Größenwahn: ELTeC ausgabe Bleibtreu, Karl (1859-1928) ELTeC conversion Leonard Konle 294270 1140 COST Action "Distant Reading for European Literary History" (CA16204) Zenodo.org ELTeC ELTeC release 1.1.0 ELTeC-deu ELTeC-deu release 1.0.0 Größenwahn Bleibtreu, Karl Karl Bleibtreu: Größenwahn. Pathologischer Roman. Band 1, Leipzig: Wilhelm Friedrich, 1888.Erstdruck: Leipzig (Friedrich) 1888.

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Auch eine Vorrede.

Ich habe diesen Roman »pathologisch« genannt, ich hätte ihn auch »symbolisch« nennen können. Doch verschmähe ich es, mich über den inneren Gehalt desselben zu verbreiten. Die Ideen des Dichters sind keine blaßen Abstrakta des Philosophen, sie wollen sich selbst erklären wie lebende Wesen. Nur möchte ich vor einer Fußangel warnen: erst im letzten Schluß (Buch XIII, 3. Band) wird der wahre Sinn des Ganzen offenbar und man gewahrt vielleicht, daß man bis dahin in einem begreiflichen Irrthum schwebte. Diese Andeutung zu verstehen bleibt dem klugen Leser überlassen, nach Beendung der Gesammtlektüre.

Natürlich tragen sämmtliche Gestalten dieser freierfundenen Dichtung lediglich ein typisches Gepräge, fern jeder persönlichen Modell-Abschreibung, die ja heut gewöhnlich bei allen realistischen Romanen von angeblich Eingeweihten herauspintisirt zu werden pflegt. Aus realistischer Lebensabspiegelung entsteht eben eine Wahrheit, wahrer als die Handgreiflichkeit der Außenwelt.

Von der Umwälzung, welche die gesammte Denkweise der deutschen Geisteswelt innerlich umformte, ahnen unsere guten Leute und schlechten Musikanten nur wenig. Unter den zahlreichen Zuschriften, welche mich seit Jahren als Stimmen des eigentlichen Publikums ermuthigen, wähle ich eine Stelle aus einem jüngsthin empfangenen Briefe:

»Was die Propheten dem alttestamentlichen Verheißungsvolk waren, das müssen uns unsre wahren Dichter sein. Wie es dort Lügenpropheten gab, giebt es auch bei uns Lügendichter. Alle Sensationsromanfabrikanten, alle sentimentalen Liederdrechsler, alle Verherrlicher der Sinnlichkeit d.h. der bloßen Erscheinungswelt, alle Blaustrümpfeleien mit ihrer übertünchten Alltagssittlichkeit – nenne ich Lügenpropheten. Nur wer im Ewigen webt und athmet, wem alle Erscheinungsformen nur Symbole sind, wer alles Sinnliche aufs Ewige bezieht und im Zeitlichen als solchem keinen Frieden findet, – nur dessen Weltauffassung ist eine dichterische. Eine ernste Kunst ist die Poesie, ernst und groß wie das Christenthum. Lang genug haben wir eine heidnisch-griechisch-antike Aesthetik und Poesie gehabt. Zeit ist's, daß wir endlich eine christlich-germanisch-moderne Dichtung bekommen. Der ›Realismus‹ ist nicht eine Partei, eine Schule – was der wahre Realismus will, ist ewig. Es ist ein totaler Umschwung in unsern bisherigen Anschauungen, der sich hier vorbereitet. Die antike Aesthetik mit ihrem ›schön‹ und ›häßlich‹ ist nichts; auf den ewigen Gesichtspunkt, von dem aus man alles auffaßt, kommt es an.«

Das Denken allein führt eben so wenig zum Ziel, wie das Dichten allein, sondern erst die Verschmelzung beider Kräfte. Wer unzusammenhängende Beobachtungen anhäuft, wird nie zur Stoffbeherschung gelangen. Auch die Leidenschaften gehorchen gleichmäßigen Gesetzen.

Der Geist der Zukunft. Ich ahne, daß in meiner Tiefe ruhen Gedanken, wie die Welt sie nie geträumt. Ich ahne, daß allmächtig überschäumt Die Ueberkraft in meiner Seele Truhen. Doch scheidet sich das Denken weit vom Thuen Und meiner Pläne Heer die Walstatt räumt Und Corps an Corps auf seiner Lobau säumt, Bis es ins Marchfeld rückt auf Eisenschuhen. Dann, wenn die Erde Nacht und Schweigen decken Und Blitze zucken und die Donner grollen, Dann stoß ich vor auf Wagrams Leichenacker. Die Grüße meiner Feuerschlünde rollen, Als wollten sie die Todten auferwecken. »Wollt ihr denn ewig leben, feige Racker?«
Erster Band
Erstes Buch
I.

»Ja, heut ist in Calais Probeschießen mit den neuen Sprenggeschossen und dem neuen Gewehr!« erläuterte der würdige Hafenoffizial, und indem er ein prüfendes Auge auf Graf Xaver warf, der seinem Gepäckträger soeben ein überflüssig hohes Trinkgeld reichte, fügte er dienstbeflissen hinzu: »Die englischen Herren Offiziere brauchen sich blos beim Herrn Colonel zu melden, dann können sie die Revue in der Nähe besehn.«

»So?« brummte Krastinik, während sein gleichgültiger Blick über das vorbeidefilierende reitende Artillerieregiment hinglitt. »Ich bin aber keiner.« Sein zweifelhaftes Englisch bürgte auch dafür. Der Beamte verbeugte sich. Sein Irrthum mochte für die oberflächliche Beobachtung eines Franzosen verzeihlich sein. Denn Graf Xaver Krastinik schien mit peinlicher Sorgfalt möglichst englisch gekleidet, von dem glänzenden breitkrämpigen Cylinder bis zu den hackenlosen knappanschließenden Schnürenschuhen. Aber die untersetzte breitschulterige Gestalt von kaum Mittelgröße, die sonnenverbrannte Hautfarbe, die tiefliegenden scharfen Augen unter hervorstehendem Knochenbau der Stirn, der röthliche Vollbart und das braunrote kurzgeschorene Haar, endlich die markirten Züge verriethen einen sarmatischen Typus. Auch soldatische Haltung konnte man unmöglich verkennen.

Die Sonne blinzelte grell auf die Bohlen der Holzbrücke, welche zur Landungsstelle, wo der Dampfer via Calais-Dover seine Opfer erwartet, hinlief. Ohnehin verdrießlich, fühlte sich der Graf peinlich berührt, als ihm der dort lauernde Beamte, ein stämmiger Kerl mit riesigem Knebelbart, die gewöhnliche Frage zuschnarrte: »Êtes vous Français?« Da der Ueberraschte nicht sogleich antwortete, fuhr der Inquisitor eindringlich in einem Athem fort: »Are you English? Votre nom, monsieur? Your name, sir?«

Geärgert über dies zudringliche Verhör, brummte der Graf zwischen den Zähnen: »My name is the devil«, was dem höflichen Franzmann, der natürlich nach zwanzigjährigem Umgang mit Engländern die insularische Barbarensprache kaum radebrechte, vollkommen genügend schien. Der Graf jedoch, der noch einen fragenden Blick wahrzunehmen glaubte, schwang sich sofort zur Höhe der Situation empor, indem er trocken beifügte: »Et je suis Allemand.«

Dies böse Wörtchen erwies sich als Zauberformel. Augenblicklich ließ man ihn passiren, indem man wie vor einem schädlichen Reptil auswich. »Allemand?! Ah! Merci, monsieur!« Der Beamte versetzte ihm einen unnachahmlichen Bückling höflicher Grobheit, wie nur Franzosen diese widersprechende Mischung zu bereiten wissen, indem er wüthend seinen Schnauzbart und hernach noch unbarmherziger seinen Henri-Quatre am Kinn zwirbelte, Krastinik lächelte höhnisch.

Die Ueberfahrt erfolgte mit frischer Brise, die See ging bewegt, ein Mousselin-Flor von Schaum kräuselte sich über ihren wogenden Busen, die Stöße kamen ruckweise. Eine Ammensage behauptet, daß selbst englische Admiräle seekrank würden, sobald sie den Kanal passirten. So wunderte sich denn Graf Xaver, der weder die weithinschwingenden vollausgetragenen Wogen des Oceans noch das wilde Rütteln der skandinavischen Nordsee kannte, nicht wenig, daß er als Landratte gelassen betrachten durfte, wie die schwarzhäutigen und gallig-gallischen Phystognomieen allmählich nacheinander ins Grünliche schillerten.

Ein Chor barmherziger Schwestern saß allda, jede mit einem Napf in fromm gefalteten Händen, als beteten sie einen Rosenkranz. Alles spuckte und spokte durcheinander. Man verschwand und ward nicht mehr gesehn. Baß erstaunte der Osterreicher, als sogar die blondfleischigen oder blondbleichen Gesichter Albions sich zusehends verzerrten, um dem Neptun Weihrauchopfer zu bringen, während nur einige deutsche Wollhändler, wie massive Blöcke in der Brandung, unerschütterlich Stand hielten. Einer derselben belehrte Krastinik scharfsinnig darüber, daß insulare Lage und jeweilige Seefahrerei nichts gegen die Seekrankheit fruchte, für welche die englischen Mägen durch heiß verschlungenen Pudding und anhaltende Brandybegießung veranlagt seien. Erst als die gleichsam übereinander stehenden Segel der zahllosen, den Kanal passirenden Schiffe am Horizont unterduckten und die runden Thürme von Dover emportauchten, fühlte Xaver die erste Beklemmung. Denn angesichts des Shakespeare-Cliffs und der andern Kreideriffe, die hier als Panzerbrünne die meerbeherrschende Brunhild Albion umgürten, entwickelten sich vor seinen Augen verschiedene innere Krämpfe – die Wellen brachen sich plötzlich mit besonderer Heftigkeit. Er erprobte jene schlimmste Spielart der Seekrankheit, die kurz vorm Landen anhebt und drum auf dem Lande noch tagelang fortdauert.

Wie schwach wurde ihm aber erst zu Muth, als ihm an der Landungstreppe die wie Befehle klingenden Fragen der wachthabenden Matrosen entgegensprudelten: »Charing Croß, Victoria Station, Ludgate Hille, Cannon Street?«

Nur mit Mühe begriff er den Sinn dieser Namen der vier Haupteisenbahnstationen der Metropolis. Die verwirrende Schnelligkeit der Aussprache glich sehr wenig der gemütlichen Conversation seines englischen Sprachlehrers in Wien. Mit rasender Hast in einen Waggon des Charingeroß-Zuges gedrängt, fühlte er sich alsbald, während die drei andern, am Strande dicht aneinander gepreßten, Züge zugleich losstarteten, wie mit Riesenhaken über Thal und Höhen hingerissen. War es doch der »Infernal Train«, der »Höllenzug« der Chatam-Dover-Bahn!

Die unerträgliche Hitze, das Ueberhasten mit der »Halben« Bordeaux und dem halben Huhn in Calais, die Jähe und Fremdartigkeit der wechselnden Bilder, die Hatz der unablässig weiterrasenden Lokomotive wirkten zusammen. Krastiniks röthlichbrauner Teint spielte ins Purpurne hinüber. Auf seiner breiten braunen Stirn, von der die Schweißtropfen perlten, traten die Adern hervor. Er bekam Nasenbluten. Indem er sich abwechselnd die Nase und die Stirn trocknete, verschwamm ihm Alles in einer unbestimmten Beleuchtung. Wie durch einen Nebel hindurch, sah er die feinen Züge und die elegante Haltung der englischen Damen, die ihm einer ganz andern höheren Race als auf dem Continent anzugehören schienen, und die nach deutschen Begriffen auffallende schweigende Galanterie der Männer. Wie durch einen Nebel hindurch, hörte er Englisch und Französisch wie eine Sprache durcheinanderparliren. Zeigt sich doch die innere unzerstörbare Entente cordiale der zwei Westmacht-Völker und ihr kaltverächtliches sich Abschließen gegen alle andern Nationalitäten nirgends so deutlich, wie auf der Reiseroute Paris-London.

Ein Ruck weckte ihn aus seinen bewußtlosen Betrachtungen auf – stop! Charing Croß!

Nachdem er noch während des Gepäck-Wartens die unheimliche Spionage eines zweideutig aussehenden Männchens, offenbar Detectiv, ausgehalten hatte, der in ihm eine Aehnlichkeit mit irgend einem Industrieritter zu wittern schien, aber durch seine hülflose Miene inmitten des ungeheuren Wirrwarrs dieser Centralstation vom Gegenteil überzeugt wurde – gelang es ihm überraschend gut, mit Zöllnern, Gepäckträgern, Cabmen fertig zu werden. Wider alles Erwarten ging ihm sein notdürftiges Stuben-Englisch glatt von der Zunge und sein durch die Aufregung geschärftes Ohr verstand die rapide Sprechweise des Londoner Cockney's ganz wohl. Auch als er seine Empfehlungskarte an den Besitzer eines vornehmen Privathotels in Piccadilly abgab, ging ihm die Rede erträglich von Statten. Zu seinem Mißvergnügen bemerkte er nur, daß der Millionär vor seinem continentalen Grafentitel wenig Ehrfurcht zu empfinden schien und daß auch dieser Busineß-Mann gentlemanlike Formen entwickelte. Wie viele Märchen hatte Graf Xaver, der in der Jugend nie über die Güter seiner Familie in Ungarn und später als Offizier nie über die engere österreichische Heimat hinausgekommen war, aus dieser Reise berichtigen müssen! Schon auf dem Bahnhof in Verviers fielen ihm kolossale massige Wallonen und lange martialische Franzosen ins Auge. War das die angeblich schwächer gebaute und zierliche Romanische Race? In Nordfrankreich sahen die Leute fast germanischer aus und zeigten eine frischere Hautfarbe als die Briten. Und diese Letzteren, die man ihm als schlenkernde Hopfenstangen ohne Manieren geschildert hatte, entpuppten sich schon beim ersten Eindruck als Gentlemen von wahrhaft musterhaftem Benehmen und zuvorkommender Höflichkeit, wie man sie selten auf dem Continente findet.

Als er das breite Trottoir von Piccadilly behaglich hinunterschlenderte, um seinen ersten Abend auszunutzen, machte ein hinter ihm gehender Herr ihn mit höflichem Ernst darauf aufmerksam, daß seine Cravatte sich verschoben habe, nickte aber nur freundlich, als Krastinik dankend den Hut zog. Erst stutzte dieser – gewöhnte sich aber durch Beobachtung bald an den englischen Gruß des nicht-Hutziehens, statt dessen man den unentbehrlichen Regenschirm, der selbst bei schönstem Wetter hier nie daheim bleibt, zur Hutkrempe erhebt. – Später auf dem Oberdeck des ungeheuren blaugelben Omnibus, den er für eine Strecke bestieg, bot sein Nebenmann ihm freiwillig seine Lucifer-Matches an, als er Krastinik's Cigarrenbedürfniß merkte. Der biedre Graf verliebte sich auf den ersten Blick in die englische Nation. Allerdings, am Anfang, als er zu Charing Croß ins Freie gelangte, war ihm beklommen zu Muth gewesen, als das Brausen des Weltverkehrs immer höher anschwellend an sein Ohr schlug. Da kreuzten sich mit gellem Pfiff die Themsedampfer: ihr zischendes Schaufeln stimmte ein in das Poltern der Omnibusse, mit riesigen Pecheronpferden davor auf Trafalgar Square. Ueber den Dächern schnaubte das Dampfroß; hin mit flatternder Dunstmähne, unter der Erde donnerten seine ehernen Hufe. Und wie von hohem Riff, starrt Nelson von seiner Säule in den Menschenstendel hinab, der das schwache Einzelschiff mitleidlos umherschleudert, wo Parliamentstreet ihren Strom von Wagen und Fußgängern auf den Trafalgar Square ergießt.

Auch hier im vornehmen Westend fehlte es ja nicht an wirbelndem Drang. Wo Piccadilly mündet, bei Oxford Circus konnte Krastinik bewundern, wie der weise Policemen nur mit der Beredsamkeit seiner Blicke und Handbewegungen unauflösliche Wagenknäuel entwirrt. Aber rückwärts schlendernd, empfing den Neuling die vornehme Ruhe von Pall Mall. An der Terrasse, die zum St. James'-Park hinabführt, sah er Müssiggänger vom feinsten »Ton« gähnend und rauchend lehnen, unschlüssig, ob sie die Clubs mit ihrer Gegenwart beglücken oder im Criterion-Theater schneidige Klatschworte mit gleichgestimmten Seelen austauschen sollten. Einige junge Fähnriche von der Garde in ihren enganliegenden Rothjacken, die Mützen aufs Ohr gestülpt wie studentische Cereviskappen, die Reitgerte unter den Arm gesteckt, Brust heraus, Kopf zurück, wandeln mit wehenden Schnurrbärten als triumphirende Ladies-Killer gen Regentstreet.

Wie die aristokratische Schönheit sich erst beim Kerzenlicht in voller Toilette zeigt, so strahlt London erst in der Nacht im Diadem seiner Gasflammen. Das ist die Zeit des Westend, wie der Mittag die Zeit der City. Und je trüber und rauher die Nacht, um so heller leuchten, um so wohnlicher winken Häuser und Läden. Die City wimmelt von Clerks und Ladendienern, die soeben ihre methodische Arbeit mit dem Glockenschlag geschlossen haben.

Vor den Theatern bummeln Leute, die zum ersten Mal diese Tempel besuchen und mit höchster Aengstlichkeit sich ein Billet sichern wollen. Die Dining-Parlours sind zum Brechen voll, lustig knistert das Feuer im Kamin und der göttliche Duft solider Dinners verbreitet sich durch ganz Regentstreet und Piccadilly, zum Aerger müder und hungriger Wanderer. Ganz Soho und Seven Dials lehnt an den Hausthüren, unter stillem Genuß sogenannter Havannahs. Die Leute von Coventgarden vor der Italienischen Oper setzen jedem ein Textbuch auf die Brust. In den Vorstädten geht man nachbaren, »Biere« und »Kuchen« wandeln durch Southwark. Die Policemen rücken in geschlossener Colonne, in ihre Nachtmäntel und ahnungsvolles Schweigen gehüllt, nach der City ab, um die leeren Shops zu bewachen. In Little Russel Street wird der erste betrunkene Kutscher aus seiner Inn hinausgeworfen. Die Kellner im Café Monico wissen nicht, wie sie diese Menschenmasse bedienen sollen; in den kleineren Cafés sitzt ein Kreis von Gentlemen comfortabel vorm Feuer und vierten Glase Sherry bei zugezogenen Fenstervorhängen. Cromwell-, Brompton-, Glosterroad scheinen durch Wagenmassen abgesperrt, bei Oxford Circus herrscht babylonische Sprachverwirrung und kein rother Omnibusconducteur versteht die Injurien seines blauen Rivalen. Ein schwüler Dunst von Parfüm, Cigarren und Champagner verbreitet sich über Haymarket: die nächtliche Lustbörse, mit bestimmtem Cours und nach Nationalitäten geordnet, wie die wirkliche Börse in Lombard-Street.

»Das Licht brennt blau, ist's nicht um Mitternacht?« citirte Krastinik vor sich hin. Ja, die Stunde der Geister und Gauner brach an, und ohne dem gedruckten Sirenengesange eines »wandelnden Mannes« zu folgen, der noch so spät die Annonce auf dem Rücken spazieren trug, daß in Cremorne Gardens zum unwiderruflich letzten Mal Fandango in türkischen Hosen getanzt werde, suchte der müde Fremdling sein Lager auf.

Schon früh am andern Morgen gürtete er seine Lenden, zu wandeln von Dan bis Bersaba. Piccadilly, das gestern Abend den koketten Putz seiner glänzenden Läden entfaltet hatte, athmete jetzt Frische und Lebendigkeit, wie eine junge Landpomeranze in ihrer ersten Season. Auf frisch begossenen Trottoirs zog eine Karawane von Landmädchen nach Conventgarden-Markt hinauf, Früchte und Blumen und Gemüse bringend. Der feuchte Duft des Green- und Hyde-Park reinigte die Luft, die noch nicht vom Straßenverkehr durchseucht. Milchhändler begannen ihr eintöniges Geschrei, Fleischerkarren rasselten gen Tottenham Court Road, Fischverkäufer marschirten von der Themseseite her heran. Die unvermeidlichen Stiefelputzer-Boys in rother Jacke postirten sich bereits an den Straßenecken, um jeden Vorübergehenden mit der Bürste und flehendem Penny-Blick anzufallen. Einige Straßenjungen gaben ihre Anerkennung der ausgestellten Eßwaaren so unzweideutig zu erkennen, wo Auster- und Pastetenhändler ein Straßenfrühstück feilboten, daß man ehrenrührige Strafen an ihnen vollziehen mußte. Durch den Marmorbogen des Hyde-Park, wo als Schildwach der eiserne Herzog Wellington auf eisernem Roß herniederstarrt, flutheten morgendliche Spaziergänger, Maiglöckchen im Knopfloch, den gelben Olivenstock als Gruß-Stange benutzend. Knallrothe Handschuhe mit breiten schwarzen Streifen schienen Mode – es fiel dem Oesterreicher schwer aufs Herz, daß er dieselben an seinem sonst tadellosen Anzug vermißte.

Welch endlose Schnur von Roß und Reisigen! Blaue Bänder, gleich Preußens loyalen Kornblumen, verkünden, daß man zu St. Sport von Epsom, dem Nationalheiligen, wallfahrte. Heut war Derbytag. Ganz England scheint solches Rennen nach einem geschäftsmäßig, Uhr in der Hand, erledigten Pensum Vergnügen.

Krastinik bummelte noch eine Zeitlang hin und her, über Knightsbridge nach Brompton hinein. Die vielen Fisch- und Fleischbuden legten soeben ihre Waaren aus. Dieselben verbreiteten jedoch einen solchen Blut-und Salzgeruch und die Verkäufergruppen brüllten mit ihren Stentorkehren den eleganten Spaziergänger so mißtönig an, indem sie mit ihren nervigen nackten Armen und blutigen Schürzen wenig appetitliche lebende Bilder stellten, – daß Xaver sich hülfeflehend nach einem Cab umsah, das langsam vorbeitrottete. Kaum hatte das immer wache Auge des Rosselenkers ihn erspäht, als auch der Peitschenstiel sich senkrecht in die Lüfte erhob zum Zeichen der Verständigung, worauf mit einem kräftigen, »All right, Sir!« der hübsche rothgrünbemalte zweiräderige Hansom heranschoß. »Das geht fixer, wie die faulen Fiaker und Droschken des Kontinents!« dachte der Oesterreicher; laut wies er den Cabman an, ihn nach »Bolton's Terrace« zu fahren. Es dauerte jedoch eine Weile, eh ihn der Mann verstand. Endlich rief er: »Ah, to Bolton's, I see«, indem er »Boltons« wie »Baltons« aussprach. Noch blieben dem Fremden die Geheimnisse des Cockney-Slang verschlossen, wonach »paper« wie »piper« und »James« wie »Jimes« lautet. – Dies war also Bolton's Terasse. Eine nette freundliche Straße mit kleinen Vorgärtchen, jedes Haus mit einer kurzen Treppe und zwei Säulen an der Thür versehen. Alles so glatt, reinlich, frisch, wie ein Sinnbild des englischen Comfort.

Als er vor einem der Häuser das Cab entließ und die Treppe hinanstieg, öffnete sich die Hausthür von selbst und ein alter Herr, groß, aber von etwas gebückter Haltung, trat ihm entgegen. Beide umarmten sich.

»My dear fellow«, rief Lord Dorrington fröhlich, »das ist gut, daß Du da bist. Ich sah Dich vom Erdgeschoß aus, wo wir essen, der Kühle wegen. Komm nur gleich hinunter, Lady Dorrington wird sich sehr freuen.« Er hatte dies alles Deutsch gesagt, unterbrach sich aber: »But English is better for you!« und unterzog sich von nun ab der Mühe, das Kauderwelsch des radebrechenden Fremdlings zu verstehen und zu corrigiren.

Ein Blick in das edle Auge des altes Mannes genügte. Man erkannte sofort in ihm einen jener seltenen Menschen, denen stete Rücksichtnahme auf Andere, philanthropische Humanität, zur andern Natur geworden.

Ein Abglanz dieses Wohlwollens hatte sich sogar den un-englischen Zügen seiner Gattin eingeprägt, so völlig sie von dem vornehmen Race-Typus des Lords abstach. Obschon ihr Haar ergraut, schien die stattliche Matrone eine scharfe Beobachtung der Lebensverhältnisse bewahrt zu haben. Ganz Weltdame.

Sie begrüßte Xaver mit Wärme. Dieser küßte ihr ehrerbietig die Hand. »Darf ich mich nach Ihrem Befinden erkundigen, gnädige Tante?«

»Danke, lieber Cousin,« erwiderte sie mit stark österreichischem Accent. »Ich lebe ja nun schon so lange in England, daß ich mich völlig acclimatisirte. Also willkommen hier! Ich sah Sie nicht, seit Sie so groß waren.«

Sie bezeichnete eine Minimal-Höhe mit der Hand. »Was macht Ihr Bruder, der Majoratsherr?«

»Er sendet Lady Dorrington, geborene Gräfin Krastinik, seine verbindlichste Empfehlung. Uebrigens sehe ich ihn sehr selten. Wir haben verschiedene Neigungen. Er betreibt auf seinen Gütern in Ungarn den edeln Sport der Fuchsjagd. Ich schwitze in meiner Garnison als Kavallerieoffizier. Sie wissen, ich bin kürzlich übergetreten – war früher Ingenieurhauptmann, weil ich mich mit Leib und Seele für Kriegswissenschaft interessiere. Aber es ging halt nicht mehr; meine Familie meinte, ein Krastinik gehöre nur in die Kavallerie. Das allein sei ritterlich, ich dürfe doch nicht als bewaffneter Bücherwurm hinvegetieren. Auch reizte mich selbst der noble Pferde-Sport (ich bin ein wenig romantisch, gnädige Tante) – kurz, so wäre ich denn Rittmeister.«

»Wie lange hast Du Urlaub?« fragte Dorrington.

»Auf unbestimmte Zeit. Ich muß mich einmal auslüften. Man verbauert ganz. Und da hab' ich denn London als Ziel meiner Reise gewählt, weil Ihr ja so gütig waret, mich wiederholt anzufordern.«

»Sie sind hier zu Haus, lieber Neffe!«

»Das versteht sich,« rief der alte Lord. »Dein Vater, der General, war der Intimus meiner Jugend, als ich noch als Attaché bei der britischen Gesandtschaft in Wien stand. Ich betrachte Dich wie einen Sohn.«

»Ja und deswegen,« fiel die praktische Lady ein, »wollen wir uns auch mal ein wenig mit Ihrer Zukunft beschäftigen. Wie geht's Ihnen denn?«

»Schlecht und recht, wie ein armer jüngerer Sohn es verlangen kann.« Xaver zuckte mit vielsagendem Lächeln die Achseln.

»Oho, so! Nun, um Ihre Verhältnisse aufzubessern, wäre ja doch das Bequemste eine reiche Heirath. Wie, mon cher, sollten Sie nicht daran gedacht haben, als Sie nach England gingen?«

Er machte eine abwehrende Bewegung. »O nein. So sehr dies wünschenswerth wäre, verkaufen mag ich mich nicht!«

Lady Dorrington hob mit komischem Erstaunen beide Hände empor. »Verkaufen! Welch' ein Wort! Sie sollen eben thun, wie tout le monde! Nur ruhig, Lieber, wir werden das schon in die Hand nehmen. Ueberlassen Sie das meinem Takt!«

Xaver küßte ihr verbindlich die Hand. »Wie soll ich Ihnen danken für das Interesse, gnädige Tante, das Sie mir entgegenbringen! Doch fürs erste.. übrigens wird das wohl auch kaum so leicht sein wie Sie denken.«

»Das überlasse man mir! Ich denke doch, einem Grafen Krastinik stehen alle Pforten offen!« Und Lady Dorrington warf stolz das Haupt in den Nacken, als wäre sie der vereidigte und patentirte Anwalt für alle Generationen Derer von Krastinik. »Apropos, haben Sie viele ›introductions‹ nach London mitgebracht?«

»Nicht eine. All solche Pläne lagen mir ja ohnehin fern. Ich will nur einen Monat hier zubringen, um mich zu erholen – das ist Alles. Ich gedenke gar nicht, mich wieder in die Gesellschaft einzupferchen. Und im Sommer obendrein, wo sonst in ganz Europa die Saison längst endet! Wie drollig verschieden hier alles doch ist!«

Lord Dorrington lachte leicht auf, die Lady lächelte. »Nehmen Sie gleich einen Hinweis und guten Rath, lieber Xaver: Finden Sie nichts ›drollig‹, was ihnen hier auffällt. Das wäre in England der gröbste Verstoß. Bedenken Sie, daß gerade den Engländern alles ›drollig‹, vorkommt, was sie auf dem Continent sehen! Und jeder Brite nimmt stillschweigend an, daß man seine Sitten als etwas Superiores ehrt und anerkennt. – Nun, wir werden Sie schon in gute Gesellschaft bringen.«

»George, my dear,« wandte sie sich an ihren Gatten, »Nächsten Sonnabend ist eine ›Garten-Parthie‹ bei Egremonts. Sorgen wir dafür, daß unser Freund eine Einladung erhält, nicht?«

»Aha!« machte der Lord, indem er verschmitzt ein Auge zudrückte.

»Well. Das soll geschehn.«

Der Graf verbeugte sich. Seine vornehme Reservirtheit verbot ihm, sich näher zu erkundigen, wer »Egremonts« seien. »Ich nehme das dankbar an. Heut Nachmittag will ich noch eine Karte bei unserem Botschafter abgeben; dann ist mein gesellschaftliches Tagewerk fürs erste gethan.«

Man unterhielt sich eine Weile über allgemeine Gegenstände. Es zeigte sich, daß der schneidige Kavallerist neben der gebräuchlichen Theilnahme für Pferde und Wettrennen als begeisterter Amateur der Musik und besonders der schönen Litteratur seine freien Stunden widmete. Als er jedoch seiner Landsmännin ein Ungarisches Lied vorsingen wollte und sie eifrig dabei accompagnirte, schienen ihre beiderseitigen Sprachkenntnisse im Magyarischen nur mangelhaft entwickelt. Hatten sie doch ihr Lebenlang nur Deutsch gesprochen und auf ihren ungarischen Gütern selten verkehrt. Dies hinderte aber nicht, daß sie völlig darüber d'accord waren, die Deutschen seien eine maßlos arrogante und rohe Nation, welche gedemüthigt werden müsse.

»Die armen Franzosen!« seufzte Lady Dorrington wehmüthig. »Bismarck wollte Deutschland einen – und dafür mußten die Franzosen bluten. Und jetzt droht er schon wieder! Dies Deutschland will nie Frieden halten.«

»Hm!« Der alte Lord runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Sein englisches Gerechtigkeitsgefühl bäumte sich auf. Er vermied jedoch, mit seiner Frau, deren Bruder bei Königsgrätz als Divisionär gefallen war, über diesen Punkt zu rechten.

Lady Dorrington mußte sich verabschieden, um eine nothwendige Visite zu machen. Die beiden Männer plauderten bei einer Flasche Portwein und griechischen Cigaretten im Bibliothekzimmer weiter. Allerlei schnurrige und ernste Erinnerungen erwachten bei dem alten Herrn, aus der Zeit seines Aufenthalts in Wien, wo er als flotter Lebemann geglänzt hatte. Er erkundigte sich angelegentlich, ob die österreichischen Damen der großen Welt noch immer so naiv-liederlich seien. So gab er eine Anekdote zum besten, wie in einem gewissen Badeort die Damen am Fenster durch Operngucker zugesehen hätten, wie ihre Herren im See badeten. Dabei hatte die schöne Gräfin Mizi.., die in dem Rufe stand, systematisch ihre Liebhaber zu wechseln, naiv ausgerufen: »O, dies Jahr nehme ich Dorrington!« Man mochte wohl glauben, daß er früher ein sehr schöner Mann gewesen sei – noch die Ruine wies darauf hin. Der gute alte Herr kicherte behaglich mit wohlwollender Theilname für die menschliche Schwäche. »Die Arme! Sie ist nun auch schon lange todt!«

Allein, er wußte auch ernstere Details aus seiner diplomatischen Carrière zu erzählen. Hatte er sogar Metternich noch gut gekannt, der ihm echten Johannisberger oftmals vorgesetzt hatte. Auf den ließ er nichts kommen. Beeinflussen die persönlichen Verbindungen doch stets das objektive Urteil auch bei urteilsfähigen Geistern.

Und Lord Dorrington war ein Urteilsfähiger. Seine diplomatischen Spielereien lagen lange hinter ihm. Jetzt hatte er sich der Wissenschaft gewidmet und der Litteratur. In seinem Bibliothekzimmer hingen eine Reihe interessanter Zeichnungen und Portraits von berühmten Dichtern aus jener großen Epoche der englischen Litteratur zu Anfang des Jahrhunderts, die er in früher Jugend noch miterleben durfte und aus welcher er viele Autographen bewahrte. Als Xaver mit augenscheinlichem Eifer diese Sammlungen besichtigte, rief Dorrington, nachdem er ihn eine Zeitlang aufmerksam betrachtet hatte, plötzlich: »Et tu, Brute? Du bist ja auch ein Poet?«

Der k.k. Rittmeister ward dunkelroth. »Ich – ein Poet?« stammelte er. »Wie – kommen Sie darauf?«

»O! Ich lasse mich nicht beirren. Beichte mal: Bist Du nicht schon öfters mit dem Pegasus gestürzt?«

»Ich kann nicht leugnen..« machte Jener zögernd.

»Siehst Du wohl!«

»Aber wie.. errathen Sie das?«

»O ganz einfach. Ich bin nämlich ein ganz altmodischer alter Kerl und huldige immer noch fanatisch der Gall'schen Schädeltheorie, die jetzt ein überwundener Standpunkt sein soll. Ja ja, ich bin bekannt und gefürchtet ob meiner Manie, die Schädel zu untersuchen. Und doch hab' ich mich nie getäuscht. Habe Disraelis Schädel untersucht und Gladstones, und habe immer gesagt, daß trotz seiner Charakterfehler Disraeli noch die noblere Natur von den Beiden sei. Da haben wir ja jetzt seit lange die Bescheerung mit diesem Gladstone! Dieser eitle quack, dieser Charlatan und Doktrinär!« Er schimpfte noch eine Zeitlang auf den »Verräter«, dessen Haltung in der Irischen Frage ihn als Briten der alten Schule entrüstete.

»Und.. und,« warf Xaver hin, der sehr aufmerksam zuhörte. »Bei mir wollen Sie erkannt haben ...«

»Und ob! Hier der Winkel an den Schläfen über den Augen, der Schnitt der Augenbrauen.. laß mich mal Deinen Kopf untersuchen!«

Halb lachend, halb interessirt, gab Jener seine Zustimmung. Dorrington betastete seinen Hinterkopf genau, brummte eine Menge psychologisch – physiologisch – physiognomischer Lehrsätze durcheinander und constatirte aus einer Reihe phrenologischer Dokumente: »Zweifellos ein stark receptives, doch auch productives ästhetisches Organ vorhanden.« Er verbreitete sich noch lange über diesen Punkt. Xaver war auffallend still geworden.

»Ein Dichter!« sang es in ihm, als er nach Hause schritt. »Ein Dichter!« schien das Echo seiner Tritte zu wiederholen, als er mit unbewußt leichterem und stärkerem Schritt wie ein Triumphator dahinwandelte. Hatte er doch stets geahnt, daß etwas Besonderes in ihm schlummere. Stets war er einsam seinen Pfad fürbaß gewandelt. Auf der Kriegsschule hänselte man ihn als sauertöpfisch; später beim Regiment galt er als ein Gentleman und als tüchtiger Offizier, streng im Dienst, aber im Offizier-Casino zählte er durchaus nicht zu den beliebten Mitgliedern. Die Damen fanden ihn interessant, aber etwas steif. Ein paar Verhältnisse mit Damen der Aristokratie (dem Theater und Ballet hielt er sich fern, schon seiner beengten Geldverhältnisse wegen) hatte er gelöst, ohne dabei sein Herz beschwert zu finden. Immer suchte er etwas, was ihm seine Umgebung nicht bieten konnte »Ich habe manchmal auch meine idealen Stunden,« entgegnete er einmal bitter einem Componisten, der ihm vorgestellt wurde und der wie üblich von der Vereinsamung des Künstlers in der rohen Welt jammerte. – Ein Dichter! So mußte es sein.

Noch Abends beim Dinner im St. James Restaurant, wo er, das Parisian Dinner zu 5 Shilling verschmähend, für 3 Shilling ein opulentes Table d' hôte zu den Klängen einer Musikkapelle einnahm, grübelte er über dies Thema weiter. Es beschäftigte ihn so, daß er erst am andern Tage dazu kam, beim Botschafter vorzusprechen.

Dieser empfing ihn mit der Auszeichnung, die einem Krastinik gebührte (selbst wenn dieser halt nur ein jüngerer Sohn war) und stellte sich völlig zu seiner Disposition, wenn er ihm mit etwas dienen könne. »Wünschen Sie vielleicht bei Hofe vorgestellt zu sein, mein theurer Graf?«

»Excellenz verzeihen, wenn ich auf die hohe Ehre verzichte. Ich bin gleichsam auf der Durchreise in London..«

»Gleichsam incognito. Verstehe.« Excellenz sagten das mit einer so eingefleischt wichtigen Amtsmiene, als ob hinter diesem »Verstehen« ein wichtiges diplomatisches Geheimniß stecke. »Aber in die Gesellschaft wünschen Sie doch wohl eingeführt zu werden?«

Auch dies lehnte Krastinik ab. Als der verwunderte Gesandte aber in ihn drang, wenigstens den Rout der herrschenden Saison-Schönheit mitzumachen, der demnächst stattfinde – er sehe die Herzogin noch heut Abend und verbürge sich für sofortige Einladung –, sagte er zu.

Sie plauderten noch einige Zeit über – Nichts, wie nur geborene Aristokraten dieses vornehme Tätteln in anmuthiger Ungezwungenheit verstehn.

Zum Abschied empfahl ihm der Vertreter der vierten Großmacht, doch ja das Kochbuch seines verehrten Kollegen, des deutschen Botschafters Graf Münster, zu studiren. Krastinik fühlte sich befriedigt, als er die Marmorstufen hinabschritt, daß er diese lästige Pflicht erfüllt hatte.

Seufzenden Herzens machte er sich sodann gen Regentsstreet auf und verfügte sich zu Nicoll's, um einen Frack nach Londoner Schnitt mit Seidenaufschlägen zu erwerben, die man dort vorräthig findet für jedes erdenkliche Leibesmaß.

Mit dem stolzen Bewußtsein, daß der Prinz von Wales einen ähnlichen Frack mit seinem allerhöchsten Geschmack zu beehren geruht habe, wie wenigstens der Atelier-Maitre versicherte, kehrte er heim.

Düster philosophirte er über die Häßlichkeit dieses Kleidungsstücks, indem er sich im Spiegel musterte. Dabei ertappte er sich bei dem Gedanken, der ihm blitzschnell durchs Gehirn huschte: »Dichter sollten sich poetischer kleiden!«

II.

Egremonts waren Sonnabend »at home«, wie ihn eine Karte belehrte, die fast zugleich mit der Einladungskarte der Herzogin, bei welcher er anstandsgemäß eine Karte abgeworfen hatte, bei ihm eintraf.

Ein Billet seiner Tante und Gönnerin belehrte ihn, wer Egremonts seien. Mr. Egremont ein vielfacher Millionär, der sich von seinem berühmten Verlagsgeschäft zurückgezogen und zur Ruhe gesetzt hatte. Die Töchter, Miß Alice und Miß Maud, seien reizend.

Xaver lächelte und »verstand« – so diplomatisch, wie der Herr Gesandte.

Es war eine »Garten-Parthie«. Ein Theil der jungen Leute spielte Lawn-Tennis, der andre saß im Kreise und übte sich im »Flirting«. Man reichte nur Thee, Eis und Kuchen.

Miß Alice, welche leicht erröthete, als Lady Dorringtons Stimme hinter ihr mahnte: »Darf ich Ihnen meinen Neffen, den Grafen, vorstellen,« verzog unmerklich den Mund, als sie desselben ansichtig wurde. Sie hatte ihn sich größer und schlanker gedacht, einen gräflichen Husaren aus der Pußta.

Miß Maud hingegen rief sofort mit der ihr eigenen, nur einer englischen Jungfrau anstehenden Kordialität: »Hocherfreut. Les amis de mes amis sont mes amis. Mein Ideal, Lord Dorrington, den ich anbete, ist Ihr Freund – also!« Dabei schüttelte sie ihm kräftig die Hand.

Sie war sehr groß und schlank. Ihr Teint wachsbleich, ihre schwarzen Augenbrauen über der Stirn zusammengewachsen. Wenn sie redete, enthüllten ihre Lippen eine Reihe blendender, scharfer, aber zu großer Zähne. Sie hatte etwas stark Emancipirtes, obschon eine gewisse redliche Tüchtigkeit sich in ihren großgeformten Zügen aussprach, und war hochgebildet mit einem Strich in's »Blaue«. Wenigstens dachte Krastinik gleich an die etwaige Farbe ihrer Strümpfe.

Miß Alice war ebenfalls groß und leichtgebaut mit ziemlich platter, wenig gewölbter Brust. Ihre weiblich zarten Züge stachen merklich von denen ihrer Schwester ab und ihr rosiger Teint noch mehr, Ihr Kopf war klein und fein gemeißelt und das hinten à la Greque zusammengeknotete Haar hob die ovale runde Form des zarten Schädelbaues noch mehr hervor. In ihren ziemlich kleinen Augen, tiefblau, aber matt und glanzlos, lag ein zugleich kalt-kluger und schmachtender Ausdruck, der einem Psychologen vielleicht nicht ganz behagt hätte. Etwas Mißgestimmt-Spleeniges und Blasirtes gab sich in ihrer ruhigen überlegten Art so, als ob es sich um eine edle Schwermuth handele. Wenigstens fand dies Krastinik, der von ihrem ladyliken Wesen ein wenig bezaubert wurde.

Er schien überhaupt bezaubert. Denn er radebrechte aus Leibeskräften drauf los und schnitt Complimente, die zwar dem Genius der englischen Sprache Trotz boten, aber nichtsdestoweniger oder gerade wegen ihres un-englischen Klanges von den Damen »charming« befunden wurden. Eine Freundin Miß Mauds nannte ihn »nice«, eine Freundin Miß Alice's »lovely«, nachdem er auf die Frage, was ihm in England am besten gefalle, die auf der Hand liegende Antwort gegeben: Die Ladies! Und sobald erst die Ladies Jemanden als »nice« und »lovely« gestempelt, ist er als »Löwe« anerkannt.

»Wenn Sie die Engländerinnen so sehr bewundern, sollten Sie eine heirathen,« fügte Lady Dorrington insinuirend bei. Miß Maud horchte auf und ihr Blick nahm etwas Lauerndes an.

Bald darauf erschien auch der Herr, des Hauses, welcher den Fremdling in ein emsiges Gespräch verwickelte.

»Ja, Sir, es war der Stolz meines Hauses,« sagte Mr. Egremont, ein kurzer dicker Herr in weißer Weste, indem er zwei Finger vorn zwischen zwei Knopf-Oeffnungen besagter Weste steckte, und würdevoll das kahle Haupt wiegte, »– meines Hauses sage ich, Sir, daß bei mir die litterarischen Erzeugnisse der britischen Aristokratie veröffentlicht wurden. Man beehrte mich, Sir, mit allgemeinem Wohlwollen. Bei mir hat Ihre Gnaden die Herzogin Fitz-Doodle ihre ›Lyrischen Seufzer‹ ertönen lassen. Auch erschienen bei mir fast alle Keepsakes – rothseidener Einband mit Goldschnitt, sehr geschmackvoll –, in welchen sich die poetischen Seelen der britischen Aristokratie ein Rendezvous gaben. Ja, Sir, wir standen und stehen gleichsam in einer Familien-Verbindung zur ganzen Nobility und Gentry, wir sind und waren die Hoflieferanten der britischen Aristokratie für geistige Nahrung, you know. – Wir werden wohl übrigens selbst demnächst.. doch ich darf noch nichts sagen, bis Sache spruchreif.. kurz, ein Baronet-Titel wird demnächst von Ihrer Majestät der Königin verliehen werden.. hehe, hm! Ja, Mr. Count de Rasteinik, ich freue mich, Sie in diesem Lande begrüßen zu dürfen. ›Das unverletzbare Eiland der Weisen und Freien,‹ wie Sr. Lordschaft, Lord Byron, sehr treffend singen. Die britische Aristokratie, Sir, dieser Stützpfeiler unsrer gesegneten Constitution, gleicht jener Eiche der Freiheit..«

So schwatzte er ununterbrochen fort, bis Krastinik fast die Geduld riß. Auch suchte er vergeblich, das consequente Englisch-Aussprechen seines Namens zu corrigiren. »Count de Rasteinik« blieb er für den freien Briten, welcher diese Titelwörtchen ohne Unterlaß im Munde zurechtknetschte, als ob ihm das Aussprechen eines continentalen Adelsnamens eine geheime Wollust bereite.

Der hat ja Größenwahn! dachte der Graf, dessen vornehmes Gefühl dies aufgeblasene Parvenuthum bedenklich beleidigte.

Mr. Egremont, dessen Eitelkeit übrigens von Lady Dorrington als anerkennenswerthes Streben nach dem Höheren und löbliche Gesinnung patronisirt wurde, trug sodann in größerem Kreise mit vieler Pomphaftigkeit die architektonischen Absichten vor, welche er bei Erbauung eines Stammsitzes für seine kommende Adelsfamilie durchführen wollte. Dies Ahnenschloß gedachte er im Tudorstil auszubauen. Natürlich gemäß dem Stil der übrigen alten Mansions der »britischen Aristokratie«. Er mißbrauchte dies Wort, als wolle er durchaus gegen das zweite Gebot freveln: Du sollst den Namen Deines Götzen nicht unnützlich führen.

»Und Sie, mein theurer Xaver?« wandte sich Lady Dorrington mit aufmunterndem Lächeln an ihren Neffen, »Sie bauen ja wohl an Ihrem Schloß? Der Neubau wird hoffentlich in großartigem Stile ausgeführt?«

»So großartig es unsre, wie Sie wissen, gnädige Tante, sehr beschränkten Verhältnisse erlauben,« erwiderte Jener, nicht ohne Verlegenheit.

»O versteht sich! Ihre Verhältnisse sind so bescheiden!« rief sie lächelnd, obschon dabei leicht errötend. »Porphyrsäulen am Portiko, wie ich hoffe. – Und Ihr Marstall verlangt ja eine beträchtliche Renovirung. Der weitere Ausbau – eine Tasse Thee, liebe Maud? Danke.« Diese, welche selbst als Wirthin ein Thee-Tablet umherreichte, sah, wie der Graf sich auf die Lippen biß und die Stirne runzelte. Und der schreckliche Verdacht stieg in ihr auf, der mögliche Freier möge gar wenig Geld besitzen. Demgemäß eine Art Glücksjäger, der wohl auf Erbinnen spekulirte. Durch einige schlaue Fragen, die sie that und die er arglos beantwortete, schien ihr dieser Verdacht Gewißheit zu werden. Ihr kam er überhaupt zu unbedeutend vor; sie beschloß daher, sich selbst möglichst aus dem Spiele zu halten. Mochte Alice thun, was sie wollte.

Nachher versuchte Xaver das edle Lawn-Tennis zu lernen, wobei die unreifen jungen Kälber – die Engländer werden erst mit 30 Jahren Männer – ihn gutmüthig unterwiesen, mit großherzigem Mitleid dem Continentalen seine Unerfahrenheit zu Gute haltend.

Die Damen umringten den »distinguished foreigner« und sein Radebrechen gefiel ihnen so wohl, daß er der Hahn im Korbe schien und einen freundlichen Eindruck zurückließ.

Lady Dorrington beglückwünschte ihn ernsthaft zu seinem »Succeß«, wie sie es nannte, und ließ verschiedene Ziffern über die etwaige Mitgift der Egremonts fallen.

Xaver schwieg. Der alte Egremont mißfiel ihm sehr. Der leidet ja an Größenwahn! dachte er.

III.

Auch der Ball bei der Herzogin mußte überstanden werden. Die Gesellschaftsstunde nahte. Wappenkronengezierte Karossen, vollgepackt mit Fracks und Ballroben, rollten heran. Ihre Räder wurden übertönt vom Donnern der Messingklopfer, wenn die gallonirten gepuderten Footmen vom Hinterbrett absprangen, indem sie ihre weißen Seidenstrümpfe, sammtenen Kniehosen und Schnallenschuhe vor dem plebejischen Straßenschmutze sorglich hüteten. Der Portier öffnete unablässig, und der Fremde erstaunte baß, auf den Teppichtreppen die Gäste lagern zu sehn nach guter Londoner Sitte, weil die engen Räume von der ungeheuren Zahl der Geladenen bald überfüllt. Eine hektische Röte schien auf jedem Gesicht zu fiebern, die Luft scheint fieberhaft erhitzt. London gleicht einer Schwindsüchtigen, die sich zu Tode tanzt. Die Ball-Menge, dichtineinandergedrückt verschwamm in der Entfernung zu einer einzigen schwarzflimmerigen Masse, wie eine dicke Häufung von Steinkohlen.

Nachdem Krastinik die Herzogin begrüßt, welche am Eingang des Saales hundertmal gegen jeden Eintretenden den Fächer schwenkte und ein verbindliches Lächeln austauschte, fühlte er sich in den großen Drawing Room geschoben, wo zwei tanzende Paare im denkbar schleppendsten Tempo sich drehten und beide Wände entlang eine dichte Masse von Herrn und Damen sich staute. Das Ganze machte einen völlig physiognomielosen Eindruck. Mechanisch schien man Kravatte, Lorgnon, Kopfputz und Schleppe zurechtzurücken, die Conversation stockte gänzlich und nur ein halblautes Summen schwirrte durch den Saal.

Krastinik sah sich verzweifelt in seiner Nähe um. Da ihm das Schweigen unerträglich wurde, wandte er sich an einen zunächst Stehenden und stellte sich mit einer Verbeugung vor: »My name is Count Krastinik.« Der Insulaner gefror förmlich zur Salzsäule. Anfangs schien er schlechterdings nicht zu begreifen, was dieser Mensch von ihm wolle. Dann suchte er seinen steifsten Bückling aus dem Lexikon der Anstandsformeln hervor und reckte, ohne weiter ein Wort zu verschwenden, seinen Giraffenhals nach entgegengesetzter Richtung.

Krastinik stutzte etwas, faßte sich jedoch und versuchte die gleiche Selbstvorstellung bei einem nächsten. Dieser starrte ihn feierlich an, räusperte sich verlegen und murmelte: »Oh indeed! Delighted. to be sure.« Daß er nun selbst verpflichtet sei, seinen Namen zu nennen, schien ihm ganz unfaßlich.

Mit dem Mut der Verzweiflung, schoß der arglose Fremdling endlich auf einen Herrn in indischer Uniform, von dessen bronzirtem Teint sein strohgelber Schnurrbart pikant abstach, los. Der Herr hatte nach Pariser Sitte die Haare vorn in die Stirn geklebt und unter der Manchette ein silbernes Armband nach unten baumeln. Das mußte ein Mann sein, der viel umhergekommen und continentale Sitten kannte. So verbeugte sich denn Krastinik zum dritten Mal und schnarrte verbindlich: »My name is Count Krastinik,« wobei er diesmal hinzufügte: »Captain in the Austrian service.«

Der also jählings Ueberfallene schien doch ein wenig verblüfft, doch gewann er rasch seine Haltung und nickte mit gönnerhaftem Lächeln: »Höchst erfreut.« Dann deutete er leicht auf sich und nannte sich: »Sir Thomas de Mowbray, vom Bombay Stabscorps.«

Das Eis war gebrochen. Ohne daher die stieren, verwunderten, ja mißbilligenden Blicke der Umstehenden zu würdigen, verlautbarte sich der arme Ausländer nach einer Pause in seinem stammelnden Englisch: »'s ist sehr heiß.« »Sehr heiß,« bekräftigte Jener trocken, als ob er eine nicht unbedeutende neue Wahrheit entdecke. Und sämmtliche Umstehende reckten die Hälse und murmelten – einige bewegten, wie automatisch, lautlos die Lippen: »Sehr heiß.«

Graf Xaver fand diese geistvolle Bemerkung doch eigentlich nicht abschließend. Er versuchte also noch etwas geistreicher zu werden. »Viele Schönheiten!« warf er hin mit der Miene eines Weltmannes, der sich ganz zu Hause fühlt.

»Very! – Well – rather« kam es zögernd aus dem Munde seines neuen Bekannten und Krastinik merkte, wie ein gradezu mißtrauischer Blick ihn streifte. »Was will der Mensch, wer ist er, wie hat er sich herverirrt?« lag in diesem Blick. Allein, eine kurze prüfende Musterung schien ihn zu beruhigen, daß der seltsame Fremde in seiner Art ein Gentleman sei, und so setzte er denn die Unterhaltung fort.

Es war lehrreich zu beobachten, mit welcher souverainen Herablassung der hehre Brite diese exotische Pflanze behandelte. Nicht etwa, als ob er eine unartige Gleichgültigkeit und Geringschätzung affektirt hätte – im Gegentheil. Aber grade seine Liebenswürdigkeit, dies verächtliche Wohlwollen, mit welchem er auf die oberflächliche Conversation des mühsam radebrechenden Grafen einging, hatte etwas unsäglich Beleidigendes. Manchmal wandte er sich bei einer auffälligen Bemerkung des Fremden mit einem freundlichen und entschuldigenden Lächeln zu den neben ihm Stehenden um, als wolle er sagen: Das sind nun die sogenannten Continentalen. Da haben Sie ein Prachtexemplar des »Foreigners«! Haben Sie Nachsicht! Was kann man von Barbaren verlangen? – O diese »Ausländer«! Welche Verletzung der herkömmlichsten Sittlichkeit!

Endlich riß Krastinik die Geduld. Fortwährend sah er die Blicke der Umstehenden, Umsitzenden und Umschwitzenden mit ruhiger Würde auf sich gerichtet und er fühlte, daß sein Benehmen (er war allmählich wienerisch lebhaft geworden) mißliebig auffiel. Als er gar den steifliebenswürdigen Sir Thomas de Mowbray aufforderte, ihn doch einer Lady vorzustellen, welche diesen mit huldvollem Neigen des Fächers begrüßt hatte, runzelte dieser leicht die Stirn und erstarrte in unnahbarer Respektabilität. Das war aber auch zu stark! – Krastinik preßte seinen Chapeau Claque an sich, absolvirte einen flüchtigen Handshake mit Sir Thomas, wand sich durch die Menge, empfing von der herzoglichen Wirthin am Ausgang dasselbe krampfhaft stereotype Lächeln (sie erkannte ihn offenbar gar nicht), warf unten im Parlour einen entsagenden Blick auf das fabelhaft kostbare, aber nur auf Damen berechnete süße Buffet und warf mit erleichtertem Aufathmen seinen Ueberzieher um. Dann schritt er den Portiko hinaus, wobei er einige auf der Treppe herumlungernde Gentlemen – die zu erstaunen schienen, als er höflich den Hut zum Abschied zog – hinter sich murmeln hörte: »Ein Ausländer!«

Krastiniks cholerisches Temperament gerieth in gelinde Wuth. Als er in sein Hotel zu so später Stunde hineinfiel (alle Restaurationen waren ja längst geschlossen und nach sieben Uhr giebt's nirgends etwas Ordentliches mehr) kaute er verdrießlich an einem Beefsteak und wasserbegossenen gequollenen Erbsen – wofür er nachher auf der Bill fünf Shilling berechnet fand.

IV.

Als er aber am andern Morgen seinem alten Freunde Dorrington im Oxford- und Cambridge Club, wo dieser ihn als Gast eingeführt, sein Abenteuer erzählte, brach dieser in ein herzliches Gelächter aus. »Ja, my boy, haben Sie denn keine Ahnung, was für einen ungeheuren Frevel wider englisches Decorum Sie begingen? Hier stellt man sich nie selber vor, sondern der Wirth, nachdem er den Wunsch beider Personen eingeholt, vermittelt das. Und die Dame grüßt stets zuerst – auch auf der Straße, merk' Dir das! –, um zu zeigen, wen sie überhaupt kennen will. Nun, wirst Dich schon daran gewöhnen. Gutes Ale dies, was?« Er wies auf das schäumende Gebräu, das der stattliche Clubdiener, dessen ganzes Vokabularium sich auf Yes, Sir! Please, Sir! zu beschränken schien, mit feierlicher Würde eingoß. »Wird nur hier gebraut. Ist das Haus-Ale dieses Clubs allein. Sogar der Wiener Bierkönig Dreher hat sich hier daran delektirt.«

Als sie nachher, den prachtvollen Bibliothekraum durchschreitend, im Smoking-Room ihren Mokka schlürften und den Schachspielern zusahen – (die arbeiteten, ohne eine Silbe zu wechseln, nicht minder eifrig wie die professionellen Spieler in Simpsons Cigar Divan am Strand, wo Zuckertort, Steinitz und andere so oft mit Amateurs aus dem Schachclub in Arundelstreet gespielt) – schlug Dorrington dem Grafen vor, mit ihm einer Mrs. O'Donnogan eine Visite zu machen. »Irländerin. Schöne junge Wittwe. Reich, gute Parthie.«

»Meinethalben. Das kann nichts schaden,« nickte Jener. Sie machten also den »call«. Xaver war in der That erstaunt über die weltgewandte Liebenswürdigkeit der reizenden Dame, die eine Meisterin des »Flirting« schien und alle Künste der Koketterie beherrschte. Sie besaß einigen Esprit und offenbar die elegante Salonbildung, welche die Engländerinnen auszeichnet, deren nervöser Halbbildungstrieb unersättlich nach allen geistigen Anregungen hascht – bei ihren unleugbar größeren intellectuellen Fähigkeiten, im Vergleich zu ihren continentalen Schwestern, ein ganz natürlicher Vorgang.

Uebrigens schien die pikante Dame ein wenig »frei«, »französisch«. Es streifte fast an die Grenze des guten Tons, wie sie immer und immer wieder mit ihrem Hündchen und ihrer Katze anmuthig liebelte. Sie hatte die Thiere abgerichtet, sie regelrecht zu küssen, was sie mit ihren appetitlichen Schnäuzchen denn auch so artig bewerkstelligten, daß den männlichen Zuschauern dabei das Wasser im Munde zusammenlief.

Uebrigens sprach Mrs. O'Donnogan ziemlich geläufig Deutsch, da sie natürlich in jedem Punkte à la mode bleiben wollte. Auch betrachtete sie den Oesterreichischen Hauptmann und Grafen mit aufmerksam neugierigen Augen, als Lord Dorrington etwas ironisch auf dessen verstohlenes Dichterthum anspielte.

»Ja, er ist ganz weg!« neckte der freundliche alte Herr, als er am Abend zum Dinner seiner Gattin ihren Neffen und dessen Abenteuer mitgebracht hatte. »Unsre Irische Freundin hat ihn captivirt. Sein kugelfestes Herz steht in Flammen.«

»Ich kann nicht leugnen,« bekannte Krastinik unbefangen lachend, »daß ich sie reizend finde. Dieses goldige Haar! Charming! O die süße englische Sprache! Sie allein drückt aus, –«

»Was Sie empfinden?« Lady Dorrington erhob sich nach englischer Sitte, um die Herrn bei der Weinkaraffe allein zu lassen und oben im Drawing Room den Thee zu bereiten. »Goldiges Haar? Man denke! Ja, bei 3000 Pfund Rente findet sich das Goldige von selbst. Eh bien, lieber George, sage unserm Freunde doch, was ich darüber denke. – Wissen Sie was, lieber Xaver? Zeigen Sie doch mal Ihre poetische Geschicklichkeit! Sie schildern so feurig die Hunde- und Katzen-Verliebtheit der schönen Frau. Machen Sie darüber einen Vers und –« flüsterte sie ihm halblaut ins Ohr, als er aufspringend ihr chevaleresk die Thüre öffnete, »schicken Sie ihr's.«

»Aber, gnädige Tante!«

»Das heißt,« fügte sie schelmisch drohend hinzu »daß Sie ja nie verrathen, ich hätte das empfohlen!«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

»Madam,

Es ist stets gefährlich, wenn man einem Reimer den leisesten Wunsch ausspricht, seine Verse sehen zu wollen. So sind wir, nous autres rimeurs! Reicht man uns den Finger, nehmen wir die ganze Hand. Der arme Herzog Clarence verlangte ein Gläschen Malvasier und wurde in ein Faß gesteckt.

Sie sahen sich genöthigt, den Wunsch aussprechen zu müssen, daß eine Probe meiner Stümperei Ihren schönen Augen unterbreitet werde. Me voilà! Da marschiren schon acht Verszeilen heran, um Ihnen zu huldigen. So bekommen Sie einen bittern Vorgeschmack der Lieder, die Ihrer vielleicht noch harren. Seien Sie mir nicht allzuböse, wenn ich Ihre Geduld auf eine so harte Probe stelle. Lady Dorrington würde mich schön auszanken, wenn sie erführe, wie ich wegelagere. Unsereins stürzt sich eben auf jeden Leser, der Herzensgüte genug besitzt, um gereimte Ungereimtheit zu ertragen.

Aber ich sehe, daß meine Weitschweifigkeit sich sogar auf diesen Brief ausdehnt. So gestatten Sie mir denn die Versicherung, daß mein schlechtes Gedicht wenigstens den einen Vorzug besitzt, ebenso aufrichtig und wahr zu sein, als die Verehrung, mit der ich bin

Ihr ergebener Diener Graf Xaver Krastinik.« Das beigelegte Impromptu lautete: Circe hat ein Thier einst verwandelt Männer, ihre Liebesglut zu kühlen. Minder grausam zwar hast du gehandelt, Lässest Thiere menschlich für Dich fühlen. Doch wo Thiere selber lieben müssen, Laß uns, Grausame, ihr Glück nicht schauen. Daß es Thieren nur erlaubt zu küssen, Kann kein neidisch? Mannesherz erbauen. Es war sogar eine Uebersetzung in denkbar unbeholfenstem Englisch zugefügt: Circe changed men, who dared speak of love, To animals once with her magic staff. Less cruel indeed your witcheries prove, When your beauty's enchanting cup we quaff.

u.s.w. »Geehrter Herr,

Ich bin morgen Mittag at home. Einige Freunde nehmen bei mir ihr Lunch. Vielleicht werden wir den Vorzug Ihrer Gegenwart haben? Sie sind freundlichst geladen.

Ihre ergebene Ellinor O'Donnogan. P.S. Dank für die hübschen Verse.«

Das Lunch bei der Tochter Grün-Erins gewann einen etwas abenteuerlichen Anstrich durch die stark gewürzte Mischung der Gesellschafts-Pastete. Da war eine fettige süddeutsche Sängerin, die sich einen italienischen Namen zugelegt hatte.

Da war ein kleiner Franzose mit endlosem Henri-Quatre, der trotz eines halbjährigen Aufenthalts in London nur die Phrase »Fifteen years ago!« gelernt hatte und, als der Name »Bulwer« fiel, sofort von »Boulevard« zu plappern anfing.

Da war ein jugendlicher Plantagenbesitzer aus Cuba, der jedem Unglücklichen, mit dem er nur drei Worte gewechselt, die echtesten der echten Havannas meuchlings auf die Brust setzte – eine Magnaten-Großmuth, welche der davon Betroffene meist verfluchte, sobald er drei Züge des kostbaren Gewächses gekostet. Doch Don Rosetta's Etui ward niemals leer und füllte sich wie eine Cisterne aus unbekannten Tiefen.

Da war ein deutscher Maler, nicht ohne ein gewisses Sedan-Lächeln, das den Reserveoffizier verrieth, welcher nichtsdestoweniger aus seiner tiefen Verachtung gegen alles Deutsche kein Hehl machte.

Da war der unvermeidliche junge Musiker jüdisch-slavisch-deutscher Herkunft, wie er blaßwangig und schwarzlockig in den Londoner Drawing-Rooms schwarmgeistert.

»Er ist ein Bohemian,« stellte ihn die patronisirende Wirthin mit zweideutigem Wortspiel dem Grafen vor. (»Bohemian« bedeutet ja englisch sowohl »Böhme« als »Bohémien« in der Pariser Bedeutung des Wortes.) »Und Sie, Graf, Sie sind ja auch ein Böhme, nicht? Das sind wir ja drei Böhmen! Denn ich, ich bin eine richtige Bohemienne, ich liebe die Freiheit, die Bohême!«

Dabei rümpfte sie das aristokratische Adlernäschen und äugelte mit unbeschreiblichem Dünkel durch ihr Lorgnon, indem sie mit den drei Gardeoffizieren tändelte, die außer einem dicken Parlamentsmitglied den Rest der Gesellschaft bildeten.

Das Lunch verlief recht lebhaft. Die Schildkrötsuppe mochte selbst einem indischen Nabob schmecken und das Salmon-Steak einem Lordmajor der guten Stadt London. Auch für die Wittwe Cliquot schien die lebenslustige Wittwe von verständnißvoller Sympathie beseelt. Der Champagner schmeckte Krastinik besser, als im »Hotel Hungaria« beim Pester Wettrennen – weiter gingen seine vergleichenden Erinnerungen ja nicht, da ihm Paris noch ein Buch mit sieben Siegeln.

Gegen ihn war die schöne Wirthin ziemlich kühl und übte sich nur kräftig in allgemeinem »Flirting«, in welcher edeln Wissenschaft sie Meisterin vom Stuhl zu sein schien. Es war, als wolle sie ihm andeuten, daß sie seine etwaigen Intentionen wohl verstehe, ihm aber keine Avancen machen wolle. Sie hübsch, vermögend, Wittwe, von guter Familie – er, ein continentaler Graf, aber vermuthlich wenig bemittelt, wenigstens nach englischen Begriffen. So leicht ging es mit der Brautschau nicht. Man mußte sich vorsehn.

Nicht sonderlich befriedigt, küßte Krastinik zum Abschied die Hand, was auf sie als nicht-englisch zwar etwas befremdlich, aber nicht unangenehm wirkte – (diese continentalen Sitten bewahren noch so etwas Romantisches!) – erhielt aber die Erlaubniß, sie so oft als möglich, während er London mit seinem Aufenthalt beehre, zu besuchen. Dies mit vielsagendem Augenaufschlag.

Krastinik trieb sich Wochen lang im Londoner Vergnügungsleben umher. Er speiste viel im Criterion Restaurant, nahm seinen Abendpunsch im Café Monico, schlenderte in Canterbury Hall und Cremorne Gardens umher, besichtigte Foot-Ball Races im Windsor Park, bestand kleine Abenteuer im nächtlichen Haymarket, ließ sich im Krystallpalast von deutschem Orchester Händel'sche Oratorien vorblasen-und singen, schloß auch die vielen Museen und sonstigen Wissensanstalten und Sammlungen Londons nicht von seiner Aufmerksamkeit aus.

Zu Mrs. O'Donnogan kam er mittlerweile in ein freundschaftliches Verhältniß und schnitt ihr gewaltig die Cour. So las er ihr bald ein neues Impromptu vor, das er auf sie verfaßt.

Ach, da ist schon Numero 70!

Ach, vor ihrer Thüre bin ich!

Sie, in die mein Herz verliebt sich,

Ist so grausam und so minnig.

Nennt sich selbst Bohemienne.

Sagt, da Musiker und Grafen

Sie als echte »Böhmen« kenne,

Daß drei Böhmen hier sich trafen!

Bei Vorlesung dieser gutgemeinten Reime unterfing er sich jedoch, in aller Ehrfurcht ihr die Thatsache zu unterbreiten, daß der ›Böhmer-Graf‹ in Wahrheit einem der ältesten Adelsgeschlechter Oesterreichs angehöre, welches manche feldherrliche Heerestrommel (von der man nur hört, wenn sie geschlagen wird) in den Geschichtsannalen zu den Seinen zähle. Uebrigens sei er kein Böhme, sondern ein ritterlicher Magyar.

Das wirkte denn doch erheblich auf die kleine Frau und dämpfte die beiläufige Geringschätzung, mit welcher man in England auf continentale Grafen herabzusehen pflegt.

V.

Man hatte eine Landparthie zu Wasser nach Richmond gemacht – Krastinik, Dorringtons, die O'Donnogan, Alice Egremont. Maud hatte sich entschuldigen lassen: sie räumte vorsichtig ihrer Schwester das Feld.

Die Sonne tauchte wie eine schwefelgelbe runde Glocke in die Themse und schien dann zu versinken, wie ein umgestürzter Goldkelch, der seinen güldenen Strahlenwein langsam verrinnen läßt. Zwischen den schwarzgrünen Taxushecken von Richmond Park blitzte noch hier und da eine grellrothe Centifolie auf; die Fenster des Schlosses von Twikenham glänzten wie Rubinen.

Als man an Pope's Villa vorüber kam, rief Dorrington neckisch: »Nun, spring' aus Land, Dichter Xaver, wie Wilhelm der Eroberer, und küß' den Uferrasen!«

»Warum?« gab Xaver etwas erröthend zurück.

»Um die ganze englische Muttererde der Dichtung Dein Eigen zu nennen.«

Mrs. O'Donnogan und Miß Alice lachten verstohlen. Das Dichterthum des gräflichen Rittmeisters, welches durch Dorringtons wohlwollende Späße nun schon lange bekannt geworden, amüsirte sie.

Die lebhafte Irin hänselte ihn ein wenig. Bei Miß Alice aber mischte sich der Neugierde eine gewisse Verachtung. Wie vulgär! Wozu Verse schmieden! Damit macht man sich nur lächerlich und verräth eine selbstüber, hebende Einbildung. In deutschen Büchern (Alice cultivirte letzthin das Deutsche besonders eifrig, was ja auch ohnehin bei der englischen Gesellschaft in Mode kommt) fand sie dafür die Bezeichnung »Größenwahn«.

Kein Zweifel, der gute Graf litt etwas an Größenwahn.

Nach dem Ausflug kam man in einer kleinen Villa in Chelsea am Themse-Embankment zusammen, welche Dorringtons gehörte, die sie aber nur selten bewohnten, und nahm dort auf dem Balkon den Thee ein. Alice hatte ihren Diener, die O'Donnogan ihren Wagen dorthin bestellt, um sie abzuholen.

Der Abend, der mit purpurnen Fittichen umherfächelte, übergoß alle Wiesen und Bäume mit verschwenderischer Pracht.

»Eine rothe Weihrauchkerze auf dem Tabernakel der Schöpfung!« Krastinik freute sich seiner Gleichnißfindigkeit, eitel wie ein Poet von zwei Semestern. Der wohlwollende Lordunterließ nicht, die Damen auf den Tiefsinn der Krastinikschen Phrase aufmerksam zu machen, worauf auch Milady eine gehörige Erläuterung hinzufügte. Die sogenannte Poesie sollte als Mitgift-Kupplerin herhalten.

Eine eigenthümlich schwermüthige Stimmung bemächtigte sich der kleinen Gesellschaft. Selbst Mrs. O'Donnogan blickte ernst vor sich nieder.

»Wenn man bedenkt, daß auf solchen Abend und auf jede Sonne die Nacht folgt!« sagte sie plötzlich.

»Ganz was ich eben dachte!« hauchte Miß Alice.

»Pah, wer weiß, ob die Nacht nicht der gesunde Schatten des Lichtes ist,« warf Lord Dorrington hin.

»So wie etwa der Tod den Schatten des Lebens bildet.«

»Oder auch umgekehrt,« seufzte die Lady halblaut.

»Sehr richtig, gnädige Tante,« meinte Krastinik.

»Vielleicht ist das Leben grade der leuchtende Schatten, den der Tod wirft. Denn der Tod ist ja doch das eigentliche Sein, zu dem Alles zurückkehrt. Unser Leben – mein Gott, was bedeutet denn das! Eine Art Traumbild zwischen Schlaf und Schlaf, ein kurzes Nachtwachen.«

Niemand antwortete. Nach einer Pause hob der alte Lord an, mit leicht zitternder Stimme: »Ja, das sagst Du wohl so, lieber Xaver. Aber Du bist eigentlich noch zu jung, um recht zu fühlen, wie wahr das ist, was Du sagst. Blickt man so auf sein Leben zurück – well, wir säen und werden doch wohl nimmer ernten. Dies ewige Säen bekommt man satt. Da dreht man sich ewig im selbstumgrenzten Kreis gemeiner Freuden und gemeiner Leiden. Und diese ganze Erde, die so strahlend vor uns liegt – nichts als der Spielball einer unbekannten Gewalt, durch den Abgrund der Ewigkeit hingeschleudert.«

Wieder antwortete Niemand. Nur Miß Egremont hob nach einer Weile ihre ernsthaften Augen zu dem greisen Sprecher auf und lispelte: »Aber das Jenseits, Mylord!« Dies Wort rief gleichsam eine automatische Geistesschwingung in der galanten Irländerin wach und sie schmollte betrübt: »Ach gehn Sie, Sie Skeptiker! So muß man nicht denken, so soll man nicht denken.«

Dorrington zuckte ungeduldig die Achseln und starrte in die scheidende Sonne. Plötzlich sprach seine Gattin:

»Und das Alles, ist noch nicht das Schlimmste. Aber auch wir Menschen verstehn ja einander nicht. Mir ist, als ob keine Seele der anderen lehren könnte, was ihr gelehrt ward, als ob kein Mensch den andern sähe wie er wirklich ist, als ob kein Herz dem andern Herzen ganz bekannt wäre.«

Und die beiden alten Leute seufzten, verloren in allerlei Erinnerungen.

