, mein Lieb! Aber im Unrecht bist Du doch. Ich hätte ... wahrhaftig! ich hätte Lust, Dir 'mal einige pikante Geständnisse zu machen – weißt Du: ›pikant‹ hinsichtlich – – –«
»Nicht? Aber warum denn nicht? Nun erst recht! ... Ich sehe: man muß auch Dich noch erziehen, Hedwig – Dein Vater – –«
»Ich ertrage es nicht, Adam – sei still! . bitte! ... Ja? ...«
»Nun – wenn Du absolut willst – – aber sage mir nur – –«
»Ich habe Dich so unendlich lieb, Adam – und – und – –«
»Nun – und? Und, Hedwig –?«
»Wenn – wenn – – ach, Adam – laß mich doch! ... laß mich! –«
»Ich verstehe Dich nicht –«
»Nun denn: Wenn Deine Vergangenheit in die – Gegenwart eingriffe – – Adam! – ich ertrüge es nicht! . Nein! ich ertrüge es nicht. Ich bin nur ein Weib – nur ein Weib, was Dich – –«
»Aha! . Daher weht der Wind? Verzeih', daß ich brutal bin, mein Kind! . Da scheint doch eine Radicalcur sehr nothwendig zu sein – also –«
»Adam! –«
»Nun? .«
»Du liebst mich nicht! –«
»Sei ohne Sorge, Hedwig! Ich habe immer schöne Formen ... und ... und eigenartige Charaktere ... und ... und seltsame Schicksale geliebt – immer, Hedwig! –«
»Du bist furchtbar, Adam! –«
»Furchtbar? Warum? –«
»Oder Du ... aber –«
Adam unterbrach sich und wandte sich ab. Er legte sich weit über die Fensterbrüstung, sah auf die stille Straße hinab – nur ein welliges Wipfelrauschen summte von den Linden, die da unten standen, herauf – und blickte empor zum Himmel. Im Nordosten hatten sich die Wolken zu schwarzen, gewaltigen Polstern zusammengeknäuelt. Die Luft war fast noch heißer und schwüler geworden. Adam athmete tief auf. Ein Reichthum verhalten brennender Gefühle stand in seiner Seele. Er hätte so gern, an harmloseren Fäden seiner Vergangenheit angeknüpft. Die Gegenwart zerschnürte ihn fast mit ihren Unklarheiten, mit ihren verschwommen, zerrissen aufgurgelnden Geräuschen. Nein! Nein! Das drängte sich Alles zu dicht an ihn heran! Er sah sich um. Er sah diesen engen, frugalen Raum, der eng und frugal blieb, ob ihn auch das gedämpfte Licht der Lampe anheimelnder stimmte – – er sah dieses Weib an seiner Seite – dieses schluchzende Weib, das ihn mit seiner thörichten Liebe quälte – – es war unerträglich! Ein Gedanke befiel ihn.
»Hedwig! –«
Und nun noch einmal, aber in leiserem, ernsterem, bittendem Tone:
»Hedwig! –«
Die Angerufene richtete langsam den Kopf in die Höhe.
»Ich will Dir einen Vorschlag machen. Es ist
»Aber, Adam –!« Hedwig wischte sich mit ihrem Taschentuche die Thränen aus den Augen und trocknete sich die Stirn. Nun nestelte sie mit den Händen an ihrem Haar herum und sah Adam erschrocken an.
»Nun ja! ... Erscheint Dir mein Vorschlag so ungeheuerlich? Mein Gott! Es ist doch weiter nichts dabei! Wir gehen nachher noch in 'n Café – ich muß noch andere Menschen sehen ... muß auf andere Gedanken kommen – 'n bissel fremdes Leben um mich spüren – 'n Glas Absynth trinken – 'ne gute Cigarre rauchen – – und ich dächte: auch Dir thäte eine Abwechslung wohl ... Also komm! Ja –?«
»Um diese Stunde, Adam –!«
»Es ist eben erst Zwölf. Und dann – – ich weiß nicht – Du bist doch in meiner Gesellschaft! Da kann Dir doch weiter Nichts passiren ... In ein Nachtcafé zu gehen – nun ja! es mag für eine Dame, wie für Dich, liebe Hedwig, vielleicht nicht gerade, wie man sagt: ›anständig‹ sein – aber ich sollte doch meinen: diese dummen Philisterflausen hätten für Dich weiter keine Geltung! Ich würde es wenigstens sehr bedauern, wenn Du noch in All' und Jedem mit den verbohrten Anschauungen der alten Generation rechnetest. Also bitte –!«
»Der wird jedenfalls schlafen – und wenn er irgend welcher Hülfe bedarf – er kann ja das Mädchen rufen –«
»Aber was würde Papa sagen –«
»Immer neue Bedenken! Ihr Weiber habt das Talent, am allererbärmlichsten Sandkorn festzurennen, wenn es Euch gerade 'mal in den Kram paßt! Bist Du denn um gar nichts anders, als die Andern, Hedwig –?«
»Nein, Adam –«
»Nicht? Das ist allerdings sehr schlimm –!«
»Ich meine – Du mißverstehst mich –«
»Na! Wohl kaum –«
»Und wie lange – wie lange würden wir bleiben –?«
»Gott! Das läßt sich doch wahrhaftig auf die Secunde nicht bestimmen vorher –«
Hedwig war unschlüssig. Adams Vorschlag reizte sie immerhin. Diese schwüle Atmosphäre
lag auch auf ihr schwer und drückend genug. Die starke seelische Aufregung ... der
brennende, stechende Sinnlichkeitsaffekt, welcher sie vorhin durchkrampft, hatte sie
müde, abgespannt gemacht, wie zerschlagen, zerfasert, zerrupft. Zu Bett gehen konnte
sie in dieser fiebernden Stimmung kaum. Sie athmete langgezogen auf. Aber ihr Vater –
und weiter: wenn es zufällig Jemand von den Hausgenossen bemerkte, daß sie so spät
noch wegginge – mit einem fremden Herrn – und dann
»Nun? Also –?«
»Adam! Bitte – laß mich hier! Thue es mir zur Liebe – ja? Ich wollte ja gern – aber es geht wirklich nicht! Ich riskire zu viel –«
»So? Du riskirst zu viel? Hm! Und das sagt ein Weib, das eine ... das eine – ›Ver‹ – na! ich hätte beinah' was gesagt – verzeih' meine Derbheit, Hedwig! Aber mir liegt eben viel daran – sehr viel sogar, daß ich noch eine kleine Weile mit Dir zusammen sein darf, mein Lieb! Wir haben uns eben erst gefunden – und sollen nun schon wieder auseinandergehen! Das ist doch hart – nicht wahr –? sehr hart! Laß Dich doch endlich erweichen, Kind! Soll ich Dich fußfällig bitten? Mein Stolz verböte es mir eigentlich – doch – wenn Du es durchaus willst – –«
»Laß die Komödie, Adam! ... Aber sage mir noch Eins: wenn ich nicht mitginge – was thätest Du dann –?«
»Aha! ... die Frage ist nicht übel ... Schon der conditionale Conjunctiv Imperfecti! ... ›Wenn ich nicht mitginge –‹ Na! das ist ja quasi gewonnen Spiel! ... Uebrigens – wenn Du nicht mitgingst, Kind – ja! ... dann müßte ich wohl allein gehen. Eins plus Null bleibt Eins, nach Adam Riese. Aber Du könntest Dich doch wirklich 'mal dazu bequemen, Hedwig, mehr als eine – Null zu sein ... Willst Du –?«
»Das ist eine ganz neue Eigenschaft bei mir, mein Lieb! Du scheinst Talent dafür zu haben, Entdeckungen zu machen. Vielleicht tüftelst Du auch noch alles mögliche Andere bei mir aus. Vielleicht manches ganz Löbliche und Brauchbare. Das wäre ja sehr nett. Ich bliebe sonst auch ein verzweifelt einseitiger Bursche! Wahrhaftig! ich wäre Dir sehr dankbar, wenn ich mich unter Deinem ... Regimente noch ein Bissel vervollkommnete. Das könnte mir gar nichts schaden. Kleine, weiße Frauenhände besitzen eine entzückende Fertigkeit darin, selbst aus den reservirtesten, versteinertsten Felsenwänden noch neue Quellen zu schlagen ...«
»Spotte doch nicht so, Adam –«
»Ich spotte gar nicht –«
»Also ... Du würdest auch ohne mich noch in ein Café gehen – nach dem heutigen Abend noch Abwechslung ... Unterhaltung suchen –?«
»Was bliebe mir denn weiter übrig, Kind? ›Abwechslung‹ – meinetwegen! ... ›Unterhaltung‹ – hm! – warum wählst Du nicht lieber gleich das wunderschöne Wort ›Vergnügen‹? Ich liebe dieses Wort nämlich leidenschaftlich ... Man hört es nur so selten heute ... die Leute nehmen es so ungern in den Mund ... Also – Du kommst mit –?«
»Adam –!«
»Dann leb' wohl, mein Lieb! Und nun gehören wir zusammen, Hedwig – nicht wahr? Und
»Ach! belüge Dich doch nicht so absichtlich, Adam – das kann ja nicht sein –«
»›Belügen‹ – der Ausdruck ist etwas ... etwas stark, Hedwig –«
»Verzeih', Adam! Aber ich habe Dich ja so unsäglich lieb! Du bist ja in all' diesem
Elend – in all' dieser entsetzlichen Noth mein einziger Halt – meine einzige
Hoffnung! Ich ertrage es nicht, Dich zu verlieren – ich ertrage es nicht! Wenn Du
mich verließest, Adam – mich verließest – – ich – ich – – o Gott! – und doch ganz
klar voraussehen müssen, daß Du es thun wirst – – daß Du es thun wirst, Adam – daß es
doch so kommen wird – das ist zu viel – das geht über meine Kraft! Adam! Adam! oh!
wie das in mir wühlt und zerrt und sticht! – – Ich – ich ersticke – Adam! – Und wenn
es mein Unglück ist – –: ich kann dieses Leben nicht mehr ertragen – ich will dieses
Leben nicht mehr ertragen
Adam war von diesem elementaren Leidenschaftsausbruche der »Dame seines Herzens« ... von diesem Ausbruche, in dem sich eine tolle Hingebungswuth, trunkenes Entzücken und eine fanatische Verzweiflung zugleich durchrangen ... mehr betroffen, als erfreut. Er hatte sich mit dem Gedanken, allein zu gehen, schon halb und halb vertraut gemacht. Ja! Er hatte sich seiner Freiheit eigentlich schon gefreut ... und allerhand Erwartungen daran geknüpft. Gewiß! Der Abend war ja noch ganz interessant geworden. Aber die letzten Scenen, die er soeben durchlebt, legten Adam doch allerlei Verpflichtungen für die Zukunft auf – Verpflichtungen, die anzuerkennen, er sich im Grunde schon sträubte – und die erfüllen zu wollen, es ihn doch merkwürdig reizte.
Hedwig war nach dem Flurraume gestürzt. Nun stand sie im Rahmen der offenen Thür, knöpfte ihr Jaquet zu und setzte ihren Hut auf.
»Wo habe ich nur meine Handschuh' –?«
»Ach was – Handschuhe! Heute Abend, Hedwig – ich bitte Dich!«
»Willst Du die Lampe ausdrehen –?«
»Wenn Du fertig bist –«
»Und recht leise, Adam – ja –? Tritt recht leise auf, damit Papa Nichts hört! Es wäre entsetzlich, wenn er – –« Hedwigs Stimme ging doch wieder etwas heiser und stockend, stolpernd, sie fieberte gleichsam.
Adam ließ einen halbfertigen Seufzer fahren. Es war ihm gar nicht behaglich zu Sinn. Seine arme, unvorsichtig hingeopferte Freiheit! Das kleine Wesen that ihm sehr leid. –
Die Treppenstufen knarrten und knackten recht impertinent. Adam tappte und tastete sich unbeholfen vorwärts. Er wurde ärgerlich. Nun blieb er stehen, suchte nach seinem Feuerzeuge und ließ ein Streichholz aufflammen.
»Um Gotteswillen! – lösch aus – schnell!« fiel Hedwig ... wie zum Tode erschrocken ... ein.
»Na aber – das ist doch –« knurrte der gemaßregelte Herr Doctor. Und neues Dunkel war um die Beiden zusammengeronnen. Sie standen auf einem Treppenabsatze.
»Nimm Dich in Acht, Adam – falle nicht! – es ist hier etwas steil –«
»Laß mich –! nicht hier–« sträubte sich Hedwig. »Adam –!«
Endlich standen sie auf der Straße. Es war so still. Der Hausschlüssel ging schwer und kreischte mit belegter Stimme. Schlaftrunken blätterte der Nachtwind im schwarzgrünen Laube der Linden. –
»Gieb mir den Arm, mein Lieb!«
»Wo gehen wir hin, Adam –?«
»Nun – ich denke: wir athmen uns erst 'mal recht tüchtig aus – die Luft ist zwar schauderhaft dick und heiß, aber doch nicht ganz so drückend, wie bei Euch oben. Und nachher – nachher können wir ja in ein Café spazieren – vielleicht ist auch noch 'ne Weinstube auf – –«
»Du bist überall bekannt –?«
»Hier und da –«
»Du verkehrst wohl viel in den Cafés –?«
»Das macht sich so ... mein Gott! Dann und wann ... Man geht 'mal mit Ander'n hin,
'mal allein – es ist ja überall nicht viel zu holen ... Man langweilt sich ... spielt
eine Partie Billard – liest 'ne Zeitung – am Angenehmsten ist es noch, wenn man eine
oder ... oder auch ... mehrere Damen
Nach einer kleinen Pause ließ sich Hedwig leise vernehmen, und ihre Stimme hatte den Tonfall des Vorwurfes, der Anklage: »Und da willst Du jetzt mich hinführen, Adam, wo Du wohl schon öfter mit – mancher anderen Dame gewesen bist –?«
»Aber Hedwig! Du bekommst Rückfälle! Die Sache ist doch einfach die – wir geben doch weiß Gott! kein ganz gewöhnliches, kein ganz communes Verhältniß zusammen ab! Du weißt ja: ich habe die ehrlichsten Absichten von der Welt Dir gegenüber! Ob da nun aber so 'n paar Menschen angetanzt kommen und uns mit demselben niedrigen Maß messen, das sie bei sich selber anzulegen gewohnt sind – mein Gott, das kann uns doch furchtbar gleichgültig sein! Daß Du an innerem Werth verlörest, wenn Du Dich an einen Tisch mit Menschen setz'st, welche so etwas wie – meinetwegen! wie: ›stigmatisirt‹, ›gebrandmarkt‹, die ausgestoßen sind von der ›Gesellschaft‹ – das glaubst Du doch selber nicht, Hedwig! Ich hätte übrigens nicht gedacht, daß in der Praxis das Nachwirken von Anschauungen, die Du intellektuell, theoretisch, längst zum alten Eisen geworfen hast – nicht wahr das hast Du doch gethan? – daß dieses Nachwirken noch so intensiv bei Dir wäre! Es geht ja mir zum Theil auch noch so – gewiß! Aber darum gerade ärgert mich diese Inconsequenz, ärgert mich dieser Zwiespalt doppelt – bei mir – und leider auch bei Anderen ...«
»Nun ja! Man hätte genug mit sich selber zu thun, wenn man's ernst und gewissenhaft nähme! Aber da bindet man sich auch noch Peter und Paul, Hinz und Kunz vor – drechselt sie hübsch unter's Mikroskop –«
»Du ging'st doch jetzt von mir aus – und ich – –«
»Verzeih! Hedwig! Was über meine engste persönliche Sphäre hinausgeht, wird mir immer 'gleich zum prinzipiellen Motiv –«
»Das verstehe ich nicht recht –«
»Das verstehst Du nicht? Du – meine kleine Philosophin –? Und es ist doch so dämonisch einfach! Allein jetzt – nein! – die Geschichte würde zu gelehrt. Lassen wir den Unsinn! Wir wollen lieber ein Wenig plaudern ... une petite causerie anspinnen ... uns ein Wenig amüsiren – wir wollen uns lieber recht von Herzen freuen, daß wir beisammen sind, Hedwig ... so recht ungestört beisammen sind – in Liebe und Eintracht ... eng aneinandergeschmiegt ... einherwandeln dürfen – daß wir zärtlich sein dürfen ... sehr zärtlich sogar, mein Lieb – und kein neidisches Männlein und kein neidisches Weiblein gelbgeärgert uns zuschauen kann – wir wollen lieber – – übrigens, Hedwig – hast Du denn noch gar keine Gewissensbisse – hm?«
»Gewissensbisse –?«
»Nun ja! Wenn Dein armer Papa nun doch etwas merkte! – nun doch Lunte röche, daß sein
»Aber Adam! –«
»Verzeih', mein Lieb! Teuflisch, daß ich Dir damit komme – ich, der – – aber ach! es ist mein Verhängniß, das zu martern und zu quälen, was ich liebe! Und je mehr ich so ein menschliches Wesen liebe, desto mehr muß ich es peinigen. Schrecklich, aber wahr? Diese schöne Eigenschaft haben mir alle Weiber –«
»›Weiber‹! Adam! – ›Weiber‹! –«
»Nun ja! ›Weiber‹! Oder beleidigt Dich das Wort –?«
»Es klingt so häßlich –«
»Häßlich? Finde ich nicht im Geringsten! Mir klingt es sehr voll, dick, rund, massiv – zudem recht deutsch –«
»Was wolltest Du vorhin sagen –?«
»Nun ja! . also: meinen Hang, mich zeitweilig ein Wenig à la monsieur diable aufzuspielen, haben wir bis jetzt alle ... meinetwegen also ... wie Du willst: alle Damen, mit denen ich in den Läuften der Zeit enger ... intimer verkehrt habe, zum Vorwurf gemacht – und doch hat sich die ganze Gesellschaft mit der größten Bereitwilligkeit von mir ärgern lassen – ich sage Dir: Stunden- – Tage- – Wochenlang ärgern lassen –«
»Du hast wohl schon viel Damenverkehr gehabt?«
»Aha! Köstlich, Hedwig, daß Du Dir die Frage doch nicht verkneifen kannst! Ich habe
sie längst
Die beiden Nachtwandrer waren in den engeren Lichtkreis einer Laterne getreten. Adam prüfte den Gesichtsausdruck seiner Dame. Aber er konnte beim besten Willen die Wirkung seiner Worte auf Hedwigs Zügen nicht deutlich erkennen. Sie hielt den Kopf gebückt und einen knappen Winkel nach rechts gewandt. Diese Abkehrung mußte Adam für eine stumme Abweisung halten. So ärgerte ihn die Abweisung. Und der Aerger löste wiederum eine größere Fülle des Dranges in ihm aus – des teuflichen Dranges, vor seiner Herzallerliebsten einmal alle ... oder wenn nicht alle, so doch immerhin eine schwere Menge interessanter ... pikanter Trümpfe auszuspielen. Sein fahriges Vagantenleben ... diese überflüssige, gottlose Irrfahrt des Leibes und der Seele, hatte ihm sotane Trümpfe ja in verschwenderischem Reichthum zugeloost.
»So still, Hedwig? Woran knabbert denn wieder 'mal Dein kleiner Querkopf –?«
»Ach laß mich! –«
»Ueber diese Töne verfügst Du also auch, Kind? Ich hätte sie bei Dir kaum gesucht. Wenn meine schöne Freundin, Frau Lydia Lange – diese ›Dame von Welt‹ ... diese ›vornehme Frau‹ ... dieses ›edle Weib‹ – oder wenn ... wenn meine kleine Emmy also schmollt – dann – –«
»Nun ja! . Das ist nämlich ein wunderhübsches und dazu ein äußerst vorurtheilsloses Kind – ein ›Weltkind‹ – ein ›Kind der Sünde‹ – wie Du willst, Hedwig, – aber entzückend, sage ich Dir, entzückend – leider von Natur ebenso zur Untreue und Unbeständigkeit angelegt, wie ich – ich habe wirklich sehr pikante Stunden mit dem emancipirten Fräulein verlebt, kann ich Dir sagen –«
»Aber Adam! Nein! Ich gehe keinen Schritt weiter mit Dir! – Das sagst Du mir?! Waren denn alle Deine Worte vorhin Lügen –?«
»Lügen? Warum Lügen? Ich habe Dir doch soeben nur ein harmloses historisches Faktum mitgetheilt – daß auch ich so etwas wie eine ›Vergangenheit‹ besitze – nun! – ich habe mir schon erlaubt, Dir vorhin davon Andeutungen zu machen, dächte ich. Oder hast Du's überhört? Das wäre schlimm –«
»Die Vergangenheit scheint aber noch stark genug Gegenwart bei Dir zu sein ...« erwiderte Hedwig, sehr entrüstet und sehr erbittert, wie es schien.
»Vergangenheit und Gegenwart lassen sich bekannntlich nicht haarscharf trennen von
einander – ja! im Grunde überhaupt nicht trennen – seien wir nicht so hagebüchen
unlogisch, mein Lieb! Alles Gewesene wirkt nach. Wie sollten wir sonst
Rassenfeindschaften, Krebsgeschwüre, Knochenverkalkungen und allerlei seelische
Blutvergiftungen erklären? Wir schleppen die Bagnokugel unserer speziellen
Vergangenheit Alle mit herum. Das Ding wächst sogar
»Dann ist es ein Verbrechen, Adam, das ein Jeder von uns an sich und dem Andern begeht, wenn wir noch länger mit einander verkehren –«
»Nimm doch die Sache nicht so tragisch, Hedwig! Du kommst aus Deiner Sphäre – ich aus
meiner. Die Lauflinien unseres Lebens haben sich gekreuzt ... haben sich für uns
durch einen Zufall gekreuzt. An sich war es ja durch die Voraussetzungen – und die
Vergangenheit ist auch in der Welt der neutralen Objekte immer Voraussetzung der
Gegenwart – an sich war es also bedingt, daß wir uns begegneten. Gewisse Neigungen
und Tendenzen zogen den Einen zum Andern hin. Es ist ja Alles nur nothdürftigste
Anpassung in der Welt! Und weil das so ist – nun, darum mußten wohl jene Neigungen
und Tendenzen schon einmal vorher durch andere Erscheinungen, die ihnen einigermaßen
Wurzelbedingungen boten, provocirt und ausgelöst werden. Ich nun für meine Person – –
aber ich habe Dir ja schon gesagt, Hedwig, daß ich immer schöne Formen, merkwürdige
Schicksale und eigenartige Charactere geliebt habe ... Ich konnte nicht anders – und
ich werde nie anders können. Und wirklich – Du darfst es glauben, Hedwig –: meine
kleine Emmy hat einen wundervollen Leib ... ist auch sonst nicht übel – nur eben viel
geistiges, tieferes, verinnerlichtes
»O Gott! machst Du mich unglücklich, Adam! Das kann Dir überhaupt nie verziehen werden. Wenn ich mich nicht so an Dich klammern müßte – – habe doch nur ein wenig Mitleid mit mir –!«
Hedwig schluchzte laut auf. Adam schüttelte ärgerlich den Kopf. Das Weib ist überreizt, sagte er sich. Es muß 'mal ordentlich befriedigt werden. Und doch schmeichelte es seiner Eitelkeit, daß er so leidenschaftlich geliebt ... so brennend begehrt wurde. Jene Doppelstimmung des abweisenden Aergers und des unwiderstehlichen Dranges, entgegenkommend, liebevoll, zärtlich zu sein, befiel ihn.
»Wir wollen einen Strich durch unser Vergangenheitsconto machen, Hedwig – wenigstens
für heute Abend respektive heute Nacht ... Ich werde mir alle Mühe geben, in Zunkunft
nicht mehr an die schöne Frau Lydia zu denken ... und meine reizende Emmy soll auch
den Laufpaß bekommen. Das kleine Ding hängt zwar sehr an mir. Aber ich hoffe, sie
wird sich schon mit dem Prachtkerl von Bodenburg, meinem eminenten Freunde, trösten.
Die beiden scheinen sich übrigens bereits gefunden zu haben. Verteufelt! Wenn ich mir
denke, daß dieser Bursche – dieser ... dieser – ich finde gar keine Worte vor Wuth
... ach! sie konnte so lieb, so zärtlich sein – so ... na! Schwamm drüber! ... Hin
ist hin – und nobel muß die Welt zu Grunde gehen! Ich habe Dich ja jetzt, Hedwig –
lassen wir also
Es blitzte wieder. Nach einer kleinen Weile rollte ein schwacher Donner nach. Heftiger kam der Wind angeblasen. Die ersten Tropfen fielen. Die beiden Wandrer beschleunigten ihre Wanderung.
»Und wenn der Wirth nun schon zu hat –?« fragte Hedwig ängstlich.
»Das wäre eine feudale Frechheit von dem Menschen –« diktirte Adam ärgerlich – »aber ich glaube nicht – – wir sind übrigens gleich da. Triumph! Es ist noch Licht – dort! kurz vor der nächsten Ecke die große, weiße Lichttraube – siehst Du: die Welt ist noch gar nicht so heruntergekommen, wie es oft den Anschein hat! Auch mit den Objekten läßt sich noch reden! Es wäre wahrhaftig fatal gewesen, nach einem Café zurückrennen zu müssen – denn von einem Droschkengaul ist natürlich wieder 'mal kein Ohrzipfel zu vernehmen. –«
»Ach Gott! Wenn das Wetter nur nicht zu arg würde – Papa wird schon längst aufgewacht sein und nach mir rufen. Adam – bitte, lieber Adam, bring' mich wieder nach Hause! Wenn Papa – ich habe ihn schon einmal – ich kann ihm nie wieder vor die Augen kommen – – o Gott! es ist zu entsetzlich! Mein armer, alter Vater –!«
»Ich verstehe Dich, Hedwig –« erwiderte Adam ernst – »aber – zur Umkehr ist es jetzt
wirklich zu
Der Regen ging eben in den hergebrachten Gewitterrhythmus über, als die beiden das Lokal erreicht hatten.
»Guten Abend, Herr Doctor –« begrüßte der Wirth, Herr Engler, sich höflich verneigend die Eintretenden – »das war aber die allerhöchste Zeit! Noch ein paar Minuten später – und – – nicht wahr? man sollte es gar nicht glauben: wir haben doch eigentlich noch gar keine besonders heißen Tage gehabt – und nun knallerts schon los – es scheint 'n ganz hübsches Gewitterchen werden zu wollen –«
In hartem, scharfem Blauweiß prallte jetzt der Wiederschein eines Blitzes gegen die schwarzen Fensterscheiben. Aber im Innern des Raumes konnte er bei der runden Lichtfülle, die sich hier ausgab, nicht recht zur Geltung kommen. Ein dröhnender Donner rollte unmittelbar hinterher.
»Mein Gott –!« schrak die Kellnerin zusammen, die mit der Weinkarte zu Adam hingetreten war.
»Das Hat eingeschlagen!« versicherte Herr Engler sehr bestimmt. Er schien sich auf derartige Prophezeihungen zu verstehen.
»Wo wollen Sie Platz nehmen, Herr Doctor –? Vielleicht hier auf dem Sopha, mein Fräulein –?«
»Ja! Bitte, Hedwig! Uebrigens mein Lieblingsplatz – nicht wahr, Herr Engler? Haben so manches Glas hier geschluckt ... in angenehmster Gesellschaft ... tempi passati! Nun müssen wir halt vernünftig werden. – Aber schöne Stunden waren's doch –!«
Der Wirth schmunzelte. Er warf einen kurzen, scharfen Blick auf Hedwig. Und er sah
sehr nachdenklich aus – als zählte er im Geiste alle die Damen zusammen, mit denen
sein lieber Stammgast, der Herr Doctor Mensch, schon bei ihm eingekehrt war und hier
in dieser traulichen Ecke gesessen ... getrunken ... geplaudert ... gekost ... und
wohl auch einmal geküßt hatte. Aber diese Dame da – die sah doch gar nicht danach
aus, daß sie – hm! ... Nee! so'n blasses, ernstes, mageres Frauenzimmer – ohne Feuer
und Leben – Herr Engler konnte sich keinen Vers darauf machen ... Der Herr Doctor
halte doch sonst einen besseren Geschmack bewiesen! Was ihm nur heute eingefallen
war? Ja! Als er noch mit der Dame da drüben ... mit der Dame, die heute Abend am
ander'n Ende des Zimmers an dem runden Marmortischchen mit dem eleganten Herrn
zusammensaß – – ja! als der Herr Doctor Mensch noch mit diesem amusanten Dämchen
verkehrte
»Also eine Liebfrauenmilch –!« bestellte Adam und sah sich im Lokale um.
»Eine Liebfrauenmilch!« bestellte die Kellnerin weiter an den Wirth, der darauf in ein Nebenzimmer verschwand.
Adam drückte die Gläser seines Kneifers dicht an die Augen heran. Irrte er sich denn – oder? Aber das war ja nicht möglich! Das konnte ja nicht sein! Der Herr da drüben – und die ... die Dame an seiner Seile – das waren doch nicht – waren doch nicht – – und jetzt sah der Herr zu ihm herüber – und nickte er ihm nicht zu? Teufel! Wahrhaftig! Nein! Aber doch! Gütiger Heiland von Plundersweilen! Das war wirklich Herr von Bodenburg – und die Dame an seiner Seite war – die Dame war wirklich Emmy! Na! Eine köstliche Bescheerung! Vorzüglich! Ganz vorzüglich! ...
Adam schnitt sein ernstestes Gesicht und grüßte wieder. Er fühlte, daß er Emmy seine sie ironisirende Verachtung zeigen müßte und sich zugleich vor Hedwig nicht verrathen dürfte.
Hm! das war aber so'ne Sache mit dem ›sich nicht verrathen dürfen‹! Warum denn nicht?
Und da kam auch schon sein Dämon angekrochen und kitzelte
Die Kellnerin brachte den Wein und schenkte ein. Ein paar gelbweiße Tropfen fielen
auf die weiße Tischdecke. Das kleine Fräulein war ein Bissel unaufmerksam gewesen.
Sie hatte nicht auf den Wein geachtet, sie hatte Hedwig inspizirt. Sie schien sich
ein Urtheil bilden ... sich über Etwas klar werden zu wollen. Adam verspürte den
Zusammenhang. Er mußte lächeln. Wie die Hunde, dachte er. Aber cosi fan tutte. Sie
müssen sich erst
Adam war unschlüssig. Sollte er einmal zu den beiden hinüber schlendern ... das Pikante der Situation noch um einige Grade steigern ... und dann mit größtem Gleichmuth das verführerische Gebräu hinabschlürfen? ...
»Wie heißen Sie, mein Fräulein?« fragte er vorerst die Kellnerin. So thut man so oft etwas Ueberflüssiges, so lange man nicht weiß, ob man das weniger Ueberflüssige nicht für das noch mehr Ueberflüssige halten soll.
»Melitta!« antwortete die Dame.
»Donnerwetter! Melitta! Die Kellnerinnen werden immer vornehmer, Sie gefallen mir übrigens, Melitta – wollen Sie nicht 'n Glas mittrinken? –«
Das Mädchen blickte fragend auf Hedwig, die sich zurückgelehnt hatte und finster,
beinah drohend zu Adam hinübersah. Der fühlte sich sehr unbehaglich. Konnte denn die
Dame nicht einmal aus sich herausgehen, nicht einmal in einen lustigeren, leichteren
Ton miteinstimmen? Das Leben etwas zwangloser, etwas kritikloser nehmen? Immer
dasselbe gleichsam festgefrorene Abweisungs- und Entsagungspathos – es wird etwas
langweilig auf die Dauer. Jawohl! Es kann sogar sehr langweilig werden. Wie? Wenn er
jetzt neben Emmy säße ... und sein leckeres Weiblein an diesem köstlichen Goldwein
nippte und ihm dabei über den Rand des Glases hin zublinzelte mit seinen lustigen,
lockenden Augen ... so
Der Regen prasselte mit derselben trockenen Dreistigkeit immer noch nieder ... und mit den rothgelben Lüstreflammen des Saales coquettirten noch immer die weißblauen Blitze. Aber der Donner nahm sich schon mehr Zeit ... schien schon vorwiegend müde geworden zu sein. Er humpelte langsamer hinter den schießenden Flammen her ... und sein Poltern klang bedeutend gemüthlicher.
»Na! das scheint ja noch 'mal gnädig ablaufen zu wollen –« meinte Herr Engler und trat an den Tisch heran, hinter dem Adam und Hedwig saßen. Melitta entfernte sich, ernstlich gekränkt, wie es schien, einen bösen Blick auf Hedwig werfend.
»Ja! .« erwiederte Adam zerstreut ... und schwang sich dann zu der Frage auf: »Wie lange haben Sie noch auf, Herr Wirth?«
»Bis halb Drei ... Drei – so genau läßt sich das nicht nehmen. Je nachdem das Local besetzt ist. Wie Viele kommen nicht erst kurz vor Thoresschluß –!«
»Es geht auf Zwei! Nehmen Sie sich nur Zeit, Herr Doctor! Noch 'n Stündchen – dann müssen wir aber Schicht machen –«
»Bitte, Hedwig, trink doch! Ich glaube, Du bist noch beim ersten Glase! Nimm Dir an mir ein Beispiel! Nicht wahr, Herr Wirth – bei einer Flasche Liebfrauenmilch habe ich es noch nie bewenden lassen –?«
»Ja! Ja! Es sind wohl meistenteils ... mehrere ... Flaschen geworden ... Aber da waren Sie auch – wie soll ich sagen? – da gings flotter – lustiger her – da –«
»Pst!« drohte Adam, halb im Ernste, halb im Spaße. »Nix ausplaudern, mein Lieber –!«
»Du brauchst Dir gar keinen Zwang aufzulegen, Adam! Du weißt doch – wir haben uns ja über diesen Punkt ausgesprochen –« warf Hedwig ein, Aerger und Verbitterung in der Stimme.
»Sie sehen, Herr Engler: so ein Pantoffelheld ist man nun glücklich geworden! Ja! Die Liebe! Die Liebe! Die kriegt Alles fertig und krümmt selbst den trotzigsten Nacken –« scherzte Adam gezwungen ... »– aber ganz hast Du mich noch nicht gebändigt, liebe Hedwig – ganz noch nicht –«
»Bitte, laß das! –«
Herr Engler entfernte sich. Er konnte den Doctor nicht begreifen. Wollte der's denn
wirklich nur noch mit den Philistern halten? Und der würdige Weinwirth
Adam fühlte sich immer ungemüthlicher. Hedwig war so wortkarg ... starrte in Einem fort vor sich hin – und schien mehr an ihren verlassenen Vater zu denken, als an den Geliebten, der ihr zur Seite saß – eine lebendige, begehrende und gabenbereite Gegenwart ... der mit köstlichem Weine den Bund ihrer Herzen feiern wollte heute Nacht ... der die Stimmung für orgiastisches Draufgehn wachsen und wachsen spürte in sich ... wachsen mit dem genossenen Weine und der vorenthaltenen Genugthuung des Leibes, die immer heißer und brünstiger um ihr Recht warb ... Adam verbiß sich rein in seinen Aerger über Hedwigs Sprödigkeit. Er trank immer hastiger, wurde immer nervöser, suchte die Müdigkeit, die manchmal mit eingeriemter Schlinge an seinen Gelenken zerrte, durch krampfhafte seelische Sprünge und Erschütterungen zu verscheuchen. Nun schnappte ein leichter, discreter Rausch nach ihm: verhangene Fernsichten schlossen sich auf ... und tagsüber verschüttet gebliebene Gedanken, Stimmungen, Erinnerungen kamen zu ihm, flink, geschwind, behend wie Eidechsen, aus Rissen und Spaltungen, darin sie geschlummert hatten ...
Adam fühlte den Blick Emmys anhaltend auf sich. Er konnte nicht widerstehen. Das
Ungewöhnliche der Situation reizte ihn zu sehr. »Verzeih, Hedwig! Ich muß erst 'mal
zu meiner Emmy
Zu seiner Emmy? Hedwig fuhr zusammen und schaute Adam nach, wie er, ein klein Wenig unsicher, durch das Zimmer schritt und an den Tisch trat, an welchem, ihnen gegenüber, allerdings in beträchtlicher Entfernung, ein Herr und eine Dame saßen. Sie hatte die beiden Menschen dort bisher kaum beachtet. Und nun entpuppte sich die Dame als »seine Emmy«! Nein! das war zu viel! Am Liebsten wäre sie aufgesprungen und zum Lokale hinausgeflohen. Unwillkürlich horchte sie darauf, ob der Regen nachgelassen. Es schien so. Aber die Dachrinnen plätscherten das Wasser immer noch mit heftigem Affekt auf das Pflaster ... es tropfte und quirlte noch allenthalben. Und jetzt blitzte es auch noch, wenn auch schwächer, wie müde und gelangweilt. Das Gewitter gähnte schon. Das grauweiße Morgenlicht machte sich immer breiter und spielte immer zudringlicher durch die Vorhänge ins Zimmer, welches dadurch einen Stich ins sündhaft Uebernächtigte, ins klebrig Unreinliche erhielt.
Hedwig versuchte es, die Scene, die sich jetzt am Tische da drüben abspielte, weiter nicht zu beobachten. Sie verspürte auf einmal das brennende Bedürfniß, sich zu betäuben. Vielleicht wusch ihr der Wein das Bewußtsein der Schmach, die ihr widerfahren war, aus der Seele. Und sie spülte hastig einige Gläser furchtsam gelber Liebfrauenmilch hinab. –
Adam streckte die Hand Herrn von Bodenburg
»Bitte!«
Adam fühlte sich plötzlich sehr souverän und spottlustig aufgelegt. Ihn dünkte, er hätte die beiden Menschen da vollständig in der Hand – und ein klein Wenig mit ihnen zu spielen, müßte ein Kapitalvergnügen sein, das er sich nach den Zeiten der Dürre, die er soeben mit Hedwig durchlebt, wohl leisten dürfte. Der genossene Wein, der ihm schon eine vage Andeutung von Rausch angeheftet, machte nicht minder seinen stachelnden Einfluß gelten.
»Nun, mein gnädiges Fräulein, wie gefällt Ihnen eigentlich mein neuer Nachfolger im Amte – oder darf ich ihn nur für meinen Stellvertreter halten –?«
Adam sog nachlässig an seiner Virginia. Sie war wieder einmal ausgegangen. »Die Dinger sind wie die Weiber: man muß sie in Einemfort poussiren ... sonst gehen sie aus ... das heißt: sie gehen in ein anderes Lager über. Ich will übrigens damit beileibe nicht gesagt haben, Herr Referendar, daß bei Ihnen Nordpoltemperatur herrschte –« witzelte Adam und hielt sich ein brennendes Streichholz vor die Cigarre.
»Ich verstehe Sie nicht, Herr Doctor –« erklärte Herr von Bodenburg pikirt.
»Prost, Emmy!« kam Herr von Bodenburg nach und fuhr, als er das Glas wieder niedergesetzt, fort: »Ich muß Sie wirklich bitten, Herr Doctor –«
»Mein Gott, Herr Referendar – Sie werden mir doch gestatten, Sie ein wenig zu bewundern! Und das thu' ich mit dem redlichsten Gemüthe von der Welt! Vorgestern – es war doch vorgestern? – ja! – vorgestern also – na! da noch durch die Brust geschossen – ich meine: ohne weiter'n weiblichen Anhang – und heute schon auf stolzen Rossen – ich gratulire herzlichst –«
Emmy wurde unruhig und sah Adam an, wie drohend und zugleich gütlich abrathend, in diesem Stile fortzufahren.
Der Herr Doctor lächelte.
»Verzeihen Sie, mein Herr – so viel ich sehe, befinden Sie sich doch selbst in Damengesellschaft – wenn ich nicht irre, ist Ihre Begleiterin die Dame, die wir öfter im Café Caesar –«
»Sie haben ganz richtig gesehen, Herr Referendar, aber das hindert doch nicht – ich
meine: wenn ich auch momentan versehen bin – Sie werden doch nicht glauben, daß ich
so verzweifelt einseitig sei, um – nun! – nun! – ich versichere Sie, mein Herr: ich
halte es für meine Pflicht, mich auch noch für ... wie soll ich sagen? – für
verflossene Liebschaften
»Dem Ersten Besten – mein Herr –!«
»Clemens –! Ich bitte Dich! Prost!«
»Laß mich! – Dem Ersten Besten – was soll das heißen –?«
»Nun wird der auch noch katholisch! Adam! ... pardon! ... Herr Doctor –!«
»Sie wünschen, mein gnädiges Fräulein –?«
»Das gnädige Fräulein wünscht gar nichts, aber ich wünsche –«
»Was denn?« fragte Adam jovial, mit größter Seelenruhe.
»Daß Sie sich menagiren – sonst –«
»Sonst –?«
»Ich sähe mich gezwungen –«
Herr Engler war hinzugetreten. »Ich bitte Sie, meine Herren – Sie werden doch nicht – – es ist übrigens Feierabend, meine Herren!«
»Darf ich bitten? – ich möchte Kasse machen –« bemerkte Melitta. Dabei sah sie Emmy an und schielte dann zu Hedwig hinüber. Das arme, verlassene Weib schien ihr jetzt sehr leid zu thun.
»So eilig, Herr Wirth?« fragte Adam und erhob sich.
»Es ist halb Drei durch – sehen Sie doch: es ist schon ganz hell draußen –«
»Nun! Das Weitere wird sich morgen finden –«
»Adieu –«
Emmy konnte sich doch nicht enthalten, ein zaghaft geflüstertes »Adieu!« zu antworten.
»Mein Herr! Pardon! –« Herr von Bodenburg eilte Adam nach. Der wandte sich um.
»Darf ich Sie um Angabe Ihrer Wohnung bitten? – ich weiß nicht mehr genau –«
»Hier ist meine Karte – meine Wohnung steht dabei – bitte! .«
»Danke verbindlichst –!«
Die Herren verneigten sich und gingen auseinander.
»Verzeih, mein Lieb – eine kleine, humoristische Scene! Hat natürlich weiter nichts auf sich ...«
Hedwig war durch die Spannung, mit welcher sie trotz alledem unwillkürlich den
Vorgang beobachtet, der sich soeben zwischen Adam und dem fremden Herrn abgespielt –
und durch den mit nervöser Hastigkeit genossenen Wein bedeutend aufgelockert. Das
Paradoxe, Bizarre ihrer Lage war ihr erst eigentlich jetzt zum Bewußtsein gekommen.
Und fast reizte sie schon das Abenteuerliche daran und dünkte sie ausnehmend pikant.
Sie gewann dem, was so neu, so außerordentlich war, schon Geschmack ab. Es fiel zu
sehr aus dem Zusammenhange ihres bisherigen Lebens heraus. Und zugleich wuchs in ihr
»Ihr werdet Euch doch nicht –? – –«
»Gott! wir kitzeln uns vielleicht 'n Bissel! Solche ›kleinen Scherze‹, wie mein verflossener Busenfreund, Herr Kakatus Maximilian Ritter von Stämpellstrunk, zu sagen flegte, das Stereotypen-Männchen, wie wir den Knaben seiner festgefror'nen Redensarten wegen immer nannten – solche ›kleinen Scherze‹ also erhalten die Gesundheit und befördern die Verdauung. Es ist übrigens ziemlich tiefsinnig, sich wegen einer ... einer femme pour tous eine Rippe zu zerbrechen respektive sich eine zerbrechen zu lassen ...«
»Die Damen, mein Lieb, für die oder deren wegen sich Helden, wie wir, schlagen – diese Damen – – nun! glaubst Du etwa, Hedwig, daß ich für Dich eintreten würde – das heißt – ich meine – –«
»Wenn mich nun Jemand beleidigte –?«
»Ich würde den Kerl niederschlagn – aber wahrhaftig nicht auf den Unsinn des
patentirten Mords 'reinfallen! Bei Damen dagegen à la Emmy, die Alles darauf ankommen
lassen, läßt man eben auch Alles darauf ankommen – genau so zweideutig, wie der
Charakter dieser Frauenzimmer ist das Duell – genau so! – ein Capitel aus den
Demimondiana des Lebens, mein Lieb – weiter nichts! Dort Alternativen – hier auch!
Aber nun laß uns gehen! Die theure Donna Melitta wartet schon. Trink' aus, bitte!
Sieh, wie hell es schon geworden ist! Wir gehen der Frühe entgegen, dem Morgen – der
Sonne! Wenn sich nur der Staub der Nacht nicht so in meine Poren eingefressen hätte!
Komm! Und nun wollen wir allen Unrath aus der Seele spülen ... und weiter nichts
sein, als zwei harmlose Wesen, die sich zu Tode wundern möchten, daß sie hier auf dem
dummen, hökrigen Erdrücken Stehauf! und Duckdichnieder! spielen müssen ... die baß
erstaunt sind, daß sie nicht gelegentlich herunterrutschen von dem Kugelwürmchen –
und die manchmal, wie zum Beispiel
Adam hatte an Fräulein Melitta den Wein bezahlt und war nun Hedwig beim Anziehen des Jaquets behülflich.
Herr von Bodenburg und Emmy gingen in diesem Augenblicke vorüber.
Emmy warf einen kurzen, vorwurfsvollen Seitenblick auf Adam, der, hinter Hedwig stehend, nickte ihr zärtlich-ironisch zu. Er wußte ja: Herr von Bodenburg war nur ein »Interims-Verhältniß«.
Die Luft hatte sich kaum abgekühlt. Der Morgen war dick und schwer, der Himmel mit aufgebauscht massigen, gelbgrauen Wolkenlagern überzogen. Der Tag schien recht mürrisch und einsilbig werden zu wollen. Es war kaum Stimmung in diesem Wetter. Das junge, wachsende Licht drückte sich nur in breiten, verschwommenen Massen auseinander. Oefter kam ein warmer Wind angeblasen und furchte die Pfützen, die auf den Fahrdämmen standen. Er klopfte sanft auf die Büsche und Bäume und schüttelte einen kleinen, kitzelnden Regen hängen- und sitzengebliebener Tropfen herunter.
Adam fühlte sich doch etwas übernächtigt. Eine große Spannung wohnte kaum noch in
seiner Seele. Er mußte öfter gähnen, so Vieles war ihm sehr gleichgültig, er sehnte
sich nach einigen Stunden tiefen Schlafes. Er wäre jetzt so gern allein gewesen.
»Ich bin doch etwas müde!« begann Adam stockend und gähnte dazu ein Gähnen, das nicht recht aus sich herauskommen wollte.
»Bring mich nach Hause, Adam!« bat Hedwig leise. Sie wußte selbst nicht recht Bescheid in sich in diesem Augenblicke. Auch sie war abgespannt, und nach dem Hochschwung des kleinen Weinrausches, den ihr die goldene Liebfrauenmilch und die miterlebte Plänkelei zwischen den beiden Herren eingeflößt, litt sie jetzt nur um so mehr unter der wiederkehrenden Müdigkeit. Aber zu ihrem Vater zurück? Um diese Stunde? Doch wohin sonst? Etwa mit Adam herumspazieren, bis der Tag sich ganz breit gemacht hatte und die Menschen glaubten, es mit ihm wagen zu können? Oh! sie gingen beide schon so langsam und sehnten sich beide nach Ruhe und Rast!
Adam lachte mit forzirter Heftigkeit. »Hedwig! Ich soll Dich nach Hause bringen –?
Das ist mehr als naiv, mein Kind! Hörst Du die Nachtigallen schlagen? Nun! die
schlagen uns etwas Anderes und Vernünftigeres vor. Wir promeniren erst noch ein
Weilchen – siehst Du: hier sind wir ja gleich am Parke – die Wege werden allerdings
verdammt
»Mit zu Dir gehen – nein, Adam, das thue ich auf keinen Fall!« erklärte Hedwig sehr bestimmt und umschritt, zu Boden blickend, eine braungraue Wegpfütze, die sich in der Mitte des schmalen, glitschrigen Parksteges über Gebühr breit hingegossen hatte.
»Das thust Du nicht –? Nun! was denken das gnädige Fräulein dann zu thun –?« fragte Adam, höhnisch-verdrießlich. Er war doch im Grunde nur berechtigt, seiner Sache gewiß zu sein. Warum also überflüssige Weitläufigkeiten? Unglaublich! Aber die Weiber!
»Du hast doch gehört – ich will nach Hause gehen –«
»Um diese Stunde? Früh genug ist es allerdings. Aber wir sind schon von heute, mein
Fräulein,
»Aber Du mußt doch begreifen, Adam, daß ich nicht mitgehen kann! Und selbst – wenn auch – nein! nein! – –«
»Ah! ›Wenn auch‹! Was denn nun noch, Hedwig –?«
»Nein! nein – –!«
Hedwig hatte sich von Adam losgemacht und war stehen geblieben. Sie ließ den Kopf auf die Brust herabhängen und streckte mit zusammengeschobenen Fingern die Hände vor sich hin.
»Ich kann nicht –!« stieß sie gepreßt hervor.