»Ja, man kann sich nie aussprechen,« Miß Alice sah den Grafen mit ihrem ruhigem Lächeln an. »Der Gedanke ist so viel tiefer als die Sprache.«

»Und das Gefühl so viel tiefer als der Gedanke,« hauchte die Irin. »Meinen Sie nicht auch, Graf?«

Die Abendsonne umspielte die schmalen Aeste und über den Stamm selbst lief der röthliche Schimmer fort, so daß sein blasses Braun eine fast zimmetähnliche Färbung erhielt. Das sah gespenstig aus inmitten des goldig durchrispelten grünen Laubwerks, durch das der Lichtball schläfrig blinzelte. Wie das Schuppengewand einer Boa, schillerte die Themse in ihren Windungen. Dann hob sich ein frischer Luftzug im Osten, der die grünen Epheuranken, welche vom Gärtchen her den Balkon umspannen, spielend blähte.

»Ja, ich meine das auch,« erwiderte Krastinik ernst auf die bedeutungsvolle Frage. »Ein schattenhafter Vorhang liegt gleichsam zwischen uns und der übrigen Welt. Und unser tiefstes Vertrauen kann den Vorhang nicht entfernen.«

»So und doch streben wir alle nach Sympathie für einander?« warf Alice schüchtern ein. Krastinik hatte sich erhoben und blickte fest auf die Sprecherin nieder, ohne eine Antwort zu finden. Ueber das Antlitz des alten Lord glitt ein sanftes wohlwollendes Lächeln:

»Nun ja, wir sind wie Säulentrümmer eines zerstörten Tempels, der einst vereint war. Hoffen wir also, daß wir in unsern späten Nachkommen uns vielleicht einst wieder zusammenfügen werden. Aber wer weiß wo, wie und wann?«

Krastinik küßte seiner Tante die Hand und empfahl sich. – »Wir sind heut alle so fabelhaft geistreich gewesen,« lachte die lustige Irin beim Abschiednehmen auf.

»Ich bin ganz melancholisch. – Trifft man Sie nächste Woche auf dem Ball beim Unterstaatssecretär, Herr Graf?« Sie hatte schon ihr Füßchen auf das Trittbrett ihres Wagens gestellt, der auf sie wartete. Miß Egremonts Diener holte sie gleichfalls pünktlich ab.

»Wohl kaum. Ich habe keine Einladung dazu.«

»O! Soll ich – ich bin dort gut bekannt –«

»Zu gütig,« wehrte Jener kühl ab. »Ich dürste gar nicht darnach, mir jeden Abend die Beine in den Leib zu stehen – pardon! Ihre englischen Routs sind doch gar zu ungemüthlich.«

Mrs. O'Donnogan grüßte etwas pikirt, und biß mit erzwungenen Lachen in den sauren Apfel des Refüs. Er hätte doch den Hochgenuß, sie dort zu finden, würdigen sollen! So sind die Männer.

Graf Xaver beschloß, den Weg nach Hause zu Fuß zurückzulegen, und schritt rüstig aus, indem er vor sich hinpfiff: »Ach, ich hab' – sie ja nur – auf die Schu – lter gekü – ßt.«

Der Mond rollte durch das dunkelblaue Himmelsgewölbe und versilberte den jungfräulichen Schnee der Wolkengebirge. Die Sterne tauchten in verschiedenen Gruppen auf und Nebelschlangen stiegen von der Stromseite her wie aus geheimnißvollen Abgründen empor, als hätten sie sich nur vor dem Auge des Tages versteckt gehalten.

Indem er den balsamischen Hauch der Nacht in tiefen Zügen einsog, fühlte Krastinik den Nerv der Erinnerung zuckend berührt. Er fühlte sich über Meer und Land fortgerissen in die heimathlichen Karpathen, wo ihn so oft noch reinerer Nächte Odem erfrischt.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Er dachte an das Panorama der amphitheatralischen Waldberge, mit den röthlichen Felsblöcken und dem Ahorngebüsch, röther bemalt vom Abendroth; mit den gelben Rinnen, welche reißende Wasser zurückgelassen, auf den dunkelblauen schluchtzerrissnen Bergzinnen. Die Silberfäden der Bergbäche verweben sich zu einem Schleier mit den bläulichen Dunstwölkchen um des Berges Kuppe – gemahnend an den Schleier um Jehovas Haupt, so er mit Erdgeborenen auf seinem Sinai redet. O dort an rauhem Abend die Pässe zu durchstreifen, bis der Nachtfrost, von der Aluta aufqualmend, die Mähne des Rosses erstarren macht!

Und nun, wie von inneren Ampeln erleuchtet, röthet sich der Berge Dom. Schon hat der Sonnengott um die goldne Rüstung sein Purpurgewand geschlungen und der Goldzaum der Sonnenrosse, deren freurige Strahlenmähne den Himmel durchwogte und deren Nüster die Mittagsgluth versendete, ist lässig seiner Hand entfallen. Jetzt faltet er die Scharlachbanner seines goldfransigen Zeltes ein und die Lichtpfeile, die er vom Bogen des Horizontes nach allen Richtungen versendet, kehren von selbst, wie des Indianers Wurfgeschoß, in seine Hand zurück, die den Köcher der Dämmerung bereit hält. Jetzt erröthet die Braut seines Bogens, die lächende Erde, unter seinem flammenden Abschiedskuß. Sein leuchtender Fuß gleitet, einen schmalen Lichtstreifen hinfurchend, über den Kamm der Höhen, um jählings in den Schluchten zu verschwinden, deren strömedurstigen Schlund das greise Berghaupt wie einen Pokal an den kalten Schneemund setzt. – –

Welch ein Gemälde!

Ueberm düstern Buchenberg starrt die schroffe Spitze des Schuller, wie von Geisterhänden aus gefrorenem Schnee geballt. In hundertgrätiger Zerklüftung dehnt sich der furchtbare Königsstein. In der Mitte aber baut sich in gewaltiger Herrlichkeit das Riesengestein des Butschetsch empor, über weiten Geviertraum seine steinernen Wurzeln breitend und zum ungeheuren Gebirgsstock sich thürmend in breiter Masse. Mit seinen tiefen Schneerinnen im dunkeln Gneis der Gebirgsschicht und mit der rundgewölbten Firn, scheint er ein Zauberdom mit silberner Kuppel und silbernen Säulenthoren, aus schwarzem Marmorrumpfe gefügt. In der weiteren Ferne aber zieht sich in erhabenem Umriß die Kette der Fogarascher Alpen, über denen erst rosig und glühendroth, dann schwefelgelb und violett die Sonne allmählich verglimmt.

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Ja, dort oben in der Stille einsamer Berge fällt alles Kleinliche, Unfreie von der Seele ab, wie morsche Lumpen. Verjüngt und neugeboren, steht der Mensch dem All gegenüber. – Was sollte er hier, in dem Parfüm-Brodem des High Life? Eine reiche Parthie ergattern? Seine hochmüthig vornehme Natur empfand plötzlich einen Ekel an diesem ganzen nichtigen Treiben. Ein Dichter wollte er werden. Nun, das konnte ihm nur gelingen, wenn er sich rein badete von allem Wust und Schmutz des Alltäglichen – nicht hier, eingeklemmt im Pferch der Heerde. Wo hatten die großen englischen Dichter des Jahrhunderts, Scott und Byron, ihre Poesie gefunden? Droben auf den schottischen Haiden, wo Burns und Ossian erstanden. Dorthin zog es ihn wie mit magischer Gewalt. Ihm war, als ob ein Stern über seinem Haupte stehe, der ihn zu dem Betlehem der Dichtung geleiten wolle.

Als er die Treppe seiner Wohnung hinanstieg, hatte er bereits seinen Entschluß gefaßt. Solche plötzlichen unvorhergesehenen Entschließungen waren ihm von Jugend an eigenthümlich, fast ein Bedürfniß gewesen.

Schon am andern Morgen packte er, ging zu dem Tiket Office der Dampferlinie nach Granton-Leith, erfuhr, daß gerade diesen Abend ein Steamer abfahre, und löste ein Retourbillet mit vierwöchentlicher Gültigkeit. Dann schrieb er an Lord Dorrington, um seinen plötzlichen Aufbruch zu entschuldigen, und bat, ihn besonders den Damen empfehlen zu wollen. Leichten Herzens warf er sich endlich in ein Cab und gelangte rechtzeitig nach St. Katharine Docks zu seinem Schiff.

Das weiße Hospital von Greenwich und die grüne Marschfläche von Gravesend, die in der Ferne fast den Wasserspiegel gleich einer schwimmenden Seekrautinsel zu berühren scheint, wichen hinter ihm eher zurück, als er sich seines kühnen Scenenwechsels recht bewußt schien.

Zweites Buch
I.

Eduard Rother befand sich in einer räthselhaften Stimmung, als er von München abfuhr. Mehrere Monate lang war er dort stillvergnügt durch die Bierkneipen umhergebummelt, vom Hofbräu ins Löwenbräu, vom Achaz in die Scholastika, vom Orlando di Lasso in den Rathskeller. Seine Collegen von der edlen Malerzunft hatten wenig Weltschmerz an ihm bemerken können; nur ab und zu war ein Ausdruck mißvergnügter Unruhe über seine Züge gehuscht. Dann zuckte seine Lippe, seine Augen zwinkerten und er hob unbewußt die Hand nach der Schläfe, wie um etwas fortzuscheuchen, das ihn mit grauen Fledermausflügeln umflatterte. Auch wollten ihm Verschiedene angesehen haben, wenn ein Seufzer es unwillkürlich verrieth, daß er irgend eine unglückliche Liebe oder eine verrückte Leidenschaft mit sich herumschleppe. Denn Gewissensbisse konnte man doch kaum vermuthen.

Ein großer Genremaler erinnerte sich noch, daß Rother nervös und verlegen geworden sei, als man ihn gefragt habe, woher der famose Studienkopf stamme, den ein Illustrirtes Blatt kürzlich von ihm veröffentlichte; ob dies Prachtexemplar des weiblichen Kraftadels, »Motiv aus Karl Stielers Hochlandsliedern« einem lebenden Modell abgelauscht sei.

Einem andern Collegen, mit welchem er an den Ufern des Starnberger Sees entlang gepirscht und weiterhin zu einer Sennhütte emporgeklommen war, hatte er einmal, als sie so hoch über allem Thälerqualm im Angesicht der Felskuppen und der Abendröthe den Wein ihrer Feldflaschen schlürften, in weinerlicher Wehmuth zugerufen: »Sollte man nicht denken, daß hier Alles, Alles unter Einem bergtief versunken wäre, was an kleinlichen Begierden und dummen Sentimentalitäten uns in der ungesunden Hitze und Hetze der Großstädte gequält hat! Aber nein – da! Das quält mich noch hier!« Damit hielt er seinem erstaunten Freunde eine Photographie unter die Nase, welche eine weibliche Gestalt in einfachem dunkelm Gewande darstellte.

»Sakra! Ist die aber hübsch! Gratulire zu Deinem Geschmack!«

Da Rother aber in seiner gewöhnlichen süffisanten Manier jeder hübschen Larve die Cour geschnitten und den Schwerenöther gespielt hatte, so war Niemandem auch nur der Gedanke gekommen, daß diesen lebenseifrigen burschikosen Kunstjüngling bei seinen altbairischen Volksstudien zu seinem neuen Bilde »Die Sendlinger Schlacht« ein innerer Ahasver begleite, der ihn nimmer losließ und all seine Gedanken nur einem einzigen Drehpunkte zuschob.

Nur sein intimster Münchener Freund, der geniale Landschaftsmaler Knorrer, war in einer vertrauten Stunde dem Modellgeheimniß des weiblichen Studienkopfes nahegerückt. Und so hatte er ihm denn noch beim Abschied auf dem Bahnhof nachgerufen: »Du! Daß Du mir Deine Berliner Kaltblütigkeit behältst! Manchmal muß man rücksichtslos gegen Andere sein – sei's diesmal gegen Dich selbst! Willst? Daß Du mir Dein ›Motiv‹ nicht wieder aufsuchst! Ich rath's Dir! Such' ein andres Modell! Schäme Dich! Ein solcher Kerl und dies ewige Selbstgequäle! Laß fahren dahin! Sie war die erste nicht – und Du bist nicht der erste.« – –

Berlin! Das mächtige Räderwerk der heimathlichen Weltstadt sanfte und surrte wieder verwirrend um ihn her. Das unverdauliche Kümmelbrot, mit Schmalz beschmiert und mit Schinken belegt, das er eilig als Frühstück hinunterschlang, in der Kutscherkneipe des Anhalter Bahnhofs, die ihm am nächsten lag, weil seine Droschke dort grade hielt – muthete ihn so heimathlich berlinisch an! Billig und schlecht und nur märkischen Mägen verdaubar.

Kaum in seinem Atelier wieder eingebürgert – er bewohnte eine behaglich eingerichtete Junggesellen-Wohnung am Lützowplatz, wenn auch nur aus Atelier und Schlafzimmer bestehend, natürlich dritte Etage –, fühlte Rother den dämonischen Zwang, unverzüglich seiner Schwäche nachzugeben und erröthend den Spuren seiner Liebe zu folgen. Ja, er mußte sich vor sich selber schämen, er war sich seiner Thorheit bewußt, und doch!

Von Erfolgen begünstigt, in äußerlich befriedigenden Verhältnissen, fühlte er sich rastlos von der rasenden Leidenschaft verzehrt, die in ihm gährte und gegen die er vergeblich anzukämpfen suchte. Er mußte sie wiedersehn. Ja, sie, das Modell seines neuen Bildes. Oh dies neue Bild! Er musterte es nochmals. In München auf der Reise war es vollendet. Halb scheu, halb entzückt betrachtete er jetzt sein Werk, als er die Leinwand aus der Verkappung enthülst und auf die Staffelei gestellt hatte. Es stellte eine Baierische Bäuerin im halben Naturzustande vor; soeben hat sie ihr Mieder abgeworfen und blickt schwerathmend zum halboffenen Fenster hinaus, als ob sie etwas erwarte. Und sieh', dort ragt auch schon ein männlicher Kopf über das Fensterbrett empor – gleich wird ihr Liebster nächtlicherweile in ihre Arme fliegen. Dieser männliche Kopf trug die Züge Rothers selbst. Die Bäuerin aber, ein üppigschönes junges Weib mit klassischen Zügen – – er verglich jene Photographie mit ihr, die er stets auf dem Herzen mit sich trug: Ja, sie war erschreckend ähnlich!

Aus dem bairischen Hochland auf der Reise hatte er an sie geschrieben und ihr versichert: Wenn die ganze Welt sie verleumde und ihr 'was nachsage, er glaube fest an sie. Darauf hatte sie ihm sofort in einem reizenden Brief geantwortet, aus welchen er ihr unverzüglich nochmals geschrieben und ihr seine Münchener Adresse angegeben.

Kaum dort angelangt, fand er bereits einen neuen Brief von ihr vor. Sie hatte also ihren Maler nicht vergessen, der sie zuerst als Modell aufgespürt, als sie, eben nach Berlin gelangt, einige Wochen als Buffetière eines Wiener Cafés fungirt hatte. Zuerst hatte sie diesen neuen Beruf mit Eifer erfaßt. Freilich »saß« sie nur zu Kopf und Händen. Gegen alle und jede »Aktstudien« wehrte sie sich energisch. Und endlich erklärte sie, daß das Modellstehen zwar einträglich, aber nicht anständig sei, weil sie ewig von den Herrn Malern, ob jung ob alt, mit zudringlichen Anträgen bestürmt werde. Da ziehe sie es denn doch vor, wieder als Zahlkellnerin in einem Wiener Café ihr Brot zu verdienen, wo sie vor derlei sicher sei. Kurz vor Rothers Abreise hatte sie diesen Vorsatz auch ausgeführt und in einem belebten Lokal dieser Art in der Nähe des Alexanderplatzes ihre neue Stelle angetreten, wo sich auch alsbald ihre auffallende Schönheit als eine Zugkraft bewies. Rother, ihr platonischer Anbeter – angeblich besaß sie keine andern – war also mit der Wunde im Herzen abgedampft. Und nun quälte ihn der Gedanke, was sie wohl von seinem compromittirenden Bilde sagen werde, da sie doch niemals Alt gestanden und ihr Körper von ihm gleichwohl mit so realistischer Deutlichkeit gezeichnet schien, – so daß, was bei ihm verliebte Inspiration, als Indiscretion aufgefaßt werden konnte.

Sie hatte ihn nach München benachrichtigt, daß sie nach Treptow den Sommer hinausgekommen sei, da ihr Wirth dort eine Filiale für die dortigen Sommerfrischler übernommen habe, wobei aber nur die Lieferung des Kaffees u.s.w. ihm oblag, während der dortige Wirth Garten und Lokal als Besitzer weiterführte. – –

Es vergingen keine achtundvierzig Stunden, daß nicht Rother plötzlich in dem alten Café wieder auftauchte. Der Wirth empfing ihn sehr höflich und fragte, ob »Herr Professor« wisse, daß Kathi in Treptow sei. Rother stellte sich unwissend, merkte aber, daß der Wirth recht wohl wußte, daß Kathi mit ihm correspondirt hatte. Am andern Vormittag ging's also nach Treptow. Er suchte und fand das Lokal.

Als er eintrat – es ging durch einen offenen gallerieartigen Vorbau in den geräumigen Garten hinaus – und sich rasch umblickte, sah er Kathi in schwarzem Kleid mit einem Kellner an einem Tisch sitzen. Er blickte sie blitzschnell an – und über sie weg und schritt rasch in den Garten hinaus. Sie war feuerroth geworden und stierte ihn sprachlos an, als sei er eine Geistererscheinung. Es war auch ein überraschender Ueberfall, wahrhaftig. – Er placirte sich an einem Tisch und befahl eine Zeitung, ohne nach ihr hinzuschielen. Sie ließ sich jedoch nicht blicken.

Endlich riß ihm die Geduld und er kritzelte ein paar Worte auf ein Blatt Papier, sie möge mal herauskommen. Der Kellner, dem er die Besorgung aufgetragen, sagte ihm, Frl. Kreutzner sei in ihre Stube gegangen. Da dürfe er nicht hinein, wenn sie sich umziehe. Doch werde er ihr das Schreiben übergeben.

Rother überlegte etwas, dann empfahl er sich, nachdem er noch rasch gespeist, mit dem Bemerken, er werde in ein paar Stunden wiederkommen, und pilgerte lange Zeit im nahen Park umher. Ihm war trotz alledem wohl zu Muth, da die Aufregung sein Blut schneller rollen ließ und er auf das Wiedersehen gespannt war. Alle Vögel zwitscherten von brünstiger Sehnsucht, der heiße duftige Sommernachmittag ließ alle Fibern seines Innern wollüstig erzittern. – –

»Ja, die ist soeben nach Berlin gefahren,« meldete der Oberkellner trocken.

»Was?« Eduard wurde bleich vor Zorn.

»Nach dem Arzt, wie sie sagte. Sie ist krank. Den Zettel habe ich ihr aber gegeben.«

Eduard verkannte nicht, daß sie bei ihrer Kränklichkeit, von der sie ja stets gemunkelt hatte – auch der Kellner versicherte ernsthaft, sie sei schon lange leidend und erst eben von Bettlägerigkeit aufgestanden – wohl des Arztes bedürfen mochte. Gleichwohl schien es doch auffallend, daß sie so gleichsam vor ihm davon rannte.

Er verlangte Schreibzeug und schrieb einen langen Brief, welchen er dann nicht dem Kellner, sondern dem Postkasten anvertraute. Dieser war sehr energisch und bestimmt gehalten: sie möge ihm sagen, was dies Benehmen zu bedeuten habe. Sie solle nun erklären, ob sie wirklich Interesse für ihn habe, wie man nach ihren Briefen vermuthen mußte. Und dergleichen mehr. Er erwarte von ihr binnen wenigen Tagen Antwort.

Eduard wartete. Aber die Antwort kam nicht. So entschloß er sich denn, nach vier Tagen nochmals dorthin zu schreiben. Er werde drei Tage darauf um zwölf Uhr am Eingang des Parkes auf sie warten. Wenn sie dann nicht komme, seien sie für immer geschieden.

In heftiger Aufregung erschien er zur festgesetzten Zeit an jenem Orte. Es war sengend heiß. In jeder Vorübergehenden glaubte er sie nahen zu sehn. Aber sie kam nicht. Endlich wähnte er, sie habe einen andern Eingang gewählt, und rannte im Parke hin und her. Er fand junge Backfische der Sommerwohnungs-Hautevolée, die sich in einen Leihbibliothekschmöker vertieften und auf den vorübereilenden eleganten Fremden schmachtende Blicke warfen.

Aber sie, die er suchte, fand er nicht. Es wurde spät und später. Endlich, nachdem er nochmals den halben Park von einem Eingang zum andern durchkreist, gab er es auf und eilte in den nächsten Biergarten. Dort schrieb er einen Zettel, worin er in barschem Tone anfragte, ob sie verhindert gewesen sei, und sandte den Kegeljungen damit in das Lokal. Nach einer Weile kam derselbe mit der Botschaft zurück: Die sei gar nicht mehr da!

Eduard war zu Muthe, als ob die Erde unter ihm einstürze. Nicht mehr da! So peinlich es ihm war, er mußte sich vergewissern, ging also selbst hinüber. Der Oberkellner, ihn mit zweifelhaften Blicken messend, bekräftigte trocken, daß »Kathi« seit vorigen Dienstag – also seit genau acht Tagen – »ausgerückt« sei und sich ihre Sachen habe nachschicken lassen.

Ein gewisses Mißtrauen sprach sich in Worten und Blicken aus und Eduard fühlte, daß man sein damaliges meteorgleiches Auftauchen mit Kathis Verschwinden in Verbindung setzte. Seine Blässe und Bestürzung trotz seiner scheinbaren Ruhe schien Jenen jedoch auf andre Gedanken zu bringen, und es wurde ihm durch den herzugeeilten Koch sogar die Wohnung »Fräulein Kreutzners« angegeben: In der Gerichtsstraße. Dorthin hatte ein Dienstmann die Sachen abgeholt und ihre Wohnung verrathen; dorthin war auch ein Brief, der vor acht Tagen angelangt, befördert.

Eduard biß sich auf die Lippen, als der Mann ihn forschend ansah: Augenscheinlich war sein Brief gemeint.

Draußen auf der Pferdebahn erkundigte er sich, wie er am nächsten nach der Gerichtsstraße komme. Eine Stadtbahnstation lag in der Nähe und er fuhr denn dorthin.

Seltsame Gedanken quirlten durch sein Hirn. Was bedeutete das Alles? An demselben Tage, wo er erschien, verließ sie den Ort? Und zog sich ganz privat zurück? Was bedeutet das! Ist das Fliehen vor der Liebe? Instinktiv oder beabsichtigt? – Oder hatte vielleicht ein Andrer hierbei die Hand im Spiele?

Station Wedding. – Die Gerichtsstraße, bald erreicht, lag in der grauen Einförmigkeit ihrer Miethskasernen schläfrig da und dehnte sich ordentlich in der Mittagsgluth.

Es war erstickend heiß. In Schweiß gebadet, trat er unter den kalten Hofthorweg eines Hauses mit einer Reihe von Hintergebäuden. Es trug die angegebene Nummer. Einen Portier gab es nicht. Da er annahm, daß sie allein wohne, hoffte er ihren Namen an einer Thür zu finden, als er die engen schmutzigen Treppen hinaufstieg. Doch täuschte er sich. Nur eine Thür, drei Treppen rechts, trug gar keine Namensaufschrift, und obschon er dreimal klingelte, öffnete Niemand Er irrte noch lange im Hofe umher, fragte bei drei verschiedenen Portiers und Vicewirthen, endlich bei dem Hauptwirth, der auf die Frage: ob hier ein Fräulein Kreutzner wohne, eine kalt verneinende Antwort gab. Offenbar hinterließ er mit seinem eleganten Rock einen sonderbaren Eindruck bei den schmutzigen Kinderscharen auf Treppen und Höfen, die ihm verwundert nachgafften.

Die Hitze drückte auf sein Hirn. Asphalt- und Holzpflaster in der Friedrichstadt schienen zu schwitzen, selbst die Steine erweicht zu stöhnen. Was machen! Ah, da blieb nur eins: er fuhr direkt in das Wiener Café. Als er dort erschien und seinen Schoppen Pilsener bestellt hatte, fragte er den dortigen Kellner kurz, ohne weiteres Herumgerede: »Seit wann ist denn die Kathi nicht mehr hier?«

»O schon seit vorigen Dienstag nicht« grölte dieser. »Seit sie der Kerl da herausgenommen hat.«

»Wer?« Eduard fühlte sein Blut erstarren.

»Ach, davon wissen Sie nichts? Nun, der Eberhart.«

»Wer ist denn das? Was weiß denn ich davon?«

»Nun, der hier immer um Kathi herum war. Ach, Sie kennen ihn ja! So Einer mit Bart-Cotelettes, verstehn sie. Der war ja immer auch da, wenn Sie da waren.«

»Jaja, ich erinnere mich,« murmelte Eduard dumpf. »Also der!«

»Er war auch draußen in Treptow und hat sie da besucht. Na, nun hat sie ja, was sie wollte.«

Plötzlich erschien der Wirth des Cafés, Herr Bammer, elegant geschniegelt, wie gewöhnlich. Derselbe schimpfte mit aller Kraft auf die pflichtvergessene »raffinirte Person«, die ihn höchst unangenehm hineingelegt. Der ganze Hergang war folgender gewesen.

An jenem Dienstag vor acht Tagen war Kathi plötzlich erschienen und hatte erklärt, daß sie nie mehr nach Treptow hinausgehe. Der Alte dort sei immer hinter ihr her, und wenn sie der zu Frieden lasse, komme der Junge. – Er, Bammer, habe das für faule Fische erklärt. Nachdem sich dann daraus ein Zank entwickelt, sei sie still geworden und habe sich für krank ausgegeben. Sie müsse zu ihrem Arzte gehn. Dann sei sie um fünf Uhr weggegangen und seitdem nicht wieder gekommen. Eine nähere Nachforschung ergab jedoch, daß sie einen Dienstmann an Herrn Eberhart gesandt. Dieser Mann war ein reicher Holzhändler, ließ sich aber consequent »Herr Hauptmann« anreden, weil er zufällig in diesem Range der Reserve angehörte. Ein boshafter Zufall hatte gewollt, daß der Buchhalter Bammers in der Reichensberger Straße wohnte, und dieser hatte Kathi in aller Frühe dort aus dem Hause Eberharts kommen sehn.

In wortlosem bleichem Grimm erhob sich Rother, nachdem er erfolglos versucht den Gleichgültigen zu spielen, und wanderte heim. Erdrückend schwül lastete sein Leben auf ihm, öde und leer gähnte ihn ein Vacuum von Langeweile und Ekel an. Er hatte innerlich seine ganze Leidenschaft und sein ganzes Gefühl auf eine Karte gesetzt, und diese mit einem einzigen Va-Banque verloren. Wozu dies Leben! Die Befriedigung der Eitelkeit, die man etwa »Ruhm« nennen könnte, dieser erbärmliche Erfolg, den der Künstler erstrebt, widerte ihn an. Die Natur, je mehr er sich in sie versenkte, blieb ihm immer mehr eine steinerne Maske. So klammerte er sich denn mit letzter Kraft an dies erotische Gefühl. Hier lag die geheime Truhe seines Innern, wo er all seine Schätze aufgespeichert. Und nun hatte ein Dieb ihm Alles über Nacht geraubt.

Nein, nicht ein Dieb. Was war der einzelne Mensch, der einzelne Fall! Was galt das ihm! Prüfte er seine Gefühle und sondirte seine Motive, so mußte er sich gestehen, daß er weder jenen großen Unbekannten haßte noch das Weib selber, sondern daß ihm wiederum wie von je das erstickende Bewußtsein mit neidischer Wuth die Brust beklemmte, wie ohnmächtig der arme Künstler mit seinem Anspruch auf Genuß der Welt gegenüberstehe.

Der nichtigste Geselle, der Lieutenant mit der glatten Taille und der Assessor mit dem Wirbelscheitel – von dem parfümduftenden Ladenschwengel und dem goldklimpernden Banquier ganz zu schweigen – spielt in der Welt eine bessere Figur, als der Künstler, der Federheld, der Musikus. Und gar erst beim Weibe! Beim Weibe? Ja gewiß giebt es weiblicher Wesen genug, die für das Romantische schwärmen, die sich von der Verehrung eines Musensohnes geblendet und geschmeichelt fühlen – aber das Praktische siegt im letzten Augenblick ja doch auch hier. Und wäre es auch nicht so, den Künstler zwingt ja nun einmal sein Kultus schöner Sinnlichkeit, das sinnlich Schöne zu begehren – selbst wenn es sich in Gestalt einer Dirne darstellt. Und hier fühlte er sich durch ein räthselhaft Zwingendes dämonisch an dies Mädchen geleitet, das nicht nur seine Sinne, sondern auch sein Herz bis zum letzten Blutstropfen erglühen ließ.

Jetzt war diese Rose also verwelkt und gebrochen, der Wurm hatte sich in sie hineingebohrt. Alles war aus. Eine tiefe Verzweiflung über die Nichtigkeit all seines Strebens und Lebens verdunkelte ihm die klare Vernunft. Sein Groll mußte sich in schmähenden groben Worten Luft machen. Und so ließ er sich denn dazu fortreißen, in einem Café Feder und Tinte fordernd, folgenden Brief nach der Gerichtsstraße zu richten – denn sie wohnte in der That dort, wie er erfuhr; er hatte nur nicht den Namen der Wirthin, Frau Lämmers, gewußt.

»Liebe Kathi!

Mit Vergnügen habe ich erfahren, daß Sie eine ganz gemeine Dirne geworden sind. Nun kann ich ja machen, was ich will. Ich ersuche Sie aber, mir unverzüglich meine Briefe zurückzustellen, deren ich mich natürlich schäme; sonst werde ich mich an Ihren Aushälter halten müssen. Wenn Sie übrigens mal zwanzig Mark brauchen – die will ich schon für Sie daran wenden.«

Aber als er nach Hause in sein einsames Atelier zurückgekehrt war, empfand er tief die Würdelosigkeit dieses Benehmens und sandte einge kurze Zeilen, in edelem Ton gehalten. Sie schlossen: »Es rächt sich Alles auf Erden.«

Er war wie wahnsinnig. Indem seine Phantasie sich geil und lüstern ausmalte, wie das prächtige Weib sich von jenem höheren Stallknecht ihre intimsten Bedürfnisse besorgen lasse, ergriff ihn selbst eine verzehrende Begier.

Nachdem er in schlafloser Nacht seine gramvolle Leidenschaft hin- und hergewälzt, machte er sich am andern Morgen auf. Theils seine Leidenschaft theils seine Eitelkeit, die einen Eklat fürchtete, trieben ihn an, sie nicht loszulassen, sondern auf ihrer Spur zu bleiben. Diesmal benutzte er die Pferdebahn von der Weidendammer Brücke aus. Welch ein endloser Weg, die Chausseestraße und die endlose Müllerstraße entlang! Aber er fand richtig das Haus, und als er drei Treppen rechts im Vordergebäude klingelte – ihm zitterten die Kniee vor Erwartung, als er die schmutzig steile Treppe hinanstieg – öffnete ihm diesmal eine anständig aussehende Frau und bat ihn einzutreten, als er nach Fräulein Kreutzner fragte. Die Dame sei ausgegangen, um eine Stelle zu suchen. »Sind Sie nicht der Herr Agent, den sie erwartete?« Rother brummte etwas Ausweichendes vor sich hin und bat um Schreibzeug. Dann hinterließ er Kathi einen Brief, er werde um fünf Uhr bei ihr vorsprechen. Er beschwöre sie, auf ihn zu hören. Ihr Schicksal liege in ihrer Hand; dies sei sein letztes Wort.

Er fuhr direkt in das Café Bammer zurück und schlürfte mit unbefangenster Miene seinen Eierpunsch, während er aufmerksam horchte. Es erschien nämlich nunmehr eine Gestalt auf der Bildfläche, die von besonderer Wichtigkeit für den Fall sein konnte. Herr Wursteler, ein stets elegant gekleideter, schwarzhaariger und wohlaussehender Dreißiger, wohnte bei seinem Freunde Bammer. Beide waren Spießgesellen aus frühen Jugendtagen und hatten von einander Mancherlei zu verschweigen. Wursteler fröhnte einem kavaliermäßigen Müssiggang, obschon er sich unter dem vieldeutigen Namen »Agent« herumtrieb. Er besaß eine Gattin, welche ziemlich häßlich, aber an ständig aussah und, wegen eines kleinen Batzen Geldes von dem flotten Schwerenöther geehelicht, nun an chronischer Eifersucht leiden mußte. Hinter Kathi war er immer anbetend hergeschlichen, wie Bammer einmal Rother lachend erzählte, und pflegte ihr zärtlich Morgens aufzulauern, wenn sie aus ihrer Stube ins Lokal hinunterkam, wofür er »a sakrische Watschen« schon mehrmals geerntet hatte. – Nun ergab sich aber, daß jene neue Wirthin Kathis durch Wurstelers dieser empfohlen war und daß Wurstelers, wie jetzt herauskam und gestanden wurde, auf Kathis Kosten mit dieser die erste Nacht im Grand Hotel zugebracht hatten, ehe sie zu der Wirthin Frau Lämmers, die ihre Wohnung in der Gerichtsstraße eben erst gemiethet hatte, einzog. Ueber alles Weitere fehlte hingegen auch Wurstelers jede Nachricht; sie brach hier ab.

Auch tauchte jetzt die schwarze Emmy hinterm Buffettisch auf, wo einst Kathi gethront, ihre holde Rivalin. Man sagte ihr nach, daß sie Herrn Bammers stille Schäferstündchen theile und ihr Kammer-Riegel für ihn nicht schließe. Es war, wie sie Rother einmal geklagt hatte, die bekannte Verleumdung der Welt. Sie begrüßte ihn nunmehr mit einem vielsagenden meckernden Kichern – sie lachte immer gezwungen, wie mit dem Magen –, was Rother jedoch absichtlich nicht verstand. Er that natürlich, als ob ihn das sehr lebhafte Gespräch über Kathis Schandthaten nichts angehe. Betreffs des Getroffenwerdens in der Reichensbergerstraße hatte sie nämlich behauptet, in einem scharfen Brief an die Wurstelers, daß sie einfach ihre Wirthin, die ihre Schwester zum Görlitzer Bahnhof brachte, begleitet habe.

»Die Sache ist auch noch nicht aufgeklärt,« bemerkte Wursteler mit Emphase, »dahinter steckt auch noch etwas. Sie hat da irgend ein Verhältniß.«

»Ja,« fiel Frau Wursteler ein, »er hat ihr letzthin mehrmals Briefe geschrieben. Er ist ja wohl in München.« Rother horchte hochauf und bewegte sich unruhig hin und her.

»Ja, jetzt soll er aber wieder hier sein,« machte Wursteler, indem er möglichst unbefangen aussah; Rother, der ihn beobachtete, vermochte durchaus keinen lauernden Seitenblick aufzufangen. »Neulich als sie von Treptow hereinkam, sagte sie so etwas im Allgemeinen: ›Ich denke, er ist verreist und da ist er wieder hier!‹«

»So?« fragte Rother mit etwas heiserer Stimme; er spürte eine gewisse Trockenheit im Halse, als ob er sich in sengender Hitze durch Sandwüsten halb verschmachtet hinschleppe. »Hat sie denn nie gesagt, wer das ist?«

»Nein,« fiel die schwarze Emmy geschwätzig plappernd ein. »Nur etwas war da, so'n Anzeichen. Sie hatte da so'ne Broche, mit einer Schlange drauf – die trug sie immer allein von all ihren Schmucksachen.«

»Ja richtig.« Frau Wursteler warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. »Sie sagte immer: ›Jajaja, das ist ganz 'was anders. Das trag' ich, weil es mich an Jemand erinnert.‹« Rother räusperte sich verlegen; Bammer aber, der sich eine Zeitlang entfernt hatte und jetzt hinzukommend die letzten Worte hörte, fuhr dazwischen:

»Larifari! Das ist Alles nur Verstellung. He, wie, sie leugnet gar nicht, daß sie sich mit dem Eberhard genossen hat?«

»Ne,« sagte der Kellner, der damals Rother zuerst aufgeklärt hatte. »Traf vorgestern den Eberhart an der Weidendammer Brücke, wie er zu ihr hinausfuhr. Er hielt ein paar Rosen, die sie ihm geschenkt hatte.«

Rother fühlte, wie eine dunkle Blutwelle ihm rothsiedend zum Hirne drang. Er biß sich auf die Lippen und schwieg. Die schwarze Emmy beobachtete ihn, die Andern empfahlen sich aus irgend einem Grunde. Wursteler aber ließ im Vorübergehen an Rother halblaut die Worte fallen: »Glauben Sie nur ja nicht Alles, was hier gered't wird.« Damit entfernte er sich hastig. Rother versank in Nachdenken. Langsam glitten alle vergangenen Vorfälle vor ihm vorüber. Die Thatsache ihres Fliehens vor ihm in Treptow, dann wieder die Mittheilungen der Wurstelers – hier lag irgend ein Geheimniß vor. Er grübelte und grübelte – darüber wurde es halbfünf. In zitternder Haft und unbeschreiblicher Gemüthsverwirrung machte er sich auf den Weg.

»Nun?« fragte er in der Gerichtsstraße an der schon wohlbekannten Thür. Die Wirthin schüttelte den Kopf, er sei immer noch nicht gekommen. Und so stieg er denn schweren Herzens wieder hinab. Er fühlte sich so müde, daß er beim zweiten Treppenabsatz sich athemschöpfend ans Geländer lehnte.

Da plötzlich knarrte die Treppe von einem emporklimmenden Schritt: Wie von einem elektrischen Schlag durchzuckt, fühlte Eduard: Sie war es! Sie, sein Traumbild in einsamen Nächten!

Ja, sie war es! Ihre prachtvolle Gestalt knapp von einem schwarzen einfachen Gewand umschlossen. Als sie ihn erblickte, blieb sie einen Augenblick, zusammenschreckend, stehn. Dann stieg sie etwas schwerfällig die Stufen bis zu ihm empor. Er wartete, bis sie neben ihm stand, auffallend bleich, mit einem finsteren harten Ausdruck der schönen Züge.

»Haben Sie mir nichts zu sagen?«

Sie gab keine Antwort und schritt an ihm vorbei, schweigend, mit erhobenem Haupte. Ihm war buchstäblich, als ob ihn ein schneidendes Schwert durchschnitte. Mark und Bein erzitterten ihm. Und mit zitternder Stimme fragte er nochmals, halb stammelnd und doch bemüht, einen sicheren Befehlton festzuhalten: »Nochmals, haben Sie mir nichts zu sagen? Es ist mein letztes Wort.«

Aber ohne zu antworten stieg sie höher und höher, und ohne sich umzusehen, stieg er hinab, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. In seinem Innern gährte und schäumte Unaussprechliches durcheinander. Er traf am Abend einige jüngere Künstler, die ihm docirten, die Liebe sei etwas Unreifes, was unter die Füße getreten werden müsse. Doch mit finsterem Humor vertrat er dagegen die Ansicht, nur durch erotische Leidenschaft werde Außerordentliches zu Tage gefördert. Er selbst docirte dabei ebenso weise als erfahrener Mann, wie die andern Jünglinge mit der misogynischen Weisheitswürde. Aber eine Ahnung von der Lächerlichkeit all dieser reifen Theorieen dämmerte ihm heimlich.

Und siehe da, am andern Morgen erhielt er einen Brief, dessen Adresse-Handschrift ihn schon erbleichen machte:

»Daß ich Ihnen auf der Treppe keine Antwort gegeben, darf Sie wohl nicht wundern. Doch weil ich nicht herzlos sein kann, sende ich Ihnen diese wenigen Zeilen. Was ich diese Tage gelitten, weiß nur ein guter Gott, vor dem allein ich mich zu verantworten habe. Ich wünsche Ihnen nur, daß Sie solche Stunden nie kennen lernen, denn dann könnten Sie die einzig richtige Bedeutung des Wortes Verzweiflung fühlen. Vergessen werde ich die Beleidigungen nie und Gott gebe, daß Ihnen in diesem Falle nicht Ihre eigenen Worte zur Wahrheit werden (es rächt sich Alles auf Erden) und wenn sich nie in Ihrem Leben Jemand mehr über Sie lustig macht als ich es gethan, dann sind Sie der unbehelligste Mensch, den es überhaupt giebt. Nur bitte, lassen Sie mich aus dem Spiele, es sind dies die letzten Zeilen, die Sie von mir je bekommen, ich bin froh, wenn ich meine Ruhe habe.«

Rother war es, als gingen ihm Dolchstiche durch und durch, da er diese einfachen Zeilen leidenschaftlicher Beredsamkeit durchlas. Ja, dachte er, ob die Heerde Dich verbannte, Einer blieb Dir, wundes Reh. Ich, ich allein erkannte dein besseres Ich und wenn Du zu bereuen hast, so wollen wir selbander die Reue tragen. Aller Schmutz in deiner Seele zerstiebt vor meines Geistes Hauch.. Dies Geheimniß deiner Seele soll kein Anderer verstehn.

Da erblühte ihm noch eine seltsame Ueberraschung. Sein Dienstmädchen meldete ihm Herrn Schneidemühl. Dieser Herr führte eine ebenso merkwürdige als fragwürdige Existenz. Seines Zeichens Bildhauer, ernährte er sich von Stukkaturarbeiten, die er fabrikmäßig betrieb, nebenbei aber nahm er mit Vorliebe die Börsen seiner guten Freunde in Anspruch. So ahnte denn Rother nichts Gutes, als sein Freund Schneidemühl ihn freudig »wieder zurück in Berlin« bewillkommete. Seine Erwartungen wurden aber übertroffen; denn, nachdem Schneidemühl seinen Schnurbart verlegen gestrichen, eröffnete er, daß Kathi gestern bei ihm gewesen sei und erschrecklich lamentirt habe. Es ergab sich, daß der geniale Bayer (er war ein Landsmann Kathis) wieder mal umsonst den heiligen Pumpus von Perusia, seinen Schutzpatron, um freigebige Huld ersucht hatte. Auch der würdige Caféwirth Bammer, den er täglich frequentirte, litt in dieser Beziehung an Schwerhörigkeit. Aber Eine war nicht taub geblieben: das war Kathi, die ihm schweren Herzens vierzig Mark geborgt hatte. Nun in ihrer Noth – sie wußte nicht wovon leben – forderte sie die Summe zurück und Schneidemühl fand keinen anderen Ausweg, als Rother darum zu ersuchen. Dieser, natürlich tief ergriffen von diesem neuen Beweis für Kathis edle Gesinnung und von Schneidemühls Schilderung, wie sie vor Schluchzen nicht habe reden können, sandte sofort die Summe per Post an ihre Adresse mit einigen Zeilen voll warmer Hingebung, worin er sich nochmals vertheidigte. – Ein unaufschiebbares Geschäft zwang ihn, am selben Abend nach Dresden zu reisen, wo er mit einem Kunsthändler ein Geschäft zu verhandeln hatte. Aber er wandelte dort wie im Traum umher. Als er rein zufällig in ein schlechtes Haus gerieth, war es ihm unmöglich, auch nur einen Augenblick dort zu verweilen; er empfahl sich den fidelen Genossen, die ihn dorthin gelockt, unter einem Vorwand. Ununterbrochen schwebte ihr Antlitz vor seinen Augen, bleich und in Thränen gebadet. Selbst die Venus von Milo hätte er in diesem Zustand nicht berührt, wenn sich die Göttin selbst ihm zu Füßen geworfen. Seine Venus saß in einem einsamen Kämmerlein im Wedding und weinte sich die Augen blind. Seine Reisetasche schnüren, auf die Bahn stürzen und um Mitternacht zurückdampfen, war ihm das Werk eines willenlosen Instinkts. – –

»Diesmal muß ich meinem Entschluß untreu werden, indem ich Ihnen wieder schreibe und wenn ich Sie nicht kennen würde und nicht wüßte, daß Sie wankelmuthiger sind als ein Schilfrohr, würde ich Ihnen sicher nicht mehr geschrieben haben. Vor allem meinen besten Dank für Ihre Freundlichkeit in Betreff des Herrn Schneidemühl. Böse bin ich Ihnen trotz Ihrer mir unvergeßlichen Beleidigung nicht mehr und verzeihen thue ich es Ihnen aus ganzen Herzen, ich müßte nicht menschlich fühlen können, wenn mir Ihre Zeilen gleichsinnig waren, aber Jemandes Freund oder besser Meiner können Sie nicht sein, denn ich weiß genau, wenn heute Je mand zu Ihnen kommen würde und Ihnen sagte, ich hätte Dies oder Jenes gemacht, wären Sie zu neuen Beleidigungen fähig. Wenn ich Jemand gut bin, man könnte mir über die betreffende Person alles Menschenmögliche sagen, mein eigenes Fühlen und Denken steht mir immer höher, ich würde mir nie in dieser Beziehung eine Blöße geben, für das erste schon deshalb nicht, um Anderen nicht zu zeigen, daß man darunter leidet, und zweitens, schlecht gemacht ist bald Jemand, aber gut machen das geht ja sehr schwer, manchmal auch gar nicht. Trösten Sie sich über mein Schicksal es wird wohl wieder anders werden mit Gottes Hilfe. Herr Bammer hat mich zu schwer beleidigt, aber der ist auch kein Mensch. Gefühle giebt es bei ihm nicht und wenn, dann nur thierische. Ich war bei ihm, was Sie schon wissen, und da hat Er mir selbst gesagt, er hat beim Caffee Verluste gehabt, das heißt sie brauchten in Treptow nicht mehr soviel als wie ich dort war und Bammer mußte ihnen nun die Hälfte Bier abnehmen und da sagte Herr Bammer mit diesen Worten ich wollte mich rächen. Dies ist allerdings eine sehr edle Rache. Glauben Sie mir wohl Herr Rother wenn ich schlecht wäre, dann wäre ich es allerdings so, daß Bammer von seiner Person aus mir was sagen könnte. Denn Jemand Schlechten schont man nicht und Bammer ist nicht der Mann, der dann Rücksicht kennen würde. Aber fragen Sie ihn, ob Er mir was sagen kann, weil aber dies nicht der Fall war, mußte Er es auf solche Art thun. Doch genug davon. Alles rächt sich selbst. Ich wollte erst aus Berlin, nun aber thue ich es gerade nicht, weil es B. gerne haben möchte. Zu fürchten brauche ich mich nicht, aber wie schwer Er mir es macht in Berlin Stelle zu bekommen, mußte ich schon manchesmal empfinden. Aber ich trotze doch, endlich wird mir das Geschick doch wieder freundlicher sein, nach jedem Regen wirds wiederum schön. Also keine Feindschaft mehr zwischen uns Beiden! Leben Sie wohl.

K.K.«

So las er am Morgen bei seiner Rückkunft nach Berlin.

Dieser Brief mit dem Ausdruck echten weiblichen Stolzes, naiver Offenheit und rührender Einfalt trotz einer gewissen Klugheit, Würde und Originalität, die ihr auch in dem confusen und ungebildeten Stil mit den rhetorischen angelernten Wendungen darin noch eigen blieb, brachte Rother zum Entschluß – zu einem Entschluß, der lange genug in ihm herumrumort hatte.

Er schrieb ihr in festem ruhigem Ton, daß er nicht wankelmüthig sei und ihr einen äußersten Beweis davon geben wolle. Ein so makelloses Mädchen, wie sie sich mache, sei sie zwar auch nicht, obschon natürlich die Verleumdungen von ihm nicht mehr geglaubt würden. Jetzt aber wolle er ihr sagen, was er sagen müsse, da sonst sein ganzes Benehmen lächerlich sein würde. Er liebe sie, liebe nicht ihre Schönheit, sondern ihr ganzes eigentliches Wesen. Auch möge sie nicht glauben, daß er sich bei ihr ein Ideal zurecht mache. Aber grade so, wie sie sei, sei sie nun einmal sein Ideal. In ihrer Art müsse er sie ein ganz geniales Weib nennen; denn des Mannes Genie stecke im Kopf, das des Weibes im Herzen. Nur sie könne ihn glücklich machen. Die Mängel ihrer Bildung würden sich schon ausgleichen; und wenn sie ihn liebe, würde ihr das ganz leicht fallen. Jedenfalls aber könne nur sie ihn verstehen, wie nur er ihr Wesen verstände, wo so viel Romantisch-Poetisches sich mit so viel praktischer Klugheit mische.

Kurz denn und rund heraus, er wolle sie heirathen, wenn sie noch etwas warten wolle. Er glaube fest an seinen Stern und er glaube an sie.

In drei Tagen wolle er sich ihre Antwort holen. Bis dahin sei er ihr aufrichtiger und getreuer E.R. –

Die Tage verstrichen ihm wirr und wüst in steter Erregung. Der Tag kam; leider hatte er am Abend eine Verabredung, zu welcher er sich einfinden mußte.

Er mußte die Stadtbahn benutzen, welche über Moabit im Kreise läuft. Wie öde und traurig erschien ihm die Natur, trotz ihres Juli-Grüns – die ersten Vorboten des Herbstes zeigten sich mitten im Sommer, eine tiefmelancholische Stimmung lag über die Hügel und Haiden der märkischen Sand-Umgegend Berlins ausgegossen. Mitten im Sonnenschein fröstelte ihn. Ein krankhaftes Gefühl durchzitterte seinen nervösen Organismus, als sei er ein Stück verrostetes Eisen, das man auf den Schutt werfen müsse. Jeder andre Gedanke, jedes andre erstrebenswerthe Ziel war völlig aus seinem Hirn wie weggebrannt. An der Schürze eines schönen Weibes hing ihm das All. Wie ein Traum im Traum, spann es sich um ihn her. Seine Sinne wirbelten; ihm schwindelte; seinen Magen und seine Eingeweide durchzog eine seltsame Beklemmung, wie nahende Seekrankheit beim Schwanken eines Schiffes. Denn so schien das Schiff des Lebens mit ihm zu schwanken.

Station Wedding!.. Die Station, der lange Bretterzaun, der von ihr entlang führte, die Gerichtsstraße mit ihrem holprigen Pflaster – alles das schien ihm, in der schwülen Beleuchtung des Sommerabends, in seltsame Lichtreflexe getaucht, wie ein wildfremdes symbolisches Etwas. Jeder Stein schien ihn mit lebendigen Augen altklug anzustarren, als besäße er den wahren Schlüssel zu dieser menschlichen Seelenpein; als stände er in geheimnißvoller Beziehung zu dem Schicksal dieser liebeskranken Menschenpflanze, die dem festen Boden entrissen, vom Wind entführt, ziellos, zwecklos, kraftlos, hinzusiechen verdammt.

Ihm war, als ob er umsinken sollte; seine Kniee bebten, als er die schmutzige steile Treppe hinanstieg. Aber er klingelte gefaßten Muthes.

»Ist Fräulein Kreutzner zu Hause?«

»Gewiß,« sagte die Wirthin höflich. »Bitte, treten Sie um hier ein. Ich werde sie rufen; sie ist mal runtergegangen.«

Er saß am Fenster und starrte hinaus. Nach einiger Zeit öffnete sich lautlos die Thür und sie trat ein. Sie ging langsam bis in die Mitte des Zimmers, ohne die Augen aufzuschliessen, beide standen sich einen Augenblick stumm gegenüber.

»Nun, was haben Sie nur zu antworten?« fragte er ruhig.

»Ja, Herr Rother,« sagte sie zögernd. »Das geht nicht so schnell.«

»Ja, bei mir muß aber Alles schnell gehn.«

»Ja, ich.. aber bitte, bleiben Sie doch sitzen!« Er saß; sie stand. Ihr Gesicht war geröthet, ihr Ausdruck sehr ernst.

»Ist denn das wirklich Ihr Ernst? Ich habe nichts.«

Er sprang unwillig auf. »Wenn Sie mir so kommen! Daß Sie nichts haben, weiß ich doch selber.«

»Aber Sie müssen mich doch aushören!« sagte sie mit verlegenem Lächeln. »Nun, warten wir ein Jahr, und wenn Sie dann nicht anderen Sinns geworden sind – nun, dann können wir uns heirathen ... Nun, was sagen Sie dazu?«

»Wozu?« fragte er absichtlich, als hätte er nicht recht hingehört.

»Zu dem, was ich gesagt habe.«

»Ich bin's zufrieden.« Beide sahen sich an.

»Nun.. aber Sie haben ja kein Feuer.« Sie eilte rasch, ihm ein Zündholz für seine ausgegangene Cigarre zu reichen.

Beide schwiegen eine Zeitlang. Plötzlich entfuhr es ihr wie unwillkürlich:

»So hängt das Alles zusammen? Aber so was!« Sie lehnte sich über den Stuhl und sah nachdenklich vor sich nieder.

»Nun bitt' ich Sie aber,« sagte er rasch, »was haben Sie Herrn Wursteler, von mir gesagt?«

»Ich? Nichts, daß ich wüßte!«

»Nun, ich würde mir eher die Hand abreißen, eh ich das sonst erzählte. Sie haben gesagt, ich ... doch nein, sagen Sie, was meinten Sie denn damit, was Sie sagten, als Sie von draußen hereinkamen?«

»Was denn? Ich hab nur gefragt: War Rother schon hier?«

»Sie haben meinen Namen genannt?«

»Ja wohl.«

»So so!« machte er enttäuscht. »Dann ist's 'was Anderes. Eigentlich hab ich nur daraufhin Ihnen das geschrieben, was ich schrieb. Dann freilich fällt das fort.«

»Was fällt fort?«

»Nun, wenn das wahr war,« Rother unterdrückte jede weitere Anspielung, »so wäre es nicht recht von Ihnen gewesen, mit dem Eberhart zusammen zu kommen. Und das thaten Sie doch?«

»Ja,« sagte sie verlegen, mit ernstem Ausdruck.

»So haben Sie für den eine Neigung?«

»Nicht die Spur!« erwiderte sie halblachend. »Ich hab mir nur gedacht, er wäre unter all den Andern noch mir der Anständigste. Und darum schrieb ich an ihn.«

»Gut, ich kann verstehn, daß Sie ihn einmal sahen. Siehe das zweitemal, nachdem Sie meinen Brief erhielten, nun, das war gemein.«

»Ja, ich hatte doch eigentlich keine Verpflichtung.« Er lag vor sich nieder.

»Gewiß nicht. Aber nach meinem Briefe mußten Sie wissen, wie es mit mir steht. Und daraufhin.. Zudem, warum sind Sie damals nicht nach Treptow hinausgekommen?«

»Ich fürchtete mich. Anfangs wollt ich durchaus gehn; aber dann dacht ich immer wieder, Sie spielten mit Bammer unter einer Decke zusammen.«

»Ich! Wie konnten Sie so was denken!«

»Ja, ich glaubt' es eben.«

»Na, das war hübsch, wie ich da draußen umhergestiefelt bin,« lachte er. Sie lachte melodisch mit. Dann sagte sie aber ernst:

»Wie konnten Sie mir nur solch einen ordinären Brief schreiben!«

»Nu, war denn der so schlimm?«

»Ach so abscheulich!« Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen und schauderte ordentlich.

»So, wo ist er denn?«

»O ich habe ihn gleich verbrannt.«

Eine kurze Pause trat ein.

»Ueberhaupt,« sagte sie plötzlich, »auch Ihr letzter Brief.. daß Einer so was von mir denken kann, daß ich nach Männern angle und aufs Geheirathetwerden spekulire! Ich bin gar nicht heirathslustig, nein durchaus nicht. Noch vor ein paar Wochen war ein Agent bei mir, der nur das anbot. Ich sollt einen Kammerdiener heirathen mit 50,000 Thaler. Der hatte mein Bild gesehn und so ... Aber ich hab's gleich abgeschlagen. Was soll ich denn mit so 'nem Alten!«

Ein eifersüchtiger Groll ergriff Rother schon bei diesem Gedanken. Also gab es wirklich solche!

»Wollen Sie mein letztes Bild sehen?« fragte sie und machte ihr Album auf. – Sie stand da, einen Champagnerkelch in der Hand, einen Herrn neben sich, einen andern vor ihr am Boden knieend. Sie sah zwar verlockend üppig und pikant aus mit dem sinnlichen Ausdruck ihrer Züge, aber so gemein, daß Rother erschrak.

»Puh!« sagte er »das reine bayrische Biermensch! In die hätt ich mich nie verliebt.« Und in der That war zwischen diesem Bild und dem ernsten melancholischen Mädchen, das vor ihm stand, kaum eine Aehnlichkeit zu entdecken.

»Ja, das Bild darf nicht gezeigt werden. Die Herrn – es sind ein paar Lieutenants – haben ihr Wort darauf geben müssen; eher that ich's nicht. Bammer zwang mich dazu.«

»So. Auch die andern Bilder da im Costüm sind nicht ähnlich. Sieh, der österreichische Offizier da.. wer ist das?«

Sie schwieg und lächelte verlegen.

»Aha, ist das der große Unbekannte, der erste Amoroso?«

Nach einer Pause stieß sie hastig, aber mit augenscheinlicher Gleichgültigkeit hervor:

»Ja, den hab ich einst sehr gern gehabt.«

»Herr Gott, dies stupide Gesicht!« brummte er in sich und kopfschüttelnd. »Halt, wer ist dies Dämchen da gegenüber?« Sie antwortete nicht. »Ein interessanter Kopf.«

»Aber das bin ich ja!«

»Sie?« Er maß sie befremdet – keine Spur von Aehnlichkeit zwischen diesen leidenden schmachtenden Zügen und dem üppig blühenden Weibe vor ihm. »Da waren Sie wohl noch sehr jung.«

»I bewahre, die Photographie ist aufgenommen, grad als ich nach Berlin kam. Ich sah sehr angegriffen aus.«

»So, weshalb?« Sie gab keine Antwort. – Er ergriff Hut und Stock. »Ich muß fort zu einer Verabredung. Also gut, adieu. Wenn der Eberhart Sie besucht ...«

»Mich? Hier? Niemals. Ich hab es ihm untersagt. Und jetzt schreib' ich ihm, daß er für mich eintreten soll gegen Bammer – nun, wir werden ja das Weitere sehn.«

»Schon gut. Ich sehe, daß ich bei dem Allen nur eine lächerliche Rolle spiele. Ich hätte Ihnen nicht meinen Antrag gemacht, wenn nicht Wursteler mir gesagt hätte.. doch, wenn's auch nicht wahr ist: was ich schrieb, bleibt bestehen. Aber ebenso, was Sie von dem ›Jahr warten‹ gesagt haben. – Geben Sie mir Feuer!«

Er hatte kurz, befehlend gesprochen. Sie eilte unterwürfig heran und brachte es ihm, wie eine zärtliche Sklavin.

»Also wann wollen wir uns wieder sprechen?«

»Ich werde Ihnen schreiben, weil jetzt natürlich in der ersten Zeit ich möglichst vermeiden muß, mit Jemand zusammenzukommen. Aber mit Ihnen darf ich natürlich jetzt eine Ausnahme machen.«

»Mündliche Abmachung ist besser.«

»Nein, es, macht mir Vergnügen, Ihnen zu schreiben. Sie haben ja so viel geschrieben; da kann ich doch auch schreiben,« sagte sie freundlich.

»Schön. Also adieu.«

Er wandte sich elegant auf den Hacken um, nachdem er sich kalt verbeugt.

»Aber so geben Sie mir doch die Hand!« klagte sie vorwurfsvoll.

Er gab ihr nur die Fingerspitzen. Sie gab ihm bis zum Treppenabsatz das Geleit und sah ihm nach. – –

Mehrere Tage verstrichen, welche Rother in dem denkbar krankhaftesten Zustand verbrachte. Er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen oder vielmehr, all seine Gedanken drehten sich unablässig um den Punkt des einen großen Dilemmas:

Wird sie über mein Bild in Wuth gerathen und mich compromittiren? Würden wir Beide wirklich es durchsetzen, als Paar der Welt zu trotzen?

Ich habe ihr gewissermaßen falsche Vorspiegelungen gemacht oder besser, die falschen Vorstellungen, die sie und alle Andern nähren, nicht zerstört. Sie hält mich für vermögend genug, um ihr ein comfortables Heim zu bieten. Glaubt doch auch die Welt, daß der Ruhm eines Künstlers seinen Einkünften entspreche, während grade hier meist das Verdienst und der Verdienst nicht im Einklange stehen. Rother erbte allerdings einst von einem alten Erbonkel etwas Vermögen, aber das stand noch in weiter Zukunft.

Den Rest jenes Abends, als er von ihr zurückkehrte, hatte er in großem Collegenkreis verbracht, wobei er am Abend in einem Café verschiedene langerwartete Zeichnungen von sich in illustrirten Blättern, mit großen Lobeserhebungen verbrämt, vorfand. Das wäre ihm früher wichtig und werthvoll gewesen, jetzt ließ es ihn völlig kalt. Die Sachen gewannen für ihn höchstens Werth, wenn sie ihr Auge darauf warf, sodaß er bei ihr an Ansehen wuchs. Wären sie nur etwas früher erschienen – aber jetzt waren Zeichnungen und Ruhmposaunen für ihn ohne alle Bedeutung. Als er an jenem Abend heimkehrte, fand er abschlägigen Bescheid betreffs einer akademischen Lehrstelle, um die er sich beworben. Das allein hätte ihn aufgeheitert: Er bedurfte eines festen Postens und Einkommens, um ihretwillen. Seine Kunst mochte darunter leiden, ja zum Teufel gehn, er selbst diese Bürde als schwere Mühsal auf den freien Künstlernacken laden – wenn sie nur glücklich, nur gerettet wurde! Er wollte gern entbehren, wenn er ihr nur seidene Kleider stiften konnte. Ein Kuß von ihr schien mit hundert Dornenstichen nicht zu hoch bezahlt.

Nach ein paar Tagen erhielt er folgendes Billett:

»Herr Rother! Es thut mir leid daß ich Ihrem Wunsche uns irgendwo zu sprechen nicht nachkommen kann aus dem Grunde Sie würden sich nur selbst compromitiren. Denn Herr Bammer hat eine neue Gemeinheit gegen mich ins Werk gesetzt. Diesen Morgen kam ein – – Kriminalbeam ter! und fragte nach mir. Er zeigte mir einen anonymen Brief worin stand die Polizei möchte ein wachsames Auge auf mich haben ich wäre bis 1. Juli in dem Café in Stellung gewesen, wäre ohne Grund fort und es sei zweifelhaft wovon ich lebe – – – – es sind einige Sachen in den Brief, die nur Bammer allein wissen kann, und ich kann schwören, daß es die Schrift seines Buchhalters war. Ich hatte per Zufall ein Stückchen Papier mit der Schrift des letztgenannten. Wir verglichen die Schrift und der Beamte war nun auch meiner Meinung: ich wußte wohl, daß es rachsüchtige Leute giebt, aber daß solche existiren, die nicht ruhen bis sie ihr Opfer vollends zu Grunde gerichtet haben, das glaubte ich nie und dies kann ja wohl noch geschehen. Was liegt mir an meinem Leben. Nahe daran war ich schon einmal. Heute bereue ich es daß ich so feig war.

Nun zur Sache: geweint hatte ich heute nicht, denn ich habe es allzu oft in letzter Zeit gethan, aber der Beamte mag wohl ohne Thränen mein tiefes Leid erkannt haben und hatte Mitleid mit mir. Er tröstete mich und meinte die Sache bleibt ganz still, ein Ehrenmann kann frei auftreten und braucht keine anonymen Briefe zu schreiben und übrigens traut er meinem ehrlichen Gesicht. Ich hatte ihm dann auch noch den deutlichsten Beweis wovon ich es gezeigt (es schmerzt mich zu sagen), einige Versatzungen. Nun Herr Rother wissen Sie mein neuestes Erlebniß – und nun bitte ich Sie dringend überlassen Sie mich gegenwärtig meinem Schicksal. Wenn es Gottes Wille ist, werden wir uns wohl wiedersehen, vermuthlich in besserer Zeit. Kränken Sie sich meinetwegen nicht, ich habe viel zu ertragen gelernt. Nun seien sie einstweilen bestens gegrüßt von Kathi K.«

Rother schrieb ihr auf diesen rührenden Klageruf unverzüglich, daß dies ja allen alleinstehenden Mädchen in Berlin passire, da die Polizei in dieser Beziehung unumschränkte Befugnisse hat. Sprechen müsse er sie in jedem Fall. Sie möchten sich also zufällig auf der Stadtbahn sprechen, im Coupé selbst, um jede Möglichkeit des Aufsehens zu vermeiden. In einem Nachsatz theilte er ihr mit, daß der Zahlkellner wieder allen Gästen erzählt habe, die »Schöne Kathi« mache mit dem reichen Mühlenfabrikanten Eberhart ihre Hochzeitreise. Neulich sei sie großspurig in einer Droschke I. Classe vorübergefahren. Was bedeute das? Nun »besser betrogen werden als betrügen!«

Sofort erhielt er folgende Epistel:

»Ihr Schreiben erhalten. Zürnen Sie mir nicht. Ich kann und will in meiner jetzigen Lage Niemand sehen. Klatsch ist genug schon. Ich will nicht noch mehr haben und übrigens habe ich mich jetzt an den betreffenden Herrn gewendet. Der wird mir schon Ruhe verschaffen. Möglicherweise wird auch Bammers Mund gestopft. Was das ausfahren betrifft, kann am besten meine Wirthin Auskunft geben. Denn ich gehe höchst selten ohne sie fort. Betreffs Stellung habe ich mich auch schon bemüht genug, jede Stunde ist mir die liebere, wo ich wieder zu thun habe, nun bitte ich Sie nochmals, sorgen Sie nicht um mich und vor allen Dingen lassen Sie sich nicht wieder in einen Klatsch verwickeln und glauben Sie an mir, ich werde Sie nie hintergehen.

Auch suchen Sie kein Wiedersehen. Ueberlassen wir dies der Zeit.

Mit freundlichem Gruß

Kathi Kreutzner.«

Er beruhigte sich damit. Freilich konnte er sich bei psychologischer Beobachtung sagen, daß diese Zeilen zwar die entschlossene Festigkeit des tapferen Mädchens athmeten, aber die innige Gesinnung der früheren Briefe etwas erkaltet zeigten. Doch nahm er dies Alles gelassen hin und tröstete sich mit der Zukunft. Nachdem er aufs heftigste gearbeitet fühlte er eines Tages das Bedürfniß, wieder in dem Café Bammer aufzutauchen. Bammer selbst pflanzte sich mit übertriebener Liebenswürdigkeit alsbald neben ihn hin, und während der Künstler, scheinbar nur oberflächlich hinbotend, ein Frühstück hinterschlang, begann Bammer sich nach allen Dimensionen über die Verlogenheit Kathis zu unterrichten. Sie habe seinem Buchhalter einen so ungemeinen Brief geschrieben, daß der alte Mann sich schämte, ihm zu zeigen, so schmutzig sei der Inhalt gewesen.

»So was Unweibliches!« Bammer schüttelte mit großer Entrüstung das Haupt. Dann lenkte er auf das andere Gespräch zurück.

Sie konnte sich nicht weißbrennen. In der Gegend war kein Bahnhof und was habe sie in so früher Morgenstunde dort zu suchen gehabt!

Rother meinte trocken, er glaube nicht daran. Aber der andere begann mit solcher Emphase weiter zu stochern, als wenn die Gefühle eines auf den Rost Gelegten rauskämen.

Wäre es möglich, daß er dennoch betrogen! Wie dieser nagende Zweifel ihn aus allen Himmeln stürzte!

Er hatte sich stolz gefühlt, so lieben zu können. Das war der einzige Stolz, der ihm nicht eitel und nichtig erschien. Und dies Geheimniß seiner Seele sollte Niemand kennen. Nur sie Beide sollten von sich wissen, eng verbunden bleibend, heimlich versteckt vor der Welt. Und so hatte er sie dereinst zu sich emporheben wollen. Was das schwache Herz geschworen, sollte halten der starke Geist. Ihre Seele, die unverstandene, sollte die seinige verstehen lernen, bis beide Seelen nur ein einziges gemeinsames Geheimniß der Liebe bargen.

Und nun, all seine hochherzigen Absichten heroischer Selbstverleugnung vergeudet – an eine Schuldige, die ein falsches Spiel mit seinem Vertrauen trieb?

Er beschloß der Sache sofort auf den Grund zu gehn. Wirklich machte er sich sofort auf den Weg; traf er auch wahrscheinlich sie selber nicht bei so früher Tageszeit – es war drei Uhr –, so fand er doch sicher die Wirthin.

Er grübelte sich immer mehr in heftige Erregung hinein. Mit zorngerötheten Wangen und hastigen Schritten stürzte er den langen Bretterzaun entlang, der von der Stadtbahnstation zur Gerichtsstraße hinführt. Bald hatte er das breite, hohe Haus gefunden und klomm die steile Treppe hinan, auf welcher einige winselnde schmutzige Kinder sich balgten. Wird er sie zu Hause finden! Wirklich, der Zufall schien ihm günstig. Höflich bat ihn die Wirthin einzutreten.

»Aber ich weiß nicht, ob sie abkommen kann. Sie hilft mir beim Waschen und ist nicht angezogen.«

»Sagen Sie ihr, ich hätte ihr etwas Wichtiges zu sagen.«

»Nun gut, ich werde sie rufen.«

Er verbeugte sich stumm und nahm am Fenster Platz, nachdem er mit einem kurzen Blick auf den Spiegel constatirt, wie blaß er aussah. Nach einiger Zeit trat sie ein mit heiterem Ausdruck und fröhlichem Lächeln. Sie hatte sich offenbar rasch umgezogen, trug ein elegantes Kleid, blau mit Rosablumen gemustert. »Guten Tag!« sagte sie freundlich, indem sie heftig erröthete.

»Guten Tag,« erwiderte er trocken. Sie schrak auf und sah ihn an. »Ja,« fuhr er unsicher fort, »es ist mir peinlich genug gewesen, hierherzukommen. Aber es muß sein. Ich wollte Sie bitten, mir zurückzugeben, was Sie schriftlich von mir haben.«

Sie blickte ihn einen Augenblick sprachlos an. Dann sprach sie los: »Ah, daher bläst der Wind! So war's gesagt. O ja, gut, hier, sofort, nehmen's Alles.« Sie kniete zu ihrem Koffer hin, riß ihn auf, kramte darin herum und häufte einen Brief auf den anderen. Ihre Stimme gewann dabei einen eigenartigen Reiz in der unwollenden Ironie des schmelzenden Tonfalles; der Zorn gab ihr eine verschönernde Würde des Ausdrucks.

Rother stutzte und schwankte in einer gewissen Begeisterung. »Mein Gott.« rief er, »wenn man Sie hört! Was soll ich glauben! Der Buchhalter hat Sie doch daheim gesternmorgens gesehn.. und am Görlitzer Bahnhof haben doch gar nichts zu suchen.«

»Ich habe doch meine Wirthin begleitet.«

»Ach, wer das glaubt!«

»So? Natürlich!« Sie riß die Thür auf: »Frau Lämmers!«

»Nun?« machte diese, die in einer durch den Flur getrennten gegenüberliegenden Stube bei der Nähmaschine saß.

»Ach, kommen's doch mal einen Augenblick herein!« Die Wirthin erhob sich und erschien wirklich. Eine längliche, magere Person mit einem ziemlich unschönen bebrillten Gesicht, dessen Ausdruck aber sofort Vertrauen einflößte. Ihre Haltung entbehrte nicht einer gewissen gesetzten Würde. – »Bitte, Frau Lämmers, sagen's doch dem Herrn, ob ich nicht mit Ihnen an jenem Morgen ausging.« Die Wirthin nickte ernsthaft und bestätigte es mit kurzen klaren Worten. Daß ihre Aussage ehrlich war, las man auf ihrem Gesicht.

»Wir danken Ihnen.« Rother verbeugte sich höflich, worauf die Frau sich sogleich wieder diskret zurückzog. – »Aber aus dem Haus Eberharts hat man Sie doch so in der Frühe herauskommen sehn?«

»Aber ich bitte, Sie, das war doch natürlich. Ich komme gerade vorbei an der Wohnung von dem und habe so viel von seinem Anwesen gehört. Da dacht ich: ›Ich will doch mal einen Blick hineinwerfen. Das Hofthor stand offen – – ich bin auch gleich wieder zurückgekommen.‹« All das klang allerdings wahrhaft. Sie ging hastig auf und ab und rief wie verzweifelt: »Nein nein, wie sind die Menschen doch schlecht! Sie wollen mich partout ins Unglück bringen, ob ich schuldig bin oder nicht. Sehen Sie nur diese Gemeinheit!« Sie riß eine Cassette auf und zeigte ihm mehrere anonyme Briefe, worin ihr zu ihrer bevorstehenden Niederkunft Glück gewünscht würde. Das sei also die berühmte Tugend der Kathi!

»Aber der Schlimmste von Allen waren doch Sie!« fuhr Sie mit echt weiblicher Taktik fort, indem sie aus der Defensivstellung eiligst in die Offensive überging. »Herrgott, die Gemeinheit! Und das von Ihnen! O das that weh! Als ich Ihren Brief bekam, den abscheulichen; da glaubte ich, ich müßte vor Scham sterben. Meine Wirthin kann Ihnen sagen, ich habe den ganzen Tag in einem fort mich in Thränen gewälzt.« (Kathi liebte solche rhetorisch schmückenden Redeblumen.) »Als ich Sie da auf der Treppe sah, war mir, als müßt' ich auf der Stelle sterben. Meine Füße trugen mich kaum hinauf und oben fiel ich ohnmächtig aufs Sopha. O, o!«

»Wo ist denn der garstige Brief?« fragte Rother verlegen.