»Gieb mir nur einen einzigen, vernünftigen Grund an –«
»Adam! Von Einem zum Ander'n reißt Du mich –«
»Ist Dir das Tempo zu schnell? Mit Schnecken um die Wette zu laufen – das ist allerdings reizlos für mich ... Ueberdies mußte es so kommen! Warum sollen wir die Reise nicht an einem Tage machen? Das Leben ist so kurz. Man darf sich nicht zu viel Zeit nehmen. Nicht auf jeder Zwischenstation aussteigen. Nun komm! Hake Dich wieder ein! Bitte! Und sei meine kleine, vernünftige Hedwig! Ja –?«
»Lieber Adam –!«
»Aber, Kind – warum sträubst Du Dich denn immer noch? Unerklärlich! Du kannst doch
beim
Adam versuchte zu scherzen und machte ein gezwungen heiteres Gesicht. Warm blies ihn
der feuchte Frühlingswind an. Adam nahm den Hut ab und lockerte das zusammengedrückte
Haar auf. Nun gähnte er laut. Zögernd, verdrossen führte er die Hand zum Munde. Er
blinzelte müden, verschwommenen Blickes zu Hedwig hinüber, die ein paar Schritte
vorwärtsgegangen und dann wieder wie rathlos, zweifelnd, suchend, unentschlossen und
Nein! Der Druck in den Augenwinkeln war unerträglich. Und die Glieder wurden dem
Herrn Doctor immer steifer, zäher, widerspenstiger. Es war schon viel
Selbstverständliches in ihm. Er hatte gründlich abgewirthschaftet. Sollte er das Weib
lieber doch nach Hause bringen ... zu seinem verlassenen Vater ... und seinem
Schicksale überantworten? Es war ja schließlich Alles so egal. Aber – besonders
ehrenhaft und muthig wäre es doch wohl nicht gewesen. Allerdings – wie überreden,
überzeugen, daß –? Ach! die Geschichte war verdammt langweilig und hausbacken
geworden. Selbst wenn er das kleine Weib wirklich noch mit nach Hause schleppte und
diese lobesam-labsälige Tragikomödie in einer gewissen Mausefalle ihren süßen
Abschluß fand – besonderen Reiz hatte der Gedanke kaum noch für ihn, seine
Sinnlichkeit ließ den Kopf hängen und welkte – er war nicht mehr im Stande, Etwas zu
finden, das er tief durchfühlen konnte. Nur ungeduldig konnte er noch sein. Er hatte
ein starkes, fein ausgebildetes Verständniß- und
»Na – wie denken das gnädige Fräulein –?«
»Adam –!«
»Wir wollen nicht wieder in krampfhafte Dialoge verfallen, Hedwig! Das ist auch so'n weltläufiger Irrthum, als ob man mit Gesprächen und Verhandlungen irgend Etwas ausrichtete! Wir monologisiren ja Alle nur – reflektiren über unsere höchst eigenhirnigen Triebe, Neigungen, Kräfte, Tendenzen – und so weiter. Das versteht sich Alles ganz von selber. Oder auch nicht. Das ist aber ganz Dasselbe. Widersprüche giebts nämlich gar nicht. Im Grunde durchaus nicht. Bloß auf der Oberfläche. Die Oberflächen drängen, stoßen, reiben, balgen sich. Das nennen wir denn begriffenes Leben. Das wesentliche Leben ist natürlich das Unbegreiflich-Unbegriffene. Das sind nämlich die verdammten Dinger an sich. Daraus folgt, mein Lieb, daß es nämlich ganz schnuppe ist, ab Du hier stehen bleibst, oder ob Du mitgehst – ob Du nach Hause fürbaß wandelst oder bei mir campirst, meine reizende Kameradin – ob Du – – na! ich will nur ruhig sein – ich hätte nämlich beinahe wieder 'mal 'was Knalliges losgelassen ... Gott verdamm mich! – bin ich zusammengehauen von den Strapazen des Abends und dieser glorreichen Nacht! Ja! Ja! –:
›So'n klenet bisken Liebe –
Ach! det macht viel Pläsir –
Een Leben ohne Liebe –
Det wäre nischt for mir ...‹ –
was ich mir allerdings unterthänigst zu bezweifeln erlaube. ›Een Leben ohne Liebe‹ dürfte viel empfehlenswerther ... jedenfalls viel gesünder sein. Aber was soll die ganze Schwatzerei! Wir gehen direkt zu meiner Wohnung – nicht, Hedwig? Das ist am Gescheitesten –«
Seit einigen Minuten waren die beiden wieder neben einander vorwärtsgeschritten. Hedwig sah Adam von der Seite an.
»Adam –!«
»Nun –?«
»Ach! es ist schrecklich!«
»Immer noch? Du bist poussirlich, Kind!«
»Du weißt nicht –«
»Ich weiß nicht –? Was denn –?«
»Nicht wahr: Du läßt mich aber allein bei Dir – ich meine: allein – ja – ich – ich ruhe mich nur ein Wenig aus auf deinem Sopha – dann –«
»Selbstverständlich – wenn Du es durchaus wünsch'st – ich dachte allerdings, daß wir –«
»Oh mein Gott –!«
»Was ist denn nur so furchtbar –?«
»Meine – Ver – – ich bin ja schon – Adam! ich habe ja nichts mehr ... zu – ver ... l – –« Das war leise ... wie mit unsäglicher Ueberwindung herausgestöhnt.
Adam war doch zusammengezuckt. Hm! Er
»Das kann Dir nur zur Ehre gereichen, Hedwig! – Und Dein ... hast Du – Dein ... Kind? –«
»Starb kurz nach der Geburt –«
»Nun ... da hats Dir der liebe Gott doch bequem genug gemacht –«
»Adam!«
»Verzeih! Aber ich – sieh 'mal: ist nicht jedes Wesen beneidenswerth, das bald nach seinem Kommen wieder weggeht ... weggehen darf? . Es ist so süß, mitten in der Nacht ... nach stundenlangem Schlafen ... einmal aufzuwachen ... Man horcht gespannt in die surrende, athmende Finsterniß hinein – fühlt sich unsäglich angenehm müde – und dämmert langsam wieder ein ... Es verlohnt sich schon, die Augen einmal aufzuschlagen, wenn man so entzückend schnell und süß wieder einschlafen darf ... Aber nun hoffe ich, ist der letzte Weigerungsgrund hinfällig geworden, Hedwig – ich weiß sehr wohl, was Du mir hast andeuten wollen – komm! gieb mir den Arm endlich wieder – wir wollen uns etwas beeilen –«
Hedwig sah Adam an ... und fügte sich langsam zögernd. Vielleicht doch nicht zu ungern. – – – – – –
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Die Vorhänge waren zusammengezogen. Das Morgenlicht, das schon recht deutlich und grenzen-reißend im Zimmer gestanden, war wieder zu anheimelnder, welliger Dämmerung graugeronnen. Adam warf einen Blick in den Spiegel. Seine Augen waren glanzlos, sein Gesicht verquollen und unnatürlich geröthet.
»Ja! Ja! das kommt von so 'was! .« spöttelte er halblaut vor sich hin. Nun schloß er sein Cyklinder-Bureau auf und warf dabei einen Blick seitwärts auf Hedwig.
»Aber, Kind! Willst Du denn da an der Thür stehen bleiben? Gefällts Dir so wenig bei mir? Es ist doch gar nicht so übel hier! Leg Deinen Hut ab, bitte – Du hast nun einmal A und B gesagt – jetzt mußt Du das ABC auch ganz hersagen – davon hilft Dir weder Gott noch Teufel los! Sieh' mich 'mal an, Hedwig! Na? Willst nicht? Immer noch so ernst und traurig? – Mein Lieb!«
Das hatte Adam in fast innigem Tone gesprochen. Er war zu Hedwig hingetreten und
begann jetzt sehr discret, bescheiden und nicht ungewandt, der Dame seines Herzens
allerlei kleine Zofendienste zu leisten. Er nahm ihr den Hut ab, knöpfte ihr
Hedwig kauerte sich auf ein Streifchen Sopharand hin. Adam zwang sich zu einem helleren, anregendem Tone.
»Bitte, Hedwig, sei nicht so stumm und zurückhaltend! Nicht so furchtbar starr und bewegungslos! Du bist doch die Herrin hier! Siehe! Dein Ritter und Knecht wird es sich auf dieser schreiend rothen Damastcauseuse bequem machen! Aber Dir, seiner Königin, hat er ein fürstliches Lager aufgeschlagen! Komm und staune! .«
Adam theilte die Portière auseinander und erwartete, daß Hedwig zu ihm hin und mit ihm in sein Schlafcabinet treten würde. Aber die Dame rührte sich noch immer nicht. Unwillig ließ Adam die Vorhangfalten fahren. Er setzte sich neben Hedwig auf das Sopha, zog sie ein Wenig tiefer auf den Sitz zurück, legte seinen linken Arm um ihre Hüfte und bog sanften Nachdrucks mit der rechten Hand ihr Gesicht zu sich heran.
Sie suchte sich langsam von ihm loszumachen. »Laß mich, Adam –!«
»Fällt mir gar nicht ein! Und folgst Du nicht willig, so brauch' ich Gewalt – –«
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Nun Adam auf dem Sopha lag und sich nach Belieben recken und dehnen konnte; nun die Eindrücke der Außenwelt auf eine geringe Anzahl, die sich wohl noch bewältigen ließ, zusammengeschmolzen waren ... nun er das Weib, welches er liebte, in so enger, intimer Nähe bei sich fühlte; nun er es mit seinen Armen umschlingen und küssen durfte, siedete das Blut, dessen Leidenschaft schon erstorben war, noch einmal zischend in die Höhe – und alle geschlechtlichen Instinkte des Mannes lechzten danach, durch das Weibe erfüllt und befriedigt zu werden. – –
Endlich legten sich ihre Arme wie ein zerschnürender Ring um seinen Hals.
»Adam –! –«
»Hedwig –! –«
Die »Natur« läßt ihrer nicht spotten. –
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Das Licht wuchs und wuchs. Die Beiden aber lagen beieinander und genossen die
Süßigkeit verdienten Schlafes. Wohl war ihr Schlaf nur flach und dünn, wie eine
Linnendecke, die jeder Windhauch aufscheucht und bläht ... dünn wie ein Lindenblatt,
das der junge, übermüthige Morgenwind ansäuselt ... Sie begegneten sich so oft in den
Bewegungen ihrer
Unerschöpflich ist die Phantasie genießender Liebe ... unermüdlich weiß sie neue Reize aufzuspüren und auszukosten.
So schliefen sie in den wachsenden Tag hinein. Es wurde lebendig auf dem Vorsaal, man lief hin und her und sprach jetzt lauter, jetzt leiser. Die bunte Welt der Geräusche durchstach so oft die zarte Schaale ihres Schlafes. Manches nahmen sie wohl mit hinüber in die gaukelnden Traumfetzen, die sie gebären mußten. Auch von der Straße herauf sprach das Leben, das die vernünftigen Menschen wieder in Angriff genommen hatten, so oft in ihre zusannnenknospende Rast hinein. Fliegen surrten um sie herum und schreckten sie auf. Und immer heißer wurde es auf dem gemeinsamen Lager.
Hedwig schlummerte. Leise und langsam gingen ihre Athemzüge. Adam stützte den Kopf
auf seine rechte Hand und betrachtete die Schlafende. Ihre Haut war nicht rein ...
und jetzt merkwürdig durchfaltet
Adam wusch sich Gesicht und Hände und schellte.
Dann rief eine müde, heisere Stimme, wie gebrochen, »Adam –!«
»Gleich, mein Lieb! Einen Augenblick!«
Es klopfte. »Herein!« Das Mädchen kam und brachte den Kaffee.
»Morgen, Herr Doctor!«
»Morgen! Und bringen Sie bitte noch 'ne Tasse, Ida!«
»Noch 'ne Tasse?«
»Ja! Ist das so merkwürdig? Ich habe Besuch –«
Das Mädchen sah sehr verblüfft aus. Es starrte Adam einen Augenblick an.
»Aber ist denn das noch nicht vorgekommen, so lange Sie hier sind –?« fragte Adam unwirsch-ungeduldig.
»Nee! In den acht Tagen, wo ich –«
»Na, also bitte –!«
Jetzt schien dem kleinen, frisch vom Lande importirten »Besen« doch ein Licht auszugehen. Er verzog den Mund und grinste tolpatschig-schnippisch.
»Rindvieh!« knurrte ihm Adam nach und trat in's Nebenzimmer.
Hedwig saß im Bett, hatte die Arme gegen die unter der Decke herausgezogenen Kniee gestemmt und die Hände vor das Gesicht gedrückt.
Adam rückte sich einen Stuhl an das Bett heran und streichelte seinem Weibe liebkosend Haar und Hals.
Hedwig nahm die Hände von den Augen. Langsam wandte sie ihr Gesicht mit den bleichen, übernächtigten Zügen und dem schweren, verthränten Blick Adam zu. Das arme Weib schien ganz muthlos, ganz »hin« zu sein. Sich im Bette eines fremden Mannes zu finden – ihm mußte doch auch die Scham in der Seele brennen –
»Mein Lieb–!«
»Das überlebe ich nicht, Adam! Mein armer – armer Vater –!«
»Nur Muth, Hedwig! Es wird schon schief gehen – pardon! wollte sagen: es wird sich Alles schon machen. Schlimmsten Fall's – also – Du hast ja immer – hast ja immer an mir Halt und Stütze! Wir werden's schon überstehen. Es wird noch Alles gut werden – laß nur jetzt den Kopf nicht zu tief hängen, Kind! . Und komm! steh' auf! Du kannst hier ganz ungenirt Toilette machen. Alles Nöthige wirst Du finden. Es wäre ja nicht das erste Mal, daß eine Da – – – man ist für solche Fälle eben vorbereitet, wie es sich geziemt ...« Der angefügte Nachsatz sollte wie ein harmloser Scherz klingen und war doch eine unwillkürlich beabsichtigte Bosheit. Der Herr Doctor mußte sich in dieser Richtung leider nur zu oft gehen lassen. Es war beinahe, als ob nur die vasamotorischen Nerven diesen Reflex auslösten, und der Wille nicht einmal die Freiheit mehr besaß, unfrei zu sei.
Hedwig antwortete nicht. Adam benutzte ihr Schweigen und ging auf kleinen, wohlberechneten Umwegen in sein Arbeitszimmer zurück. Es war ihm zwar zu Sinn, als ob er sich so etwas wie »gedrückt« hätte. Aber da drinnen bei dem unglücklichen Weibe hatte er sich doch zu unbehaglich gefühlt. Und er war schon so nervös heute.
Er goß sich eine Tasse Kaffee ein und trank das Gebräu, das nur noch lauwarm war, in hastigen Zügen hinter. Ein merkwürdiger Durst quälte den Herrn Doctor schon zu dieser frühen Morgenstunde. Und Adam vergegenwärtigte sich mit stiller Resignation, in der er doch aber immerhin ein Wenig zungenschnalzend schwelgte, welche Last er auf sich genommen ... und er erinnerte sich, wie so ganz anders er mit Emmy diese morgendliche Nachfeier genossen hatte – wie dieses schöne »Kind der Sünde« an den letzten verklingenden Melodien einer dithyrambischen Liebesnacht zu schlecken verstanden. Köstliche, unvergeßliche Stunden! Und heute –?
Adam lag in der Sophaecke und kaute an einer Virginia-Cigarette, die gar nicht schmecken wollte. Im Schlafzimmer ging man auf und ab. Schritte schlürften, Kleider raschelten, das Waschwasser plätscherte. Aber Alles so langsam und eintönig, so störrisch-verglast, so leblos-mechanisch. Adam besaß ein sehr feines Gehör. Das war die Nuance der Trauer, der muthlosen Gleichgültigkeit. Ach! Und das wirkt so ansteckend ...
»Herein!«
»Herr Doctor, 'ne Dame ist draußen, die Sie sprechen will –«
»'Ne Dame –?«
»Ja!«
»Hat sie denn ihren Namen nicht genannt –?«
»Nee! Sie sagte man bloß, sie müßte Sie sofort sprechen –«
»Nun – ich lasse bitten –«
Emmy stand auf der Schwelle.
»Emmy –!«
»Verzeih', Adam, daß ich so früh – ich komme – Ihr wollt Euch – –«
Sie war sehr verwirrt und verlegen, die schöne Sünderin – eine Erscheinung, die Adam noch gar nicht bei ihr beobachtet hatte.
Sie stand noch immer an der Thür und irrte unsicheren Blickes im Zimmer herum, schlug nun die Augen nieder und vermied es, Adam anzusehen. Jetzt entdeckte sie zufällig Hedwigs Hut, der auf einem Stuhl neben dem Sopha lag.
Adam entging es nicht, wie sie erschreckend zusammenfuhr. Er lächelte.
»Du hast, Adam –«
»Was denn, Emmy? Aber bitte – willst Du Dich nicht setzen? Und willst Du mir nicht den Grund Deines Kommens nennen? Es muß doch ... muß doch etwas Besonderes vorliegen – nicht? – oder sollte ich mich irren –?«
»Besuch? Das ist der Hut meiner Frau, Emmy –«
»Deiner Frau –?«
»Nun ja natürlich! Was weiter? Soll ich sie Dir vorstellen? Warte eine Secunde – sie macht noch Toilette ... Wir sind etwas spät nach Hause gekommen und ... und haben etwas lange geschlafen ... Uebrigens! wie geht es denn dem Herrn von und zu Bodenburg? Du kommst doch gewiß von ihm –?«
»Adam –!«
Emmy war dicht an Adam herangetreten und sah ihn mit großen, blitzenden Augen fest an. Zorn und Entrüstung brannten in diesem Blick. So spricht die Leidenschaft, die eine erlittene Schmach rächen oder die etwas Verlorenes wiedergewinnen will.
Adam konnte sich dem berauschenden Parfüm dieser Leidenschaft nicht entziehen. Da quoll ihm Blut und Leben in ungestümem Rhythmus entgegen. Da athmete ein Weib vor ihm, dessen Leib seine Reize und Schönheiten wunderbar diskret und bestimmt zugleich durch das knappansitzende Kleid zu verrathen wußte.
Er trat einen Schritt zurück. Und nun mußte er doch wieder lächeln. Fade! Wollte ihn die Dame etwa überrumpeln –?
»Nun? –« fragte er ungeduldig-pikirt.
»Du hast mich in die Arme dieses Menschen getrieben – –«
»Ich? – Aber Kind, da muß ich doch –«
»Oder etwa nicht –?«
»Liebe Emmy! Das ist doch – ich – ich
»Und das sagst Du mir –?«
Emmy hatte sich abgewandt. Sie war glühend roth geworden. Vielleicht aus Scham und Entrüstung zugleich. Nun empfand Adam doch wieder so Etwas wie Mitleid mit ihr. Aber er wußte auch nicht sofort, was er antworten sollte
»Darf ich Ihnen eine Cigarette anbieten, mein Fräulein –?«
Emmy richtete langsam den Kopf in die Höhe. Ein sehr trauriger, vorwurfsvoller Blick stand in ihren schönen Augen.
»Sie haben ganz Recht, Herr Doctor – es ist allerdings mein ›Metier‹ – –«
»Aber bitte! lassen wir doch das! Ich möchte heute früh ... so am ersten Morgen quasi nach meiner ... nach meiner Hochzeit also ... ich möchte mich da nicht gleich wieder auf alle möglichen Scenen einlassen – Sie verstehen, mein Fräulein –«
»›Auf alle möglichen Scenen‹ – so? ›Scenen‹ – ganz recht! ... Nun, Herr Doctor –«
»Ja –?«
»Sie wollen sich mit Herrn von Bodenburg – schlagen? ...«
»Schlagen? Hui! Mir wird janz jruselig. Uebrigens – 'mal sehen ... kann wohl sein! Warum schließlich auch nicht? Ich erwarte vorläufig erst seinen Zeugen – und dann – –«
»Sie werden das Duell ablehnen, Herr Doctor –!«
»Adam –!« Das war sehr innig, sehr rührend, sehr stehend herausgestoßen.
Im Nebenzimmer wurde heftig ein Stuhl gerückt. So hat sich eine Hand krampfhaft auf eine Lehne gelegt. Die Finger krallen sich fest, pressen sich immer fester. Jetzt schleudern sie den Stuhl im Affekte, der seinen Siedepunkt erreicht hat, von sich Die nervöse Spannung läßt nach ...
Die Beiden sahen sich an.
»Denken Sie an ... an Ihre – Frau –« bat Emmy leise, mit zitternder, stockender Stimme –
»Hm!«
»Das hatte ich Ihnen sagen wollen –«
»Ich danke Ihnen, mein Fräulein –«
»Adieu –!«
»Adieu –!«
Emmy wandte sich nach der Thür um, in deren Nähe sich die ganze Scene abgespielt hatte. Einen letzten Augenblick noch zögerte sie jetzt. Und nun kehrte sie Adam noch einmal ihr volles Gesicht zu. Thränen standen in ihren Augen, um den Mund zuckte es schmerzlich.
Und da kam es über Adam. Es gebar sich ihm plötzlich das Gefühl, als verlöre er
Unersetzliches, wenn er Emmy jetzt gehen ließe. Und doch – er durfte sie nicht
zurückhalten. Er war ja gebunden. Er hatte ja eine bestimmte Pflicht zu erfüllen.
Dieses ›Verhältniß‹ mußte also endgültig
Adam küßte Emmy auf die Stirn.
»Verlaß mich nicht, Adam!« – hörte er sich mit bebender, gleichsam in höchster Angst sich anklammernder Stimme zuflüstern.
Es raschelte in den Falten der Portière. Adam trat zurück. Emmy verließ schnell das Zimmer. –
Der Herr Doctor stand vor seinem Sophatische, auf dem es trostlos verworren aussah,
und suchte Etwas, irgend Etwas, er wußte wirklich nicht, was. Seine Finger tappten
zwischen den Büchern, Manuskripten, Zeitungen hin und her, griffen nach einem losen
Blatt, nach einem Schlüssel, einer Cigarrenspitze, einem Bleistifte ... jetzt nach
der kleinen Morphiumflasche, die sich in intimer Nachbarschaft bei Meynerts Lehrbuch
der Psychiatrie niedergelassen ... und stellten Alles wieder hübsch gewissenhaft an
seinen
»Hedwig! Bist Du fertig? Dann komm bitte! Der Kaffee wird in der That ganz kalt –«
Keine Antwort. Adam gab der Cigarette Feuer und trat in's Nachbargemach. »Himmeldonnerwetter – da soll denn doch – –«
Die Luft war heiß und dunstig hier. Eine wüste Unordnung, von dem brutalen
Sonnenlicht bis in's Kleinste hinein entwirrt und umrissen, machte sich allenthalben
breit. Hedwig saß an dem einen Fenster, hatte den linken Arm auf das Brett gestützt
und das Kinn in die Handhöhlung gelegt. Sie starrte, wie von einem einzigen dumpfen,
massiven Schmerze zusammengezwungen, ausdruckslos durch die Scheiben.
»Willst Du nicht?« bat Adam leise, innig. Er war hinter den Stuhl Hedwigs getreten und hatte ihr Gesicht sanft zu sich emporgezogen. »Komm, meine kleine Frau!«
Hedwig seufzte laut auf.
»Und verzeih' diese dumme Störung vorhin! Das war recht geschmacklos. Siehst Du: da hattest Du gleich so'n Stückchen rabbiater Vergangenheit! Aber es ist vorbei. Ich habe es definitiv ad acta gelegt. Du kannst wirklich ganz ruhig sein –«
»Was wird mein Vater sagen?« kam es darauf langsam und unheimlich abgewickelt deutlich von ihren Lippen.
Adam fuhr auf. Er hatte im Stillen wohl auf einen neuen, pikant-harmlosen Disput
gerechnet ... der gewiß nicht ohne reizvolle Pointen geblieben wäre! Und nun wieder
die alte Geschichte mit ihrem Vater, an die er am Liebsten gar nicht erinnert sein
wollte. »Nimm mir's nicht übel, Hedwig – aber immer und ewig nur Dein Vater! Ich
hab's Dir ja schon gesagt: ich gehe nachher zu ihm hin und setze ihm die ganze
Sachlage ruhig und denkbar correkt auseinander. Dann werden wir ja sehen ... Vor Elf
kann ich allerdings nicht. Bis dahin muß ich schon warten ... muß eben erst sehen, ob
sich Herr von Bodenburg mit seiner kindischen Geschichte meldet. Ist das glatt, wird
sich das Andere auch finden. Dein Papa ist doch kein Unmensch.
Hedwig war aufgestanden. Sie legte ihre Hände auf Adams Schultern, barg das Gesicht an seiner Brust und weinte leise in sich hinein.
»Ich habe ja nur Dich noch auf der ganzen weiten Welt, Adam – habe Mitleid mit mir!« bat sie mit thränenerstickter Stimme.
Adam drückte sein Weib zärtlich an sich.
Und nun saßen sie wieder beisammen auf der schreiend rothen Damast-Causeuse.
Adam nippte an seiner Cigarette, Hedwig trank
Es lag ein überaus discreter, nur scheu angedeuteter Moschusduft im Zimmer ... eine liebe Hinterlassenschaft Emmys. Dazu das brenzlichte Parfüm der Cigarette. Adam hatte allerlei kleine, dumme, träge, saugrüsslige ... überflüssige Gedanken ...
Es war schon über elf Uhr.
»Nun könnte sich der edle Trovatore eigentlich melden!« bemerkte Adam verdrießlich. Er hatte sich eben das Gespräch, das er mit Herrn Doctor Irmer zu führen gedachte, in den Hauptpunkten zurechtgelegt ... und hätte es am Liebsten sofort vom Stapel gelassen. Das Memoriren und Rekapituliren war so beunruhigend und peinlich. Nur neue Bedenken und Möglichkeiten gebar es, welche das Motiv immer wieder beeinflußten und verschoben.
Da schlug die elektrische Klingel an.
Das Mädchen gab Bescheid. Es klopfte an die Stubenthür.
Hedwig zuckte zusammen. Vielleicht eine Nachricht von ihrem Vater –? ... eine Anfrage von ihm bei Adam, ob – –? ...
»Herein –!«
Ein Herr trat in's Zimmer. »Herr Doctor Mensch –?«
»Ja! Und darf ich fragen – –« Adam hatte sich erhoben.
»Mein Name ist von Schnauzl. Habe die Ehre, von Herrn von Bodenburg – –« Herr von Schnauzl stockte. Er warf einen fragenden Blick auf Hedwig, die ihn mit ängstlicher Spannung, zugleich äußerst verlegen und genirt, ansah.
Adam fand den Zusammenhang.
»Sei so gut, mein Lieb, und laß uns einen Augenblick allein –«
Hedwig entfernte sich.
»Nun –?« fragte Adam, einen Ton beleidigender Abweisung und Ungeduld in der Stimme.
»Herr von Bodenburg –«
»Wollen Sie sich nicht setzen, Herr von ... von –«
»Von Schnauzl! Danke verbindlichst!«
Herr von Schnauzl geruhte, mit steifer Nachlässigkeit ein Fleckchen Causeuse für seine dreidimensionale Leiblichkeit in Anspruch zu nehmen.
»Herr von Bodenburg, mein verehrter, langjähriger Freund – wir waren Kompennäler und später zusammen aktiv in Göttingen –«
»So –?«
»Ja!« versicherte Herr von Schnauzl mit unwillkürlicher Treuherzigkeit ... und fuhr dann fort: »Herr von Bodenburg war also vorhin bei mir und ersuchte mich, Ihnen eine Pistolenforderung ... für den Fall, daß Sie nicht revociren und depreciren – natürlich in Gegenwart der bei der betreffenden Scene betheiligt gewesenen Personen – also vor Allem in Gegenwart der Dame, mit welcher mein Freund –«
»Ah! In Gegenwart meiner Emmy –?«
Adam war doch unverbesserlich. War das nun Absicht gewesen – oder hatte er wirklich ganz vergessen, daß sich Hedwig im Nebenzimmer befand und sicher auf jedes Wort, das hier gesprochen wurde, aufmerksam hörte? Aber ... schlimmsten Falls ... wenn es sich – vor ihr – nicht anders drehen und wenden ließ: schlimmsten Falls konnte er den faux pas als eine kleine, harmlose Rache hinstellen – ganz bewußt beabsichtigt – das war doch noch etwas pikant – warum hatte sie sich denn heute so ganz und gar nur von der Sorge um ihren Vater erfüllen lassen? – und ihn so gut wie gar nicht berücksichtigt? .
»Verzeihung! Ihrer Emmy, sagen Sie ... hm! –« fragte Herr von Schnauzl verblüfft und pikirt zugleich.
Herr von Schnauzl war ein paar Finger breit aus dem Geleise gekommen. Da warfen sich ihm einige Momente mir nichts dir nichts zwischen die Beine, auf die er schlechterdings nicht im Geringsten gerechnet hatte, als er sich zur Erfüllung der ehrenvollen Mission, die ihm von Seiten seines verehrten Freundes aufgeschultert war, vorbereitet. Aber schließlich – das war ja seine Sache nicht. Mochte die Dame doch – – er hatte nur die Forderung zu überbringen ... respektive den Sühneversuch einzuleiten.
»Doch ... das hat mit dem, was mir hier zunächst obliegt, direkt nichts zu thun. Ich bin nur beauftragt, Ihnen, Herr Doctor –«
»Von Revociren und Depreciren kann natürlich keine Rede sein –« fiel Adam barsch ein. Die ganze Geschichte langweilte ihn schon ganz gehörig. Was wollten denn nur in aller Welt diese Idioten von ihm –?
»Ja – dann –«
»Verzeihen Sie, Herr ... Herr von Schnäuzl – pardon! – Schnauzl – durch welches Wort – hm! – welchen Ausdruck, welche Gesprächswendung fühlt sich denn eigentlich Ihr Herr Mandant beleidigt –?«
»Sie haben, wie mir Herr von Bodenburg mittheilte –«
»Darf ich Ihnen eine Cigarette anbieten –?«
»Ja –?«
»Daß Sie den Ernst der Stunde ein Wenig zu unterschätzen scheinen –«
»Meinen Sie? – Ach nee! Doch – offengesagt –: – ich finde die ganze Geschichte dämonisch kleinlich, albern, überflüssig, trivial ... und vor Allem empörend langweilig ... Gestatten Sie übrigens, daß ich mir ein Exemplar meiner Virginia zu Gemüthe ziehe. Hoffentlich finden Sie nicht, daß unser ehrenwerther, blutrother Pistolenspeech durch ein paar blaue Rauchwolken entweiht wird – ich meine im Gegentheil: derartige Akte dürfen des Weihrauchs nicht entbehren – sie möchten sonst zu nüchtern und zu schamlos nackt sein –«
Herr von Schnauzl war etwas unruhig geworden. Er wußte nicht recht, wie er diesen Herrn Doctor nehmen sollte ... Sollte er sich durch diese Art der Gesprächsführung auch beleidigt fühlen und ... und die ganze Verhandlung abbrechen? Grund genug dazu hatte er schließlich erhalten durch die höhnisch-mo quante Art, mit welcher der Gegner seines Freundes sich aufspielte. Aber er hatte ja noch nicht einmal die Forderung selbst normirt – und darum – –
Adam hatte sich in den Sessel geworfen, der vor seinem Cylinder-Bureau stand, und betrachtete sein schräges Gegenüber.
Herr von Schnauzl machte ihm durchaus keinen sympathischen Eindruck. Das ganze Wesen
dieses
»Herr von Bodenburg fühlt sich durch eine Aeußerung Ihrerseits, die Sie zwar nicht direkt an ihn gerichtet haben, die er aber dem ganzen Zusammenhange nach auf sich beziehen mußte – also dadurch, daß Sie von dem ›Ersten Besten‹, sprachen, ›in dessen Arme‹ – ich glaube, so drückten Sie sich aus – –«
»Ach ja! Ich erinnere mich ... Nun, – ich weiß schon – also wie gesagt –: auf eine weitere, revocirende Erklärung lasse ich mich nicht ein. Des Kuriosums halber: Herrn von Bodenburgs Forderung –?«
»Die Forderung Herrn von Bodenburgs: also auf Pistolen – fünfzehn Schritt Distance – zweimaliger Kugelwechsel – mit Zielen –«
»So? Danke sehr! Im Uebrigen also theilen Sie Herrn von Bodenburg nur gefälligst mit, daß ich seine Forderung nicht annehme –«
»Nicht –?«
»Nein –!«
»Und darf ich fragen, aus welchem Grunde –?«
»Aus welchem Grunde? Hören Sie 'mal, lieber Herr –: ich wäre wohl kaum verpflichtet,
Ihnen meine Gründe auseinanderzusetzen. Es würde uns auch zu lange aufhalten, bin
pressirt. Ich sage Ihnen nur, daß ich durchaus kein prinzipieller Gegner des
Duells,
»Ich muß doch bitten Herr Doctor! Ich bin hier sein Vertreter ... gleichsam in dieser Angelegenheit mit ihm identisch – und ich würde nun doch endlich gezwungen sein mich selber als beleidigt zu betrachten, wenn – –«
»Das sollte mir leid thun, Herr von ... Schnauzl – ich würde es aber nicht ändern können. Uebrigens wenn Sie mit Ihrem Mandanten identisch sind – warum kommt er denn da nicht selber zu mir? Wäre er vorhin anstatt zu Ihnen zu mir gegangen, hätte er – na! da hätte er eben unsere liebe Emmy, den kleinen, reizenden Zankapfel, bei mir antreffen können. Wir hätten dann jedenfalls sehr bald Frieden geschlossen. Frauen entzweien zwar leicht und wohl in gewissen Fällen auch nicht gerade ungern – haben aber doch auch wieder einen riesigen Versöhnungstic ... Die Emmy war ganz außer sich vor Aufregung ... Nun – und dann –«
»Ja! Ihre weiteren Gründe –?«
»Ich lasse mich nur mit – verzeihen Sie! – nur mit Meinesgleichen ein – Herrn von
Bodenburg aber für Einen Meinesgleichen zu halten – ja! – es sträubt sich Etwas in
mir dagegen – ich glaube übrigens wirklich – ich kann's mir wenigstens nicht anders
erklären – Sie werden wohl besser orientirt sein – kennen ihn ja näher
»Sie lehnen die Forderung also definitiv ab –?«
»Ja! – Außerdem giebt es noch einen Fall –«
»So wollen Sie mir wenigstens bestätigen, daß ich Ihnen die Forderung Herrn von Bodenburgs überbracht habe –«
»Mit Vergnügen! Wünschen Sie eine schriftliche Erklärung –?«
»Nein! Ich danke. Die mündliche Décharge genügt mir ... Ich empfehle mich! Adieu!«
»Ich habe die Ehre! Adieu! –«
Adam trat zu Hedwig in's Schlafzimmer.
»Und nun will ich mich fertig machen und zu Deinem Vater gehen, mein Lieb. Verzeih
die Verzögerung – die dumme Geschichte ließ sich aber nicht fixer abwickeln. Mein
Gott! Was habe ich seit gestern Abend bis heute Mittag nicht schon für Scenen erlebt!
Das geht auf keine Bärenhaut. Und eine immer schöner als die andere! Na! Nächstens
werde ich meine Memoiren schreiben. 'S wird Zeit. Aber der Hauptcoup kommt noch. Hm!
Doch auch dieser Kelch wird sich wohl noch austrinken lassen. Himmel, hast du keine
Flinte! Mir ist doch
»Und habe Nachsicht mit meinem armen, alten Vater, Adam! Er wird sehr unglücklich sein ... Ach! Das hätte ich ihm doch nicht anthun sollen ... Wenn Du ihn nur noch – wenn er nur noch – o Gott! der Gedanke könnte mich wahnsinnig machen, daß – – und diese Angst – diese furchtbare Angst –! Und bitte für mich bei ihm, Adam –!«
»Für Dich? Für uns, Hedwig! Am Meisten aber für mich. Denn ich habe ihm sein Kind genommen. Und nun leb' wohl, mein Lieb! Wo hab' ich nur meine Handschuhe? Du kannst unterdessen ganz ruhig hier bleiben – Du bist ganz ungenirt. Nimm Dir 'n Buch vor und ließ 'n Bissel! Da Daudets Tartarin! Der drollige Kerl wird Dich aufheitern. Ich komme sofort zu Dir zurück. Es wird sich schon Alles ordnen lassen. Adieu –!«
»Adieu, Adam! – Und – und – –«
Die Beiden küßten sich. Hedwig wandte sich laut aufschluchzend ab. –
– Und die Thür that sich auf. –
»Herr Doctor Irmer zu sprechen?« fragte Adam das Mädchen mit halblauter, stolpernder Stimme.
Das Gefühl beherrschte ihn ganz, daß er im nächsten Augenblicke vor seinem Richter
stehen würde. Es war so altfränkisch, dieses anklagende, beängstigende Gefühl, Adam
empörte sich auch ganz gewaltig gegen das Rudiment aus seinen Kindertagen, wie er es
affektirt geringschätzig nannte, aber es war doch da, war doch in ihm, es ließ sich
weder durch einen brutalen Gewaltakt des Willens noch durch ein logisches
Raisonnement hinwegdisputiren. Adam hatte alles Selbstbewußtsein, alle Ueberlegenheit
verloren. Er abstrahirte allerdings aus der Erinnerung, daß er seine ganze Sicherheit
wiedergewinnen würde, sobald er erst mitten im Feuer stände und es zu starken
Individualitätsreibungen gekommen wäre – er hatte diese seelische Erscheinung so oft
schon an sich erlebt. Nur das Unklare, Ungewisse erregte ihn, wühlte ihn so auf,
machte ihn so ängstlich und furchtsam. Seine Phantasie trieb Alles auf, zog sogleich
die letzten Schlußfolgerungen, zeigte Alles von der unerträglichsten
Nun stand Adam wieder einmal, in gewisser Hinsicht ein »unsicherer Kantonist«, vor
einer Entscheidung. Sie war ihm überaus lästig und unbequem. Er bebte vor ihr zurück.
Wer konnte wissen, welche Folgen diese Auseinandersetzung mit Hedwigs Vater für ihn
haben würde! Wenn Alles sehr mißlich für ihn ablief – zu verwundern war's nicht. Gar
nicht. Wenn er nur vorher wüßte, ob Irmer ihm recht aufgebracht entgegentreten würde!
Geschähe das – nun! dann würde er schon zu antworten
»Ich weiß nicht, ob der Herr Doctor –« begann das Mädchen zögernd, beklommen. – Adam bemerkte unwillkürlich, daß sein Gegenüber recht bekümmert, wie starkverweint um die Augen herum, aussah. Es hatte so gar keine deutlicheren Farben im Gesicht.
»Ist er sehr leidend –? Dann könnte ich ja – wenn auch – – es wäre mir doch wichtig – –«
»Ja! Der Herr Doctor ist sehr leidend – er liegt zu Bett – er hat sich wieder hinlegen müssen – aber Sie kommen gewiß von wegen unseres Freileins – –«
»Ja! Ja! Nun machen Sie doch! Führen Sie mich an sein Bett – oder – Hedwig wartet – –«
»Hed ... Mein Gott! Dann kommen Sie nur! Aber ich wills doch lieber dem Herrn Doctor erst sagen – bitte treten Sie so lange ein –«
Und nun stand Adam wieder in dem Zimmer, in welchem er gestern Abend so Vieles erlebt hatte, was für ihn bedeutsam und entscheidend geworden war.
Dort an dem Fenster – nein! es war doch eigentlich zu närrisch! – dort hatte er sich
seine ... seine Braut erobert. Es hatte ihn Mühe genug gekostet. Nun! Er hatte ja
seinen Lohn dahin.
Aber nein! Das konnte sich ja unmöglich Alles so ereignet haben, wie er da glaubte – das wäre ja der pure, blanke Wahnsinn gewesen –!
Quatsch! Seine Phantasie war wieder einmal mit ihm durchgegangen. Sie hatte doch sonderbare Passionen, diese merkwürdige Phantasie! Manchmal wurde sie ganz unheimlich. Diese Vexierspiele streiften schon an .... an – natürlich an Verrücktheit ...
Adam strich sich mit der Hand über Augen und Stirn. Und doch – aber nein! nein! Und noch zehntausendmal nein! Er wartete ja auf das gnädige Fräulein, dem er einen conventionellen Besuch ... eine ganz formelle, gleichgültige Visite machen wollte – na! die Prinzessin ließ ein Wenig lange auf sich – auf sich ... »warten« – nun könnte sie doch eigentlich ... nun könnte sie doch eigentlich kommen! Was dachte sie sich denn? Er stahl doch wahrhaftig seine Zeit nicht –
Adam fühlte sich arg beleidigt. Er wollte es ihr schon zu verstehen geben, dieser – –
Da öffnete sich die Thür und Doctor Irmer trat ins Zimmer, langsam, ganz langsam. Es machte ihm sichtbar Mühe, die Thür hinter sich nachzuziehen.
Adam starrte den Eintretenden wie eine räthselhafte, ganz unerklärliche Erscheinung
an. Was war denn das? Nun sollte er sich auf einmal zwischen
Unwillkürlich paßte Adam Auge, und Intellekt mehr und mehr dem Phänomen, das er da vor sich sah, an. Ob es nun Täuschung, ob es Wahrheit war – er kam schließlich doch so weit, daß er so ziemlich unverworren mit der Thatsache, die sich ihm grell aufdrängte, die er sich aber doch noch nicht ganz zu eigen machen konnte, rechnete
Irmer hielt sich den um ihn herumschlotternden Schlafrock in der Bauchgegend mit der linken Hand zusammen. Die ganze Gestalt war geknickt, gebrochen, überaus hülflos. Der Kopf hing auf die Brust herab, wie von der Klammer eines unwiderstehlichen Zwanges heruntergepreßt. Das Gesicht war bleich und welk, seine Furchen und Falten traten erschreckend scharf hervor. Das spärliche, mehr wasserfarbene als graublonde Haar stand in ungeordneten Büscheln auf dem Scheitel herum. Dazu müde, todte Augen und rothentzündete Lider.
»Herr Doctor« – – begann Adam leise, stockend, ganz rathlos ... und trat einen Schritt zur Seite.
Irmer nickte nur schwer mit dem Kopfe, ein Nicken wie das eines Blödsinnigen, der nicht wußte, was man von ihm wollte. Der schwerleidende Mann schlich quer durch das Zimmer nach der Ecke hin, wo sein Schreibtisch stand. Langsam ließ er sich in seinen breiten, wackeligen Sessel fallen.
»Sie kommen –« knüpfte er mit seiner müden,
»Ich komme, Herr Doctor, um Ihnen Nachricht von Ihrer Tochter zu bringen – Hedwig ist bei mir – –«
»Ist – bei – Ihnen – so! So –!«
»Ja! Und nun verzeihen Sie uns, Herr Doctor – mir und meiner Braut –«
»Ihrer – Braut! Hm! Ja! – Ja! – Mein armes Kind –«
»Herr Doctor –!«
Adam athmete wie von einem schweren Drucke befreit auf. Gott sei Dank! Nun schien es doch zum offenen Kampfe kommen zu wollen. Da erhielt er ja unter Umständen Gelegenheit, seine ganze Dialektik zu entfalten. Nur sich nicht so wehrlos von halb verschwiegenen, halb angedeuteten Vorwürfen, von Anklagen, die tropfenweise durchsickern, martern lassen müssen – –
»Mein armes Kind! Sie haben es mir genommen – –«
»Ja! Ich weiß es. Und ich nehme auch alle Schuld auf mich. Ich werde zu sühnen versuchen, was ich verbrochen habe – wenn das, was ich gethan, wirklich ein Verbrechen war –«
Adam war trotzig geworden. Das schleppte sich so langsam hin. Die Flamme fraß sich so
widerstrebenden Zahnes, wie störrisch-gelangweilt, unter der Oberfläche fort. Das war
alles so neblig, so schleimig. Er mußte seinen Gegner durch eine Kühnheit, ja! durch
eine – Unverschämtheit herausfordern, wenn
Irmer hob seine linke Hand, die schielend und unbestimmt auf dem Schreibtische gelegen, schwerfällig in die Höhe und ließ sie schnell wieder niederfallen, als besäße er keine Macht mehr über Muskel und Gelenk. Dazu schüttelte er ein Wenig den Kopf, sagte aber weiter Nichts.
»– 's scheint Ihnen nichts daran zu liegen, Herr Doctor, daß wir uns näher aussprechen –« nahm Adam wieder das Wort, einen hochfahrenden Ton in der Stimme. »Ich hatte allerdings erwartet, daß – nun! vielleicht ist es besser, wenn wir einfach mit der vorliegenden Thatsache rechnen. Ich bin auch damit zufrieden. Die Frage ist jetzt also die, ob Sie gestatten, daß Hedwig so lange zu Ihnen zurückkehrt, bis ich in der Lage bin, sie als mein eheliches Weib ... – also ... meinetwegen –: heimzuführen ... Das kann noch eine Weile dauern – darüber können noch einige Monate hingehen – ich muß mir erst eine Situation schaffen, die mir erlaubt – –«
»Mein Kind! Mein Kind! Meine einzige Hoffnung – meinen einzigen Halt nehmen Sie mir,
Herr Doctor ... haben Sie mir genommen ... was soll ich nun noch hier? Es ist ja
Alles für mich vorbei – Alles werthlos geworden. Blut und Jugend sind stärker
gewesen, als alle meine Einflüsse ... als alle Erfahrungen und Erkenntnisse, die ich
Hedwig einzuflößen gesucht, durch die ich sie
Irmer brach ab. Er hatte die letzten Sätze mit fast ganz unverständlich gewordener
Stimme gesprochen, nur noch mühsam aus sich heraussickern lassen. Adam hatte mit
aller Macht aufmerken müssen, um seinen ... Schwiegervater auch nur einigermaßen zu
verstehen. Er war nun doch so etwas wie erschüttert und ergriffen. Zugleich aber auch
skandalös verstimmt. Hm! Hatte er denn nicht, allerdings nur ganz im Stillen gehofft,
daß es zu einem regelrechten Kampfe um Hedwig zwischen diesem Manne da und ihm kommen
würde? – Und hatte er nicht die ... die teuflische Absicht gehabt, in diesem Kampfe –
freiwillig zu unterliegen? Ja! Gewiß! Diese Absicht wäre teuflisch gewesen und
ruchlos – warum auch nicht? – wenn er sie verwirklicht hätte. Aber er hätte sich in
seiner sehr gefährlichen Situation kaum anders helfen können. »Liebte« er denn
Hedwig? War ihr Besitz denn eine »Lebensfrage« für ihn? Scheibenschießen! Und nun war
von einer ehrlichen Auseinandersetzung keine Rede. Der Herr da verzichtete, er
begnügte sich mit einer Reihe sentimentaler Lamentationen und wehmüthiger
Betrachtungen – und Adam sah sich durch die Zusammenknotung der Verhältnisse mit
einem Male gezwungen, das Leben von einer Seite ernst zu nehmen, mit
»So gestatten Sie denn, Herr Doctor, daß Hedwig – –«
»Ja! Ja! Ich will mein Kind doch noch einmal wiedersehen, ehe – –«
»Es wird noch Alles gut werden –« versuchte Adam lauen Herzens zu trösten ... und fuhr dann lauter, bestimmter fort: »Und nun geben Sie mir die Hand – und lassen Sie mich die Ueberzeugung mitnehmen, daß Sie uns verziehen haben, Herr Doctor ... Und nehmen Sie in diesem Sinne Ihr Kind, meine Braut ... unsere Hedwig auf – Sie werden sehen: wenn ich erst der Dritte in Ihrem Bunde bin – das wird ein neues, sonniges Leben geben! . Und wenn Sie dann noch durchaus weitermachen wollen in Ihrer Entsagungsphilosophie – nun! dann helfe ich Ihnen dabei nach bestem Wissen und Gewissen, Herr Doctor –«
Adam lächelte. Er war zu Irmer hingetreten und streckte ihm, von heiß aufquellender
Sympathie übermannt, seine beiden Hände zum Abschiedsgruße
Adam sagte sich, daß er sich nach diesem unerquicklichen Speech wohl einen kleinen »Abschwiff« zur Aufbesserung seiner Stimmung gönnen dürfte. Hedwig erwartete ihn zwar. Aber was verschlug's! Ob ihr eine Viertelstunde früher oder später das bittersaure Chinin des Resultats eingelöffelt wurde – das war schließlich egal. Nein! Jetzt gleich die ganze Geschichte noch einmal von vorn bis hinten durchzukauen – das konnte kein Mensch von ihm verlangen ... das war entschieden grausamer, als neben einem Lastwagen hergehen müssen, der mit schmunzelnder Behaglichkeit über holpriges Pflaster durch eine stille Straße knarrt ...
Adam suchte absichtlich die prallbrütende Mittagssonne auf. Ach! Diese Glut war so wohlthuend! So ganz, so massiv, so angenehm prickelnd und discret durchbratend dabei! Der Herr Doctor hatte sein nervöses Frösteln immer noch nicht ganz überwunden.
Schließlich lief er in Café Cäsar ein. Er ließ sich eine Flasche Sodawasser und einen kleinen Cognac bringen und vertiefte sich in das leckere Literaturgetändel des Gil Blas. –
Und nun saß Adam wiederum auf der schreiend rothen Damastcauseuse neben seiner Hedwig und spielte mit den schlanken, weißen Fingern ihrer linken Hand.
»Lange? – Ach nee! Ich komme direkt von Papa –«
»Und –?« Ein gepreßtes Athmen. Sodann, leise, beklommen: »Und verzeiht er mir, Adam –?«
Der warf seinen Hut auf den nächsten Stuhl und setzte sich zu seiner Braut.
»Natürlich, Kind! Und warum sollte er auch nicht? Papa ist vernünftig. Ich habe ihm erklärt, wie Alles gekommen ist. Gott! Mir erscheint die ganze Geschichte heute immens harmlos. Was haben wir denn weiter verbrochen! Ein paar kleine ... nun! meinetwegen ein paar pikante Fakta, die man sonst erst nach der Hochzeit zu erledigen pflegt – die haben wir schon in die Ouvertüre verlegt. – c'est tout! Dein Papa ist Sprachphilosoph genug, um das Wesen einer Prolepsis zu verstehen –«
»Ja! . Aber – –« meinte Hedwig ängstlich –
»Komm!« forderte Adam aus. »Ich will Dich hinbegleiten, Kind – Du bleibst noch eine kleine Weile bei Papa – wir haben schon Alles geordnet – nachher gründen wir uns ein eigenes Nest – nicht wahr? Ich werde schon einen tüchtigen Baumeister abgeben – paß auf –!«
Hedwig senkte den Kopf. Adam starrte gedankenabseits vor sich hin. Nun hob das Weib
das Gesicht zu seinem Geliebten auf ... und viel Hingebung, Sanftmuth, natürliche
Unterordnung,
Adam küßte sein Weib. –
Und er geleitete Hedwig zu ihrer Wohnung. Sie standen vor der Hausthür. Hedwig zögerte. Sie fürchtete sich jetzt am hellen, leuchtenden Tage vor den Räumen, die sie zum letzten Male in später, nächtiger Stunde betreten hätte. Und nachher oben ihr Vater – das erste Sich-Gegenüberstehen – die ersten Worte – –
Adam wurde ungeduldig. Er wußte ganz genau, was in Hedwig vorging. Aber Alles drängte in ihm danach, endlich einmal frei aufzuathmen. Immer und ewig Schleim und Leim und Angst, Kopfhängerei, Unsicherheit – zum Kuckuck – er hatte genug! So wurde er mitleidslos, fast brutal.
»Also adieu, mein Lieb! Und nun sei recht sanft zu Papa! Ich komme, wie gesagt, heute Abend ... spätestens morgen früh. Wir wollen uns jetzt recht oft sehen – nicht wahr –?«
»Ja! .« Hedwig seufzte tief auf. Die beiden trennten sich endlich. –
Als Adam die Straße hinunterschritt, warf er, unbekümmert um die verwunderten
Gesichter der vorüberwandelnden Mittagsmenschen, seine Arme von sich und prüfte seine
Muskeln. Er reckte und dehnte sich nach allen Seiten, knirschte sich gleichsam mit
starkem körperlichem Wohlbehagen um seine eigene Axe herum. Hei! das war eine Lust!