»Das fragen's noch! Sofort verbrannt. – Ach, was ich gelitten habe! Ja, das vergeß ich nie!«

»Sei'n Sie doch nicht grausam,« flüsterte er mit grobem Vorwurf. »Wie wir jetzt mit einander stehn und was ich nachher gethan habe..«

»Ja, das war sehr schön von Ihnen,« sagte sie eifrig, schüttelte aber mit echtweiblicher Halsstarrigkeit den Kopf. »Sehn sie, vergessen kann ich das nicht.«

»Nun, das werden Sie doch wohl müssen,« sagte er in halb humoristischem Ton. »Als meine Frau..« Beide schwiegen. Sie setzte sich ihm gegenüber und pöselte an einer Standuhr herum.

»Ja,« schmollte sie halblaut, »gewiß, das war sehr brav und edel und schön, und ich werd Ihnen das auch nie vergessen. Aber.. aber das fühl ich: Aus der Sache zwischen uns wird doch nichts.«

»Warum nicht?«

»I weiß nicht. Man hat so ein Vorgefühl.«

»Närrchen!« sagte er freundlich und strich ihr über die Stirnlocken. Sie lachte wie ein Kind, sprang auf, zupfte ihn am Ohr und tanzte auf einmal in der Stube mit ihm herum. Dann warf Sie sich wieder auf den Stuhl und kicherte ausgelassen.

Als er sich nach dem Stand ihrer Kasse dringend erkundigte, versicherte sie mit Nachdruck, daß der Erlös aus dem Leihamt völlig für sie genüge und daß sie unter keinen Umständen Geld annähme. Uebrigens habe sie wahrscheinlich eine Stellung; ein Herr aus Hamburg sei dagewesen, der sie als Buffetdame in einem großartigen Café engagiren wolle.

»So, also weggehn von hier?« fuhr er auf.

»Ja,« sagte sie ernst. »So schwer mir's wird, scheint mir das doch ganz gut.. auch für uns Beide,« setzte sie nach einer Pause hinzu.

»Wieso?«

»Nun, durch die Trennung merkt man erst, ob es wirklich.. ob es das Richtige ist.« Sie sah ihn fest an.

»Ich verstehe. Du hast recht.« Er ging gedankenvoll ein paar mal auf und ab und griff dann plötzlich zu Hut und Stock.

»Schon?« fragte sie, halb neckisch, halb mit aufrichtigem Bedauern.

»Nun und die Briefe? Die behalt ich, gelt?«

»Hm.« Er hatte die Briefe schon vorher vor sich abgetheilt und steckte einen Theil davon ein. »Das kann hierbleiben. Aber da fehlen ja einige, z.B. der letzte da..«

»Die letzten hab ich alle verbrannt,« sagte sie rasch.

»Aber laß mir den einen aus München – mit dem Liedel dabei. Der war zu süß. Ja, Herr Rother, Ihr Schreiben versteh ich immer besser als Ihre Worte. Da ist auch nicht einer Ihrer Briefe, den ich nicht mindestens zehnmal gelesen hätte – ach, das reicht nicht.«

»Hm,« machte er mit sanftem Lächeln. »Und dann willst Du mir noch ableugnen, Kathi, daß Du für mich ein leidlich tiefes Interesse hast?«

Sie erröthete, verzog schmollend den Mund, blitzte ihn fast zärtlich mit ihren großen Augen an und stülpte ihm plötzlich den Hut auf: »Nu aber raus!« –

In diesem Augenblick steckte die Wirthin den Kopf durch die Thür und rief:

»Fräulein, wir müssen aber jetzt an die Arbeit!«

Er empfahl sich den Damen cordial und ging von dannen, froher als er gekommen. Es war verabredet worden, daß er Beide einmal in der Woche ins Theater führen solle. Kathi sträubte sich zwar bei den obwaltenden Zuständen dagegen, überhaupt auszugehn – in ein bekanntes Garten-Etablissement am Weddingplatz, wo sie sich die beiden Male mit Eberhart eine Stunde getroffen, wollte sie begreiflicherweise nicht mehr gehn und kein andres anständiges Restaurant war in der Nähe. Doch mit Rother sollte natürlich eine Ausnahme gemacht werden.

Als der Liebeskranke, der sich, wie ein Verdächtiger zum Ort der That, zum Café Bammer immer wieder hingezogen fühlte, daselbst eines Nachmittags vorsprach, empfing ihn wieder eine neue Mordsgeschichte. Der Hamburger Wirth war dort aufgetaucht, hatte sich viel nach Kathi erkundigt und wurde in den lächerlichsten Farben geschildert. Auch schimpften einige frühere Anbeter Kathi's – darunter ein studentischer Jüngling von achtzehn Jahren der eines »Baron«-Titels genoß – gewaltig auf die verschlagene Jungfrau und malten ihre Falschheit in gräulichen Farben. Rother sagte kein Wort. Am andern Tage lud er verabredetermaßen die »Damen« zu einer Première am Bellealliance-Theater ein, erhielt aber die umgehende Antwort:

»Ihr Schreiben erhalten, doch leider kann ich Ihre freundliche Einladung für Freitag nicht annehmen, weil ich mit meinem zukünftigen Prinzipal, welcher Sonnabend abreist, noch was zu besprechen habe und behufs dessen Obiger Frau Lämmers und mich eingeladen hat zu einem Abschiedsschoppen. Es grüßt bestens Kathi K.«

Dagegen war nun nichts zu sagen. Dennoch fühlte sich Rother bewogen, gleich am Sonnabend Abend das Nähere über den neuaufgetauchten Herrn – »Kohlrausch« war sein werther Name – zu erfahren.

»Wer ist da?« fragte eine sanfte melodische Stimme mit süß girrendem Tone, – als ob sie etwas Liebes erwarte.

»Ich!« erwiderte er mit tiefer Stimme. – Er hörte einen unverständlichen Laut, dann öffnete sie und lud ihn ernsthaft ein, zu ihr hineinzutreten. Die Wirthin sei ausgegangen. Sie trug einen geblümten bunten Schlafrock.

»Ich dachte, Sie wären schon auf und davon?« sagte er kalten Tones.

»O nein, erst am fünfzehnten nächsten Monats.«

»Und was treiben sie hier?«

»Ich lebe in Verzweiflung,« erwiderte sie achselzuckend.

»Brauchen Sie Geld?«

»Nein, ich danke.« –

Sie setzte sich ans Fenster, eine Näharbeit in Händen. Er schritt in der Stube auf und ab, sich ab und zu neben ihr stellend. Sie plauderten wohl eine Stunde lang von allen möglichen Dingen, wobei er ihr viel von seinem Künstlerruhm vorprahlte. Sie hörte aufmerksam und schweigend zu, kluge Bemerkungen dazwischenflechtend. – Nach einer kurzen Pause der Unterhaltung bemerkte er, sie beobachtend, daß ihr Ausdruck umwölkt und finster schien. Er deutete darauf hin.

»Ach, ich habe mich wieder furchtbar ärgern müssen,« gab sie zur Antwort. »Da war so'n Kerl – Einer von denen die immer um mich herumgekrochen sind, – der von meiner Wohnung erfahren von dem Zahlkellner bei Hause. Kommt der Mensch heut hier herauf und schwindelt meiner Wirthin vor, er sei Agent und wolle mir eine fette Stelle verschaffen. Kaum ist er bei mir, holt er ein Etui mit einem goldenen Armband hervor und will mir das umlegen. Quatscht von seiner Liebe und will mich gleich um die Mitte nehmen. Na, dem hab' ich heimgeleuchtet!« Sie lachte bitter in der Erinnerung.

»Was ist denn der?« fragte Rother stirnrunzelnd.

»Ach natürlich so Einer, der nichts zu thun hat, der von seinem Gelde lebt! – Ja, ebenso wie der Andre –« Sie brach ab.

»Welcher Andre?«

»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen soll. Nun, doch! Da ist so'n ekelhafter reicher Jude, einer von der Maklerbörse – der verfolgt mich schon lange mit seinen Anträgen. Saß immer im Café am Buffet. Endlich hat er herausgebracht, wo ich stecke, und nun bestürmt er mich jeden Tag mit Briefen. Gestern hat er da geschrieben..« Sie zögerte, holte dann ein parfümduftendes Billet hervor und verlas eine reizende Schlangenlockung zum Apfel der Erkenntniß, worin ihr goldene Berge versprochen, wenn sie sich von Herrn Mayer aushalten lasse. Die eleganteste Wohnung stehe schon bereit zu ihrer Verfügung. »Ich will jeden Ihrer Wünsche erfüllen, denn ich bin ein reicher Mann!« schloß das interessante Schriftstück. »Geniren Sie sich nicht, liebes Kind, und kommen Sie in die Arme Ihres Sie brünstig liebenden Mayer.« Kathi schwankte zwischen Lachen und Wuth, indem sie ausdrucksvoll die schwungvolle Werbung vortrug; die Flügel ihrer klassisch geschnittenen Nase bebten nervös.

»Nun und was hast Du ihm geantwortet?«

»O, ich sage Dir.. na, den Brief wird er nicht hinter den Spiegel stecken.«

Es war so dunkel geworden, daß sie mittlerweile die Lampe anzünden mußte. »Ich hab' Durst,« sagte sie »der Hunger vergeht mir vor Ärger. Ich laß mir von unten ein Seidel holen – willst auch eins haben? Ja, thu mir den Gefallen, kannst mal bei mir zu Gast sein.«

So saßen sie gemüthlich noch eine halbe Stunde und stießen auf treue Kameradschaft an. Aber während er auf sie einredete, versank sie in tiefe Gedanken. Grade so kam ihre außergewöhnliche Schönheit zur besten Geltung. Aber als er plötzlich sagte: »Wie edel und gut Du jetzt aussiehst!« da lachte sie auf und es war kein schönes Lachen. – Man verabredete sich am nächsten Freitag zu treffen. Er wollte absichtlich eine so lange Zeit verstreichen lassen bis zum nächsten Wiedersehn. Der Contrakt mit dem Hamburger Wirth war wirklich abgeschlossen; er lief auch bis zum 1. Januar; sie hatte ihm den Contrakt vorgelesen, ihm auch gleich die Hamburger Adresse aufgeschrieben. Am 1. September sollte sie die Stelle antreten. Es war ihm ja aus verschiedenen Gründen nur zu recht. Rother konnte bis dahin die erste Oeffentlichkeit passirt haben, während sie fern blieb.

Als er nach Hause wanderte, fiel ihm wieder die Unveränderlichkeit des ganzen Verhältnisses centnerschwer zu Herz. Nun, sie wollte es ja nicht anders; bei den Umständen gegen sie war ihre zeitweilige Entfernung auch nöthig und für Rother selbst so angenehm; auch dir Probezeit für die gegenseitige Neigung schien vernunftgemäß. Und doch! Warum durfte er nicht offen sie an sein Herz drücken, der ganzen Erde trotzend! Konnte er denn überhaupt sofort heirathen? Was für verfahrene Verhältnisse, was für unheilschwangere Widersprüche!

Als er am Freitag dorthin fuhr, kaufte er unterwegs ein Rosenbouquet. Es war ihm doch immer etwas beklemmend, in diese, so ganz der westlichen Cultur entrückten Stadttheile den Zug nach dem Osten anzutreten. Um so unerfreulicher wirkte es natürlich, als die Wirthin ihm ein Billet Kathis einhändigte:

»Herr Rother, leider kann ich Sie heute nicht sprechen, weil ich Nachricht bekomme, betreffs einer Stelle welche ich während der drei Wochen wahrscheinlich noch annehme. Näheres nächstens. Mit Gruß

Kathi Kreutzner.«

Eduard wunderte sich ein wenig, dachte sich aber nichts Arges dabei, und ließ seinen Rosenstrauß in ihrem Wasserglase stehn. Angenehm war es ihm natürlich nicht, den weiten Weg aus dem Vorstadtviertel zurückmachen zu müssen. Dabei gerieth er halb zufällig in die Nähe des Café Bammer und trank dort seine Mélange, indem er eine heitere zufriedene Miene zur Schau trug. Ziemlich spät erschien plötzlich der elegante Wirth und indem er »Herrn Professor« höflich grüßte, warf er lachend hin:

»Wollen Sie die Kathi sehn? Die sitzt im Sedan-Panorama mit dem Kerl da aus Hamburg zusammen.«

»Ach was?« machte Jener gleichmütig, aber er wurde bleich wie der Tod. Bammer fuhr fort:

»Ich schlendre da ganz zufällig hinein. Und wen find ich? Meine Kathi! Zärtlich umschlungen sitzt sie in einer Nische mit dem da zusammen. Sie erschrak mörderlich, als sie mich sah; wollte sich noch ihr Haar in die Stirne streichen, um sich unkenntlich zu machen. Aber ich lachte laut auf und ging an Beiden vorbei.«

»Nu, was wird da sein!« Rother ermannte sich zu vertrauensvoller Selbstüberwindung. »Das ist ja wohl ihr neuer Prinzipal. Dahinter braucht noch nichts Schlimmes zu stecken.«

»Ach natürlich! Herrgott, und wie verwüstet sie aussah!« Der Wirth lachte laut auf und das Gespräch über, Kathi gerieth wieder ins gewöhnliche Fahrwasser. – Ihm war, als ob der Sommerabend eisigen Tod verhauche, als ob öde Finsternisse langsam herniederwuchteten.

Der so unerwartet Getäuschte schlief die Nacht nicht. Gerade durch den Zweifel der Untreue erregt, waren all seine Sinne aufgestachelt und des schönen Weibes Besitz setzte ihn in brennenden Farben vor. So faßte er nun den Entschluß, der Sache auf den Grund zu gehen und sofort am andern Morgen sie zu überführen. Er fuhr dorthin. Frau Lämmers war nicht wenig erstaunt, ihn so unerwartet erscheinen zu sehn. Doch klärte er sie gleich auf. Sie gab zu, daß Kathi spät nach Hause gekommen sei.

»Aha, sie hat wieder eine furchtbare Dummheit gemacht,« sagte Rother stirnrunzelnd hin. Sie war noch nicht aufgestanden. Als die Wirthin klopfte und ihr ankündigte, Rother wolle sie um jeden Preis sprechen, – verrieth ihre antwortende Stimme Aerger und Furcht. Nach kurzem Parlamentiren wurde ausgemacht, daß er in einer halben Stunde wiederkommen solle, bis sie sich angezogen habe.

Er verbrachte die Zwischenzeit in einem nebenan liegenden Budikerkeller. Die Leute dort, Arbeiter und kleine Handwerker beim Frühschoppen und Morgenimbiß, starrten ihn fragend und verwundert an, wie er einen »Bittern« nach dem Andern hinuntergoß. Er besah sich im Spiegel; wie bleich er war! Er fühlte Beklemmung im Herzen oder vielmehr in der Magenhöhle – man verwechselt ja so oft die innigsten Gefühle ... »Was wollen Sie denn so früh?« fragte sie mit einer Stimme, in der zugleich Zorn und etwas wie Furcht sich mischten. Da er sie nur fest anschaute – sie hielt die Thür in der Hand –, fuhr sie höchst ungnädig fort: »Ist dies eine Zeit, Besuche zu machen?« Er zuckte mit den Achseln und trat ruhig ein, indem er sie stets noch fest fixirte. Sie trug einen losen Schlafrock und um den bloßen Hals hatte sie ein schwarzes Tuch geschlungen. Die Haut des Halses erschien gelblich und nicht fest genug. Seltsam, daß Rothers Künstlerauge dies in einem solchen Augenblick bemerkte. Sie sah überhaupt sehr schlecht aus und hatte – »Sieh da, es ist also richtig!« sagte Rother laut, indem er sie fest betrachtete.

»Was?« fuhr sie unwirsch auf, »hören Sie nicht auf, mich zu quälen?«

»Blaue Ränder um die Angen!« fuhr er finster fort, »das stimmt.«

»So, hab i blaue Ränder?« Es zuckte humoristisch um ihre Lippen. »Jo, dafür kann i nix. Da müssen's dem lieben Gott bestellen, er soll's anders einrichten.«

»Wie?« machte er zurückfahrend, »wollen Sie damit sagen –«

»Nun, was haben's denn eigentlich wieder?«

»Gestern im Sedan-Panorama, nicht wahr?« herrschte er sie an. Sie stutzte und sagte ernst:

»Ja, da war ich. Aber das konnt' ich doch nicht abschlagen. Wissen's, das war mein Prinzipal. Er traf mich auf der Straße und drang so in mich – ich mußt' mitkommen.«

»So und da hast Du zärtlich umarmt mit ihm gesessen?« Sie fuhr entrüstet auf, mit bebenden Lippen.

»So, sieh einmal diese Gemeinheit! Am Buffet hab ich mit ihm gesessen, die Buffetdame kann's Ihnen bezeugen, ganz offen; und nachher kam sein Freund, der Horether Buchsing, dazu und dessen Frau. Ach, es ist empörend, diese Verleumdungen! Als ob alle Welt nur mich zu beobachten hätte.«

»So ist das wirklich..« stammelte er unschlüssig.

»I geb Ihn' mein heiliges Ehrenwort!« rief sie, indem sie mit der abwärts gekehrten Handfläche eine bezaubernde Bewegung machte, die ihr eigenthümlich war. Übrigens, glauben's auch nicht, wenn Sie wollen. I weiß was wahr ist, und das genügt mir.«

»Es ist ja möglich, daß Sie wahr reden. Aber ich will mich doch von Ihnen trennen. Und darum bitt ich Sie, geben Sie mir zurück, was Sie brieflich von mir haben.«

»Ich hab nichts mehr,« sagte sie störrig, indem sie sein Auge vermied.

»Das haben Sie damals auch gesagt. – Ich will es,« betonte er, indem er sie stirnrunzelnd maß. Ueber ihr Gesicht ging es wie eine convulsivische Zuckung. Dann öffnete sie ihren Koffer und kramte darin: »Hier! Da! Nehmen Sie Alles! Weiter nichts mehr da. Hab Alles verbrannt!« Sie, öffnete einen Parfümeriekasten aus Alfenidesilber.

Und siehe da, er fand dort einige Zeichnungen, die er vor seiner Abreise ihr hinterlassen, hingesudelte Kritzeleien, die sie aber doch sorgfältig bewahrt hatte, und einige Zeilen von seiner Hand aus früherer Zeit. Die Papiere, ganz von Parfümgeruch durchsättigt – ohne eine Wort zu sagen, nahm er Alles an sich. Sie stand dabei mit gekreuzten Armen, ohne sich zu rühren, den starren Blick auf den Kasten geheftet.

»O mein Gott!« rief er plötzlich aus. »Ahnen Sie denn gar nicht, was ich leide? Um Sie leide?«

»Nun, was leiden's denn?« fragte sie schnippisch, indem ein bitteres Lächeln ihre Lippen schürzte.

»Was, ja was! Ich habe nie so etwas gefühlt, nie. Das kennen Sie eben nicht, das ist die Liebe. Weiß Gott, wenn Sie da draußen in Lumpen auf der Straße umherirrten oder Ihr Gesicht von Pocken zerrissen würde, ich liebte Sie noch grade so. Ach ich rede so hin – das läßt sich nur fühlen!«

Sie sah starr ins Weite und war sehr blaß. Ihr Auge brannte wie von unvergossenen Thränen, mit einem trüben Glanz.

»Haben Sie denn nun die Stellung?« fragte er nach einer Pause. Sie bestätigte ihm trocken, daß sie in ein Café an der Jannowitzbrücke bis zum ersten September eintreten werde, dessen Besitzer sie schon lange bestürmt habe, zu ihm zu kommen. »Und soll ich Sie dort besuchen?«

»Wie Sie belieben,« erwiderte sie ernsthaft nach einer Pause. »Ich fordere Sie nicht dazu auf. Es kann ja doch nur Schlimmes..« Sie wandte sich ab. Er betrachtete sie noch einmal fest und schüttelte den Kopf.

»Ja ja, die blauen Ränder um die Augen, Woher kommt das?« Sie zuckte ungeduldig die Achseln.

»Die Scham verbietet..« Unwillkürlich fiel sein Auge auf die Waschschüssel, – es lag ja noch Alles unaufgeräumt umher – die er bisher noch nicht bemerkt hatte. Da war ihm mit einmal Alles klar und mit einem gewissen »Ach so!« nahm er Abschied. Beide nickten sehr schweigend zu.

Wie hat die Natur das Weib doch übervorgetrieben. Zu wie falschen Schlüssen giebt ihr physischer Zustand Veranlassung! Der Mann ist oft aus Unbewußtheit ungerecht. Was ist überhaupt Wahrheit! – Wenn Jemand mit der Reinheit und Treue eines Weibes spielt, so kann man achselzuckend zweifeln. Und wenn man ein Weib der Untreue bezüchtigt, ganz ebenso. Nicht nur die Beweise sind immer strikt überzeugend, seien sie auch handgreiflich.

So schoß es Rother durch den Kopf, als er heimkehrte. Er fing an, ein Lebensphilosoph zu werden – wenigstens war er auf dem rechten Weg dazu. Wie alle wahren Weisen, wenn sie Andern vorwerfen, sie ärgerten sich noch zu viel über Thorheit und Gemeinheit der Welt, bewahrte er natürlich die gleiche Nervosität nichtsdestoweniger. Ein Windstoß plötzlicher Erregung konnte das Kartenhaus seiner neuerworbenen Fassung zusammenblasen.

Er wartete volle acht Tage, während welcher Zeit er mit rasenden Eifer arbeitete. Endlich ließ es ihm keine Ruhe mehr. – Das Erscheinen des Stahlstichs nach dem Bilde war immer noch von ihm verzögert worden. Dennoch schienen durch jenes unvorsichtige Versehen einzelne Abzüge in den Handel gekommen. Ihn quälte die Ungewißheit, ob Kathi von einem ihrer zahlreichen Verehrer vielleicht darüber au fait gesetzt sei. – Am achten Tage ließ es ihm keine Ruhe mehr. Er nahm ein Bad, das in der Zerstreuung ein heißes wurde, trotzdem nur kalte Bäder seinem gereizten Nervensystem nützen konnten, und setzte sich auf die Stadtbahn via Jannowitzbrücke. Als er das betreffende Lokal gefunden, zu seiner lebhaften Verwunderung von Kathi keine Spur! Auch die Kellner wußten absolut nichts von ihr zu melden. Er eilte in umliegende Lokale – nichts, aufs nächste Polizeiamt – keine Ahnung. Er fuhr wieder zurück nach dem Café Bammer. Auch dort wußte Niemand von irgend etwas. Nur wurde erzählt, sie sei schon in Hamburg und der Kohlrausch sei überall mit ihr gesehen worden. »Einige sagen,« bemerkte der grienende Kellner, »er habe sie gleich als Frau mit 'rüber genommen.«

»Als Frau? Sie meinen, daß er sie heirathen wolle?«

Der Kellner fiel vor Erstaunen bald um. »Heirathen? Wer heirathet denn solch communes Mensch?« Rother biß sich auf die Lippen und erbleichte. Wenigstens ich jetzt die Wahrheit erfahren, dachte er. Wahrscheinlich ist sie setzt auf und davon. Jedenfalls muß ich die Wirthin sprechen.

Er hatte ein Schnitzel heruntergeschlungen. Ein galliger Geschmack stieg ihm im Munde auf. Der zehrende Stimm erstickte ihn beinah. Es war unerträglich heiß; sein eleganter Anzug wurde mit Staub berieselt von heftigen Windstößen, die hier und da über den Boden fegten. Hitze mit schneidendem Wind – ein Bild seiner eignen Gemüthsstimmungen ...

Zu seinem Erstaunen rief die Wirthin, sobald sie seiner ansichtig wurde, mit ernstem Gesicht »Ich werde sie rufen. Bitte, treten Sie ein!«

»Wie, ist sie noch hier?« fragte er unsicher und zögernd.

»Ja gewiß. Gedulden Sie sich ein wenig, ja?«

So saß er wieder auf der alten Stelle. Auf dem Tische lagen wieder die Bücher umher, die sie mit dem Geschmack einer Salondame arrangirt hatte. Der »Trompeter von Säkkingen«, Karl Stielers Hochlandslieder, die »Lurlei« von Julius Wolff, daneben ein »Modemagazin« das stark nach Parfüm duftete. Auf der Kommode stak im Wasserglase ein Rosenstrauß: Als sein Auge darauf fiel, erkannte er den seinen, den er vor acht Tagen gebracht. Noch immer war sie hier! Was trieb sie denn!

Ein fester rascher Schritt näherte sich. Sie trat ein, indem sie einen Korb Wäsche unter dem Arme trug. Ihre Wangen waren geröthet, ihre Stirn gerunzelt. Sie sah ihn nicht an und fragte mit einer Stimme, die sicher und barsch klingen sollte, aber vor Erregung zitterte: »Was steht zu Ihren Diensten?«

»Ich dachte, Sie hätten uns schon lange verlassen,« sagte er ruhig.

»Ja, ich geh auch jetzt bald,« erwiderte sie rasch. »Am ersten.«

»Und warum sind Sie denn nicht in die Stellung gegangen?«

»Warum? Weil mir's nicht paßte. Weil« – Sie sah in die Luft und zuckte leicht die Achseln.

»Nun, weil –?«

»Weil ich, so lange ich hier bin, lieber verhungern will, als in solcher Stellung noch mal hier auftreten – damit der Skandal wieder von vorne angeht.«

»Nun gut. Ich bin einfach deswegen gekommen: Es fiel mir auf, daß Sie mir neulich sonst Alles wiedergaben, aber meine eigentlich compromittirenden Briefe nicht. Wie kommt das?«

»Ich hab' sie nicht mehr.«

»Können Sie mir das schriftlich geben?«

»Ja, das fehlte noch! Wenn Ihnen mein Wort nicht genügt!«

Eine kleine Pause trat ein. Sie legte fortwährend ihre Wäsche zurecht, was auf ihn einen eigenen einheimelnden Reiz ausübte. »Ach, Du bist ja verrückt,« sagte er plötzlich halb ärgerlich.

»So?« gab sie resolut zur Antwort. »Wenn ich verrückt bin (kann schon sein), dann sind Sie wenigstens mit mir verrückt. Das ist ein Trost.«

»Sie haben selbst gesagt, daß Sie bösartig sind,« hob er wieder an. »Deswegen will ich mich eben schützen. Ich fürchte mich vor Ihnen.«

»Sie – vor mir?« – Sie lachte leise auf. »Vor mir haben Sie Ruhe; da mögen's sicher sein.« Sie trat ans Fenster und sah hinaus. »O ich bin jetzt ganz ruhig. Wenn Sie nur so glücklich wären wie ich! Bisher war ich gut, nun will ich recht schlecht werden.«

»Schämen Sie sich nicht –« fuhr er auf.

»O wenn Sie mich beschimpfen wollen, da laß' ich Sie allein. Ich geh' gleich weg.« Aber sie rührte sich nicht vom Fleck.

»Ich fühle durchaus nicht das Bedürfniß dazu. – Was wird nicht wieder Alles über Sie zusammengeredet! Sie sind schon nach Hamburg avisirt als Geliebte des ... Der hat das auch überall ausgesprengt.«

Sie sah ihn gleichgültig an und zuckte wieder ungeduldig die Achseln.

»Nun, wenn er das selber glaubt, ist's ja gut.«

»Pah, das ist auch der richtige Hahurei,« brummte er in den Bart.

»Was ist er?« fragte sie aufmerksam.

»O ich meine, wenn Sie den heirathen würden, könnten Sie nur gleich mit einem Andern durchgehn.«

Er gab ihm hastig Feuer, als er sich eine Cigarette ansteckte. Dann sagte sie gedankenvoll:

»Nun, mir soll künftig Keiner zu nahe kommen, das sag ich Ihnen.«

»Welche Dummheit haben Sie doch gemacht!« rief er aus. »Dort können Sie doch nicht bleiben. Da ist's ja viel zu langweilig. Und hier – welch ein Renommee haben Sie nun hier! Ich bin ja doch der Einzige, der an Sie glaubt.«

Plötzlich wandte sie sich um: »Sagen Sie, war Ihnen denn das wirklich Ernst, daß Sie mich heirathen wollten?«

»Ja,« sagte er fest.

»Und ist es noch?«

»Ja,« wiederholte er bestimmt.

»Nun gut denn. Ich gehe jetzt nach Hamburg. So will ich sehn, ob es mir dort gefällt. Und dann werde ich Ihnen schreiben.«

»Aber seien Sie aufrichtig.«

»Ja, ich werde sehr aufrichtig sein.«

»Nun, und dann?«

»Ja, dann können wir uns heirathen ... Aber das sag ich Ihnen, wenn Sie mir kommen und sagen, was man über mich gesagt hat, dann krieg' ich Sie am Cravatl.«

»Oho! Versuch das doch mal.«

»Ach Du!« Sie sah ihn schelmisch an. »Du wirst ohnehin der rechte Pantoffelheld. – Ja, machen's nur noch so große Augen! Ich weiß das.«

»Man sieht, wie wenig Du mich kennst,« sagte er gemessen. »Versuch's doch mal, mich am Kragen zu fassen, he? Nein, zanken werd ich nicht mit Dir; aber machst Du mir Geschichten, so schieß ich Dich einfach todt und mich nachher ... Ueberhaupt – was ich mir hier sagen lassen muß! Hätte mir eine Andre den hundertsten Theil davon gesagt! Und wenn Du wüßtest, wie verwöhnt ich bin!« Er fühlte wieder das Bedürfniß, sich vor ihr ein mystisches Air zu geben.

»Ja, Du mußt sehr verwöhnt sein!« lächelte sie, »denn Du hast etwas an Dir, als ob Du auf den Köpfen der Menschen spazieren gingest.«

»Ach, Du begreifst ja noch gar nicht, wer ich bin,« blähte er sich auf.

»Nun, was bist denn?« koste sie. »Sag mir's doch!«

Unwillkürlich fiel ihm die Sage von Merlin ein, dem die Nixe das eine bannende Wort ablocken will. »O ich meine nur so im Allgemeinen,« brummte er halblaut.

»Nun muß ich aber arbeiten. Du weißt nicht, wieviel ich zu thun hab'«, sagte sie rasch. »Jetzt laß mich allein.«

»Gut denn, ich geh schon. Wann sehn wir uns also wieder, bevor Du fortgehst?«

»Am nächsten Montag um fünf Uhr. Und nun sag noch meiner Wirthin Adieu.« Er that es. »Ach sieh, ich bin größer wie Du,« lachte sie, indem sie an der Thürschwelle sich auf ihren hohen Stiefel-Hacken erhob, welche alle weiblichen Wesen der unteren Schichten für das untrüglichste Zeichen ladyliker Eleganz halten.

»Noch was, Du mit Deinem Cothurn!« Kindisch wie sie (wie er denn unwillkürlich von diesem wundersamen neuen Umgangskreis in seiner ganzen Lebensauffassung angesteckt wurde), maß er mit der Hand die Höhenfläche ab, indem seine Augenbrauenhöhe mit ihrer Stirnhöhe auf gleicher Linie lag.

»Schad't nichts. Wenn das Alles wahr ist, was für ein großer Künstlehr« (sie sprach das Wort mit altberlinischem Accent) »Du bist, so hätt'st Du doch wenigstens etwas in die Breite wachsen sollen. So kommt mir's vor, als ob ich gar keinen ordentlichen Mann neben mir habe.«

»Oho, das glaubst Du doch selber nicht! Jeder Zoll ein Mann!« Dabei gab er ihr einen Kuß und drückte sie an sich.

»Ja, ich glaub's schon. Bist doch ein schneidiger Kerl,« näselte sie drollig, »wie ein Dragoner in Civil.«

»Alter Puselkopp!« Damit klopfte er sie über die Stirn und streichelte ihre Haare. Dann schüttelten sich Beide herzhaft die Hand und sie rief ihm übers Geländer nach: »Alter Puselkopp, auf frohes Wiedersehn!«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

In gehobener Stimmung kehrte er heim und arbeitete mit zäher Entschlossenheit mehrere Tage lang ununterbrochen an seinem Bilde. Am Freitag aber hatte er sich mit dem Componisten Henry Francis Annesley, einem jüngeren Freunde, verabredet, in einer Weinkneipe zusammenzutreffen.

Annesley spielte sich als ein Bewunderer von Rothers originaler Künstlerschaft auf und lauschte daher andächtig, als dieser ihm feierlich docirte, wie er ein Bild »Jesus und die Ehebrecherin« untermalt habe, wobei er tiefsinnig über das Wesen des Christenthums sich äußerte.

»Wer sich rein fühlt, der werfe den ersten Stein auf sie,« dieser Spruch des Heilands, in welchem die letzten Schranken durchbrochen werden, hatte Eduard natürlich besonders imponirt. Und wie bequem läßt sich der Sinn des leicht mißzuverstehenden Spruches zurechtstutzen: »Ihr sei viel vergeben, denn sie hat viel geliebt«!!

Nachdem sie also in erhabenen Gefühlen geschwelgt, endeten sie logisch und naturgemäß mit dem schönen Triebe, einige Maria Magdalenen zu trösten. Eine blaue Laterne, als sie ziellos über die Straße schlenderten und sich in dem übelriechenden Gehege der weiblichen Asphaltblumen fortschoben, leuchtete ihnen freundlich zur gastlichen Herberge.

Das »Café Calcutta« strahlte in seiner ganzen Pracht. An den Decken der Wein-Stuben tanzten indische Bajaderen in schreiend grellen Farben und beträchtlicher. »Märchen«-Nacktheit. Vorn in der Hauptschenkstube hingen zwo herrliche Gemälde: »Nena Sahib der große Nabob« und »Lord Clive, Eroberer von Indien«.

Der Wirth, eine pikante Persönlichkeit mit aufgedunsenem Gesicht, gierigen Augen, lüsternen Lippen, schnüffelnder Fuchsnase, »aber immer elejant« mit Kneifer, schwarzem Leibrock und tadelloser Blondin-Frisur – der berühmte Anekdotenerzähler Herr Strieseke, bot mit freundlichem Grinsen seine Schnupftabacksdose den Ankömmlingen dar indem er zugleich mit würdevollem Bückling den Herren die Weinstuben empfahl.

Die weibliche Bedienung, welche angeblich französisch, englisch, russisch, magyarisch, chinesisch, ostafrikanisch und – indisch sprach, erschien auf der Bildfläche in bengalischer Beleuchtung und Bekleidung. Letztere etwas kärglich zugeschnitten. Doch wenn sie auch unten und oben ausreichender Gewandung entbehrten, so schien dieses Armuthszeichen doch auf ihre sonstige Ernährung nicht von Einfluß gewesen zu sein. Ihr offenbar ergiebiger Futterkorb hatte sie meist so dickgemästet, wie eine deutsche Schriftstellerin in ausgeschnittener Schriftstellertag-Tournüre.

Spanische Seidenmantillen und Spitzenschleier sowie rothe Fez mit blauer Troddel auf dem Chignon sollten augenscheinlich das indische Lokalkolorit veranschaulichen.

Annesley schnitt eine dämonische Grimasse, strich genialisch einen Haarbüschel in die Stirn und pflanzte sich in einer malerischen Pose auf, als wolle er eine Arie singen. Offenbar erwartete er, daß sämmtliche Weiber sofort bei seinem Anblick auf den Rücken fallen würden, mit dem schmachtenden Aufschrei: »Dieses blasse Gesicht ist mein Schicksal!« Da jedoch nichts Aehnliches eintrat und sein pantomimisches Ballet nur mit der zarten Aufforderung belohnt wurde: »Na, Blondchen, setze Dir man! Ist Dir unwohl?«, warf er sich mißmuthig auf ein Kanapee, nachdem er seinen Schlapphut in die Luft geschleudert und wieder aufgefangen. »Ich werde mir ein Weib erkiesen,« meinte er großartig. – »Um Gotteswillen nicht hier! Denken Sie doch, noch neulich der Heilgehülfe –« »Was geht das Sie an?« Das Zukunftsgenie bäumte sich auf, in seinen heiligsten Gefühlen gekränkt. »Uebrigens pumpen Sie mir bis übermorgen 10 Mark. Ich habe mein Portemonaie vergessen.«

Das Lokal duftete nach abgestandener Lüderlichkeit und Eau de mille fleurs, wie gewöhnlich. Die Schenkheben – verkommen, aber nicht zu sehr – producirten alsbald die berüchtigten Porterflaschen à 1 Mark, woran der Wirth 90 Pfennige zu verdienen beliebt.

»Darf ich mir auch eins holen?« Diese stereotype Frage hatte Eduard als ausgepichter Mann der Erfahrung mit einem abwehrenden Grunzen beantwortet. Da fiel sein Blick auf eine Jungfrau am Nebentische, die mit einem Kneifer auf der Nase, einen keck überlegenen Ausdruck im Gesicht, ihn anstierte.

»Die da soll herkommen!« – Mit einer graziösen Verengung huschte sie heran, jedoch an Henry Francis Annesleys Seite, der sie gleichgültig musterte. Nachdem sie erst Annesleys, dann Eduards Hut aufgestülpt und sich in allerlei niedlichen Koketterieen geübt hatte, eröffnete der nachlässig hintenüber lehnende Maler in schläfrigem Ton ein Wortgeplänkel. Annesley hatte sich mit der ihm eigenen nervösen Unruhe in das Nebenzimmer geflüchtet, wo er plötzlich dem üblichen Klavierspieler eine seiner Lieder-Compositionen mit Stentorstimme vortrug.

Als sie nun zum Aufbruch rüsteten und Eduard in einer Auswallung ungesunder Generosität eine Mark Trinkgeld spendirte, fühlte sich Fräulein Mary – so nannte sich die Kneiferbehaftete – innig zu ihm hingezogen und bat ihn mit ihren holdesten Schmeicheltönen, eine Flasche Wein mit ihr zu trinken. Halb zog sie ihn, halb sank er hin. Annesley wünschte gute Verrichtung. Eine Collegin band Eduardo die Mary dringend auf die Seele, da diese gerade kein »Verhältniß« habe, und die zärtlichste Schwärmerei à 16 Mark (Zwei Flaschen Gift à 6 Mark 50 Pfennige und drei Portionen Oelsardinen, welche die »gute Freundin« so gerne aß, à 1 Mark) entwickelte sich. Was thut man nicht, um in diesen distinguirten Kreisen populär zu werden!

Als Eduard sein Portemonnaie musterte, fand er leider nur 15 Mark darin und wollte doch wenigstens 5 Mark für weitere Auslagen behalten. Also deponirte er, 10 Mark zahlend, die Uhr. Fräulein Mary erschien, nachdem er eine Viertelstunde in gräulichem Zug vor der Hausthür gewartet, mit einem wundersamen Strohhut, dessen Krempe phantastische Blumen garnirten.

Seltsame Menschennatur! Trotz seiner alles beherrschenden Liebe für Kathi wußte ihn Mary derartig durch ihre stille Gluth zu bezaubern, daß er in ihren Armen sein Liebesweh gerne vergaß. Sie erzählte ihm eilig ihr ganzes Leben (die übliche Wahrheit und Dichtung) und betete ihn augenscheinlich an, wie dies bei dem ersten Eindruck gegenseitiger Neigung so häufig ein freundlicher Selbstbetrug gestattet. Als sie ihm eine Rührgeschichte von ihren Augen erzählte, wie sie am Staar erblindet gewesen und dabei von dem Mitleid eines Biedermannes unterstützt worden sei, der auch in der Blindheit ihr treuer Freund blieb – da trug sie das Alles so reizend vor, daß Eduard nicht umhin konnte, sie auf die süßen verkniffenen Augen zu küssen und sie mitleidig ans Herz zu drücken. Nachdem er sie aber dann zärtlich »Mein Bräutchen« genannt und sie mit niedlichem Schmollen »Ach, das sagst Du jetzt schon!« gelispelt hatte, packte er sie in eine Droschke, statt mit ihr nach Hause zu wandeln, wobei sie ihn noch aus dem Wagenschlag wie wahnsinnig küßte und ihn beschwor, sie morgen wieder durch sein Erscheinen zu beglücken.

Er lachte bitter in sich hinein, als er sich selbst in eine Nachtdroschke warf und mit starkem Cigarrenqualme die Dünste des vergifteten Weines zu verwischen suchte.

Das ist der Mann! Während sie, die Eine, vielleicht ernsthaft an ihn dachte, während die gebüldete Kneifer-Jungfrau mit Eros Pfeil behaftet in ihr Bett schlüpfte, gähnte er verdrossen und mürrisch in die Nachtnebel hinein. Aber einen komischen Gewissensbiß spürte dieser schwächliche Halb-Idealist denn doch. Der Instinkt brachte ihm das dem Menschen eingeborene Gefühl zur Geltung, daß eine Doppeliebe nebeneinander unmöglich sei. Jede Verletzung monogamischer Treue wird als ein Abfall vom natürlichen Ideal empfunden.

Am andern Tage – Witterungswechsel war eingetreten, die ermüdeten Nerven wie der erhitze Magen hatten in der eisigen Nacht eine ungesunde Abkühlung erfahren – räkelte er auf seinem Sopha, die Zeichnungen zu Kuglers »Friedrich der Große« von Menzel durchblätternd und versäumte eine Entrüstungs-Conferenz mit Collegen in Sachen einiger Bildabweisungen durch die Jury der letzten Kunstausstellung. Wäre er aber rechtzeitig gegangen, so hätte er den Brief nicht mehr erhalten, der ihn auch den Abend zu bleiben bestimmte. Auf seine Frage, ob sie mit ihm in Sardon's »Theodora« gehn wolle, hatte sie wieder zögernd erwidert: es ginge nicht, nachdem sie so lange nirgendwohin ausgegangen. Dennoch wollte er hinaus fahren und sie bestimmen, mit ihm öffentlich zu erscheinen, obschon Beide sich wohl über dies Wagestück klar sein mochten. Sie schrieb ihm aber jetzt:

»Dürfte ich Sie bitten, statt Montag schon morgen Sonntag um vier zu mir zu kommen, da ich mit Ihnen noch über eine Angelegenheit reden möchte. Mit herzlichem Gruß Ihre K.K.«

Rother ging nun allein ins Residenztheater, um das byzantinische Ensemble auf seine Kostüm-Echtheit zu prüfen. Sein gewöhnliches Steckenpferd. – Dies Bild einer Dirne, die sich bis zur Weltherrscherin emporringt, an der Seite eines vom Karrenschieber zum Cäsar aufgestiegenen Justinian, rief ihm so recht die originelle Urweib-Erscheinung Kathis in ihrer unheimlichen Voll-Kraft vor Augen. Die Scene, wo Andreas seiner Verführerin flucht und Liebe und Haß bei ihm auf- und abwogen, erschütterte ihn tief.

Er dachte an seine eigene »Theodora«. Sollte auch er ihr einst fluchen? Sollte übermächtiger Haß die Liebe besiegen? Nein, nein, sie war gut, sie war edel. Er hatte es beim letzten Mal so recht erkannt.

Warum mußte ihm durch Vererbung so viel sinnliche Leidenschaft und zugleich so viel reine aufopfernde Liebessehnsucht ins Herz gepflanzt sein! Was hilft die geistige Begabung oder Charaktergaben in der Geschlechtsliebe, welche doch die Spiralfeder aller Handlungen und das wichtigste Element des Lebens bildet? Absolut nichts – beim Weibe wenigstens.

Schönheit und Kraft gilt beim Weibe natürlich viel: sie nennt das »gern haben«, wenn ihre physischen Begierden erregt. Rang und Reichthum gilt noch höher. Einem Titel wiedersteht man schwer und einem vollen Goldsäckel, der die Vision des Luxus hervorzaubert, zu widerstehn, scheint kaum möglich. Ruhm – schon viel weniger verlockend. Was ist Ruhm! Höchstens kann er sich in gesellschaftliche Stellung umsetzen. Und gar der geistige Werth ohne Ruhm – ein Nullwerth! Güte des Charakters? Taugt hochstens dazu, mit einer Art herablassendem Mitleid in Fällen der Noth ausgenutzt zu werden.

Der Schönste, Kräftigste, Reichste und Vornehmste – der hat ja doch alleine Chancen in der Welt wie in der Liebe, der Weise und Beste nie.

Was ist also Liebe eigentlich? Ein Ding, das für die Weisen und Guten nicht paßt, also ihrer unwürdig. Und doch leiden oft gerade sie am tiefsten unter dieser Folter.

Warum muß das Gefühl der Liebe sich grade an ein Geschöpf wie das Weib knüpfen? Wie viel glücklicher scheint das Weib in dieser Hinsicht, da sie wirklich das intellectuell und moralisch hoher stehende Element im Manne lieben kann!

Aber was helfen die Betrachtungen! Aendern die etwas an der Leidenschaft selbst? Die bleibt, allen philosophischen Reflexionen zum Trotz. Die Liebe, wenn zur wirklichen verzehrenden Leidenschaft entflammt, gehorcht immer nur der Sinnlichkeit.

Wäre das schöne Weib minder begehrenswerth gewesen, so hätte Rother sicher nicht bis zu solch selbstvernichtender Hingebung sich herabgelassen. Die Liebe gleicht einer Furie selbstsüchtiger Selbstvernichtung, welche ihre höchste Wollust im Zerfleischen der Ichsucht findet.

Er stellte sich vor, ihr Gesicht werde von Runzeln zerfressen, ihr Busen schrumpfe ein und sie huste schwindsüchtig. Auch dann noch glaubte er ihr dieselbe, ja vielleicht eine noch tiefere Neigung bewahren zu können.

Vielleicht keine Selbsttäuschung. Um so schlimmer für ihn, daß er diese Betrachtung über das Wesen der Liebe wagte. Liebe wird erst dann mörderisch, wenn sie die Sinnlichkeit überwunden zu haben glaubt: Dann ist sie in alle Adern wie ein Giftstoff übergegangen. –

Eduard arbeitete tapfer den ganzen Tag darauf los, seine peinigende Ungeduld bezwingend bis ihn die Stunde rief.

Das erste Mal, daß er an einem Sonntag die alte liebe Fährte ging. Die ganze Friedrichs- und Chausseestraße hinauf wogte es in buntem Gewühl.

Die Sonne schien hell; ihm war schwül und beklommen zu Muth, als die Arbeiterbevölkerung des Weddings in Sonntagsröcken an ihm vorbeiströmte. Als er wieder das alte rumpelige Haus betrat, schlug es Vier.

Er kam also just zur Zeit. Gleichwohl bat ihn die Wirthin, sich zu gedulden; Kathi käme gleich.

Wieder saß er am Fenster und blickte auf die Straße hinab. Wie ihm das Herz schlug! Die Erinnerung so mancher unseliger Stunden der Vergangenheit, die trübe verrauscht oder thöricht genossen, stieg, wie dampfender Nebel aus dem Moore, wie eine bleiche Erynnienschaar, aus der Tiefe auf und huschte über das grell beleuchtete Trottoir der Straße da unten hinweg. Sein Herz lauschte düster den Stimmen aus dem Abgrund und tauschte mit ihnen schwermüthige Grüße.

Die Wirthin trat einmal ein und holte etwas, indem sie still vor sich hinlächelte. – Endlich ging die Thür leise auf und sie trat ein. Sie trug den geblümten Schlafrock, der ihre Gestalt so prächtig hervorhob. Schweigend ging sie wie gewöhnlich, ohne ihn anzusehn, bis in die Mitte des Zimmers.

»Danke, daß Sie gekommen sind,« sagte sie sanft mit einem ernsten schönen Blick.

»Nun, in welcher Angelegenheit haben Sie mich zu sprechen?«

»O in gar keiner. Ich wollte Sie nur noch mal wiedersehn. Vielleicht reis' ich schon morgen. Und da wollt' ich doch den letzten Abend noch mit Ihnen zusammen sein.«

»Gut. Da hab ich Ihnen auch noch ein Rosenbouqet mitgebracht.« Er nestelte es aus dem Ueberzieher heraus und warf es auf die Kommode.

»Besten Dank!« Sie stellte es in ein Glas Wasser und setzte lächelnd hinzu:

»Wer weiß, für wen das in Wahrheit gewesen ist! Das war am Ende gar nicht für mich!«

»O doch, mein Engel. Und hier ist auch meine Photographie.«

Sie klatschte vor Vergnügen in die Hände. »Ach, das ist schön! Dafür sag' ich Ihnen doppelt Dank. – Sehn Sie, auf dem Bilde sind Sie sehr hübsch. Ja, so sehn Sie gut aus.«

»Und bekomm ich kein Bild von Dir?«

»Ja, Sie sollen eins haben,« sagte sie energisch und wühlte in ihrem Album. »Im Kostüm wollen's keins?«

»O, um Gottes Willen nicht. Da die eine mit dem Buch!«

»Ich hab zwar nur die eine und geb' sie sehr ungern. Aber Sie sollen sie haben.«

»Und was schreiben Sie darauf?«

»Aber Sie dürfen nicht zusehn.«

»Nein doch!« Er ging ans Fenster.

Sie beugte sich über die Photographie und kritzelte darauf. Wie wunderbar schön sie war! Ihre Gesichtsfarbe hatte sich rosig gefrischt und ihre braunblonden Haare leuchteten in einem undefinirbaren sauberen Glanze.

»Schreibe: Meinem Freunde,« sagte er mit Nachdruck. »Denn das bin ich gewesen und das werde ich stets sein.« Sie schrieb drauf los. »Ach,« fuhr er fort »Ich kenne die Welt: In drei Wochen hab ich Dich ganz vergessen. Und ich habe so viel Abziehungen. Das kennt man ja. Vielleicht werden wir uns nie wiedersehn.«

»Aber was hab ich denn da geschrieben!« fuhr es ihr plötzlich heraus, indem sie mit einem humoristisch erstaunten Blick und reizendem Schmollen von der Photographie aufschaute und ihn ansah.

»Nun, was denn?«

»Nein, das dürfen's nicht sehn!« Wie der Wind war sie zur Thür hinaus und kam mit einem Messer wieder, mit dem sie alsbald auf der Rückseite radirte.

»Was mag denn das wohl gewesen sein?«

»O ich will's Dir sagen. Ich hatte geschrieben: ›Meinem lieben Quälgeist‹. Nun schrieb ich Das.« Sie reichte ihm das Bild auf der Rückseite hin. »Meinem liebsten Freunde zum Abschied gewidmet.« Sie sagte es so ernst. Ein leichtes Stirnrunzeln fältete ihre Stirn und schien sich gleichsam in der zarten Rammsnase fortzusetzen, die sich eigenthümlich rümpfte.

»Das hast Du gut gemacht. Ja, Dein Freund bin ich und werde es bleiben.«

Eine Pause entstand, wo sich Beide stumm Auge in Auge maßen.

»Sagen's,« sagte sie rasch, »Ist Dein Bild, wovon Du sprachst, schon ausgestellt?«

»Ja. Da! Ich hab zufällig ausgeschnitten bei mir, was drüber geschrieben ist.« Er zog ein Zeitungspapier aus der Brieftasche. Sie las:

»Eine so meisterhafte Pinselführung ist geeignet, jede Kritik zu entwaffnen. Der grandiose Realismus des Ganzen verblüfft gradezu. Dies Werk wird einen Markstein in der Geschichte der Berliner Kunst bilden und weithin Sensation machen.«

Sie wiederholte nachdenklich und nachdrücklich den letzten Satz, gleichsam mit ernstem Stolz, als ob sie an dem Erfolg theilhabe und Mitarbeiterin sei. Eduard fand das entzückend. »O, es haben's aber auch Andere verrissen!« warf er hin.

»Dies thut nix,« urtheilte sie rasch. »Was sehr gelobt wird, wird auch sehr getadelt. Nun, haben's auch mal wieder auf mich Gedichte gemacht, wie? Da steckt was Weißes,« kicherte sie mit reizender Schalkhaftigkeit, indem sie in sein Notizbuch griff. Er litt nämlich stark an Dichteritis, die ihn wie eine geistige Cholerine besonders im Sommer heimzusuchen pflegte. Es sprudelte jedoch etwas Spontanes in diesen kunstlos ungequälten Ergüssen und sie wären eines echten Lyrikers, à la Professor Gräf, nicht unwürdig erschienen.

»Ja. Ich war wüthend und ärgerlich. Darum schrieb ich das.« Er las mit Emphase folgenden Erguß verkniffenen Größenwahns:

»Ein feiger Narr der Leidenschaft,

Verblendet taumelte ich hin.

Nun hat sich endlich aufgerafft

Mein wundzerriebener Mannessinn.

Du könntest mich vernichten, Weib?

Ich selber war's, der mich zerstört.

Dem Weib im parfümirten Leib

Kaum eine Seele angehört.

Dein seelenloser eitler Schwatz

Hat nie verdunkelt mein Gemüth.

Der Liebe Opferqual mein Schatz,

Hätt' mich auch ohne Dich durchglüht.

An eigner Seelenschönheit siech,

Hinfiebern wir in holdem Wahn,

Bis wir ein Herz in jedem Viech,

In jedem Kothe Perlen sahn.

Nun laß den Satan los in Dir,

Weil Einer Dich als Engel nahm!

Nur wisse eins, ich warne hier:

Der Löwe ist nicht immer zahm.

Und wisse jeder weise Wicht,

Den meine Narrheit tief entzückt:

Ein Schaf macht solche Streiche nicht,

Der Löwe nur ist oft verrückt.

Ich lache ob den abgeschmackten Laffen,

Die mich anglotzen mit den Bocksgesichtern.

Ich lache ob den Füchsen, die so nüchtern

Und hämisch mich beschnüffeln und begaffen.«

So, Heinrich Heine, klang Dein gelles Lachen,

Als Dich des Pöbels fader Hohn erniedert,

Als alberner Verderbniß Höllenrachen,

Der Dummheit Heuchelei, Dich angewidert.

Wer edel denkt, wird ewig unterliegen,

Wer Liebe sucht, der Selbstsucht Wollust finden.

Und doch wird nie das Böse ihn besiegen,

Weiß er den Thorenschmerz zu überwinden.

Nichts lebt, was würdig ist geliebt zu werden

Mit eines Künstlerherzens heiliger Reinheit.

Betrogen wird, wer je vertraut auf Erden

Dem Wahn, man ändere menschliche Gemeinheit.

Doch nicht das Lachen kann Dir Ruhe bringen.

Es stärke sich Dein Stolz durch Selbstbetrachtung!

Und jede Bosheit wirst Du niederringen

Durch Deines Mitleids göttliche Verachtung.

Sie hörte aufmerksam zu, indem sie die Hand an den Mund und brachte und leicht am Zeigefinger knabberte. Dabei sah sie ihn mehrmals strahlenden Auges an. »Durch Deines Mitleids göttliche Verachtung!« wiederholte sie halb für sich. »Spricht wie ein Heiliger. Sieh mal hier!« sprang sie plötzlich auf und hüpfte an die Kommode, von der sie eine Schnur mit aneinandergereihten Georgsthalern nahm. »Gefallt Dir das?«

Er ließ sie sinnend durch die Hand gleiten. »St. Georg – glaubst Du an solche Heilige noch?«

»Jo,« sagte sie ernsthaft.

»Nein, mein Kind, die Heiligen helfen nichts.«

»Glaubst Du denn auch nicht an Christus?«

»O ja, Christus lebt noch immer in jedem seiner Jünger. Jeder, der gut ist und liebevoll, wird gekreuzigt als ein Stück Christus.«

»Muß denn Jeder dabei gekreuzigt werden, wenn er liebevoll ist?«

»Hm, ja. – Er kann aber trotzdem viel glücklicher sein, als die Andern. Denn Mitleid und Erbarmen machen glücklich. Damit kommt man über Vieles weg, wenn man statt zu verurtheilen sagt: ›Wer sich rein fühlt, werfe den ersten Stein auf sie.‹ Und das wirkt auch allein. Die Sünderin hat sicher nicht mehr gesündigt.«

»So, hm?« machte sie. »Man sagt doch aber, selbst die Gerechten fielen zehnmal an einem Tag.«

»Das ist anders zu verstehn. Den strengen Maßstab von Christus kann doch kein Mensch erfüllen. Er predigt: ›Wer die Ehe bricht, der soll des Todes sterben sagt das Gesetz‹. Ich aber sage euch, wer nur ein Weib fleischlich begehrt, der soll des Todes sterben. Und wenn das Gesetz den Todtschläger tödtet, so soll schon der des Todes sterben, der seinen Nächsten haßt. Wer sollte da nicht wohl zehnmal des Tages fallen!«

»Oder sonst was gut's,« murmelte sie gedankenlos und kante an ihrem Finger, indem sie ihn verstohlen anschielte.

»Also heut zum letztenmal!« murmelte er.

»Nun wirst Du ruhn für immer,

Du müdes Herz. Hin ist der Wahn, der letzte,

Den ewig ich geglaubt.

Beruhige Dich! Laß diese

Verzweiflung sein die letzte! Kein Geschenk hat

Für uns das Schicksal als den Tod. Verachte

Die grenzenlose Nichtigkeit des Ganzen.«

Diese Leopardischen Verse, die er halblaut vor sich hin gesummt, schienen ihrer Stimmung besonders zuzusagen. Denn sie stürzte eiligst zu ihrem Koffer und entnahm demselben ein schwarzes Büchlein, worauf ›Poesie‹, zu lesen stund. »Ach bitte, schreib mir das ein!«

»Was, hier?« Er nahm das Büchlein und entfaltete es. Nur wenige Seiten beschrieben. Auf der ersten, die er aufschlug, fiel ihm ein kleines Lied entgegen, das er ihr einst gestiftet. Darunter: »Erinnerung an E.R.«

»Das hat mir zu gut gefallen,« erklärte sie mit lieblichem Erröthen. – Dann kam da ein Gedicht auf Passau »mit dem großen heiligen Dom« und dem rauschenden Inn. »Von wem ist denn das nun?«

»Von mir,« sagte sie lächelnd.

»Oho! Und was haben wir denn hier?

›Entfaltet gleichsam einer Rose,

Schaust Du aus lustigen Augen in die Welt hinein.

Ich rufe jetzt auf Wiedersehn,

Heut wo wir Zwei am Scheidewege stehn,

Ich schließe Dich in mein Herzkämmerlein.

Reimen thut sichs zwar nicht, aber 's ist wahr.‹

Donner und Doria, welch ein Poet! Der scheint ja eine fabelhafte Leidenschaft für Dich zu haben! Wer ist denn das nun wieder?«

»Herr Kohlrausch,« lispelte sie tieferröthend.

»So? Nun, da dank ich schön.« Rother stand auf, warf das Buch auf den Tisch und ging mit raschen Schritten auf und ab. »Also seid ihr schon einig?«

»Aber nein doch! Ich weiß nicht, wie Sie mir vorkommen!« rief sie ängstlich.

»Nun, das Zeug ist zu schlecht, als daß er's abgeschrieben hätte. Also hat er's selbst gemacht. Also ist er sterblich verliebt. Und daß Sie sich das einschreiben lassen, zeigt noch mehr. Und da bilden Sie sich ein, Eduard Rother wird sich neben dem Kerl da verewigen? Nein, meine Theure, das ist zu viel verlangt. Am Ende bin ich doch Eduard Rother.«

»Aber was Du doch immer gleich denkst!« sagte sie ruhig. »Wenn Dem so wäre und ich interessirte mich für ihn, so würde ich's Dir doch nicht gezeigt haben.«

»Das ist wahr,« gab er betroffen zu.

»Das kam einfach so. Er besuchte mich mal, als ich nicht hier war, und sah meine Poesie-Sachen hier herumliegen, weil ich immer Ihre Sachen lese. Da hat er nun gehört, wie viel ich mir daraus mache, und hat mir darum solch ein ›Poesiebuch‹ geschenkt, und sich ganz ohne meinen Wunsch darin selbst zuerst eingeschrieben.«

»So,« sagte er befriedigt. »Meinethalben. Aber ich schreibe mich nicht hier ein.«

»Ja, ich muß nur machen, daß ich Ihre Photographie in Sicherheit bringe,« fuhr sie piquirt auf, »sonst nehmen's mir die auch noch weg. Bei Ihnen, Eduard, ist Alles möglich.«

Er klopfte sie auf die Wangen und lachte. Aber ein süßes wonniges Gefühl einer gewissen häuslichen Zusammengehörigkeit durchschauerte ihn bei diesem traurigen »Kohlen«.

Sie trat wieder ans Fenster und sah auf die Straße hinab. Ihr Busen hob und senkte sich von schweren Seufzern.

»Dies Berlin hat mir nur Kummer gebracht und doch ist mir, als ob ich sterben müßte, nun ich's verlasse. Ich weiß nicht warum..« sie stockte. Er schwieg. »Ach, was hab' ich Gott nur gethan, daß ich so viel leiden muß.«

»Daß Du ein Weib bist und, noch schlimmer, ein schönes Weib!« warf er achselzuckend hin. Sie überhörte das.

»Ach, ich habe stets gehört, daß es bitter ist, fremdes Brot zu essen. Aber, daß es so bitter ist, habe ich nicht gewußt. Wenig glückliche Tage habe ich in meinem ganzen Leben genossen. Ach, in meiner Jugend, da hatte ich selber Dienstboten und quälte die halb todt mit meinen Launen. Und Eine hat mir auch mal gesagt: Sie wünsche, daß ich mal dasselbe durchzumachen hätte. Nun, das hab' ich durchgekostet.« Plötzlich fing sie an zu weinen: Zwei heiße Thränen rollten ihre schönen Wangen herab. Eduard wandte sich ab, um seine Erregung zu verbergen.

Es dämmerte sehr stark. Die Uhr schlug draußen: schon halb neun Uhr! Wie die Zeit rasch verflossen war! Die Wirthin klopfte an die Thür. Sie seufzte schwer auf.

»Meine Wirthin wird ungeduldig. Wir sollten zusammen noch einmal spazieren gehn in der Dunkelheit. Ich war den ganzen Tag nicht draußen.«

»Also soll ich gehn?«

»Ach nein, bleiben's noch ein bissel.«

Eine Pause trat ein. Sie versank in Gedanken, er ging langsam im Zimmer auf und ab.

»Nun gut,« sagte er endlich, »Etwas hat Sie ja doch aus Passau weggetrieben – damals als Sie ins Wasser gehn wollten, wie man mir drunten erzählte.«

»Ins Wasser? Nein, das ist nicht wahr.« Sie sah mit einer gewissen gelassenen Gleichgültigkeit in den dunkeln Himmel hinauf.

»Nun, wo ist denn Ihr Passauer Jüngling da geblieben?«

»Mein Passauer? Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

Er drehte sich ungeduldig um. »Nun, ich meine, Ihre große Liebe da..«

»Wer denn? Nein wirklich, ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich hab nie einen Landsmann geliebt.«

»Ich denke, einmal sollten Sie ja eine gute Parthie machen und Ihr Vater hat's nicht gelitten?«

»Ach Gott, was man da wieder geschwindelt hat! Nein, als ich nach Haus zurück mußte, da war Einer da, der mich heirathen wollte, ein Nachbar von uns, ein junger Mann, der ein großes Fleischergeschäft geerbt hatte. Der hielt um mich an, er war – kurz« – sie machte ein befriedigtes Gesicht – »er wollte mich haben. Aber ich mochte nicht.. und ein viertel Jahr drauf hat er eine Andre geheirathet.«

»Hm,« sagte er, »dann versteh ich nur das Alles nicht. Wer ist denn nun der geheimnißvolle große Unbekannte, der..«

Sie schwieg.

»Sagen Sie's mir! Ich sehe, daß Sie das quält. Nun, ich bin Dein einziger Freund. Einer Freundin sagt man so was nicht. So sag mir's!«

Seine ernste Stimme hatte für sie stets etwas dämonisch Zwingendes. Sie wandte sich und sah ihn an Ihr Gesicht flammte und eine Thräne blitzte an ihrer Wimper.

»Nun gut, so will ich Ihnen sagen, was noch nie Jemand gehört hat. Aber Sie werden es Niemanden sagen?«

»Nie, meine Hand darauf!«

Sie hob mit stockender Stimme an, aber erzählte ohne Befangenheit mit einer gewissen gleichgültigen Ruhe: »Ich war 17 Jahr alt, als ich nach Trient geschickt wurde, um dort in einem Hotel, das einem Verwandten von uns gehörte, bei der Wirthschaft zu helfen. Und da war ein Offizier vom Genie, dem alle Mädel nachliefen. Ich glaube, das war's nur, was mich reizte.«

»Aha! Und woher?«

»Aus Ungarn.«

»Ach was Teufel! So, und der waral so Deine große Flamme?«

»Ach, ich weiß selbst nicht recht. Ich glaube gar nicht, daß ich ihm so gut war. Es war nur.. Eitelkeit.«

»Weil er Hauptmann von Genie war?« fragte er mit leichter Ironie.

»Nein, weil die Mädel ihm nachliefen. Ach, als die Geschichte 'rauskam und mein Vater davon hörte und mich nach Haus befahl, da hat er geweint, viel mehr wie ich – er, ein Mann und Offizier!« Ein etwas verächtlicher Beigeschmack lag bemerkbar in diesen Worten. Eduard mußte, instinktiv fühlen, daß sie eher mit Ekel und Geringschätzung an diese Jugendliebe zurückdachte. »Und dann.. aber Sie dürfen nie je zu Jemand ein Wort davon sagen, nicht wahr? Das wär abscheulich..« auf seine abwehrende Handbewegung fuhr sie rasch fort. »Als er nun fortversetzt wurde und ich fortmußte, da glaubte ich meine Schande nicht überleben zu können. Und nun that ich was ganz Verrücktes. Ich stand in der Nacht auf, nahm die Streichholzschachtel, schabte von allen Streichhölzern den Phosphor ab, und trank das mit Wasser. Aber meine Natur war kräftiger als das Gift. Ich bekam nur furchtbare Kopfschmerzen – das war Alles.«

»So und weiter kam nichts?« fragte er mit besonderer Betonung. Sie erröthete leicht und schüttelte ernst den Kopf.

»Nicht das Geringste.« Wieder trat eine Pause ein. »Ach,« sagte sie plötzlich, »ich glaube, ich hab ihn doch furchtbar gern gehabt.«

»Und haben Sie weiter nichts von ihm gehört?«

»O ja. Er hat gesagt, daß er mich heirathen wolle, wenn er pensionirt ist – eher kann er's nicht.«

»So? Wie alt ist er denn?« fragte Eduard mit einer leisen Regung eifersüchtigen Mißtrauens.

»Dreiundreißig.«

»Ach Herrje! Da kann er ja noch lange lange nicht daran denken. Es wird ihm auch ohnehin nie einfallen.« Wieder klopfte draußen die Wirthin. Beide rührten sich noch immer nicht. Sie standen lautlos nebeneinander und blickten – sie auf die dunkle Straße, er auf ihrem schönen gramzuckenden Mund.

»Ach,« seufzte sie plötzlich, »Ich habe Den auch vergessen. Ich bin Niemandem gut, Niemandem.«

»Danke!« lächelte er und fuhr mit dem Finger ihre klassisch geschnittene Nase entlang.

»Ach, ich meine nicht so..« flüsterte sie verwirrt, »Nur nicht so wie damals..«

»Nun und der Kohlrausch?«

»Ach, das war nur Spaß. Es kann sein, daß ich hassen werde.« Sie nahm die Lampe, zündete sie langsam und stand, auf den Tisch gelehnt, nachdenklich da. »Wir müssen uns jetzt trennen. Meine Wirthin wird sonst bös.«

»Soll ich mitkommen?« fragte er zum Scherz.

»O ja wohl,« lachte sie freundlich. »In der Zeit können Sie ja was zeichnen, wie?«

»Nein, nein. Ich muß fort. Ich muß auch meine Uhr einlösen.«

»Ihre Uhr?« fragte sie rasch mit einem eigenthümlichen Aufblitzen der Augen.

»Nun ja, ich war Dir vorgestern untreu, mein Schatz,« sagte er lächelnd. »Dabei mußt' ich meine Uhr lassen, weil ich zu viel Geld zum Fenster hinauswarf.« Sie schmollte, aber ohne bös zu werden. »Also gut denn, trennen wir uns. Morgen Abend geht's fort?«

»Ja. Ach, ich werde an diese Stube zurückdenken, so lange ich lebe,« seufzte sie. »Die thränenreichsten Stunden meines Lebens verbracht' ich hier. Und dennoch.. mir wird der Ort stets theuer sein.« Beide sahen sich ernsthaft an.

»Und unter welchen Umständen geh ich weg – ach Gott!« Sie sah wieder wie geistesabwesend in die Luft. »Nun,« murmelte sie halb vor sich hin. »Meine Wirthin geduldet sich ja..«

»Wie, brauchst Du Geld?« fragte er hastig.

»Es ist mir nur um die Uhr..« stammelte sie verwirrt.

»Wie, hast Du die noch nicht einlösen können? Sagen Sie, wieviel Sie dazu brauchen?«

»Ach, nur 42 Mark.«

»Hier sind sie.« Er legte zwei Goldstücke auf den Tisch.

»O, besten Dank! Von keinem Andern würd ich einen Pfenning annehmen. Der Eberhart hat auch immer gefragt, ob ich Geld brauchte, und ich hab stets gesagt: Ich brauch nichts. Nur von Ihnen..«

»Nun, das versteht sich doch von selber.«

»Ich werd es auch sobald wie möglich zurücksenden.«

»Unsinn! Ich weiß, daß Sie das thun werden, obschon es gar nicht nöthig ist. – Da, steck's ein, damit es die Wirthin nicht sieht.« Sein nobler Sinn sträubte sich dagegen den Begriff des Darlehns zwischen so Nahestehenden überhaupt als vorhanden zu betrachten. Sie fühlte das instinktiv; ein schöner und sanfter Ausdruck veredelte ihre Züge, indem sie vor sich nieder auf die Tischecke blickte und fortwährend mit dem Bleistift an den Rand eines Modejournals kritzelte, der schon mit ähnlichen Hieroglyphen bedeckt war. – Schon wieder klopfte die Wirthin. Kathi sagte aber diesmal nichts und athmete schwer.

»Das Kurze und Lange von all unsrer Papelei ist also,« sagte er trocken, indem er seinen Ueberzieher anzog und sich seinen Stock gestützt hochaufrichtete, »was ich versprach, bleibt bestehen. Aber natürlich muß ja Jeder von uns sein Leben selber ordnen.« Er sprach noch so eine Weile, wobei er sich in Parenthesen einließ und das Satz-Ende nicht fand, bis er sich unterbrach: »Holla, wo ist denn mein Hut?« Er fand ihn und setzte ihn auf, indem er lachend murmelte »kann ohne ihn nicht weiterreden.« In Wahrheit wollte er sich im Hute besser ausnehmen, da er sein sonst lockiges Haar kurz vorher hatte scheeren lassen.

Sie aber stand noch immer in sinnender lauschender Stellung über den Tisch gebeugt und lachte nur leicht über sein komisches Hut-Manöver. Er hatte damit auch die Beobachtung erzielt, daß sie ihn gern ruhig in einem Zuge zu Ende gehört hätte. So hob er denn wieder an: »Was hinter uns liegt, darunter mach' ich einen Strich. Die Vergangenheit ist für Beide aus und zu Ende. Aber Deine Zukunft gehört mir und natürlich, wenn da was vorfällt ... Wäre ich nur den hundertsten Theil gegen andere Frauenzimmer so gewesen wie gegen Dich, so würde Jede für mich die größte Zärtlichkeit bekommen haben.« Sie zuckte leicht auf und erröthete, sich über den Tisch beugend, indem ihr Busen sich hob. »Natürlich, was nun in Zukunft kommt ... wenn Du wirklich nicht so für mich fühlst, wie ich für Dich – dann, ja dann kann ich nicht mehr mitspielen. Meine Selbstverleugnung in materieller Hinsicht ist schon so groß, aber.. das kann ich nicht.«

»Was steht denn hier?« sagte sie plötzlich, groß und kindlich zu ihm aufblickend, indem sie wie verwirrt das Modejournal von sich schob. Der ganze Rand war mit dem Namen »Eduard R.« bekritzelt. Er sollte verstehen.

»Närrchen!« Er lächelte schwermüthig. »Hast Du Dich mal in Gedanken mit mir beschäftigt?« Sie schnitt ein reizendes Gesicht. Eduard war eine einfache Natur, aber er fühlte, daß sie ihm in diesem Moment um den Hals fallen wollte. Er aber übte tapfere Entsagung – theilweise aus Stolz und Berechnung, weil er wohl sah, daß seine Ruhe auf sie einen doppelt tiefen Eindruck machen mußte, theils weil er sich überhaupt zu solcher Liebesscene nicht gestimmt fühlte, da ihn ein dringendes Bedürfniß quälte und er doch diesen Hochmoment nicht durch eine cynische Frage herabziehn durfte. (Kathi war mehrmals während der Zeit hinausgepilgert.) So mischt sich der reinsten Romantik die erbärmlichste Trivialität der physischen Natur. Platonische Entsagungsgröße aus hygienischer Rücksicht.