Und dieses Freiherausschnaufendürfen aus voller, tiefer Brust!
Er stand über Allen, die da an ihm vorübergingen. Er war nicht verpflichtet, ein Opfer ihrer lächerlichen Subalternmoral zu werden ... Nein! Bei Gott nicht! Er stand über Allen. Und darum, glaubte er, hätte er ein Recht zu seiner Freiheit. –
Den Nachmittag über hielt sich Adam zu Hause. Es war ihm zu Sinn, als müßte er einmal
wieder recht tüchtig bei sich einkehren, auf sich zurückgehen, in sich hineingehen,
Vieles lichten und sichten, was in der Hochfluth der letzten Tage sich verdunkelt,
verschoben und verwirrt hatte. Er klopfte nach Diesem und Jenem bei sich an.
Schmerzlich ergriff es ihn und erfüllte ihn zugleich mit einem stillen Zorn, der sich
gleichsam lautlos nach innen verblutete, als er so oft keine Antwort erhielt. Da war
er wieder, der ästhetisch-metaphysische Schmerz seines Lebens. Und doch geschah ihm
eigentlich nur, was er verdiente. Alle einfachen, großen, stillen Trost- und
Beruhigungsnadeln waren ihm abhanden gekommen. Es war ihm unverständlich, wie es noch
Kräfte geben sollte, welche über die Alltagsmisère mit ihren kleinen, aber
raffinirten Stacheln hinwegtrösten konnten. Und er war ihr mit Haut und Haaren, mit
Leib und Seele verfallen, dieser dummen, tristen Alltagsmisère. Kleinlich und eng war
sein Denken und Thun geworden, von der Stunde bestimmt, für die Stunde gemünzt. Er
beschäftigte
Sein Erlebniß mit Hedwig Irmer dünkte ihn ein abgeschmackter, insipider Traum. Es zerrann ihm Alles so unter den Fingern. Das konnte ja nicht sein, das war ja pure Einbildung. Und doch war er sich zugleich klar darüber, daß die Komödie noch nicht ihr Ende erreicht hatte. Und er erwartete dieses Ende mit einem gewissen kaltblütigen Trotz, während er jetzt mit einem merkwürdigen Epikureismus in der Zwischenaktspause schwelgte. Das war auch so ein Zug seiner Natur, der sich mit der Zeit herausgebildet. Unangenehme Lebenspillen verschluckte Adam gern in Unterbrechungen. Schon die Thatsache einer solchen Unterbrechung, schon die Möglichkeit, sie zu constatiren, hatte für ihn einen gewissen Reiz.
Er kramte Dies und Das aus sich heraus. Aber das lag Alles so todt vor ihm. Da gab es
nur noch mit dickem, gelbem Rost bedeckte, unfahrbar gewordene Geleise zwischen den
einzelnen Resultaten
Seine Beziehung zu Lydia war ihm eine exakte Thatsache, die er nüchtern und kalt,
höchstens mit einem kleinen Aufwand von Selbstironie, kritisirte. Ganz gewiß! Er
würde es unter Umständen fertig kriegen, Lydia frischweg zu heirathen. Das würde
überhaupt wohl das Ende ... und das gewiß sehr vernünftige und wünschenswerthe Ende
von dem ganzen Liede sein. Dabei brauchte er ja Emmy nicht zu verlieren. Hm! Auf
längere, intimere Gedanken an Emmy ertappte sich Adam öfter. Da mußte doch eine
tiefe, nachhaltige Sympathie vorhanden
Adam blätterte in einem Bündel von Papieren und Manuscripten, die er mechanisch einem Schubfache seines Schreibtisches entnommen hatte. Er zerrte einige lose Blätter heraus und begann, ohne besondere Absicht, gleichsam nur ein Opfer seiner Augen, die zufällig keine andere Blickfläche fanden, zu lesen:
»Ich bin bewegt, in tiefster Seele bewegt. Noch am späten Abend, da ich schon
frohlockt, daß sich das Auge dieses Tages schließen will – dieses Tages, der so
inhaltslos, so todt, fahl und verkommen vor mir liegt; an dem ich fast nur ›gewesen‹
bin – am Ende dieser verlorenen Stunden erbebt
Ich war in der lärmenden Welt draußen und habe gelebt, wie die Anderen .... Ich war so gleichgültig, wie sie – oder auch so hingenommen, so beschäftigt, ging so auf, wie sie, in den kleinen Tagesinteressen ... Ich habe wohl allenthalben über das Geschaute mancherlei Eigenes und unbestochen Identisches mir zusammengedacht – aber ich irrte doch planlos und haltlos durch das Labyrinth der Zeitlichkeit, und wenig Spannung und Berührung fühlte ich mit den Wesenskräften, mit dem Grundgranite des Daseins ... Ich hatte mich nicht gehen lassen wollen – ich war nur noch unfest, schwankend gewesen, und die Stoßkraft der Versuchung hatte leichten Kauf mit mir gehabt. Ich war hineingewirbelt worden ins Treiben. Ich war nicht mehr sehend und selbständig geblieben. Der psychologische Vorgang ist ja durchsichtig genug. Aus physischen Bedingungen war ich nachlässig oder unfähig – und so erfolgte auf die vereinheitlichende Anspannung die Reaktion mit ihrer zerfasernden Zerstreuung. Das ist's eben, was mich oft so namenlos traurig stimmt: gegen eingewurzelte Gewohnheiten und Eigenheiten sind wir im Ganzen machtlos – wir stehen so gut wie waffenlos dem Hochdrucke ihres Einflusses gegenüber. Und der Wechsel von Hoch und Nieder, von Auf und Ab, ist so naturbedingt! Auch hier triumphirt das Fragment. –
In dem psycho-physiologischen Gesetze von Wirkung und Gegenwirkung und in dem fortdauernden Einflüsse unausrottbarer Wesenswurzeln, von denen Jeder ein Rudel besitzt, liegen die Grenzen und Hemmnisse, vor denen alles Größere und Bedeutendere des Lebens zerbröckelt. Zu den unausrottbaren Wesenswurzeln aber zähle ich den Zug zum Leichtsinn, von dem sich auch in das schwerste Gemüth eine Unze hineingemischt hat. –
Es ist nicht allzuschwer, alle Aeußerungen des Lebens auf bestimmte einfache Formeln zurückzuführen. Aber es gehört ein leichter, glücklicher Sinn dazu, sich von der Fülle der Erscheinungen nicht immer wieder verblüffen, nicht immer wieder entmuthigen und entwaffnen zu lassen.
Ich besiege ein Objekt, indem ich es fein säuberlich durchschaue, erkenne. Erkennen
ist nur Anerkennen – und umgekehrt. Es besiegt mich, dieses Objekt, indem es auch auf
mich weiter wirkt, nachdem ich es mir geistig unterworfen habe. So bin ich Herr
Organismus ... System..: Alles gesetzmäßig Entwickelte, Zusammengeschlossene, Abgerundete hat größere Lebenskräfte in sich, als das Verzettelte, Aphoristische. Aber systematische Ordnung und innere Harmonie, Schönheit organischen Zwanges und natürlicher Einheit sind nicht immer dasselbe. Lücken werden stets aus dem Wesen aller Dinge heraus nothwendige, gleichsam wiederum negative Verknüpfungsglieder sein. Und ist nicht das erste Wesensmoment der Harmonie auch gegeben in dem Zusammenströmen aller Tendenzen nach einem Mittelpunkte? –
Und wieder einmal bin ich tief bewegt. Heiße, jähe Schmerzen schießen durch meine
Seele, und die Stacheln einer zähen Reue drücken sich tief, tief ein. Soll ich das
Leben anklagen? Soll ich mich schwankendes Rohr anklagen? Am Kleinen, Kleinlichen und
Gemeinen hafteten meine Augen, und ich ließ in stiller Ergebenheit unaufhörlich Tage
um Tage jenen dünnen, seinen, grauen Staub auf mich niederrieseln, den das blöde,
monotone, im Banne des Augenblicks befangene Alltagsleben aufscheucht, in gewaltigen
Wogen durch die Lüfte bläst und schiebt und über Alles sich ausstreuen läßt ...
Wenige
»– –langsam kroch mein Blut« sprach Adam leise nach und legte die Blätter apathisch
aus der Hand. »Das scheint doch öfter vorzukommen«, fuhr er fort – »auch heute
kriecht sotanes Blut wieder verflucht langsam. Es liegt so viel Staub und
›Ich träufle gern des Wein's goldgelbe Tropfen
In rothe Rosen, die auf Gräbern blüh'n –‹
Holla! Ja! den Wein wird später Frau Lydia nachliefern – – wo stecken nur die ominösen confessions d'un pauvre enfant ... enfant ... enfant ... d'un pauvre enfant de la ›future‹ –?«
Endlich hatte Adam sie gefunden, diese »confessions« – und er las –:
Selbsttod des Dichters.
»– Diese Stunde, da ich ausathmen will; da ich Alles von mir werfen will, was mich an
eine unzulängliche Welt bindet, an eine Welt voller Gemeinheit und engster Bedingung
– diese große Stunde schwillt an und wächst und dehnt sich zu einer Ewigkeit. Noch
einmal steigt Alles vor mir auf, was ich gethan und was ich nicht gethan. Was ich
nicht gethan! das ist's! das ist's! Warum habe ich so Vieles, so unzählbar Vieles
nicht gethan? Warum hatte ich es thun wollen? Es drängt mich, einen Punkt zu finden,
von dem aus ich hellstes, unverfälschtes Licht empfange – der die verworrenen
Zickzackwege, die ich im Suchen und Schaffen gegangen bin, überstammt und harmonisch
in sich gliedert. Oh! könnte ich doch Alles in ein Wort zusammenfassen! Aber dieses
eine Wort erinnerte mich, selbst wenn ich es gefunden hätte, nur an eine unendliche
Anzahl anderer Worte – und so würde es mir als bedingtes Glied in der Kette keinen
einzigen, letzten, großen, absoluten Trost
Ich aber bin stark und frei, weil ich erkannt habe, daß ein Jeglicher sein eigener Richter sein soll – und daß ein Jeglicher die große Pflicht hat, sich das Todesurtheil zu sprechen, wenn er die Erkennt niß empfangen hat! Ich habe überwunden. Nicht schmerzlos. Aber ich ward wunschlos. –«
*
* *
Adam lehnte sich zurück. Er fühlte sich doch merkwürdig ergriffen. Er athmete tief
auf. Mit herber, schneidender Wucht warf sich der Gegensatz zwischen dem Einst und
dem Jetzt auf ihn. Und nun schoß es durch seine Brust wie ein brennender Strom von
Wuth und Scham vor sich. Ja! das waren Lebensquintessenzen, an sich erfahrene,
unwiderlegliche, in tiefstem Grunde alle Werdenskräfte berücksichtigende Wahrheiten.
Und es war ihm einmal so ernst
Adam erhob sich. Das Bewußtsein, daß er nun leben mußte, erfüllte ihn mit schneidender Bitterkeit. Oder –? Aber nein! Jetzt war der Selbstmord, der »Selbsttod«, kein Resultat mehr, kein entscheidender Gewinn – nur noch ein Zufall, vielleicht gelegentlich die Folge einer zufälligen Nervenüberreizung. Das war recht hausbacken und hatte so gar nichts Imposantes.
Adam trat ans Fenster, öffnete weit die Flügel und lehnte sich über die Brüstung.
Weich und geschmeidig, einschmeichelnd strich die Frühlingsluft. Leise begann es zu
dämmern. Da unten auf der Straße warf das Leben ... dieses Leben, das es
Und Adam beschloß, sich von diesem Leben da unten auf der Straße, zu welchem er »verurtheilt« war ... ja nun einmal unwiderruflich »verurtheilt« war, auf andere, gescheitere Gedanken bringen zu lassen.
»Lost paradise« knurrte er vor sich hin, als er die Treppen hinunterschritt. Er wollte auch Abendbrot essen. Und nachher natürlich – nicht zu Hedwig gehen. –
Am anderen Morgen erhielt Adam einen Brief von Hedwig. Irmers Mädchen hatte ihn schon sehr früh in seiner Wohnung abgegeben. Hedwig schrieb:
»Lieber Adam! Warum bist Du heute Abend nicht gekommen, wie Du versprochen hattest?
Ich habe Dich so sehnsüchtig erwartet. Bis gegen Zehn. Nun ist es fast Elf. Ich bin
ganz allein, Papa ist schon zu Bett – ich kann nicht anders: ich muß Dir noch
schreiben. Es ist mir so schwer, so schwer ums Herz. Bitte komme morgen früh
bestimmt. Ach Adam! Ich habe ja nur Dich noch – und wenn Du mich verläßt, wäre es
mein Tod. Aber nein! – nicht wahr? – Du bleibst Deiner Hedwig gut? Papa ist sehr
unglücklich. Das hätten wir doch nicht thun sollen. Er hat mich freundlich
aufgenommen, er weinte, als ich kam, und hat mir gar keine Vorwürfe gemacht. Er hat
aber den ganzen Nachmittag fast kein Wort weiter gesprochen. Nur einen Brief hat er
mir gezeigt, der heute früh angekommen war. Es ist zu schrecklich. Mir will das Herz
brechen, wenn ich daran denke, was für Schreckliches
Nachschrift. Papa ist auch sehr unglücklich, ganz gebrochen, er spricht fast gar nicht und brütet nur immer vor sich hin. Wenn er sich nur kein Leid anthut. Das ertrüge ich nicht. Bitte komm morgen bestimmt, lieber Adam.«
Adam faltete den Brief, der ihn kaum aufgeregt hatte, zusammen, steckte ihn ruhig wieder in sein Couvert zurück und warf ihn in einen halboffenstehenden Kasten seines Schreibschrankes Dann ging er nachdenklich in seinem Zimmer auf und ab.
Wo lag da nur die Pointe? Das war so grenzenlos alltäglich, eine langweilige,
hebeammenhafte Spukgeschichte ohne weiteren Spiritus. Um Gotteswillen! Einzelheiten –
um keinen Preis der Welt! damit sollte sie ihn nur verschonen! Nachher hatte sie sich
dann ihm hingegeben – und er war auf sie auch regelrecht »reingefallen« – d.h. hatte
sich regelrecht mit ihr »verlobt« – hatte ihr regelrecht die sogenannte »Ehe«
versprochen – und – und – – – aber war denn diese kleine, unscheinbare Hedwig
wirklich etwas Anderes, als die fürtreffliche Emmy, die aus der Sache aller dings so
etwas wie ein »Geschäft« machte, aber doch immerhin Liebe und Lust zu ihrem
Also er – Adam – besorgte die Loskaufungssilberlinge. So viel stand fest. Es war nur die Frage: wie? Ja! Wie –?
Aber eigentlich war es ja doch am Bequemsten, sich an Frau Lange zu wenden. Am
Bequemsten? Das allerdings gerade nicht. Allein was blieb ihm denn weiter übrig, als
dieses Experiment zu machen, wenn er von der Leimruthe, auf der er vorläufig wirklich
verflucht festsaß, überhaupt herunterwollte –? Doch
Einen Augenblick dachte Adam noch an Herrn Quöck. Aber nein! Dieser Mensch, der also
mit der Couponscheere auf die Welt gekommen war, besaß kein Verständniß für das
Unglück Anderer. Wohl möglich, daß Herr Quöck ihm, Adam, aus persönlicher Gewogenheit
die Summe lieh – aber der brave Mann blieb trotzdem der Herr Vetter von der Frau
Lydia – und wer weiß! – – es ist jedenfalls immer besser, immer praktischer und in
der Regel auch bequemer, mit dem Egoismus und den ordinärsten Lebensinstinkten seiner
»Nächsten« lieber etwas zu viel, als zu wenig zu rechnen. Ohne Andeutungen Frau Lange
gegenüber würde es bei Herrn Quöck doch nicht abgehen. Andeutungen jedoch – na! was
da unter Umständen für ein edler Brei herauskommen kann, wenn man sotane
»Andeutungen« sich selber überläßt –: Adam hatte das etzliche Male auf sehr kitzliche
Art erfahren müssen in seinem Leben und an seiner höchsteigenen Person dazu. Also
Vorsicht! Eines Tages, darauf mußte er sich gefaßt machen, fand er sonst seinen Weg
zu Lydia in einen rechtschaffenen Nesselacker verwandelt – und für die Posaunenengel
seiner Hoffnungen und Erwartungen
Nun – dann also auf zum Tournier mit Lydia! Noch einmal schrak Adam auf das Heftigste
zurück. Er glaubte sein zähes Festhalten an dem Gedanken, daß gerade er das Geld für
Irmers zu beschaffen hätte, schon als idée fixe ansehen zu müssen. Eigentlich ging
ihn das Alles ja gar Nichts an. Was mischte er sich da in fremder Leute
Angelegenheiten –? Warum war er nur so erpicht darauf, sich die Finger zu verbrennen
–? Und doch! Es rumorte wirklich schon zu toll in ihm herum – es wucherte in ihm und
wuchtete sich auf ihn, es fraß sich immer fester bei ihm ein –: er mußte vor Lydia –
und eben gerade vor Lydia – ein so delikates Motiv wie das vorliegende es war, –
Geldgeschichten sind ja immer »delikat«! – endlich einmal aufs Tapet bringen –: das
ging ohnedem gar nicht mehr ab, das war nun schon zur innersten Nothwendigkeit
geworden. Im erotischen und im pekuniären Problem –: in beiden hanget ja das ganze
Gesetz, und die p.p. ehrenwerthen Herren Propheten »hangen« dazu in diesem erhabenen
Dualismus ... Und schließlich: kam bei seinem Dukatenspeech mit Donna Lydia etwas
Kurz nach drei Uhr, also nicht zu der üblichen Besuchsstunde, ließ sich Adam bei Frau Lange melden. –
Es war ihm während des Essens und besonders während einer kurzen Promenade durch den
Stadtpark, den er von seinen Spaziergängen mit Emmy her sehr lieb gewonnen hatte,
unerträglich klar geworden, daß das Verlobungsproject mit Lydia eine wahnsinnig
groteske Ungeheuerlichkeit bedeutete – eine Ungeheuerlichkeit, die sich vielleicht
heraufbeschwören, vielleicht sogar unmittelbar in Scene setzen ließ, die aber
herauszufordern er heute nicht die mindeste Stimmung und nicht den mindesten Muth
besaß. Dagegen fühlte er den Muth in sich, wenigstens momentan, dagegen reizte es ihn
wirklich immer mehr, Frau Lange direkt zu bitten, ihm die lumpigen tausend Mark zu
leihen. Das war doch in der That – Adam sagte es sich immer wieder – so etwas wie
eine social-psychologische Studie, so etwas wie ein social-ethisches Experiment. Er
trat eben als »Anwalt der Armuth« auf und klopfte an die Pforten des Reichthums mit
der Bitte um
Adam wurde in das Cabinet Frau Lange's geführt. Er möchte einen Augenblick verzeihen, die gnädige Frau käme sogleich, bedeutete ihm das Mädchen und verschwand wieder.
Adam sah sich um. Da stand er also wieder einmal auf der Wahlstatt, auf der er
neulich so bedeutungsvolle Stunden durchlebt hatte. Aber heute – wie war heute Alles
so glanzlos und nüchtern! Dabei überall ein Ton der Unordnung, ein Accent der
Verkramtheit. Jene einschmeichelnde, anheimelnde Demi-jour-Stimmung, die ihn neulich
so unwiderstehlich bestrickt hatte, und die er noch so klar in der Erinnerung
bewahrte, war nicht mehr mit dem dünnsten Haarstrichlein angedeutet. Und doch stiegen
ihm wie leichte Schaumbläschen allerlei Erinnerungen auf. Er dachte daran, daß damals
in dem Fauteuil dort Lydia gesessen ... daß er, ganz im Joche seiner emporgeschäumten
Stimmung, vor ihr gekniet, ihr schluchzend seine Liebe zugestammelt – daß er – – aber
das war ja Alles glücklich vorüber, die Augenblicksextase dünkte ihn
Endlich trat Lydia ein. Sie sah ein ganz klein Wenig derangirt aus, ihr Gesicht war ungleich geröthet, wie das eines Menschen, der sich öfter und andauernd gebückt hat. Ihre freundlichen Züge schienen Adam etwas gemacht und gezwungen.
»Verzeihen Sie, Herr Doctor, daß ich Sie so lange warten ließ – aber ich bin eben dabei zu packen – morgen früh will ich endlich auffliegen – meine Abreise hat sich schon um einige Tage verzögert – aber bitte, nehmen Sie wieder Platz – ich freue mich doch, Sie noch einmal bei mir zu sehen ... Wie geht es Ihnen –?«
»Ich bitte um Verzeihung, gnädige Frau, daß ich zu so ungelegener Stunde – aber ich wußte auch nicht, daß – – ich will mich auch nicht lange aufhalten – nur – –«
»Bitte, bitte, Herr Doctor! . Sie wissen ja, Sie sind mir immer willkommen ... Uebrigens, wenn Sie das tröstet: ich – ich erwartete eigentlich Ihren Besuch – ich nahm ihn als selbstverständlich an, nachdem Sie mir das letzte Mal, wo wir uns sahen – –«
»Ja! Ich versprach Ihnen zu kommen, gnädige Frau – Sie sehen: ich habe mein Wort gehalten, wenn auch – –«
Adam schwieg eine kleine Weile und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Er war da in ein zweideutiges Fahrwasser gerathen. So ging das Spiel nicht weiter. Er trieb einem Ziele zu, das ihn jetzt nicht im Geringsten reizte. Oder doch? Dünkte ihn diese Frau noch immer begehrenswerth? Sie schien auf etwas anzuspielen, das zwischen ihnen einmal mehr oder weniger deutlich zur Sprache gekommen war. Vielleicht legte sie der ganzen Geschichte doch mehr Werth und Bedeutung bei. Vielleicht war sie doch tiefer engagirt. Nun! das konnte ihm ja nur schmeichelhaft sein. Und augenblicklich war es ihm gewiß auch nur günstig, wenn diese Dame, die ihm einen Dienst leisten sollte, stärkere Sympathien für ihn hegte.
Adam wurde ganz ruhig und sicher. Mit klarer Stimme begann er: »Ich bin gekommen, gnädige Frau, Sie um eine Gefälligkeit zu bitten –«
»Und die wäre –?« fragte Lydia, neugierig und erstaunt zugleich. So redet doch kein Mann, der um eine Frau ... um eine Frau, die er ... die er – liebt – – –
Nun wollten die Worte dem Herrn Doctor doch nicht so glatt über die Lippen schlüpfen.
Er zauderte, er hustete verlegen, er athmete kurz, gepreßt, eine Reihe von Wendungen
und Fassungen schwirrte ihm durch den Kopf, er prüfte sie mechanisch, indem er sie
sich leise objectivirte, er konnte sich nicht entscheiden, er war nicht im Stande,
die prägnanteste
»Schießen Sie doch nur los, Herr Doctor – wir werden ja sehen – wenn ich irgend im Stande bin – –«
Adam erinnerte sich plötzlich, daß er im Namen der Armuth um die Hülfe des Reichthums werben sollte, daß er dazu eine heilige Berechtigung besäße – er wußte, daß nur das tiefeingewurzelte Bewußtsein von dem Egoismus, der Engherzigkeit und Kleinlichkeit der Menschen, mit denen er allenthalben, sein ganzes Leben hindurch, hatte rechnen müssen, ihn auch hier muthlos und verlegen gemacht – aber es kam ja schließlich nur auf den Versuch an, es handelte sich ja schließlich nur um ein »social-ethisches Experiment«, um eine »psychologische Studie«, um Nichts, um gar Nichts weiter – und er gewann bei nahe den kühlen Ernst, die souveräne Sicherheit des Forschers wieder.
»Sie ermuthigen mich, gnädige Frau – also denn ohne Umschweife herausgesagt –: ich brauche tausend Mark – können Sie – können Sie mir die Kleinigkeit leihen –?«
Auf diese sehr materielle Wendung des Gesprächs war Lydia allerdings nicht gefaßt
gewesen. Feinere Naturen fühlen sich durch eine brutale, noch dazu unvorbereitete
Berührung von Geldfragen immer
Und nun rückte Adam plötzlich unvermuthet mit einem Motive heraus, das an greller Betonung des Materiellen nichts zu wünschen übrig ließ.
Lydia war sehr betroffen. Was sollte sie erwidern? Mechanisch schloß sie, daß Adam sich jedenfalls in einer sehr prekären Situation befand. Er hatte gewiß Schulden contrahirt, die bezahlt sein wollten, er hatte Verpflichtungen übernommen, die er einlösen mußte. Und er wandte sich an sie, weil er anderweitig – – ja! – mein Gott! – standen ihm denn keine anderen Wege offen, besaß er keine anderen Mittel – oder waren alle Quellen schon erschöpft –? War sie seine letzte Hoffnung –?
Mitleid, starkes, verstehendes Mitleid quoll in ihr auf. Und doch hatte sie zugleich
das Gefühl, als wäre sie von etwas unangenehm Klebrigem,
»Sie setzen mich in Erstaunen, Herr Doctor –« sagte sie endlich, unsicher und stockend – »ich hatte nicht erwartet, daß – –«
»Das war allerdings vorauszusetzen, gnädige Frau – verzeihen Sie, bitte noch einmal, meine Kühnheit, doch die Noth – –«
»Geht es Ihnen so schlecht –?« unterbrach Lydia, jetzt von ehrlichster, schnell ausbrechender, aufs Helfen gestimmter Theilnahme ergriffen.
»Mir –? Mir –? Ah so! . Hm! Verstehe schon« bemerkte Adam mit feinem, ironischem Lächeln – »Sie haben mich nicht ausreden lassen, gnädige Frau – Ihr gutes Herz ging mit Ihnen durch – also ich wollte ... wollte nicht von meiner Noth, sondern von der Nothwendigkeit sprechen, die mich zwingt – –«
»Ist das nicht dasselbe?« fragte Lydia, ein Wenig pikirt ...
»Pardon! Ich glaube kaum ... die Sache ist nämlich außerdem noch die, daß ich das Geld nicht für mich brauche, sondern – –«
»Ah! ... Aber für wen dann, wenn ich fragen darf –?«
»Lassen Sie das, bitte, mein Geheimniß bleiben, gnädige Frau –«
Lydia hatte sich von dem Stuhle, auf dem sie seit dem Beginn des Gesprächs gesessen, erhoben und war an ihren Schreibtisch getreten. Sie stand da, den Kopf ein Wenig geneigt, die volle, elegante Büste prachtvoll zum Ausdruck gebracht. Sie hatte ein kleines, gläsernes Lineal ergriffen, mit welchem sie auf einem Briefbeschwerer herumtrommelte.
»So –!« sagte Adam kalt und herb und erhob sich ebenfalls. »Gnädige Frau scheinen allerdings sehr merkwürdige moralische Prinzipien zu haben –«
»Wieso –?« Lydia schnellte herum und hielt Adam mit großen, funkelnden Augen fest.
»Wieso –? Na! mein Gott, das ist doch einleuchtend! Wenn Sie so subjektiv, so willkürlich sind in der Ausübung Ihrer Menschenpflicht, so möchte ich beinahe glauben – verzeihen Sie gütigst meine Keckheit! – daß Sie überhaupt gar nicht wissen, was eigentlich – –«
»Herr Doctor –!«
»Gnädige Frau –?«
»Sie scheinen gewisse ... unartige Gewohnheiten
In Adam schoß es in die Höhe. Es kreißte und gährte und quoll in ihm, er wußte, daß sie heranzog, daß sie kam, vor der er sich nicht retten, der er nicht entrinnen konnte, wenn sie die Arme nach ihm ausstreckte, sie zerrte immer heftiger an ihm, die heiße, erstickende Wuth, sie zog das Blut aus seinem Gesicht, er wurde bleich, seine Glieder flogen, er zitterte am ganzen Leibe, er mußte sich an den Tisch klammern, um sich aufrecht zu erhalten, er klammerte sich immer fester, er wußte: – wenn er losließ – wenn er losließ, würde ihn der Katarakt seiner Wuth auf dieses Weib peitschen, würde er sich auf dieses Weib, das ihn beleidigt, das ihn mit seiner vagen, erbärmlichen Andeutung, seinem kleinlichen Vorwurf zu Tode gekränkt hatte – er würde sich auf diese Creatur – was war sie denn ihm gegenüber? was denn? – stürzen müssen, um sie zu – ja! zu erwürgen – und davor – o Gott! davor bebte er instinktiv doch zurück – nein! nein! nicht nachgeben! nicht nachgeben – nicht das letzte Restchen halbklarer Besinnung fahren lassen – –
Lydia hatte die Veränderung, die mit Adam vorgegangen war, unter heftigem Erschrecken
wahrgenommen. Sie war zusammengezuckt, war vom Schreibtisch näher ans Fenster
getreten, sie fürchtete sich, sie überlegte, ob sie nicht schellen, ob sie nicht
Hülfe herbeirufen sollte – hatte sie denn noch einen Zurechnungsfähigen vor sich –?
Einen Menschen, der
»– Sind Sie unwohl geworden, Herr Doctor –?« sickerte es jetzt mühsam über ihre Lippen –
Adam faßte sich. Er ließ sich langsam vom Tisch los, dämpfte seinen keuchenden Athem, trat näher an Lydia heran, die unwillkürlich immer weiter nach dem Fenster zu zurückwich, legte die wie festgeschraubte Schienen aneinandergekrampften Arme über die Brust – –
»– Unwohl wäre ich, glaubst Du, Weib?« stieß er heiser heraus – »ei! Und wie unwohl!
Aber ich sage Dir: – das ist eine ganz verdammte Lüge, die nur ein Schurke
zusammenkneten kann! Mir ist so wohl, so dämonisch sauwohl, sage ich Dir, Weib, wie
mir in meinem ganzen Leben noch nicht gewesen ist! Aber Du – Du – Du sollst zittern!
Warte nur! Ha! Es ist zum Andiedeckespringen! Zum Todtlachen! Zum – zum – – Du wagst
es, mich zu beleidigen – Du spielst Deine kleine, egoistische Seele gegen mich aus –
Du wagst es, mir mit Deinen abgestandenen Phrasen von ›Anstand‹ und ›Gutem Ton‹ zu
kommen, wo ich Dich um Erfüllung Deiner allerordinärsten Menschenpflicht angehe – wo
ich als Anwalt der Armuth vor Dir stehe, der Du mit Deinem verfluchten Mammon helfen
sollst – ha! da kehrst Du die feine Dame 'raus – und verbittest Dir ein Benehmen –
ein
Immer näher war Adam an Lydia herangerückt, bis sich die beiden dicht gegenüberstanden. Nun kehrte er sich mit einem harten Rucke ab und ging nach der Tiefe des Zimmers zu, der Thüre entgegen.
Lydia fuhr auf, fuhr auf wie aus einem schweren, schwülen Traum gestoßen. Sie strich sich mit der linken Hand über Augen und Stirn – ja! hatte sie denn wirklich geträumt? War das ein Spuk gewesen, oder doch nackte, klare Wirklichkeit? War denn das ihr Zimmer? Doch wohl. Aber – nein! das konnte ja nicht sein. Das Alles war nur eine wüste Phantasie – dieser Mensch sollte es gewagt haben – –?
Widerstandslos hatte sie die Fluth der Drohungen und Anklagen, die aus dem Munde des
zürnenden Mannes da vor ihr herausschoß, über sich hingehen lassen. Wie gelähmt,
gebändigt war sie gewesen, fest in sich verhakt und zusammengezwungen. Er hatte sie
überwältigt. Jetzt fühlte sie eine schneidende Zwiespältigkeit in sich, es zerrte
krampfhaft an ihr herum. Aber wer war denn dieser Mensch? Derselbe, der sich vor ihr
immer nur als interessanter, blasirter Schwächling aufgespielt? Und nun diese jäh
ausgebrochene Leidenschaft! Oder war das um Verzweiflung – blutende Verzweiflung an
sich, an der Welt gewesen? Sie wußte nicht ein noch aus
Adam hatte die Thür ausgerissen –
»Herr Doctor –!« schrie ihm Lydia nach, einige Schritte vortretend –
Der Angerufene blieb doch unwillkürlich stehen und drehte sich langsam in halber Wendung um.
»Gestatten Sie, bitte, noch einen Augenblick – nur ein Wort noch –« begann Lydia tief aufathmend. Sie reckte sich in die Höhe, die ganze Figur straffte sich, wohl war sie ein Wenig bleich, sie wollte jetzt erst recht bewußte Weltdame sein.
»Was soll's?« polterte Adam erbost. »Ich dächte, ich wäre fertig mit Ihnen –«
»Aber ich noch nicht mit Ihnen, Herr Doctor! Ich habe Ihre – nun! Ihre – Declamation hingenommen, ohne ein Wort der Erwiderung –«
»Declamation –? ohne Erwiderung? – ich sage Ihnen, gnädige Frau: das war auch das Gescheiteste, was Sie thun konnten –« unterbrach Adam mit grobem, ungeschlachtem Sarkasmus –
»Nun – darüber ließe sich am Ende noch streiten–«
»Wäre verdammt überflüssig! Aber ich mag nicht mehr –«
»Warum haben Sie's nicht gethan –? Dann hätte ich mir meine Lungenstrapaze eben erspart –«
»Es ist gut, daß Sie die Geschichte jetzt auch etwas weniger pathetisch – schon etwas nüchterner auffassen – Lungengymnastik – –«
»Gnädige Frau –!«
»Na ja! Thatsache ist jedenfalls, daß ich mit riesiger Geduld – –«
»Wenn Sie mir nichts Wichtigeres zu sagen haben – um das Zeug anzuhören – –«
»Herr Doctor –! Nun dann gleich meine Frage! Sie wollen mich doch nicht glauben machen, daß – – Sie werden doch selbst so viel Psychologe sein, um sich sagen zu können: ich müßte ja ein Geschöpf von einer Beschränktheit ohne Gleichen sein, wenn –«
»Aber nun kommen Sie doch endlich mit der Pointe – ich weiß absolut nicht, worauf das Alles hinauslaufen soll – ich habe keine Zeit, um – –«
»Sie sind« – Lydia war sehr ruhig und kühl geworden – »hier als Armenanwalt vor mir aufgetreten – bitte, sagen Sie mir: welche direkten Gründe haben Sie dazu veranlaßt – –?«
»Welche direkten Gründe? Nun, ich denke, ich hätte Ihnen das sattsam vorgerechnet –:
meine
»Hm! . Und Sie täuschen sich wirklich nicht selbst, Herr Doctor –? Was hat Sie auf einmal so in den Harnisch gebracht, wo Sie doch, so viel ich mich wenigstens erinnern kann, früher – –«
»Jawohl! Früher! – Kommen Sie nur so! Das sieht Ihnen ähnlich! 'N Weib! Nun ja! Aber ich bin eben Gott sei Dank! ein And'rer geworden – ich – ich bin – –« Adam war doch etwas unsicher, kleinlaut, betreten geworden. Lydia merkte diese zarte Nuance sehr fein heraus. Sie wurde kühner. Und jetzt zuckte eine Vermuthung in ihr auf, kurz, jäh, schießend und so unmittelbar, daß sie fast unverknüpft, selbständig erschien, aber darum nur um so nachdrücklicher zwang, um so mehr und um so schneller überzeugte.
»Ich werde Ihnen sagen, Herr Doctor, wem Sie mit dem Gelde helfen wollen – und damit sind dann auch die bewußten direkten Gründe bloßgelegt – –«
»Nun –?« fragte Adam, halb ehrlich-neugierig, halb verlegen, jedenfalls sehr peinlich berührt, so etwas wie geheimes Schuldbewußtsein in der Brust.
»Sie wollen das Geld für – für – Irmers haben –?«
»Nun –? Und wenn das der Fall wäre – –« antwortete Adam überlaut, mit affektirtem Trotz –
»Sie – Sie lieben Hedwig Irmer –?« Lydia hatte doch sehr leise gesprochen.
»Bitte! Beantworten Sie meine Frage –«
»Liegt Ihnen wirklich so viel daran, gnädige Frau –? Nun denn: Wenn das auch der Fall wäre – wenn ich Hedwig Irmer – liebte – was wäre dann? Was hat das damit zu thun, daß – –«
»Was dann wäre, Herr Doctor –? Hm –! Dann wären Sie nicht nur mit mir fertig, wie Sie sich vorhin auszudrücken beliebten – dann wäre ich allerdings auch mit Ihnen fertig – –«
Lydia stand hinter der Lehne eines Fauteuils, an welcher sie sich jetzt mit ihren kleinen, vollen Händen fest anhielt. Die ganze Gestalt war in sich zusammengesunken, wie von einem tiefen, seelischen Schmerze überwältigt.
»Sie auch mit mir –« sprach Adam leise nach und fuhr sich mit der linken Hand über die Stirn.
Und eine jähe, gewaltige Wandlung erfaßte ihn. Wie ein Riß klaffte es durch die
Dünste und Nebel, in die er sich hineinphantasirt hatte. Dieses Weib da liebte ihn –
und er – er liebte in diesem Augenblicke auch das Weib, er liebte es heiß,
leidenschaftlich, bis zum Wahnsinn, bis zur Verzweiflung. Das Andere, was er da
vorhin zu ihr gesprochen hatte – das war ja Alles nur Einbildung, Humbug,
Adam schritt langsam auf Lydia zu ... und als er dicht hinter ihr stand, sprach er mit leiser, gepreßter, heiser vibrierender Stimme: »Verzeih' mir, Lydia – ich – ich war von Sinnen vorhin – ich wußte nicht – – ach! Du weißt nicht, wie unglücklich ich bin – –«
Und Lydia sah zu ihm auf, feucht schimmerte es in ihren Augen – »Ja! Du mußt sehr
unglücklich sein, Adam –« sagte sie ebenso leise ... Dann wischte sie sich mit ihrem
zarten, weißen Battisttaschentuch die Thränen aus den Augen, legte ihre
»Lydia –!«
Sie küßte ihn auf den Mund, sehr scheu, verschämt und hastig. »Aber jetzt geh' –« sprach sie nun – »ich reise morgen früh gegen Elf ab – komm nach dem Bahnhof, wenn Du kannst – ja? Wir sehen uns bald wieder –«
Adam wandte sich langsam ab. Seine Glieder waren ihm sehr schwer, er wollte gehen.
»Ach ja! Das Geld!« rief ihn Lydia noch einmal zurück. Er hatte die delikate Angelegenheit allerdings ganz vergessen müssen. »Es steht Dir natürlich zur Verfügung – sofort, wenn Du willst. Geh bitte zu meinem Banquier, Behrendt & Comp., Adalbertstr. 12 – warte! ich schreibe ihm gleich 'n paar Worte –«
Wie gebrochen schwankte Adam eine kleine Frist später zum Zimmer hinaus. – Hatte er das bessere Theil erwählet? – – –
Endlich bog er in die Straße ein, wo das Comptoir von Behrendt & Comp. lag.
Langsam war er aus seinem Taumel, seiner einschnürenden Hingenommenheit und
Befangenheit wieder zu sich
Adam rannte sporenstreichs nach dem nächsten Postamte, schrieb vier Anweisungen und
zahlte die tausend Mark an die Adresse Hedwig Irmers ein. Er konnte das Geld gar
nicht schnell genug loswerden. Nun
Adam stand wieder auf der Straße. Er wußte nicht, was er mit sich anfangen sollte. Nach Hause gehen mochte er nicht. Ein heftiger Ekel vor seiner Wohnung ergriff ihn. In dieser hin- und hervibrirenden, zerklüfteten Stimmung konnte er ja doch nicht arbeiten. Er war nicht fähig, sich zu sammeln. Er wußte, wenn er zu Hause säße, in der Einsamkeit seines Zimmers, würde seine Unrast noch wachsen und wachsen. Die Enge, die Stille würden ihn erdrücken. Immer nur würde an ihm zerren, würde in ihm wühlen, was er tagüber erlebt ... zerren, wühlen in schneidender Eintönigkeit, mit symmetrischem, unerträglichem, schauderhaft correctem Despotismus. Aber wie sollte er seine Unrast auslösen? Eine leise Sehnsucht nach etwas Neuem, Unerlebtem, Abenteuerlichem durchzitterte seine Brust. Er hätte sich so gern vergessen machen lassen, er suchte Betäubung, und war's auch gemeine, geschmacklose Betäubung.
Es war zwischen sieben und acht Uhr. In den Straßen lag dunstige Wärme, beklemmende
Stickluft, heiße, brasige Stimmung. Der Himmel war unrein, unreinlich, abstoßend
zerquirlt und verzettelt, hier ein Ballen schmutziggrauer Wolken mit matter oder
dunkler gefärbten Rändern, die von tödtlicher Langweile zu
Adam ließ sich von der Masse mit forttreiben. Es war ihm gleichgültig wohin. Es war ihm schon recht so. Er hatte kein Ziel: das Schwimmen mit dem Strome kam ihm heute außerordentlich gelegen. Es dünkte ihn auch so passend zu der gesammten Verfassung seiner Verhältnisse, der schnurrigen Beschaffenheit seiner Lebenssituation, so, wie sie heute von einer schönen Frau eingerenkt und bestimmt war. Es galt, sich bei Zeiten daran zu gewöhnen, daß man einen festen Punkt gewonnen hatte, von dem aus man sich dem realen, lebendigen Leben einfügen und einordnen sollte.
Jetzt verspürte Adam einen zaghaft zupfenden Hunger in sich. Und auch die Neigung zu
einem guten, schweren Glase Bier streckte verstohlen ihre kleinen, warmen, mahnenden,
bittenden Fingerchen aus. Aber wohin sollte er gehen? Die Lokale, die er gewöhnlich
besuchte, waren ihm momentan über Alles verhaßt. Er konnte es nicht über sich
gewinnen, eins oder das andere aufzusuchen. Jetzt nur keine bekannten Räume, die,
gegenständliche Erinnerungskeime, von irgend welchen
Es war ein Restaurant ziemlich untergeordneten Ranges. Im Winter gab es Tingeltangel hier, und Adam war einige Male mit Bekannten hier 'reingefallen, um sich den geschmacklosen, stumpfsinnigen Ulk anzusehen.
Im vorderen Theile des Raumes lag noch Abendhelle, spinnendes, merkwürdig keusches Zwielicht. Hinten in der Nähe des Buffets brannte schon eine trübe, gelangweilte Gasflamme. Sie schien sich ziemlich anachronistisch vorzukommen.
An den rohen, mit beleidigender Bestimmtheit aneinandergestellten Tischen saßen ein
paar Gäste. Gesprochen wurde nicht viel. Ab und zu klapperte ein Bierseidel. Die
Athmosphäre war warm, schweißdunstig,
Adam setzte sich an den ersten besten Tisch in der Mitte des Zimmers. Aus dem Hintergrunde, aus der Nachbarschaft des Buffets, kam eine Kellnerin auf ihn zu.
»Sie wünschen –?« fragte sie mürrisch, abstoßend.
»Ein Bairisch und 'was zu essen –«
»Ein belegtes Brötchen, Frankfurter Würstchen, Aal in Gelèe oder –? –«
»Bringen Sie mir 'n belegtes Brötchen –«
»Mit Wurst, Schinken, Käse –?«
»Ach Gott, das ist gleichgültig ... also meinetwegen mit Käse, Schweizerkäse – es ist ja ganz egal – – nur 'n Bissel hurtig, mein Fräulein – –«
Die Kellnerin begnügte sich, eine verächtliche Kopfbewegung zu machen und ging ab. Jetzt stellte sie das Bier vor Adam hin und zündete eine zweite Gasflamme an.
Adam schräg gegenüber, am Nebentische, saß ein junger Kerl, der darauf zu brennen schien, sich mit dem neuen Ankömmling in ein Gespräch einzulassen. Er war augenscheinlich nicht mehr ganz nüchtern. Seine Hände zitterten, wenn er nach dem Glase griff, er fuhr unruhig auf seinem Stuhle hin und her und tolpatschte unbeholfen an seinem Cigarrenstummel herum, den er schon ganz zerkaut und zerdrückt hatte.
»Ick bin Sie man nämlich heute nur in absentia
»Greifswald wollen Sie wohl sagen –« bemerkte Adam lächelnd und nahm sein Käsebrötchen in Empfang, das ihm eben die Kellnerin mit brutaler Nachlässigkeit hinschob.
»Ein klein Wenig höflicher dürftest Du auch sein, mein Kind – das könnte wahrhaftig nichts schaden – –«
Das zur Ordnung gerufene Fräulein warf ihrem Kritiker nur einen finsteren, drohenden Blick zu und setzte sich an den Nebentisch. Sie sagte kein Wort.
»Wat meenen Se? . Greifs ... Greifswald? Mir solls Recht sin ... hähähä ... ick bin ja heute, müssen Se wissen, nur in absentia hier – und wenn Eener mit Bismarcken Theolojie studirt hat, kann er ooch wohl cen kleenet Wörtchen mitreden in de Weltgeschichte, verstehen Se mich! ... Habe ich etwa nicht Recht –? ...«
»Na! und wie haben Sie Recht, mein Bester! Ich bin nämlich auch bloß in absentia hier – wir sind ja Alle nur in absentia auf der Welt – –«
»Na! Ick habe doch also Recht! . Sage ick denn det nich –? .«
»Meinetwegen! Aber jetzt lassen Sie mich gefälligst
Der brave Klempnergeselle war sehr verschüchtert. Er sah Adam groß, erschrocken an, setzte dann ein blödes Verlegenheitslächeln, das ironisch und pfiffig sein sollte, auf seine häßlichen, scharfen Züge, die gelblichgrau und runzlig waren wie rauhe Elephantenhaut, und tastete unsicher nach seinem Glase.
»Und ick bin man doch bloß in absentia hier ... det sage ick und dabei bleibe ick –« murmelte er in seinem Kauderwälsch von reinem Schriftdeutsch und Berliner Dialect vor sich hin ...
»Bringen Sie mir noch 'n Glas!« commandirte Adam nach einer Weile, während der er sein frugales Brötchen und den ersten Krug des ziemlich warmen und abgestandenen Bieres bewältigt hatte.
Jetzt setzte sich die Kellnerin mit an seinen Tisch. Sie sah ihn mit ihren kalten, dunklen Augen fest an.
»Was habe ich Ihnen nur gethan, mein Fräulein –?« fragte Adam, dem diese energische Musterung unangenehm, unbequem war.
Das Mädchen schüttelte ein ganz klein Wenig den Kopf und fixirte Adam ruhig weiter.
»Wollen Sie die Blume trinken –?«
»Ich danke –«
Jetzt spielte Adam den Beleidigten. Er sah das kleine, knurrige Weib herausfordernd
an. Dabei bemerkte er, daß die Donna kein uninteressantes Gesicht hatte. Die Züge
waren nur etwas scharf,
Neue Gäste kamen. Handwerker mit den breitspurigen Gerüchen ihrer Werkstätten, Arbeiter: gebückt, gekrümmt, nachlässig, schleppend und schwerfällig im Gang, unreinlich, abgeschunden, zerrissen, rußig, allenthalben mit Fabriksspuren und Arbeitsnarben besät, in den Gesichtern Gleichgültigkeit, Stumpfsinn, oft auch zehrenden Gram, der sich in den Physiognomie'n seinen bestimmten Ausdruck geschaffen, hier und da Spuren einstiger Intelligenz, aber stark verwischt und verkümmert. Ab und zu erschien wohl auch Einer, der nach Kleidung und Benehmen einer »besseren« Gesellschaftsklasse angehörte. Das Sprechen wurde lauter, schriller, die Stimmen vermischten und verwirrten sich. Jetzt brannten alle Gasflammen, das letzte Streifchen, das letzte Pünktchen müden, graublauen Abendlichts war aufgezehrt. Man hatte in den Eingeweiden der Häuser keine Zeit, auf das völlige Hinsterben des Tages zu warten. Der konnte sich draußen auf der Straße, wo die breiten, schwarzen Schatten lagen, auf dem Felde, im Walde mit der siegenden Finsterniß abfinden. Hier lechzte das Leben nach neuen Krystallen. Verblutende läßt man allein. Auch das Licht, das verblutet. Und so bleibt es keusch und makellos. –
Hinter dem Busset war der Wirth erschienen. Die Kellnerin lief auf und ab. Sie
behandelte die Gäste schroff, herb. Das gefiel Adam. Er ließ sie
»Leni. Bleib' noch 'n Bißchen hier – ich muß Dir nachher 'was sagen – –«
Und er blieb und blieb und trank und trank weiter – ihr zu Gefallen. Er fühlte, wie
das schaale, abgestandene Zeug Gewalt über ihn gewann, wie seine Gedanken kürzer,
eckiger, springender wurden,
Nun lief das Lokal mit all' dem zechenden, schreienden Menschengesindel, was sich da zufällig in ihm zusammengefunden hatte, um Adam im Kreise herum. Das war fatal. Er hatte die bewußte »Contenance« verloren. Nur eine Prise frischer Luft konnte hier mildern.
Der Angezechte hatte eine gewisse Furcht vor dem Aufstehen. Immer wieder sank er in
sich zusammen und blieb sitzen. Endlich, ohne daß er es noch einmal bewußt gewollt
hatte, schnellte er mit
»Was habe ich –?« fragte Adam mit schwerer, unsicherer Zunge.
»Du willst schon gehen –? Warum denn –?«
»Mir ist nicht wohl ... Das ist auch 'n Dunst – 'ne Luft – 'n Gestank – hier – nicht zum Aushalten! . Also wie viel Bier? . Und ... und ... das ... das Bröt – chen –?«
Leni rechnete mürrisch zusammen. Sie hatte wieder ihr erstes, abweisendes, verächtlich achselzuckendes Benehmen angenommen. Adam warf das Geld auf den Tisch. Das Weib war ihm jetzt verflucht gleichgültig. Nur 'raus aus dieser entsetzlichen Bude! Er hatte keine Zeit, den Beichtvater zu spielen ... oder verpflichtende Zärtlichkeiten sich abschmeicheln zu lassen.