»Also endlich denn lebwohl! Wenn es auch zwischen uns nichts werden sollte, so wollen wir doch stets gute Freunde bleiben. Und darauf wollen wir uns die Hand gehen – als gute Kameraden.« Sie schüttelten sich die Hand, indem sie zaghafter, also liebevoller wie er, ihre breite Rechte in seine schmalen blutlosen Finger legte und vor sich niedersah. Das Weinen schien ihr nahe. Wieder machte sie ein Gesicht, als ob sie etwas erwarte – –. Aber er that es nicht. Mit einem Seufzer nahm sie die Lampe und öffnete ihm die Thür. »Bitte, nimm auch Abschied von meiner Wirthin!« bat sie. Diese saß im Nebenzimmer und nähte. Sie sah ärgerlich aus, weil der Abendspaziergang so verzögert wurde. Er lüftete den Hut und sie dankte etwas trocken. »Also adieu!« zögerte er auf der Schwelle. »Und Sie schreiben mir also dann gleich?«

»Nein, Sie wollen doch zuerst schreiben?«

»Ja wohl, gut. Aber erst nach einiger Zeit.«

»Ich – ich möcht' Ihnen noch gern ein Andenken mitgeben. Wenn ich nur wüßte, was!«

»Das ist hübsch von Dir. Halt.. laß mich noch mal Dein ›Poesiebuch‹ sehn!« Sie trug die Lampe, welche ihr kräftiger Arm straff emporgehalten, wieder zurück und reichte ihm eiligst das Gewünschte. Er blätterte. Da stand noch ein Gedicht. »Von wem ist das?«

»Auch von mir,« sagte sie neckisch, mit funkelnden Augen.

»Pah, Unsinn.«

»Auf Wort! Willst Du's haben?« fragte sie hastig. »Reiß Dir's raus! Ich schenk' Dir's.« Er steckte es in sein Notizbuch. Die Wirthin hatte sich schon angezogen; er durfte nicht länger bleiben.

»Also nochmals adieu, adieu.« Sie drückten sich zärtlich die Hand. »Auf Wiedersehn!« Sie sagten es fast zugleich und mit derselben verhaltenen Innigkeit des Tons.

Er riß sich los und stürzte die Treppe hinunter.

Besonderen Seelenschmerz spürte er nicht. Eigentlich war er innerlich froh, für Monate seiner Leidenschaft entzogen zu sein, und doch schien ihm ein geheimnißvolles Weh durch alle Poren zu strömen.

Die Wolken droben wichen nicht, gewitterliches Dunkel brach herein. Und die Wolken im Herzen ballten sich zusammen in banger Schwere. Er sah nicht Wesen noch Dinge um sich her, nur einen leeren Raum, in dem seltsame Schatten huschten. Es durchrieselte ihn frostig, als ob der Mond über ihm auf öde Ginsterhaide strahle oder auf ein mattfarbiges Meer, wo er verschlagen in leckem Boot. Im Flüstern der Abendwinde vernahm er einen unsagbaren Ton, der wie ein ferner Harfenton entfloh – eine seltsame Variation über die Melodie:

»Ich liebe Dich so tief, so tief, so tief!

Das stand im letzten Brief.« – –

Sein erster Gedanke nach diesem Trennungsschmerz von Scheiden und Meiden galt der Erledigung seines verhaltenen Bedürfnisses; sein zweiter, sobald er die Stadtbahn bestiegen, der nochmaligen Lectüre des Gedichtes.

Es lautete, als wäre es schlecht memorirt:

Erinnerung.

Erinnerung, sie ist die Blume,

Von Jeglichem wohl gern gehegt.

In unsers Herzen Heiligthume

Hat sie ein guter Gott gelegt.

Oh! pfleg sie warm Dein ganzes Leben

Denn nur im Licht und Sonnenglanz

Im Strahl der warmen Freundessonne

Erblüht die Blume voll und ganz.

Erinnerung blinkt am Lebenshimmel

Wohl Allen lieb als lichter Stern,

Sie bleibt bei uns, auch wenn wir einsam

Von Allem was wir lieben fern.

Weit über Ströme über Zeiten

In Leid und Lust in Wort und Lied

Schlägt sie die luftigen lichten Brücken,

Drauf der Gedanke weiterzieht.

»Sind Sie leidend, Herr Rother?« fragte der würdige Herr Bammer, als Eduard dort sein spätes Abendbrot verzehrte. »Nicht? Sehn so blaß aus. Gestern Abend war einer von Ihren Freunden hier, der Herr Luckner. Wir haben lange geplaudert.«

»Was Sie sagen!« versetzte Rother kühl. Er konnte sich denken, daß auch über Kathi alle Mordsgeschichten ausgepackt waren. Luckner, der talentvolle Maler griechischer Interieurs à la Alma Tadema, schien der letzte, den er als Mitwisser dieser Affaire gewünscht hätte. Er empfahl sich bald und begab sich in das Sumpf-Café, wo seine Freundin Mary ihn mit Begeisterung empfing. Eine Rose, die sie ihm geschenkt, hatte er aus absichtlicher Koketterie ins Knopfloch gesteckt. Obwohl sie theure Weingäste hatte, ließ die von Eros' Pfeil Getroffene dieselben sitzen und schmiegte sich an den Verzehrer eines Glases Bier, der mittlerweile auch seine Uhr wieder eingelöst hatte. Als sie aber immer zudringlicher wurde, konnte er sich nicht verkneifen, aus einer halb braven halb frivolen Laune das Bild Kathis hervorzuziehn, was natürlich Marys komische, Eifersucht entflammte. »Meinem lieben Freunde,« las sie die Aufschrift. »Nun, wenn Du nur ihr Freund warst –!« Er zuckte die Achseln. »Ach Du willst mich ja nur foltern!« schluchzte sie beinah. Und indem sie ihn mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit umschlang, flüsterte sie die Lieblings-Liebesphrase ihres Kellnerinnenjargons: »Bit Du meine Nauze?« Er ging mit ihr nach Hause.

Als er am andern Morgen heimkehrte, warf er noch in grauender Dämmerung eine Zeichnung Kathis aus der Erinnerung aufs Papier – sie aufwärts blickend, während eine Geniengestalt (mit ihm ähnlichen Zügen) herniederschwebend einen Lorbeerkranz auf ihre Stirne drückt; hinterher ein Gedicht, um seine wechselnden Empfindungen abzulagern. Einen Augenblick bedachte er sich, dann packte er Beides in ein Couvert und schrieb ein paar glühende Liebesworte dazu, die »Theure Khati« anhoben und »Ich konnte mein Blut für Dich opfern« endeten. Er sagte darin, daß all seine Kräfte sich verdoppeln würden, wenn sie sein wäre, daß nur sie ihn von seiner Liederlichkeit durch seine reine Liebe für sie befreien könne und daß sie allein ihn glücklich machen könne, wie er sie sicher glücklich machen werde. Der Brief athmete reinste zarteste Liebe und nahm kein Recht irgendwie voraus. »Nur um eins beschwöre ich Sie: Werfen Sie sich nicht fort! Sie sind viel zu edel und vornehm angelegt, um sich einem Rausch der Leidenschaft hinzugeben?«

Es lag zwar eine gewisse Brutalität darin, ihr so unverhohlen mitzutheilen, daß er am Abend nach dem innigen Abschied von ihr, seiner wahren Liebe, einem so gewöhnlich sinnlichen Gelüst nachgegeben – aber doch auch eine rührende naive Aufrichtigkeit, die dem geliebten Wesen, der Freundin seiner Seele, auch nicht seine geheimsten Schwächen verbergen wollte.

Das seltsame Gedicht lautete mit seiner Mischung von sentimentaler Hingebung und Selbstherrlichkeit, die an Größenwahn streifte:

»Wie kalt Du heute bist!« sprach sie mit heißem Munde,

Der düftend stets an meinen Lippen hing.

Ja innen blutete geheim die alte Wunde:

Dein Bild durch meine Seele ging.

Dich hab ich nicht geküßt, als ich die Hand Dir drückte

Mein Lebewohl hat stumm Dich angeschaut.

Doch ewig bleibst, wohin das Schicksal Dich entrückte,

Du meiner Seele angetraut.

Ja, eine Liebe giebt's, die einmal nur geboren,

Wie eine Perle nur die Muschel giebt.

Und ob ich hundertmal auch Liebe zugeschworen,

Ich habe einmal nur geliebt.

Ja, jeder neue Kuß, den wild ich mit ihr tauschte,

Verschärfte einzig meiner Sehnsucht Pein.

Bei ihrer Liebesgluth, die gestern mich berauschte,

Durchfröstelt's kalt heut mein Gebein.

O Leben, schlechter Spaß! O wechselnd Rad der Liebe!

Sie fühlt für mich, was ich für Dich gefühlt.

Was hab ich wachgeküßt der Hoffnung eitle Triebe,

Indeß mein Herz von Qual zerwühlt?

»My darling!« seufzt sie leis, die Wimper lustbefeuchtet.

Jaja schon gut, mein interessantes Kind.

Den Dämon kenn ich wohl, der mir im Auge leuchtet

Und der Dein kluges Hirn umspinnt.

Nur Liebenswerthe sind's, die je mein Kuß gesegnet,

Kein fades Herz sich mir zu eigen giebt.

Die Liebenswertheste allein, die mir begegnet,

Die Eine hat mich nie geliebt.

Die kluge Thörin hat der Liebespfeil getroffen,

Der tiefer sich und immer tiefer bohrt.

Auf meine Küsse mag sie ruhig weiter hoffen,

Mein Herz bleibt ewig ihr umflort.

Was soll man eben thun! Man sucht sich zu betäuben

Und damit holla! Alles ist dahin.

Man muß die Motten frisch sich aus dem Aermel stäuben

Und – aus den Augen, aus dem Sinn!

Doch wo mein Name tönt in ferner Zukunft Tagen,

Umzittert unsichtbar ein stolz Geheimniß dich.

»Er war mein Freund,« so raunt Dein Herz mit höherem Schlagen.

»Geliebt hat er nur Eine – mich.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

»Nun, wie war der Abschied?« fragte die Wirthin an jenem Abend, als Kathi sinnend und tief ergriffen in der Stube auf und abging.

»O sehr, sehr nett,« versetzte diese hastig mit leidenschaftlich bewegter halb erstickter Stimme. »Er ist solch ein edler Mensch, das muß wahr sein. Und – und ich hab ihn von Herzen gern.« – –

Der edle Mensch saß mittlerweile am andern Nachmittag, als Kathi und die Wirthin letzte Einkäufe in der Stadt machten – Kathi noch immer in inniger bewegter Stimmung, – mit der edlen Mary in einem kleinen Wiener Café, wo er sich früher auch mit Kathi Rendevous gegeben hatte. Kneifer-Mary hatte ihre Wirthin als Schutzgarde mitgebracht, um sich als anständige junge Dame zu präsentiren, und sah sehr blühend und jugendlich aus. Sie stellte ihr »Verhältniß« vor – »Herr..«

»Mein Name ist Hase,« gab er mürrisch zurück. »Manchmal auch Meyer.« Er war äußerst einsilbig und trocken. Marys Anspielungen, daß sie spazieren fahren möchte, fielen auf ganz unfruchtbaren Boden. In dem Glauben, daß nur die Anwesenheit der Wirthin ihn mißstimme, wußte sie dieselbe zu entfernen, nachdem diverse Chokoladen vertilgt waren. Die »Damen« hatten notabene eine halbe Stunde auf ihn warten müssen und er war auch nur erschienen wie er sagte, weil er es versprochen hatte. Mary's Andeutungen, daß sie nur für ihn so weit weg von ihrer Wohnung hierhergekommen sei und obendrein so lange gewartet habe – für keinen Andern – nahm Eduard ebenfalls mit gähnender Gleichgültigkeit entgegen. »Deine Gedanken sind weit weg,« seufzte sie.

»Jawohl,« brummte er finster.

»O ich weiß wohl wo – bei ihr?!« Er antwortete gar nicht. Stumm und zerstreut begleitete er sie bis vor ihr Lokal, kaum darauf achtend, daß verschiedene Vorübergehende auf der Friedrichstraße ihn erkannten und grüßten. Vornehm streifte er ihre Hand, lüftete den Hut und bemerkte gar nicht ihren vorwurfsvollen Blick, als er sich rasch von dannen trollte. Die Profanation dieser Amour nebenher schien ihm doch zum Bewußtsein gekommen.

Sie gefiel ihm und sie liebte ihn. Aber er liebte sie halt nicht.

Und dennoch, von Langeweile und Spleen geplagt kehrte er um neun Uhr Abends wieder in dem Sumpflokal ein, wo sein Erscheinen als »Verhältniß«, in das die närrische Mary verliebt war, Sensation erregte. Sie mußte viel von ihm erzählt haben. Aber nachdem er eine Stunde vergeudet, begab er sich, allen Bitten seiner Verehrerin zum Trotz, nach Hause. – – Um die selbe Zeit nahm Kathi Abschied von ihrer Wirthin am Lehrter Bahnhof.

» ... Und ja, so wird es denn auch wohl am Ende kommen: Ich werde ihn heirathen. O wie schwer es mir wird, zu gehn, das wissen Sie nicht.«

»Brauchen Sie auch wirklich kein Geld mehr, Kathi?« fragte die gute Wirthin. »Sonst will ich's Ihnen leihen. Sagen Sie mir, ob Sie Geld haben!«

»O wie können Sie mich so beleidigen!« rief sie aus und wurde feuerroth. Es blieb charakteristisch für sie, daß sie es als gröbste Injurie empfand, wenn man sich nach ihren Geldverhältnissen erkundigte. – Kurz vorher hatte sie freilich ihre Wirthin in Verwunderung gesetzt durch eine höchst sonderbare plötzliche Forderung. Sie hatte dieser nämlich, da sie ihr doch die Miethe schuldig blieb, einen Pfandschein als Sicherheit übergeben, der eingelöst werden sollte, wenn sie das nöthige Geld aus Hamburg sende. Nun fing sie auf einmal an. »Ach wissen's, liebe Frau Lämmers, geben's mir lieber den Pfandschein wieder zurück!« Die tüchtige, ehrenfeste, aber welterfahrene Berlinerin rief natürlich stutzig: »Wie so, vertrauen Sie ihn mir nicht an?« Und als Kathi feuerroth fuhr sie heraus: »Nein nein, besser ist besser!«

Sofort begann Kathi vor Wuth zu weinen. »Also auch Sie! daß auch Sie mir mißtrauen!« so ging die Litanei fort, die aber versöhnlich endete.

Nun saß sie also endlich im Coupé. Sie war standhaft und ruhig. Erst als der Zug sich in Bewegung setzte und sie ihr thränenüberströmtes Antlitz zum Fenster hinauswandte, bemerkte man: sie weinte bitterlich.

Was schmerzte sie denn so? Sie wurde ja ihre peinliche Existenz der letzten Zeit los! sie fuhr ja ihrem verführerischen Prinzipal entgegen. Welcher Abschied schmerzte sie denn so bitter?

Eine Stimme in ihrem Innern antwortete. – –

Drittes Buch
I. Schottisches Tagebuch. Von Abfahrt des Dampfers.

O penetranter Theergeruch,

O Bürsten und o Wischer!

O Besen, Eimer, Lappentuch!

Das geht ja immer frischer.

Man sieht euch Meerssöhnen an,

Daß ihr die Seife hasset,

Obwohl ihr hier euch Mann für Mann

Mit Putzerei befasset.

Und warum alle diese Noth,

Ihr tiefverruchten Seelen?

Daß ich zu rechter Zeit im Boot,

Dafür müßt ihr mich quälen!

Ihr jagt aus jeder Position

Mich bis zum Steuerrade.

Ich lenke auf das Trockne schon

Zum Ufer meine Pfade.

Doch alle Püsse, hier verliehn,

Und Flüche, die es regnet,

Curiren praktisch meinen Spleen –

Meerbären, seid gesegnet!

Seefahrt nach Edinburg.

Anstauchen Verwicks zeitenmorsche Thürme

Grau ans der grauen Fluth. Darüber nickt

Die stolze Rothkreuzflagge Albions.

Zwing-Caledonian und Schlüssel Englands,

Sei mir gegrüßt wie jedem Grenzer einst!..

Die Woge klatscht in immer gleichem Takt

An dieser Felsen Nippen – Seegevögel

Umschwirrt in immer gleichem Flug die Gipfel.

Der Mond tritt aus den Wolken; und ein Licht

Ein geisterhaftes, weiß und strahlend, wirft er

Hier auf Ruinen, ernst wie Nacht und Tod:

Tantallon Castle! Eule nur und Rabe

Sie nisten heut in deiner Mauerkrone,

Unheimlich krächzend langgedehnten Tones,

Wo einst des grauen Löwen Douglas Höhle ...

Am Hafen Dunbars fahren wir vorbei,

Dem alten Sitz des fürstlichen Geschlechtes

Altcaledoniens, der Carls of March.

Wie heut die Buccleuchs, Hamiltons, Argyles,

So standen sich zur Seit' und gegenüber

Die Douglas und die March in grauer Zeit –

Doch gegenüber, wie zwei Pfeiler stehn,

Die Beide doch des Hauses Giebel stützen.

Horch, welcher Sang schwillt feierlich empor

Zu Dunbars Zinnen aus den Feldgezelten?

Der salbungsvolle Psalm der »Eisenseiten«.

Der General kaltblütig mit dem Rohr

Der Feinde Stellung mustert. Plötzlich ruft er:

»Der Herr hat sie in unsre Hand gegeben!

Da kommen sie herab, die Lesley-Männer!«

Von beiden Seiten schallt's begeistert-grimm:

»Der Covenant!« »Jehova Zebaoth!«

Da plötzlich flammt die Sonne hochempor

Auf Berg und Meer nach bleichen Nebelmorgen.

»Seht, jetzo er erscheint, der alte Gott,

Und seine Feinde werden nun zerstreut.«

Gewaltig geht das Wort von Mund zu Mund

Und jede Brust erhellt das Gotteszeichen

Und Cromwell ruft:»Seht hin, sie fliehn, sie fliehn!

Wie Stoppeln sind sie nur vor unserm Schwert.

Drauf, Rüstzeug, mit dem Herrn der Heeresscharen!«

..Der großen Männer Wort ist Gottes Wink:

Und schon beleuchtet diese Siegessonne

Der Schotten feige Flucht durchs Blachgefild –

Von Schwerte nicht, von Cromwells Geist geschlagen.

Heil, Edinburg! Da steigst du aus der Fluth

Im Schleier der Romatik – Holyrood

Und Schloß als Zacken in der Manerkron'!

Im Nimbus goldnen Morgensonne schon

Strahlt deiner Dichterfürsten Monument,

Der Dioskurensterne, wie getrennt

Als Schottlands Doppelglorie und Ruhm.

Glorreiche Veste einst der Wissenschaft,

Wo lang geherrscht der Muse heilige Kraft!

Nach deiner Söhne neuem Griechenthum

»Modern Athen« gepriesen und benannt,

Dem auch im Anblick man dich ähnlich fand.

Waverley Station! Von Burns' Monument schweift der Blick zum Castle hinüber, hoch oben thronend mit seinen buntröckigen Hochlandsgarden, und von da durch die schnurgerade breite Prince's Street über die gewaltigen vierstöckigen Häuser weg, welche die Ober-Stadt mit der Unter-Stadt verbinden, zu dem gothischen Münsterthurm, der Scott's Denkmal umhüllt.

Bei dem wackern Bürgermeister

In Kirkcaldy darf ich sitzen –

Im Balkon im Sessel heißt er

Mich »Inspiration erschwitzen!«

Denn dort habe oft gesessen

Mit dem Toddy und der Pfeife

Carlyle, der hier unvergessen,

Und der oft hierher noch schweife.

Ha! Gleich wie der Pythia

Dreifuß macht mich dieser Sessel

Zum Propheten schon beinah!

In der Nordsee Schaumeskessel

Starre ich bis auf den Grund,

Seh das Weltgeheimniß klaffen

Bis in des Verderbens Schlund,

Wo die Parzen emsig schaffen.

Kirkcaldy hat eine dünne Bevölkerung, dicke Magistrate, nur drei Gefangenzellen und etliche »unverbesserliche Trunkenbolde«. Ich genoß die Ehre, einem der letzteren in einer der besagten Zellen (bei vorübergehender Besichtigung, um Irrthümer zu vermeiden!) vorgestellt zu werden. Dies nützliche Mitglied der Gesellschaft verhieß uns mit ausgezeichneter Höflichkeit eine Empfehlung an den Hausherrn gewisser unterirdischer Regionen, mit dem er augenscheinlich auf vertrautem Fuße stand, und schnarchte in edler Unabhängigkeit fort. Der Thierwärter – ich meine der Gefängnißschließer – konnte sich hier nicht die gerührte Bemerkung versagen, wie viel comfortabler dieser Feuerwasseranbeter auf der Pritsche sich den Träumen seines fanatischen Cultus hingeben könne, statt sich auf dem Straßenpflaster herumzuwälzen.

Uebrigens zeigte sich ein Herr aus Dundee sehr entrüstet, als ich mich bei einem Abendspaziergang durch die Gassen starke Betrunkenheit zu bemerken vermaß, sintemalen es »Saturday Evening« und doch nur zwei total »Ertrunkene« (der Narr in »Was ihr wollt« ist für diesen Ausdruck verantwortlich) durch die Straßen schwammen. Andre Länder, andre Sitten! Vielleicht eine Eigenthümlichkeit schottischer Religiosität, den »heiligen Tag« durch eine Whisky-Taufe einzuweihen! So kommen sie denn sicherlich mit rothen Nasen in die Kirche und näseln Psalmen und schauen stolz herab auf die »Heiden« in der Welt da draußen. Doch ihr dreimal am Tage Beten (nach jedem Mahl kniet jeder schottische Hausherr mit seiner Familie nieder und beginnt ein halbstündiges »Prayer«!) läßt ihnen noch Zeit genug für Gastfreiheit und Bildung. Der »ruchloseste« Poet wird nicht aus der Bibliotek eines solchen Frommen ausgeschlossen; denn dieser bleibt ein gebildeter Mann, obwohl er mit dem Papst in Rom an Unfehlbarkeit wetteifert. Auch scheint seine Gastfreiheit schätzenswerther, als die hochmüthig prahlerische Freigebigkeit Englands. Schottland ist arm. Darum darf man nicht verkennen, daß die Religiosität des Schotten sich zwar auch in Formeln und Riten, aber nicht minder in echter rechter »kindness« gegen seinen Nächsten zeigt, die ihm ein Opfer, wie dem Engländer ein bloßer Sport. Kein anziehender Gesellschafter, der Schotte! Sehen wir einen Sprößling der Grampians, so denken wir unwillkürlich an einen grauen schottischen Regentag. Ein Fremder, den sie mit Güte überschütten, wird sich im Leben nicht wohl bei ihnen fühlen. Sie finden es nicht comfortabel, ihre Bildung zum Besten zu geben, und jammern lieber über das Wetter, natürlich ein unerschöpflicher Unterhaltungsstoff.

Geiz (Armuth!), Trunkenheit (Klima!), Pharisäismus (Kirche!) mag man hier als häufige Fehler finden, Frömmigkeit und Biedersinn als häufigere Vorzüge, tiefen Sinn für Natur, Freiheit und Poesie als allgemeines Erbgut. Wie den Griechen und Italienern der Sinn für äußere menschliche Schönheit angeboren, wie die deutsche Race mit besonderer Empfänglichkeit für Musik begabt scheint, so mag man die ganze britische Nation getrost als das Volk der Poesie bezeichnen. Diese nordischen Stämme brachten mit sich die germanische Empfänglichkeit für freie Natur, noch verstärkt durch ihr Leben als Jäger und Krieger. Abgeschlossen von der übrigen Welt durch ihre insulare Stellung, bildete sich eine beschränkte, aber achtungswerthe Vaterlandsliebe in ihnen aus. Die langen Fehden der Schotten und Angeln begeisterten sie für kriegerischen Ruhm, und die Normannen brachten ihnen den Cultus der Chevalerie. Heine wundert sich affecktirt, daß die Engländer den Shakespeare hervorbrachten. Das wirklich Wunderbare wäre, wenn irgend ein anderes Volk ihn hervorgebracht hätte, oder wenn die Schotten nicht ihren Scott und Burns besäßen. Und wie stolz sind sie auf diese Zwei! Man wundere sich noch, daß die Briten im Durchschnitt die größten Dichter erzeugten! Kunst geht erstens nach Brot und zweitens nach Ruhm d.h. bei Lebzeiten. Der Nachruhm freilich – wir Deutschen sind sehr freigebig mit diesem werthvollen Artikel. Aber da ist noch ein Unterschied zwischen der gähnenden Goethe-Pfafferei und der innigen herzlichen Liebe der Schotten für ihre Dichter. Der echte Scotchman hat drei hauptsächliche Gedanken: Kirche, Hochland und Sir Walter. Unsere Kirche, unsere Natur, unser Poet sind doch die besten!

Es scheint charakteristisch, daß sie zwei Landstriche »Sir Walters Land« und »Burns' Land« benennen. Trotz allem Traphic und Common Sense blieben die Briten doch sicher naiver, natürlicher, poetischer und enthusiastischer, als die Leute auf dem Continent.

Kirkcaldy hat eine geräumige Kirche und will natürlich eine größere bauen.»Kirchenbauen« scheint eine Epidemie in Großbritannien. Der Clergyman gilt für einen der besten Prediger in Midlothian und ist ein gebildeter Mann, der lange Zeit in Berlin Theologie studierte und schlechtes Deutsch spricht, was viel sagen will für einen Briten. Uebrigens steht die gute Stadt in einem gewissen Zusammenhang mit deutscher Sprache und Literatur, auch durch Seehandel mit Deutschland, da sie in Verbindung steht mit dem größten German Scholar, Thomas Carlyle, der hier als junger Schulmeister lebte. Dieser außerordentliche Mann, der vielleicht noch mehr Bewunderer zählte, wenn das Corybautengekreisch seiner Verehrer nicht die Stimme ihres Gottes übertönte, bewahrte eine Vorliebe für diesen Aufenthalt seiner Jugendtage. Er besuchte, von seiner Seherhöhle in Chelsea aus, oft seinen ehemaligen Wohnsitz. Hier wandelte auch einst ein anderer Prophet, Adam Smith, in seinem Garten am Meer, wo er seine »wealth of nations« schrieb.

Ja, und da wäre nun Perth! Die »Schöne Stadt« nennt es sich selbst, alldieweil der Zauberstab des Dichters die »Schöne Maid von Perth« heraufbeschwor. Da hockt man nun in alterthümlicher Klause, in einer alten lauschigen Inn, eine alte Chronik neben sich, worin Erbauliches von Leben und Ende des schottischen Nationalheros William Wallace berichtet.

Die Moncrieff-Ruine immer noch ragt, immer noch glitzert der Tay so klar, daß man die Kiesel auf seinem Grunde zählt. Auf dem Anger, wo einst die beiden Claus gefochten, tummeln sich heut Criket-Schläger und die Enkelinnen der Schönen Maid von Perth – ach, sie lassen uns nur den Verfall alles Schönen bedauern.

Aber noch duften die herrlichen Blumenbeete der Stadt, noch duftet der sagenlispelnde Wald.

Sagen rauscht der alte Park,

Und die alte Lady drinnen

Am Kamin erinnert stark

An die Scott'schen Häuptlinginnen.

Um sie her sitzt all ihr Clan,

Und der ältste Sohn wird treten,

Wenn die Abendstunden nahn,

In die Mitte erst und beten.

Beten nach dem Abendbrod,

Mittag auch und Abendessen.

Ach, ich leide große Noth,

Der ich Beten längst vergessen.

Dunkeld! Wohl sieht man hier vor seines Geistes Auge Vernam's Wald anrücken auf Dunsinan, hier wo Macbeth verzweifelt wie ein Bar mit der Meute focht. Doch mit leiblichen Augen sieht man hinter jedem Meilenstein pinselnde Ladies aufgepflanzt. Ein Blick über die Schulter der edlen Künstlerinnen – – kehrten mir lieber Hochlandkühe den interessanten Rücken!

Blair Athole, schon ein richtiger Hochlandweiler! Die Gefälle des Bruar würden sich besser ausnehmen, wären sie nicht mit einer Hecke langbeiniger Touristen garnirt, die mit verzweifelter Ausdauer Operngläser herumgehn lassen, wie Wassereimer bei einer Feuersbrunst, als stünden sie hier auf schwerer Pflichterfüllung. Sie brummen »Be-e-auti-ifu-ul!« und kucken die Wolken an, sie lesen laut von ihrem Guide-Book ab: »Romantische Wasserfälle!«

Seitwärts liegt der Paß von Killikrankie. Daß die Truppen Wilhelm des Oraniers hier total geschlagen wurden, scheint begreiflich, wenn man die Position der Jakobiten bedenkt. Die Steilheit der Felswände, die Schmalheit des Passes und die Gefährlichkeit des früheren Fußpfades die Felsen entlang machen es zu einem Platz, wo, wie Cromwell von einer Schlucht in Nord-Berwik sagte, »ein Mann zum Aufhalten mehr werth ist, als zehn zum Vordringen.« Für gute Schützen, wie die Hochländer, muß es bei der vortrefflichen Deckung nur ein Scheibenschießen gewesen sein.

Natürlich blieb dieser Jakobitensieg der Weltgeschichte sehr gleichgültig, die ruhig weiter schreitet und Leute, wie die Stuarts, je ärger sie gegen den Arm des Schicksals zappeln, um so unerbittlicher über Bord wirft.

Da haben wir das Thal des Tilt. Dies Flüßchen hat sich einen Namen gemacht durch seine »unterthänige Petition an den Herzog von Athole«. Dieser Nobleman, der Besitzer von ganz Nord-Perthshire, konnte der Bitte des Genius unmöglich widerstehen, und so bauten denn die Worte von Robert Burns dem Flusse eine Brücke.

Es liegt etwas Anheimelndes in diesen Beziehungen zwischen Land und Dichter. Keine Literatur scheint so wie die englische, wörtlich verstanden, mit dem Boden verwachsen. Selbst Lord Byron, der kosmopolitischste der britischen Poeten, bleibt hiervon nicht ausgeschlossen. Die Berge und die Seeen von Aberdeenshire und das Schloß seiner Väter Newstead schweben ihm doch vertrauter vor, als die Inseln seiner Corsaren. Unter den Engländern scheinen die Werke von Dikens ein förmliches Guide-Boot seiner nur etwas zu groß gerathenen Heimathstadt. Aber wer erreicht gar die beiden Dichterheroen Caledoniens in Besingung des Vaterlandes? Kleine Länder haben eben den Vorzug, die Heimathsliebe ungewöhnlich zu erhöhen. Da ist wirklich kein Fluß und Berg in Schottland, der nicht durch das Wort eines Dichters dem ganzen Volke intim nahegerückt wäre.

Der Tilt verdient einen Besinger. Denn einen rebellerischeren kleineren Fluß kann man sich gar nicht denken. Mit lautem Hurrah kollert er die Waldhöhe herunter, schießt, als wenn's ihm Spaß machte, über alle möglichen Felsen Purzelbäume und läuft statt wie ein ehrbarer gediegener Fluß gradaus zu marschiren mit provozirender Geläufigkeit schief und krumm, bald rechts bald links, bald Ost bald West. Uebrigens scheint das Purzelbaumschießen ein Erbfehler dieser ganzen Stromfamilie. Etliche dreißig Bäche und Bächelchen rennen, sich überstürzend, als wäre ein allgemeiner »Gathering« ausgerufen, oder rutschen von einer senkrechten Klippe mit Donnergepolter herab, sich unten sammelnd um ihren Clanhäuptling Tilt. Doch »no more nonsense!« Ernst, düster ernst wollen wir sein, denn eine Reitpartie durch den Glen Tilt hat wenig Scherzhaftes. Vor Allem die Führer scheinen davon überzeugt. Nur wenn das Pony unsers Begleiters die wundersame Neigung entwickelt, nach rechts, wenn er links, nach rückwärts, wenn er vorwärts will, zu lenken, nebst andern unedlen Späßen einer edlen Pferdenatur – nur dann zuckt ein zufriedenes Grinsen durch ihre raubgierigen Geiervisagen – Holla! Da strauchelt mein Pony! Das kommt davon, wenn Einem verleumderische Gesinnungen gegen die edlen Räuber des Gebirges auf der Stirn geschrieben stehn. Ich habe wenigstens meinen Führer in Verdacht, diesen Gertenhieb grade für die Stelle, wo der große Stein liegt, berechnet zu haben. Aber auch diesem Pony ist nichts Gutes zuzutrauen. Das ist der wahre Repräsentant des Hochlands. Halsstarrig, eigensinnig, faul und voll humoristischer Tücke. Ein Jammer, daß ihm kein »Mac« über seinem krausen schwarzen Stirnhaar geschrieben steht, damit man doch gleich weiß, weß Geistes er sei! O dieser Gebirgssohn! Innerhalb fünf Minuten macht er fünf falsche Tritte, die, wie er weiß, ihm nichts schaden, aber seinen Reiter bis ins Innerste erschüttern. O Pony, Humor ist eine schöne Gabe, aber deine nun endlich abgestandenen (oder besser: abgerittenen) Späße von Hintenausschlagen, Wiehern, Stillstehn, vor jeder Felsnase Schenen, jede Ginsterblume als gute Beute ansehn – solche Scherze sind mir entschieden zuwider. Und noch dazu, wenn man an einem schiefen Felsgrat, an dem die Natur leider das Geländer vergessen hat, hintrabt und der Strudel dreißig Fuß unten brodelt. »Das sind mir Humore!« – Unser Begleiter hat sich schon lang in sein Schicksal gefunden und bewundert die Schönheiten der Natur eine halbe Meile hinter uns. Sein edles Roß leistet eine Viertelmeile preußisch in der Stunde, immer noch alles Mögliche, wenn man bedenkt, daß es sein Frühstück, zweites Frühstück, Lunch und noch mal Lunch während des Einherschleuderns am Wege findet. Glückliches Wesen! Wann wird uns ein Lunch erblühen? Jeder Grashalm, den es kaltblütig pflückt, vermehrt die Leere unsrer Mägen.

Hochlandpony, Hochlandführer,

Tückisch halsstarrige Viecher!

Proviant- und Börsenspürer,

Schnüffelnde Gepäckberiecher!

Heimlich habt ihr aufgefressen

Aus der Tasche mir die Stullen.

Und das Sheltie unterdessen

Thut, als säh es einen Bullen.

Jeden Augenblick ausscharrt es

Und die schwarze Mähne schüttelt

Ins Gesicht mir – o wie hart es

Mich am Abgrund weiterrüttelt!

Warum stampfst du mit den Hufen?

Schont beginnt es rings zu dämmern.

Ach, den Spitz des Schäfers rufen

Hört man dort nach seinen Lämmern.

»König ist der Hirtenknabe.«

Ja, der sitzt recht in der Wolle.

Von des Porridge Abendgabe

Träumt der ernst Gedankenvolle.

Da steht er groß und breit, in seinen dicken Wollenmantel und das Bewußtsein seiner Würde gewickelt, der braunstirnige Hochlandschäfer. Die zwei klugen Hunde liegen zu seinen Füßen, still und wachsam, ungleich dem lärmenden Gesindel der Städte, in ernster schweigsamen Pflichterfüllung. Ja, der Schäferhund des Gebirges scheint der wahre Gentleman der Hunderace. Der fette feige Newfoundländer ist ein fauler Lord und die maulende keifende Dogge ein pöbelhafter John Bull. Aber der Schäferspitz, unansehnlich an Gestalt, mäßig, beobachtend, freundlich, aber nie schmeichelnd –: der Charakter, der den Wolf von der Heerde wegbeißt und nach dem verlorenen Lamm durch Dick und Dünn läuft.

Was die Schäfer anbelangt, so scheinen dieselben durch die Schäferpoesie unschuldig in Verruf gekommen. Sie bleiben im Grunde ganz anständige Menschen, gerade so dumm und schmutzig, wie andre solide Bauern. Welche Entrüstung muß das Herz dieser Biedermänner erfüllen, wenn sie vernehmen, mit welch romantischem Firlefanz ihren groben Filzhut gerührte Bänkelsänger umwanden! Ueberhaupt diese Poeten! Jener Schäferjüngling, der so träumerisch vom Felsen in die Wolken starrt, dürfte eine Sündfluth »sangbarer« Lieder und populärer Balladen nach sich ziehen, auch dürfte er sich zu gefälliger Composition empfehlen. Aber welche Gefühle durchfluthen seine Brust? Legt er sich in Gedanken die Sonne als goldne Krone zu? Oder fliegen Uhlandsche Königstöchterlein durch seine schmachtende Seele? Oder ergeht sein zartbesaitetes Gemüth sich in elegischer Stimmung nach der alten Weise: »Da droben auf jenem Berge?« Verleumdung! Womit haben diese praktischen Realisten es verdient, als des Idealismus verdächtig denuncirt zu werden? Ein edler Zukunftstraum von Haferbrei erhebt sich vor seiner schönen Seele; tief sinnend schüttelt er das gedankenvolle Haupt in gelindem Zweifel, ob Jenny ihn diesen Abend mit purer Milch bereiten wird oder aber – die schöne Aussicht auf die Wänste seiner Hämmel begeistert ihn zu diesem logischen Gedankenschwung – mit fetter Sahne?! Um auf die besagten Hämmel zurückzukommen, so pflegt dieser vierfüßige Hochlandsclan eine unpassende Zudringlichkeit. Aus ihrer grasenden Beschaulichkeit aufgestört, starren sie uns mit dem düstern Blick gekränkter Friedensunschuld an und schleudern uns ein unheilverkündendes Blöken nach. Herr Schäfer putzt sich die Nase.

»Ade, du Schäfer mein!«

Wir sind nun schon lange über The Queen's Seat hinaus. Hier hat nämlich Königin Victoria auf einer Fußtour durch dies Thal geruht und der Herzog von Athole ließ hier ein erfrischendes Frühstück und zur besondern Befriedigung eine reichhaltige Liqueursammlung serviren. Die meisten Wasserfälle auch schon passirt. Der Tilt wird immer breiter. Dieser Flußjüngling blieb übrigens trotz seines wässerigen Berufes eine ungewaschener Canadier, indem er sich einerseits alle Nase lang in die Büsche schlägt, wo wir ihm nachlaufen müssen, andrerseits sich nicht einmal eine anständige Brücke zugelegt hat, trotz seiner entschiedenen Neigung für Ueberschwemmung und Austretung und überhaupt alle Arten von Ausschreitungen. An einer Stelle haben wir also richtig mit Sack und Pack, Roß und Reisigen, hindurch zu plantschen, wobei die Ponys ein auserlesenes Vergnügen im Bespritzen ihrer reitenden Opfer, in Folge gänzlich unberechtigten Strauchelns, zu finden scheinen. Vertiefen wir uns bei kurzer Rast in ein Butterbrod und die romantische Aussicht! Der Guide, ein erfahrener Menschenkenner, scheint uns poetischer Gefühle fähig zu halten; er wirft uns einen mißtrauischen Blick zu und schlendert uns, in der Gewißheit seines Verdachtes, die lauernde Frage ins Antlitz: »Schmeckt Ihr Butterbrod, Sir?« Ja, der Barbar wagt es obendrein, zarte Andeutungen auf unsre Whiskyflasche hinzuwerfen und eine große Libation zu empfehlen, unter dem medicinisch interessanten Vorwand, diese wässerige Umgebung erzeuge ihm immer eine ausfallende Kälte im Magen. Die Kälte wird also curirt und dann eiligst weiter! – In zarten Andeutungen sind Führer überhaupt groß. An der »Forsthütte« erlaubt sich Guide I die bescheidene Anfrage, ob ich auch an das Lunch gedacht habe? An der Ben Deary Kaskade wirst Guide II die Vermuthung so leicht hin, daß ich zehn Sandwichs mitgenommen hätte. Nur Acht? Mißbilligendes Husten. Vor den Shehallion und Farragon Bergen erkundigte sich derselbe in theilnehmender Weise, ob besagte Butterbrode sich einer Ausschmückung mit Schinken oder Käs erfreuten? Mit Schinken. So! Allgemeine Befriedigung. Guide I fürchtet nur, daß der Senf vergessen sei, und will sich freundlichst gleich selbst davon überzeugen. Wird höflich untersagt. Mißbilligung. Als sich die riesigen Proportionen von Ben-y-Gloe entwickeln, entwickelt sich der Hunger der Biedermänner in dito Proportionen. Dabei wird dem Whisky in unziemlicher Weise zugesprochen Bei den Schießhütten des Carl of Fife angelangt, erscheint uns allen denn auch das schwarze Torfmoor in einem eigenthümlich rosigen Lichte – unser Begleiter schwingt sich sogar zu der Behauptung empor, es gäbe hier eigentlich zwei Moore, eins überm andern. Diese bedenkliche Doppelseherei wirkt entschieden ansteckend, bis wir an dem Linn of Dee, dem berüchtigten Wasserfall, der den kleinen Byron beinahe verschluckt hätte, beinahe selbst dies Schicksal erlitten hätten. Das kommt davon, wenn man zu genau in den Fußstapfen des Genius wandelt. In dieser Gegend verlebte bekanntlich der originellste Dichter des modernen Zeitalters seine frühen Knabenjahre.

Da sind wir schon in Braemar. Furchterweckende Phantome von Dandies und feingeputzten Damen gleiten im Abendschatten an uns vorüber, aber wir halten es für Hallucinationen unsrer erregten Sinne. Wir stecken ja mitten in der Waldeinsamkeit. Großes Gebäude – sieht so Hotelmäßig aus? Vom Pony steigen, in die Vorhalle treten, mit dem Bauch eines enormen Oberkellners zusammenprallen wird das Werk einer Minute. Schaudernd werfen wir entsetzte Blicke um uns her. Ist's wahr, ist's möglich? Zwölf Kellner in Frack und weißer Binde, mit grauenhaften Scheiteln und distinguirtem Air, zwölf Gemeine und noch Se. Excellenz besagter Oberkellner, nebst Frack, weißer Weste, Cravatte und Glacés. Zuviel!

Man bedenke die Situation! Zwölf Stunden in der Wüste auf den Verkehr mit Ponys angewiesen, das Absonderungsbewußtsein eines zweiten Manfred im Busen und hier – zwölf Apostel der Etiquette, von denen der erste zarte Winke über Table d'hôte, der zweite über Schlafzimmer in erster, zweiter oder beliebiger Etage fallen läßt. Wir selber aber ließen mit Grandezza unser Gepäck fallen, schleuderten dem Bauch des glattrasirten Tyrannen einen vernichtenden Blick zu und stürzten uns mit dem Grimm eines Kannibalen über das Supper. Das war die Vergeltung! Alle Victualien verschwanden schonungslos vor dem Heißhunger unsrer Rache. Umsonst sandte der gastliche Leiter des Mahles wehmüthige Blicke gerechten Kummers den erschöpften Schüsseln nach. O er merkte jetzt mit unheimlicher Ahnung, daß sich Wüstensöhne mit dem dazu gehörenden Magen in seine wohlgesitteten Hallen gedrängt – einen letzten unaussprechlichen Blick verwundeten Anstandes warf er auf unsre bestaubten Röcke und Stiefel und ging und ward nicht mehr gesehn. Ich aber aß für zehn streitbare Männer, mit unsäglichem Wehgefühl.

Ohne Menschen fünfzehn Stunden!

Endlich hab an dieser Stell hier

Ich ein Manfredsthal gefunden!

Ach, am Ziel ragt ein Hotel hier!

Laß mich schaudernd rückwärts taumeln:

Ueber weißen Kellnerwesten

Seh ich Tombak-Ketten baumeln!

Fort mit meines Traumes Resten!

Auf nach Balmoral! Der Boden scheint eine malerische Sumpflache, die Sonne hat den Schnupfen – oder, wie man hier zu Lande das interpretirt: Das Wetter hält sich doch noch!

Rings strecken sich Felsen spitz in die Luft, wie ein Riesenfinger: andere Kegel haben das Aussehen von Burgen, von deren spitzen Thürmchen die Tannen wie grüne Fahnen herunterwehen. Der Styl dieser Böklin'schen Naturcomposition erinnert lebhaft an die Chaussee, von Reichenhall nach Berchtesgaden. An der einen Seite fließt der Dee, welchem Lord Byron als Badeprämie die Reklame in seine Werke einrückte: »Ibreasted the billows of Dee's rushing tide.« Vielleicht hat auf dieser Bank von Stein der junge Dichter von Zukunft und Ruhm geträumt.

Hier hat der erwachende Genius Byrons nicht nur seine Liebe zur Bergnatur, sondern auch das erste Bewußtsein der in ihm schlummernden Poesie eingesogen. Das erste, Alles beherrschende Gefühl eines dichterischen Geistes, Bewunderung der Schöpfungsmysterien, war ihm in diesen Bergen aufgegangen. Darum sei mir gesegnet und freudig begrüßt, wie ein Vetter des Parnaß, du weißhaariger Riese Lochnagar mit dem blauen Auge des wilden Bergsees hoch oben unter deiner massigen Stirn! Zu deinen Füßen stand die Wiege des Genius oder doch wenigstens genauer gesprochen, seine Milchflasche. Hier liegt nämlich der nette Pachthof Ballater, woselbst der junge Musagetes eine Milchkur genoß. Die Milch ist immer noch für Geld und gute Worte zu erstehen, aber die Milch der Musen – –

Auf der Bahn nach Inverneß. Rechts lärmender Franzose, links hustende Schwindsüchtige, auf allen Seiten Rauch und Hitze. Tiefmelancholische Landschaft. Das trübe Mondlicht scheint sich auf dem Rücken der schwarzen Hochlandkühe zu spiegeln, die aus ihren Hürden stumpfen Blicks dem Zuge nachbrüllen. Jeder Hügel trieft hier ordentlich von geschichtlichen Blut: Hochlandmorde und Clangemetzel schienen hier stets an der Tagesordnung. Ankunft in Inverneß, einer düstern, zugigen, höchst verdächtig aussehenden Stadt. In dem alten Castle soll den gnadenreichen Duncan Macbeths Dolch getroffen haben. Es sieht mir auch ganz danach aus. Bei Culloden wurde hier anno 1746 der Prätendent Karl Eduard total geschlagen.

Weltschmerz und Schnupfen schauern mich an, auf diesen Grabkreuzen sinnend.

»Für Gott, für König und Vaterland«

Fiel mancher Narr bei Culloden.

Sein eisernes Kreuz als Denkmal stand

Schon lange hier im Boden.

Das Känzchen klagt Kiwitt, Kiwitt.

Komm mit, komm mit!

Du graues Alräunchen, Du Hochland-Guide,

Du kicherst so verdächtig.

Bist Du ein Uhu im Menschenkleid,

Umgehend mitternächtig?

Das Käuzchen klagt Kiwitt, Kiwitt!

Komm mit, komm mit!

Bei der Steamerfahrt auf dem Caledonischen Kanal nach Oban bewährt sich uns die eingewurzelte Eigenthümlichkeit dieses Gewässers, sich stets mit Regen begießen zu lassen. Soviel man unter der Nebel haube erkennen kann, bildet den Glanzpunkt der Fahrt das Sichtbarwerden des höchsten schottischen Berges, Ben Nevis, und des größten Wasserfalls der britischen Inseln, Falls of Foyers. Zwischen Ginsterhügeln wälzt, der Foyer seine Fluthenmassen, bis er, durch ein breites Felsenbecken hinabgleitend, plötzlich an einem Abgrund sich überstürzt und aus einer Höhe von etwa 90 Fuß fast senkrecht niederrollt. Die berstenden Wogenbälle donnern mit unglaublicher Kraft an die starren braunschwarzen Felsgiganten und flattern in silberweißem Schaum, wie ein Lenkotheaschleier über die Ufer. Das furchtbare Zischen der sich bildenden Strudel, wenn die herabrollenden Wassermassen unten im Strom durcheinanderwirbeln, wirkt grauenerweckend. Der zerstiebende Schaum steigt in durchsichtigen Krystall-Säulen wie Nebelqualm aus der Tiefe, welche im Contrast zu dem schneeweißen Fall rabenschwarz, erscheint. Aus den verschlungenen Schluchten, aus allen Schlüften und Höhlen dröhnt ein unaufhörliches Echo nach. Ueber dem eigentlichen Fall stürzt noch ein zweiter kleinerer hernieder und wird mit seinem stärkeren Sohn – denn er erzeugt durch seine vorbereitende Kraft hauptsächlich die aufgehäuften, sich dem größern Absturz zuwälzenden Wogen – durch eine Aetherbrücke, einen in allen Farben schillernden Regenbogen verbunden.

Der Schweif des Sturzfalls peitscht die Wand,

Wo seinem Geifer Grün entsprießt.

Wie unterm Huf aufquirlt der Sand,

Schaum aufwärts schießt.

Wenn im Tunnel der Underground

Der Zug herdonnert blitzesschnell –

Wie hier, es mir im Ohre raunt:

Stürz vor, Gesell!

Dunstschemen schweben vom Glencoethal herüber, als wären es Geister der ermordeten Macdonalds und Camerons. Roth sinkt die Sonne hinter den blauen Kuppen von Mull und wir sind in Oban. Dieser kleine gemüthliche Seehafen erinnert an das liebe Fairport des »Alterthümlers«. Das Axiom »Time is money!« scheint hier ganz unbekannt. Der Mensch lebt, um Fische zu essen, sich zu recken. Netze zu flicken, zu schnarchen, mal aus Gnade Fische zu fangen, bis seine beschauliche Ruhe sich in ein seliges Ende hineinschnarcht. Glückliche Phäaken! Unvergeßliche Morgen, wo ich, Bulwers »Clifford« in der Hand, einsam im Walde lag, während nur fernes Lachen spielender Kinder zu mir heraufdrang oder fern auf der Höhe eine lustige Miß abscheulich trällerte! Unvergeßliche Mittage, wo ich die Ruinen von Dunolly-Castle durchkletterte oder im Boote zum Angeln hinausfuhr! Unvergeßliche Abende und Nächte, wo die überfüllte Strandpromonade mich in ein Boot trieb und ich hinausfuhr, bis die Walzer der deutschen Musikbande verhallten.

Doch unhörbare Melodie

Ertönt aus Inselschilf und Rohr –

Nur wem Natur ein Herz verlieh,

Der hört sie, nicht das Ohr.

Viel Silberfurchen schnitt der Kahn,

Phosphorisch, lang, durchs Wogenthal,

Die Inseln auf der Wasserbahn

Verbindend durch den Strahl.

Die liegen rings so schwer und schwarz,

Wie Wallfisch und Leviathan.

Nur würziger Duft von Fichtenharz

Uns meldet, daß wir nahn.

Es flammt das röthliche Fanal,

Manch Schatten durch die Wipfel schwebt.

Sind's Hünen, deren Todtenmal

Sich hier erhebt?

Die Woge schwillt zum Katarakt.

Mit Kamm und Mähne schaumig grün,

Die Midgardschlange tanzt im Takt

Mit schneeigen Geifers Sprühn.

Ade, Atlantischer Ocean! Schon jagen wir unter hinfegenden Regenschauern den Loch Etive und Loch Awe entlang, in das Herz von Argyleshire. An allen Flecken begegnen wir einem Aufruf des Marquis of Lorne (Schwiegersohn der Königin) als Clauhäuptling zu einem »Gathering«, um die alten Tänze und Uebungen der Hochländer in Ausübung zu erhalten. Dies ist die Heimath Campbells und die poetische Domaine Scotts. Wie wir so in Sturm und Wetter einsam dahinbrausten – nur die schwarzen Hochlandbullen stierten und brüllten uns von den schwarzen Hochlandhügeln nach –, da ward es um mich lebendig von schauerlichen Bildern. An der Bridge of Awe sah ich die weinende »Hochlandwittwe«, und drüben im Paß of Brander ihren erschlagenen Gatten, der da lag mit seinem ganzen Clan Mac Dougald of Lorn. Majestätisch starrte der steil herniederstürzende Ben Cruachau in den blutgetränkten See und über die Leichen zog rasselnd die Ritterschaft des Niederlandskönigs Robert Bruce. In den klatschenden Wellen aber und dem heulenden Wind, der mir den Hut vom Kopfe reißt, höre ich rauschen und brausen die melancholische Weise: »We are landless, landless, landless, Grigalich«. Und die Schatten der Wolken, die über die Landschaft jagen – sind es nicht die verfehmten verfolgten Mac Gregors? Doch der Weih, der hoch überm See lustig sich wiegt, scheint trotzig zu krächzen das Campbellsprichwort: »'T is a far cry to Lochow!« Dort in Glen Fruin vernehme ich im Klirren der Sensen das Wassenklirren der Mac Gregor und Colquhouns, die hier vernichtet wurden bis auf den letzten Mann. Ich sehe ein weißes Wölkchen am Ufer des Ben Lomond emporsteigen – oder ist es der Schleier Diana Bernons? Ein Seeadler stößt rauschend in die Fluth – oder ist es Rob Roy, der den See durchschwimmt?

In Inversnaid genoß ich die hohe Freude, eine mir besonders werthe Reisegesellschaft wiederzusehen. Es waren dies die sogenannten »Eßreisenden«, eine hochinteressante Species. Auf keinem asthmaerzeugenden Aussichtspunkt wächst diese Pflanzengattung – sie verschmäht vergängliche Genüsse. Aber beim Breakfast, Lunch, Dinner – da sieht man sie den bleibenden Freuden des Daseins sich mit uneingeschränkter Hingebung widmen. Die Assimilationskraft, mit der sie Roastbeef und Mutton in zahlloser Menge ihrem innern Selbst verschmelzen, hat etwas Ehrfurchtgebietendes. Besonders Missus kann man sich gar nicht anders vorstellen, als mir Messer und Gabel kriegerisch gerüstet. Dabei haben wir sie im Verdacht der Identität mit jener Cokneydame, die kürzlich, wie die Touristensage meldet, einem Gentleman, der erwähnte, er habe gestern Ben Lomond gesehen, die grandiose Antwort ertheilte: »Ben – was? Stellen Sie mir Ihren Freund doch mal vor!!« Ben schottisch: Berg. Englisch: Abkürzung von »Benjamin«. Bleibtreu, Größenwahn.

In Inversnaid stürzt ein prachtvoller Wasserfall sich in den See. Hier hat Wordsworth seine »Hochlandmaid« singen hören. Hier stand ich lange bis tief in die Nacht und sah Gedichte, für die mir die Worte fehlen. Den Loch Kathrine, die Scenerie der »Jungfrau vom See«, muß man durch das optische Vergrößerungsglas der Scottschen Muse betrachten. Sonst ein recht gewöhnlicher Teich.

Hier bewundern wir auch das »Gefängniß« Robins des Rothen, einen spitzen Felsen, auf welchem der Biedermann von oben her seine Opfer herabließ, um in dieser angenehmen Lage von ihnen unangenehme Bedingungen zu erpressen. Ach, die Helden der Poesie entpuppen sich oft bei nüchterner Betrachtung als ganz gemeine Wegelagerer. – Der Dampfer landet. Weiter durch die Trossachs. Dies Stromthal zeigt im Anfang einige Aehnlichkeit mit dem Sarne-Thal bei Botzen. Der Teith schäumt aber lange nicht so ungebärdig wie die muthwillige Sarne, und den ganzen Weg bis Callander hat die Natur als stilles liebliches Idyll gedichtet.

Durch die Trossachs hör' ich schallenDer Romantik Silberhorn.Doch verschüttet und verfallenIst der alte Sagenborn.

Ach, die Kutschen auf und abRasseln hier in vollem Trab.Menschen, wer kann euch entfliehen?Wer sich, Prosa, deinem Staub entziehen?

Sterling-Castle.

Am Felsenwall der Forth vorübergleitet.

In blauem Duft die blauen Gipfel mischen

Sich mit der Himmelbläue und dazwischen

Weit vor sich hin die Tannenforste spreitet

Der Benvenue. Dort Grau in Grau sich breitet

Ben Lomond, von dem Waldtalar umdunkelt.

Der blaue See von Menteith, ein Saphir,

Aus weißer Uferfelsen Fassung funkelt.

Dort drüben in dem öden Thalrevier

Auf diesem grauen windumtosten Stein

Stand Bruces Banner hoch im Abendschein.

Und »Scots, wha ha'e,« so klingt es mächtig drein

Im Wind von allen Bergen in der Runde:

Das weiht die Stelle erst, das Lied ans Dichtermunde.

Linlithgow. Nicht mehr aus Scharten der Geschütze Mündung

Entgegenstarrt, kein Wart vom Thurme ruft.

Doch stets noch wölbt sich in erhabner Rundung

Der Säulenbogen in der sonnigen Luft.

Noch heute schwer und massig ragt der Wall,

Von Fenstern kaum erhellt, fast nischenlos;

Die dicken Zinnen kamen nicht zu Fall.

Der Brunnen ragt inmitt der Säle all',

Wenn auch das Wasser ihm versiegt im Schoos.

Ein Gartenhof liegt dorten wohlgepflegt,

Von schattigen Akazien eingehegt.

Die hohe Pappel ihren Schatten legt

Ueber den bunten Kies und manche Bank.

Das rosafarbne Marmorbecken trägt

Die Wassersäule, durchsichtig und schlank,

Die oben sprühend auseinanderschlägt

In Silberfunken, die im Widerschein

Schillern wie eine Schnur von Edelstein

In Regenbogenfarben, wenn durchblitzt

(Wie die Koralle durch Krystalle glitzt)

Vom Widerschein des Beckens und vom Strahl

Der rosigen Sonne. So der Wind verstreut

Ringsum weiß-rosige Blüthen ohne Zahl,

Die einer weißen Dolde Krone beut,

Millionenfach und ohne End' ernent.

Ja, einem Springbrunn gleicht dies Städtchen heut,

Aus dem Erinnerung wie alter Wein

Zum Himmel steigt, erfrischend, glänzend, rein.

Falkirk.

Durch Falkirks Kirchhof schreit ich hin. Der liegt so tief und still,

Und der gefallnen Todten hier mit Ernst ich denken will.

Was sagt dies alte Monument? »Sir Jon de Graeme hier liegt,

Der Unbesiegte, den zuletzt der Tod nur hat besiegt.«

John Stuart of Bonkill neben ihm liegt in der dunkeln Gruft,

Kein Horn die alten Streiter mehr an Wallaces Seite ruft.

Sie fielen für die Freiheit hier in Falkirks heißer Schlacht

Und über ihre Leichen hin zog des Erobrers Macht.

Doch auf der andern Seite ruhn die Brüder Munro dort:

Sie standen hier und fielen hier als ihres Königs Hort.

Ja, damals scholl zum andern Mal dumpf über's Falkirk-Moor

Der englischen und schottischen Geschütze Donnerchor.

Die Clane drüben warten nur noch auf das Hornsignal –

Doch holla! wo steckt Hawley denn, Altenglands General?

Dort drüben liegt ein schönes Gut, nah dem Antoniuswall,

Von Rom erbaut, zu dämmen einst der wilden Pieten Schwall.

Hier in Callander Hause er sitzt und in ihr Auge blickt:

Ein Herkules in Uniform, von Omphale umstrickt!

Die schöne Gräfin Kilmarnok ihn witzig unterhält.

(Ihr eigner Gatte drüben steht beim Prätendent im Feld.)

Da klirren Stiefel auf dem Flur, die Ordonanz erscheint,

Ganz feuerroth wie Heißsporn Heinz: »Es regt sich schon der Feind!«

»Ich aber nicht!« gemüthlich brummt und grunzt der Commandant,

Doch fünf Minuten später klopft ein andrer Adjutant.

»Der Feind« – »Goddamn your eyes! Was Feind! Hier droht mein schöner Feind!«

Den Schnurrbart zwirbelnd, wunders wie holdselig er sich meint.

»Hoïroh!« Hagelwetter nicht so jählings stürzt herab,

Als jetzt das Hochland niederfährt vom Berg in vollem Trab.

Wie Stücke Speck in Stücke haun sie die Dragoner schnell

Und Schreck jagt über Albion jung Charley der Rebell!..

In Larbert Church da nebenbei schläft ein gereister Mann, James Bruce, der Abessynische Reisende. Nach einem Leben voller Abenteuer nahm er in der That ein so elendes Ende.

Der nach Gefahren mancherlei ein kläglich End' gewann.

Den Wilden und den wilden Leun geschickt entkam er oft,

Ja selbst dem brennenden Simum entrann er unverhofft.

Downstairs er eine Lady führt ganz ruhig ohne Arg –

Er strauchelt, bricht sich das Genick und liegt nun hier im Sarg.

Nicht weit davon ist Torwood Forst, wo William Wallace lag,

Um auszuwetzen bald aufs neu die Schmach von Falkirks Tag.

Hier sag' ich Falkirk Lebewohl, arm an Erinnrung nicht –

Und schon verlischt mir in der Nacht der Eisenwerke Licht.

Musselburgh.

Die alte Veste Musselburgh ist dies,

Umgeben rings von Wiesen lang gedehnt.

Auf diesem grünen Felde trafen einst

Die Häupter sich der Covenant-Partei

Mit Herzog Hamilton, des Königs Rath.

Auch trabten über diesen Plan dahin

Die »Eisenseiten«, lockend, doch umsonst,

Zum nahen Kampf den Schotten-General ...

Die Thürme drei Schlachtfelder überschaun:

Hier Pinkiehouse mit engem dicken Wall

Und rundem Erker und im runden Hof

Der wohlgebauten zierlichen Fontaine.

Hier war es, wo der Schotten Macht zerstob

Vor Englands Kraft und Kunst. – Ich hör' die Schlacht.

Lang wogt der Kampf. Ein wilder Knäuel Alles,

Darin es quirlt gleich einem Felsenstrudel.

Wie Schaum empor aus diesem Wirbel spritzen

Zerhaune Federbüsche oder Fahnen –

Wie Kiesel, die zerstäubt vom Wogenschwall,

Splittern zerbrochne Lanzen, Helme, Schilde.

Die Schotten wanken nicht. »Für Schottland und

Die Königin!« – Wer ist der stolze Ritter,

Der nun vereint zum letzten schärfsten Stoß

Die Söhne Albions? Der Earl von Hertford.

Anprallt der Sturm, wie Gießbach an den Fels,

Anschwillt der Kampf, wie Fluth mit Fluthen ringt,

Anschwillt wie Kataraktgetos der Lärm,

Und niederschwillt gleich einem Wassersall

Die Reiterei von England. »Drauf und dran!

St. Georg für Altengland und den König!«

Sieg! Sieg! Gebrochen Caledoniens Macht!

Und Schottlands Blüthe liegt geknickt im Feld! ...

Doch horch! Welche Droneten hör' ich dort

Von Carnbery hill? 's ist der Rebellen Schaar,

Vereinigt wieder ihre Königin. Die Rebellen zwangen Maria Stuart 1567, sich ihnen zu ergeben.

In ihrer Mitte auf dem schwarzen Roß,

Das stolz zu tragen solchen Stolz, Er selbst.

Deß schöne düstre Züge angehaucht

Vom Zeichen frühen Tods und dessen Stirn

Gerunzelt von nur halbbekämpfter Reue –

Er selbst, der Stuart königlicher Sproß,

Er selbst, der Douglas ritterlicher Sohn,

Der große Bastard, Murray der Regent.

Der Reiter neben ihm, ein schwarzer Pardel,

Schwarz, schwarz an Seele wie an Haar und Auge,

Ist Morton. Dort der Riese, der sich wuchtig

Stützt auf den Flammberg, täppisch wie ein Bär

Ist Niemand anders, als der Lord von Lindsay.

Doch Jener, bleich wie dieser Birke Stamm,

An die er halb sich lehnt; und mit dem Auge,

Kalt-glänzend wie das Eis, das überdeckt

Den tückevollen Loch, mit blasser Lippe,

Die stets gekrümmt von einem Schlangenlächeln –

Wer könnt' es sein, als Ruthven, der Verräther?

Er scheint mit flammenrothem Bart und Locken

Dem Aberglauben wohl ein Sohn der Hölle.

Und sicher gleicht er, in dem Gegensatz

Zum Löwen Murray einem glatten Tiger,

Der Beute Blut schon schlürfend mit dem Auge.

Umsonst dort drüben unter Waffen steht

Das Häuflein treu-ergebener Vasallen,

Umsonst der Schurke Bothwell prahlt und schwört.

Und schon auf ihrem weißen Zelter naht

Die schönste Maid im Hoch- und Niederland,

Sich zu ergeben hier dem rauhen Arm

Der höhnenden und trotzenden Rebellen.

Und welche Zelte seh ich ragen rings

Auf Prestonpans' Gefilde? Bunt Gewimmel

Hüben, wie drüben! Feinde sicher stehn

Sich gegenüber. Doch warum und wer?

Die Wache dort des einen Lagers zeigt

Des Königs Scharlach. Bajonnette blitzen,

Dragoner trällernd bei den Rossen stehn

Und an dem Rohr der Kanonier sich reckt.

Es ist die Macht von England hier vereint,

Roß, Reisige und Geschütz, zur Gegenwehr

Und Unterdrückung des Rebellenschwarms,

Der selbst des »wahren Königs« Heer sich nennt,

Der Hochlandsclane in des Stuart Sache.

Wie lustig und wie stolz Hannovers Heer!

Wie faul und stolz im Zelte schnarcht Jon Cope!

Der Morgen sehen wird ein andres Bild,

Wenn unter Doppel-Kriegsgeschrei der Schaaren:

»Hier für Hannover und den König George!«

»Hier für die Stuarts und Carl Eduard!«

Der Clane dichtgedrängte Masse stürzt,

Gleich wie ein Felsblock aus dem Katapult,

Zermalmend durch die Linien der Rothen,

Bis nur ein Wald von Blitzen, die empor

Im Takte zucken und dann niederrasseln,

Sich über'm Haupt der Streiter hebt und senkt:

Die tausend Claymores, die vernichtenden,

Durchhauend jählings aller Ordnung Ketten.

Der Tartschen Dröhnen und der Beile Krach,

Der scharfen Dolche Reiben an den Panzern,

Der Hochlandbüchsen Knattern, das Geroll

Des Peletonfen'rs und der Donnerrohre,

Der Rosse Schnauben, Spruhn' der Bajonnette!

Und dann nur eine wirre wilde Flucht

Und alle Fahnen Englands sind zerbrochen

Und all sein Scharlach wird beströmt von Blut!

Das Thal der Esk.

Roslyn, umschlungen von dem weichen Arm

Der sanften Esk, die lieblich kosend tanzt

Mit leichtem Schritte durch den grünen Rain!

Und ihre Silberstimme, halbgedämpft

Durchs mahnende Geräusch der greisen Fichten,

Den Berg hinan halb melancholisch schwebt,

Gleich Nachhall eines Lieds aus alter Zeit,

Das hier ein Minstrel sang in schönern Tagen.

Nicht besser waren jene Tage, nein,

Doch schöner, als das alte Castle noch

Auf einem Inselberg in Stromes Mitte

Mit schroffen Felsenwänden, starren Wällen,

Gleich einer Wetterwolke überhing

Das Thal, verderbenschwanger. Durch die Buchen

Mein' ich das Erz Geharnischter zu hören.

Hier hat des Schloßherrn rauhes Herz ergötzt

Das Stöhnen der Gefangnen im Verließ,

Aufsteigend aus der Stätte der Verlornen,

Und ein brutales Lachen, wilder Chor

Der trunknen Zecher übertönte gellend

Das Sterberöcheln. Doch am Fensterbogen

Winkt' ihrem Lord der Lady Seiden-Schärpe,

Wenn sein gepanzert schellenklirrend Roß

Den Paß erklomm – mit ihren Silberthränen

Statt Silbers die Gefangnen ihres Herrn

Loskaufend oft, wie Tennyson's Godiva.

Hier lagerten der Knight und seine Mannen,

Auf schwarzen Bärenfellen hingestreckt

Die riesenhaften Glieder, Tannen ähnlich;

Ermüdet von dem Waid- und Waffenwerk,

Die nassen Mäntel am Kamine wärmend.

Hier ist die Brücke. Glorreich war die Stunde,

Glorreich der Tag, als schritten über sie

Gefangen hin die Schergen des Tyrannen,

Des englischen Eroberers, gefesselt,

Ganz überwunden in der Freiheitsschlacht.

Wie war so purpurn da dein schneeweiß Kleid

Von falschem Southronblut, o muntre Esk!

Doch Blut verwischt sich, wie Erinnerung,

Und silbern, wie vor fünfmal hundert Jahren,

Sind deine Wellen. Ob der Mailandbrünne

Silber auch heut nicht mehr durchs Dickicht blitzt –

Das Schatzhaus der Natur bleibt unerschöpft.

Die Esk sich wiegt in ihrer schmalen Schlucht,

Die ausgepolstert weich mit Farrenkrant

Und Moos und Binsen und verhangen dicht

Mit Weiden wie mit grünen Schlaf-Gardinen,

Gleich einem Kind in einem Himmelbett,

In sich zufrieden, süßen Unsinn trällernd,

Und an die Wände seiner Wiege klopfend

In holder Ungezogenheit. Halb Bach, halb Strom,

Halb Kind, halb Maid. Und blick' ich wieder hin,

Wie furchtsam sie an's Tageslicht sich wagt

Und träumerisch hinschleudert und aufs Neu'

In ihre Wälder flieht, so dünkt sie mir

Schier ein Poet, ein träumender Alastor,

Ganz abgesondert vom Geräusch der Welt,

Verlegen, wenn ein Blick auf ihn gerichtet:

Der unbeholfen drum die Sonne sucht

Und Worte murmelt unverstandnen Sinns;

Der zitternd bald die sanfte Stimme hebt

Und dann erschrickt vor seinem eignen Wohllaut;

Bald wieder sich verbirgt in seinem Hain.

Ja du bist ein lebendiges Gedicht,

Lieblich Gewässer, und die Dichter drum

Zu deinem Bord wallfahrteten schon früh.

Abschied von Edinburgh.

»Wo des Castles Thürme schon

Mit der Fluth zusammenfallen,

Siehst den ewigen Schnee du drohn

Ueber Holyrood, Freund Allen?«

»Whisky-Lallen! Schlechter Witz!

Dieses sind ja Wäscherinnen,

Welche grad auf ›Arthurs Sitz‹

Bleichen ihre Kinder-Linnen.«

Schnaube, Dampfer! Schnaube nur,

Zeit, du gierig Ungeheuer!

Trag von hinnen ohne Spur

Mich von Allem, was mir theuer!

Lebewohl im Pfarrhaus bot

Ich den wirthlich holden Schwestern.

Lilie und Röslein roth

Dufteten mir, ach, noch gestern.

Mustertypen Beide sind

Jener stolzen Angelsachsen,

Die im Meer- und Alpenwind

An des Hochlands Grenze wachsen.

Wie Ginevra stattlich, bleich,

Hoch und stolz ist Fräulein Jenny.

Ja, mich dünkt, ein Königreich

Achtet sie für einen Penny.

Schwanenlied.. ihr Lied erklingt

Bald nicht mehr – o Qualgedanke!

Nimmer sie als Lerche singt,

Nachtigall, unheilbar Kranke!

Märchenwald, fahr wohl! Ob je

Ich euch Alle wiedersehe,

Klee und Schnee und Blüthenschnee,

Mädchenrehang', zahme Rehe?

Ich stieg wohl über den Hirtenwall

Vom düstern Pentlandhügel.

Da war die Melodie verstummt,

Wo Du noch weiltest am Flügel.

So wird auch die Erinnerung

In meiner Seele erklingen

Und mir Dein Bild im Traume nur

Zuweilen wiederbringen.

Nur ein Lied klingt mir immer noch dumpf im Ohr wie das eintönige Brausen der Seemuschel, die sich, das seegeborene Kind, zur Mutterwoge zurücksehnt. Das ist das Echo der Windharfe, die in Fingals Höhle spielt. Ihr lauschte ich im schwanken Kahn, als der Dampfer mich weit hinaustrug, eine Tagereise weit, zu den Inseln Staffa und Jona.

Den schwarzen Fels grellgrünes Gras

Umwallt. Es lugen aus dem braunen Ginster,

Von weißem Schaume naß,

Heidnische Leichensteine grau und finster.

Ein schmaler Paß,

Sich windend zwischen See und Klippenrand,

Führt steil entlang den dünenlosen Strand.

Hier wo sich Blöcke spitz und stumpf

Wie Schiefertafeln aufeinanderschichten,

An den basaltenen Rumpf

Geklammert, strauchelnd wir die Schritte richten.

Es orgelt dumpf

Die Brandung, die des Wandrers Fuß bespült,

Bis eine Höhle plötzlich sie sich wühlt.

Umringt uns eine Kathedrale?

Die Salzfluth spiegelt den geschliffenen Chorgang.

Wie in Weihwasserschale,

Spritzt durchs Portal die Woge, im Emporgang

Zum Sturmchorale

Wie Orgelpfeifen hüpfend. Gelb und roth

Der Sonne Inschrift auf den Nischen loht.

Dies Wunderräthsel ward gewebt

Als sein Symbol vom unbekannten Meister.

Ueber den Wassern schwebt

Noch heut der Werdehauch der Schöpfungsgeister.

Doch was da lebt,

Lockt hier der Angler Tod mit gellem Pfiff.

Der Urkraft Schatzhaus ist dies Kirchenschiff.

Weit draußen im freien Meer mußte der Dampfer beilegen. Denn der Ocean sang sein Schlachtlied, Möven kreischten klagend, die See ging hoch. Wir aber in vollgepfropftem Boot, lustige kecke Londoner Sportsmen, schaukelten uns ins Innere der Wasser-Höhle hinein. Den gefährlichen Riff-Kanal passirend, gelangten wir glücklich zurück zum Dampfer. Doch wenn schon das ins Boot Steigen beim Abstoßen und in See Stechen gefährlich war, so kostete es schwere Mühe, uns alle wieder an Bord zu bringen. Es gehörten feste Nerven dazu, genau in der Sekunde aus dem Bootstern auf die eiserne Fallreeptreppe zu steigen, wo die Taue der Matrosen das Boot herangerissen, das doch im nächsten Moment von einer Woge zurückgerissen werden konnte. Als ich bei dem Gedränge auf der Treppe seitwärts über Bord zu klettern suchte, machte das Schiff eine drehende Bewegung und nur dem starken Arm eines John Bull verdankte ich es, daß ich glücklich an Deck gelangte. Man muß sich wahrlich wundern, daß nicht unendlich mehr Unfälle auf See vorkommen. Jeder strengt eben alle Vorsicht und alle Kräfte an. Doch wo wäre der Tod uns denn nicht nahe?