»Adieu! Ich komm morgen wieder –«
»Ach Du! Geh' nur! Du bist ooch nicht anders –«
»Du wirst ja sehen, daß ich Wort halte – –«
»Meinetwegen brauchst Du nich zu kommen –«
»Nu denn nich, meine Theure! Adieu!«
An der Thür sah sich Adam noch einmal um. Das war ein graues, widerlich verqualmtes,
schwerfällig hin- und herschaukelndes Bild, was er da vor sich hatte. Leni war
verschwunden, wie hinweggenommen, verschluckt. Nein! doch nicht. Da hinten am Buffet
flirrte ihre rothe Taille in falbem, verhangenem
Die Luft auf der Gasse war nicht viel frischer. Oefter lief ein kleiner, kühlerer, sanft athmender Wind vorüber, der Adam wohl that. Er wurde bald ruhiger, sicherer, klarer. In den Lüften schwamm noch die letzte, die allerletzte, fast farblose Erinnerung an das weiße Licht des Tages. Bald kam der Mond herauf. Mit einer leisen, discreten Helle überhäufte er zaghaft den Himmel. Einige Tropfen fielen, bald hörte der Regen wieder auf. Adam stapfte weiter und ließ sich alle Stimmungserscheinungen der anbrechenden, schwülen Sommernacht gefallen.
Die Straßen waren leerer geworden, das Leben stiller, heimlicher, verhaltener. Adam
ward es ganz sonderbar zu Sinn. Er kam sich so grenzenlos allein, vereinsamt vor, wie
ausgesetzt, wie ausgestoßen. Er empfand Mitleid mit sich in dieser großen Einsamkeit.
Sein Weg ging durch kleine, enge Straßen und Gassen. Selten begegnete ihm ein Mensch,
ein unbekannter, aus den Schatten des Abends auftauchender Mensch, ein Einzelner,
vielleicht auch ein Vereinzelter, oder Zwei oder Drei. Vor einer Thür, unter einem
Fenster, stand wohl auch hier und da ein Pärchen und flüsterte. Adam zog vorüber.
Manchmal wunderte er sich im Stillen über das, an dem er vorüberzog, wunderte sich
über die warme, geschmeidige Sommernacht, über dies und das aus
Nun trieb er durch eine breitere, hellere, belebtere Straße. Und wieder kam das Gefühl grenzenloser Vereinsamtheit über ihn, jetzt noch stärker, bezwingender, noch mehr niederwuchtend und einschnürend. Oefter war es ihm, als müßte er einen Schrei ausstoßen, einen kurzen, harten Schrei ... einen dunklen, verlorenen Ruf durch die Nacht, einen Ruf der Sehnsucht ... einen Schrei brennender Herzensverzweiflung. Unter den Menschen, die da ihm entgegenkamen, die da an ihm vorübergingen, mußte doch so Mancher sein, der ihn verstehen würde, wenn er ihm seine Brust öffnete, der sich zu ihm gesellen, der mit ihm weitergehen würde, wenn er seine Sehnsucht und sein heimliches Weh erfahren. Oh! Wenn er riefe – gewiß! sie würden kommen, froh, daß sie Einen und Andere gefunden, die ihresgleichen wären. Aber er ging weiter, in sich versunken, der Ruf erstickte und erstarb in seinem Munde, er schrie nicht, er hatte nicht den Muth dazu.
Der Mond war durchgebrochen. Mit seiner goldgelben, massiven, durch ihre scharfe
Plastik und Umrissenheit geradezu aufdringlichen Fülle stand er in einem See
flimmernden, stahlblauen Aethers. Ihm
Aber solange Adam mit den Augen der großen Himmelsscene entgegenging, stand der Mond unangetastet, wie in selbstverständlicher Souveränetät, inmitten seines flimmernden, stahlblauen Aethersees. Und um ihn herum, von seinem gelbweißem Lichte übergossen, das imposante Spiel der Phaenomene, die wurden, waren, gewesen waren und wiederum wurden. –
Adam sah nach der Uhr. Es ging auf die elfte Stunde. Nun dachte er daran, sich heimwärts zu schlagen. Er war eigentlich recht abgespannt, er hatte gar nicht mehr Alles beisammen, worüber er sonst verfügte. Und doch faßte ihn ein unklares Gefühl an und hielt ihn zurück. Mechanisch trollte er sich weiter. Es war ihm, als ob er vor sich selber immer mehr erlösche, als ob sich alles Geistige in ihm verstofflichte und zur Epidermis hinaustriebe, hinauseiterte. Er mußte über diese Wahrnehmung lachen, der Vorgang dünkte ihn zu dumm.
Hier und da, von den Bänken her in den Waldnischen, an den Wegen, an den breiten und
schmalen Pfaden, gab es leise flüsternde Stimmen. Menschen
Nun setzte sich Adam auf eine Bank, die gerade leer war. Er dehnte behaglich die
Beine weit vor sich hin, steckte die Hände in die Hosentaschen und brütete, nur die
leisesten Wirbel in der Seele, vor sich hin, das kleine Stück Ringsum mehr von unten
herauf anblinzelnd. Vor ihm lag eine große Wiese, hoch, dicht, üppig standen die
Gräser und Kräuter, darüber plänkelte ein dünner, zartwolkiger, grauweißer Nebel,
dazu das blasse, verschämt tastende Aschenlicht des Mondes. Von jenseits der Wiese,
aus einem Garten wohl hinter der dortigen Waldwand, kam verhaltene Musik, der Wind
schob verzettelte Töne vernehmbarer dem Lauschenden heran, der Ruf eines Nachtvogels
stieg aus den Lufthöhen nieder. Nun schwieg die Musik. Ein zusammengeschmiegtes
Pärchen, das sich in brünstiger Hingegebenheit mehr trug als führte, schleifte sich,
laut athmend und erregt tuschelnd, vorbei, es verschwand im Walde.
Eine Stunde wohl saß so Adam in sich zusammengekrümmt da und schlief. Nun mochte ein
kühlerer Athemzug des Nachtwindes an ihm gezupft und ihn geweckt haben. Er schlug die
Augen langsam auf, starrte verblüfft seine Umgebung an und richtete sich aus seiner
halbliegenden Stellung immermehr in die Höhe. Allmählich kam ihm das Bewußtsein
seiner Situation. Er lächelte ein klein Wenig, war aber doch sehr mürrisch und suchte
nach einer beißenden Glosse auf sich. Er fand keine kräftige, pointirte Wendung, die
geistige Münzkraft schien, sich ihm ganz entzogen zu haben. Seine Glieder waren
schwer und steif, ein prickelndes Frösteln durchzitterte ihn, seine Augen brannten,
seine Stirn war heiß, dicht über den Augen lag ein harter Druck
Nun war er wieder in der Stadt, er hatte das Pflaster wieder unter den Füßen, die
flankirenden Häuser schienen, wie ein geheimnißvoller Schutz, eine innige Beruhigung
auszuathmen. Die lähmende Dumpfheit, die auf ihm gelegen hatte, wich zurück, das
Nervenleben erhöhte sich wieder, die Sinne wachten auf, das Leben pulste von Neuem,
wenn auch immer matt noch und stockend. Das heftige Laufen hatte ihn angestrengt,
eine schwüle, schweißige Schwere lag in seinen Gliedern. Jetzt wollte Adam endlich
nach Hause gehen. Es war Zeit dazu. Allerdings, ob er würde schlafen können,
bezweifelte
Adam ging an einem Nachtcafé vorüber. Sollte er eintreten? Er hatte oft dort
gesessen, hatte manchen Scat mit Kameraden und Kumpanen dort gedroschen, manchen
faulen Witz gerissen und eine schwere Menge Unflätereien angehört. Sollte er
eintreten? Es hatte keinen Zweck. Diese Talmireize des Lebens sind wirklich zu blöde
und zu geschmacklos. Er ging weiter. Eine hellerleuchtete Bahnhofsuhr kam in Sicht.
Es war Eins durch. Adam blieb stehen. Eine gewaltige Sehnsucht packte ihn, eine
fanatische Sehnsucht in die Ferne hinein. Wenn er sich jetzt in den ersten besten Zug
warf und hinausfuhr, war er all' den dummen, rüden Krempel los, hatte er alle diese
abgeschmackten Lügen hinter sich, verschwamm Alles, schlug Alles zusammen hinter ihm.
Da war die Thür. Eine Pforte zu auch einer Zukunft. Er schüttelte wehmütig den Kopf.
Ach! Er stak zu tief, zu tief im Schlamme dieses
So lief er weiter, seiner Wohnung zu, je näher er ihr kam, um so mehr eilte er, die Schwere seiner Glieder war noch gewachsen, sie war fast unerträglich geworden, seinen Kopf fühlte Adam wie eine schwere, amorph verquollene Masse, er glaubte, ein dumpfes, knurrendes Kreisen in seinem Schädel zu verspüren, Alles war in ihm erstorben, todt, wie aufgesogen von dem Einen, das er wie eine materielle Last in seinem Gehirn empfand ... wie aufgesogen von der Frage, die immer wiederkam und ihn ganz ausfüllte – von der Frage nach der Farbe seiner Tapete ... Und er lief weiter in die Nacht hinein und keuchte halblaut vor sich hin: Tapete ... Tapete ... Tapete ...
Nun stand er vor dem Hause, in dem er wohnte. Er sah unwillkürlich zu seinen Fenstern hinauf. Oben war Licht.
Adam schrak zusammen. Wer war da oben? Wer war in seinem Zimmer? Wer erwartete ihn da? Wer? Wer? Wer? Wer lauerte auf ihn? Ah! Das Unglück! Jawohl, das Unglück, das er schon den ganzen Abend über geahnt hatte! Oder der Tod? Oder der Wahnsinn? Wer saß da hinter diesen blaßerleuchteten Scheiben ... auf einem Fauteuil ... auf dem Sopha ... irgendwo in seinem Zimmer –? Wer kauerte unter dem Tische, auf dem Teppich? Wer? Wer? Wer –?
Aber es konnte ja nicht sein. Es war eine
Adam athmete tief auf. Er fürchtete sich wohl noch? War er denn ein Mann oder ein schlottriger Bube? Mochte ihn doch dort oben erwarten, wer wollte, wer Lust dazu hatte – ha! er fürchtete sich nicht, gewiß nicht ... er würde jetzt hinaufgehen und sich mit eigenen Augen überzeugen ... und dem Eindringling entgegentreten ... und sich ihm zum Kampfe stellen, wenn's sein mußte – ja! – wenn's sein mußte –
Adams Hände zitterten doch stark, als er das Schlüsselloch suchte. Nun ging er die Treppen in die Höhe, langsam, schwer athmend, immer langsamer, er schleppte sich hinauf, es lag eine dumpfe, schwere, unabwälzbare Furcht auf ihm. Die Heimchen zirpten, auf den Stufen winselten blauschwarze, schwindsüchtige Mondscheinschatten.
Nun stand er auf dem Corridor, dicht vor seiner Thür. Er horchte. Es war Alles still,
Alles todtenstill hinter dieser Thür. Nichts regte sich, bewegte sich. Adam athmete
schwer. Ein eingekrallter Druck
Das Zimmer lag in stillem Frieden. Auf dem Tische brannte ruhig die Lampe. Auf dem Sopha saß Emmy. Sie war gegen die Lehne zurückgesunken und schlief. Langsam und ruhig, tief, sicher, gesund ging ihr Athem. Auf dem Tische lag ein aufgeschlagenes Buch.
Adam athmete tief auf. Er nahm den Hut ab und fuhr sich mit der linken Hand über Augen und Stirn. Es war ihm, als glitte Etwas von ihm nieder, fiele von ihm ab, er glaubte, eine wirkliche, gegenständliche Erleichterung zu verspüren, er war physisch entlastet, er fühlte sich plötzlich freier und beweglicher, seine Glieder waren flüssiger geworden. Der Spuk, vor dem er sich wie ein unmündiger Knabe gefürchtet, vor dem er gezittert, war zerronnen, er war gerettet. Ein unendlich wohlthuendes Gefühl der Geborgenheit kam über den Gefolterten und Abgehetzten.
Adam stand immer noch dicht an der Schwelle. Unwillkürlich scheute er sich, durch das
Zimmer zu gehen, er wollte Emmy, die tief und fest zu schlafen schien, nicht
aufwecken, er sog sich fest an dem Bilde, das sein Auge schaute, sog sich fest mit
der heißen, intimen, ungestümen Dankesinbrunst des Geretteten. Er fürchtete, durch
einen lauten, zu lauten Schritt die holde Phantasie zu verscheuchen – und dann, das
wußte er, war er ja wieder ihr verfallen, der zerschnürenden Furcht – und ihm, dem
zerwühlenden Wahnsinn. Nun wurde Emmy unruhig.
»Bei mir, Emmy – und ich danke Dir, daß Du hier bist –« Das hatte Adam in fast feierlichem Tone gesprochen. Er war mit steifen, correcten Schritten durch das Zimmer geschritten, als wäre er zum Automaten eingedrillt. Emmys Blicke waren erstaunt seiner Curve gefolgt. Es lag ein stummer Schrecken, der sich nur noch nicht ordentlich hervorwagte, in ihren Augen.
»Ich habe lange auf Dich gewartet –« begann sie leise, zaghaft – »sei mir nicht böse, Adam – nachher bin ich wohl eingeschlafen – ich hatte erst gelesen – aber ich hatte keine Ruhe mehr – Du hättest doch 'mal zu mir kommen können, Du Böser –«
Adam stieß ein rauhes, gezacktes, blechernes Lachen aus: »Ah! zur Mätresse dieses –
dieses
»Adam! Mein Gott! was ist Dir denn–? Ist Dir was passirt –? Und was starrst Du denn die Tapete so an? Mein Gott! Das ist ja furchtbar – Du bist ja – – Adam –!«
Emmy war aufgesprungen und stand jetzt zwischen der einen Sophalehne und dem Tische. Sie war blaß geworden, zitterte und mußte sich rechts und links mit den Händen festhalten.
Aus der Tiefe des Zimmers schlich Adam auf den Zehen der Wand zu. Der Leib war
vornübergebeugt, der Kopf zwischen die Schultern gezogen, die ganze Gestalt trug die
krampfhafte Gespanntheit eines Irrsinnigen. Zufällig war sein Blick vorhin auf die
Tapete über dem Sopha gefallen, war einen Moment dort haften geblieben. Und da war
die Erinnerung aufgezuckt und hatte ihm den Gedanken zurückgebracht, der ihn auf
seiner Irrfahrt so müde gehetzt. Ha! das war's ja! Das hatte er ja wissen wollen –
alles Andere – die Furcht vor dem dunklen Etwas, das da oben auf ihn lauerte, war ja
nichts gewesen – nichts – nichts – gar nichts – gegenüber dieser fürchterlichen
Neugier auf die Farbe seiner Tapete ... Und nun hatte er die Tapete vor sich. Ha! Die
Bestie konnte ihm nun nicht mehr entschlüpfen, er würde
Emmy wollte sich Adam entgegen werfen. Er schleuderte sie auf die Seite und stürzte
sich auf die Wand. Mit geballten Fäusten trommelte er wie ein Verrückter auf der
Tapete herum, daß es verschlucktdumpf von der Steinmauer widertönte, er krallte die
Fingernägel ein und kratzte gerippte Fetzen herunter. Seine Hände schmerzten ihm
nicht, seine Augen waren weit aufgerissen und brannten in unstäter Flamme. »Ha! Also
diese dummen, lehmgelben Fratzen hast du, Bestie – und drunter ein so blödes,
schauderhaftes Grau – ha! wie diese schönen gelben Blätter und Ranken – und – und die
kleinen niedlichen Figürchen – – na ja! – na ja! – – hahaha – ach! – diese Mätzchen –
hähähä – diese Mätzchen – und – und ... d– d– d– da – b ... b ... bildet sich –
bildet sich ... hähähä ... es ist zum Todtschreien – Todtschreien – Todtschreien –
Todtschreien – zum Todtschreien! – na ja! na ja! – denke du – du Weib! – Weib! –
Weib! nun denke 'mal: da bilden – bilden sich diese bezechten Ara – arab ... b ... b
... b ... besten noch was druf in – zu dumm! – zu dumm! – und das ist also das Ganze
– ach! ach – mir ist grenzenlos elend ums Herz – das ... das Denken hat sie mir
verbrannt – die verfluchte Bestie – und nun ist's wieder 'mal nischt – nischt – gar
nischt – –
Adam sickerte sich aus, verstummte nun, schob stöhnend die Arme über einander, preßte sie taumelnd gegen die Wand und legte den Kopf darauf, als wäre er müde, todtmüde, als wollte er von all dem elenden, verwirrenden Lebenskram nichts mehr hören und sehen –
Emmy hatte sich gefaßt. Zuerst war sie von einer lähmenden Furcht befallen worden. Die Worte waren ihr im Munde stecken geblieben, sie hatte diese Scene eines unzweifelhaften Irrsinns nicht unterbrechen können. Nun raffte sie sich auf – wie gut war es doch, daß sie hier war, daß sie ihrem Drange, Adam zu sehen und zu sprechen, ob er sie gestern auch impertinent genug behandelt hatte, doch noch nachgegeben! Sie zuckte zusammen bei dem Gedanken, wie furchtbar es gewesen wäre, würde Adam heute allein, sich selbst überlassen geblieben sein. Leise trat sie zu ihm hin: »– Komm, Adam! Sei wieder gut! Du bist krank – Du hast Fieber – was geht Dich die dumme Tapete an! Komm! Setz' Dich hierher aufs Sopha – komm! – neben mich ... Du bist so heiß – soll ich Dir kalte Umschläge machen –? Du wirst sehen: es wird bald besser werden, wenn Du Dich nur ruhig hältst ... Und siehst Du: ich bleibe bei Dir – ja –? Willst Du –?«
Sie hatte den Kranken sanft bei den Armen gefaßt und aufs Sopha gezogen. Müde, ganz
entkräftet
Die hatte das Fenster geschlossen und die Vorhänge zusammengezogen. Nun ging sie nach dem Schlafzimmer hinüber und suchte nach Leinen für die kalten Umschläge. Sie kam mit dem Waschbecken zurück, rückte einen Stuhl neben das Sopha und begann ihr Liebeswerk. Die »Sünderin« war zur Samariterin geworden.
Allmählich wurde Adam ruhiger, das unendlich wohlthuende Gefühl der Geborgenheit kam
wieder über ihn. Er träumte leise vor sich hin, schlief wohl öfter auch einmal eine
kleine Weile, dann sickerte er wieder zum Leben, zum annähernden Begreifen seiner
momentanen Lage zurück. Einmal flüsterte er »Leni« vor sich hin. Emmy hatte sich
neben ihn gesetzt, sie sah ihn mit ihren großen, dunklen Augen traurig an, manchmal
strich sie leise, liebkosend mit ihrer kleinen, glatten, kühlen Hand über seine Stirn
oder ließ diese kleine, feste, kühle Hand seiner Hand, die immer wieder nach ihr
suchte ... Die liebe Trösterin hatte das Buch wieder vorgenommen und las ab und zu
ein paar Zeilen. Oefter blinzelte sie Adam von seiner verdämmerten Sophaecke aus an
und genoß mit leisem Behagen die hellen, klaren Linien ihres schönen Profils. Da sie
ihn alle verlassen hatten, war ihm
»Aber Adam –! Was fällt Dir ein –!«
»Nu ja! Gestern habe ich Dich doch so quasi 'rausgeschmissen – und heute kommst Du – aber es ist doch brav von Dir, Du armes, verrathenes Kind – brav – na warte! – morgen – morgen – –«
»Sei still, Adam! Thu' mir den Gefallen! Wir reden morgen davon ... Aber willst Du nicht lieber zu Bett gehen –? Hier kannst Du doch nicht bleiben ... Ja? – Komm! Ich führe Dich hinüber ... Nachher rücke ich mir 'n Sessel neben Dein Bett und wache bei Dir ... Das ist das Beste – komm!«
Adam gab nach. Es war ihm auch so gleichgültig, was mit ihm geschah. Emmy brachte ihn
zu Bett. Sie war um ihn herum, wie eine Mutter, die ihr krankes Kind wartet und
pflegt und besorgt in sichere Hut birgt. Mit feiner Discretion, mit tactvollster
Gewandtheit brachte sie den Erschöpften auf sein Lager zur Ruhe. Dann zog sie einen
Fauteuil neben sein Bett und setzte sich zu ihm. Leise
Draußen huschten die ersten, scheuen Frühlichter über den Horizont. –
Als Adam erwachte, lag die Sonne in breiten Licht-und Wärmemassen im Zimmer. Die Luft
war schwül, schweißdurchdünstet. Adam hob den Kopf aus den Kissen und sah sich um.
Allmählich kehrte ihm die Erinnerung zurück, er entsann sich, wie es gekommen war,
daß Emmy da im Sessel, kaum einen Schritt von ihm entfernt, saß und schlief. Ach ja!
Das war gestern ein böser Tag gewesen und ein wüster Abend. Aber nun war der Spuk
verflogen, das kleine Weib da hatte seine letzten schwarzen Schatten zu verscheuchen
gewußt. Adam fühlte sich heute wohler, im Ganzen gestärkt und gekräftigt, wenn er
auch noch eine träge Schwere und Mattigkeit in den Gliedern verspürte und einen
heftigen Schmerz im Hinterkopf. Auch das Genick war steif geworden, jede Bewegung
zuckte stechend in den Schläfen nach. Adam beschloß, leise aufzustehen. Die Zeit lief
auf Neun, es war also schon spät genug. Aber Emmy konnte noch ruhig weiter schlafen.
Ihr Athem ging tief und langsam. Der Kopf ruhte in halber Wendung nach links zwanglos
an der Lehne, auf der Stirn standen ein paar kleine
Adam erhob sich, kleidete sich nothdürftig an und schlich nach seinem Arbeitszimmer hinüber. Er öffnete das Fenster, unten auf der Straße trieb rüstig das Leben. Da drüben auf der anderen Seite hatte er gestern Abend ... hatte er heute Nacht gestanden, und nach hier hinaufgestarrt. Und jetzt lag der helle Tag da unten, und allerlei buntes Menschenvolk zog an der Stätte vorüber, da er noch vor ein paar Stunden – denn länger war's doch nicht her – gestanden, mutterseelenallein gestanden, mutterseelenallein in der schweigenden Nacht. Und doch dünkte es ihn, es wäre das schon lange, lange her, viele, viele Jahre. Er war heute ein so ganz Anderer, wohl war kaum das Bewußtsein intimer Fülle in ihm, aber doch durchzitterte es ihn wie eine Ahnung, daß es in ein anderes Geleise eingelenkt. Dies und das kam noch zu ihm in seiner stillen Morgenschau an losen Erinnerungen, die Erlebnisse der jüngsten Tage mitbrachten. Hui! Er war ja auch Bräutigam, glücklicher Bräutigam ... und das war jedenfalls das Curioseste von Allem, worauf er sich in dieser Stunde besinnen mußte.
Nun bestellte er sich seinen Kaffee und machte Toilette. So viel Zeit war gar nicht
mehr übrig. Um elf Uhr fuhr der Zug, mit dem Lydia abreisen
Da schlug die Glocke der elektrischen Klingel heftig an. Adam horchte erstaunt auf. Das mußte etwas Besonderes zu bedeuten haben. Im nächsten Augenblick wurde auch schon die Thür seines Zimmers aufgerissen und Hedwig stürzte herein.
Adam war nicht im Stande, ein Wort hervorzubringen. Er starrte das Weib an, das todtenblaß, keuchend, mit fliegenden Gliedern, verstörten Mienen, unstet umherirrenden Augen vor ihm stand. Er sprang nicht hinzu, als Hedwig jetzt schwankte, zusammenbrechen zu müssen schien und sich nur noch im letzten Augenblick am nächsten Thürpfosten festklammerte.
»Adam –!« stieß sie aufstöhnend heraus – »mein Gott –! ich kann nicht mehr – daß ist zu viel – mein Vater – o Gott! – mein armer Vater ist – ist – todt ... oh – –«
Das Aufkreischen der Stimme bei dem Worte »todt« riß Adam aus seiner Erstarrung. Zuerst wußte er nicht, was dieser kurze, schneidende Laut ihm sagen sollte, jetzt wurde ihm sein Inhalt plötzlich klar – nein! das war ja nicht möglich – nicht möglich –
»Hedwig –! Besinne Dich –! O Gott! Das kann ja nicht sein – kann ja nicht sein –«
»Todt –!« wiederholte das Weib nur, leise,
Adam war zu Hedwig hingetreten – »komm –!« sagte er leise – »besinne Dich, Hedwig –! Das ist ja nicht möglich – komm zu Dir – hier setz' Dich nieder – soll ich Dir 'n Schluck Wasser bringen – es ist nur so warm – oder etwas Rum – ich habe auch Portwein – warte –«
»Nein –! nein –! Laß doch, Adam, laß doch –!« wehrte Hedwig mit merkwürdig hastiger, eindringlicher, im Ton ganz veränderter Stimme ab –
Adam rollte den Sessel in ihre Nähe. Dabei bemerkte er, daß Emmy's Hut auf dem Plüschsitze lag. Das war doch recht fatal. Aber schon hatte er den Hut, ohne daß er es eigentlich gewollt hätte, ergriffen und auf den Tisch gelegt. Hedwig war mechanisch seinen Bewegungen gefolgt.
»Was hast Du da –?« fragte sie mit rauher, zerrissener Stimme.