Der Regen sprüht, das Steuer rollt,Die Düne steigt, die Brandung hör ich schnauben.Hier wurde Dienst gezollt,Zuerst im ganzen Nord dem Christenglauben,Der sich gewolltEin Heim erbauen in dem Münster hier,St. Columbans auf Eionas Revier.

In Trümmern morscht der greise Bau,Epheu und Lolch umwuchern schon die Thürme.Die Grille hüpft im Morgenthau,Der Eidechs schlüpft. Heran, ihr WinterstürmeIhr brachet rauhDas Segel meines Lebens, und in WehVersink' ich, bitter schmeckt der Tang der See.

Ich kniee in der Brandung GischtAm Steinkreuz nieder, dessen Rumpf geborsten.Die Midgardschlange zischtZu mir empor, wo meine Adler horsten.Ein Narr nur fischtNach Wahrheitsperlen. Auch des Ruhmes FelsVersinkt im Schlund des Acherontischen Quells.

Wenn diese Kette springt der irdischen Bedrängniß,Wenn diese Seele sprengt ihr thönernes Gefängniß,Was wird ihr Loos?Sinkt endlich sie hinab ins Nichts, das schmerzenleere,Versenkt sie sich ins All, dem Tropfen gleich im Meere?O Meer, thu auf den tiefen Schoos!

Am Rand der großen Tiefe steh ich hier,Die alles Seiende verschlingen wird,Und mich durchzuckt ein lüsternes Entzücken. Aus dieser Brandung leuchtendem GesprüheZaubere ich Lichtgestalten mir empor.Mir ist, als schwebte ich im Weltenraum,Wie ein Jehova, der die Rechte reckendDie Sonnenscheibe vorlockt überm Nichts.Und dann durchschauert mich ein andrer Wahn,Als wäre ich der letzte Erdensohn,Der einer neuen Sintfluth bang entrinnt,Wenn in der Wogen ungeheurem SchwallDes Abgrunds Aufruhr immer lauter grollt.

Blick hier umher! Nach schwülem dunstigem TagStrahlt blendender der Sonnenuntergang:Der Tod nach einem Leben trüb und bangVerklärt als Phönix sich erheben mag.Des Luft-Talares Purpursaum berührtDie Erde fast und Traubenbäche triefenHerab, so scheint es, aus der Wolken Tiefen;Manch rafaelisch Engelsköpfchen ziertMit rosigem Fittich rings das Firmament.Der Mensch, an Niedrigkeit und Hochmuth reichSteht gegenüber jedem Element,Als wäre Herrscher er und ist doch Knecht zugleich.

II.

»Dies Tagebuch ist – wirklich – recht – interessant, lieber Xaver.« Lady Dorrington gähnte leicht, als die Lectüre beendet.

»Ja,« meinte Mrs. O'Donnogan. »Nur die vielen Gedichte hätte ich weggewünscht. Das versteht man oft gar nicht! Das heißt – natürlich – vielleicht verstehe ich doch nicht Deutsch genug..«

»O ich bitte.« Krastinik verbeugte sich, etwas pikirt. Perlen vor die Säue! dachte er respektlos. Er hatte bei seinem Versuch offenbar an Heine's »Reisebilder« und Sterne's. »Sentimental Journey« gedacht. Etwas Einheitliches kam dabei nicht heraus. Einiges klang frisch, Andres geziert. Der forcirte Humor sowie die Trivialität solcher gereimten Prosa wie »Falkirk« und ähnlicher Chronik-Reimereien stach unschön ab von der wirklichen poetischen Kraft einzelner Parthieen. Aus allem aber athmete die Weltflucht eines müden byronischen Weltbummlers und zugleich der Dünkel eines Menschen, der plötzlich einer inneren Sendung bewußt geworden: der Größenwahn einer noch unklar gährenden Begabung.

»Ja, offen gestanden,« fiel Lord Dorrington ein. »Ich hätte gehofft, Du würdest uns irgend eine Novelle von schönen Hochländerinnen mitbringen oder so.«

»Ach ja!« Miß Egremont sah ganz sehnsüchtig von ihrer Handarbeit auf.

»Eine Novelle! Du mein Gott, das schüttelt man doch nicht so aus dem Aermel! Allerdings habe ich etwas Aehnliches begonnen..«

»Sieh da, sieh da, Timotheus!« lachte der freundliche alte Herr, indem er einen, lose am Schluß des elegant gebundenen Tagebuchs anliegenden, Papierbogen erspähte. »Dort steckt es wohl. Nun, lieber Poet, wie wäre es denn, wenn wir auch dies Getränke kosteten?«

»Ich weiß nicht, ob..« Krastinik zögerte.

»Vortrefflich!« rief Lady Dorrington, indem sie dem eintretenden Diener zugleich, den Auftrag gab, »Pale Sherry« zu bringen. »Das muß dem Dichter doch sehr nützlich sein, schon gleich beim Anfang seiner Arbeit ein Urtheil zu hören.«

»Ja, er mag dann ermessen, ob sie weitere Ausführung verdient,« orakelte die hübsche Irländerin, indem sie mit zwo zarten Fingern das Theetäßchen zu den zarten Lippen hob und langsam schlürfte, wobei sie zugleich, gleichsam mechanisch, ein zartes Füßchen vorstreckte.

Das wirst Du gerade ermessen können, kleiner Salonpapagei! dachte Krastinik. Aber die Dichtereitelkeit kitzelte ihn doch zu sehr, und als nun gar Miß Alice Egremont ihre tiefen seelenvollen Augen mit ruhigstummer Bitte zu ihm aufschlug, verbeugte er sich. »Ich fürchte nur, daß Manches darin den Damen nicht gefallen wird.«

»Ei, kommen Sie, zieren Sie sich nicht!« Lady Dorrington tippte befehlend mit dem Zeigefinger auf seinen Arm. »Diese Damen werden sich gewiß sehr freuen. Und prüde sind wir auch nicht so, wie die Continentalen uns verschreien. Wie, liebe O'Donnogan?«

»Durchaus nicht,« beeilte sich diese zu versichern.

»Na und übrigens,« raunte Dorrington ihm mit schelmischem Augenzwinkern zu, »wenn Zweideutiges oder auch Eindeutiges darin vorkommt, so brauchen sie's ja nicht zu verstehen, weißt Du. Sind mit dem Deutschen noch nicht so intim bekannt. Mein Frau wird Dich auch nicht gleich fressen.«

»Meinethalben,« capitulirte Krastinik. »Uebrigens sind's nur wenige Seiten, sozusagen die Exposition des Ganzen. Also, meine Damen, diese schrecklich naturalistische Novelle soll heißen: Nachhülfe wird gesucht.«

»Was für ein sonderbarer Titel!« Lady Dorrington schnitt ein etwas befremdetes Gesicht, kreuzte aber die Arme, setzte die Füße auf einen Schemel und schickte sich an, mit Spannung zuzuhören. Alice ließ ihre Arbeit ruhen, die O'Donnogan warf auf den Grafen einen Brillant-Blitz aus ihren holden Augen, und dieser Musagetes beichtete den drei Grazien folgende poetische Sünde.

Da es ihm wie allen Dilettanten an einer ausgeprägten dichterischen Physiognomie gebrach, so schien er naturgemäß auf die Nachahmung angewiesen. Mehr nachempfindend als schöpferisch beanlagt, ließ er seine Vorbilder mit jedem Tage wechseln. So suchte denn unser Eklektiker, von der Lectüre Maupassant's angeregt, diesmal im schlammigsten Fahrwasser des Zolaismus vorwärts zu steuern.

Nachhülfe wird gesucht.

Es giebt eine doppelte Gattung unglücklicher Menschen: Solche dies es sind, und solche, die sich so fühlen. Selten vereint sich Beides und das scheint eine weise, Fügung der bekannten Vorsehung. Denn die Verbindung dieser Momente würde den Selbstmord zur allgemeinen Manie erheben.

So giebt es denn nur nicht nur Tausende, die, von stetem Glück verfolgt, eine ewige Melancholie mit sich herumschleppen, sondern auch bestimmte. Lieblinge des Unglücks, die alle möglichen Miseren mit eselhafter Geduld zu tragen wissen. Besonders die sogenannten Idealisten, eine Menschenrace, die mit der Zeit in unsrem Jahrhundert aussterben und als Naturwunder secirt werden wird. – –

Der Guide des Zuges von Waverly Station, Edinburgh, nach Queensserry schwenkte eben zum ersten Mal seine rothe Signal-Fahne, als ein schäbig-genteel aussehendes Individuum, mit einem altmodischen Ueberzieher und blauen Brillengläsern geschmückt, keuchend und stolpernd an den Schalter stürzte.

»Ein Billet II. Classe nach – nach –« »Herr, wonach denn?« schrie der ungeduldige Beamte. Ein verlegenes blödes Lächeln verdummte die Züge des seltsamen Fahrgastes. »Ich – ich glaube – vergessen,« stammelte er schüchtern und sah sich wie hilfesuchend um.

»Ist der Mensch verrückt?« schnaubte ein Dragoneroffizier, der ebenfalls unpünktlich, athemlos nachdrängte. Wahrscheinlich wäre der Vergeßliche hinausgeworfen,hätte nicht eine wohlwollende Stimme hinter ihm ausgeholfen: »Nach Queensferry, nicht wahr? – Rasch, Schaffner. Hier ist's Geld. – Hier nehmt's Billet, Mann, und bezahlt mich nachher. Sie verlieren ja doch sonst Ihr Geld beim Aufzählen. So. All Right. Come along, Mr. Goodenough.« Damit riß der Retter in der Noth den Andern Arm in Arm mit sich fort, schleuderte ihn sans façon in ein Coupé zweiter Classe und bestieg selbst ein solches mit der Nr. I.

»Was, Prevost?« Bürgermeister. keuchte ihn der nachstürzende Dragoner beim Einsteigen an. »Ist das der bekannte Schriftsteller Goodenough? Hätt's mein Lebtage nicht geglaubt.«

»Ja wohl, ja wohl, passirt gewöhnlich!« nickte Jener, ein Mann, dessen Züge, die (sei es durch seine Beschäftigung mit Hammelzüchtung, sei es durch seine Vorliebe für Hammelbraten) eine eigenthümliche Aehnlichkeit mit diesem britischen Nationalthier zeigten, von einem stereotypen wohlwollenden Lächeln verklärt waren.

»Ist ja Ihr Unterthan, nicht, Prevost?« fragte ihn ein gegenübersitzender Herr – ein Landsquire aus Dundee mit dem Aeußern eines Methodisten.

»Ja, seit zwei Jahren!« erwiderte der Großmächtige mit seiner mehligen Stimme. »Lebt bei uns – sehr abseits vom Verkehr natürlich. Wißt Ihr, was Goodenoughs erste Frage an mich war, als wir uns kennen lernten? Wie ich noch immer Sonntags die Kirche besuchen könne!«

Der Junker mit dem schäbigen umflorten Cylinder, dem tadellos schwarzen Anzug und der Leichenbittermiene, schauderte gottesfürchtig.

»O das ist ja grauenhaft. Der Mensch ist ein Atheist?!«

»Nicht grade das. Nur bis zur Tiefe des Freireligiösengesunken. Er ist kein Christ mehr. Dabei ein schauderhafter Republikaner. Shelley ist sein Ideal.«

»Gott erhalte den König!« summte der Dragoner. »Und ist doch sonst ein gutmüthiger Mensch, der kein Wässerchen trübt, nicht?«

»O nicht auf dem Papier – da vergießt er Blut. Er ist ja so rother Socialist, daß er zwei Prozesse wegen politscher Pamphlete zu bestehen hatte – und das will bei uns etwas sagen. Seine Brochüre über ›Frauenemanzipation und freie Liebe‹ wäre ja beinahe unterdrückt, wegen sittlicher Bedenken der Polizei.«

»Haarsträubend! Freie Liebe?!« kreischte der Leichenbitter auf, der sich einer beträchtlichen Häßlichkeit befleißigte. »Was versteht er darunter? Umsturz aller häuslichen Bande, Zerreißung des heimischen Heerdes?«

»Nun, ich glaube nicht, daß er seine Grundsätze in der Praxis – fühlen möchte. Denn er ist selbst seit einem Jahr sehr verheirathet.«

»Aha! Das wird eine hübsche Häuslichkeit sein.«

»Freilich ist sie das,« nickte der Prevost ernsthaft. »Er soll jedem Fremden von seiner Wally die Ohren vollschwatzen. Er ist im Grunde ein sentimentaler Patron und hat eben nur von Allem überspannte Begriffe.«

Als man in Queensferry ausstieg, nahm der dicke Bürgermeister den armen Sünder unter den Arm, mit dem er auf dem Fuße gutmüthiger Herablassung verkehrte, und Beide, nach Hause wandernd, waren bald in ein Gespräch über ethische Dinge vertieft. Der Prevost klagte über eine gottverlassene schottische Landstadt, von der er vernommen, daß dort 17 Public-houses der Trunksucht und keine Kirche der Gottesfurcht Vorschub leisteten.

»Das wäre Alles noch nicht so schlimm,« meinte Goudenough. »Aber denken Sie an London! 6000 Personen in 11 Straßen und 2 ›Höfen‹ (Courts)! In einzelnen kleinen Häusern 50 – sage fünfzig – Insassen! Wo soll das hinführen! Dies Elend muß ja zu einer socialen Umwälzung hindrängen!«

In diesem Moment kamen sie an einem offenen Häuschen vorbei, welches Methodisten als abendliche Bethalle benützten. Deutlich hörte man durch die halbgeöffneten Fenster die näselnde Stimme des Vortragenden:

»Behold! I came quickly. Thanks be to God which giveth us the victory through our Lord Jesus Christ.«

(»Siehe, ich nahe schnell. Dank Gott, der uns den Sieg verleiht durch unsern Herrn Jesus Christ.«) Goodenough lachte leise auf. »Siehe ein Omen! ›Ich nahe schnell.‹ Wer weiß?«

Der Prevost betrachtete ihn mit mißbilligendem Kopfschütteln. »Jaja, Sie sind ein Unzufriedener, Sir. Sie locken gar noch Unruhstifter ins Land. Da ist Ihr französischer Freund, Monsieur Thibaut, der jetzt Ihr drittes Wort bildet, von dem Sie Jedermann erzählen. Was ist eigentlich so Großes an ihm! Ein Kritiker in Literaturgeschichte! Wär's noch ein Dichter!«

»Wer einen Dichter ganz versteht, ist selbst einer,« versetzte Jener eifrig.

»So! Und dieser verständnißvolle Wanderprediger einer revolutionären Aesthetik soll uns arme Leute hier durch einen Vortrag begünstigen – auf Ihre Veranlassung? Wovon soll doch seine Lectüre handeln?«

»Er wird sprechen über die These von Wordsworth: ›Der Ursprung der Poesie ist Emotion, welche sich in beschaulicher Ruhe an sich selbst erinnert.‹«

»Du mein Gott, wie gelehrt! Und das sollen unsre guten Provinzialen verdauen! Also morgen kommt dieser Phönix mit dem Dampfboot übern Firth of Forth herüber? – Ach, hier stehen wir vor Ihrer Schwelle. Gutnacht, Sir. Meinen Gruß an Mrs. Goodenough. – Sagen Sie doch, Liebster, predigen Sie Ihrer Gattin auch Ihre verderblichen Theorieen von Freier Liebe?«

Goodenough lächelte überlegen. »Ich verstehe den Stachel Ihrer Frage. Meine Wally ist jedoch über alle Schwachheiten eines unentwickelten Frauenkopfes erhaben. Sie ist eine wahre Philosophin. Unsre Ehe fußt auf der Harmonie der Geister und Seelen. Selbstverständlich bin ich für stete Vereinigung zweier Liebenden so lange sie sich lieben, und vor allem für Monogamie. Denn wie ein in Ruhe mit Appetit verzehrtes Brot nährender wirkt, als ein in appetitloser Hast hinuntergeschlungenes Beefsteak, so ist das stille Glück einer monogamischen Ehe der Seele nahrhafter, als alle schwärmerischen Leidenschaften.«

Der Prevost sah den Sprecher während dieses weisen Vortrags mit unmerklichem Lächeln an, warf einen Blick auf dessen fadenscheinige Gestalt und spinnwebenartige Beine, wollte etwas sagen, verschluckte es aber und empfahl sich mit freundlichem Gruß.

Goodenough wurde indessen, nachdem er den Messingklopfer der Hausthür gerührt, von der Magd mit einem bemutternden Grinsen in Empfang genommen, die ihm seine Reisetasche abnahm und »Madam!« rief.

Bald darauf öffnete sich die Thür des Parlours und eine gewaltige Dame segelte herein. Ihr straffanliegendes schwarzes Sammtkleid ließ ihre üppigen. Formen einladend hervortreten und ihre pralle Fleischentwicklung hatte bereits Kinn und Wangen mit massigen Fleischpolstern umgeben. Ihr vorstehender großer Mund athmete Gutmüthigkeit und Sinnlichkeit. Zwischen den vollen Lippen und der derben graden Nase lag ein schwarzes Blüthchen, das sich wohl durch Wohlleben dort eingenistet hatte. Dies Wärzchen glich einer kunstgerecht aufgelegten Mouche. Ihre Stirn war niedrig und von etwas schmutziger Farbe, ihr sonstiger Teint lebhaft, aber nicht frisch. Ihre Hände, einmal hübsch und klein gewesen, verwandelten sich allmählich in unförmliche Fettklumpen. Jedenfalls schien sie der Ceres und dann dem Bachus kräftig geopfert zu haben. Die Flammen der Venus werden hierdurch gar oft erstickt, doch wenn sie so unaufhaltsam durch feiste Mästung genährt werden, müssen sie endlich mit nachdrücklicher Gewalt einen Gegenstand verzehren. Langsame Gluth glimmt am sichersten. Uebrigens war sie nach neuester Pariser Mode gekleidet und hatte einen weißen Burnus übergeworfen. Die Philosophie mochte wohl diese eine kleine Schwäche ihres Geschlechts in der geistvollen Frau des gelehrten Mannes noch nicht verwischt haben.

Goodenough, der sehr erschöpft war, erhob sich schwerfällig und klagte, indem er sie zärtlich umarmte, über Bruststechen. Ein Schatten flog über ihr Gesicht. Dieser wich jedoch dem Ausdruck lebhafter Neugier, als er von Thibauts morgiger Ankunft erzählte. Beide sprachen dann noch allerlei über Thibauts Verdienste als bahnbrechender Kritiker. Goodenough hatte die Werke des Franzosen übersetzt. Als er in sein Schlafzimmer hinaufstieg, rief er befriedigt: »Ja, mit Ihm vereint, vorwärts an neue geistige Zeugung!«

»Ach, mit der geistigen Zeugung!« Sie wußte selbst nicht, wer in ihr diese Worte kicherte. Auch sie schritt stattlich in ihr keusches Schlafgemach. Dort zündete sie, sich entkleidend, eine Kerze an. Dabei fiel ihr Blick auf eine danebenliegende, frische, noch von keiner Gluth um ihre Jungfräulichkeit betrogene Kerze. Sie ergriff sie und betrachtete sie mit eigenthümlichen Gefühlen, als wäre sie ein Symbol des menschlichen Lebens. Ihr Busen hob sich in ungestümer Wallung. Ja, diese geräumige Hülle eines weiten Herzens zu füllen, diesen gähnenden Spalt, diese klaffende Lücke der Schöpfung – –

Mit einem leisen Stöhnen bestieg sie ihr schwellendes Pfühl.

»So, weiter kam ich noch nicht!« lächelte der gräfliche Dichter ganz unbefangen und klappte mit zufriedener Miene sein Buch zu.

Nach Vorlesung des seltsamen Fragments trat eine verlegene Pause ein. Hätte er es in einem deutschen Salon verlesen, so dürfte die boshaft cynische Anspielung am Schluß ihm einen moralischen Hinauswurf eingetragen haben. Die englischen Damen verstanden jedoch nur den allgemeinen Sinn, und selbst Lady Dorrington, welcher die Unanständigkeit einzelner Wendungen nicht entging, hielt das Ende mehr für albern als brutal. Die beiden Frauen sahen sich etwas betreten an, Miß Egremont sah in ihren Schoß. Der Lord hingegen schneuzte sich heftig und verrieth hinter dem Taschentuch convulsivische Zuckungen. Auf einen verwunderten Blick seiner Gattin stellte er jedoch die Taschentuch-Experimente ein und äußerte mit etwas unsicherer Stimme – er war sehr roth im Gesicht und schnitt eine unnatürlich ernste Grimasse, indem er sich behaglich die Hände rieb: »Hm, nicht übel als Debut. Vieles schien mir unverständlich. Nein, nein, lieber Freund, das ist doch nichts für unsre Damen. Wir hatten etwas Poetischeres von Ihnen erwartet. Und –« hier prustete er plötzlich wieder los und nahm sein Taschentuch zu Hülfe. Krastinik deutete kurz an, daß er mit der Philosophen-Gat tin und dem Ausländer Thibaut schlimme Dinge vorhabe.

III.

Bei Egremonts war Diner, an das sich später ein kleiner Rout anschloß. Krastinik begrüßte unter den Geladenen seinen Bekannten von jenem herzoglichen Schreckensball, Sir. Thomas de Mowbray. Nach Tisch beim Thee trieb man hohe Politik.

»Glauben Sie an den Krieg zwischen Frankreich und Deutschland?« fragte Mr. Egremont, indem er Krastinik eine Shilling-Havanna huldvoll überreichte.

»Zweifellos. Die beiden großen Maschinen heizen sich innerlich so lange, bis sie plötzlich mit voller Dampfkraft aufeinanderprallen. Die daran zweifeln, gleichen dem Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckt, um sich dem Feind zu verbergen.«

»Ich hoffe,« Sir Thomas de Mowbray reckte sich, »daß diese Preußen nicht wieder die armen Franzosen so unvorbereitet überfallen werden. Wodurch haben sie gesiegt? Nur durch ihre kolossale Uebermacht und ihr überlegenes Gewehr, wie ich noch kürzlich in der Broschüre eines französischen Artilleriecapitäns las.«

»Erlauben Sie,« sagte Krastinik ruhig. »Auch ich habe jenes thörichte Machwerk verdaut. Wenn der Verfasser wirklich den großen Krieg mitgemacht hat, so mag es um die militärische und sonstige Bildung des französischen Offiziercorps übel bestellt sein. Wenn er, von seinem eigenen Unsinn betäubt, bona fide seine lügenhasten Albernheiten ausstreut, so muß die Masse des französischen Volkes doch derlei Ungeheuerlichkeiten erst recht für baare Münze nehmen.«

»Ah, ich wußte nicht, Sir,« wunderte sich der englische Kamerad, »daß Sie ein Bewunderer der Preußen seien. Sie nennen es lügenhafte Albernheiten, –«

»Wenn der Herr Artilleriecapitän am Fieberdelirium der Spionenriecherei leidet, wenn er von überlegenem Gewehr fabelt – obschon doch selbst jeder Boulevardier wissen müßte, wie sehr grade das Chassepot dem Zündnadelgewehr überlegen war –, wenn er von der unvollkommenen kriegerischen Natur der Deutschen redet und erzählt, daß diese jedesmal die Flucht ergriffen, sobald man sich Mann an Mann mit ihnen kreuzte! Warum? Nun, ›weil wir tapfrer sind als sie,‹ wie dieser Bramarbas prahlt. Die Deutschen können nur wünschen, daß man die Rathschläge solcher Broschüren befolgt: Das Losstürmen auf die kaltklütigen Nordländer, um sie mit dem Bajonett zu werfen, und besonders die Massen-Bajonettattacken bei Nacht werden gewiß zu empfehlen sein. So mag man den Heeren Moltkes nur mit Lachen entgegentreten, wie die unverdrossenen Chauvinisten lehren! Aber wer zuletzt lacht, lacht am besten. – Meine Auffassung setzt Sie in Erstaunen?«

»Allerdings, ein wenig.« erwiderte der Brite kalt.

»Man überschätzt Deutschlands Macht gewiß,« fiel Miß Maud Egremont ein, die sich soeben zu den Herren setzte, um an dem Gespräch theilzunehmen. »Ich bin überzeugt, wenn französische Truppen erst mal den Rhein überschreiten, fällt der Bundesstaat auseinander.«

Krastinik schüttelte den Kopf. »Täuschen wir uns nicht! Ein Ausländer hat meist gar keinen Einblick in die wahren inneren Verhältnisse eines Staates. Weil man im Deutschen Reichstag sich zankt, glauben die Fremden sozusagen an Keime zum Bürgerkrieg. Bedenken Sie, daß Napoleon III. allen Ernstes 1870 auf die Neutralität der Süddeutschen rechnete. – Kurz, ich fürchte, die Chauvinisten der Patriotenliga, die Boulangers und Deroulédes, machen sich um ihr Vaterland nicht wohlverdient durch ihr windiges Gerede über ihre Besieger, wodurch sie eigentlich nur sich selbst herabsetzen, da diese miserablen Soldaten doch Frankreich Stück für Stück zerbrachen, obschon es den äußersten Widerstand bis zu gänzlicher Erschöpfung ihnen entgegensetzte. Er entschuldigt höchstens, daß man in aller Einfalt das unpatriotische Verbrechen begeht, falsche Vorstellungen und luftige Hoffnungen vorzuspiegeln. Nach solchen Reden und Brochüren muß das revanchelustige Volk ja glauben, daß man heut mit mehr Recht, denn je, von einer Militär- Promenade ›A Berlin‹ reden könne. Wir wollen den Maulhelden nicht wünschen, daß sie die deutschen Bajonette in der Nähe schmecken lernen. Das Lachen würde ihnen dann wohl vergehn.«

»Nun, eins können Sie doch nicht leugnen,« wandte Mr. Egremont ein, »daß die Deutschen stets über eine große Uebermacht verfügten.«

»Hm, ich weiß nicht. Wie steht es mit dieser angeblichen Uebermacht? In der zweiten Hälfte des Feldzugs war sie durchweg (zweifach, dreifach, manchmal vier- und fünffach) auf Seiten der Franzosen. Bei Weißenburg, Wörth, Spicheren, Gravelotte wurde die deutsche Ueberlegenheit an Truppen nicht nur aufgewogen durch unerhört starke Stellungen des Feindes, sondern an allen einzelnen Entscheidungspunkten war die Uebermacht ganz auf französischer Seite. Bei Vionville standen die Franzosen an den meisten Punkten mit sechsfacher Uebermacht entgegen, so daß ein deutsches Regiment gegen zwei Divisionen, eine Brigade gegen ein und einhalb Armeecorps kämpfte; ja, am Abend, als alle Verstärkungen eingetroffen, war Bazaine immer noch ums Doppelte überlegen. Und nun Sedan! Darüber herrschen vielfach falsche Begriffe. Mac Mahons Armee betrug gegen 130000 Mann, was aus Addition des Schlachtverlustes, der Kapitulirenden und der über Belgien und Mezières Entkommenen sich leicht ergiebt. Von deutschen Corps kämpften in der Schlacht selbst höchstens 150000 Mann. Da nun die Franzosen im Innenkreis in dicken Massen standen, so haben sie zweifellos in der Schlacht selbst überall Uebermacht gehabt gegen die dünnen Linien der Deutschen auf der Peripherie. So zerrinnt das Märchen von der deutschen Uebermacht ins leere Nichts.«

»Also war es die deutsche Führung, Count de Rasteinik.« Egremont gab mit großer Wichtigkeit das entscheidende Votum des freien Briten ab: »Moltke ist der erste Feldherr Europas.«

»Hm.« Krastinick schüttelte leicht, den Kopf. »Ob die Generale den Löwenantheil des Sieges beanspruchen dürfen, weiß ich noch nicht einmal. So vortrefflich die Kaiserlich Napoleonische Armee sich schlug, so war wohl auch das Material der Deutschen in jeder Einzeltruppe ein besseres. Nicht auf dem System Moltkes, wovon die Franzosen so viel Unklares träumen, nicht auf der Führung des Großen Generalstabes, die ja ebenso gut Schnitzer machte wie die französische Oberleitung, sondern auf der kriegerischen Natur der Deutschen beruht der Erfolg Deutschlands.« Er verbreitete sich noch weitläufig über die Autoritätsmichelei, die immer nur »oben« das Verdienst sucht, und über die völlige Unfähigkeit der französischen Führung und Intendantur, trotz welcher aber das kaiserliche Heer, wegen Geschicklichkeit und Bravour der Truppen selbst, einen furchtbaren Widerstand leisten konnte. Das Alles war den Hörern ganz neu und erregte ungläubiges Staunen, was im Laufe des folgenden Gesprächs sich zu einer gewissen Mißbilligung steigerte. Wer etwas Neues sagt, gilt stets für paradox; wer liebgewordene Vorurtheile über den Haufen wirst, für arrogant.

»Well,« sagte Mowbray, »Bazaine nennt sich ja noch in seiner bekannten Rechtfertigungsschrift den ›Besieger Preußens in den zwei schwersten Schlachten des Jahrhunderts‹.«

»Ja, er wagt sich damit zu brüsten,« erwiderte der Oesterreicher trocken, »obschon er damit höchstens das niedrige Niveau seines Begriffsvermögens zeigt.«

»Hört, hört? Ein französischer Marschall..«

»Abgesehen von der taktischen Unbestreitbarkeit der deutschen Siege,« fuhr Jener unverdrossen fort, »wurden Vionville und Gravelotte ja zu schweren strategischen Niederlagen..«

»Hört, hört? Sie widersprechen sich da doch, Sir,« fiel ihm Maud spitz ins Wort und schien sich dieses Hiebes zu freuen. »Sie verkleinern die preußische Strategie und sagen nun doch selber..«

»Pardon, Miß. Nicht die geniale Voraussicht des preußischen Hauptquartiers erzielte diese Erfolge, welches z.B. bei Gravelotte die Entscheidung ganz an falscher Stelle, statt bei St. Privat auf dem entgegen gesetzten Flügel suchte. Bazaines Auffassung seiner Lage am 16. August war von seinem Standpunkt aus ganz richtig. Er wollte ja eigentlich gar nicht nach Verdun abmarschiren, wie deutscherseits immer behauptet, sondern vor allem sich an Metz lehnen. Der angebliche Plan des deutschen Obercommandos, die 200000 Mann starke Bazainesche Armee in das für uneinnehmbar gehaltene Metz hineinzudrängen, ist ihm erst nachträglich als von Anfang an bestehend untergeschoben. Der Plan schien auch so unerhört kühn, daß er kaum Erfolg versprach. Am 16. August, dem eigentlichen Entscheidungstag des Feldzugs, ohne den das spätere Sedan unmöglich war, operirte man beiderseits so planlos wie irgend möglich und der ganze Ruhm gebührt den unübertrefflichen altpreußischen Truppen.«

»Und Sedan?« fragte Egremont.

»Glauben Sie denn etwa, ein Sedan wäre möglich gewesen ohne die zwingende Gewalt schicksalsschwerer Umstände? Die deutsche Oberleitung, die auf Paris vorrücken wollte, tappte ganz im Dunkeln und der gewagte Plan Mac Mahons, an der Nordgrenze durchzuschlüpfen, war beinahe geglückt – als man im letzten Augenblick die Falle merkte und nun in unerhörten Gewaltmärschen an die Maas eilte, die man nur deutschen Truppen zumuthen durfte. Uebrigens wird auch hier Moltkes spezielles Verdienst etwas überschätzt. Der Befehl an die dritte Armee zu der großen Rechtsschwenkung kam schon zu spät – hätte nicht der Generalstabschef dieser Armee, der alte Blumenthal, auf eigene Initiative hin schon vorher die Rechtsschwenkung ausgeführt. Diese Thatsache, ist freilich nur sehr Wenigen bekannt. Trotzalledem aber fruchtete das Alles nichts, falls nicht Mac Mahon so schandbar langsam marschirt wäre. Aber auch daß er an der Maas ereilt wurde, ehe noch ein Theil seiner Truppen auf das jenseitige Ufer gelangt war, hätte ausgeglichen werden können, falls nicht Faillys Corps sich bei Beaumont in so unerhörter Weise überfallen ließ. Und selbst dies hätte noch verwunden werden können, wenn Mac Mahon nicht unbegreiflicherweise unter den Wällen von Sedan hätte abkochen lassen und sich achtundvierzig Stunden dort zur Ruhe gesetzt hätte. Ja, und selbst dann noch war, wenn auch nicht eine schreckliche Niederlage, so doch die Kapitulation vollständig zu vermeiden, wenn man nur am Morgen oder Vormittag mit aller Macht auf Mezières abrückte. Unter solchen Umständen zu siegen, ist keine Kunst. In der Schlacht von Sedan selber aber hat wieder nur die wundervolle Sicherheit und Energie der deutschen Truppen selbst so glänzende Resultate ermöglicht. – Was geschah aber nach Sedan? Vinoy, der unrettbar verloren war, entkam mit seinem ganzen Heer und in dem nun völlig waffenlosen entblößten Frankreich marschirte Moltke so vorsichtig mathematisch, daß man Paris richtig nicht mehr überrumpelte, wie man so leicht konnte. Und am Tag von Châtillon beim Eintreffen vor Paris, wo man notorisch die Stadt hätte nehmen können, fehlte es ganz an selbstständiger Initiative. Selbst Blücher handelte 1815 beim Vormarsch auf Paris nach Waterloo viel genialer und darum richtiger. Und wie anders würde ein Napoleon handeln! Nein, Mac Mahon und Bazaine waren nichts wie leidliche Routiniers der Taktik, sogenannte Bataillegenerale – aber die preußische Führung riecht andrerseits immer wieder nach der Studirlampe. Statt Napoleons Kriegskunst haben wir heut eine Kriegswissenschaft, ein Schachspiel mit höherer Mathematik!«

Eine Pause trat ein. Die Einen schienen das Gehörte verdauen zu wollen, die Andern schienen, schon ungeduldig. Mowbray gähnte laut.

»Wie der aber arrogant über Alles aburtheilt!« flüsterte eine Freundin Miß Mauds dieser zu, welche zu der Gruppe getreten war und sich über Mauds Stuhl lehnte – ungeduldig, daß dieser fesche Ausländer die Herrn durch gelehrte Gespräche so lange von dem Thee der Damen fernhalte. Gar kein ladies-man!

»Hört, hört!« verlautbarte sich Egremont gedehnt »Uebrigens, wenn Sie Bonaparten heranziehn, würden nicht 100000 Mann, von ihm selber geführt, heut von jedem beliebigen General mit 50000 heutigen Gewehren geschlagen werden?«

»Ich glaube, Sie irren, Mr. Egremont.« Krastinik befand sich in der unglücklichen Lage, stets widersprechen zu müssen. »Sie sind nicht Militär und grade Laien fassen den Krieg zu mathematisch-mechanisch auf, würdigen nie das hauptsächlich entscheidende psychologische Moment der Taktik. Eben weil sie dazu geneigt sind, überschätzen sie die nur partielle Wirkung des Fernfeuers.«

»Wie das?« fragte Maud.

»Nun, erstlich ist die Wirkung des Massen-Schnellfeuers auf weite Entfernung verhältnißmäßig gering. Erfahrungen durch Verlustziffern des siebziger Krieges lehren, daß von 1000 Geschossen bei Massenfeuer auf Stürmende selbst auf ganz deckungsloser Fläche mit rasanter Flugbahn erst eins trifft. Das große Sicheln beginnt erst auf 400 Meter Entfernung und steigert sich progressiv. Nun verführt aber das Fernschießen, zumal jetzt beim Magazin-Gewehr, dazu, ununterbrochen draufloszupaffen, so daß beim fünfzigsten Schuß (– bis zu 150 Schuß kann man hintereinander verknallen –) ein blindes zielloses Knattern eintritt. Das überhitzte Gewehr droht zu springen. Indem er fälschlich ein massenhaftes Treffen seines massenhaften Kugelverbrauchs voraussetzt, macht ein unentwegtes Vordringen des Feindes den Vertheidiger stutzig. Seine Nerven werden von dem Rollen seines eignen Feuers erschüttert, die Hand am Laufe fliegt, der Arm zittert, er verliert jede Selbstbeherrschung und verschießt seine Munition: in dieser Verfassung trifft ihn ein entschlossener kühner Sturmlauf, der den umfassenden Bleimantel nicht scheut. Der Angreifer hingegen empfängt durch seinen Sturmlauf einen nervösen Elan. Er schieße nun erst, sobald er auf 400 bis 100 Meter herangekommen, im Vorgehen kaltblütig und ruhig. Noch hat er keinen Schuß gethan; seine Nerven sind noch nicht vom augenflimmernden Knall-Wahnsinn (diesem selbstüberschätzenden Größenwahn des modernen Hinterlader-Fußvolks!) ergriffen; er pustet treffsicher und klaren Blicks in runden Salven sein Nah-Feuer dem Feind ins Gesicht und bringt ihm in einem Zehntel der Zeit stärkere Verluste bei, als er während des ganzen Sturmlaufs erlitten. – Unter diesen Umständen bei gesunder taktischer Formation scheint also immer noch eine gutgeschulte Truppe einer minder tüchtigen überlegen, falls nur die Führung den Unterschied der Waffe ausgleicht.«

Nur Wenige waren dieser lichtvollen Auseinandersetzung gespannt gefolgt. »Der schwatzt, als ob er ein Feldherrngenie wäre!« näselte Mowbray Miß Maud ins Ohr. »Ja, das läßt sich Alles hören,« brummte Herr Egremont. »Ob aber in der Praxis..«

»Nun, Sie müssen's ja am Besten wissen, Sir Thomas,« wandte sich der Oesterreicher an diesen, nicht ganz ohne boshafte Nebenabsicht. »Wie leicht sprengten doch im Sudan die Mahdisten, bloß mit Schwert und Schild bewaffnet, die Magazingewehr-Vierecke der besten englischen Truppen!«

Ein unruhiges Räuspern ließ sich vernehmen. Der Ausländer war doch auch gar zu taktlos! Vom Sudan-feldzug zu reden – gradezu shoking, Mangel an respectability!

»Mein Herr, die britischen Vierecke wurden keineswegsgesprengt,« erwiderte Mowbray schroff, indem er seinen Giraffenhals majestätisch reckte. »Englische Vierecke pflegen überhaupt nicht gesprengt zu werden.« Krastinik zuckte verstohlen die Achseln. Doch ein beifälliges Gemurmel belehrte ihn darüber, daß man nicht ungestraft dem Größenwahn nationaler Ueberhebung auf die Zehen tritt. Mowbray schien einen Augenblick zu zögern, ob er noch etwas hinzufügen solle, platzte aber, ohne lange an dem Brocken »glory« zu würgen, dann plötzlich los: »Uebrigens, Herr Graf, was Sie da vom Fernfeuer u.s.w. äußerten, trifft natürlich auf britische Truppen nicht zu. Nerven-Erschütterung ist bei uns Insel-Leuten nicht zu befürchten; die haben Nerven von Stahl.«

Krastinik hatte sich zwar baß gewundert, an allen mit Reklameprospekten beklebten Mauern, ja sogar in Anstalten für öffentliche Nothdurft, Mittel gegen »nervous debility« empfohlen zu sehen. Doch er biß sich auf die Lippen und schwieg, bis der alte Egremont mit Würde das unumstößliche Dogma hinwarf: »Well, Sir, das werden Sie ja nicht bestreiten: Der englische Soldat ist der beste der Welt. Sogar der deutsche Kronprinz hat auf einer Revne in Aldershot dies geäußert. Es stand in allen Blättern.«

»Dann muß es freilich wahr sein,« versetzte Krastinik ernsthaft, obschon er gern etwas von »Compliment aus Höflichkeit« hätte einfließen lassen. Dagegen bemerkte er mit ruhiger Ironie: »Ja freilich. Auch Napoleon soll so etwas auf St. Helena einigen Engländern gesagt haben. Die englische Infanterie sei die beste in Europa. Nur fügte er hinzu: ›Gott sei Dank, giebt's nicht viel davon.‹«

Auch diese Einschränkung, deren Stachel man wohl fühlte, kam der britischen »Glory« (dieser widerlichen Bastardschwester der französischen Gloire) augenscheinlich ungelegen. Denn Mowbray fiel hastig ein: »Doch haben diese Wenigen ganz Europa geschlagen.«

Krastinik hätte sich gern erkundigt: wo, und würde in Sachen Waterloo dem britischen Kameraden die »Waterloo-Lectures« des Colonel Chesney an der Woolwicher Kriegsschule empfohlen haben. Doch behielt er wohlweislich sein Wissen für sich.

Egremont ritt jetzt wieder sein pomphaftes Steckenpferd. Nachdem die »Britische Aristokratie« durch das Toryministerium Salisbury wieder die Leitung der auswärtigen Geschäfte übernommen, werde Großbritannien aufs Neue die entscheidende Rolle in Europa und speziell in dem kommenden Weltkrieg spielen. Krastinik hütete sich wohl anzudeuten, daß man auf dem Continent über die »Krämerpolitik« ganz anders denke, und meinte auch, daß England in Asien seine Suprematie behaupten werde. Ueberhaupt überschätze man Rußlands Macht bei weitem, das wegen gänzlicher Verrottung der Verwaltung so spät mobilisiren könne, daß an einen erfolgreichen Offensivkrieg desselben gar nicht zu denken sei. Dagegen sei man, wenigstens im großen Publikum, geneigt, Frankreichs in der That furchtbare Macht jetzt zu unterschätzen. Ebenso sei Oesterreich bei all seinen unteren Schäden die drittgrößte und -beste Militairmacht geblieben und könne zur Noth allein mit Rußland fertig werden. Das Gespräch lenkte sich jetzt auf den Nihilismus und von da auf ähnliche Erscheinungen: Die Irischen Dynamitverschwörer, die Deutsche Socialdemokratie, den Anarchismus. Nachdem man hin- und hergeredet und auch die Millionen umfassende socialistische Liga. »United Workmen«, welche der englischen Gesellschaft Gefahr drohe, besprochen, sagte Krastinik plötzlich: »Ja, wir werden wohl Alle noch dranglauben müssen.«

»Wie meinen Sie das?« Der zur Ruhe gesetzte Bücher-Millionär blies die Backen auf und steckte unwillkürlich die Hände in die Hosentaschen.

»Ich meine, daß wir Alle noch ins Gras beißen werden und daß die sociale Revolution ein unabwendbar drohendes Gewitter ist.«

Miß Alice, die auch hinzugetreten war, stieß einen allerliebsten kleinen Schrei aus. Mowbray, der britische Leu, ermuthigte sie jedoch mit einem feurigen Blick: »Fürchten Sie nichts, Miß. Noch wird es nicht an Männern fehlen, welche die Gesellschaft zu schützen wissen. Gott sei Dank giebt es noch Armeeen und Offiziere zur Rettung der Staatsgewalt.«

Krastinik sah nicht den kokett zärtlichen Dankbarkeitsblick der reizenden jungen Dame, sondern fuhr düster und etwas unwirsch drein: »Bravo! So sprach man auch vor der Französischen Revolution! Das sicherste Kennzeichen für die positive Gefahr scheint es mir aber, daß man überall in der Guten Gesellschaft von der socialen Revolution wie von einer Wahrscheinlichkeit schwatzt – grade so wie damals die Grandseigneurs thaten. Welche schöne Revolution werdet Ihr haben! Kinder, ich beneide Euch! rief der Patriarch Voltaire als gefeierter Jubelgreis der liberalen Jeunesse dorée zu, die sich als schwärmende Schöngeister eine Revolution wie eine galante Oper dachten. Ach, er brauchte sie nicht zu beneiden! Sie wurden ja Alle geköpft. Je mehr sie von Freiheit und Brüderlichkeit schwatzten, desto eher. Was half's dem Herzog von Orleans, daß er sich ›Bürger Philipp Egalité‹ nannte? Die Egalité verlangte darum doch seinen Kopf – eben weil er Herzog gewesen war. Das kommt Alles viel schrecklicher wie man denkt.« Er sah vor sich nieder. Die Gesellschaft fühlte sich in der Verdauung gestört und ein reicher Brauer legte mit schmerzhafter Miene seine Hand auf die weiße Weste seiner Magenhöhle.

»Sie machen Einem Angst und Bange,« sagte Miß Maud mit ihrer scharfen Stimme. »Aber wie wäre das Alles denn möglich? Wer will denn in Europa Revolution außer den unteren Ständen? Man mag ja wohl einige sociale und sonstige Uebelstände abschaffen; aber darüber hinaus geht Niemandes Wollen.«

Krastinik lachte leicht auf. »Ja wohl, wer will Revolution! Die paar hundert Jacobiner sind es gewesen, die ganz Frankreich tyrannisirten und die Besiegung Europas organisirten. Und mit dem Abschaffen socialer Uebel auf gesetzlichem Wege geht es, wie mit der Lawine, die aus einem Schneeball sich bildet und ins Rollen kommt, bis sie im Abgrund verdonnert. Niemand wollte damals die Republik, Jeder nur die Constitution. Aber es liegt in der Art der Monarchie, daß sie ihr abgerungene Beschränkungen nie gutwillig trägt, sondern stets dagegen opponirt. Ich, Aristokrat, Monarchist bis in die Knochen, Royalist, getreu meinem kaiserlichen Herrn, würde es nicht anders machen; würde den Thron im Kampf gegen die siegreiche Demokratie unterstützen. Diese aber ist wie der Tiger, der Blut geleckt hat. Man gebe ihr nur den triftigen Vorwand, indem man ihr trotzt, und sie springt von Stufe zu Stufe ihren letzten Ziele entgegen. Auch überstürzt sich ja Alles in solchen Zeiten. In der berühmten Nachtsitzung des französischen Adels vom 4. August 1789 wollte man auch mit einigen allgemeinen Gleichheitstiraden beginnen und endete um 2 Uhr Morgens, nachdem man die gesammten Privilegien und Feudalrechte mit eigener Hand vernichtete! – Uebrigens doch bei alledem eine merkwürdige Nacht,« fügte er nach einer Pause hinzu, da Alles schwieg und sich betreten ansah. »War ja verrückt, aber wird dem französischen Adel doch ewig zur Ehre gereichen. Denn..«

»Meine Herren,« unterbrach ihn Miß Maud, indem sie sich hastig erhob: »Ich finde, das Gespräch nimmt eine zu ernste Wendung. Die Damen erwarten Sie schmerzlich.«..

Xaver empfahl sich bald. »A queer little fellow!« näselte Mowbray, indem er ihm durch sein Monocle nach sah. Alice, der er die Cour schnitt, antwortete nicht.

»Ein schrecklich geschwätziger altkluger Mensch. Läßt Niemanden zu Worte kommen,« brummte Egremont, der mehrmals pompöse Phrasen hatte verschlucken müssen.

»Und was für baroke Ansichten er hat!« meinte, eine Freundin von Miß Alice.

»Und so von sich eingenommen!« meinte eine Freundin von Miß Maud.

»Man begreift gar nicht..« sagte der fette Brauer, der die Hand auf die weiße Weste seiner Magenhöhle, zu legen liebte. »Ein Graf.. und so vulgär radikale Ansichten!«

»Ueberspannt!«

»Revolutionär!«

»Hm, you know.. Graf.. das bedeutet nicht viel auf dem Continent.. da ist immer der Zehnte Graf.«

»Hm, er ist ja wohl auch ein jüngerer Sohn,« warf Egremont nachdenklich hin.

»Ah, ein jüngerer Sohn?!« näselte Mowbray.

»Das erklärt mir Alles!« entschied der fette Herr mit der weißen Weste.

»Jüngere Söhne – hähä – sind immer radikal.«

»Kurz, a queer fellow!« setzte Mowbray als letztes Punktum. Miß Alice ermuthigte ihn durch einen schmachtenden Blick.

Eine entscheidende gesellschaftliche Niederlage. »A queer fellow« – dieser Spitzname hatte den fremden Eindringling für immer gestempelt. Das kommt davon, wenn man diese Ausländer, diese Foreigners, in die britische Respektabilität aufnimmt Sie zweifeln an der Unfehlbarkeit alles Englischen, sie reden von unbequemen Sachen, welche die Verdauung stören. Sie verletzen die herkömmlichste Sittlichkeit in ihrem wilden barbarischen Größenwahn.

Viertes Buch.

»Bitu meine Nauze?« flüsterte Mary in ihrem Kellnerinnen-Jargon, indem sie ihre Arme zum Abschied um Rothers Hals schlang. – »Adieu, mein Schatz.«

Rother warf sich in eine Droschke, nachdem er die ihre bezahlt, um sie allein nach Hause fahren zu lassen. – Der Droschkengaul trug ihn langsam durch die lautlose Winternacht. Ein sonderbarer Geruch haftete an seinen Kleidern, wie auf einer Wange der Biß oder die Nässe eines allzufeurigen Kusses haften bleiben – ein Geruch, wie ihn ein transpirirender Mädchenkörper ausströmt, dessen Schweiß durch die Blumen und den Parfüm der Kleider einen durchdringenden wollüstigen Duft empfängt.

Rother befand sich in einem Zustand willenlos mechanischer Apathie. Der Trieb zum Produciren schien ihm ganz verloren gegangen. Er bummelte in den Spelunken herum, wie ein von mechanischen Fäden, gezogener Automat. Bei Marys Freundinnen verlieh man ihm den Spottnamen »der Trompeter«, da Scheffels Säkkinger Aventüre diesen Weibern meist geläufig ist – sie wollten damit das Künstlerisch-Ideale bezeichnen und griffen daher, als Mary schwärmerisch von ihrem neuen Freunde meinte, er sei so süß und lieb wie der Trompeter von Säkkingen, diese Bezeichnung auf.

Immer neue Flaschen Wem trinken, gilt als Bedingung eines innigen Verhältnisses in diesen Lokalen, wenn der Wirth sie väterlich sanctioniren und die Kolleginnen ein Auge zudrücken sollen. Das fängt auf die Dauer an, lästig zu werden.

Aber Rother fühlte, wie sehr der Mensch ein Sklave der Gewohnheit wird, aus der man sich nur gewaltsam herausreißen kann. Auch behielt Mary in ihrer spanischen Mantille und ihrem Spitzenschleier für ihn etwas »Aristokratisches« und es besteht nun einmal ein lähmend Zwingendes in verliebter Herzenssympathie. Die Freundschaft mit einem Weibe wird für den Mann in den Widerwärtigkeiten des Lebens stets einen unerklärlichen Balsam besitzen, und wäre das Weib selbst eine Schenkmamsell. In dieser Beziehung zeigt sich die unverwischbare Allgewalt der Geschlechtssympathie. Mary hatte ihren Amant, wie das so üblich, ihrer Zimmer-Wirthin (»Comment-Mutter«) vorgestellt, welche ihr mütterliches Urtheil dahin abgab, daß der Herr mit dem hübschen Gesicht, so »blaue treue Augen« habe, also zu cultiviren sei.

Marys Wünsche betreffs Einlösung ihrer versetzten Uhr, und dergleichen mehr, fielen bei Rother auf fruchtbaren Boden; ihre Droschken nach Hause bezahlte er ihr pflichtschuldigst, aber sie selbst besuchte er selten. Es schien mit der Zeit mehr ein gewisses Mitleid, was ihn an sie kettete, indem er ihre Neigung für eine wirklich tiefere hielt. Hierin irrte er auch nicht, wohl aber, wenn er ihrer Versicherung Glauben schenkte, sie habe sonst kein »ernsthaftes Verhältniß« nebenbei.

Ja, war denn das wirklich er, Rother, der sich, wie ein Ladenschwengel oder ein halbwüchsiger Student mit seiner Kneipmamsell oder Confectioneuse, mit einem thörichten Bierbaß-Mädel umhertrieb, die zufällig in ihn verliebt war und ihren Mund unersättlich mit der Mahnung »Kuß« ihm entgegenspitzte? Und das Alles nur, um die nagende Sehnsucht und Erinnerung zu betäuben!

War das denn nicht eine Profanation seiner wirklichen wahren Liebe für jene Andere, die er sich doch mit Leib und Seele als Braut erkoren? Und dabei liebelte er nebenbei noch mit der Dienstmagd der Wirthsleute, wo er wohnte! Kein Zweifel, sein ganzes Wesen war in kindsköpfische Sinnlichkeit aufgelöst, er schien von einem erotischen Teufel besessen. Diesen Teufel kann man nur austreiben durch Beelzebub, den obersten der Teufel. Und so keimte denn in Rother der künstlerische Größenwahn um so stärker hervor, jemehr seine Farben auf der Palette trockneten und der Pinsel nervös seiner Hand entglitt.

Stundenlang auf einem Divan ausgestreckt, eine Virginia nach der andern schmauchend – manchmal aus Apathie nur an dem Strohhalm derselben kauend, ohne den »Rattenschwanz« anzuzünden –, fing er an, über seiner verkannten künstlerischen Bedeutung zu brüten.

Aber statt diese mit dem Pinsel zu beweisen, griff er zur Feder. Wegen leidlichen Stils geschätzter Correspondent einer Kunstchronik, verriß er nunmehr rücksichtslos alle Lebenden. Adolf Menzel sei nur ein Vorläufer des Naturalismus. Da sehe man dagegen die Warzen der drei alten Weiber in der Kirche an, mit denen Meister Laibl uns beschenkte – dafür gebe er, Eduard Rother, den ganzen Rafael!

Doch auch dies Gezanke um eine Kunst-Revolution vermochte seine innere Unrast nicht zu stillen.

Wer irgend eine Handlung beging, die ihn schädigen oder lächerlich machen kann, wird ewig von den Dämonen einer ungewissen Furcht umhergesagt. Wie oft verwirklicht die Furcht sich nicht und wie oft tritt die gefürchtete Unannehmlichkeit grade an einer Stelle auf, wo man sie nicht erwartet! Wie oft räumt das Schicksal oder der Zufall eine Reihe von Gefahren, die uns drohten, aus dem Wege, und wie oft schafft er neue Hemmnisse, an die man nicht denken konnte!

Wie sollte es denn Alles enden! Nachdem eine etwas kühlere Ueberlegung seine blinde Leidenschaft abgeschwächt, legte er sich diese Frage täglich vor. Was für entsetzliche Schranken thürmten sich vor ihm auf. Was für Kämpfe mußte er bestehen, wenn er sie wirklich heirathen wollte! Aber er hatte sein Wort gegeben, er war ein Gentleman, und – er liebte sie. Mit hartnäckiger Festigkeit blieb er an dem Verabredeten haften, mit jenem falschen Stolz, den schwache Naturen für Stärke ausgeben.

Vier bis fünf Wochen waren verflossen, sie hatte nichts von sich hören lassen. Nun, das war ja die Verabredung. In der letzten Woche hatte er sich aufgerafft und wie ein Held mit Anspannung aller Kräfte gearbeitet. Immer nur einen Gedanken dabei im Auge, Ruhm und Geld zu erlangen – für sie. Es gelang. Seine Freunde, welche die Composition seines Bildes (Kohlenzeichnung) »General Hoche stirbt in Folge geschlechtlicher Excesse« betrachten durften, erklärten es einstimmig für genial. Beim Nachhausegehen wunderten sie sich gegeneinander aus, wie dieser Kerl sich »herausgemacht« habe. Daher schien auch wohl die Unruhe, die krankhafte Blässe und Nervenschwäche, die man seit seiner Rückkehr aus München an ihm bemerkt, zu erklären. Natürlich, sein Bild ging ihm im Kopf herum.

So war denn doch etwas bei all dem Jammer herausgekommen. Im Fieber hatte er gebummelt, im Fieber blitzschnell die Idee dieses Bildes gefaßt, im Fieber Tag und Nacht daran gearbeitet – Liebes- und Arbeitsfieber hatten einander unterstützt.

Und in diesem Hochgefühl setzte er sich hin und schrieb an sie einen langen Brief. So lange hatte er sich bezwungen, sein Herz zum Schweigen gebracht – nun schüttete er ihr sein Herz aus in glühenden brennenden Worten, wie nur ein Künstler es vermag. Ja, er mußte ihr Alles, Alles sagen, was ihm an den Eingeweiden fraß, in den Schläfen hämmerte. – –

Wie, noch keine Antwort? Eine Woche verging. Ein plötzlicher Einfall führte ihn wieder in das Café Bammer zurück, das ihm Zeuge so vieler innerer Qualen gewesen. Der geschniegelte Wirth zeigte sich hocherfreut, »Herrn Professor« wiederzusehen. Dabei brachte er das Gespräch wiederum auf die berüchtigte Kathi. Ob Rother etwas davon wisse. Keine Spur? – Nun, neulich sei der Eberhart (Herr Professor würden sich der Geschichte von damals wohl noch erinnern) bei ihm gewesen. Habe Der auf sie geschimpft. Das sei ein abgefeimtes Mensch. Er hätte sie ja gern gebraucht und ihr dann einen Tritt vor den holden ... gegeben (wie sich Bammer geschmackvoll ausdrückte), aber sie habe ihn nur an der Nase herumgeführt und ihm ein schmähliches Geld gekostet. »Das ist doch wohl kaum wahr,« stammelte Rother, bleich vor Wuth.

»Mein heiliges Ehrenwort!« (Wirthsleute und Demimonde haben stets ein »heiliges« Ehrenwort – doppelt hält gut). Bammer redete noch eine Weile so fort und erzählte, Wursteler sei soeben aus Hamburg zurückgekehrt. Der sei als Agent in einer Geschäftsreise dort gewesen und habe doch mal Kathi besuchen wollen. Na, der habe schöne Geschichten zu erzählen!

Rother wollte sie nicht hören und verbat sich weiteren Klatsch. Zu Hause aber sandte er nochmals einen eingeschriebenen Brief nach Hamburg, der geschickt entworfen war und mit Ernst Aufklärung und endliche Entscheidung verlangte. – –

Er starrte wild in seinem Atelier umher. Eine Verachtung all seines Besitzes ergriff ihn, des materiellen wie des geistigen – denn all sein Begehren und Sehnen war ja nur in dem einzigen Gegenstand seiner Leidenschaft concentrirt. Wozu diese schöngeschnitzten Stühle, diese persischen Teppiche, diese rothen Karawanserei-Vorhänge, diese krystallene Ampel, diese Stukkatur des Getäfels, diese brokat-purpurgestreiften Papiertapeten, dieser Rokoko-Bücherschrank mit der umfangreichen Bücherei voll von eleganten Einbänden illustrirter Prachtwerke? Wozu das Alles? Wozu sein Haben und sein Wissen und sein Können und sein sauer erworbenes bischen Ruhm in echter Kunst! Viel besser, er hätte sein Geld dazu angewandt, sich ein Reitpferd zu kaufen und die neueste Mode zu cultiviren, um ihr zu gefallen. Was »echte Kunst«! Geschäfte hätte er machen, sich zum Damenportraitmaler, Unsterblichkeitsverleiher von Spitzen-und Sammtmantillen ausbilden sollen – dann hätte er gehörig Geld zusammengescharrt und »Ruhm« bei dem Marktpöbel errungen. Geld für sich selber brauchte er zwar wenig, – aber er hätte dann für sie mehr übrig gehabt. Wozu all dieser überflüssige Atelier-Luxus und all diese verdammten Bücher und Bilder! Als ein Kleid von Lyoner Seide, als ein Armband für sie hätte das vergeudete Kapital weit besser seinen Zweck erfüllt! Was waren alle Kunsterzeugnisse und alle Naturschönheiten neben einem Rümpfen ihrer klassischen Nase, einem Zucken ihres göttlichen Mundes, einem schelmischen Aufzucken ihrer Augensterne!

Sie, sie – und die ganze übrige Welt wiegt federleicht auf dieser Wagschale.

So schleuderte ihn der Furor Aphrodisiacus immer tiefer in die Verzweiflung hinein.

Eine neue Phase der Selbstquälerei begann. Er durchmusterte seine Mappen mit Skizzen seiner Bilder und betrachtete die vollendeten Werke, die er sich wegen Mangels an Käufern an die Wand hängen durfte. Ueberall fand er grobe Fehler; auch die Verschneidungen der Illustrationen, die an illustrirte Familienjournale geliefert, und die Mängel der Photographieen nach seinen Bildern entgingen ihm nicht. Selbst der schlechte Firniß auf einem seiner vollendeten Opera an der Wand ärgerte ihn.

Zu flüchtig, zu rasch, zu viel! mußte er sich immer sagen. Andrerseits muß man mit tausend Zufälligkeiten kämpfen. Ein Bild wurde ihm einmal auf der Treppe, als es zur Kunstausstellung auf den Cantianplatz wandern sollte, vom Träger fallen gelassen und übel lädirt. Durch einen ausgeführten Carton hatte der kleine Bube des Portiers, der in seinem Atelier bei einer Reinemacherei in seiner Abwesenheit spielte, mit einer großen Latte, wie man sie zum Anlehnen des Armes beim Malen benutzt, ein brettes Loch gestoßen. Ueberall alberne Widerwärtigkeiten, überall Aerger und Quängelei, selbst wenn man sein Aeußerstes darangesetzt.

Hier diese Armverzeichnung, dort jene unrichtige Verkürzung. Hier hätte die coloristische Stimmung durch eine geringe Aenderung sehr gewinnen können, dort hat ein zu grell gegriffener »Ton« die ganze Einheitlichkeit des Colorits verdorben. Und was in der Kunst einmal geschah, ist nicht mehr zu repariren. O die Kunst, welche Folter! Wie ist sie unerlernbar, und je höher das Ziel gesteckt, desto schwerer! Und hinterher die naseweisen Redensarten des Publikums und gar der Recensenten, wo sich Jeder nur an die auffälligen Mängel und Wenige an die auffallenden Vorzüge klammern!

Allerdings mußte er sich bekennen, nachdem er sich drei Tage lang in diese Selbstquälerei eingewühlt, daß die Verbesserungen und Umänderungen, die er vornehmen wollte, im Grunde wenig änderten. Bei Manchem hatte er obendrein die praktischen Verhältnisse nicht bedacht, als er in seinem Verbesserungs-Delirium plötzlich an einige Besitzer seiner Werke schrieb, man möge ihn an den alten Sachen künstlerische Verschönerungen versuchen lassen. Man erwiderte ihm höflichst, daß dies jetzt zu spät sei, daß man das Werk in dieser Form liebgewonnen habe, daß eine Umänderung selten eine Verbesserung sei. Es ist ein Fluch des Künstlers, daß seine Werke stets nur in der Form fortleben sollen, die er ihnen zuerst verlieh. Keine Verbesserung wird genehmigt. Und ebenso quält die Betrachtung den Künstler, nachdem er sich über etwaige Fehler und nothwendige Verbesserungen das Gehirn zermartert, daß im Grunde genommen diese Fehler gar nicht so störend wirkten und vielleicht sogar einen gewissen Reiz besaßen, während das nutzlose Grübeln darüber nur zeitraubend sein konnte.

Was einmal geschehn, ist nicht mehr zu ändern.

Es giebt Autoren, die sich ewig über die Druckfehler ärgern, welche sie – und bekanntlich immer neue – in ihren Büchern entdecken. Ebenso geht es mit den Fehlern überhaupt. Nach solchem Maßstab würde bei jeder Leistung das nonum prematur in annum nöthig sein. Allerdings giebt es Momente, wo dem Künstler die ungeheure Pein, Entsagung und Arbeitskraft, wie in eine Masse zusammengeballt, überwältigend naherücken, welche sein Beruf von Jugend an erfordert. Nichts auf der Welt lebt, was sich den Leistungen des wahren Künstlerthums vergleichen ließe, und nichts wird verhältnißmäßig so wenig belohnt. Wenn schon die erfolgreiche Arbeit so viel Opfer kostet, wie viel mehr erst die erfolglose, erfolglos in künstlerischem oder in roh materiellem Sinne! Welche namenlose Qual liegt in dem Gedanken, daß eine Arbeit nur deswegen nicht zur Vollendung reiste, weil der Künstler sich allzu Schwerem und Hohem zugewandt? Und wie oft sind künstlerische Fehler, die später unreparirbar erscheinen, aus einfachen brutalen Nothwendigkeiten der realen Verhältnisse hervorgegangen! Nur der Feldherr, der Alles an Alles zu setzen gewohnt ist und oft an reinen Zufälligkeiten scheitert, kennt den gleichen Grad unstillbaren Kummers und Aergers.

Am Tag nach Absendung seines Briefes trieb es ihn, nochmals das Unglücks-Café aufzusuchen. Bammers Worte gingen ihm im Kopf herum. Vielleicht konnte ihm Wursteler doch Näheres sagen. Er traf am Buffet die schwarze Emmy. Bammer war ausgegangen. Sie sah sehr mager und leidend aus. Er unterhielt sich oberflächlich mit ihr. Ihr Befinden schien so schlecht, ihre Stimmung so gedrückt, daß sie ihrem Herzen Luft machen mußte. So begann sie denn (nach der Regel, »Qui s'excuse, s'accuse«) ob der Verleumdung der Welt zu klagen. Man halte sie für die Geliebte Herrn Bammers. Und doch sei dem nicht so u.s.w.

Plötzlich erschien Herr Wursteler. Früher etwas »kaduk« gegen »Herrn Professor«, entfaltete er diesmal eine ordentliche Cordialität, setzte sich vergnügt an dessen Tisch und wurde ganz familiär.

»Nun, waren Sie schon in Hamburg?« fragte er.

»Ich? Wie sollte ich dahin kommen?«

»Nun, Kathi sagte es mir.«

Rother war auf der Hut. Vorsichtig suchte er den Unbefangenen zu spielen. Wer von Beiden würde den Andern zuerst aufs Glatteis führen?

Wursteler klatschte mit hundert Pfaffenkraft drauf los.

Kohlrausch sei ruinirt, miserabler Geschäftsman, Pleite stehe vor der Thür, und so ging es fort. Rother streute nur ab und zu ein »So?« ein, regte sich auch nicht, als Wursteler erzählte, ganz Hamburg halte sich auf über das Verhältniß von Kathi zu Kohlrausch. Er wolle sie heirathen. »Na, ich habe Kathi gewarnt! Daß Du Dich nicht mit dem Windikus einläßt, sagt' ich! – Na, Sie wollen sie ja heirathen.«

»Wer sagt das?« fuhr Rother auf.

»Wer denn anders als Kathi?« Wursteler that sehr verwundert. »Ihre erste Frage, als sie mich sah, war: ›Was macht Herr Rother?‹ Und dann hat sie mir gesagt: ›Der will mich heirathen!‹«

Rother lachte gezwungen auf und murmelte etwas von »Frecher Lüge!« Er möge so was mal im Scherz ... Aber als er ging, sah er in dem frechen Gesicht des Catilinariers die verächtliche Frage: Glauben Sie, Sie täuschen mich? Solch ein junger Mann und kräftiger Malermeister, und solch eine Sentimentalität für so Eine! – (Bammer und Wursteler hegten den wüthenden Haß ungesättigter Begier für das Weib, das ihrer Brunst entronnen war.)

Rother aber setzte sich hin und schrieb stehenden Fußes einen fulminanten Brief. So viel sah er ein – hier lag doch etwas vor, er mußte Gewißheit haben. Sein ganzer Stolz bäumte sich auf. Ihm war, als ob er auf tausend Nägel und Nadeln trete, als ob seine Nervenstränge blutig entzweirissen. Morden oder selbstmorden, sich umbringen oder einen Andern – – sein Zustand grenzte aus Hysterische. Ein ekelvoller Dunst und Brodem schien vor seinem Hirn zu schwimmen, halb ohnmächtig fiel er aufs Sopha zurück – – Othellos wirres Lallen von den »Verfinsterungen« fiel ihm ein. Aber diese halb unbewußte Ideen-Association wirkte zugleich als Gegengift. Wie ein Rasender sprang er auf und reklamirte dumpfknirschend vor sich hin, mit stoßweisem Herausströmen des rhetorischen Flusses, daß Salvini und Rossi an ihm ihre Freude gehabt hätten:

»So soll mein blutiger Sinn in wüthigem Gang

Nie rückschaun noch zur sanften Liebe ebben,

Bis eine vollgenügend weite Rache

Dies Weib verschlang.«

Sein Brief strotzte von Beleidigungen mitleidiger Verachtung. Zugleich aber beging er in der Raserei den groben Fehler, schwere Injurien gegen Kohlrausch – er nannte ihn »Louis« – und größenwahnsinnige Betonungen seiner Würde einzuflechten. »Die Liebe ist ja ganz nett,« schloß diese verrückte Epistel, »aber der Ruhm steht mir doch noch höher.«

Der Ruhm des guten Eduard Rother! –

Aber sobald der Brief abgesandt, befielen ihn wieder Skrupel. Sollte es wirklich wahr sein? Konnte sie so rasch vergessen? War ihr Fuß so glitschrig geworden auf ihrer schlüpflichen Laufbahn, daß sie unaufhaltsam dem Abgrund entgegentrieb? Daß er sich umsonst dagegenstemmte? Daß sie gleichgültig über ihn wegtrat?

Hat sie wirklich vergessen, daß ein Mensch lebt, der sie retten möchte? Ja, möchte sie denn gerettet sein? Und weshalb will sie nicht? Ist sie denn ganz verderbt? Nein, das kann ich Niemandem zugestehn. Wenn ich es glaubte, würde ich wahnsinnig werden. Nein, es ist nicht so. Ich muß das wissen. Denn warum liebe ich sie sonst so übermächtig, mit so unzähmbarem Instinkt? Warum, ja warum? doch liebe ich sie, werde sie ewig lieben.

So wurde diese schwache sinnliche Natur hin- und hergerissen.

Bald sah er sie in seinen Armen mit lüstern brutalem Ausdruck und malte sich's herrlich aus, diese rüde Urnatur zu einer »Dame« wenigstens äußerlich zu entwickeln. Dann sah er sie wieder in ihrer naiven Anmuth, ihn neckisch und liebenswürdig gängelnd.

Was konnte nun geschehn! Sein Brief mußte Alles entscheiden. Er befand sich in fieberhafter Erregung. Die nächste Post kam – richtig, ein Brief von ihr. Eine gepreßte Resedablüthe lag dabei.

»Ihre beiden Briefe habe ich erhalten, daß Sie so lange keine Antwort erhielten darf Sie wohl nicht wundern wenn Sie wie Sie oft sagten mit mir fühlen – – – mir geht es bis jetzt hier ganz gut, was die Zukunft bringt weiß ich nicht; mein Sinn ist stets veränderlich; bitte thun Sie mir den einzigen Gefallen und horchen Sie auf keinen Klatsch! Die Wahrheit habe ich Ihnen gesagt und hoffentlich glauben Sie mir mehr als bewußten klatschsüchtigen Zungen; Bescheid über meine Gesinnungen kann ich Ihnen bis jetzt noch nicht geben. Denn wenn ich auch nicht an die Aufrichtigkeit Ihrer Gesinnungen zweifele, kann ich mir bis jetzt doch noch nicht recht vorstellen, daß dies – bald zur Wahrheit werden könnte. Doch Schicksalsbestimmung erfüllt sich auch ohne menschliche Mühe (daran glaube ich) hoffentlich auch Sie. Ich will Ihnen nun nicht mehr länger Ihre kostbare Zeit rauben und grüße Sie auf weiteres bestens.

Kathi K.«

Lange starrte er auf den Brief. Er suchte zwischen den Zeilen zu lesen. Jedenfalls stand ihm eins fest: Die Berichte Wurstelers konnten unmöglich Wahrheit sein. Denn falls sie dann immerhin zu einem solchen Briefe fähig war, so hätte in ihr jedes Schamgefühl erstickt sein müssen.

Sie hatte also seinen letzten Brief noch nicht erhalten. Was nun thun? Was wird sie nun schreiben? Sollte er bereuen, was er geschrieben? Nein. Das mußte die Entscheidung bringen.

Ah, da kam sie. Er brauchte nur einige Stunden zu warten, als ein andrer Brief von ihr eintraf.

»Vor allem Andern bitte meinen gestrigen Brief als nicht empfangen zu betrachten und dann theile ich Ihnen in diesem meinem letzten Schrei ben mit, daß ich keinen Brief mit Ihrer Handschrift je mehr annehmen werde, denn ich wüßte wahrhaftig nicht warum ich stets die Zielscheibe Ihrer Grobheiten sein soll, oder glauben Sie etwa durch Ihren ehrenwerthen Antrag (auf den ich aber schon im Stillen verzichtet hatte, nebenbei bemerkt) dieses Recht erworben zu haben? Nein, mein lieber Herr, hier haben Sie sich in der Adresse geirrt, ich bin gar nicht heirathslustig, namentlich in diesem Falle – – beruhigen Sie sich und denken Sie so wenig an mich, wie ich an Sie, dann erlösen Sie eine arme Seele aus ihrer Qual. Sie sagten, Sie wollen mich retten – – ängstigen Sie sich nicht um mich und verwerthen Sie Ihre Menschenfreundlichkeit zu besseren Zwecken – wenn ich auch untergehe wie Sie meinen, haben Sie jedenfalls die Beruhigung, nicht zu meinem Untergang beigetragen zu haben. Zu guter Letzt sage ich Ihnen nur noch:

Wer niemals hinter der Thür gestanden, sucht keine Anderen dahinter, ich nehme bestimmt an, daß Sie Herrn Kohlrausch gar nicht kennen und bringen es fertig solche Beleidigungen auszustoßen – – wenn Sie Etwas zurückhaltender wären, würde man von dem guten Ton, den Sie so sehr rühmen, eine bessere Meinung haben; nun gut, Alles rächt sich auf Erden.«

Dieser nicht nur verlogene, sondern geradezu rohe Brief, welcher trotz des Tones beleidigter Unschuld darin eine tiefe seelische Gemeinheit athmete – mit der Absicht, groben Treubruch und schlimme Dinge hinter den Coulissen zu verstecken – hätte gleichwohl Rothers hartnäckigen Glauben an sein Ideal nicht zu erschüttern vermocht, wenn nicht zugleich ein andrer Brief aus Hamburg eingetroffen wäre. Dieser war von Herrn Kohlrausch, dem ominösen Deux ex machina in höchsteigner Person.