In diesem Augenblick schlug Emmy die Portière auseinander und trat ein. Adam sah sich halb unwillig, halb erfreut nach ihr um.
»Ah! Auch das noch –?« schrie Hedwig auf und schlug die Hände vor die Augen. Sie schwankte. Adam und Emmy stürzten hinzu, hielten sie auf und legten sie langsam, behutsam in den Sessel.
Das arme Weib schluchzte einmal tief auf, dann sank es zusammen.
Nach einer Weile kam Hedwig wieder zu sich und schlug die Augen auf. Mit jähem Schrecken erkannte sie ihre Umgebung, erkannte sie Emmy neben sich – sie wollte sich emporraffen, sie hastete mit den Händen an den Lehnen hin und her – »gehen Sie –! lassen Sie mich –!« stöhnte sie – »rühren Sie mich nicht an –«
»Na! hab' Dich nur nicht so –!« fuhr es Adam barsch heraus, dem die ganze Scene schon sehr unbequem geworden war. Er drehte sich ein Wenig ab und setzte das Glas Portwein, das er in der Hand gehalten, unwillig auf den Tisch.
Emmy war unwillkürlich einen Schritt zurückgetreten. Sie sah Adam traurig-fragend an, sie wußte nicht, ob sie bleiben oder gehen, ob sie die beiden allein lassen sollte, oder – oder –? – sie war ganz rathlos. Das arme, gefolterte Weib da vor ihr im Sessel that ihr sehr leid, sie erkannte es aus der Engler'schen Weinkneipe wieder, sie fühlte sich zu ihm hingezogen, sie sagte sich, daß Adam Beziehungen, jedenfalls sehr intime Beziehungen zu ihm hätte – und wie ein Gefühl von Haß ... von Haß – wie ein heißes, wüthendes Erpichtsein auf Rache und Vergeltung an dem Herzlosen schoß es ihr brennend auf in der Brust.
Wieder versuchte Hedwig aufzustehen, sie stützte sich krampfhaft auf die niedrigen Seitenwände des Fauteuils, aber sie war zu schwach, sie sank wieder zurück.
Adam stand daneben, es war ihm sehr unbehaglich zu Muthe, er mußte es wohl doch glauben, daß Irmer nicht mehr lebte, aber er konnte das hülflose Wesen da doch jetzt unmöglich ersuchen, ihm nähere Auskunft zu geben – und er schrak auch davor zurück, jetzt Einzelheiten zu erfahren, er fühlte, daß sie ihn quälen, aufregen würden ... und er hatte nicht den Muth, er war zu feige, um sich die Kraft zuzutrauen, die engeren Umstände von Irmers Tode einigermaßen ruhig hinzunehmen. Aber Etwas mußte doch geschehen, die Situation stockte peinlich, er mußte doch auch ein Wort zu finden wissen, auszusprechen wissen, er mußte doch Hedwig zeigen, daß er mit ihr litte, daß ihr Schmerz auch der seine wäre, daß sie auf sein vollstes Verständniß zu rechnen hätte ... Und da erinnerte er sich, daß er ihr gestern die tausend Mark geschickt, sie hatte sie wohl noch nicht erhalten, aber es mußte doch beruhigend auf sie wirken, wenn sie die Thatsache erführe, damit war doch wenigstens eine Sorge ihr von der Seele genommen. Und doch zögerte er, es nahm sich so auffällig aus, jetzt mit dem Gelde zu kommen, aber die Frage glitt ihm schon wider Willen über die Lippen: »Hast Du das Geld bekommen, Hedwig –?«
Die Gefragte schlug langsam die Augen zu ihm auf, starrte ihn erst eine Weile
verständnißlos an,
»Nun, die tausend Mark, von denen Du mir schriebst – ich habe sie gestern an Dich abgehen lassen –« erwiderte Adam, einen gewissen Ton des Stolzes und der Befriedigung in der Stimme. Auch Emmy mußte er damit imponiren.
Hedwig starrte immer noch zu ihm in die Höhe, sie wußte nicht, was er meinte, sie verstand ihn nicht – »tausend Mark –?« wiederholte sie ebenso mechanisch, sie schüttelte ein Wenig den Kopf – was wollte er nur von ihr –?
»Na ja!« fuhr Adam ärgerlich auf – »Du hast mir doch des Langen und Breiten davon geschrieben – erinnerst Du Dich denn nur gar nicht –?«
»Tausend Mark –?« Hedwig schüttelte wieder den Kopf. Plötzlich fragte sie, aber eigentlich nur ganz gleichgültig: »– wo hast Du denn das Geld her –?« Sie schien durchaus keine Antwort darauf zu erwarten.
Adam zuckte zusammen. Zuerst verblüffte ihn diese Frage. Er war nicht gefaßt gewesen
auf sie. Nun schoß ihm ein teuflischer Gedanke durch den Kopf. Wär's nicht am Besten,
jetzt sofort – und auch vor Emmy sogleich! – zwei Fliegen mit der bewußten einen
Klappe zu schlagen? Mit der Wahrheit herauszurücken? Den Zusammenhang aufzudecken?
»Woher ich das Geld habe –? Hm!« – jetzt erfolgte eine letzte, kurze Pause, dann stieß er tonlos, stockend, doch zugleich mit sehr forcirter Bestimmtheit heraus: »Nun! von meiner – Braut –«
»Von wem –?« fragte Emmy unwillkürlich und sah Adam erschrocken an. Der war froh, daß er durch Emmys Zwischenfrage wenigstens äußerlich einen anderen Partner, zu dem er sprechen konnte, bekommen hatte – war froh, daß die Auseinandersetzung nicht unmittelbar zwischen ihm und Hedwig stattzufinden brauchte. Eine gewisse Rücksicht, zu der er sich Hedwig gegenüber immerhin unwillkürlich hätte bequemen müssen, durfte er nun fallen lassen. Und das war ihm sehr lieb. Denn der barsche, ungeschlachte, rauh beinig-rücksichtslose Ton, den er anschlagen wollte, verdeckte viel besser sein inneres Widerstreben, seine innere Zaghaftigkeit, die er trotz aller Anstrengung nicht loszuwerden vermochte.
»Von meiner Braut, wenn Sie nichts dagegen haben, mein Fräulein –!« wiederholte also Adam laut, trotzig. Er sah dabei Emmy herausfordernd an und stellte sich, als bemerkte und fühlte er den Blick trostlosen Entsetzens nicht, mit dem Hedwig ihn anstarrte.
Ein schwüles, beklemmendes Schweigen war eingetreten. Adam wollte schon die
Gelegenheit benutzen, sich von dem unmittelbaren Kriegsschauplatze unauffällig ein
Wenig in den Hintergrund ... vielleicht in's Nebenzimmer ... zu schwindeln –
Der wich einen Schritt zurück, »Hedwig –!« stotterte er, Emmy sprang hinzu, faßte die Taumelnde und versuchte, sie wieder auf den Sessel hinabzuziehen.
Aber es war, als ob plötzlich eine fremde Kraft über das arme, unglückliche, in
seinem tiefsten Elende aufschreiende Weib gekommen wäre: es schleuderte Emmy bei
Seite, klammerte sich mit seinen dünnen, mageren Fingern am linken Arme Adams fest
und kreischte ihm entgegen: »Ah! Ich weiß – ich weiß – Canaille! Ich verstehe Dich,
Du Schuft! Loskaufen hast Du Dich wollen – hast mir mein Sündengeld hinschmeißen
wollen, weil Dir eine andere besser gefällt – weil Du mich satt hattest – weil – weil
– – o Gott! – Und Alles habe ich Dir gegeben – habe Dir geglaubt – und nun behandelst
Du mich wie – wie – – nun giebst Du mir 'n Fußtritt – was hab' ich Dir gethan, daß Du
mich so wegwirfst – so zertrittst –? – Meinen Vater hast Du ermordet, meinen armen,
alten, unglücklichen Vater – nichts war Dir heilig – nichts – nichts – Alles hast Du
mit Füßen
Adam hatte einen Augenblick geglaubt, unter der Anklage des verzweifelten und
verrathenen Weibes zusammenbrechen zu müssen. Er wußte, daß er die schweren Vorwürfe,
die ihm da entgegengeschleudert wurden, verdiente. Sie waren alle so gerecht. Ja! er
hatte das Weib überredet, ihm zu Willen zu sein. Er hatte wohl auch allerlei
Verpflichtungen übernommen, hatte verschiedene Versprechungen gemacht – aber das
Alles doch eigentlich nur, ohne sich desselben besonders bewußt zu werden, beinahe
nur aus einer
Und doch konnte sich Adam nicht ganz dem Eindrucke ihrer in furchtbarster Seelenangst herausgeschrieenen Anklagen entziehen. Er hatte ihr nun ein mal sein Wort gebrochen, so gut wie sein Wort gebrochen, sie zieh ihn mit Recht der Absicht, sich mit dem Golde von ihr loszukaufen, sie hatte ihn, darin durchschaut, obwohl er doch eigentlich schon vorher entschlossen gewesen war, Irmers die tausend Mark auf irgend eine Weise zu verschaffen, ehe ihm, zumeist wohl nur in dem Bestreben, einen Namen für die Sache zu finden, der Gedanke gekommen war, sein Thun im Sinne eines Rückkaufes seiner Freiheit aufzufassen. Es war schließlich im tiefsten Grunde blutige Selbstironie gewesen – und dafür sollte er sich jetzt abkanzeln lassen, als wäre er ein Hallunke ersten Ranges? Und dennoch kam er von einem unklaren Schuldgefühl nicht los. Die Wuth, die er in sich aufkochen spürte, brach nicht aus, seine Entrüstung zersplitterte sich, sein Aerger verzettelte sich, schließlich knirschte er nur ein paar banale Redensarten, wie »verrückte Faselei –« »– thut mir leid, aber es ist nun einmal so –« – »wer kann wider seine Natur?« – heraus, zuckte die Achseln, lächelte spöttisch, steckte mit forcirter Gleichgültigkeit den zerknitterten Brief Irmers in seine Rocktasche und wandte sich ab – – – –
Adam sah sich noch einmal nach den Beiden um, es schien, als wollte er Etwas zu ihnen sagen, aber er zuckte wieder nur in willkommener Resignation die Achseln, knurrte verächtlich »– hysterische Weiber –« vor sich hin und ging auffallend langsam ins Nebenzimmer.
Pötzlich fuhr Hedwig wieder auf. »– ich muß fort – ich ersticke hier – fort zu meinem
Vater – der wartet auf mich – der will mich mitnehmen – –« heiserte sie zischelnd vor
sich hin, jetzt stand sie, sie schwankte haltlos hin und her, Emmy wollte sie
umfassen. »Bleiben Sie noch, liebes Fräulein –« bat sie leise, da fuhr Hedwig herum,
sie starrte Emmy mit großen, verglasten Augen an, nun lachte sie gellend auf, warf
ihre mageren Arme mit krampfiger Wuth um Emmys Hals, riß die an sich heran, stürzte
rücklings mit ihr in den Sessel und lallte ihr mit erstickter, gebrochen gellender
Stimme zu: »– Du –! Du –! Weißt Du: ich bin nämlich auch so Eine, wie Du – auch so
Eine, weißt Du – Dein Liebster hat's mir gezeigt – ei! – ei! – hat's mir gezeigt, wie
man's macht – siehst Du: nun mußt Du mich mitnehmen – ja? willst Du –? Nun bringst Du
mir schöne Herren –
Emmy war es endlich gelungen, sich aus der Haft der Arme, die sie einschnürend umklammert hatten, loszumachen. Sie war brandroth im Gesicht, sie athmete gepreßt, sie wollte Adam rufen, denn sie hatte ja eine Wahnsinnige vor sich, aber kein Laut löste sich aus der Kehle, es war alles wie zugequollen in ihr, wie verschüttet, Hedwig kicherte leise vor sich hin, nun trällerte sie: »tam – tam – taramtam – tam – tam – taramtam – –« plötzlich sprang sie auf, ihre Augen brannten, die ganze Gestalt war krampfhaft gespreizt –: »ich bin wahnsinnig –« schrie sie – »ich muß fort –« sie packte ihren Hut, den ihr Emmy vorhin abgenommen hatte, und stürzte zur Thür hinaus – –
»Sie ist fort –?« fragte er »– allein –?«
Emmy antwortete nicht. Sie stand, noch immer aufs Tiefste erschüttert, neben dem Fauteuil und starrte vor sich nieder. Sie hatte die Hände übereinander auf die Fauteuillehne gelegt und nickte wie in tiefem Traume vor sich hin. »Warum bist Du nicht mitgegangen –?« fragte Adam von Neuem, unwillkürlich besorgt um Hedwig, zugleich unwillig über Emmys überflüßiges Versteinertsein.
Die drehte ihm langsam ihr Gesicht zu. Sie sah ihn fragend, verwundert an, als müßte sie sich erst auf die Bedeutung seiner Worte besinnen. Nun hatte sie wohl begriffen – »ich gehe 'gleich – Du wirst mich 'gleich los sein – –« sagte sie leise und sah sich im Zimmer um, als suchte sie etwas, ihr Jaquet oder ihren Hut.
»So hab' ichs nicht gemeint – das weißt Du –« erwiderte Adam ärgerlich – »aber es könnte ihr 'was passiren – und da wäre es besser, sie hätte Jemanden in ihrer Nähe, der – –«
»Ihr ist schon genug passirt –« sagte Emmy laut, bestimmt und sah Adam mit großen, herausfordernden Augen an –
»Meinst Du –?« fragte der sarkastisch – »Du mußt's ja wissen – ja! Ihr Weiber! – Eine
wie die Andere –« Nun fing die auch noch an –
Jetzt stand Emmy vor Adam. Sie machte ein sehr feierliches Gesicht, es sah aus, als wollte sie Abschied für immer von ihm nehmen, ihm ein letztes Lebewohl sagen.
Adam wurde es unbehaglich. »Hab' Dich nur nicht so –!« wehrte er eifrig ab – »bitte, Emmy, keine neuen Sentimentalitäten – keine neuen Scenen –! Ich habe schon an der einen genug – verschone mich – ja? Uebrigens – wie spät haben wir's denn? Zehn durch. Ich habe meiner Braut versprochen, gegen Elf am Bahnhofe zu sein – sie verreist – und da kann ich doch nicht gut – also – wenn Du noch einen Augenblick warten willst, komm' ich 'gleich mit –«
»Wie heißt denn Deine Braut –?« fragte Emmy leise, befangen, sie konnte die Frage doch nicht unterdrücken.
»Lydia natürlich –! Wie sonst –? Lydia Lange! Jene Dame – Du wirst Dich erinnern –
der wir 'mal begegneten, weißt Du – es ist ja noch gar nicht so lange her – im Park,
an dem Tage, wo Du – jetzt wirst Du Dich sicher daran erinnern – wo Du die
Bekanntschaft des Herrn von Bodenburg machtest, die so wichtig für Dich werden sollte
– also die Dame ist's – nun weißt Du's – was macht denn übrigens der kleine
Pistolenschäker –? Gehts ihm gut? Natürlich! Diesem Gesindel gehts immer gut. Hast Du
Deinen Trovatore gestern nicht
Emmy wandte sich ab und erwiderte kein Wort. Sie hatte erst einen Augenblick Lust, sich nach dem Verlaufe der Duellgeschichte zu erkundigen. Aber sie unterdrückte die Frage. Sie hätte nach tieferer Theilnahme ausgesehen, und obwohl sie diese Theilnahme immer noch für Adam empfand, jetzt vielleicht unwillkürlich stärker als je – denn ein mit ihr rivalisirendes Moment war ja aus seinem Leben gestrichen – sie wollte sie doch nicht zeigen, in diesem Augenblick erst recht nicht, um keinen Preis der Welt. Uebrigens ging ja auch schon daraus, daß Adam kein Wort von dem Duell wieder erwähnt hatte, hervor, daß die Geschichte in irgend einer Weise erledigt sein mußte. Und es erbitterte sie, daß sie in den letzten Tagen so oft so überflüssig um Einen gebangt hatte, der es nicht verdiente – um einen Blasirten, einen Unzuverlässigen, einen Herzlosen – –
Nun gingen die Beiden unten auf der Straße neben einander her. Eine längere Weile
schwiegen sie. Hatten sie sich nichts mehr zu sagen? Oder scheuten sie sich, auf ein
Thema zurückzukommen, das ebenso unerquicklich war, wie undankbar? Und doch lastete
nicht minder peinlich auf Jedem der Druck, den das Schweigen des Anderen ihm
auferlegte. Vielleicht aus diesem Grunde, vielleicht auch, weil es ihn doch drängte,
Emmy noch dies und das zu sagen, begann Adam endlich, leise, langsam, sprungweise,
Adam stürmte hinweg, Emmy blieb unwillkürlich stehen, verblüfft über die jähe
Verabschiedung. Dann
Adam hatte seine Uhr befragt, es war wirklich höchste Zeit. Er trabte nach dem nächsten Droschkenhalteplatz, warf sich in das erste beste klapprige Ungethüm und rasselte davon. –
Es hatte schon zum zweiten Male geläutet. Die Wagenthüren waren schon zugeschlagen, hie und da den Zug entlang gab es hastig-laut plaudernde, unter lebhaftem Gestenspiel sich ausgebende – oder leicht stockend, beklommen sprechende Gruppen, auf- und niederrennende Schaffner, in der Ferne, gerade unter der großen Uhr, die rothe Mütze des dienstthuenden Beamten, an den Wagenfenstern da und dort ein Gesicht, gleichgültig oder ernst, weil es vielleicht einen Abschied, einen schmerzlichen Abschied, gilt ... Adam spähte herum, jetzt entdeckte er seine Braut, die sich aus dem Fenster eines Wagens zweiter Klasse lehnte und ihm zuwinkte. Der Wagen stand ziemlich weit vorn, nahe an der Lokomotive.
Ein helles Freudenlächeln huschte über Lydias Gesicht, als sie Adam im letzten Augenblick doch noch vor sich sah. Sie hatte schon alle Hoffnung aufgegeben. Sie war ganz traurig geworden, sein Wegbleiben hatte sie verstimmt, am liebsten wäre sie wieder ausgestiegen. Nun war er doch noch gekommen. Das war so gut von ihm. Sie sah ihn zärtlich an, als er vor ihr stand, vor Aufregung kein Wort über die Lippen bringen konnte und ihr nur stumm die Rose reichte.
»So –? Mir war heute früh auch nicht ganz wohl –« antwortete Adam hastig – »und wie geht es Dir, Lydia –?« fuhr er dann fort, nachdem er einmal tief Athem geholt –
»Ich danke –«
»Und wie lange willst Du mich allein lassen –?«
»Ich komme bald zurück – vielleicht eher, als es Dir lieb ist – –«
»Lydia –!«
»Meine Adresse schreibe ich Dir – also Friedrichroda – ich muß erst sehen, ob ich Privatlogis nehme, oder –«
»Und schreib' mir, bitte, recht bald und recht viel – ja? Zu schade, daß Du jetzt gerade – – bleib' nicht zu lange, Lydia –?« bat Adam leise –
Es war ihm plötzlich sehr weich ums Herz geworden. Nun seine Braut in der Fülle und Reife ihrer Kraft und Schönheit vor ihm stand, loderte die Leidenschaft zu dieser Frau wieder in ihm auf. Ja! Er liebte sie doch – und sie allein. –
Es läutete zum dritten Male. Die Lokomotive pfiff, langsam setzte sich der Zug in Bewegung.
Die Hände der beiden hatten zum letzten Male
Das weiße Taschentuch Lydias statterte immer noch, Adam schwenkte den Hut. Der weiße, hin- und herzitternde Punkt verschwamm nun und verblaßte mehr und mehr, jetzt war er ganz und gar von der Entfernung aufgeschluckt. Der Perron war leer geworden. Adam blieb noch einen Augenblick stehen, blickte vor sich hin, freute sich, daß Lydia diskret die Geldgeschichte auch nicht mit der kleinsten Andeutung wieder berührt hatte, dann wandte er sich um, ging langsam durch die Vorhalle dem Ausgang zu und stieg langsam die Steintreppe hinunter, die vom Bahnhofsportal auf die Straße führte. Er befand sich in einem seelisch sehr merkwürdigen Zustande. Lydias Abreise stimmte ihn beinahe sentimental, that ihm beinahe weh. Er wunderte sich darüber und schüttelte den Kopf. –
Nun kamen stillere Tage für Adam. Er ging nicht viel aus, er saß oft stundenlang auf seinem Zimmer, er spann seine losen, verzettelten Gedanken in der Sophaecke, er las dies und das ohne inneren Zwang, ohne besondere geistige Genugthuung. Der Juni war sehr heiß, trotzdem überlief Adam oft ein leises, stachliges Frösteln, besonders gegen Abend stellte sich gewöhnlich ein heftigeres Fieber ein, sein Schlaf war dünn, unruhig, von schwülen, bizarren Träumen erfüllt. Früh fühlte er sich oft matter und hinfälliger, als er den Abend vorher gewesen war. Endlich nahm er Chinin ein, da wurde es besser, das Fieber trat weniger akut auf, schließlich blieb es ganz weg.
Lydia hatte Adam bald nach ihrer Ankunft in Friedrichroda geschrieben. Er hatte den
lieben, zärtlichen Brief mit seiner zartstrichigen Schrift, seinen pikanten
stilistischen Inkorrektheiten, seinen versteckten Liebkosungen oft genug gelesen,
wieder und wieder. Lydias Hingebung schmeichelte seiner Eitelkeit, er vergaß, welchen
Umständen er schließlich ihren Besitz verdankte, es kam so weit, daß er sich
unwillkürlich
Manchmal beunruhigte ihn das Schicksal Hedwigs doch sehr. Zuerst zuckte er bei jedem
Anschlagen der Glocke zusammen, er fürchtete, der Postbote würde in sein Zimmer
treten und ihm die tausend Mark zurückbringen, deren Annahme die Adressatin
verweigert hätte. Aber der sonst so Willkommene blieb aus, blieb aus einen Tag nach
dem anderen – und Adam war das in diesem Falle ganz recht, er beruhigte sich wieder.
Hedwig hatte das Geld also angenommen, ihre Lage hatte sie wohl dazu gezwungen, aber
warum sollte er Bedenken tragen, sein Thun als eine Art von Sühne aufzufassen? Es ist
ja nun einmal so auf der Welt, daß seelische Verletzungen durch materielle Bußacte
wieder ausgeglichen werden können. Und doch kam ihm der Gedanke an den Tod Irmers
immer wieder, er vermied es mit ängstlicher Scheu, eine Zeitung zur Hand zu nehmen,
in der er etwa eine Notiz darüber finden konnte. Irmers Brief, den er in einer
besonders nervösen Stunde aufgebrochen und in zitternder Hast flüchtig überflogen
hatte, nachdem er ihn schon unzählige Male in Händen gehabt, aber stets wieder bei
Seite gelegt, hatte er sofort verbrannt.
Eines Morgens fühlte er sich besonders behaglich. Er hatte gut, besser wenigstens,
denn gewöhnlich, geschlafen, schleimige Träume hatten ihn verschont, er fühlte sich
stärker, freier, flüssiger, auf das Spiel der Menschen und Dinge ... und auf das
Mitspielen gestimmter. Er trank seinen Kaffee und rauchte mit großem Genuß seine
Morgencigarette. Er lehnte sich zurück und dachte an Lydia. Er nahm sich vor, ihr
heute zu schreiben, ganz bestimmt zu schreiben, sie könnte sonst leicht auf allerlei
Gedanken kommen – und das hatte sicher seine Schattenseiten und Nachtheile für ihn.
Er verdankte ihr doch eigentlich recht Viel, es wäre barbarisch dumm gewesen,
leichtsinnig wieder fahren zu lassen, was sie ihm aus Liebe entgegengebracht. Ja! Nun
er sich zum ersten Male wieder werkthätiger aufgelegt fühlte, fand er seine
Bräutigamsschast äußerst famos und praktisch. Es
Auf die Tage der äußeren und inneren Stürme und Katastrophen sollten die Tage
ernster, gesammelter, »sühnender« Arbeit folgen. Ja! Er wollte arbeiten, besaß er
doch noch Ideale! Vielleicht noch zwei, viel leicht sogar noch drei, vielleicht auch
nur noch eins. Er vermied es, sich zu fragen, wie dieses eine, dieses letzte »Ideal«
hieße, wie es beschaffen wäre, in welcher Richtung es läge –? Er wußte, daß er diese
Frage vermied, und das beunruhigte ihn. Und doch freute es ihn zugleich, daß er sich
überhaupt noch entschließen konnte, im Dienste eines »Ideals« zu arbeiten. Ja! Er
wolle arbeiten. Und war das im tiefsten Grunde auch nur eine
Im Uebrigen wurde er von Tag zu Tag mehr und mehr guter Dinge. Er kostete die kargen, letzten Zeitläufte seiner »Freiheit« in sanfter Behaglichkeit aus. Der Sommer war so schön, die Rosen blühten, bald mußte es auch Levkojen und Reseda geben. Und sonst – »na! Ick bin ja man ooch bloß in absentia uff der Welt« – tröstete sich Adam – der brave Klempnergeselle behielt doch Recht.
»Auf welcher Welt werden wir einmal nicht ›in absentia‹ dasein –?«
Adam hatte gut fragen. Die Antwort war ihm ja doch furchtbar schnuppe. –
Ende.