Dies originelle Schriftstück zierte einen Quartbogen, mit einer mächtigen Druckfirma-Ueberschrift nebst Stempel, und verlautbarte sich also:

»Herrn Rother.

Berlin.

Obwohl ich schon früher erfuhr, in welcher erbärmlichen Weise Sie mich grundlos beleidigten, so rechnete ich solche Wuthausbrüche auf Conto Ihres jähzornigen, von Eifersucht durchtriebenen Hirns z.B. die Bezeichnung: ›Galgenvogel visage!‹ Heute aber haben Sie mich in einer Weise durch Briefe an Frl. K. beleidigt, daß ich Sie ersuche, mir mit Postwendung sofort mitzutheilen, warum Sie sich zu solchen scheußlichen Injurien vergessen konnten – welche Sie schwer vor Gericht büßen müssen.

Ehe ich Sie an jene Beleidigungen erinnere, betone ich noch, daß Frl. K. vorläufig bei mir ein hochgeachtete und sehr gut behandelte Geschäftsstütze ist und also durch deren Hiersein Ihrerseits kein Grund zum Groll gegen mich vorhanden, da ja das Fräulein durch ihren Fleiß bei mir – einem ersten Geschäfte Hamburgs – ihr wohlverdientes Brot finden muß – da dieselbe doch nur auf diese äußerst ehrliche Weise ihr Brot verdienen kann. Der Kürze wegen bitte ich mir sofort darauf zu antworten, wieso ich solche gemeinen Insulten nur verdiente? Selbstredend war es Pflicht des Frl. K. als erste Person im Geschäft, mir vorstehende Injurien mitzutheilen, ohne dabei den übrigen Inhalt dieses Schmutzbriefes zu verrathen. Wie Sie sich zu dieser peinlichen Affaire stellen, theilen Sie mir sofort mit.

Ergebenst

Kohlrausch.

P.S. Von Pleite kann keine Rede sein, da ich wegen zu hoher Pacht das Geschäft aufgebe und 1. Januar nach Berlin übersiedele.«

Außer sich vor Zorn, schleuderte der so schmählich Verrathene sofort einen Brandbrief nach dem theuren Hamburg an der Elbe, worin er mit ätzender Ironie die Sachlage beleuchtete und zugleich Herrn Kohlrausch ermahnte, als Nachfolger in Kathis zarter Freundschaft gütigst deren schuldige Miethe bei Frau Lämmers zu entrichten. Die Undankbarkeit der verehrten Dame überhebe ihn jeder Verpflichtung.

Alles wird gelenkt von dem einen großen Gesetz der Lüge.

Alle Gedanken, und hätten sie dein ganzes Ich durchwogt, stürzen endlich in Vergessenheit hinab. Nur der Tod, der Alles Lügen straft, ist kein Lügner. O ihr Todten, ihr schlaft so sanft, so selig, weil euch keine Lüge mehr trifft! Was ihr wißt, ihr und der Wurm, – das allein ist Wahrheit.

Die Erde lächelte bräutlich am ersten Maientage. Da umarmte sie ein nachtentsprossener Teufel und sie gebar den Menschen. Nur einen Trost bietet ihm die Mutter Erde, wenn er verzweifelnd an ihren Busen sinkt: Ihr ewiger Blüthentod, ihres Sommers Sterbequal mahnt ihn, daß auch er ins Nichts verwehen wird, daß endlich sich zwischen ihn und seinen bösen Vater schieben wird – der Tod.

Eduard erwachte aus unruhigem Schlaf mit einem seltsamen Gefühl unaussprechlichen Bangens. Seltsam, eine einsame Thräne brach ihm von der Wimper. Welches Leid hatte sie geboren, welch ein Glück war ihm genommen? Doch nicht jene Hoffnung, auf die er so ganz verzichtet? Und ihm ward plötzlich, als ob er längst gestorben sei. Diese Thräne weinte wohl seine Seele, die noch immer zögernd an ihrem eignen Grabe verweilt.

Was wollte diese todte Seele noch hier auf Erden? Vergaß sie noch etwas zu sagen? Jenes dämonische thörichte süße Weib – hatten sie Beide nicht vergessen, eine letzte Frage zu tauschen, eine Frage, was Wahrheit und was Lüge gewesen an dieser schicksalsvollen Liebe?

Da klingelte es draußen. Der Postbote brachte einen Brief. Ein Krampf schien Eduard zu durchzucken, als er die Handschrift sah. Von ihr? Und er las:

»Jeder guten That einen Dank, meinen herzlichsten sage ich Ihnen. Sie haben ihn wohl verdient, doch ein guter Gott gebe, daß Ihnen dies Rosen bringt, wünschen thue ich es Ihnen allerdings nicht, aber bitte sagen Sie mir doch sind Sie jetzt ruhig und getröstet? nun ich wünsche es, aber Sie sind es doch nicht ich weiß es; wenn Sie aber glauben durch Ihre von edlem Gemüth zeugende Denun cirung mich ruinirt zu haben, dann täuschen Sie sich doch ein wenig. Die Welt ist noch so groß und vielleicht giebt es auch noch ein Plätzchen, wo mich Ihre – – nicht mehr findet; jedenfalls haben Sie hier meine Existenz vernichtet; denn ich bin viel zu stolz an einem Orte zu bleiben, wo mein Stolz eine solche Niederlage erlitten; ich bitte sagen Sie nur doch, was Sie für einen Grund hatten mich so zu vernichten? habe ich Ihnen jemals geschworen? Sie haben mir so oft Ihre Hilfe angeboten; ich habe sie nur im äußersten Falle in Anspruch genommen, mir ist ganz andere Hilfe geboten worden; doch ich glaube der Erste beste Jude wäre nicht so verfahren; ich habe keine Seele auf der Welt welche mir hilft, sondern nur solche wo ich helfen kann, ich habe es auch gethan und mich leider nicht vorgesehen, daß ein Fall eintreten könnte, wo ich es selber nothwendig brauche; ich habe in letzter Zeit in Berlin in Verhältnissen gelebt, die ich meinem ärgsten Feind nicht wünsche.

Doch gut Jemand der fähig ist (noch dazu ein so genialer großer Geist wie Sie) Jemanden so zu ruiniren besitzt keinen Funken Gemüth, ich habe heute bitter geweint nicht meinetwegen was liegt an mir, aber daß es Jemanden giebt der so niedrig denkt – ich wäre einer solchen Handlungsweise niemals fähig – was ich in Zukunft mache weiß ich noch nicht, nun könnte es vielleicht werden was Sie so sehr zu befürchten scheinen, – meine Ehre, Alles ist mir genommen, kümmern thut sich auch Niemand um mich, nun gut, freuen Sie sich Ihrer Ernte. Was meine Schuld bei Fr. L. betrifft, wird schon beglichen werden, bis jetzt habe ich noch keine Schulden gemacht und das könnte auch Besseren als mir passiren.

Nun behüt Sie Gott, wie es auch ist und kommen mag, mein Herz haben Sie doch nicht gebrochen.«

Rother gerieth in Verzweiflung. Jeder Vorwurf brannte in ihm nach. Allein, war er so schuldig? Was hatte er denn gethan? Im Grimm eines schändlich Verrathenen, hatte er sich hinreißen lassen, gefährlicher Drohung gegenüber, selbst eine nicht allzu reinliche Waffe zu brauchen. Was sollte er denn thun, diesem Gräuelwust von Gemeinheit gegenüber?

Ihm fiel ein, daß es vielleicht angezeigt wäre, in das alte Unglückshaus in der Gerichtsstraße hinauszupilgern. Vielleicht hatte die alte Zeugin ihres seltsamen Verhältnisses, Frau Lämmers, etwas Besonderes erfahren. So fuhr er denn dort hinaus, so peinlich er diesen Weg bisher zu vermeiden wußte, der ihn wie ein Calvarien-Weg der Erinnerung mit Dornen stach. Ein glücklicher Zufall wollte, daß er die Frau zu Hause traf. Sie grüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln und lud ihn ein, in die alte »gute« Stube zu treten. Hier, wo einst –!

Ihr kleines Töchterchen, den Finger im Mund, krabbelte am Rock der Mutter, während diese zu entschuldigen bat, daß sie an einem Mantel weiternähe. Nein, sie hatte von Kathi nichts gehört, nichts Näheres wenigstens. Diese sandte ihr gestern überraschenderweise das noch schuldige Geld für die Miethe. Vorher hatte sie ihr einmal eine große Photographie geschickt, im »Kostüm«, dabei jedoch einen Rembrandt-Hut auf dem Kopf.

»Sehn Sie, da!«

Rothers Herz stand ordentlich still, als er die geliebten Züge wieder so nahe vor sich sah. Er biß sich auf die Lippen, als er das Bild niederlegte, indem er unwillkürlich die Augen senkte. Ob er vor sich selber oder vor den Augen des Bildes (halb sinnlich-frivol halb vornehm-sentimental) sein Auge niederschlug, wußte er es selber?

Die Frau benutzte die Gelegenheit, sich auszuklagen. Sie that es aber in einer anständigen und maßvollen Weise, die den Verdacht gänzlich ausschloß, als wolle sie etwa ein pekuniäres Mitleid ihres Besuchers in irgend welcher Weise erpressen.

»Wissen Sie, Herr Rother,« gestand sie. »Ein so sonderbares Liebespaar, wie Sie und Kathi hab' ich noch nie gesehn. Nachher hat sie immer so furchtbar geweint, wenn Sie fort waren: immer rothe Augen und immer Zank.«

»Hat sie denn dann auf mich geschimpft?« fragte er trocken.

»Aber nein doch! Sie ließ nie 'was auf Sie kom men. Ach, sie ist ein gutes Mädchen. Und so fromm! – Freilich –« sie hielt inne, dann nach einigem Zögern erzählte sie die seltsame Geschichte mit dem Pfandschein beim Abschied. »Ach und ich selber hab' es so nöthig! Ganze Tage haben wir Beide so schlecht gelebt! Nun, jetzt hat sie ja aber doch die Miethe bezahlt!« Rother schwieg. Er dachte: warum! Nicht so ganz freiwillig. Jeder Mensch, und sei er noch so verschmitzt, verräth sich irgend einmal. »Offen gestanden, Herr Rother – aber nehmen Sie's nicht übel!«

»Bitte, reden Sie nur!«

»Das hab ich nie recht begriffen, das Sie Kathi nicht aus all dem Elend gleich herausrissen.«

»Sie wollte ja nicht!« warf Rother verdrossen hin. »Ich hab's ihr oft genug angeboten.«

»Ja, ja, das hat sie mir auch gesagt, und nur von Ihnen würde sie vielleicht 'was nehmen, aber lieber auch nicht, bis nicht Alles entschieden sei.« Um sich nicht zu binden! dachte Rother.

Als ein echt frauenhafter Zug fiel es ihm auf, daß Frau Lämmers ihm behaglich erzählte, wie sie mit Kathi wegen Bandwurms beim Arzt gewesen sei und diese sich vorm Arzt und ihr haben ausziehen müssen. Da habe der Arzt auch bekannt: »So 'ne Riesennatur habe er noch nie bei einem Weib gesehn. Eine wahre Pracht!« Dabei blinzelte sie ihn verständnißinnig an.

Trotzdem diese lüsterne Erwähnung ihm in die Eingeweide drückte, runzelte Rothers besserer Theil leicht die Stirn. Es schien ihm widerlich, sich solche Dinge hier wieder vorzugaukeln, wo der schmutzig-fleischliche Theil der Liebe bei ihm gänzlich durch sentimentale Hingebung weggeschmolzen war.

Die Frau entwarf dann wieder ein rührendes Bild von ihren eigenthümlichen Verhältnissen. Sie mußte einen Mann ernähren, den sie nicht bei sich wohnen lassen konnte wegen seiner ewigen Betrunkenheit, und ihr Kind dazu; das Alles mit Nähen und Schneidern! Rother schaute in Abgründe des socialen Lebens hinein, von denen er in diesem Maße nie eine Ahnung gehabt. Das tüchtige brave Weib!

Ihn durchzuckte der Gedanke: Wäre es nicht das Beste, wenn ich hier zu dieser Frau zöge, mit Sack und Pack? Um sie zu unterstützen, weil sie sonst doch nichts annehmen würde in dem peinlichen Ueber-Stolz solcher verschämten Armen? – Andrerseits mußte er bitter lächeln, wenn er die Naivetät in den Fragen der Frau bedachte. Auf der einen Seite ahnte die Frau bei ihrem niedrigen socialen Bildungsgrad natürlich gar nicht die sonstige gesellschaftliche Stellung eines Mannes wie Rother; auf der andern Seite nahm sie offenbar an, daß Rothers pekuniäre Verhältnisse ihm gestattet hätten – – konnte er sie denn wirklich einfach unterhalten, ohne irgend welchen Entgelt, aus purem Edelmuth? Er hatte noch anderweitige Verpflichtungen, und ein Künstler –! Mein Gott, heut im Ueberfluß, morgen von der Hand in den Mund lebend! Für seine Gattin konnte er sich wohl opfern, für seine, Geliebte allenfalls auch – aber einfach aus purem Edelmuth, um betrogen zu werden – – wog denn er selbst, wog seine Kunst denn gar nichts, daß er Alles und Jedes hätte opfern müssen für dies eine Wesen, diese eine Leidenschaft?

»Sehen Sie, da lese ich eben die Geschichte von der schönen Näherin!« sagte Frau Lämmers beim Abschied, indem sie ein Heft in gelbem Umschlag, natürlich einen Colportageroman, hochhielt. »Dabei muß man immer an Kathi und Sie denken!«

Rother lächelte bitter. – –

Hat ein phantasiereicher und dabei bedeutender Mensch (und Bedeutendheit ist fast immer mit starker Einbildungskraft und großer nervöser Erregbarkeit verbunden) in irgend einer Beziehung »ein schlechtes Gewissen«, d.h. ist er sich einer Handlung bewußt, deren Bekanntwerden ihn lächerlich, verächtlich oder gar strafbar erscheinen ließe, – so ist er im Zustande besonderer nervöser Ueberreiztheit fähig, aus kleinsten unbedeutendsten Anlässen bestimmte Anspielungen und drohende Uebel herauszulesen. Völlige Niedergeschlagenheit und zitterige Befürchtung, indem die aus nichts Schreckgespenster bildende Phantasie ihm Gefahren vormalt, welche im allerschlimmsten Falle drohen könnten, macht aber dann, sobald er sich energisch zusammenrafft, einer ebenso siegessicheren Furchtlosigkeit Platz. Dem Schlimmsten stolz ins Auge sehend, schöpft er aus seinem inneren Machtbewußtsein die entschlossene Festigkeit, allem und jedem die Spitze zu bieten. Einem weinerlichen Schwanken in schwachen Stunden unterworfen, wie wenige, wird er nach Durchkämpfung solcher Schwäche, sofern sein Innerstes nur rein und markig blieb, stärker als zuvor. Das kostbare Gut der Ruhe wird nur so erworben. Die Wenigsten besitzen es und doch ist das Abwarten, an sich Herankommenlassen die größte aller Klugheiten; die höchste Weisheit aber, im Krieg wie im gewöhnlichen Leben, zu wissen, wann man angreifen und wann sich angreifen lassen, wann man schweigend dulden und wann man zurückschlagen soll.

Vielleicht wurde ein Skandal daraus! Was konnte es nicht für Scenen geben!

Er rannte umher wie ein Rasender. Der Gedanke an die Möglichkeit, daß seine Briefe in den Händen jenes Menschen gemißbraucht werden könnten, daß man hinter seinem Rücken, ohne daß er es ahnte, auf diese Weise gegen ihn vorgehen mochte, – peinigte ihn mit tausend Nadelstichen des Argwohns.

Wer weiß, ob nicht jede Waffe gegen ihn gewandt wurde, und der Bursche nun aus Rache kein Mittel scheute!

Warum hatte er nur die letzten Briefe geschrieben! Alles sprach gegen ihn – allerdings nur mit Umschreibungen und indirekt! Er konnte ja freilich sagen, er habe so geschrieben, weil er annahm, Kohlrausch werde die Briefe auffangen. Konnte er dies Letztere feststellen, so hatte er immer noch die Trumpf-Karte, jenen wegen Brieferbrechens schwer zu belangen.

Er schritt vor dem Spiegel auf und ab, und dachte des Augenblicks, wo er ihr entgegentreten würde. Würde sie ohnmächtig werden? Würde sie still warten oder den Kohlrausch rufen, so daß eine Zwiesprache unmöglich wäre? Der Wille zum Leben, der Liebestrieb, tobte wieder übermächtig in ihm. – Er besuchte, Annesley und fand einen Kranken im Bette, der ihm gestand, daß er wieder in unerhörter Weise an einem selbstzerstörenden Laster leide. Der Adonis war sichtlich abgemagert; sein Auge glanzlos gläsern, gelb seine Wangen. Aus unglücklicher Liebe habe er sich, wie ein Andrer dem Trunk, dieser Ausschweifung ergeben.

»Seien Sie glücklich!« sagte Eduard. »Ich im Gegentheil werde immer straffer und eherner und ersticke beinah an unbefriedigter Sehnsucht nach einem bestimmten Geschöpf. Links ein Abgrund, rechts ein Abgrund – und ich in der Mitte!«

Sie unterhielten sich noch eine Weile über das Weltweh und jammerten sich etwas vor. Jedoch verabsäumte Annesley nicht, nebenbei naiv seine Ruhm-Geschäfte zu besorgen. Er beschäftigte sich nämlich gerade damit, pseudonym (er hatte es bis auf zwanzig Pseudonyme gebracht, von denen er die Hälfte als Componist, die andre Hälfte als Selbst-Kritiker in Musikzeitungen verbrauchte) seine neusten »Lieder ohne Worte von Ralf dem Schönen« nach allen Richtungen der Windrose auszuposaunen. Es war dies eine Bethätigung des Weltekels, wobei er regelmäßig seinen väterlichen Freund Rother zu Rathe zog. Dieser, schwach und schwächlich auch in seiner aufsprudelnden Gutherzigkeit, die ihn zu lächerlichem Uebereifer für etwaige Genossen und Schützlinge verleitete, lief nämlich seit lange umher und pries den neuen Mozart. Er schmuggelte sogar die Partituren Annesleyscher Lieder auf Salon-Bechsteins ein und verführte Sängerinnen dazu, das berühmte Lied »Leise blüht mir im Gemüth Blümlein wunderblau«, wozu der Componist selbst den Text geliefert (»Gewidmet dem von ihm hochverehrten Voll-Künstler und einzigen anständigen Gentleman Europas, E.R.«), in Gesellschaften vorzutragen.

Um Abwechslung in ihr heutiges Jammerduett zu bringen, erzählte ihm Annesley grauenhafte Dinge aus seiner frühsten Vergangenheit. Der reine Lord Byron, der von schrecklichen Geheimnissen fabelt. Manchmal empfand Rother, trotz seines liebevollen Wohlwollens, den leisen Wunsch, seinen Hut zu ergreifen und sich aus dem Staube zu machen, – da der Wunderknabe allzu sonderbare Selbstanklagen auftischte. Doch wirkte das Alles zuguterletzt nur komisch, da man es unmöglich für wirklich erlebt halten konnte. Um den Unglücklichen aus seiner Selbstmordstimmung zu reißen, forderte ihn Rother auf, mit ihm einen Nachtkneipen-Bummel zu machen. Mit genialischen Kraftmensch-Schritten wandelte alsbald der neue Mozart neben ihm her, wobei er oft eine drollige Anhänglichkeit an den Tag legte und sich mit begeisterter Handbewegung als »Rothers Schatten, Rothers Hündchen« bezeichnete. – – Als Rother sich am anderen Morgen in seinem Bett schläfrig dehnte, beschlich ihn das Gefühl einer gewissen seelischen Behaglichkeit. Die Wollust wirkte bei ihm wie eine homöopathische Kur für die ermattende Liebes-Ausleerung idealer Sehnsucht.

Sobald er sich also der gemeinen Begierde hingegeben, entwich die ganze Pein seinem Innern und die äußerste Gleichgültigkeit ergriff ihn. Verschwunden war der ganze entschlossene wilde Kampftrieb der unglücklichen Liebe, und völlige Vergessenheit, kaltes Lethe, floß über ihn hin. So völlig bleibt der Mensch von seinen psychischen Nervenzuständen abhängig. Die Abtödtung der Nerven führt die Abtödtung der Leidenschaft mit sich: Wille und Leidenschaft schwächen sich in genau entsprechender Weise.

Wer starken Willen hat, hat auch starke Leidenschaft. So bestimmen sich Beide gegenseitig und behindern sich theils, theils beflügeln sie einander. Beide aber sind abhängig vom Nervensystem. Selten wird daher ein Kummer sofort durch Arbeit überwunden. Es muß eine Schwächung des ganzen Menschen durch Extravaganz vorhergegangen sein. Gift wird nur durch Gegengift paralysirt.

Nachdem der Geist durch Aufregung der Nerven die Seßhaftigkeit echter Arbeitskraft eingebüßt, fühlt er dann plötzlich diesen Trieb zurückströmen. Die Arbeit geht mit maschinenhafter Leichtigkeit von Statten. Was vorher schwer schien, wird jetzt federleicht. Das Stoßen der aufgeregten Gedanken, das vielfältige Durcheinander, bei dem es fortwährend heißt: »Was zuerst beginnen!« hat aufgehört und mit größter Ruhe wird die Arbeit durchgeführt.

Er beschloß, ruhig sein Kreuz auf sich zu nehmen, das Kommende abwartend.

Das Einbohren in bestimmte Schmerzen, krankhaft in Ursache und Wirkung, wird wesentlich durch die Umstände und die Verhältnisse von Nerven und Magen hervorgerufen. Nach Tische, nach einem tüchtigen Spaziergang dürfte es einem gesunden Organismus schwerfallen, sich weltschmerzlichen und galligen Träumereien hinzugeben. Es sieht sich Alles verschieden an, mit leerem, oder mit vollem Magen.

Eduard war fest davon überzeugt, daß ihm aus alledem die furchtbarsten Folgen erwachsen würden. Er schwebte in einer gewissen unbestimmten Angst vor irgend etwas Peinlichem oder Verderblichem, das ihn treffen sollte.

Unaufhörlich stürmte er mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, bis ihm die Wadenadern schwollen und er sich müde aufs Sopha werfen mußte, indem er düstere Gedanken hin- und herwälzte.

Er sollte Spießruthen der Lächerlichkeit laufen; sein Name kam an die Oeffentlichkeit in komischem Sinne; sein wahnsinniger Heirathsantrag wurde ruchbar: sein naturalistisches Mal-Prinzip wurde dem Spottepreis gegeben, seine vielen Feinde warteten ja nur darauf. So zermarterte er sein Hirn und schädigte seine Gesundheit, statt kalt und gelassen dem Kommenden ins Auge zu blicken. Allerdings kam ihm stets der Schlußgedanke zu statten, mit dem er seine Befürchtungen besänftigte. Mit unerschütterlichem Stolze wollte er der Welt Trotz bieten. Und auch ihr, wenn sie ihn verrieth. Der ganze Hochmuth des Künstlers brach sich wieder Bahn in ihm. Was konnte ihn treffen, welcher boshafte oder zürnende Blick ihm seine Ruhe rauben, welche Beschämung ihm das Blut in die Wangen treiben, – ihm, der als Künstler eine exceptionelle, Lebensauffassung besaß, welche alle kleinlichen Rücksichten der gewöhnlichen Gesellschaftsmoral und Respektabilität weit unter sich sah! Den Kopf konnte es ja nicht kosten!

So wogt es in der Seele auf und ab. Was noch eben furchtbar drohend erschien, so lange draußen der Wind pfiff und Nervenermattung im Hirne Grillen erzeugte, erscheint im nächsten gefahrlos und gleichgültig. Ein gewisser unverzagter Trotz allen Gefahren und Unannehmlichkeiten gegenüber, verbunden mit vorhergehender doppelter Aufregung durch Phantasie-Vergrößerung des Drohenden, ist ein Merkmal bedeutender Geister. So sah der General Bonaparte seine Lage oft verzweifelter an, als seine Unterfeldherrn – aber trat die Gefahr nun wirklich nahe, so war er der Einzige, der sie abzuwenden wußte.

Seine Unvorsichtigkeit peinigte ihn scharf genug, indem sein Argwohn sich überall von Spähern umzingelt wähnte, die seine schwachen Seiten belauerten. Es scheint ein trauriges Erbtheil ungewöhnlicher Menschen, daß sie ohne direkt eitel zu sein, doch stets wähnen, die Welt interessire sich selbst aus Bosheit für ihre Person und erspähe daher ihre Schwächen. Aber die Welt kennt ihre eigenen kleinen Lächerlichkeiten und faßt den bedeutenden Menschen gar nicht als so exceptionell auf, wie er sich selber. Sie lacht daher über seine Thorheiten, wie sie über die eines beliebigen Andern lachen würde, so daß der Hauptstachel fortfällt: Sie mißt seine Thorheit gar nicht nach dem Maßstab seiner geistigen Bedeutung. Und wie leicht vergißt die Welt das Gute wie das Böse!

Ein eigentümlicher Spleen ergriff ihn. Alles Wissen, Lernen und Können schien ihm nutzlos. Er verfluchte jede Minute, die er an ein Buch vergeudet, jede Arbeit, die nicht aus direkten Erwerb und Erfolg in der Welt hinauslief. Eine lächerliche Sucht machte sich in ihm geltend, die Gedanken rastlos auf nächstliegende Ziele zu concentriren und jedes Umherschweifen derselben abzuweisen. Er vergaß nur darüber, daß jede Meditation ein Ausruhen und Entlasten des Gehirns bedeutet und daher der Gedankenthätigkeit nutzt, und daß überhaupt jede noch so fernliegende Gedankenreihe irgend eine Vorstellung heraufbeschwört, die sich an ein näherliegendes Ziel werthvoll anknüpfen läßt.

Jetzt aber, als die alte römische Lampe seines Ateliers ihr freundliches Licht um ihn her verbreitete und er, die schweren arabischen Vorhänge vor Fenster und Thüren niederlassend, fern allem Lärm in stiller Beschaulichkeit vor seiner Staffelei saß, durchdrang eine eigenthümliche wohlige Wärme sein Seelenleben. Wie ein instinktiver Blitzstrahl der Erkenntniß, fühlte er die große Wahrheit, daß all die hunderttausend Ueberflüssigkeiten, Nichtigkeiten, Unannehmlichkeiten, Täuschungen, Kränkungen, Irrwege, Zeitvergeudungen und Albernheiten des Lebens von Kindesbeinen an, deren Erinnerung auf einen hamletisch grübelnden Geist von krankhafter Sensitivität als unerträglicher Wust und Ballast drückt, nöthig und in sich nützlich erscheinen, um eben die spezifische Individualität aufzubauen. Die Individualität aber ist aller Dinge einzig Wesenhaftes und stellt sich siegreich der überwältigenden Fülle der sogenannten Wirklichkeit, dieses großen Scheinlebens, gegenüber.

Es ließ ihm doch keine Ruhe. Etwas mußte ja doch geschehn. Schon Weihnachten vorüber! Vor Neujahr trafen die Hamburger Feinde ja doch sicher ein. Sollte er zu Frau Lämmers eilen, bei welcher sie jedenfalls Wohnung nahm? – Da riß ihn ein Brief aus aller Ungewißheit.

»Nach erfolgter Ankunft in Berlin theile Ihnen mit, daß Fräulein Kreutzner während ihres vorübergehenden Aufenthaltes in Berlin unter meinem persöhnlichen Schutze steht und ich etwaige Anfechtungen Ihrerseits mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln bekämpfen werde – ebenso auch zudringliche Besuche und Briefe von Ihnen ohne jede Rücksicht beseitigt werden. Sobald ich mich in meiner Wohnung eingerichtet bin, werde Sie bitten, mir in Gegenwart von Fräulein K. persöhnliche Genugthuung für Ihre mir gewidmete Insulte zu zu geben – nach diesem werde ich nicht verfelen Ihnen meine Referenzen bekannt zu machen, damit Sie wissen, daß ich bin

Maximilian Kohlrausch,

Inhaber echter Bier-Restaurants.«

Das erste Gefühl Rothers nach Lectüre dieses originellen Opus trieb ihn zu einer starken Zwerchfellerschütterung. Das ist ja der reine Größenwahn! O Maximilian, der letzte Ritter!

Das zweite Gefühl hingegen trieb ihn instinktiv, seinen starken Stock zu ergreifen, als wolle er sofort eine körperliche Züchtigung vollstrecken.

Den dritten Antrieb endlich vollzog er sofort, indem er gelbe Handschuhe anzog, seinen Cylinder aufstülpte, den Pelzkragen in den Nacken schob und in voller Gala nach der Gerichtsstraße hinausfuhr. – Frau Lämmers empfing ihn mit langem Gesicht. »Ja ... sie ist hier.« Sie habe sich aber in ihrem Zimmer eingeschlossen. Wiederholtes Ersuchen um eine Unterredung hatte keinen Erfolg. Sie ließ ihm sagen, sie sei ihm nicht böse, aber sprechen könne sie ihn nicht.

Rother überwand sich und ging. – Er machte die üblichen Neujahrsvisiten er versuchte auch wieder zu arbeiten. Aber das gelang nicht. Ihm war zu Muth wie Einem, der zu starke Cigarren geraucht. Stundenlang lag er müßig auf dem Sopha, und wie Blei lag es in seinen Gliedern. Eine Art seelischer Impotenz entkräftete ihn. Statt zu arbeiten, brütete er wieder über seinen alten Arbeiten, fand diese bald ganz elend, bald erwog er, wie wenig seine Bedeutung gewürdigt sei. Dann kam es wieder über ihn, wie ein Jähzorn des Größenwahns, daß er alle Papiere und Zeichnungen um sich her zerriß und wie ein Raubthier im Käfig umhertollte. Stundenlang um Mitternacht trottete er auf dem naßkalten Trottoir in schneidendem Strichwinde die Friedrichstraße entlang und ließ die Nachtwandlerinnen vor sich Revue passieren, als ob der schnöde Sumpfgeruch dieser Asphaltblumen seine Nerven stärken könne. Das bläulich-weiße Licht der Laternen, das Grau in Grau der Häusermassen schien ihm ein Abbild seines öden grauen Innern, in dem es von grellen verlöschenden Straßenlichtern zuckte.

Mit einem kräftigen Entschluß ermannte er sich nochmals sein Glück zu versuchen, indem er sie überraschte. Er fuhr hinaus. Die Sonne ging grade unter.

Durch den eigenthümlichen Reflex des Schnees und der schneeathmenden Winterluft erschienen rothe Backsteinmauern wie zu zartem Rosa abgetönt. Wo hingegen die Sonne darauf funkelte, blitzten braun oder gelb angestrichene Erkerfronten und Thüren in grellstem Gelb, durch den Gegensatz der ringsumher gehäuften glitzernden Schneemassen.

Am Himmel hing eine dicke röthliche Wolke wie ein Thurm, der vornübergeneigt herabzustürzen droht. Das Rothe löste sich in eine halb zinnoberrothe halb schwefelfarbene Mischung. Es war, als gähre die Wolke gleichsam von innerem Brand.

Wie ein Riesengeier strich eine andre Wolke schwarz und breit am Horizonte hin. Auch sie spreitete ihre Schwingen, als wolle sie senkrecht herniederstürzen – wie, der Condor der Cordilleren, der als Punkt überm Haupte des Wanderers schwebt, immer größer und größer hinabschießt.

So sah er die Dinge in einem seltsam deutungsvollen Licht, ähnlich der Luftmalerei der Impressionisten oder Turner's englischen Landschaften. Das nervöse Auge, mit unnatürlich zarter Netzhaut die Naturvorstellungen in sich auf.

Ja, da war das alte Haus! Da war die alte Treppe, aus deren moderig staubigen Winkeln ihm ein Stück Vergangenheit entgegenkreischte. Rieselte nicht sein Herzblut verstohlen aus jeder Stufenritze?

Er klingelte. Richtig, nicht die Thüre von rechts, wo Frau Lämmers wohnte, sondern die links nach Kathis Zimmer öffnete sich. Ein Frösteln lief ihm unwillkürlich den Rücken entlang. Ja, das war Schicksal!

»Wer ist da?« fragte die altvertraute Stimme. Ihm stand das Herz einen Augenblick still, dann strömte das Blut mit rasender Gewalt zurück.

»Ich, Rother!« sagte er mit fester Stimme.

»O!« Es schien, als ob sie mit einem unartikulirten Laut zurückflüchte.

»Ich will und muß Sie sprechen.« Sie verhielt sich still. Er erhob die Stimme: »Hören Sie nicht?«

»Ja doch,« flüsterte sie.

Er glaubte durch die Wand hindurch zu sehn, wie sie athemlos an der Thür lehnte.

»Wissen Sie, was der Kerl da, der Kohlrausch, mir gestern geschrieben hat?« Keine Antwort. »Ich frage, ob Sie das wissen?«

»Nein,« sagt sie, »der ist ja in Hamburg.«

»Nein, der ist hier.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Gut, also öffnen Sie. Wir wollen ein letztes Wort miteinander reden.«

»Das können wir ja auch so.«

»Dummes Zeug! Wollen Sie aufmachen oder nicht?«

»Machen's nur keinen solchen Lärm! Die Leute werden noch kommen. Was soll ich überhaupt reden! Ich habe Ihnen ja doch immer gesagt..« ein ironischer Klang lag in den Worten.

»Ach Sie! Halten Sie den dummen Mund!« fuhr es ihm heraus.

»Nun, dann kann ich ja gehn!« rief sie heftig und ging – er hörte die Thür des Zimmers hinter ihr zuschlagen. Er wartete noch einen Augenblick und pochte. Dann ging er geräuschvoll die Treppe hinab. Aber als er bis zur nächsten Straßenecke gelangt war, fiel es ihm schwer aufs Herz, daß er den Weg umsonst gemacht und ein Gespräch ja doch nothwendig sei. Kurz resolvirt kehrte er um. Wieder klingelte er. Sie kam.

»Verzeihen Sie meine Grobheit,« sagte er mit gemessenem Ton »Ich will ja ganz ruhig mit Ihnen reden. Es ist das Beste für uns Beide. Sprechen wir uns nicht vorher aus, so kann allerlei Unglück kommen. – Hören Sie mich?« fragte er nach einer schweren Pause, da sie nicht antwortete.

»Ja. Aber ich kann nicht aufmachen und meine Wirthin ist ausgegangen und hat mich abgeschlossen.«

»Larifari, so werde ich nachher wiederkommen. Wann?«

»In einer Stunde. Aber geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie mich nicht beschimpfen wollen. Ich könnte es nicht ertragen.«

»Gut, ich gebe es. Adieu.« – –

Es war ein frostiger windiger Abend. In einer Kneipe der Müllerstraße trank er sich Wärme zu und poussirte die Kellnerin, ein Mädchen von besserer Sorte, die ihn anschmachtete. Er erinnerte sich noch später daran, wie ihm das in einem solchen Moment möglich blieb. So begegnet sich ewig der bitterste Ernst mit dem Leichtsinn, wie mit der ritterlichsten Romantik die nackte Prosa. Hatte er doch, ehe er zu seiner Göttin emporstieg, stets erst dafür gesorgt, daß er sich eines gewissen menschlichen Bedürfnisses vorher entledigt hatte, damit es ihn bei dem langen Gespräch da oben nicht störe. Das ist der Mensch mit seiner Doppelnatur, das ist das menschliche Leben ... Sie öffnete wortlos, er trat wortlos ein. Erst als er Stock und Cylinder ablegte, seinen Paleot anbehaltend – es war bitterkalt in der Stube –, brummte er mürrisch: »Guten Abend!«

»Dito,« murmelte sie finster. Sie trug einen Schlafrock, hatte sich aber dick mit einem Plaid umwickelt und litt an starkem Schnupfen. Im Uebrigen sah sie blaß aus, mit rothen Flecken auf der Backe.

Die hin- und herwogenden Anklagen und Mittheilungen stellten alsbald die Affaire Wursteler in einem ganz anderen Lichte dar. Grade dieser hatte vielmehr auf die Frage Kathis, was Rother treibe, geantwortet: »Ach, der ist ja total verrückt!« und ihn andauernd den »albernen Anstreicher« genannt. Auch war die Mittheilung Kathis »der will mich heirathen« nur im tiefsten Vertrauen erfolgt. Was nun Kohlrausch anbelangt, so sei das ein sehr anständiger Mensch u.s.w.

»Hm, das ist ja möglich« meinte Rother. »Er hat aber auf mich einen sehr ungünstigen Eindruck gemacht.«

»So? Nun, auf mich grade umgekehrt,« sagte sie mit ruhigem Lächeln und zeigte ihm, auf dem Tische stehend, seine Photographie.

Rother schüttelte den Kopf. Diese Physiognomie, ohnehin unangenehm konnte wahrlich mit ihrem Schwerenöther-Ausdruck kein sonderliches Vertrauen erwecken. »Ja, Sie sind auch immer so hochfahrend! Und er ist doch ein sehr gebildeter Mann.«

»Ach was und schreibt unorthographisch! Nun, das mag ja sein wie es will. – Ich will mit der ganzen Geschichte nichts mehr zu thun haben. Zwischen uns ist ja natürlich Alles aus.«

»Das ist es,« sagte sie ernst. »Ich müßte Sie verachten, wenn Sie jetzt noch ...«

»Ueberhaupt«.. er trat nahe an sie heran und betrachtete sie: jeder Funken von Leidenschaft schien bei ihm verkohlt. Er fühlte sofort, daß die Entfernung sie ihm allzusehr verschönert hatte, um nicht beim Wiedersehn Enttäuschung zu finden, und daß die sinnliche Begierde bei ihm erloschen war. Doch schien in der That eine auffallende Veränderung zum Schlechten mit ihr vorgegangen. Selbst ihre Stimme bekam einen gewissen butterigen fettklebrigen Ton, den er früher nie bemerken konnte. »Sie haben sich sehr zu Ihrem Nachtheil verändert.«

Sie lachte etwas bitter. »Aber gar nicht! Das sind so Einbildungen.«

»Nein doch! Ich begreife absolut nicht, wie ich so weit gehen konnte.. Mir ist, als wäre ich verrückt gewesen und gesund geworden. Was habe ich denn an Ihnen gefunden!« In demselben Moment ging ihm der seltsame Contrast durch den Kopf, wie er früher in seiner Verliebtheit sie gewissermaßen als Naturwunder von Schönheit über sich gestellt hatte. Und nun stand er da, elegant und geschniegelt, mit glänzendem Cylinder und gelben Handschuhen, in vornehmer sicherer Haltung, und sie in ihrem alten Schlafrock mit ihrem Schnupfen sah verstaubt, abgebraucht und gewöhnlich aus.

»Ja, das ist Ihre Sache,« meinte sie trocken »Ich kann nichts dafür. Von Ihren Phrasen verstehe ich nichts. Ich bin nur ein einfaches Mädchen.«

»Ach! Früher sprachen Sie anders. – Das liegt so in der Zeit. Das sogenannte Retten der Gefallenen! Ich habe Sie retten wollen – voilà tout!«

»Danke schön. Ich bin noch nicht gefallen. Ob das so in der Zeit liegt, weiß ich nicht. Sie jedenfalls – nun, Sie haben sich doch damit lächerlich gemacht.« Und ein häßliches Lächeln krümmte ihre Lippe.

»Meinen Sie?« sagte er ruhig. »Was denken Sie wohl, wenn nun Alles herauskäme, wenn ich Ihre Wirthin als Zeugin vorriefe?«

»O, Frau Lämmers,« sagte sie, indem sie gesenkten Kopfes auf- und abging; sie hatte bis dahin, hinter der Lehne eines Sessels aufgestützt, gestanden. »Wie die auf Ihrer Seite ist, das glauben's gar nicht. Was die mir Vorwürfe macht!«

»Nun also! Die Welt würde, wenn sie von meiner Verrücktheit hörte, anfangs lachen und sagen: So sind mal die Künstler – siehe Prozeß Gräf. Aber sobald sie alle Umstände erführe, dann würde das Urtheil ganz anders lauten. Man würde sagen: Der Mann hat zwar sehr edel gehandelt, aber er war auch ohnehin durch das Benehmen des Weibes dazu völlig berechtigt; man kann ihm durchaus nicht Thorheit zum Vorwurf machen. Allein Ihre Briefe.. man würde nur sagen: Was für ein abscheuliches Geschöpf!«

Sie schwieg und sah vor sich hin. Convulsivische Zuckungen durchfurchten ihr Gesicht.

»Ja, was soll denn daraus werden! Wenn Herr Kohlrausch nun kommt..« Sie betonte den »Herrn Kohlrausch« immer mit einem gewissen feierlichen Ton, in dem nicht nur zärtliches Interesse, sondern auch eine Art Ehrfurcht vibrirte: Offenbar war der große Windikus in ihren Augen ein bedeutendes Geschäftsgenie – jedenfalls der Mann ihrer Wünsche.

»Der steckt ja schon in Berlin. Auch der Poststempel war von hier.«

»O nein, der ist noch in Hamburg. Kommt erst in acht Tagen. – Wenn Sie schlau sind, kann Der doch auch schlau sein. Der kann doch auch durch einen Freund das Billet an Sie gesandt haben.«

»Sieh einmal! Also ein juristischer Dolus. Und vorhin sagen Sie mir, er habe Ihnen gewaltsam meinen Brief mit den Injurien weggenommen.– Na, der Mann liegt mir ja aus Messer geliefert und ich rufe Sie selbst als Zeugin auf.«

»Oho!« sagte sie trotzig. »Ich sag' doch nichts aus oder widerrufe.«

»Na,« fiel er schneidig ein, indem er den Cylinder aufsetzte. »So will ich also beschwören, daß Sie selbst mir dies angekündigt haben, also als Zeugin meineidig werden wollen. Das giebt auch eine schöne Handhabe.« Er wußte sehr wohl, daß alles Das nicht so viel bedeutete, wie er draus machte; aber er wollte ihr heilsame Angst einjagen. Das gelang auch vollständig. Sie brach beinahe in Thränen aus. Als nun vollends die Wirthin erschien, welche von Wurstelers kam und erzählte, daß die schwarze Emmy nun wegen ihrer bevorstehenden Niederkunft durch Bammer dort aus dem Hause geworfen werde, entwickelte sich ein ganz gemüthlicher wechselseitiger Klatsch und Rother drückte Kathi zum Abschied die Hand: »Wenn wir uns wiedersehn, als gute Freunde und Kameraden – und weiter nichts!« Er ging leichten Herzens von dannen, kneipte den Abend mit etlichen Collegen, die einen »Verein für naturalistische Malerei. Ehrenpräsident: Max Liebermann in Paris« gründen wollten, und spürte einen wahren Juchzertrieb, als er sich leichten Herzens schlafen legte – nach der abspannenden erschöpfenden Nervenqual der letzten Zeit.

Er blickte hinaus in die Mondnacht. Marmornes Schweigen lastete über dem monderhellten Schnee.

Doch er hatte sich getäuscht. Plötzlich erhielt er von ihr einen langen Brief, worin sie ihn bat, ihr Bild zurückzusenden.

»Da es nun doch einmal sein muß,« fing sie an »erlaube ich mir noch einige Zeilen zu schreiben, um einigermaßen eine Erklärung herbeizuführen. Daß ich mich neulich damals nicht sprechen ließ dürfen Sie nicht so schwer auf die Waagschale legen namentlich wenn Sie an die letzten Ereignisse denken. Daß Sie mich schwer und fast unverzeihlich beleidigt haben dürften Sie wohl einsehen. Da Sie aber ein bedeutender Mann sind und ich Sie als solchen respektire und Sie, gewissermaßen ehrenhaft gegen mich gewesen sind, will ich Sie nach Möglichkeit Ihrer Ungewißheit entreißen. Wie Sie sich wohl erinnern werden, habe ich Ihnen stets gesagt stets gesagt wir passen nicht zusammen, weil unser Stand zu verschieden ist. Früher oder später hätten Sie Ihren Mißgriff eingesehen und wer hätte darunter am meisten gelitten natürlich ich und Sie wären natürlich auch unglücklich da ich Ihnen nicht diejenige Neigung entgegenbringen könnte, welche zum Glück erforderlich ist. Ich suchte stets Sie von dieser meiner Meinung zu überzeugen. Nun was blieb mir Anders übrig als der Zeit zu vertrauen welche Sie von Ihrem Irrthum abbringen sollte, weil meine schon erwähnte Meinung über die Zukunft mich keinen Augenblick verließ und ich immer mein und Ihr Unglück vor Augen hatte. Wenn Sie glauben, daß nur Sie mich vor meinem Untergang retten können, dürften Sie wohl doch ein wenig im Irrthum sein; ich bin zweiundzwanzig Jahre alt geworden ohne auf schlechte Wege gerathen zu sein, das kann ich mir selbst sagen und ich danke Gott für dieses Bewußtsein. Was Leute klatschen dagegen kann sich Niemand verwahren und deshalb hoffe ich, daß ich auch in Zukunft im Stande, sein werde, weine Selbstachtung zu erhalten. Nun komme ich zum eigentlichen Zweck meines Schreibens, ich möchte nämlich in Frieden scheiden und deshalb bitte ich Sie diese Zeilen, als genügende Erklärung hinzunehmen und gegen mich keine Feindseligkeit zu hegen wie auch ich gegen Sie nicht. Doch da in Zukunft unsre Wege auseinandergehen bitte ich mir mein Bild zurückzusenden. Nun bitte denken Sie über die Geschichte nach, dann werden Sie mich nicht verdammen.«

Trotz der mannigfachen Entstellungen und Uebertreibungen betreffs des springenden Punktes dieser ganzen Romeo- und Julia-Affaire, stak in dem Briefe dennoch eine gewisse Würde und Anständigkeit, die ihn erfreute. Denn es bereitete ihm eine tiefe Genugthuung, daß dies Weib trotz alledem und alledem seiner Liebe nicht unwürdig schien. Auch wurde in der besonnenen Ruhe dieses Schreibens der Größenwahn des Weibes, das seine so viel umworbene Schönheit begreiflicherweise als Angelpunkt der Schöpfung betrachtet, wohlthätig gedämpft.

Und doch! Was galt hier ihre anständige Gesinnung, da sie doch ganz in Händen ihres Mephistopheles lag. Und gegen den mußte man sich schützen, durch sie selbst.

Er sann lange nach. Plötzlich kam ihm eine Idee. Sie kam über ihn wie eine Offenbarung. Sein Freund, der Genremaler Knorrer, hatte ihm kürzlich aus Tirol geschrieben, wo er eine Studienreise machte. Dabei hatte er bemerkt, daß er von Anfang Januar ab in Roveredo einige Wochen zubringen werde, um eine dortiges altes Bild zu copiren. Roveredo! Der Name hatte ihn durchzuckt, er dachte an Kathis eigene Enthüllungen. Ja, er mußte Gewißheit haben, ob die Sache richtig sei. Es konnte als Gegenwaffe dienen. Sie selbst konnte ja alles ableugnen, was sie ihm erzählt. Und wenn er im letzten Nothfall dort nachforschte, so würde, sie schon Mittel finden, Alles todtzuschweigen. Was konnte bis dahin ihm nicht ohnehin für Schaden erwachsen, falls dieser Kohlrausch in seinem eigenen Liebeswahnsinn ...

Kurz entschlossen, sich an diesen Strohhalm zu klammen, telegraphirte er an Knorrer nach Roveredo. Ein langes Telegramm, worin er Alles andeutete und diesen bat, ihm Gewißheit zu schaffen, ob in Trient eine Kathi Kreutzner mit einem Hauptmann vom Genie u.s.w. Wo dieser jetzt stehe. – – –

Er malte nun ruhig an seinem Bilde fort.

Siehe da, am zweiten Abend nach Absendung seines Telegramms nach Roveredo, erhielt er einen saugroben Brief des p.p. Kohlrausch, worin ihm dieser ankündigte, er werde sich jetzt hier mit »Frl. Kreutzner« einrichten und nun wegen der ihm und ihr zugefügten Beleidigungen Schritte thun.

Rother antworte nicht. Er wartete auf das Antwort-Telegramm aus Roveredo. Es kam. – Genaues konnte ihm sein Freund nicht mittheilen. Allein, so viel hatte er in Erfahrung gebracht: Der betreffende Hauptmann vom Genie, dessen man sich an Ort und Stelle noch wohl erinnerte, sei später zur Cavallerie übergetreten. Sein Name sei: Graf Xaver Krastinik. – –

Ohne Verweilen verschaffte sich Rother von einem befreundeten Offizier eine Rangliste der Oesterreichischen Armee. Richtig! Bald hatte er den Namen gefunden. Ein ungarisches Husarenregiment, Garnison bei Pest. Ohne Verzug telegraphirte Rother an das Regimentskommando, Rückantwort bezahlt, ob er den Herrn dort treffen und sprechen könne.

Seine fieberhafte Nervenaufregung steigerte sich bis zu Appetit- und Schlaflosigkeit. Er hatte sich in die Geschichte so hineingeredet und hineingelebt, daß ihm sein ganzes Leben daran zu hängen schien. Und war es nicht so? Stand seine Liebe nicht auf dem Spiel? Doch die war ja verloren. Nein, nun galt es seinen Namen. Die Schande, die Lächerlichkeit! Sein reizbares Ehrgefühl überwand das nicht; nein, daraus mußte noch Schlimmeres erfolgen. Man trieb ihn zum Aeußersten, so wehrte er sich. Ob das Mittel ganz anständig sei, diese Frage kam hier nicht in Betracht; hatte man nicht ehrlos an ihm gefrevelt? Man wehrt sich am besten, indem man selbst zuschlägt. Die beste Vertheidigung ist der Angriff. – Ob man ihm antworten würde? Er sollte nicht lange in Zweifel sein.

Ueberraschend schnell, mit ungarisch ritterlicher Liebenswürdigkeit, ward ihm Antwort. Graf Krastinik sei auf Urlaub, nach England verreist. Seine Adresse wisse stets, wie er beim Regiment hinterlassen habe: Lord Dorrington, Boltons Terrace, London.

Rother besann sich nicht einen Augenblick. Auch dies Hindernis noch – sei's! Hatte er die Sache einmal so verzweifelt ernst genommen, so wollte er sie durchführen. Was hatte er sonst auch noch für Interesse am Leben! Einer Erholung bedurfte er so wie so; Geld genug hatte er gerade; so ging er am besten allen Unannehmlichkeiten zu Haus aus dem Wege. Wenn ihm jener Kerl etwa persönlich eine Droh- und Daumschrauben-Visite macht! (Er sah eben Alles in vergrößertem Maßstab und düsterm Lichte.) Wozu noch zögern!

Schon der andre Morgen sollte ihn auf der Fahrt nach Hamburg sehn. Die nächste Route, die über Belgien und Calais, mochte er nicht wählen, wegen der drohenden Kriegsgerüchte.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Den letzten Abend vorher hatte ihn Annesley besucht, der wie gewöhnlich seine Hülfe in irgend einer musikalischen Angelegenheit beanspruchte, um dann wie gewöhnlich emphatisch zu versichern: »Ihr Wohlwollen ist der einzige Sonnenstrahl in meinem nächtigen Sein. Ich armer Verfaulter und Siecher aus diesem Hunde Erdball! Sie sind ein vollkommener Gentleman, Sie sind –«

»Schon gut,« unterbrach ihn sein Gönner, der diese Aufwallungen schon kannte. »Kommen Sie man 'raus aus der guten Stube und an die frische Luft! Sonst jammern wir uns Beide wieder 'was vor!«

Es war noch früh am Tage, gegen 6 Uhr. Auf der Leipzigerstraße vor dem blauweißen Schilde des »Weihen-Stephan« (jenem historisch merkwürdigen Lokal, wo einst der größenwahnsinnige Oppositionsführer des Reichstags von einigen angezechten Ulanenoffizieren offiziell hinausgegrault wurde) stieß Rother auf ein Paar, das in schweigender Größe lustwandelte.

»Ah, Servus!« Man grüßte sich. Rother stellte »den hochbegabten Componisten Henri Francis Annesley« den beiden Herrn vor: »Herr Karl Schmoller, Herr Friedrich Leonhart.« Annesley machte große Augen, die zwo Dioskuren der litterarischen Revolution zu erschauen.

»Ah, sehr erfreut,« nickte der große Schmoller gnädig, indem ein süßliches Lächeln seinen bärtigen Mund umspielte. »Schon viel gehört von Freund Rother über Ihre Begabtheit.«

Annesley kratzfußte stumm und wunderte sich baß. In seiner Knabenphantasie hatte er sich große Schriftsteller immer à la Apollo gedacht. Und nun –!

Schmoller sah ihm aus, wie der Inspektor einer Gasfabrik. Er trug Ringe an den Fingern, einen spitzgedrehten schwarzen Schnurrbart, als wäre er bei Graf Perpoucher in die Lehre gegangen, und einen behäbigen Havelock. Sein stechendes grünliches Marderauge funkelte unter einer ungeheuren blauen Brille, wegen mangelnder Kurzsichtigkeit aus Gelehrsamkeitsrücksichten. Seine überhängende Stirn dachte sich wölbig in Etagen ab und bildete einen spitzen Winkel, aus welchem die lüstern witternde breitnüstrige Nase vorsprang. Sein dito vorspringender breitwulstiger Mund (offenbar ein naturalistischer Witz der Natur, um »das böseste Schandmaul« anzudeuten) athmete einen halb versteckten halb dreisten Trotz. Eine unheimliche Energie verschönte gleichsam diese bizarre Voltaire-Physiognomie. Dabei schien er überaus satt und wohlgenährt, als ob er für all den Hunger, den er in seinen socialen Romanen schilderte, ein derbes Gegengewicht in seiner Person suche. Er rächte gleichsam seine »Enterbten« durch seinen Dichterappetit. Obschon ein Kölner Kind, vertauschte er gern sein niederrheinisch Platt für Spreeathener-Dialekt. Diesen hatte er gelernt von seinem früheren Intimus Fritz Erdmann, dem »deutschen Zola« – jenem naturalistischen Epiker, dem es im Deutschen Reich zu enge wurde, weswegen er vor geraumer Zeit nach Amerika durchging. Jetzt erbte Schmoller von ihm den Titelrang eines »deutschen Zola« als Nummer 2.

»Und sagen Sie, sind Sie wirklich der ber–ühmte Leonhart?« fragte Annesley naiv. »Also so sehen Dichter aus?«

Leonhart schien auf sein Aeußeres wenig Sorgfalt zu verwenden. Seine röthlichen Haare zottelten sich, als wären sie selten gekämmt, und seine auffallend aristokratischen Hände starrten trotz ihrer zartweißen Hautfarbe von Schmutzflecken. Sein mädchenhaft zarter Teint wurde durch diverse Sommersprossen reizvoll belebt und an sein Kinn schien ein zersaustes Ziegenbärtchen angeklebt, das so stoppelig, aussah, wie brandige ausgeraufte Aehren. Auch machte seine unscheinbare dürftige Figur einen wenig imponirenden Eindruck. Sein blaues Auge, unter feingeschnittenen Brauen an einer starkgewölbten breiten Schläfe, schaute verschleiert müde drein. Nur ab und zu kam ein belebterer Ausdruck in dies stille Gesicht, dessen ruhige Miene andeutete, daß sie nicht Alles sehen lasse, – als ob geheim unter der Oberfläche gähre, was Niemand erspähen soll.

Sie bogen durch die Behrenstraße ein. »Hehe, da is ja das Wein-Restaurant mit den Gobelins und geschnitzten Möbeln, Hochelejant!« rief Schmoller der Joviale. »Hier schaart sich ab und zu die famöseste Klatschgesellschaft von tout Berlin zusammen.«

»Jaja, die ›Lästerschule‹!« murrte Leonhart. »Unter dem Vorwand eines collegialen Schöppchens! Jetzt haben sie's damit, die Modelle meiner Figuren zu beschnüffeln. Da werden die abenteuerlichsten Märchen aufgetischt, jeder braut eine besondere Version. Jaja, die guten Freunde! – In den Geld-Taschen und Hosen der Dichter herumzuriechen, ist des deutschen Schreibmichels Lust! Ihre ungewaschenen Finger in alles Persönliche stecken, – das nennen diese jungen Lait' von's Geschäft ihre ›litterarischen Verbindungen pflegen‹«.

»›Ob X. wirklich dem Y. so viel gepumpt hat? Ob A. wirklich so hohes Honorar pro Bogen bekommen hat wie er auf Ehrenwort schwadronirt? Wieviel Gehalt hat B. bei der »Tagespost«? Ob man ihn wohl da hinausdrängen kann?‹ Sehen Sie, so wälzt das tiefsinnig anregende Gespräch sich eintönig fort, wie die Ritter-Dramen des Herrn von Alvers.« Er hielt inne, um Athem zu schöpfen.

»Na und ob!« fiel Schmoller ein, der vor Ungeduld brannte, sich seines animus injuriandi zu entladen. »Denk' doch nur an deinen gemeinschaftlichen Freund Boris von Lappezinsky. Salon-Statist! Wechselt fortwährend seine Wohnung, weil er die Miethe schuldig bleibt! Hat eine anständige junge Dame verführt – (sie hat mir's selbst erzählt,« fügte er in tugendhafter Entrüstung ein) – »und sitzen gelassen!«

(»So etwas kommt bei uns nicht vor!« brummelte Leonhart ironisch.)

»Dieser Mensch!« Schmoller griff sich an die Haare, daß sein Bourgeois-Cylinder, den er als großer Volksmann pflichtschuldigst bevorzugte, sich in den Nacken verschob. »Jotte doch, Boris von Lappezinsky!« Er schüttelte sich, als bereite ihm dieser Name, den er langgedehnt herausquälte, einen Hochgenuß. »Boris, Boris, mein Junge, Mann des Popo-Scheitels und der Pomade-Kleberei, hausirst Du immer noch mit Deinen blutrünstigen Colportage-Romanen? Haben Se nix ße dichten?«

»Ich finde diese amüsanten Skizzen aus der Guten Gesellschaft besser, als manches modeberühmte Geschmier.«

»Schuster, bleib bei Deinem Drama-Leisten!« schnarrte Schmoller giftig. »Was Du wohl von Romanen verstehst!«

»Indianergeschichten für große Kinder erzählen, ist die Aufgabe anderer Realisten.« Es ist nicht die meine. – »Du vermochtest mich eben nie zu erfassen,« ertönte feierlich der Bierbaß des Menschheits-Regenerators.

»Hihi,« kicherte sein Mephisto, »Ne, Dich versteht man nur in Chaldäa. Wie schriebst Du doch neulich so treffend über die conventionellen Phrasen der Culturmenschheit?« »So überkleistert die Form, dieser dürftige Umschlag-Shawl der Aesthetik, den inhaltlichen Beweis des elementaren Persönlichkeitsgefühls«!! »Herr, dunkel ist der Rede Sinn. Stürze Dir man nicht in Unkosten!«

Ueber das asketische Mönchsgesicht des kleinen litterarischen Luther flog eine hektische Röthe und eine heftige Antwort schwebte ihm auf der Zunge. Aber er zuckte nur vielsagend die Achseln. Größenwahn platzte hier auf Größewahn.

Beide geübten Schimpf-Majore machte es augenscheinlich nicht im geringsten verlegen, vor den beiden Fremden ihre schmutzige Wäsche triefend auszuringen.

»Lappezinsky« –, fuhr Schmoller unbeirrt fort, aber diesmal schmollte ihm Leonhart dazwischen:

»Ein a – anständiger Mensch!« Es kam ordentlich seufzend mit einem Uf heraus, wie eine Schwergeburt der Selbstüberwindung. Denn am liebsten brauchte er den Kosenamen »Schurke«, sobald ihm Jemandes Nase mißfiel.

»Ach was, fauler Mumpitz!« schimpfte Schmoller fort. »Ein Ohrwurm ist er! Gentlemännische Manieren wissen ja diese Adligen immer herauszubeißen. Er ist immer höflich und liebenswürdig, aber in seinem hübschen glatten Gesicht lauert ein Zug von rücksichtsloser Brutalität!«

»Ach, laß doch das Physiognomieenlesen!« suchte Leonhart abzubrechen. »Das verstehn ohnehin die Wenigsten.«

»Oller Optimiste! Wenn Dir man bloß Einer um den Bart geht, ist er bei Dir ein Ehrenmann.«

(»Oho!« dachte Jener. »Man kann ein Grobian und doch ein Schurke sein.«)

»Neulich hat er Dich mir gegenüber schlechtgemacht. Macht sich lustig über Dich, dieser kleine dumme Hannefatzke. ›Er möchte gern ein Realist sein‹ hat er gesagt, ›und ist doch stets ein Romantiker.‹ Dabei hat er von Deiner alten dummen Weiber-Geschichte geschwatzt – Du weißt schon, von Der da« – er machte eine imaginäre Handbewegung. »Als ob er 'was davon wüßte!«

»Ungefähr so viel wie Du,« trumpfte Leonhart ihn trocken ab: »Nämlich gar nichts. – Uebrigens, wenn er mich für romantisch hält,« ein unbeschreibliches Lächeln huschte über das bleiche vornehme Gesicht »so ist das auch noch weiter kein Verbrechen. Lassen wir das!«

Annesley und Rother, um welche sich die beiden Dioskuren im Gefühl ihrer Wichtigkeit gar nicht mehr bekümmert hatten, folgten nicht ohne Mißbehagen dem Gespräch, das sich nunmehr einem Herrn »Peter von Schnapphahnitzkoy« zuwendete, von welchem Schmoller ehrenrührige Dinge erzählte. Sein Genosse erklärte achselzuckend, daß er den Herrn nicht kenne.

»Sagen Sie,« fragte der componistiche Wunderknabe leise. »Klatschen diese großen Dichter immer so?«

Rother zuckte die Achseln und gab keine Antwort.

Eine Art Menschenauflauf hemmte ihre Schritte.

Aus der Italienischen Weinkneipe unter den Linden strömte soeben eine ganze teutonische Horde urdeutscher Studenten heraus. Sie umringten einen dicken kurzen Herrn in Frack, weißer Binde und hohem Cylinder, der wie ein höherer Subalternbeamter oder wie ein strammer Unteroffizier aussah – für den Oberflächlichen, während den Tieferblickenden eine gesunde Männlichkeit in seinem gutmüthigen Gesichte anzog.

»Adalbert von Alvers!« flüsterte Rother von scheuer Ehrfurcht.

Es war wirklich dieser große Bühnenbeherrscher, dessen Muse immer bereit, dem Apell jeder Tagesfrage zu gehorchen und in weihevollen Hymnen jede beliebige Festlichkeit zu feiern – vom neunzigsten Geburtstag des Kaisers bis herunter zum Jubiläum irgend eines Geisteskoryphäen. Er führte soeben die festgeschlossene Cohorte seiner Getreuen in die zweite Aufführung seines neuen Dramas, welches von der Kritik schmählich mitgenommen war. Bei einer solennen Kneiperei in der alten Stammwiege des Alversschen Ruhmes, der italienischen Weinstube, hatte man heut Tod und Verderben allen Ungläubigen geschworen, welche gegen den nationalen Dramatiker aufmucken würden. Bei jedem Todten, der auf der Bühne als Leiche liegen blieb, sollte sich ein Begeisterungssturm von Gallerie und Parterre aus entfesseln. Nach dem dritten Akt aber wollte man, laut Verabredung, ein furchtbares Bardengebrüll »Alvers, Alvers! Alvers 'raus!« stiften, das sich fortissimo bis zum Füßescharren und Stampfen steigern sollte. Ehe die Schauspieler für den »leider nicht im Hause anwesenden Dichter« danken könnten, würde sich dann der Hohe selbst in seiner Loge erheben und gnädig dem verehrlichen Publiko seine Kneifer-Verbeugung zuschlenkern. So dachte man der bösen Kritik schon noch beizukommen!

Wenigstens stellten dies Alles die drolligen Dichterdioskuren so dar, welche von Jedermann irgendwelche Mordsgeschichte zu erzählen wußten. Im Vorübergehen hörte man, während die Verschwörer im Sturmmarsch an ihnen vorbeidefilirten, den großen Dichter selbst die bedeutenden Worte äußern: » ... Das ist es, meine Herren, was ich in Ihnen begrüße: die Wiedergeburt des germanischen Geistes durch begeisterte Jugend. Sie, die Blüthe der Nation, Sie nur verstehen mich zu würdigen. Ja, was sind sie, all die Andern! Nur das nationale germanische Drama ...« Der rauhe Wind verschlang unbarmherzig den Rest. Die vier Flaneure sahen sich an.

»Größenwahn!« flüsterte Rother.

»Dieser Mensch!« schrie Schmoller, indem er sich mit theatralischer Geste an die Stirne fuhr. »Was versteht denn Der! Alberner Bumbum! Dem muß die Muse stramm stehn, wie ein Rekrut!« Leonhart schwieg. Rother knüpfte noch die Bemerkung daran, daß in der Malerei Adolf von Werther diesem königlich preußischen Strebertypus als Pendant entspreche. »Ja, ›von‹! Da liegt's!« Schmoller fuchtelte wüthend mit beiden Händen umher. »Das ›von‹ macht diese Kerle berühmt. Hehe, neunundneunzig Karossen halten soeben vorm Hofschauspielhaus, wie ich höre. Das ganze Geheimrathsviertel und die ganze Garde sind angetreten, um einen Dichter ›von und zu‹, einen von ihre Leut', zu bespeicheln. Pfui Deibel! Was, wie, Leonhart, zwei Kerle wie wir, die hunderttausendmal mehr werth sind, als die ganze Bande zusammen ...« Leonhart schwieg.

Rother stieß Annesley mit dem Ellbogen an. »Größenwahn!« murmelte dieser, halb träumerisch.

»Wo speisen wir, meine Herren?« fragte Leonhart.

»Welche Frage! Siehe Annonce-Spalten der ›Berliner Tagesstimme‹! ›Wo speisen Sie? Bei Schwanzer.‹ Hier wären wir ja. Steigen wir man immer runter, Herrschaften!« docirte der gewiegte Lokalspezialist Berlins als Autorität mit Selbst-Patent.

Man stieg also in den geräumigen Keller hinab und nahm Platz. »Kellnehr! Eine Portion Erbsensuppe mit Schweinsohren, aber hübsch zerkaut! Ne, nicht doch, ich versprach mich man nur. Kellnehr! Ein Eisbein mit Sauerkohl! Ganz frisch, sagen Sie? Na selbstredend, kennen wir, oller Pappenheimer.«

Leonhart vermochte nicht, sich diesem culinarischen Realismus anzuschließen, und begnügte sich mit einer Portion Seemuscheln: das Pikante zog ihn immer an. Nachdem Annesley die ganze Speisekarte durchstudirt, verkündete er plötzlich großartig sein dringendes Bedürfniß nach einem Dutzend Austern nebst Champagner. Obschon Rother keineswegs so cavaliermäßig fühlte, wie sein liebes Zukunftsgenie in spe, so mußte, er doch wohl oder übel in seiner gewöhnlichen schwächlichen Weichherzigkeit nachgeben und mithalten.

Schmoller gerieth sofort über den Sekt und die Austern, auf welche er geile Blicke warf, in die tiefste sittliche Entrüstung. »Dieser Mensch!« raunte er seinem Genossen ins Ohr. »Scheint ein verzogenes Muttersöhnchen, das noch nicht ins Leben hineingespuckt hat. Wollen ihn mal schrauben. – Sie, junger Herr,« hob er plötzlich an, »warum heißen Sie eigentlich Francis Henry Annesley? Sie sprechen doch ganz dialektfrei. Sind Sie Engländer?«

»Mein Urgroßvater war ein Amerikaner,« klärte ihn der Angeredete feierlich auf, als belehre er über eine wichtige historische Thatsache.

»Und seither ist Ihre Familie nach Deutschland verzogen? Ihre Frau Mutter war wohl auch eine Deutsche? Ja? Na, dann frage ich man bloß, warum Sie sich ›Henry Francis‹ taufen ließen, statt ganz gemüthlich ›Heinrich Franz‹. Jaja, versteh schon. Waren vorsichtig in der Wahl Ihrer Namen, wie Ihrer Eltern. So'n bischen Englisch klingt doch gar zu schön. Hat so'n vornehmes Lüster, hehe. Nichts für ungut. – Also Sie sind Lieder-Componiste? Oalle Achtung.«

»Ein sehr begabter,« ermahnte Rother mit leisem Vorwurf. Er fühlte sich beleidigt, daß man seinen Schützling an-ulkte.

»Mindestens. Ein verrücktes Sumpfhuhn sind Sie doch, lieber Herr Rother! Das heißt, pardon, Sie verstehen, ich bin eine ehrliche Haut, die jedem die Wahrheit sagt. Fragen Sie meinen Freund Leonhart!« Dieser brummte über seinen Seemuscheln etwas Unverständliches.

»Nein, wie Sie doch immer für Andre ins Zeug gehn! Ordentlich rührend. – Ja, Herr Annesley, er hat uns schon viel die Ohren vollgeschwärmt – in Ihnen soll ja riesig viel Musike thronen. Schöner Kerl, der Francis Henry, interessantes Aeußere – was, Leonhart?« Dieser grunzte, wieder etwas Unverständliches; der ehrliche Biedermann aber hatte mit dieser biedern Aeußerung das Herz des Wunderknaben für immer gewonnen. »Werden, wie ich höre, eine Prachtausgabe Ihrer Compositionen ›Lieder unglücklicher Liebe‹ veranstalten – mit Illustrationen von Paul Thumann, nicht?«

(»Schlagsahne!« Rother schüttelte bei dem Namen des eleganten Damenzeichners unwillig den Kopf.)

Ohne den Spott Schmollers zu merken, folgte Henry Francis Annesley eifrig der Lockpfeife: »Allerdings, Herr Schmoller. Ich plane auch eine Prachtausgabe meiner Symphonie ›Kinder des Leids‹, Opus 21.«

»Muß Ihnen aber ein schweres Geld kosten,« meinte Schmoller theilnehmend, der rasch berechnete, daß man sich einen so vermögenden Jüngling warmhalten müsse.

»Ach ja!« rief der Beklagenswerthe. »Ich war stets ein Opfer meines idealen Strebens. Wer die ganze, hohle jämmerliche Erbärmlichkeit der aus Perfidie, hirnverbranntem Neid, tollem Größenwahn, gemeinster Klatschsucht, polizeiwidriger Cliquenheulmeierei zusammengesetzten Weltverhältnisse kennen gelernt hat – puh!«

»Sehr richtig!« sagte Schmoller und machte ein ernsthaftes Gesicht.

»Wo ist neidlose Anerkennung wahren Verdienstes,« der Wunderknabe warf das Adonishaupt in den Nacken, »wo Ehrfurcht vor allem Großen, Heiligen und Schönen, wo Charakter, Manneswürde!«

»Sehr richtig!«

Jener aber übte sich rüstig fort in deklamatorischer Rhetorik:

»Wer vermag in diesem bodenlosen Sumpf des Egoismus festen Fuß zu fassen! Wer noch einen Funken Moral und Ehre im Leibe hat, wendet entrüstet sich ab von diesem Bilde schamloser Herzens- und Gemüthsverrohung, verzweifelnd an allen idealen Instinkten. Ja, man müßte die Leier des Gesanges zu allen Teufeln werfen –«

»Warum thun Sie es denn nicht?« unterbrach ihn plötzlich im betäubendsten Wortschwall die boshafte Zwischenfrage. Sie kam aus dem Munde Leonharts, der ihn seit geraumer Zeit mit festen Blicken maß, als ob er an ihm etwas studiren wolle. Annesley verstummte und biß sich auf die Lippe, während ein tückisches Blinzeln in seinem Auge verrieth, daß er Leonharts Meinung sehr wohl verstanden habe.

»Meine Lieder,« hob er wieder an, »sind sturmbewegte Trauerflöre, tiefste Herzensseufzer. Durch die Berührung mit der All Natur entsteht jenes Stimmungs Fluidum, welches der brünstigen Sehnsucht nach dem Ur Schooß entspringt. Ja, meine Herren, die Musik – sie ist die höchste der Künste, vergeistigte Materie, die vom Rohstofflichen bis auf den kleinstmöglichsten Erdenrest sich losgelöst. Die in der Stunde der Gnade empfangene Melodie der Seele, der individuelle Stimmungsduft der Empfängniß, die krystallklare Spiegelung der dämonischen Regungen der Seelenorgane in der ganzen Skala der Affekte vom höchsten Jubel bis zum tiefsten Leid ...« er wollte noch einige Phrasen hinzufügen, verhaspelte sich jedoch und verschlang rasch eine Auster.

»Kannst Du Dir den Bauch halten vor Lachen? Ich platze!« raunte Schmoller wieder seinem Freunde zu, der mürrisch vor sich hinstarrte. »Sehr, sehr schön gesagt, mein lieber Herr Francis Henry Annesley,« sagte er laut mit tiefem Brustton der Ueberzeugung. »Grade auf Ihre Prachtausgabe bin ich ungemein gespannt. Haben Sie schon einen Verleger?!«

Diese ominöse Frage schien bei dem neuen Mozart eine mißtönende Seite zu berühren. Denn er runzelte die Stirn und zog dann aus seiner Brusttasche einen gedruckten Prospekt, welchen er der andächtig lauschenden Gemeinde mit hochtrabend näselndem Tone verlas. In demselben wurde versichert: Ralf der Schöne (in Klammer: Pseudonym für Henry Francis Annesley) sei nach dem Urtheil aller Autoritäten »absolut genial« zu nennen. Beigefügt waren einige Recensionen des »berühmten Musikreferenten Eugen Düstergang« und des »bekannten Kunstkenners Harald Theopol Mokamaute«, wonach die »Pantheistischen Lieder unseres Henry Francis Annesley zweifellos vom Hauch der Unsterblichkeit umweht« seien. Diese Musik schwebe gleichsam in der mondblauen Luft zu märchenblasser Sternenpracht empor.

»Ikarus, Ikarus, Jammer genug!« warnte Leonhart halblaut.

»Sagen Sie – Mokamaute?« forschte Schmoller mit unnatürlichem Ernst. »Würde Mokka-Schaute nicht besser klingen? Wer ist eigentlich dieser Herr? Habe noch nie davon gehört.«

»Ich wohl – nämlich von Ihren zwanzig Pseudonymen, Herr Annesley.« Leonhart stieß ein kurzes hartes Gelächter aus. »Ach, so lassen wir doch den Quatsch!« Der Wunderknabe schoß aus ihn einen wüthenden Blick, in dem eine unheimliche Tücke schillerte. »Sprechen wir endlich von interessanten Dingen. Wie denken Sie über Rußland? Ich meine, die neuen Attentatversuche der Nihilisten, meine Herren.« Aber Schmoller hielt ihm mit komischen Schrecken den Mund zu:

»Raus! Will der Spitzbube hier gelehrte Gespräche mimen. – Ne, schwatzen wir man ganz gemüthlich weiter!«

(»Klatschen und schimpfen!« dachte Rother.)

»Ja, mein lieber Mister Annesley, ich freue mich lebhaft, in Ihnen einen Nachfolger der Schumann und Schubert, sozusagen den Letzten Lyriker, kennen zu lernen. Fahren Sie auf diesem löblichen Wege nur so fort, dann wird Ihnen der Lorbeer (halblaut zu Leonhart: ›und Zelle Nr. 1 in Dalldorf‹) nicht entgehen.« Und erschüttelte meuchlings dem Letzten Lyriker die schmächtige Hand mit seiner Bärentatze. »Wie Rother erzählt, verfügen Sie ja auch noch über eine schöne Gottesgabe die des Menschen Herz erfreut: einen sanften lieblichen Tenor.«

»Wollen Sie mich mal hören?« Der Wunderknabe ließ sich das nicht zweimal sagen. Zum Entsetzen seines Freundes Rother und sämmtlicher Gäste erhob er plötzlich seine Stimme und sang »So – la – mi – fa« mit fabelhafter Bravour herunter.

»Aber nein, das geht nicht, meine Herrn!« betheuerte der Wirth, der von seiner üblichen Skat-Parthie in der Ecke aufsprang und herbeieilte. »Sie graulen mir ja alle Gäste fort.«

Annesley setzte sich, unmuthig seine Mähne schüttelnd. »Lächerlich! So geht's immer. Nirgends ist Raum für das Ideale.«

»Und die Eitelkeit,« ergänzte Leonhart.

Schmoller wand sich in inneren Krämpfen. »Sehr, sehr brav. Ich ehre in Ihnen den neuen Amphion,« rief er, Lachthränen in der tremulirenden Stimme. »Sie könnten Steine erweichen. – Dieser Me–nsch!« flüsterte er zu Leonhart hinüber. »Den bring' ich in meinen neuen Roman. Der Wein-Reisende in Musike! Das ist ja das reine Pendant zu den Literatur-Studenten der Jüngsten Deutschland.«

Als ob er auf sein Stichwort gelauert hätte, wandte sich hier der Wunderknabe, der nach Leonharts boshafte Ergänzung über irgend etwas zu sinnen schien, an diesen mit der erfreulichen Frage:

»Haben Sie schon Veilchenthals Epigramm auf Sie gelesen in der neuesten Nummer des ›Zeitgeist‹?«

»Ach Gott!« lächelte dieser. »Was geht es den Mond an, ob ein Köter ihn anbellt! Der selige Lasalle sagte so richtig in seiner Broschüre gegen Julian Schmidt: ›Die kleinsten Köter pflegen mit Vorliebe an Monumenten ihr Wasser abzuschlagen.‹«

»Hihi!« Der Wunderknabe grinste dämonisch. »›Mond‹ und ›Monument‹ ist gut. Hihi, er redet ja eben darin von Ihrem, widrigen Selbstlob' – hihi, er nennt Sie den Gernegroß, dem Dunst und Dünkel das Hirn verdrehte und der seine Kindertrompete – hihi – hält für die Posaune des Weltgerichts.«

»Ach, Sie sind zu freundlich. Ich staune über Ihr Gedächtniß,« parirte der Dichter kalt. »Vielleicht lernen Sie auch mein neuestes Epigramm auswendig:

Größenwahn.

Der Esel vertraut es dem Schafe,

Das blökte fromm Mumuh.

Sie schrieen sogar aus dem Schlafe

Gar manche Ziege und Kuh.

Der Fuchs und der Wolf mit Trauern

Das Thier in der Wüste besahn.

Der – Löwe ist zu bedauern:

Er leidet an Größenwahn!«

Eine kurze Pause entstand. Auf diese schneidende Tiefquart wußte Annesley nur ein dummes »Hihi« zu kichern und wandte sich daher, um abzulenken, mit heuchlerischer Theilnahme an Rother: »Auch über Ihr neues Bild, lieber Freund, ist ein abscheuliches Epigramm veröffentlicht. Ich kann es auswendig. Auch die neulichen abscheulichen Bosheiten des Dr. Drechsler-Caballo im ›Stuß‹ gegen Sie habe ich verwahrt. Sie können diese wichtigen Dokumente bei mir nachlesen. Soll ich das Epigramm –«

»Nein, unterlassen Sie das!« unterbrach ihn Leonhart stirnrunzelnd. »Sie scheinen ja ein ordentliches Arsenal aller Injurien gegen Ihren Freund und Gönner anzulegen.«

Während Annesley wieder ein verlegenes »Hihi« herausquälte, belobigte Schmoller gnädig Leonharts Epigramm. »Sehr schneidig. Könnte nicht machen. Habe überhaupt noch nie einen Vers gemacht. Wenn ich ein Gedicht sehe, muß ich schon lachen.« – Ja, meine Herrn, er nahm einen behaglichen Schluck Kulmbacher, »hier sitzen die zwei bestgehaßten Leute in Berlin. Gefürchtet muß man sich machen; das ist die Hauptsache. – Dieser Veilchenthal! Dieser Me–nsch!«

»Na, der hat doch wenigstens ins Leben hineingespuckt,« insinuirte Rother lächelnd.

»Haha, sehr gut. Könnte sogar selbst als Spucknapf dienen. Ein Mensch mit einem solchen Flecken – Sie wissen doch!« Und er wärmte zum tausendsten Mal eine alte Weibs-Geschichte auf, wobei er einige verfängliche Situationen, die dabei mitgespielt haben sollten, recht drollig zum Besten gab.

»Ach was!« Leonhart schlug unmuthig mit der Faust auf den Tisch. »Laßt doch endlich die faule Sache ruhn. Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms.«

»Na, der mangelt doch nicht des Ruhms!« lachte Schmoller. »Freilich, was für ein Ruhm!«

Aber Rother, der aufmerksam zugehört hatte und sehr still geworden war, stimmte Leonhart eifrig bei. »Ist denn das ein solches Verbrechen, daß Einer aus Leidenschaft für ein Weib ...«

»Das will ich meinen!« rief Leonhart. »Seht Euch doch einen Kerl wie Napoleon an. War denn dem seine Josephine 'was Bessers? Da hab ich ein paar neue Bücher gelesen von einem gewissen Imbert de St. Amand über das Leben der ›Bürgerin Bonaparte‹. Du mein Gott! Um solch eine liebenswürdige Kokette, solch ein sinnliches Durchschnittsweib, hat das größte That-Genie aller Zeiten Blut geschwitzt! Der ganze berühmte Feldzug in Italien wird an der Hand unwiderleglicher Dokumente zu einem Delirium des erotischen Geschlechtsparoxismus. Bonaparte wollte berühmt werden und siegen, bloß damit ihn dies Weib liebe! Als er unter dem Triumphbogen Mailands einzog, war er der einzige Traurige in seinem siegreichen Heer. ›Meine Frau ist krank oder treulos,‹ sagte er todtenbleich zu Marmont. ›Ihr Medaillon ist auf meiner Brust zerbrochen.‹ Als er sie gewaltsam aus Paris schleppen ließ, wobei sie sich mit Händen und Füßen sträubte und weinte, als ging's zum Schafott, – gerieth er in eine erhabene Raserei, als die Oesterreicher ihn bei Befriedigung seines Liebestaumels störten. Und als seine Frau, die er den Gardasee entlang schickte, um sie aus dem Schlachtbereich zu schaffen, ihm Jammerbriefe schickte, ihre Eskorte würde von den Oesterreichern verfolgt und man habe auf sie geschossen, – schleuderte er in einem Anfall genialen Wahnsinns seine Blitze mit der unnatürlich verzehnfachten Kraft eines Irren umher, so daß er im ›Feldzug der Fünf Tage‹ die ganze österreichische Uebermacht Schlag auf Schlag auseinanderstäubte. Vor Arkole, als ihn ganz Europa für verloren hielt und die Armee ihn im Zelt verzweifelt über seiner Rettung brütend glaubte, saß er und schrieb verrückte Eifersuchtsbriefe an seine Frau: ›Fürchte den Dolch Othellos!‹ Briefe, welche die naive Kokette in ihrem Salon vorlas und dazu lachte: ›Il est drôle, Bonaparte!‹ Grade in diesem erotischen Delirium kam das Genie über ihn wie ein Strahl und er beschloß den berühmten Uebergang aufs andre Ufer der Adige, wodurch seine ganze Lage eine andre Wendung bekam. – Später blieb's geradeso. In den Laufgräben von St. Jean d'Acre, gigantische Pläne nebenbei im Hirne wälzend, lamentirte er umher und belästigte seine Adjutanten mit Jeremiaden und Klatschereien über Josephinens Untreue, über die er sich lang und breit mit seinem eigenen Stiefsohn Eugen unterhielt. – Kurz, meine Herrn, ungewöhnliche Menschen sind in dieser Beziehung immer verrückt und die erotische Leidenschaft ist der beste Stachel der Genialität.« Er hätte noch so fortdocirt und besonders die Episode mit der polnischen Gräfin zum Besten gegeben, wegen deren die Schlacht von Eylau verloren ging – aber Schmoller gähnte laut. So zog er es denn vor, um sich einen anständigen Rückzug zu sichern, zur Retirade zu eilen. Während er diesem natürlichen Bedürfniß fröhnte urtheilte sein Waffengenosse, Kamerad Schmoller, wohlwollend:

»Hat etwas gelernt, dieser Leonhart. Aber mit seinem Napoleonschwindel muß er mir vom Leibe bleiben. Das ist auch bei ihm so ein Stück Größenwahn. Wissen Sie nicht, er hält sich selbst so für eine Art kleinen Napoleon, haha! Spricht pro domo. – Ja, ich sagte eben,« brach er ab, als Leonhart wieder erschien, »Du bewunderst Deinen Kleinen Korporal zu viel. Was der gethan hat, kannst Du auch – wenn Du so viel Glück hast wie er. Prost!« Dabei zwinkerte er mit einem Auge die Andern an, als wolle er ihnen seine tiefe Ironie andeuten. Gleichwohl klangen seine Worte ganz sauertöpfisch-bieder.

»Napoleon war doch ein dämonisches altes Haus!« machte der Wunderknabe seiner unklaren Gedankengährung Luft.

»Sehr richtig, lieber Herr von und zu Annesley,« munterte ihn Schmoller mit süßlichem Lächeln auf. »Sie sind ja auch eine dämonische Natur.«

»Ich? Hihi. Glaub's auch. Sehn Sie, darum häng' ich auch jetzt die ganze Componirerei an den Nagel. Ich entsage für alle Zeiten der schöpferischen Production. In wilden Rhythmen, fessellos und frei, hat mein Herz gefiebert. Doch nun fiebert mein Dämon der Bühne zu. Nicht eher finde ich Ruhe, bis das Parkett des königlichen Opernhauses mir athemlos lauscht. Die ganze Producirerei, meine Herrn, ist heut nichts. Damit wird weder Ruhm noch Geld verdient. Die Epoche der Schöpferkraft ist dahin. Heute findet nur der reproducirende Künstler seinen goldnen Boden. Und ich, meine Herrn, brauche das. Ich gestehe es offen: Ich brauche Ruhm und Genuß. Sie sehen mich, ich bringe alle äußeren Mittel mit!« Schmoller trat Leonhart auf den Fuß. »Die Weiber müssen zu meinen Füßen schmachten, daß ich gleichsam in Makartscher Fülle schwelgen kann.« Dabei grinste sein Gesicht ordentlich von verzehrender Wollustgier. »Ich bin eben eine dämonische Natur!«

»Eine neronische, meinen Sie wohl?« ergänzte Leonhart ruhig. »Ich will Ihnen auf den Kopf sagen, was Sie sind: Ein Dilettanten-Wütherich. ›O welch ein Schauspieler stirbt in mir!‹ mögen Sie auf Ihren Grabstein setzen. Wären Sie auf dem Thron geboren, so würden Sie der Zwillings-Bruder eines Ludwig II. sein. Mit verzückter Thränenseligkeit und Schmerzenswollust Rom in Brand stecken, und dazu freie Rhythmen drechseln – oder die Cirkus-Gladiatoren und Bestien sich das Fell von den Knochen reißen lassen, um in tragische Kothurnstimmung zu gerathen – das wäre so Ihr Gusto!« ... Der unheimliche Jüngling lehnte sich mit affektirtem Staunen zurück und sah ihn erstaunt an: »Nein, sind Sie aber ein Menschenkenner! Zweifellos leide ich an erblicher Paranoia und nervöser Psychose.« Er theilte dies mit so sinniger Beschaulichkeit mit, als spreche er von einem Schnupfen. »Doch freilich, eine so complicirte Natur wie mich vermögen Sie doch wohl noch nicht voll zu begreifen. Wenn Sie mich näher studirten ...«

»Dazu sind Sie mir zu unbedeutend, fürchten Sie nichts,« beruhigte ihn Jener trocken. »Glauben Sie übrigens, das sogenante Dämonische wär' was Besonderes? Alle Uebergangsepochen sind davon durchseucht. Immer dieselben Symptome herostatischen Größenwahns. Die Anarchisten, die Attentäter, die angeblich ihren ›inneren Stimmen‹ gehorchen, sind heut bloß die Nachfolger ähnlicher Schwachmatikusse in der Renaissance, wo man, wenn nicht Cäsar, durchaus Tyrannenmörder Brutus oder Anarchist Catilina werden wollte. Gegen solche dämonischen Instinkte ist freilich schwer anzukämpfen.

Die hundert Spanier in der Riesenstadt Mexiko, welche Kortez zurückließ, stürzten beim Neumond-Fest auf den Goldschmuck der Mexicaner los, blind für alles Andere, toll von Gier, und richteten ein Blutbad an. Sie mußten wissen, ja sie wußten es beim Thuen selbst, daß sie schwer dafür zu büßen hatten. Aber sie konnten nicht anders: Gold- und Blutgier rissen sie fort. Der Tiger weiß auch recht gut durch Instinkt, wenn er ein Schiff auf dem Ganges anfällt, daß er dabei umkommt, daß eine Gewehrkugel ihn dabei treffen muß. Aber er thut es doch! Jede Leidenschaft ist unzurechnungsfähig, so auch die eines ganzen Zeitalters, wie die der Renaissance und unsrer Tage – und diese dämonische Leidenschaft heißt: Größenwahn, von Sich-reden-machen um jeden Preis!«

Rother hatte schon bezahlt, weil er fand, das Gespräch nehme eine ungemüthliche Wendung, und Annesley gerieth wirklich in nervöse Unruhe – wie gewöhnlich, wenn es auf Mitternacht gehe, erklärte Rother. So brach man denn auf.

Draußen vor der Thür, als man von der Kellertreppe auftauchte, schritt grade ein Paar vorüber, – gewaltig ausholend, als solle Alles ihrem schweigenden »Platz Da!« Luft machen, – bei dessen Anblick die zwei Dichterdioskuren in ein schallendes Gelächter ausbrachen.

»Seht ihn euch an, seht ihn euch recht an, Kinder!« schrie Schmoller »Der Eine von diesen Bourgeois ist der grauße Drechsler-Caballo vom ›Stuß‹ – der Sie auch angeulkt hat, Rother, wie Jeden, der Saft und Kraft im Marke hat. In seiner ungeschorenen langen Simsonmähne steckt sein ganzer Ulk, wie eine Laus. Er leidet an Reim-Darmverschlingung und Schimpf-Diarrhoe. Ihm soll der weise Merlin prophezeit haben: Eine Delilah werde ihm mit der großen Scheere des Fenilleton-Sitzredacteurs Doctor Gotthilf Kleisterpott das Haupthaar stutzen. Die Gelehrten sind aber noch uneinig, ob die Prophezeiung auf Frau Doctor Bergmann, Chef-Dame der ›Tagesstimme‹, oder auf die Dichterin Ulla Wank hindeutet. Hehe, altes Erbstück, olles Inventar!« grölte er den majestätisch Enteilenden nach. »Und der Andre – dies fettige Oelgesicht! Jöttlicher Joethe, wer sollte Dir nicht kennen! ›Die Familie Schreibold!‹ Fünfzigtausendste Jubiläumsauflage! Dieser Mensch! hat ins Berliner Leben noch kaum hineingespuckt!«

Sie waren während dieser Ciceronianischen Invective bis vor den »Reichsadler« gelangt. Soeben spazirten ein paar Mägdelein, offenbar dort mimende Tingeltangelleusen, zum Thor heraus und begaben sich auf den Heimweg – eine kleine Junge und eine dicke Alte. Bei dieser Lichterscheinung zuckte Annesley krampfhaft zusammen und faßte Rothers Arm, indem er den Göttinnen nachstierte. »Sie ist's!« flüsterte er theatralisch mit einer Grabesstimme.

»Herr Gott, beruhigen Sie sich doch, alter Junge!« tröstete ihn Rother freundlich. Schmoller aber, der die Scene beobachtet hatte, verabschiedete sich eilig; er habe noch eine Verabredung: »Fahren Sie sowohl als auch! Komm, Leonhart! – Denk Dir doch nur,« rief er, als sich die beiden Paare nach verschiedenen Richtungen von einander entfernten, »das ist ja die bewußte unglückliche Flamme dieses Größenwahnsinnigen, der den ›wilden Engländer‹ macht. Die müssen wir mal ausholen. Das ist Die, – erinnerst Du Dich, wie Rother uns das Gedicht vorlas, Text und Musik von Fedor Waschlapply (zu Deutsch: F.H. Annesley), mit dem Refrain: ›Jetzt weiß ich es, wir sehen nie uns wieder‹? Vorwärts!« Sie blieben den beiden Chansonneusen auf dem Fuß, bis sie dieselben erreichten.

»Mein schönes Fräulein, darf ich's wagen,

Meinen Arm und Geleit ihr anzutragen –

zum Café National nämlich?« fragte Schmoller graziös. »Wie wär's, Kleine, he?«

»Ach Sie! Was wollen Sie denn eigentlich!«

»Mit Dir der Morgenröthe entgegenwandeln, o Aurora!« Leonhart umfaßte burschikos die Hüfte der Alten. »Na Sie aber doch! Aurora in Oel!«

»Lassen Sie meine Tante in Ruhe!« kreischte die Kleine.

»Nun macht keine Geschichten, Kinder. Ich spendire sogar einen Sherry-Cobler!« verhieß Leonhart. Dem vermag kein asphaltenes Straßenpflaster-Herz zu widerstehn – und so saßen sie denn alsbald in der ungesunden Stickluft der nächtlichen Markthallen für Weiberfleisch.

»Du, Maus, Du hast ja einen Liebespickel! Bist Du nicht mein kleiner schneidiger Fritze?« knüpfte die Kleine cordial an, indem sie Leonhart ins Knie kniff.

»Sage mal, liebes Kind,« hob Schmoller an, »ich habe nämlich von Dir gehört – von einem verstorbenen Freund.«

»Ach Falle! Das kennt man.«

»Nein, auf Taille! – Von Henry Francis Annesley.«

»Ach Jemine, is der todt?« Die Kleine hob einen Augenblick die Lippen von dem Lutsch-Halm ab, mit dem man den Sherry-Cobler auszuschlürfen pflegt.

»Ja. Sage mal, Du sollst ja Jungfrau gewesen sein, als er Dich verführte?« Die beiden Damen ließen einen hysterischen Lachkrampf befürchten. »Na gewiß. Er hat doch auf Dich ein Lied in Musike gesetzt ›Die Reue‹, worin er von den Furien seines Gewissens und Deiner geknickten Unschuld redet.«

Die kleine Dame war außer sich. »Meine Unschuld soll der Stiesel man ja in Frieden lassen! Für den is das nichts. Der kooft den alten Fritzen doch nich.«

»Na, aber ich bitte Sie, Ihr intimes Verhältniß ...«

»Was, intim?! Sie haben wohl einen Vogel. Nich mal mein ›Freund‹ is er jewesen. Der alberne Stiesel mit all seine faule Redensarten! ›Retten‹ hat er mir wollen – so 'ne Qualmtute! Mit keinem Herrn hab ich mich so gelangweilt! Der saß ja man bloß immer da und starrte mir an.«

Schmoller konnte sich nicht mehr halten; er brüllte vor Lachen. Leonhart schüttelte wehmüthig den Kopf:

»Immer die alte Geschichte. Zu lächerlich, um tragisch, zu tragisch, um lächerlich zu sein.«

Die beiden Damen nahmen jedoch Schmollers cynisches Gelächter sehr übel, da sie den Grund nicht verstanden. »Na, Sie scheinen mir ooch ein oller Nassauer! Lachen Sie man über Ihnen selber – das is jesund!«

Leonhart kannte seinen erhabenen Freund zu lange, um sich noch zu wundern, daß Schmoller, statt zu lachen, wüthend losdonnerte:

»Was, Sie wollen hier frech werden und Bilder rausstecken? Wissen Sie, wen Sie vor sich haben? Für was halten Sie mich?«

»Für einen Schornsteinfegermeister!« kicherte die Kleine schnippisch. Schmoller wurde dunkelroth vor Wuth.

»Da! da! Lesen Sie!« Er rieß seine Brieftasche heraus und entfaltete einen Pack Zeitungsblätter, wo Recensionen über sein sociales Sittenbild »Die Enterbten« roth angestrichen waren, indem er mit der flachen Hand auf die betreffenden Stellen schlug. »Da! Das bin Ich! Der deutsche Zola! Ja wohl, Sie freches Mensch! Wissen Sie das wohl?«

Leonhart empfahl sich in aller Eile, worüber sich Kamerad Schmoller wieder mörderlich erboste. »Das ist auch Einer, der an seinem Messias zum Judas wird!« lallte er mit geballter Faust. Leonhart lachte. Offenbar hatte der große Sittenmaler wieder zu viel getrunken; er konnte nicht viel Spirituosen vertragen, weil er so viel »ins Leben hineingespuckt« hatte, was gewiß sehr angreifend gewesen war.

»Wie?« hörte man ihn drohen, als der Aufseher des Cafés erschien und um Ruhe bat. »Sie wollen, mir den Mund verbieten? Ich bringe Alles in meinem nächsten Roman ...«

»Ach, bringe Dich doch mal selbst hinein, alter Junge,« dachte Leonhart, als er fürbaß schritt.

»Dieser Original-Figur ist Deine Feder selbst allein gewachsen.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Obschon Annesley durchaus noch in der Bodega oder sonstwo ein anständiges Glas Wein trinken wollte, um den Abend cavaliermäßig zu schließen, widerstand Rother, so willig er sich stets vom Egoismus seines Schützlings terrorisiren ließ, diesmal dessen Wünschen. Er müsse für die Reise morgen frisch bleiben. Annesley trippelte neben ihm her, ein gut Stück aus seiner Richtung ausbiegend, um Rother auf dessen Heimweg zu begleiten. Große Federflocken schüttelten sich auf die nächtlichen Straßen herab und breiteten einen weißen Teppich, der den Schmutz des Tages verwischte. Rother, stets aus Empfindsamkeit und unbewußter Eitelkeit eine warme Gesinnung Anderer für ihn muthmaßend, fühlte sich gerührt, daß der Wunderknabe ihn so anhänglich durchs schlechte Wetter begleitete.

»Nun gehn Sie nur nach Hause, lieber Freund. Es ist sehr hübsch von Ihnen, daß Sie mich am letzten Abend, wo wir beisammen sind, nach Hause bringen. Aber Sie werden sich erkälten ... scheiden wir hier!«

»Ja, das wollt' ich eben sagen,« sagte der treue Freund. »Ach beiläufig, ich suche noch nach etwas ewig Weiblichem – können Sie mir vielleicht noch zwanzig Mark borgen?« Rother sah ihn an und lächelte bitter. »Nun, das ist doch nichts für einen Mann wie Sie. Sie wissen ja, Sie kriegen's immer übermorgen wieder.«

Es war dies Annesleys Manier, trotz seines eigenen vollen Beutels – er wollte offenbar stets Rothers Freundschaft prüfen. Dieser lachte herzlich und wohlwollend:

»Darum reiten Sie mit mir durch Nacht und Wind? – Na, da!« Er reichte ihm das Goldstück. »Also adieu!«

»Ja und die Prachtausgabe meiner ›Kinder des Leids‹ widme ich Ihnen. – Glauben Sie nicht, daß mir das nützen wird?! Bei Ihrem großen Anhang ...«

Rother antwortete nicht und hustete. »Sehn Sie, so drücke ich Ihnen meinen Dank vollauf aus – für so manches Gute, daß Sie an mir gethan haben.«

Rother antwortete nicht. Er dachte an die Feindschaften und Verleumdungen, die er sich wegen des kleinen Nero zugezogen. An den Bruch mit Collegen, welche ihm seinen »hochbegabten Schützling« als ohnmächtigen Charlatan schimpfirten. An all die Stunden, wo er die morsche verrottete Seele aufgerichtet. An seine väterlich aufmunternden Gespräche mit Annesleys Tante (bei der dieser wohnte) über alle Leiden, welche der größenwahnsinnige Wicht derselben verursachte; einmal hatte er in einem Wuthanfall seines Weltwehs auf sie ein thätliches Würge-Attentat versucht. Er dachte an die seelische Blutvergiftung, welche, ihm der Umgang mit diesem brünstig nach Weltlust schmachtenden Weltverächter zuzog, der seinem Persönchen ein ideales Martyrium anlog, um desto brünstiger der Befriedigung unersättlicher Eitelkeit und Ichsucht zu fröhnen. An die Selbstschwächungs-Manie, welche der begnadigte Stimmungsfritze um sich verbreitete, alles Männliche und Reale als »unpoetisch« verpönend – was auf Rothers receptive schwächlich-empfängliche Natur den gefährlichsten Einfluß gehabt hatte. An seine ganze geistige Vormundschaft diesem naseweisen undankbaren Knaben gegenüber. Schon hatte ihm Leonhart mitgetheilt, daß Annesley mit Rothers Todfeind, dem Kunstkritiker Doctor Kratzenthal, hinter dem Rücken seines Gönners gegen diesen conspirire. In einer Gesellschaft habe er sich von dem Maler Adolf von Werther sogar mit Hochgenuß erzählen lassen, Rother schwebe schon lange am Rande der Lächerlichkeit – ohne dagegen zu opponiren.

Damals hatte Rother darauf nicht geachtet; es widersprach seiner nobeln Natur, gleich das Schlimmste zu glauben. Jetzt aber, wie von einem plötzlichen Blitz erleuchtet, lag der Charakter dieses Pseudo-Weltschmerzlers (Pessimystiker sind immer die schlausten Geschäftsleute) ihm bis in die innersten klaffenden Spalten vor Augen.

»Wissen Sie,« brach Annesley das Schweigen, während sie an einer zugigen Ecke zögernd stillhielten, »ich bin immer noch ganz paff über diesen Leonhart. Das ist ja ein ganz communer Bursche, ohne alle Vornehmheit. Hatte mir den immer gedacht als ein enfant gâté, als einen ›Löwen‹ der Berliner Salons – wissen Sie, so eine Art Lord Byron. Nein, diese Enttäuschung! Ein ganz schmutziger gewöhnlich aussehender Dutzendlitterat, so ein richtiger Scribeler und Schmierfink!«

»Hm, nein!« Rother war, wie alle bildenden Künstler, aufs Beobachten von Physiognomieen eingeschult. »Er sieht eigentlich doch recht bedeutend aus.«

»Wie, sind Sie toll? Diese unbedeutende Erscheinung, diese mittelmäßige Figur! – Und was für eine schlotkerige Haltung! Wie er schon dasitzt! Und dabei dieser Größenwahn! ›Sie Lump, prahlen Sie doch nicht so!‹ wollte ich ihm schon zurufen, hihi.«

Rother besann sich vergeblich, ob Leonhart geprahlt hätte. Es war bezeichnend, daß Schmollers offenkundige Ueberhebung wegen ihrer Pöbelhaftigkeit Niemanden beleidigte, während Leonharts stiller Hochmuth jede verkniffene Eitelkeit verletzte.

»Denken Sie an meine Worte,« stieß Annesley hervor, »Der wird noch mal vor Größenwahn im Irrenhause enden!« Dabei rollte er so dämonisch seine Augen, daß Rother sofort die bekannte Wahrnehmung einfiel, daß Geisteskranke immer die Andern ihrer eignen Laster und Fehler bezüchtigen. Indem er im kalten Licht des Wintermonds einen festen prüfenden Blick auf den unheimlichen Jüngling warf, las er jetzt, worüber seine Gutmüthigkeit sich weggetäuscht, mit psychologischer Klarheit. Dieser lauernde verschleierte Blick, die studirt sanfte verschleierte Mollstimme, das unnennbare Weltleid dazu gerechnet, ergaben ihm das Resultat:

Zu allem fähig.

»Also ich komme nicht weiter mit. Adieu!« rief der ideale Schmerzenreich. »Wenn wir uns nicht wiedersehn sollten, wünsch' ich Ihnen ein besseres Loos, als das meine auf diesem Hundeerdeball. Ich habe keine Empfindung mehr. Verzeihen Sie also, wenn ich Ihr freundschaftliches Liebeswerben« Rother runzelte die Stirn, »nicht immer gleich warm erwidern konnte. Ich schleppe mein Martyrium weiter auf meiner Dornenbahn. Ja, hätte man in andere Lebenskreise meine strebende Jugend gestellt! In alle Höhen und Tiefen wäre mein bescheidener Geist gedrungen. Doch – Arma parata fero! Durch Nacht zum Licht! Wir stehen im sausenden Kampfe der Zeit, eine Welt in Waffen wider uns! O selig, Blutzeuge des Lichtes zu sein! So mein Urtheil über die Welt. Ich habe mich Ihnen heut ganz erschlossen. Uebrigens dürfte demnächst mein Tagebuch erscheinen: ›Aufzeichnungen eines verrückten Musikers‹, natürlich pseudonym. Darin werden Sie schreckliche Dinge aus meiner Vergangenheit finden. Ich sage Ihnen ...« er machte dabei eine Handbewegung, indem er die Stimme dämpfte, als vertraue er einem Geheimbündler schaurige Staatsgeheimnisse an. »Hier finden Sie den Schlüssel zum Verständniß meiner Irrsal. Ja, wäre ich als Lord geboren wie der selige Byron! Aber so! Leben Sie wohl! Falls ich nicht in einer Kaltwasserheilanstalt meine Gemüthskrankheit heilen muß, bitte ich alle Briefe nach Venedig zu adressiren, wohin ich im Frühjahr reise. Nachher mache ich wohl mit meiner Tante eine Tournée durch alle Badeorte Deutschlands, um meine Prachtausgabe zu verbreiten und mich als Sänger probeweise hören zu lassen. Man sagt mir, Niemann werde alt; ich dürfte wohl an seine Stelle treten.« So phantasirte der eisige Egoist in seiner brennenden Eigenliebe drauf los; seinen Freund hatte er längst vergessen. »Doch was für eine Zugluft hier!« Er hielt sich das Taschentuch vor den Mund. »Meine Stimme, meine Stimme! Ich muß sie schonen. Also glückliche Reise, lieber Freund!«

Der unheimliche Jüngling stolzirte mit langen Beinen in die Nacht hinein. Rother lachte bitter – jenes messerscharfe Lachen, das wie ein Dolch in die Seele sticht und schärfer brennt als Thränen. Die Menschenwüste dehnte sich vor ihm hin – öde, öde, öde.

Am andern Vormittag, als er eben seinen Koffer in die Droschke steckte, die ihn zum Lehrter Bahnhof trug, erhielt er noch ein parfümirtes Billetdoux von Henry Francis Annesley, in eigenthümlich gemessenem Stil:

»Hochgeehrter Herr,

Bei unserm gestrigen Beisammensein entschlüpften mir allerlei Andeutungen betreffs eines Büchleins, das pseudonym in Leipzig soeben erschien. Ich erlaubte mir, verzeihen Sie, eine kleine Mystifikation. Das Büchlein ist nicht von mir, sondern von einem Studienfreunde aus der hiesigen Musikalischen Hochschule (Conservatorium). – Ergebenst grüßt Ihro Genie Gnaden der Adonis und Schmerzens-Lazarus

Henry Francis Annesley.

P.S. Vielleicht interessirt es Sie zu vernehmen, daß ich im Laufe nächsten Frühjahrs ein Concert im Leipziger ›Gewandhaus‹ veranstalten werde. Sie erwähnen das wohl gelegentlich in Ihren etwaigen Privat-Correspondenzen nach Deutschland. Auch darf ich wohl darauf rechnen, daß Sie, falls Sie von London über dortige Gallerieen an eine Kunstzeitung correspondiren, auch meiner Wenigkeit irgend wie dabei gedenken werden. Sie wissen, wie dankbar ich Ihnen bin.

P.P.S. Anbei eine soeben erschienene Recension über das oben erwähnte Büchlein.«

Dieser Zeitungsausschnitt lautete:

Tagebuch eines verrückten Musikers von F.H. Hummerscheere. Obschon ein literarisches Erstlingswerk, athmet es die Reife des Genies. Hier wird die erbliche Nervenkrankheit oder »Paranoia« mit wunderbar pathologischem Realismus zergliedert. Herrlich sind die Streiflichter, welche auf den großen unglücklichen Monarchen Ludwig II. fallen, den Hummerscheere so schön anredet: »Du warst ein Kind und ein Genie.« Hummerscheere ist auch ein Meister der Satire; das beweist die drollige Figur des liebeskranken Malers Emil Knothe.

Harold Theopol Mokamaute.

Rother zerriß das Gewäsch mit einer Miene des Ekels. Das war selbst seiner Sentimentalität zu viel. – Den Sinn des Unbegreiflichen verstand er freilich erst später, als ihm das »Tagebuch« vor Augen kam und er in dem Maler Emil Knothe lauter Aeußerungen und Züge von sich selbst wieder erkannte, die ihm der liebe Wunderknabe während ihrer Intimität abgelauscht. Was interessirte ihn überhaupt jetzt das Alles! Auf nach London!

Leonhart bummelte langsam fürbaß. Der Gedankengang, den er damals in der Kneipe abgebrochen, setzte sich unabgerissen wieder fort: Er dachte an das Leben Napoleons. Wie oft verschmilzt sich erotische Leidenschaft mit dem politischen Schicksal, wie oft bestimmt ein Weib durch den verliebten großen Mann die Geschicke der Welt!

Es wäre ein tragikomischer Spaß, die Briefe des eifersüchtigen Siegers von Italien an die Citoyenne Bonaparte neben die Eifersuchtsbriefe der Kaiserin Josefine an den Sieger von Austerlitz und Jena, der ihr verbot mit ihm ins Feld zu reisen, um erotisch frei zu sein – kurz, die Zeugnisse eines durch physiologisch-psychologische Processe genau umgestülpten Liebesverhältnisses nebeneinander zu drucken. O Mann, o Weib! Dies Weib, das er für sein Schicksal, für sein Spieler-Glück hielt – verstieß er, um die Tochter der Habsburger an seine Seite zu fesseln, mit welcher ihn Schritt für Schritt Fortuna verließ, so wie die Elende ihn selbst verlassen hat. Was er als Opfer seines persönlichen Glückes seinem Ehrgeiz zur Sättigung hin warf, grade das schuf den Sturz seiner Herrschaft. Er scheuchte sein altes Glück, sein geliebtes Schicksal, von seiner Seite – das Schicksal rächte sich.

Ueber dem Schlößchen Malmaison stand sein kaiserlicher Stern zuerst nah dem Zenith. Dort verlebte er mit Josefine den Honigmond seiner Allmacht als Erster Consul. Und eben dort erlosch sein Stern, hier hauchte sie ihren letzten Odem aus – er folgte. Eh er sich England überlieferte, verweilte er die letzten Tage dort – in der Todtenkammer, die einst sein Ehegemach gewesen. Im nie endenden Orkan seines Lebens war dies die letzte Oase, die ihn einlullte mit der Fata Morgana vergangenen Glücks. So verbindet sich Alles in räthselhaftem Kreislauf, Anfang und Ende. Das Schicksal der Liebe, die Liebe des Schicksals. Erhaben der Ruhm, erhabener die Liebe.

Welch ein Traum, dies Leben! welch ein Traum, von dem die Aeonen weiterträumen werden!

Dem Sieger von Italien schwenkte man einst eine Siegesfahne entgegen, worauf die Schlachten der Armee von Italien eingeritzt. Am Ziel seiner Laufbahn aber schwebte über seinem Haupte geisterhaft eine schwarze Trauerfahne – darauf stunden sie eingegraben in blutigen Lettern, die Schlachten der Großen Armee: Marengo, Austerlitz, Jena, Friedland, Wagram, Borodino, Dresden – Leipzig, Laon, Waterloo! Der Mensch ist Nichts, sein Schicksal Alles. Er war das Schicksal selbst und hatte sich erfüllt.

Er fiel, aber die Erde wurde sein Monument. Mit einem einzigen Sprunge schwang er sich hoch auf des Sieges Donnerwagen und sein Triumph durchblitzte die schwüle Erde.

Welch ein Mensch! Die Sporen seiner Stiefel bohrte er der trägen Menschheit in die Weichen, aus ihrem Schlamme peitschte er sie auf als Gottesgeisel, er fuhr dahin auf seinem fahlen Renner wie der Todesengel der Apokalypse, er riß die Schollen auf wie eine brennende Pflugschar für den Samen der Zukunft. Ja, er hat dem Heros den Charlatan, dem Löwenherz den Falstaff, der Wahrheit die Lüge gepaart; er war ein Gigant mit thönernen Füßen. Aber mit alledem hat er der Welt gezeigt, was ein einzelner Mann vermag vermöge des höchsten Herrscherrechts, das von Gott selber begnadet, kraft der Souverainität des Genies.

Mag sein, er war ein falscher Messias und wurde an sich zum Judas. Aber sein Schicksal wollte es so. Er folgte einfach dem eingeborenen Dämon seiner Bestimmung, der ihn unaufhaltsam fortriß. Ein Größerer denn er war über ihm – wer sich von ihm gerufen fühlt, kann nicht widerstehen.

Ja, er war der feurige Wetterstrahl, der die stickig dumpfe Atmosphäre des morschen Europa von einem Ende zum andern durchzuckte, der durch den Gewitterhimmel der Revolution leuchtete wie eines Racheengels Flammenschwert. Der Orkan, mit dem er die Welt durchrüttelte, durchtobte ihn selber und schleuderte ihn wie eine entfesselte Naturgewalt über zerstampfte Völkerleichen hin. Millionen fluchten ihm, Millionen wurde sein Name ein Talisman der Begeisterung. Man kann das Eine nicht loben, das Andere nicht tadeln. Denn er war wie ein blindes taubes Naturgesetz, wie eine eiserne Nothwendigkeit. Das Splitterrichtern der neidischen Mittelmäßigkeit, der zwerghafte Neid verklagt ihn vor dem Richtstuhl der Geschichte. Aber er hatte der Welt in sich ein Ideal gegeben, in der übermenschlichen Symbolik seines Schicksals – das gilt mehr wie alle Ideologie. – – –

Als ob der Zufall zu den Reflexionen Leonharts einen geheimen Zusammenhang beanspruche, stieß dieser plötzlich nahe an der Potsdamer Brücke auf ein seltsames Paar. Ein auffallend kleiner Mann, genau so groß wie Napoleon gewesen, schritt heftig gesticulirend neben einem Riesen her, der demüthig auf seine Worte wie auf prophetische Weissagungen zu lauschen schien.

»Sieh da, Doctor Paulus!«

Der kleine Herr blieb stehn und erwiderte Leonharts cordialen Gruß mit einer Verbindlichkeit, welche etwas Gezwungenes und Verlegenes nicht verleugnen konnte. »Ah, entzückt Sie mal wieder zu sehn. Wollen eben in den Café Boulevard. Kommen Sie mit? – Erlauben Sie, daß ich die Herrn bekannt mache – doch Sie kennen ja wohl Herrn –«

»Berthier? Gewiß.« Der Große verneigte sich, zustimmend, daß man sich kenne.

»Berthier?! Hahaha!« lachte Doctor Paulus auf. »Nein, Beuthin. Mein ehrlicher Beuthin als Generalstabschef – nicht übel.«

»Verzeihen Sie, Herr Beuthin, ich versprach mich Ideen-Assoziation! Weil Sie so 'was Napoleonisches haben, lieber Doctor.«

Doctor Paulus lachte kurz auf und schritt mit einem leichten imperatorischen »Kommen Sie!« den beiden Anderen voran. Leonhart, der sich anschloß, »um einen Schlummerpunsch zu genießen,« beobachtete ihn heimlich. Paulus war sehr elegant gekleidet, nach englischer Mode, einen breitkrämpigen Cylinder neuesten Londoner Stils auf dem interessanten Haupt. Obschon weit unter Mittelgröße von Statur, schien er nervig und muskulös. In seinen klar und scharf geformten Zügen lag etwas unverkennbar Füchsisches. Doch erinnerte er noch mehr an einen scharfspürenden behenden Jagdhund. In seinem Wesen trat eine hastige nervöse Unruhe hervor, als ob er stetig auf einen Fang laure. Seine breite, aber glatte niedrige Stirn, sein stechendes Auge, seine scharfe schnarrende Stimme konnten für den geübten Physigonomiker wenig Vertrauen erwecken. Ein Solcher hätte auf den ersten Blick in diesem »verdammt schneidigen Kerl« einen ausgezeichnet praktischen Kopf, jedoch ohne höhere geistige Veranlagung, erkannt. In seinen kräftig brutalen Kinnladen, seinem massiven Kinn verrieth sich eine eiserne Energie.

Als Leonhart die Bekanntschaft des Doctor Paulus machte, führte dieser eine ziemlich dunkle Existenz als eine höhere Art von Abenteurer. Er hatte als Doktor promovirt mit einer Disputation über die Schelling'sche Philosophie, die zwar nichts Positives beibrachte, sich aber durch ätzende Kritik und schneidende Logik hervorthat. Seither trieb er sich in Berlin umher, ohne daß Jemand wußte, wovon er lebe. Er erzählte stets merkwürdige Geschichten aus seiner Londoner Vergangenheit, wie er als man of fashion drei Jahre lang sein ererbtes Vermögen aufgezehrt habe. Englisches Halbblut mütterlicherseits, behauptete er sogar eine hypothetische Verwandtschaft mit einem bekannten britischen Staatsmann. Von seiner Londoner Aera wollte er auch die Vorliebe für Brandy mitgebracht haben. »Let's have a drink!« bedeutete bei ihm, wie sich Leonhart erinnerte, das Hinunterstürzen etlicher Gläser Cognac. Auch im Biere leistete er Großes. Leonhart lernte ihn zuerst kennen, als der rührige Streber eine Zeitung gründen wollte. Diese Idee schien jedoch mehr als Lockvögelei berechnet und zerann spurlos im Sande. Im »Feudalen Klub« trat er als ständiger Gast mit stolzer Sicherheit auf. Einmal klagte er Leonhart gegenüber voll Entrüstung, daß der Klub-Vorsitzende Graf Bärme, der sogenannte Mephisto mit der schwarzen Ledermappe (in welcher alle Collekten-Geheimnisse der Konservativen Partei schlummerten), ihn erst später, nachdem er mit einem fremden Herrn eine Viertelstunde am Tisch gesessen, näselnd vorgestellt: »Da es nun ja doch nicht mehr zu umgehen ist: – Sr. Excellenz Minister von X. – Doctor Paulus.« Noch mancher andren Ueberhebung hatte Graf Bärme (der hochwohllöbliche Ordensjäger und Kammerherr, der sich vom einfachen »von« zum »Baron« und nachher zum »Grafen« emporschwang und die unerwartete Millionen-Erbschaft eines Onkels durch tausenderlei Geldgeschäfte und schmutzigen Geiz noch vermehrte) sich gegen den kleinen Paulus schuldig gemacht. Das kerbte dieser ihm gründlich an, und sobald er ein großer Mann geworden, mußte Bärme dafür büßen.

Ein großer Mann – ja, das wurde er bald genug.

Leonhart gehörte zu den Wenigen, die es voraussahen. Sein tiefer psychologischer Scharfblick sagte ihm, daß aus dieser kleinen Schlange sich ein geflügelter Drache entpuppen werde. Er erkannte eine moderne Conquistadoren-Natur und sprach es Anderen gegenüber aus, die ihn darob belächelten. Doch die Ereignisse sollten ihm überraschend Recht geben. Paulus warf sich in die Colonialbewegung und klomm hier binnen kürzester Frist zu den höchsten Höhen des Erfolges empor. Meisterhaft verstand er es, seine Freunde auszunützen und ihnen dann einen Tritt zu versetzen. Intrigant vom Scheitel bis zur Sohle, liebte er die Taktik, alle Leute gegen einander zu hetzen und als beliebige Werthe auszuspielen. Vortrefflich berechnet wirkte auch sein Verhalten gegen seinen früheren herablassenden Gönner Graf Bärme. Er warf nämlich durch einen Staatsstreich diesen alten Herrn spornstreichs aus dem Vorstand der »Teutonischen Monopol-Colonial-Actiengesellschaft« hinaus, in den sich Bärme wie gewöhnlich hineingeschmuggelt hatte: Das kindliche Vergnügen, seinen Namen als Comité bei allen unpassenden Gelegenheiten gedruckt zu lesen, schien ihm gar zu süß! Sobald nun Paulus seiner kleinlichen Nachsucht Genüge gethan, hob er den Zerknirschten sammt seiner schwarzen Ledermappe huldvoll wieder auf und bugsirte ihn aufs neue an hervorragender Stelle in den Vorstand. Der gräfliche Mephisto fühlte sich überwunden. Feig und demüthig dem Stärkeren gegenüber, wie alle brutalen Naturen, kroch er jetzt den großen Mann bereitwillig an und wurde sein ergebenster Sclave. Paulus brauchte einen gräflichen Namen bei seiner Actien-Unternehmung und Bärme, den er aus diesem Grunde auf allen Geschäftsreisen als Adjutanten mit sich als Bärenführer herumschleppte, sonnte sich gern in der Ruhmessonne, die den schneidigen Colonial-Pfadfinder umstrahlte. Dieser erlaubte ihm sogar, einzelne Catilinarier auf Gesellschafts-Unkosten in weißen Stoffen, als Colonialreisende auszurüsten, damit Bärme in allen Straßen das Naturwunder ausschreien konnte (auch Leonhart genoß von ihm diese werthvolle Mittheilung): Er, Bärme, rüste auf seine Kosten Reisende aus. – –

»Ich erlaube mir ...« hob der Gewaltige an, indem er sein Cognac-Gläschen grüßend gegen Leonhart schwenkte, sobald sie sich auf einem Sammetsopha des Café Boulevard niedergelassen. »Haben uns ja so lange nicht gesehn.«

»Sie sind mittlerweile ein großer Mann geworden. Dachte mir's immer. Aber eine so glänzende Carriere wie Ihre ist mir doch wirklich in meiner Praxis noch nicht vorgekommen.«

Paulus lachte kurz auf, als ob er das Gesagte für überflüssig halte. Schien ihm seine Carrière jetzt doch ganz selbstverständlich. »Und Sie, lieber Herr Leonhart? Haben indeß viel publizirt, nicht? Ach, wer kommt heut zum Lesen!«

»Das hat man schon zu Adams Zeiten gesagt, um sich zu entschuldigen!« warf jener bitter ein.

»Ja, mag sein. Doch wirklich, das ist heut ein trauriger Beruf. Ich bitt' Sie, kann man denn davon leben like a gentleman? – Wissen Sie was, Sie sollten doch mal Ihre schneidige Stahlfeder in den Dienst unsrer patriotischen Sache stellen. Wollen Sie? Ich lade Sie hiermit feierlich ein, als Gast der ›Teutonischen Monopol-Kolonial-Actiengesellschaft‹«, er sättigte sich mit Behagen an dem volltönenden Titel, »bei uns in Afrika zu verweilen. Wir stellen Ihnen große Blätter zur Verfügung für Berichte. Allerdings, haha,« er zwinkerte verständnißvoll mit den Augen, »würde man von Ihrer wohlbekannten Unpartheilichkeit erwarten, daß Sie gerecht, aber wohlwollend über unsere Verhältnisse urtheilen. Natürlich unpartheilich, unpartheilich! Nun, was sagen Sie dazu?«

»Das ließe sich hören,« meinte Leonhart sinnend. Er hätte gern einmal dem ganzen Europa-Krempel Valet gesagt.

»Gut. Basta. Herr Beuthin!« Der hochgewachsene Generalsekretär der »Teutonischen Monopol-Colonial-Aktiengesellschaft« fuhr auf den herrischen Wink des kleinen Mannes zusammen, murmelte wie unbewußt »Zu Befehl« und riß eine gelbe Brieftasche heraus. »Notiren Sie! Herr Doctor Leonhart wird für uns wirken. – Ach und wie hochpoetisch!« fuhr er fort. »Diese Gebirgsscenerieen, diese Meeresufer! Sie werden dort Stoff in Fülle finden. Schreiben Sie uns ein Colonial-Epos!«

»Nicht übel!« lachte der Dichter. »›Die neuen Conquistadoren,‹ eine Heldenmär in zwölf Gesängen. Da soll ich wohl mit Ihrer Expedition ins Innere beginnen, wie?« Der boshafte Klang dieser Frage entging dem Gewaltigen. Leonhart wußte nämlich, daß er gar nicht an Land gekommen und fieberkrank an Bord geblieben war, als man an der Küste in seinem Namen drauflosannektirte und »entdeckte«. Später aber, als er sich wirklich einer Expedition angeschlossen und angeblich Verträge mit Sultanen beschworen hatte, war er frühzeitig umgekehrt, weil den Strapazen nicht gewachsen. Seine Gefährten wollten sogar einen Mangel an persönlichem Muthe bei ihm bedauert haben.

Arglos schwadronirte Paulus jedoch drauf los und schloß sein Jagdlatein nochmals mit der großartigen Aufforderung: »Ein für allemal, sind Sie hiermit eingeladen. Beuthin!« Der maschinenhafte Berthier notirte gehorsam. »Tragen Sie in Ihr Merkbüchlein ein: Herr Friedrich Leonhart ist permanenter Ehrengast der ›Teutonischen Monopol-Colonial-Actiengesellschaft‹. Die Reise dorthin kostet nur 1300 Mark; noch neulich sandten wir auf unsere Kosten einen jungen Maler, um Skizzen zu entwerfen.«

»Zu Reklame-Zwecken?«

»Gewiß. Ich bin immer offen, wie Sie wissen. Sobald Sie erst bei uns in Uhahuba sind, steht Ihnen Alles zur Verfügung, Betrachten Sie sich dort wie zu Hause, mein theurer Herr Leonhart.« (Das mochte nun freilich seine Schwierigkeit haben, da überhaupt noch kein Haus in Uhahuba stand, wie Paulus am besten wußte. Das nächste Blockhaus in der Nähe eines pantherreichen Dschungels empfahl sich auch recht freundlich als Sommeraufenthalt.) »Haben Sie die Sache zur genauen Kenntniß genommen, Herr Beuthin?« schnarrte er im Commandotou.

»Zu Befehl, Herr Doctor,« murmelte sein dienstbeflissener Berthier. Der Gestrenge, lächelte holdselig und schwenkte ein neues Cognacgläschen: »Ich erlaube mir ... auf Ihr Spezielles! Sagen Sie, neulich hat ja unser Freund Doctor Wurmb über Ihr neues Werk eine begeisterte Besprechung losgelassen. (Studire übrigens grade das Werk; kaufte es natürlich. Das ziemt sich. Nein, keinen Dank! Die Bücher seiner Freunde kauft man.) Freute mich recht, weil es sich um Sie handelte. War aber sonst ... hm ... nicht besonders geistreich geschrieben, wie?« Da Leonhart nicht mit der Sprache herauswollte, fuhr er eilig fort: »Nun, jedenfalls war es verdienstlich, daß er für einen Mann wie Sie in die Schranken trat. Ach ja, in all meinen praktischen Beschäftigungen beneide ich Sie um Ihre ideale Thätigkeit. Sie wissen, ich studirte früher exacte Philosophie. Noch heute brüte ich in meinen Mußestunden über die Skala der Lust- und Unlust-Empfindungen.«

»Welche sich gegenseitig aufheben.«

»Ach nein, doch wohl nicht!« Paulus stieß einen elegischen Seufzer aus. »Die Unlust-Empfindungen überwiegen durchaus.«

»Daß ich nicht wüßte! Die Unlust wird selbst zur Lust, als Bethätigung des Willens zum Leben, worin Lust und Unlust gleichwerthig. Man muß nur die Wonne des Leids in sich ausbilden.«

»Sie habe ich natürlich bei meinem allgemeinen Urtheil nicht im Auge gehabt,« versetzte der Gestrenge, sich leicht verbeugend. »Schopenhauer sagt, die Genies seien stets abnorm. Sie als abnorme Natur darf ich nicht in den Kreis meiner Betrachtung ziehen.«

Leonhart stutzte zuerst, dann wollte er sich innerlich vor Lachen auf dem Fußboden rollen. Offenbar ging der praktische Cyniker von dem richtigen Grundsatz aus, daß jeder Mensch eine unglaubliche Menge Schmeichelei vertragen könne; ahnte aber bei seiner Menschenverachtung nicht, daß es auch Menschenkenner geben könne, die ihn selbst durchschauten. Doch seltsam! Während er ironisch lächelte, fühlte sich der junge Dichter dennoch angenehm von dieser geschickt applizirten Flatterduse gekitzelt.

»Bei mir,« versicherte der große Colonialpriester mit düsterem Stirnrunzeln und weltschmerzlichem Stimmfall, »überwiegen die Unlust-Empfindungen stets – soviel weiß ich. Kellner, einen Eierpunsch!«

Ei, dachte Leonhart, nachdem er aller Welt durch seine rücksichtslose Streberei Unlust-Empfindungen bereitet, sitzt er hier dick und fett am Biertisch und philosophirt über die Unlust! – Paulus schien jedoch wirklich von sentimentaler Aufwallung übermannt.

»Ach, mein Freund, schon allein ... Die Weiber!« Und nun fing er an, englisch – Leonhart, der sehr gut Englisch sprach, begünstigte diese Affektation – von seinen Liebesgeschichten erzählen. Man mußte denken, daß hier Erstaunliches vorlag, wenn man ihm Glauben schenkte. Verlobte Mädchen aus guter Familie besuchten ihn in einer Wohnung und verriethen seinetwegen ihre Bräugams, Aerzte oder Assessoren – zur beliebigen Auswahl.

»Jaja«, Leonhart wiegte nachdenklich den Kopf. »Der Geist übt eben dämonische Anziehungskraft auf die Frauen aus.«

»Hm, ja, aber eben nur der praktische Geist,« schnarrte Paulus rasch, als ob er einen Eingriff in seine Privatrechte zurückweise. »Die Energie – das imponirt. Das Weib verachtet den unpraktischen Idealismus. Tata, das Dichten und Denken! Die Energie – das ist die Hauptsache.«

»Energie! Glauben Sie etwa, daß nicht die höchste Energie erforderlich ist, wie Goethe ein Leben lang die Idee des Weltwerkes ›Faust‹ mit sich herumzutragen und unablässig daran mitzureifen? Offen gestanden, wär' ich ein Genie, wie Sie sagen – kraft der inneren Untheilbarkeit des Genies, das ja Alles kann, was es anpackt möcht' ich mich dann wohl verpflichten, unfähigen Gegnern gegenüber die Campagne Bonapartes von 1796 zu leisten – aber den ›Faust‹ zu schreiben möchte wohl über meine Kräfte gehen.«

»Ah! Na! Darüber läßt sich streiten.« Paulus sprang rasch von dieser Frage ab, die ja seine Eitelkeit kaum interessiren konnte, und fing statt dessen an, eine schreckliche Mordsgeschichte zu berichten. Er theilte Leonhart im Vertrauen mit, daß er heut früh ein Duell gehabt habe. Er sei mit einer Dame, einer schönen Dame, in einem Café gewesen. Da habe ein Dandy am Nebentisch anzügliche Bemerkungen über ihn und die Dame verlautbart. Er gleich hin – schneidig Rechenschaft verlangt – verweigert – Forderung – sofort am andern Morgen im Grunewald. »Und da hab ich ihm nun heut Morgen eine Kugel ins Bein geschossen!« schnarrte er, indem er zugleich eine unnachahmliche Miene des Bedauerns und gekränkter Würde annahm.

Leonhart starrte ihn sprachlos an. Glaubte der kleine Mann denn wirklich, daß solche Fabeln, die in sich als unmöglich zerfielen, Anklang finden konnten? Eigentlich lag doch eine beleidigende Geringschätzung für Den darin, dem er solche wilde Märe auftischte. Als sein Blick zugleich auf den Chef des Colonial-Generalstabs fiel, der mit gehorsamem Maschinengesicht die englische Conversation, von welcher er kein Wort verstand, über sich ergehen ließ, – ergriff den Dichter ein solcher Ekel, daß er sich plötzlich empfahl. Der große Mann biederte ihn beim Abschied verbindlich an, brach aber seinem Seïden gegenüber los: »Ist das ein widerwärtiger Mensch! Ich machte noch gestern dem Wurmb Vorstellungen, wie er den Menschen so überschätzen könne. Sein neues Buch –«

»Herr Doctor haben es gekauft?«

»Ich? Gott soll mich bewahren!«

»Aber Sie äußerten doch vorhin ...«

»Gewöhnen Sie sich dies doch endlich ab, Beuthin,« schnarrte der kleine Mann in seinem vernichtendsten Nasalton, »Sie mißverstehen mich immer. Nicht mit Augen gesehn hab' ich das dumme Buch. Dies Gedichteln überhaupt! Als ob wir nicht schon an den ollen Klassikern übergenug hätten! – Uebrigens, denken Sie an meine Worte, der Mensch wird noch im Irrenhause enden. Will die Campagne von 1796 auch machen – ein Mensch, der nicht mal Militär ist. Haarsträubend! Der pure Größenwahn! – Was, wie, sind Sie nicht auch meiner Ansicht, Sie?«

»Zu Befehl, Herr Doctor,« stammelte der hochgewachsene Chef des Generalstabs mit der gelben Notiztafel, unter dem Blick seines Empereurs erzitternd in seines Nichts durchbohrendem Gefühl. Dieser aber fing in kreuzfideler Stimmung zu trällern an: »Mutter, der Mann mit dem Coaks ist da!«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Was für ein Mensch, dieser kleine Duodez-Napoleon! dachte Leonhart, indem er sich zu Haus entkleidete. Aber was für ein Beweis, wozu man es bringen kann mit Glück und strebernder Energie! Waren Napoleons Anfänge denn anders? War er minder verlogen und grundsatzlos? Ist dies nun Größe?

Und da der Dichter also sann, umspann sein Hirn ein wundersamer Traum. Gewaltig sah er an sich vorüberwallen – wie Banquo's Königsschatten, im Hermelin vermummt – die Schatten der vergangenen Thaten, die man als »Größe« pries. Doch was ist Größe?

Ihm war, als sehe er ihn vor sich, den Korsen. Bleichfarbig, hager wie dem Grab entstiegen, von Wuchs weit unter dem gewohnten Maß, von straffem Haar das Haupt umwallt, aus dem ein schicksalmächtiger Blick, dolchscharf wie blauer Stahl, dämonisch blitzt. Er ist allein und hungert. Jener Name, der einst die Himmelswölbung erschüttern wird, blieb im Sturm der Zeit noch ohne Echo. Die bunte Menge rennt an Ihm vorüber, auf den einst die Aeonen schauen werden, nur verächtlich musternd die Knechtsgestalt des unbekannten Gottes.

Und dennoch ist er ja glücklich, in dem Bewußtsein innerer Allmacht groß, der kleine Bonaparte! Groß war er ja als Knabe schon, da er dem Windeswehn und Meeresrauschen der Heimathinsel lauschte – er, aller Träumer Größter, Shakespeare der That, dem all sein Leben zu einer Schicksalsdichtung ward.

Horch, wie Posaunen schmettert's durch die Lüfte! Der Aar der Weltgeschichte rauscht herab, empor aus ruhmvoller Verborgenheit reißt es den großen Unbekannten, Diogenes aus seiner Bettlertonne, empor zum Sonnenfluge Alexanders. Die Brücke Lodi's und die Brücke von Arkole zimmert er zusammen zu einer riesigen Xerxesbrücke auf der er weiter nun und weiter stürmt zum Orient-Ufer Alexandrias, wo sich sein Ahn, der Welteroberer, ihm ähnlich an Jugend und Gestalt, ein ewiges Mal gesetzt.

Marengo! jauchzt die Erde siegestoll, und dann ununterbrochen, allbetäubend, gellt der Legionen Tuba: Heil dem Cäsar! Austerlitz, Jena, Wagram, Borodino!

Ja, das ist Größe – ist dies das Glück?

Horch, welch neuer grauenvoller Ton! Ein Trauermarsch von Millionen Trommeln, gerührt von florumwundenen Schlägeln auf eisumstarrter Steppe, geleitet nun zu Grab den Kaiseraar, den mit zerfetzter Trikolorenschwinge von seiner Sonnenhöhe dasselbe Schicksal bleiern niederwuchtet, das ihm zum Flug die Schwingen straffte. Das ist der Trauermarsch, der einst Beethovens Sehergeist entquoll, als ihm der allbewältigende Anblick des neugebornen corsischen Messias die »Symphonie Heroika« entpreßte. Doch da sich Jener als Judas am Ideale freier Menschlichkeit entschleierte, auf dem allein die wahre Größe wurzelt, verbannte er den Namen Bonaparte aus seiner Götter Tempel. Ob auch die Welt, die schnöd erbärmliche, die Sclavenheerde, die der Tag regiert, die früher dich mit Füßen trat, nun feige dir die Füße leckt und dich als »groß« anstaunt, du eherner Koloß – hohl bist du innen doch wie tönend Erz, du hast die Liebe nicht, die Liebe nicht, die Liebe nicht zum ewig Liebenswerthen – du bist verworfen von Schiller und Beethoven! Abtrünniger, du bist nicht groß.

Er ist nicht groß? Blickt her, ihr großen Seher, aufs ferne menschenöde Eiland, wo Prometheus einsam festgeschmiedet am Fels im Meer! Was wogt durch diese Seele wohl, bis sie gesänftigt, wie nach dem Sturm der wrackbesäte Ocean! Dies stolze unruhvolle Herz, dies Meer, in das Vulkane sich gebettet, sänftigt sich nun und dehnt sich weltenweit und ruhig wird's in ihm. Aus dem Giganten, der den Ossa auf den Pelion gethürmt, wird nun ein Gott, ein ruhig stolzer Gott, der im Bewußtsein seiner Ewigkeit mit unsterblich hehrem Leiden auf das Vergängliche herniederschaut.

Jetzt bist du groß! Wie einst der arme Unbekannte groß – jetzt, jeder Macht entkleidet, allein dem Schöpfer gegenüberstehend, allein in deiner Blöße, Mensch! Kleiner war der Kaiser, als einst der arme Lieutenant. Da er auf Throne als Schemel sich stützte, als Molochgötze der Gloire, war er kleiner als jetzt, wo er einsam an dem Grabstein seiner Größe lehnte, wieder allein mit den Träumen seiner Jugend, allein mit seinem Genie. Abgefallen sind Purpurtoga und goldner Lorbeerkranz und ellenhoher Kothurn, die Rolle Cäsars ist ausgespielt. Alles Andre war nur ein Fiebertraum im Scheintraum dieses Lügenlebens. Marengo, Austerlitz – das sind nur Namen, gelallt vom Weltgeist im Delirium – Kaiserthum, Weltreich und Gloire, das Gift von Fontainebleau und Elbas Schmach, der Flug gen Notredame, der Donnerschlag von Waterloo – alles nur Schatten, die der Wahn erzeugte, Leiden und Freuden eines Fiebertraums.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Und auch aus diesem Traum fuhr der junge Dichter empor, dem Traum der Wahrheit. Verstand er die Wahrheit, die ihm aus dem Abgrund des Unbewußten mächtig entgegenquoll? Verstand er, daß Alles Irdische nichtig sei, keines Lächelns werth und keiner Thräne? Daß nur Eines wahr und echt bleibt im kreisenden Wechsel der Dinge: Das große Ich, die kleine Welt umfassend?

O hüte, hüte dich, junger Gott! so hörte er entschlummernd eine unsichtbare Stimme. Reiße dir nicht das Ewige aus wundem Herzen! Laß den Fittich deiner Seele nicht hinschleifen im Staube, nicht frech emporkriechen an deines Geistes Postament das niedere Gewürm! Sei groß! Selbst im Orkan bewahre die kalte Wonne innerer Ruhe, wie Alpen ihren Schnee! Schüttle den eitlen Größenwahn ab, der die wahre Größe vergiftet! Sei groß!

Mit einem Lächeln entschlummerte der Träumer. Wie des Mondes goldiges Strahlenöl die Gewässer sänftigt, so gossen diese Gedanken Frieden in sein dunkles Sein. Noch im Schlaf trugen seine Züge den Ausdruck stolzer Unbeugsamkeit. Ein großer Mann oder ein großer Narr zu werden – beides war in seine Hand gelegt.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Rother fuhr hinein in den reinen kaltklaren Wintermorgen mit verkümmertem welken Herzen. Dem Ideale innerlichst geweiht, verdammte ihn ein Dämon, nach Sinnlichem zu schmachten. Am Abgrund taumelnd, verlor er sich selber und schleppte, gemein nun mit Gemeinem, die innere Kette seines Wahnsinns mit, wie der Galeerensclave seine Fessel. Genuß! Drängt nicht nach Genuß jedes Wesen? Und nur dem Idealisten – ach, nur ihm soll der Schmerz als Genuß genügen. Wer aller Gabea zum Genusse bar, dem blüht nur noch ein Islandmoos am Kraterrande: Entsagung.

War er denn schuldig? Hatte eigene Schuld ihn verstrickt in lächerlichen Wahn? Nein, das Schicksal einzig hatte es so gefügt, das tief in ihn gepflanzt den Keim der Leidenschaft, die selbstvernichtend zugleich vernichtet, was sie wild erstrebt.

Höre den Winterwind, wie er brausend hinheult über die öden Felder! Aus dem Schnee heben sich die dunkeln Sträucher, wie Kuchenbrocken aus einer Schicht von Sahne und Zucker. Fern ist noch die lenzliche Stunde, wo diese kahlen Aeste sich mit hellgrünen Knospenspitzen besetzen werden, freundlich angelacht von der warmbestrahlenden Mittagssonne. In diese brachen Flächen, noch des Winters ganze frostige Starre athmend, werden sich kleine Inseln greller Grasstriche einsprengen. Ob auch droben in den Wipfeln noch Alles todt und kahl, drunten schießt das Gras in üppiger Fülle empor. Immer höher züngeln und klettern die Keimtriebe des Frühlings hinan, bis sie auf den Kronen der Wälder ihr grünes Laubpanier ausstecken und siegesfroh schwenken über die junge Welt. Die Sonnengluthen werden goldig glitzern, als wolle die Natur Hochzeitfackeln entzünden, und alle Vögel werden jubiliren, wenn der große Naturmaler die Palette anlegt und beginnt, die Natur zu untermalen.

Ja, das Alles wird sein. Aber noch ist er nicht da, der Frühling, noch herrscht der Winter. Der Wind heult ein Sterbelied der Vergänglichkeit in tollem Vernichtungsdrang, wo er durch ächzende Wälder psalmirt. Und im Winde vernahm Rother ein Sterberöcheln, das ihn durchschauerte wie das seiner eigenen Seele, die Selbstmord an sich beging. Ihm war, als müßte er aufschreien nach oben: O Geist der Schönheit, verlaß mich nicht! Wie flammte einst sein Herz zum Reinen empor, wie schaute er tief ins Herz des Alls! Und nun – ein Federball erbärmlicher Triebe. Das Weib, die Quelle der bösen Lust, des Satans Stellvertreterin, hatte ihn fortgedrängt vom Lichte, der Hölle zu. Wie Herodias mit des Täufers blutigem Haupt, tanzte der Liebesdämon um ihn her mit seinem blutenden zuckenden Herzen, dem lebendigen Leibe entrissen.

Das Weib? War das Weib so schuldig? Hatte er sich nicht selbst entmannt? Wahnsinniger, Unglückseliger! Dein Größenwahn ist's, der sich aufbäumt gegen dein winziges Leid eines versagten Genusses? Wie Othello nährst du deine Eifersucht mit deinem beleidigten Hochmuth und möchtest schäumen wie er: »Mit meinem Lieutenant!« Was für Tugenden besitzest du denn, eitler Wurm, die dir ein Recht geben, mit Deinem Schicksal zu hadern? Laß die vergnügten Motten an der ewigen Lampe des Daseins zirpend verbrennen – du aber lerne begreifen, daß die Schläge des Schicksals den Symplegaden gleichen, den schwimmenden Felsen, von denen die Griechen fabeln: Mechanisch, von Zeit zu Zeit, klappen sie zusammen und zermalmen das Schiff, das zwischen ihnen hindurch will. Einzelvölker und Einzelleben – zermalmt, je wie es die Umstände des Zufalls wollen! Laß dein Klagen, laß dein Fragen, was du dem Schicksal gethan! Der Weltgeist, der das All durchfluthet und glorreich durch die Pulse jedes Helden strömt, hat Besseres zu thun, als sich um deine moralische Schwindsucht zu kümmern. Ueberwinde dich, unterwirf dich, und wenn du dich selber züchtigst durch deinen Größenwahn, so verstehe Ihn und danke Ihm!

Zweiter Band
Fünftes Buch
I.

Rother hatte sich soeben per Boot an Bord der »Libra«, eines englischen Steamers, via London, verfügt, der auf der Rhede in St. Pauli lag. Von dem schmutzigen Werft her scholl wüster Lärm. Tonnen rollten ins Wasser, Kisten wurden mit eisernem Krahn aufs Verdeck gehoben, Späne flogen umher. Ueber die Kajütentreppe rieselte Seifenwasser. Besen, Eimer, Bürsten und Wischer und Pumpen arbeiteten an allen Luken und Bänken umher. Der Steward roch nach Zwiebeln, die Stewardeß nach Spirituosen und die Bootsleute nach Theer.

Hamburg! Die uralte Kultur, die von seinem Münster herunternickt, verbindet sich mit der neumodischen Eleganz seiner Bazar-Colonaden zu einem anregenden Bilde. Die Brücken – Kandelaber vergülden mit ihren Lichtern die Silberfurchen der rastlosen Schraubendampfer, welche das träge Alster-Bassin und die Elbe durchsägen. Der unentwirrbare Mastenwald mit den Flaggen aller Zonen am Quai ersetzt die Militärkasernen der Kaiserstadt: Hamburg, der drittgrößte Handelsort Europas, repräsentirt die deutsche Seemacht und sein hanseatisches Wappen erzwang sich Achtung, ehe die rothschwarzweiße Fahne des Deutschen Reichs nach China und Australien wehte.

In der Nacht vor Abfahrt, ehe die Anker gelichtet wurden, genoß Rother eine hübsche Ueberraschung. Man riß ihn aus dem Schlaf und zwei übelaussehende Individuen brüllten ihn um »Paß und Legitimationspapiere« an. Da Rother bei der Schnelligkeit seiner Abreise an so etwas nicht hatte denken können, wäre er beinah dingfest gemacht worden. »Was, kein Militärpaß? Keine Heimathspapiere?« Vergeblich entschuldigte er sich, daß er das vergessen habe und nur eine kurze Spritztour nach dem perfiden Albion machen wolle.

»Ach, Sie wollen wohl lieber gleich nach Amerika?« Zum Glück fanden sich in Rothers Notizbuch Visitenkarten und Briefe, die seine Identität feststellten, und sein verduseltes Wesen sowie die Constatirung seines Malerberufes beruhigte die Geheimpolizisten über seine völlige Ungefährlichkeit. »A thoughtless fellow« lachten sie draußen dem Steward zu.

Die an Bord befindlichen Engländer betrachteten den Vorgang mit vergnügtem Blick: Ein freier Insulaner braucht nirgendwohin einen Paß. »Süß ist's, vom sichern Hafen« singt schon Lukrez. Rother aber fluchte in sich hinein und dachte: Jahr für Jahr wandern Hunderttausende nach Amerika, um sich der Tyrannei der dreijährigen Wehrpflicht zu entziehen. Erst wenn man am eigenen Fleisch den beengenden Druck unseres Polizei- und Militärstaates erfahren, begreift man so manche »unpatriotische Gesinnung.« Unglückliches Europa!

Als Rother die Themse hinaufglitt und am Quai (Pier) vorm Greenwich Hospital die lustwandelnden Invaliden der englischen Marine mit den Mützen grüßen sah, beschlich ihn der Gedanke, daß er selbst ein Invalide des Lebens sei, kaum ehe er den Lebenskampf begonnen. Die Manie des Versemachens, an welcher er seit dem Prozeß Gräf, angesteckt durch die schmachtende Lyrik jenes betagten Künstlers, noch gefährlicher kränkelte, befiel ihn plötzlich und der Anfall ging erst vorüber, nachdem er folgendes Verslein in sein Notizbuch gekritzelt:

Ich lebe von der Hand zum Mund,

Zum Munde der Pistole –

Ich seufze täglich, ob mich denn

Noch nicht der Teufel hole.

So friste ich mir langsam hin

Ein seelensieches Dasein –

Wird denn die wahre Behaglichkeit,

Der Tod, nicht endlich nah sein?

O träge Themse, wie so träg

Der Mittag auf dir brütet!

Das Schlößchen hier das Hospital

Und dies den Pier behütet.

Behüten muß ja dieser Pier

Die invaliden Matrosen.

Doch wer behütet mich denn hier,

Den Schwachen, Heimathlosen?

Der neuangekommene Fremdling stand plötzlich, die Stufen zum Tageslicht emporsteigend, auf der Station der unterirdischen Eisenbahn am Euston Square, einem Knotenpunkt des Metropolitan Traphic. Wie er so an dem Thorpfeiler der Station lehnte, die Reisetasche schwerfällig herunterhängend und mit blöden Augen das Gewühl des Marktes anstaunend, machte er in der That eine jämmerliche Figur. Er glich einem Kind, das zum ersten Mal in die Schule gebracht, den Daumen verlegen im Mund, vor dem Herrn Lehrer steht. Oder einem Hülfsvikar, der, in eine fashionable Gesellschaft versetzt, mit unbehülflichen Kratzfüßen die Bäuche der rückwärts Stehenden bedroht. Oder einem Zaghaften der am Schwimmseil zappelt – kurz, er fühlte sich so wenig gemüthlich, daß Vorübereilende ihn angrinsten. Ein freundlicher feinaussehender Herr fragte ihn zwar sehr höflich und zutraulich, wohin er wolle, was ihn fehle, ob er ihm, als einem Fremden behülflich sein solle – aber Rother war doch nicht grün genug, um das deutliche »Hem, Hem!« und Augenwinken eines zufällig in der Nähe befindlichen Herrn und das noch deutlichere »Take care, Sir!« eines Zweiten mißzuverstehen – so machte er sich sehr brüsque von dem liebenswürdigen Fremdenführer los und steuerte aufs Gradewohl in den Strudel hinein.

Euston Road mit seiner Fortsetzung Marylebone, der Hauptavenue zum Regents Park, bildet eine Zweigader von Tottenham Court Road, dieser Pulsader des Krämerverkehrs oder, derber ausgedrückt, diesem Rinnstein des hauptstädtischen Schmutzes. Die beiden durch ihre üblen Ausdünstungen berüchtigten Stationen Euston- und Gowerstreet Station verpesten von zwei Seiten her die Atmosphäre, die Tramways und drei Omnibuslinien kreuzen sich und eine schmutzige aufgeregte Menschenmasse wälzt sich von hier nach Pentonville und City Road hinauf. Rechts schleppte ein Fleischerknecht einen über und über mit Blut bespritzten Bengel am Kragen über die Straße, den er beim Diebstahl dingfest gemacht (d.h. halb todtgeschlagen) hatte. Links schrie ein Antiquar nach dem Policeman, weil ein Bücherfreund mit geschicktem Griff einen »Roderick Random« von den ausgelegten Büchern entwendete. Leider war der Policeman eben beschäftigt, einen aufgeregten Japanesen zu beschwichtigen, dem ein frecher »Austernjunge« anzügliche Bemerkungen über seinen Zopf nachgekichert hatte.

Rother passirte Gowerstreet und sah eine Menge Neger in weißen Halsbinden nach University College hinaufeilen und auf der andern Seite mehrere Sieche nach University Hospital hinaufbefördern. Die respektable Stille der großen Boarding House-Straße beruhigte ihn etwas, bis er, von dem unerträglichen Geruch von Bloomsbury Street begrüßt, Oxford Street in seiner vollen Glorie vor sich liegen sah. Er hätte die Straße passiren müssen – aber das gegenüberliegende Labyrinth der ehemaligen Rookery St. Giles erfüllte ihn mit ahnungsvollem Schauder. So trieb er denn willenlos mit dem Strom High Holborn hinunter, aus dem Gebiet der Modeläden in das Revier der großen »Ausverkäufer«. Auf Holborn Viadukt angelangt, hatte er schon zwanzig Püffe davongetragen, weil er sich nicht daran gewöhnen konnte, im Zuge auf der rechten Seite zu marschiren. Das nachdrückliche »On the right hand, Sir!« war einmal von einem so grimmigen »God damn your eyes!« begleitet, daß Rother nur zu wohl bemerkte, er befinde sich keineswegs in einer altenglischen Puritanerstadt, wo Schwören als Gipfel der Sünde gilt.

Schwindelnd lehnte er sich an das Brückengeländer und starrte von oben in den belebten Farrington Road hinab, der rechts unten in Blakfriars Bridge mündet. Dort die Themse mit hundert Booten und Dampfern, das Menschengewimmel auf Brücken und Straßen – und über alle Dächer hin hier oben der ungeheure nie endende Marsch nach der City! London, bekanntlich ganz auf Hügeln gebaut, senkt sich hier plötzlich hinab, weswegen das Wunderwerk des Riesenviadukts mitten über die Straße weg gelegt wurde, so daß hier in der That zwei Städte über einander stehen.

So schreitet hier Eins über das Andre fort, so wirbelt Alles durcheinander mit nie stockender Schnelligkeit, ein Rad der Maschine greift in das andre, und ein verschrumpelter abgebrauchter verbogener Stift wie ein gewisser Weltverbesserer Eduard Rother – was nützt er hier? Er wird zur Seite geworfen. Dort ist die Themse – das ist der Abort für verbrauchtes Material.

Starre nicht so gründlich nach der Themse hinüber, mein Lieber. Studire auch nicht die Straßen da unten. Wer zu lange in Wasserfälle starrt, fällt oft kopfüber hinein. Neulich besah sich ein Bürger vom London Monument aus den Höllenstrudel unter sich und London Bridge schien ihm so einladend, daß er vor lauter Verwirrung und Schwindel gemüthlich von der Säulenspitze herunterfiel und in kleinen Atomen unten anlangte – unstreitig die einfachste Manier, um den Daseinsschwindel los zu werden, ein großartiges Verständniß und Bekenntniß der oben erläuterten Stift-Theorie.

Da drüben ragen durch den Nebel die Mastspitzen über und hinter den Häuserreihen schwankt das Takelwerk der in den Docks gebetteten Kauffartheischiffe. Das ist die Welt, die große Welt, der Ocean, von dem der Londoner Menschenocean ein Spiegelbild. Alles regt und rührt sich, der Sturm braust und die Wellen branden, zerschlagen die Lebensschiffe und ertränken die Schwimmer – wozu wären sie sonst Wellen? Die wenigen Leuchtthürme und Riffe halten's noch aus – aber die schwachen Kähne kentert der erste Windstoß.

Rother schauderte. Er eilte die düstere Newgatestreet hinauf; eine Glocke läutete. Schon in Euston Road hatte ihn eine Glocke gerührt; es war die Glocke des Magdalenenstifts in Marylebone. Hier aber hatte die Glocke einen düstern wehvollen Klang: es war die Todtenglocke in St. Sepulchre's Church, denn in Newgate Prison wurde ein Mörder hingerichtet. Aber gleichgültig, kalt und ruhig wälzten sich die Massen vorüber, kaum daß Einer horchend das Haupt erhob – wen interessirt das Schicksal des Einzelmenschen? Weiter, weiter!

Auch Rother horchte nicht mehr, sondern schritt stumpf und taub vorwärts. Und, was er erlauscht hatte, war Mißklang: Die menschliche Sünde, das menschliche Weh, und die lieblose Härte der Welt. Hätte er besser zu lauschen verstanden, so wären ihm diese zwei Glocken wie Engelstimmen erklungen, wie zwei Genien der Menschenseele, aufsteigend über dem Qualm und Schmutz der Gesellschaft: Barmherzigkeit und Gerechtigkeit.

Er war an Peels Standbild angelangt; da ward's ihm zu viel.

London scheint mit einer so lächerlichen Geschmacklosigkeit und cynischen Verachtung des Aeußern gebaut, daß diese Unförmlichkeit abstoßend wirken müßte, wäre sie nicht so imposant. Die Dinge sind hier durcheinandergewürfelt und aufeinandergethürmt. Die Stadt gleicht jenen riesenhaften Ruinen der Vorzeit, Ninive, Babylon, Luxor, bei denen man jetzt eine thurmhohe Sphinx, einen Fels in Portraitform, hängende Gärten und Riesenmauern langweilig und zusammenhangslos durcheinandergeschüttelt und -gepurzelt sieht.

Newgatestreet endet in einem Winkelmarkt und plötzlich öffnet sich gradaus die großartigste Handelsstraße der Welt, Cheapside, diese ewige Beresinabrücke. Und rechter Hand an ein paar elenden kleinen Häusern ist eine Art Durchbruch gelegt. Dort stehn drei knallgrüne Bäume; über sie und die Dächer weg hängt schläfrig die Riesenkuppel von St. Pauls – so daß man unwillkürlich fürchtet: Wenn dieser Dom mal über Cheapside zusammenschlüge! Als wäre die Peterskirche vor eine halb abgetragene Lehmmauer placirt, an der ein paar Maurer herumfaullenzen.

Aber was kümmert das London, ob der Fremde den Dom in guter Aussicht sehen möchte! Für das Schöne hat man hier keine Zeit.

Rother spielte nicht mehr mit. Er wagte die schüchterne Frage an einen Policeman (da man ihm wie gewöhnlich die Lüge eingeprägt hatte, daß jeder auf eine Anfrage antwortende Londoner ein Spitzbube sei), wo Tavistock Tavern liege. Lächelnd berichtigte ihn der Mann, da sei er hübsch vom Wege abgekommen, miethete ihm ein Cab – und fortrasselte der erschöpfte Wandrer.

Wie geistesabwesend starrte er in das sich stauende Wagengewühl, welches London Bridge nach dem Westend zurückwarf. Ein eigenthümliches Grauen befiel ihn.

Er wollte sich gleich mit eins an die englische Küche gewöhnen. So aß er denn nach der Mok Turtle Suppe zu viel Beef und dann zu viel Fisch und stürzte zwei Krüge des bittern Ale herunter. Das konnte sein vergrämter Magen nicht vertragen, und als er die Treppe zu seiner Stube emporstieg, mußte er ein Rührstück von Kotzebue aufführen. Nun war für heute sein Entschluß, Krastinik aufzusuchen zerstört. Man redet viel von Willenskraft, doch die hängt ab vom Magensaft.

Es giebt Augenblicke, wo die widerlichen kleinen Fatalitäten des täglichen Lebens für den Geist unerträglich werden. Rother erwachte mit einem Gefühl wahnsinnigen Hasses – gegen wen und warum? Er wußte es kaum. Er empfand ein Gefühl des Erstickens, als ob sich kalte Hände um seinen Hals krampften, und zugleich quoll ihm eine irrsinnige Wuth bis zum Munde, als wolle er bersten vor verzweifelter Wuth. Könnte man doch das ewig Unsichtbare, den unsichtbaren Würger, mit beiden Fäusten packen und es schütteln und würgen und ihm ins grausame Gesicht schreien: Warum würgst Du mich langsam und pressest mir den Athem aus?

Er ermannte sich jedoch wirklich und fuhr nach Scotland Yard, der Central-Polizeistation, wo man ihm nach endlosem Radebrechen und Nachforschen richtig die Adresse Krastiniks angab. Allein für heute wagte er noch nicht, die Angelegenheit zu unternehmen.

Er irrte den Tag über in der Stadt umher, lunchte im South Kensington Museum, wo ein biedrer Schweizer sein gutes Deutsch benutzte, um ihm beim »joint of beaf« den doppelten Preis unter einer geschmackvollen Ausrede abzufordern, und nahm in der City sein abendliches Dinner ein. Das Salmon-Steak und die Cotellets frisch vom Roste her hoben seine Lebensgeister endlich wieder und so schwamm er denn durch die hellerleuchteten Straßen langsam weiter, indem er sich behaglich von den Wogen des Menschenmeeres umherschlendern ließ. Unkundig des Weges, verirrte er sich in Gegenden, wo er keinen Policeman traf. Alles öde, öde. Ein freundlicher Mann brachte ihn auf den Weg, fing aber unterwegs an, von seiner versetzten Uhr zu reden, die nebenan im Pfandhause liege; er selbst müsse sofort nach Victoria Station, weil seine Mutter irgendwo auf den Tod läge. Ob Rother ihm nicht 2 Sovereigns vorschießen wolle. Dieser war eine einfache Natur, aber keineswegs thöricht. So erwiderte er denn: »My dear, that's the regular old trick!« und schritt eilig auf einen an der Straßenecke auftauchenden Policeman zu, dessen Nähe den Uhr-Verpfänder zu panischem Rückzug bewog.

Nachdem er am Themse-Durchbruch der Strand-Straße dem Lyceum Theater gegenüber auf die Stromseite hinausgelangt, bummelte er wieder nordwärts nach Holborn hinauf. Es war naßkalt, Bier- und Fischgeruch duftete aus den abgelegenen Tavernen. Als Rother in einem Austernladen eine ganze Flasche Port (fast 8 Gläser) hinuntergespült, sah er Alles in Portwein-rosigem Lichte. Durfte es ihn daher Wunder nehmen, daß er am Morgen beim Aufstehen das Portemounnaie in seiner Hose vermißte, nebst einem Theil seiner Baarschaft! Träumte ihm oder hatte eine Priesterin der Venus Vulgivaga sich nicht lebhaft nach seinen »Träumen« erkundigt und unter zärtlichem »Darling! Chérie!« ihn eine halbe Stunde lang begleitet bis vor seine Hausthür?

Er glaubte die Börse vielleicht in einem Omnibus verloren zu haben und suchte daher einige Omnibus-Endpunkte auf, um nach dem »ehrlichen Finder« zu forschen. Die würdigen Kondukteure und Kutscher rauchten jedoch dem Hülflosen nur seine Cigarren auf, um welche sie ihn zartfühlend anbettelten, weil »die Gentlemen aus Hamburg so guten Tabak hätten« und lachten ihn hinterher aus. Als Einer sich sogar zu »practical jokes« verstieg und ihm auf den Rücken klopfte, daß ihm alle Gebeine schlotterten, empfahl sich Rother unwirsch und hörte hinter sich das lachende Urtheil: »Ganz grün. Kennt nicht die Welt.«

Doch am nächsten Tage überwand er all seine Schwäche und machte sich nun wirklich gen Pimlico, South Belgravia, auf, wo Krastinik wohnen sollte.

Ein gelbgrauer braustiger Nebel lastete über den zahllosen rothen Schornsteinen, die wie zackige Drachenkämme aus dem Meere Londons auftauchen. Rother fragte einen Arbeiter nach dem Weg, der an dem Eisengitter eines Hauses lehnend seine Thonpfeife schmauchte. »Ah, ein Foreigner?« machte dieser mit geringschätzigem Schmunzeln und setzte ihm in herablassendem Ton auseinander, wohin er sich zu richten habe.

Er fand das Haus, die Nummer.

II.

Krastinik hatte sich fast ganz von der Welt zurückgezogen. Zu Weihnachten verbrachte er ein paar Wochen bei einem Verwandten Dorringtons auf dem Lande, um den üblichen Plumpuding und Puter in altenglischer Weise zu genießen. Aber selbst die Jagd behagte ihm nicht mehr. Alles Weltliche langweilte ihn. Eine ungeheure Revolution durchtobte alle Fibern seines Innern, gestaltete ihn um, stellte seine ganze frühere Weltanschauung auf den Kopf. Jener namenlose Ekel vor allem Aeußerlichen ergriff ihn, der so oft den Idealisten wie eine Art Mieselsucht befällt. Eine verzehrende Sehnsucht, dem Idealen nachzustreben, im Reich des Geistes sich heimisch zu machen, durchfieberte sein ganzes Denken. »Ich bin ein Dichter!« dies Hochgefühl wurde ihm an sich noch keineswegs zum Hochgenuß, weil er seine bisherige Bedeutungslosigkeit sich ehrlich gestand. Sollte er auf Pump bei der Unsterblichkeit leben, wie mancher windige Geselle? Nein, einlösen wollte er den Wechsel, den er auf sich selbst gezogen.

Nachholen galt es, was er versäumt, da er seine ganze Jugend vergeudet, den schönsten Theil seines Lebens verpraßt und verschwendet, ohne seinen wahren Lebensberuf auch nur zu ahnen. Nun er denselben erkannte und erkor (konnte die Phrenologie denn lügen?), wollte er Herz und Nieren nur diesem einem Ziele weihen.

Er stand spät gegen Mittag auf, von Schlaflosigkeit und Träumen dichterischen Schaffens gepeinigt. Morgens im Bette wälzte er tausend Pläne; selbst das Aufstehen und sich Ankleiden als etwas Physisches störte ihn. Er schlang sein Frühstück hinunter, und ohne der Wirthin Zeit zu lassen, seine Stube aufzuräumen, machte er sich an die Arbeit, las und schrieb. Gegen Abend wanderte er weit hinaus in die City, um sein Dinner irgendwo aufzustöbern, da im Westend nur wenige Restaurationen liegen. Auch brauchte er einen langen Spaziergang, um die Säfte der stockenden Maschine zurechtzurütteln.

Oft langte er zu spät an, da nach 8 Uhr dort nichts Warmes mehr zu bekommen, und mußte sich mit Ueberbleibseln begnügen. Oder er wanderte wieder ins Westend zurück, um in einer Conditorei (wie man dies nur in England kennt) ein französisches Ragout oder die üblichen Hammelrippchen zu bestellen. Seine unnatürliche Lebensweise verschlimmerte sich derartig, obschon er nur selten vom Theater oder aus Gesellschaften heimkehrte, daß er manchmal erst gegen 11 Uhr Nachts, ja noch später, sein »Mittagsbrot« einnahm. Er magerte sichtlich ab und Dorrington, der sich wiederholt bemühte, ihn seinem Einsiedlerleben zu entreißen, erschrak jedesmal, wenn er ihn wiedersah.

Jede Nacht genoß der Graf beim Heimkehren das Vergnügen, am Belgrave Road durch eine Kette von Nachtwandlerinnen, welche die ganze Breite des Weges sperrten, der Freiheit eine Gasse zu brechen. Auch wußte er einzelne handgreifliche Verehrerinnen abweisen, die mit ihrer gewöhnlichen Angriffstaktik den krummen Griff ihres Regenschirms in seiner Achselhöhle festhakten. Er aber schritt, unangefochten von fleischlichen Regungen, in einsamer Majestät durch all den Schmutz hindurch, halb erhaben halb lächerlich, ein Ritter von der traurigen Gestalt.

Bis um Mitternacht geschlossen wurde, irrte er im Hyde Park oder St. James' Park hin und her. Der Regen sickerte durch Moos, Farnkräuter und tropische Gewächse. Das silberne Boot des Mondes durchfurchte die Wolken, die sich burgähnlich in zackigen Umrissen am trüben Horizonte ballten. Die Giebel von Bukingham Palace umwob der nächtige Trauerflor. Im melancholischen Wasser spiegelten sich spukhaft die Sterne. Auf den sammetweichen Wiesen, deren Smaragdgrün der funkelnde Morgenthau des Frühlings wie mit Demanten besät, wo Hammelheerden behaglich wiederkäuend geweidet, wo ihm oft das sonnenstaubdurchrieselte Laub der Eichen ein rosiges Antlitz mit goldigem Haar als englisches Ideal seiner Träume heraufgezaubert hatte – dort lagerten jetzt über geschmolzenem Schnee schwarz und schwer immer tiefere Schatten.

Bleierne Müdigkeit lastete auf dem Einsamen. Manchmal fuhren seine Finger über sein bleiches vornehmes Gesicht in seltsam mechanischem Takt – dann war ihm, als ob er träume, als ob er sein vergangenes nutzloses Leben nur geträumt. War er Kavalier, Dandy, Offizier gewesen? War er nicht stets ein einsamer Grübler wie jetzt, ein verkappter Dichterdenker incognito? Immer verhaßter wurde ihm sein bisheriges Leben – sollte er in dasselbe zurückkehren, wenn sein Urlaub abgelaufen? Konnte er das noch, selbst wenn er wollte? Aber was dann! Vermögen hatte er ja nicht, ein jüngerer Sohn. Wovon leben! Er hatte sich von seiner Appanage soviel zusammengespart, um diese Reise machen zu können. Davon konnte er vielleicht noch bis Herbst hier leben. Sein Urlaub, den er auf unbestimmte Zeit »gesundheitshalber« genommen, um dessen Verlängerung er erfolgreich eingekommen war, gestattete ihm das. Aber was dann!

Er schien sich der Beklagenswertheste der Menschen. Als ihn einmal eine Nachtwandlerin, die am Park-Laue entlang pirschte, manierlich und ohne Zudringlichkeit fragte, was die Uhr sei – vielleicht, um einen Austausch schöner Seelen anzuknüpfen, vielleicht auch nicht – herrschte er sie, aus seinen Gedan ken aufgestört, an: »Was geht Sie die Uhr an bei Ihrem Handwerk? Geh und arbeite!« Die Frau wich zaghaft zurück und murmelte: »Bitt' um Verzeihung!« Dann seufzte sie, kaum hörbar, indem sie sich abwandte: »Arbeite! Gebt mir Arbeit!« Krastinik, der arme Edelmann, dessen übermäßig hohe Trinkgelder allen Kellnern den »Grafen« verrathen sollten, stutzte. Der Kavalier fühlte sich getroffen. Dann eilte er der »infortunate lady« (wie die Engländer es taktvoll nennen) nach und drückte ihr, ohne zu sprechen, eine halbe Krone in die Hand. Jaja, wie oft sprachen ihn nicht Greisinnen, welche Zündholzschachteln in den Bar-Rooms verkauften, auf sein nobles Gesicht hin an und murmelten dazu mit der eigenthümlichen ruhigen Anständigkeit, welche man in England so oft beim niedersten Volke bewundert, ihr Busineß-Sprüchlein: Sie hätten zwei Tage nichts gegessen. – Doch der vornehme Herr fühlte sich unglücklicher als sie Alle! »Gebt mir Arbeit!« hallte es in ihm wieder. Arbeit, die keine standesgemäße Sclaverei, Arbeit für meinen erwachten Geist. »Geh und arbeite!« Sich selbst mußte er das zurufen. Sollte er länger verschmachten in thatlosem Träumen?

Seine Gespräche mit dem alten Freund und Mentor Lord Dorrington (Lady Dorrington's weltlicher Sinn paßte dem Neffen längst nicht mehr) konnten nicht dazu dienen, ihn aufzumuntern. Der alte Herr litt an einem Unterleibsleiden, das er zwar standhaft ertrug, sich aber dafür an seinem widerspenstigen Corpus durch grämliche Sentenzen rächte.

»Ach, liebes Kind, wenn erst die Verdauung gestört ist, dann ist Alles zum Teufel. Das menschliche Leben hat drei Stadien: Erst denkt man nur an die Liebe, dann nur ans Essen, dann nur an die Verdauung. Da hab' ich mal auf meinen Streifereien im steirischen Hochland einen Spruch gefunden – er stand an einem gewissen Ort – der gefiel mir so, daß ich mir ihn notirt hab.« Und der alte Herr citirte mit schadenfrohem Schmunzeln:

»Die Pfaffen, die sich Götter nennen,

Sie müssen all' in dieses Haus.

Doch wenn sie nicht verdauen können,

Dann ist es mit der Gottheit aus.«

Krastinik lachte hellauf: »Das ist wirklich druckfähig!«

Sehr oft kam das Gespräch auf militärische Dinge. Der Lord hatte in jüngeren Jahren (noch nicht zur Lordschaft avancirt, sondern als »sehr ehrenwerther Mr. Dorrington«) bei der Garde-Artillerie gedient. Seinen äußerst liberalen radikal aufgeklärten Gesinnungen schien jedoch das gesammte Soldatenspielen nur ein nothwendiges Uebel. Mit der Ironie eines erfahrenen Skeptikers beobachtete er die Wettlage auf dem Continent, welcher sich mehr und mehr zu einem einzigen Heerlager zu verwandeln schien.

»Ja, lieber Xaver, Militarismus und Socialismus – das sind die beiden großen Sachen. Scylla und Charibdis. Alles Andere wird dazwischen zermalmt.«

Krastinik schwieg eine Weile. »Sie haben den Krim-Krieg mitgemacht. Warum erzählen Sie so ungern aus Ihrer militärischen Carrière?«

Dorrington zuckte die Achseln. »Ja, Du hast eben noch keinen Krieg mitgemacht, mein Lieber.«

»Waren Sie nie ehrgeizig?«

»Ach Gott!« Dorrington lachte leicht auf; dann nickte er vor sich hin, wie in Erinnerungen verloren. »Haha, da war's z.B. in der Schlacht bei Inkerman. Da fährt die Batterie eines Rivalen vor mir über eine Schlucht an den Feind heran. ›Sehn Sie, Herr Major!‹ riefen meine Offiziere. ›Mir haben hier den ganzen Angriff abgeschlagen und nun nimmt der uns die Ehre vorweg!‹ Es kochte in mir, aber ich bezwang mich und gebot dem Stabstrompeter das Signal zu blasen: ›Halt an, halt an!‹ Da kommt mein Oberst vorüber und brüllt aus voller Kehle: ›Um Gotteswillen, Herr Major, sind Sie toll? Der will grade auffahren und Sie lassen »Halt an« blasen?‹ Kaum hat er's gesprochen, da kommt auch schon jene Batterie zurück, gräulich zerschossen; hatte gleich Kehrt machen müssen. Aber bei dem Wahnwitz war die Hälfte der Bemannung vom Schützenfeuer des Feindes gefallen, ehe sie nur zum Abprotzen kam. Haha,« Dorrington lächelte bitter, »nachher, als der Befehl kam: ›Das Ganze avanciren‹, ging ich grad bis zu jener Stelle vor. Wir konnten nicht weiter; so dicht standen die Truppen aneinander und so voll lag's von Todten und Verwundeten in der Schlucht. Ich ließ Halt machen und Kartätschen einsetzen. Ja, da lagen die Artilleristen von jener Batterie noch umher, die so nutzlos vom Ehrgeiz ihres Chefs geopfert. Ich kann Dir sagen, lieber Junge, aus den Augen der Sterbenden leuchtete ein wahrer Haß. – So sieht der militärische Ehrgeiz aus, so!«

Krastinik wiegte nachdenklich sein Denkerhaupt. »So! Sie haßten also Ihr Metier?«

»Wie man's nimmt. Ein Kamerad toastete mal auf mich bei 'ner Offiziersmesse: ›Ein seltsamer Kerl, der Dorrington. In der Schlacht an der Alma hört‹ ich ihn commandiren: ›Drittes Geschütz, Feuer! Ach, die armen Menschen! Fünftes Geschütz, Shrapnell laden! Gott, dies Elend!‹«

Krastinik schwieg nachdenklich; allerlei Gedanken wirbelten ihm im Kopf herum. Der Plan, seinen Abschied zu nehmen, trat ihm nah und näher.

Zersetzend wirkten auf ihn auch Discussionen über erotische Dinge, die er mit seinem Mentor pflog, der wie alle früheren Lebemänner nicht gut auf die »Liebe« zu sprechen war.

Seine geschwätzige Wirthin hatte dem Grafen eine seltsame Mär erzählt, als sie ihm seine Flasche Porter zum Lunch um vier Uhr brachte. In der nächsten Porter-Filiale hatte ein junger Mann eine Banknote wechseln lassen. Der Chef der Handlung warf zufällig einen näheren Blick darauf und entdeckte zu seiner Ueberraschung ein Zeichen, das er auf Banknoten, die durch seine Hände liefen, zu machen pflegte – ein üblicher Usus der Londoner Geschäftsleute bei dem Umsichgreifen gefälschten Papiergeldes. Die Nummerzahl der Banknote aber belehrte ihn, daß dieselbe am selben Tag von ihm beim Wechseln einer größeren Summe an eine ältere Dame übergeben war, die in derselben Straße wohnte. Das erregte seinen Verdacht. Er zog einen Detective ins Vertrauen und ließ den jungen Mann beobachten, da dieser sich wiederholt in der Gegend blicken ließ. Und was ergab sich als Resultat? Daß die Banknote freilich nicht entwendet, sondern von der Dame (verheirathet und über erotisches Alter längst hinaus) nebst manchem anderen Sümmchen dem Jüngling gespendet worden war – für gewisse Dienste.

Krastinik, eine ursprünglich romantische Natur, fand mehr und mehr Gefallen an der naturwissenschaftlichcynischen Auffassung seines Freundes. Eine glühende Schönheitstrunkenheit hatte auch Dorring ton's Gemüth in der Jugend beherrscht. Er verstand die duftige Wonneberauschung, welche Krastinik's Sinne gefangen hielt, indem er den Liebreiz des Weibes und die Holdseligkeit der Natur wie ein sich innerlich Bedingendes zugleich empfand. In den Tiefen süßester Geheimnisse schwelgte einst auch er. Doch mit sanftelegischen Herbstgefühlen ward sich der Alternde bewußt, daß der rosige Mai und der goldene Sommer für immer ihm entschwunden seien. Diese blutvolle Erinnerungssehnsucht schied so schwer vom Genusse und wollte kaum entsagungsstille werden, wenn auch mildere Klänge ehelichen Friedens in ihm nachtönten, wie abendliche Glocken.

»Jaja,« belehrte er grämlich seinen jungen Freund. »Um das weibliche ewig Leibliche dreht sich Alles. Erst mußt Du Deine Papierseiten mit erotischem Oel beschmieren: dann wird sich das Leben schon von selbst darauf abmalen lassen. Aber nie ohne diese Untermalung mit erotischem Sekkativ.« (Er kannte letzteren Kunstausdruck als Amateur, der gern in den Studios umherbummelte, um als gefürchteter »Kenner« bei jeder Ausstellung der Royal Academy of Arts zu kritteln.) »Beiläufig, die O'Donnogan beklagt sich, Du besuchtest sie gar nicht mehr. Nun und Egremonts?« Er werde nächstens mal wieder dort vorsprechen, sagte der Graf. »Ja ja, die holde Alice! Wie ein Lämmlein steht sie da in weißem Gewande und – scheert Gimpel. Eine Meisterin der vielverheißenden Herumschmachterei, the little flirt. Na, nichts für ungut,« begütigte er, als Krastinik, auf dessen Arm er sich lehnte, unwillig aufzuckte. »Wir alten Leute sind derb!«

»Wie befindet sich denn Mr. Egremont?«

»Ach, der ist völlig verrückt vor Pomposität. Jetzt hat er den culinarischen Größenwahn. Will aus dem Saft von Kibitzeiern, Spargel, Hummer und Austern eine Pasteten-Sauce construiren, die seinen Namen verewigen soll. Er will sie ›Jubiläumspastete‹ taufen, zu Ehren der Königin Victoria. Gastronomische Streberei! Daß Gott erbarm!«

Kraftinik stattete dem zur Ruhe gesetzten Beherrscher des geistigen Lebens der »Britischen Aristokratie« einige Tage darauf einen Besuch ab und schnitt Miß Alice, die wieder tiefsinnig gemüthvoll in ihre kluge Ruhe gewickelt dasaß, gewaltig die Cour. Man wurde sehr warm.

»Sie müssen nicht so liebenswürdig sein! Das wird mir gefährlich,« flötete das sanfte Amphibienweibchen mit ihrer molluskenhaften Anschmiegsamkeit. Die Heuchelei mancher Frauennaturen grenzt an Genialität. Denn sie scheint naiv-unbewußt.

Da wurde Mowbray gemeldet und ein eigenthümliches Lächeln flog über Alice's zarte Züge, indem sie in ihren weichen Fauteuil und ihre Musselinrobe gleichsam versank. Krastinik empfahl sich sofort. Dieser Geck war ihm unerträglich.

Er begann, über seine Gefühle ernstlich mit sich zu Rathe zu gehen.

Wenn er Maud und Alice sah, waren sie ihm gleichgültig; so wie sie ihm aus dem Gesichtskreis entschwanden, ergriff ihn heftige Neigung für sie. Auch der umgekehrte Fall trat ein, daß er in ihrem Beisein voll Verliebtheit strotzte und später kühl vergaß.

Alles nur Scheinliebe. Der, Modelle und Anregungen, suchende, Egoismus des Künstlers herrschte bereits so mächtig in ihm, daß er, sobald ihm ein anziehendes weibliches Wesen in den Weg kam, sich gleichsam Rechnung von deren Vorzügen und seiner etwaigen Liebesbegierde für sie ablegte.

Die O'Donnogan war ihm gänzlich zuwider geworden. Lebemänner, die einige Haare verloren haben, werden selten von koketten Wittwen und älteren Salondamen gereizt.

Seine Liebesbedürfnisse wuchsen ins Krankhafte. Zwei Ideale schwebten ihm vor. Entweder eine durch Erotik bis zur Schwindsucht Verlebte, die sich Frieden suchend an ihn schmiegte. Oder ein zartes keusches Wesen. Ja, er liebte Alice, dies reine vornehme Geschöpf – wie er sie sich ausmalte. Jeder unreine Gedanke mußte sich in ihrer Nähe zu edelster Ritterlichkeit läutern. Man mag Leidenschaft für eine Kokette empfinden, aber wahre Liebe wird stets nur Ergebniß von Achtung und Vertrauen.

Er haßte diesen Lassen, den Mowbray. Der war gewiß ein Roué und die sind nie zu bekehren. Erst mögen ihn Keuschheit und Herzensgüte reizen, später aber wird er stets das Experiment als höchste Wollust versuchen, die Reinheit mit seiner eigen Gemeinheit zu beflecken.

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Dabei stieg seine innere Unruhe. Eine nervöse Psychose bemächtigte sich seiner.

Krastinik war einer von denen, die in jeder Lage zum Extremen neigen und schwerfällig auf demselben Punkte beharren. Er konnte stundenlang im Bette faulenzen, gleich jenem spleenigen Engländer, der sich die Kehle abschnitt, um sich nicht jeden Morgen ankleiden zu müssen. Und ebenso konnte er unmäßig arbeiten, sobald ihn der Trieb dazu ergriff. Nur daß diese fieberhafte Ausschweifung des Geistes nie nachhaltig blieb. Denn er dachte nie an wahre Kunst, sondern nur an Befriedigung seiner Eitelkeit. Er litt noch stark an Weltlust, ohne es zu wissen, und sprach von seinem Idealismus, wie der Beamte von staatlicher Ordnung predigt, weil er an seinen Gehalt denkt. Der Kunst aber muß man sich ganz allein hingeben. Sie will keine andern Götter neben sich. Zu dieser Höhe gelangt man erst nach strenger Selbstschulung.

Krastinik fing fortwährend Neues an, statt Eines auszufeilen. Skizzenhaft Unausgeführtes häufte sich. Er wälzte Plan auf Plan im Kopf und wiederholte sich die Entwürfe unablässig hintereinander – ohne daß er die Kraft fand, einen zu beginnen. Damit hing es logisch zusammen, daß er in seiner ausschweifenden Phantasie wähnte, sich in Besitz aller Genüsse setzen zu können, und hinterher eine pomphafte Uebersättigung empfand, als habe er schon allen Ruhm, den er heißhungrig in weiter Ferne ersehnte, vollauf genossen. Er hätte in seinen Träumen einen Heirathsantrag der Königin Victoria als ganz natürlich hingenommen. Wie heilsam, daß das Leben diese Voraus-Blasirtheit durch sein langsames Tempo züchtigt. – Die dichterische Zukunftsmusik wälzte sich in seinem Gehirn hin und her und jedes Motiv hinderte das andere. Alles blieb Fragment, da Krastinik noch nicht die Fähigkeit gelernt hatte, sich auf etwas Bestimmtes zu concentriren in Genuß und Arbeit. – Unter seinen Stoffen, die sich durcheinanderschoben, schien ihm keiner der rechte. Zaudre eine Sekunde, so wird eine Stunde daraus. Wer zupft und trödelt oder (wie ein Autor von einem Druckfehler, der ihm drohend entgegengrinst) sich von jeder Kleinigkeit hypnotisirt fühlt, – der verlasse nur die thätige Laufbahn. Man muß sich auch in den kleinen Gewohnheiten des Lebens eine forsche Genialität aneignen. Wer ewig am Ufer zaudert, eh er ins Flußbad springt, holt sich nur einen Schnupfen.

Sein Spleen wurde immer widerlicher. Er ärgerte sich über jeden Penny, den er zu viel gab; über jede zerkaute Cigarrenspitze, deren Nikotin er unachtsam seinem Speichel zugeführt; über jedes zähe oder zu ausgebratene Beafsteak. Mangelte ihm der Appetit oder war die Verdauung gestört, so forschte er als echter Krankheitshypochonder nach den Gründen dieses schweren Unglücks. Selbst in der Vergangenheit stocherte er herum, wie ein Lumpensammler in müffigem Kehricht. Er erinnerte sich, daß er als Knabe viel in eisigen Kellereien des Heimathschlosses mit den Söhnen des Kastellans Versteck gespielt, noch heiß vom gegenseitigen Haschen – das hatte sicher seiner Lunge tuberculose Keime eingeimpft! Warum hatte er einst dies und das gethan, dies und das unterlassen! Er grollte noch nachträglich Personen, die ihn im Comfort gestört.

So wurde er ein regelrechter Genuß- und Gesundheitsjäger, wie alle Leute, die ihre Begierden weder ganz zähmen noch ganz sättigen; halbgesättigt, brechen diese stets unvermuthet neu hervor und schwächen den Willen. Statt mit unfruchtbarem Genörgel die Zeit zu verschwenden, hätte er aus Prinzip lüderlich werden sollen. Denn so wie man den physischen Schmerz vergißt, sobald man sich zwingt, nicht daran zu denken – genau so den moralischen.

Aber Krastinik hielt Lüderlichkeit für unter seiner Würde; und je mehr er körperlichen Sport trieb (Boxen, Schwimmen, Marschiren), um sich aufzumuntern, desto sublimer und ernster wurde er. Ach, für ihn wäre etwas stupide Lebenslust der gesundeste Sport geworden. Für den Nebel der Sentimentalität giebt's nur ein probates Mittel: Den Rausch der Ausschweifung. Der Strom der Pein und der Strom der Lust quellen im Gefühlsleben nebeneinander. Dämmt man den einen, bricht der andere hervor.

Am Ende nahm seine widerliche Hypochondrie so bedrohlich zu, daß sie eine Art Verlustwahn nährte. Er bildete sich manchmal geradezu ein, daß ihm dieser Omnibus-Conducteur beim Wechseln Sixpence, jener Kellner eine halbe Krone zu wenig zurückgegeben habe. Dann glaubte er steif und fest, daß er in Inverneß zwei Guineas vergessen habe, die er vorm Schlafengehn unter den Spiegel gelegt haben wollte.

Seine Seele verkleinerte sich gleichsam in grämlichem Egoismus. Er verglich seine physische Natur mit derjenigen eines Laffen wie Mowbray und glaubte, daß höchste brutale Kraft auch höchstes Glück bedinge. Er beneidete die Engländer also um ihr Klima und ihre Erziehung, welche ihnen eine so überlegene physische Elasticität verliehen, und hielt sich selbst in demselben Maße vom physischen Glück entfernt. Und wie ein solcher unwirscher Neid seine leibliche Maschine nicht verbessern, sondern nur die Säfte stocken machen konnte – so peinigte er sich noch mehr, indem der Neid auf die so weit überlegenen Glücksgüter seiner englischen Umgebung ihn zu verkniffener Geldgier führte. Da er nun diese durch Erwerb nicht befriedigen konnte, so keimte in ihm »the good old gentlemanly vice«, der Geiz. Er fing an, innerlich den Mammon anzubeten. Hätte ihm ein Erie-Prinz ein Douceur angeboten, seinen Namen unter einen faulen Actienschwindel zu setzen – er hätte sich in gewissen Augenblicken wirklich dem Teufel verschrieben, er, von Natur so vornehm und ehrenhaft! Etwas der Sache wegen thun, schien ihm jetzt höchste Thorheit. Sein litterarisches Talent, an das er fest glaubte, sollte ihm einfach dienen, goldne Eier zu legen. Er wollte Sensationsromane schreiben, wie Gregor Samarow, Lustspiele wie G.v. Moser, dessen »Krieg und Frieden« er in noch ärgerer Adaptirung auf einer Londoner Bühne kennen lernte. Jedes höhere Streben schien in ihm erloschen.

Mit einem gehörigen inneren Ruck machte er sich also wirklich an die Arbeit. Er arbeitete an jener Novelle »Nachhülfe wird gesucht«, deren seltsame Exposition er einst dem Damen-Areopag bei Dorrington verlesen hatte. Dabei fiel es ihm jedoch schwer auf die Seele, daß ihm dies kein deutsches Familienjournal drucken werde; und er beschloß daher, äußerst abzudämpfen – möglichst salonfrivol und beileibe nicht cynisch zu werden, auf daß die schöne Leserin schamhaft hinter dem Fächer kichern könne, ohne sich äußerlich verletzt zu fühlen.

Die Arbeit schritt rüstig vor. Allein die Gestalt des Idealisten Goodenough machte ihm bei seinem jetzigen Gemütszustand und materialistischen Prinzip viele Schwierigkeiten. Er wollte diese Figur ja nicht der Lächerlichkeit, sondern dem Mitleid empfehlen, und dies wollte nicht recht gelingen. Hätte er nur irgend ein Modell gefunden!

Während dieser Arbeit stachelte ihn ein Wahngebilde, das er für Wahrheit hielt. Die so stark aufmunternden Worte, die Alice bei ihrem letzten Beisammensein geflötet, schienen ihm die Gewährung süßen Lohnes zu versprechen. Enthielten sie nicht ein halbes Geständniß tieferer Neigung? Der Unerfahrene ahnte gar nicht, daß in England sogar wirkliche engagements, ehe sie offiziell geworden, noch nichts Bindendes zu bedeuten haben. So setzte sich denn bei ihm eine Art Reflex-Liebe fest, indem er sich steif und fest einredete, ihr Schmachten entspringe einer unbefriedigten Liebessehnsucht. Aber ob für ihn? Wohl fiel ihm ein, daß vielleicht Mowbray – doch nein, nein, diesen Gedanken verwarf er. Wie konnte ein so ernstes kluges Wesen an solch einem nichtssagenden »schönen Mann« Gefallen finden!

Allein, diese Eifersucht bohrte ihm den Stachel der eingebildeten Reflexliebe noch stärker ein. Ja, wenn er unwillkürlich argwöhnte, sie habe ihn am Ende zum Narren, dann erst recht. Haß der Liebe, aus dem Zorn gekränkter Eitelkeit hervorgegangen, verstärkt gerade darum die Gefühle, weil die Selbstsucht mit tangirt wird. Haben doch Haß und Liebe, die so nahe beieinander schlummern, denselben Ursprung.

Er war also allen Ernstes verliebt. Die Leidenschaften sind ja völlig unbewußt und stehen nicht in unserem Belieben, sondern bilden sich gleichsam mechanisch.

Um seinen Traum nicht zu zerstören und weil er einmal gelesen hatte, Abwesenheit und scheinbare Kälte vermehre die Liebe (eine jener Regeln, die lauter Ausnahmen zuläßt), mied er Egremonts drei Wochen lang. Auch um seine Arbeit zu fördern, wie er denn fast gar nicht ausging. Nun trieb es ihn wieder dorthin.

Aber zu seinem Befremden empfand er alsbald, daß ihm, obschon sehr höflich aufgenommen, eine auffallende Kälte entgegenwehte. Miß Maud warf ein paar mal spitze Bemerkungen hin, als er von seiner Schriftstellerei plauderte: Ja, heute schreibe Jedermann. Alice schien sehr gelangweilt und gleichgültig. Als er gereizt den Schmollenden spielte, verstand sie ihn gar nicht.

Er war außer sich. Dazu, hatte er jetzt seit vielen Tagen sein Herz mit schönen Gefühlen kasteit, dazu – –

Nichts ist belehrender und charakter-festigender, nichts aber auch verwundender für die Eigenliebe, als die seltsame Ueberraschung, sich in einem befreundeten Hause überflüssig zu finden. Die Abstufungen von plötzlicher Kälte zu allmählicher Kühle sind weniger verletzend, als die Erkenntniß, daß unsre Abwesenheit keineswegs bemerkt oder gar schmerzlich empfunden wurde.

Der Bankerotteur glaubt, Jeder werde ihn zur Thüre hinauswerfen – im Gegentheil! Man ist gespannt, zu erfahren, was ein solcher Herr eigentlich von uns will. Du hast Deine Frau geprügelt wie stadtkundig? Das glaubst Du in jedem Antlitz zu lesen? Eingebildeter Narr! Wir haben Alle ganz Anderes zu bedenken.

Aber wähne doch auch nicht, man habe, weil Du vier Wochen abwesend warest, sich gefragt: Mein Gott, was fehlt ihm, warum kommt er nicht? – Dein leerer Platz ist alsbald wieder gefüllt und im nächsten Caféhaus hat man sich einen neuen Freund geholt.

Hervorragende Naturen sind nicht eitler, wie mittelmäßige. Sie sind meist zu hochmüthig oder im besten Falle zu stolz dazu. Dennoch leiden sie meist, weil die Einbildungskraft und zugleich die Rücksichtnahme auf das liebe Ich vorherrscht, an dem Größenwahn, sich für besonders gehaßt oder geliebt zu halten. Nichts kann daher eine solche Seele stürmischer erregen und einen tiefern Abgrund in ihr aufreißen, als die entwürdigende Gleichgültigkeit, mit der man sie auf dasselbe Niveau mit ihrer Umgebung herabzieht. Eine Ahnung von der Unmöglichkeit der wahren Liebe und von der Schwierigkeit, verständnißvolle Theilnahme für die volle eigne Bedeutung zu finden, geht ihnen auf.

Zu Hause fand er die Karte eines Herrn vor, der in einer Stunde wieder vorsprechen wollte. »Eduard Rother, Maler? Hm, den Namen las ich schon öfter. Aus Berlin? Was will der von mir? – Meinethalben, ich bin zu Hause.«

III.

»Ei, das ist ja eine ganz vertrakte romantische Geschichte!« Krastinik hatte aufmerksam zugehört, nur hier und da den Erzählenden durch neugierige oder verwunderte Ausrufe unterbrochen. Er betrachtete forschend Rothers etwas dürftige Figur und krankhaftes Künstlergesicht. Weiß der Teufel! schoß es ihm durch den Kopf, das ist ja das prächtigste Modell zu meinem Goodenough!

»Nein, die Kathi! Ich hatte sie ja längst vergessen. Wer nimmt so 'was ernst! Long, long ago! Ich war halt Offizier. In jeder Garnison haben die Meisten irgendso was. Wer hätte das gedacht! – Ja, mit dem Allen hat es seine Richtigkeit, lieber Herr. Aber nun sagen Sie mir, was ich eigentlich dazu thun soll?«

»Nun, das liegt doch klar auf der Hand,« sagte Rother zuversichtlich. »Ihr Zeugniß ...«

»Mein Zeugniß!« Krastinik lachte hellauf. »Aber, mein Gott, sie wird sich doch wohl nicht für eine keusche Jungfrau ausgeben?«

»Ja freilich thut sie das.«

»Hm, hm. Und da soll ich ... Offengestanden, das ist doch eine abenteuerliche Geschichte. Und Sie setzen sich wirklich aufs Schiff und suchen mich auf? Donnerwetter, muß Ihnen aber die Affaire am Herzen liegen. Uebrigens, wissen's, Herr Kamerad, – wir sind ja Kameraden von Kathis Gnaden, haha –, an eine öffentliche Erledigung der Sache glaub' ich nicht. Wer droht, thut nichts – das weiß man ja.«

»Man sagt so. Aber da giebt's auch Ausnahmen. Wenn dieser Kohlrausch wirklich mit Kathi in Berlin großartig auftreten will, so muß er nach dem vielen vergangenen Skandal irgendetwas Mohrenwäsche verüben, sich mit ihr, der verleumdeten Jungfrau, in die Brust werfen ... Sie verstehn.«

»Ja, ich verstehe. Nun begreif ich allerdings. Ganz so abenteuerlich-verrückt, wie es auf den ersten Blick scheint – verzeihn Sie, Herr Kamerad – ist Ihre Reise hierher nicht. Auch versteh ich wohl, Sie wollten dem ersten Radau (so nennt ihr's Berliner, gelt?) aus dem Wege gehn, sich erholen, Ihren Geist ablenken. So weit wär' das in Ordnung. Aber was ich dazu thun soll ... was Sie wollten, haben's erfahren. Die Sache stimmt.«

»Nun, so bezeugen Sie mir das. Sie sehen ein, welchen Werth Ihr Zeugniß für mich hat.«

»Nein, die Umstände sind doch sonderbar. Ich soll gegen ein Mädel zeugen, das ich ... verführt habe – das garstige Wort muß heraus. Nein, dös geht uns goar nix an, singen die Wiener. Lassen's mich aus! Es wär' unritterlich, uncavaliermäßig ...«

»So? Aber mich als schuldlosen Idealisten in solcher Patsche stecken lassen, wär' ritterlich?« fuhr Rother auf. »Ueberhaupt, galant und ritterlich – das sind so zwei Begriffe, auf die das Weib immer mit Glück spekulirt. Ist ein schwacher Mann nicht schwächer als ein starkes Weib? Verdient ein guter Mann nicht mehr Schonung als ein schlechtes Weib? Das Weib ist nicht schwach, weder physisch noch geistig noch moralisch, und kann hundertmal brutaler und gemüthsroher sein, als der Mann. ›Ritterlich‹ – da lassen's mich aus.« Er stand in der Erregung auf und schritt hastig in der Stube umher.

Krastinik betrachtete ihn. Der reine Goodenough, dachte er, der getäuschte Idealist, der nachher Pessimist wird. Außerdem machten Rothers Worte auf ihn einen bedeutenden Eindruck. Er fand viel Wahres darin: Welcher Mann oder welche Frau stimmte nicht bei, wenn einer vom gleichen Geschlecht über das andere Geschlecht schimpft! Auch dachte Krastinik unwillkürlich an Alice; dunkle Befürchtungen ergriffen ihn. Er konnte sich in Rothers Lage versetzen und sah dessen nervöse Zerrüttung in einem ganz anderen Lichte. Man belächelt solange die Thorheiten des lieben Nächsten, bis man sich selbst davon getroffen fühlt.

So bat denn Krastinik seinen neuen Bekannten, für heut die Sache ruhen zu lassen. Morgen sei auch noch ein Tag und das Weitere werde sich finden. Rother möge mit ihm speisen; er wolle sein Wegweiser für den Abend sein und ihm London zeigen. Jener dankte tiefgerührt und der Oesterreicher versicherte, es sei ihm hochinteressant, einen Berliner kennen zu lernen. Zudem habe er so lange keine Deutschen mehr gesehen, daß er sich entsinne, wie er einst im Thal von Braemar, auf einem Felsen zur Seite der Chaussee sitzend, ein vorübergehendes Paar habe unvermuthet Deutsch reden hören und blitzschnell gedacht habe: »Look here, those are Germans!« keineswegs: »Ah, deutsche Landsleute!« So völlig habe er verlernt, deutsch zu denken, trotzdem er für sich so viel Deutsch schreibe. Wie entzückt sei er also, mit einem deutschen Gentleman zu plaudern!

Den Trieb der Stammeszusammengehörigkeit empfindet man erst im Auslande ganz oder lernt ihn, falls man Kosmopolit war. Nur Lumpe und Abenteurer verlernen ihn dort nach dem Grundsatz: Ubi bene, ibi patria. Vaterland! Undenkbares Geheimniß, unverständliche Liebe! Ist die Welt umsonst unendlich? Ist jeder Flug ins Ausland eine Verbannung? Sind wir nur für einen Flecken geboren und jedem andern Lebensklima fremd?

IV.

Krastinik und Rother wurden binnen wenigen Tagen die besten Freunde. Letzterer hatte bald bemerkt, daß er es mit einem Original zu thun habe, und Ersterer studirte heimlich seinen neuen Bekannten als Modell seiner Novelle. Die reine Wahlverwandtschaft. Beiden war, als hätten sie sich lange gekannt: Sie schienen auf dem besten Weg, »Inseparables« zu werden – wie Krastinik es ausdrückte, der als Aristokrat immer noch in gräulichen Fremdwörtern sprach und das gute deutsche Wort »Unzertrennliche« für phrasenhaft und formlos gehalten haben würde.

Von der sonderbaren Affaire, die sie zusammengeführt, sprachen sie nur wenig. Rother meinte freilich, er müsse nun abreisen, und bitte den Grafen, sich zu entschließen. Allein dieser wich noch immer aus: Kommt Zeit, kommt Rath.

Also er solle ein schriftliches Zeugniß in Form eines Privatbriefes an Rother ablegen, das ihm als Waffe gegen die weibliche Tückeboldin diene?

Besser wäre also wohl ein mündliches Zeugniß?

Ja, darauf wagte Rother nicht zu hoffen. – Nun, man könne ja nicht wissen, was noch geschehe. Warum solle Krastinik nicht selbst einen Abstecher nach Berlin machen?

»Eigentlich erinnert mich die ganze Geschichte an den berühmten Prozeß Gräf. Na, jene Bertha scheint denn doch ein viel schlimmeres Kaliber als unsre Kathi. Herrgott, hat Die eine Reklame aus ihrem Prozeß herausgeschlagen! Nun, Theuerster, wenn nicht Kathi, so will ihr Herr Prinzipal jedenfalls diesem Beispiel folgen. Freilich, was liegt denn da weiter vor! Gar nichts. Sie sind ja ein junger lediger Mann – ob Sie a bissel lächerlich werden, das schad't nix. Und wenn ich erst für die Wahrheit Ihrer Angaben zeuge – – nein, nein, wie komisch ist das Alles! Haben Sie auch Gedichte an Ihre Flamme gemacht à la Gräf?«

Rother erröthete. Er konnte ja nicht leugnen, daß Gräf's lyrisches Tagebuch über seine ideale Bertha auch ihn angesteckt hatte. Es schien ihm gleichsam mit dazu zu gehören. Als Krastinik, seine Verlegenheit bemerkend, in ihn drang, zog Rother sein Notizbuch und vertraute ihm drei Lieder an, die sich auf der Ueberfahrt nach London als Stoßseufzer ihm entpreßt hatten.

Nie entweicht aus meinem Auge

Deine herrliche Gestalt.

Und auch Du kannst nie entrinnen

Meiner Augen Allgewalt.

Ewig flammt in mir Dein Auge,

Und in ewigem Zauberbann

Folgt durchs Leben Dir mein Auge,

Nur das Grab Dich retten kann.

Weißt Du, was süßer als die Liebe ist,

Und süßer als des Ruhmes eitle Mache?

Es ist der Haß, der sich am Bösen mißt:

Gerechte Rache!

Du, die auf mich geschnellt der Tücke Pfeil,

Du bist verdammt und ich, Dein Teufel, lache.

Ich war Dein Engel und Dein Seelenheil.

Gerechte Rache!

Starb der Stolz tiefinnen Dir,

Mag ihn Eitelkeit ersetzen.

Starb die Liebe, Sinnengier

Mag Dir das Gefühl ergetzen.

Immer höher steige ich

Sonnempor auf Aetherschwingen.

Nur das Haupt hier neige ich,

Dir den letzten Gruß zu bringen.

Krastinik hatte aufmerksam zugehört. »Ei den Kukuk, Sie Hallodri! Sie scheinen mir ein begnadeter Lyriker. Das ist selbsterlebt, selbsterlebt, aus dem Innern gequollen!«

»Ach bitte, nicht so!« wehrte Rother bescheiden ab. »Es ist ja nicht mein Metier. Ich fühle nur ab und zu das Bedürfniß, auszusprechen, was mich quält.«

»Hm, hm!« Der Graf blies nachdenklich blaue Ringel aus seiner Trabuco. »Sagen Sie mir doch ... verkehren Sie viel in Berlin in sogenannten litterarischen Kreisen?«

»O ja. Ich kenne Manchen.«

»Ei, da könnten Sie sich bei mir revanchiren.«

»Wie das?«

»Sie würden mir einen großen Dienst erweisen, falls Sie ...« Der Graf stockte, setzte mehrmals an, dann ging er entschlossen in media res, indem er Rother ausführlich seine merkwürdige Lage und seine literarischen Pläne anvertraute. Dieser staunte.

Endlich fühlte der gräfliche Autor sogar das dringende Bedürfniß, dem Maler etwas von seinen Produktionen zu verlesen. Er lege (natürlich) den bekannten »hohen Werth« auf das Urtheil eines so hochgebildeten Mannes. Da habe er sich z.B. in die mystische Ehescheidungsgeschichte Lord Byrons vertieft und sei zu seltsamen Schlüssen gelangt. Ob Rother ihn ermuntere, folgenden Anfang eines projektirten Romans fortzusetzen. Auf Rothers Bitte, die wirkliches Interesse verrieth, las er nun folgende Schnitzel ab. Eins seiner gewöhnlichen Fragmente, die nie ein fertiges Ganze werden wollten.

»Ist Mrs. Leigh zu Haus?« fragte ein langer gentlemanlike dreinschauender Herr, welcher hastig in den Portiko getreten war, den Haushofmeister mit vor Aufregung vibrirender Stimme.

»Ja wohl, Sir. Jedoch weiß ich nicht, ob sie so früh empfängt oder überhaupt heut' empfangen kann. Die traurige Nachricht, Sie wissen ... Alles geht drunter und drüber.« In der That zeigte der Haushalt deutliche Spuren von Unordnung, wie irgend ein untoward accident sie zu bewirken pflegt.

»Natürlich,« nickte der Besucher, indem eine heftige Bewegung seine männlichen Züge überflog. »Ganz London ist in Allarm. Man hält sich auf der Straße an. Freilich, solch ein sensationeller Aktschluß – das liebe Publikum! Aber wir, die wir so viel tiefer –« Er brach hastig ab und drängte den Portier bei Seite. »Bitte lassen Sie mich sofort ein. Es ist von höchster Wichtigkeit für Mrs. Leigh.«

»Mr. Hobhouse, wenn ich nicht irre?« fragte der zögernde Diener mit einer respektvollen Verbeugung.

»Gewiß. Melden Sie, es handle sich um den Verstorbenen – für Mrs. Leigh ist das wohl genug.«

Es schien in der That so. Athemlos eilte der Mann zurück und öffnete hastig die Thür des Parlours, wo schon an der Schwelle eine Dame mittleren Alters dem Besucher entgegenkam. Sie trug Trauerkleidung, ihre Augen schienen von anhaltendem Weinen trüb. Wortlos drückten sich Beide die Hand. – – – – – – – –

»Und so erkläre ich auf meine Ehre« Mr. Hobhouse erhob sich feierlich, sowohl zur Bekräftigung als zumZeichen seines Aufbruches »daß es närrische alberne Dokumente sind und daß sie vernichtet worden müssen. Wir haben Beide die Pflicht – Sie als nächste Verwandte des Verewigten und als das ihm theuerste Wesen, ich als sein ältester und bester Freund – das Aeußerste zu diesem Behuf zu versuchen. Ich eile unverzüglich zu Mr. Moore, um das Ding herauszulootsen. Leben Sie wohl!«

»Und – und diese Autobiographie – mein Bruder hat sie mir niemals erwähnt –«

»Das glaub ich wohl!« murmelte Hobhouse bitter in Parenthese.

»Was enthielt sie denn?! In Betreff der – der Scheidung nämlich? Oder –« Ein eigenthümlicher Ausdruck der Spannung, halb lauernd, halb ängstlich, straffte hier die müden Züge Mrs. Leigh's.

»Hm, hm –« Mr. Hobhouse dehnte seine Worte auffallend. »Erinnere mich nicht so genau. Viel Unsinn. Adieu.«

Was bedeutete der seltsame Blick, den Beide an der Thüre wechselten? Argwohn? Mißtrauten sie einander?

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

In dem Drawing Room Mr. Murray's, des großen Verlegerfürsten, in Albemarlestreet, befand sich eine Gesellschaft von sechs Personen in heftigem Disput. Den Salon schmückte eine Reihe von Bildern, Porträts berühmter Schriftsteller, deren Werke bei Murray erschienen waren. Standen doch drunten im Portiko zwei bemerkenswerthe Büsten, auf welche weisend der Verleger mit gerechtem Stolz zu äußern pflegte: »Die Werke dieser beiden großen Männer sind hier veröffentlicht.« Der Eine war »the Duke«, der Herzog, der eiserne Herzog Wellington, dessen Depeschen (dispatches) vom spanischen Krieg bei Murray erschienen. Der Andere ein weit erlauchterer Geist, dessen Ruhm die Welt bedeckte und der soeben, die Lyra des Dichters mit dem Schwert des Freiheitskämpen vertauschend, den Heldentod für eine glorreiche Sache gestorben war. Aber die Skulptur schien diesem wunderbaren Antlitz nicht gerecht zu werden. Das merkte man so recht, wenn man das Meisterwerk von Philipps, ein Porträt im Rembrand'schen Stil, über dem Kamin des Salons auf die Streitenden herniederschauen sah. Unwillkürlich fuhr Jeder zurück, von einem seltsamen Schauer ergriffen, wenn er auf die harmonische und übermenschliche Schönheit jener Formen blickte, die im Leben einen Genius des Jahrhunderts beherbergt und jetzt von diesen übernatürlichen Kräften verlassen. Wie der Gott des nimmer fehlenden Bogens, der Gott des Lichtes und der Poesie, die Sonne in Menschengestalt, Phöbus Apollo, blickt er wie aus überirdischen Fernen nieder. Als dieses Antlitz im Theater della Scala in Mailand vor dem vornehmkühlsten Kritiker Frankreichs (Stendhal) an einer Logenbrüstung auftauchte, vergaß er, dem Schwanengesang Desdemonas zu lauschen, und blickte auf dies Wunderbild bis zuletzt. »Ja,« gesteht er, »ich war einen Augenblick enthusiasmirt. Nie hab' ich Aehnliches geträumt. Stets wenn man das Wort ›Genie‹ nennt, taucht dieser sublime Kopf in meiner Erinnerung empor. Es war das göttliche Bewußtsein der Kraft.« Und dennoch – so lieblich dies Lächeln, das in so joviales Gelächter wie das eines fröhlichen Schulknaben umschlagen konnte, so offen und frei der stolze Blick – auf der Majestät dieser hohen Stirn thront unsterbliche Trauer. Man gedenkt an den Lucifer, den Lichtbringer der Erkenntniß, vor dem Byrons »Kain« erstarrte: »Wer naht dort? DieGestalt gleicht der der Engel, doch wehmuthsvoller, düsterer ist der Anblick dieser Erscheinung vergeistigtester Geisteskraft. Was schaudre ich? Was fürchte ich ihn mehr als andre Geister? Doch scheint er ja viel mächtiger als sie alle, und schöner, aber doch nicht halb so schön, als er einst war und als er werden könnte.« ..... Unter den sechs Versammelten standen sich zwei Parteien gegenüber. Die bemerkenswertheste Persönlichkeit, ein kleiner Mann von sympathischem Aeußern, war kein Geringerer als Thomas Moore, der Nationaldichter Irlands. An seiner Seite stand Mr. Murray, der Chef des großen Verlagsetablissements, und sein Sohn und Thronerbe. Ihnen gegenüber Ion Cam Hobhouse, Baronet (später Lord Broughton), als Testamentsvollstrecker und intimster ältester, Freund des Todten. Neben ihm zwei Weltmänner, Colonel Doyle als Vertreter der separirten Wittwe und Mr. Wilmot Horton als Vertreter der Schwester. Der Streit nahte seinem Ende. Die Hartnäckigkeit des hochangesehenen Mannes, welcher einzig und allein die Interessen seines verewigten Freundes verfocht, unterstützt vom – ihm selbst sehr gleichgültigen – Interesse der Wittwe, trug den Sieg davon. Folgendes war das Resumé, welches Mr. Hobhouse mit scharfer Bestimmtheit und Klarheit vom Stapel ließ: »Die Sache steht demnach so. Der Verstorbene hat in Venedig an Mr. Moore seine ›Autobiographie‹ geschenkt und später aus Italien noch Vervollständigungen gesendet. Dies Dokument wurde, auf besonderen Wunsch des Dichters, von seinem Verleger Mr. Murray aus Moore's Händen für 2000 Pfd. Sterl. gekauft, mit dem Recht der Veröffentlichung. In seinem letzten Lebensjahr vor seiner Abreise nach Missolunghi ward aber mein Freund von wiederholten Zweifeln heimgesucht, ob die Publikation seinem Rufe zuträglich sein würde. Ichversichere auf mein Ehrenwort und gestützt auf vorgelegte Briefe, daß mein Freund die Absicht hatte, die Dokumente zurückzukaufen. Ich protestire also mit aller Energie als Testamentsvollstrecker des Verewigten gegen eine Publikation, die seinem Ruhme höchst nachtheilig sein kann. Ich halte das betreffende Manuscript für eine seiner ganz unwürdige Leistung und Handlung. Die nächste Verwandte, die Schwester meines Freundes, die ehrenwerthe Augusta Leigh, ist festiglich derselben Ansicht. Die Wittwe vertritt aus guten Gründen denselben Standpunkt. – Zu diesem Zweck hat der nun durch uns zur Erkenntniß der Sachlage gekommene Mr. Moore die betreffenden 2000 Pfd. Sterl. hiermit zur Rückzahlung angetragen. Sie aber, Mr. Murray, sind durch Ehre und Rücksicht auf das Andenken des illüstren Todten, unseres gemeinsamen verblichenen Freundes, gezwungen, die Dokumente hier in unserer Gegenwart vor Zeugen zu verbrennen. Daran ist kein Zweifel mehr.« – –

Eine Viertelstunde später brannte der letzte Papierstreifen zu Asche. Mit einem Schauer düsterer Befriedigung glaubte der sensitive Moore auf den Zügen des Porträts ein triumphirendes Lächeln zu bemerken. – –

Beim Hinabsteigen in den Flur aber flüsterte er leichthin in Hobhouse's Ohr: »Unleugbar war die Schilderung der Scheidungsgründe in jenen Dokumenten eine partheiische und voreingenommene. Aber – obwohl augenscheinlich mit bestem Wissen des Autors geschrieben – glauben Sie, daß diese Dokumente wirklich die volle Wahrheit enthielten?«

»Das weiß ich nicht,« war die kalte Antwort.

»Ich meine, halten Sie so gewöhnliche und simple Ursachen wie Charakterunterschied u.s.w. für die Hauptgründe dieser berühmten Scheidung?«

Mit gefaßter Kälte blickte der lange Britte auf den kleinen Poeten herab, als er unerschütterlich ruhig antwortete: »Ich weiß nicht – vielleicht.«

Aber Moore ließ noch nicht nach. »Sie wissen, daß ich gegen sie wahrlich keine freundlichen Gefühle hege und meinem edeln Freund stets die Heirath abrieth. Aber, Mr. Hobhouse, Ihre eigene Animosität gegen diese Frau – ist sie nicht durch Kenntniß irgend eines Faktums vermindert?«

Hobhouse zuckte die Achseln und machte eine abwehrende Bewegung: »Ich wüßte nicht.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

»Hier schließt die Einleitung, die zugleich den Epilog bildet,« schaltete Krastinik ein. »Jetzt beginnt die eigentliche Erzählung der Ehescheidungsgeschichte, welche nun Schritt für Schritt in Byrons Vergangenheit zurückleitet.«

»Meine theure Lady Byron!

Der Apotheker und Arzt Lord Byron's nahm sich die Freiheit, den Instruktionen Ew. Ladyschaft folgend, denselben zu besuchen, mit der Intention, ihm Luftwechsel und Landaufenthalt anzurathen, jedoch den heimlichen Zweck im Auge haltend, den geistigen Gesundheitszustand des distinguirten Patienten festzustellen. Dr. Le Mann hat nun wohl selbst Ew. Ladyschaft die Mittheilung gemacht, daß er nicht den geringsten Anhalt zu der Annahme gestörter Gehirnfunk tionen gefunden hat. – Nichtsdestoweniger ersuchte mich Lady Noël, in Gemeinschaft mit Dr. Baillie, dem berühmten Mediciner, Sr. Lordschaft eine Visite zu demselben Zwecke zu widmen. Zu unserer peinlichen Ueberraschung schien der edle Lord gar bald mit einer seines Genius würdigen Einsicht und Beobachtung die Absicht zu erkennen und, nachdem er uns in gemessener Weise kundgegeben, daß unsere Fragen ihm sonderbar frivol und zudringlich erschienen, bot er den sichersten Beweis seiner gesunden Geistesverfassung: Er befahl nämlich – um es deutlich zu sagen – dem Lakaien, diesen ungeladenen Besuchern über die etwas steile Treppe hinabzuleuchten. Völlig überzeugt von der Abwesenheit jeder Geistesstörung bei dem edlen Lord, erlaube ich mir die Betonung der Thatsache damit zu verbinden, daß die durchaus unentschuldbaren Rauheiten im Benehmen desselben Ew. Ladyschaft gegenüber doch durchaus nicht diejenige Grenze erreichen, wo eine Scheidung nothwendig scheint. So hoffe ich mich mit Sir Samuel Romilly, dem Sachwalter des edlen Lords, in Verbindung setzen zu dürfen, da es sich hier einfach um einen Versöhnungs-Fall handelt und wir leicht ein gütliches Uebereinkommen treffen werden. – Ew. Ladyschaft direkten Befehlen entgegensehend, bleibe ich

Ihr ganz ergebenster Diener

Dr. Lushington.«

In diesem geheimnißvollen Stil eines Wilkie Collins ging die Sache nun weiter, bis die Advokatencorrespondenz mit einem mystischen Abendbesuch Lady Byrons bei ihrem Anwalt Lushington abbrach, worauf derselbe erklärte: nach einer neuen Mittheilung, die ihm erst jetzt offenbart sei, bestehe er auf sofortiger Scheidung.

»Und der Grund?« fragte Rother hastig.

»Ja, sehen Sie!« Krastinik blinzelte pfiffig, als wäre er schon ein alterprobter Schlauberger und Sensationswütherich, der zur Abwechselung mal die Geheimnisse Miß Braddons in zwanzig Bänden sammelt. »Da steckt eben der Haken!«

Rother, dessen litterarischer Geschmack über den eines »gebüldeten« Lesers in Deutschland nicht hinausging, fand diesen Anfang unendlich vielversprechend. »Wie spannend! Nein wie spannend!« rief er einmal über das andere.

»Ich bin überzeugt, Herr Graf, jeder Redakteur würde Ihnen nach einem so spannenden Anfang das Werk aufs Geradewohl bestellen.«

»Meinen Sie?« fragte Krastinik halb geschmeichelt halb zweifelnd.

»Bestimmt. Unsre Romane werden immer langweiliger, man schläft bald ein. Eugen Sue mag ja kein Ideal sein, aber man liest so etwas doch hundertmal lieber, als unsre deutschen Sachen ohne Handlung und Spannung.«

»Jaja, die Handlung ist dem Verleger die Hauptsache und dem Publikum auch,« gab Krastinik zu, »das weiß ich wohl. Was kauf' ich mir für die lange Psychologie, nicht?«

»Natürlich. Sie sind zum Romancier geboren. Sie Glücklicher! Da können Sie bald ein reicher berühmter Mann werden. Und dazu Ihr Name, Herr Graf! Wir haben schon verschiedene Grafen und Gräfinnen, die schreiben. Wenden Sie sich gleich an die große Firma Hallberger in Stuttgart. Ich kann Ihnen vielleicht eine Empfehlung geben, da ich mit ›Ueber Land und Meer‹ in geschäftlicher Verbindung stehe als Illustrator.«

»Meinen Sie also wirklich?« Der edle Xaver fiel mit Heißhunger über den ehrlich gemeinten Köder her. »Nun, da wär' es wohl das Beste, wenn ich mal selbst in Berlin Umschau hielte und mich mit Blättern und Bücherfirmen in Verbindung setzte?«

Ja, das kam Rother grade gelegen. Mit glühenden Farben malte er seinem neuen Freunde die Aussichten, die ihm winkten. Auch entwarf er ein lockendes Gemälde von Berlin.

Ganz entscheiden wollte sich Krastinik noch nicht, doch neigte er sich dem Entschluß der Abreise zu, – um so mehr es ja in seiner Natur begründet lag, hastige plötzliche Entschlüsse zu treffen.

Doch bat ihn Rother, als er ihn an jenem Tage verließ, nun definitiv sich zu entscheiden, da er bestimmt übermorgen nach Berlin zurückreise. – –

Da half dem Grafen ein Wink des Schicksals aus seinem Dilemma. Denn, eben im Begriff sich für einen erneuten Besuch bei Egremonts zurechtzuputzen, erhielt er, auf elegantem Velinpapier mit Goldschrift gedruckt, die freudige Nachricht von dem geistigen Schutzpatron der »Britischen Aristokratie«, daß seine Tochter Alice sich mit Sir Thomas de Mowbray verlobt habe.

Einen Augenblick fühlte sich Krastinik wie niedergeschmettert. Das Blatt entfiel seiner Hand, er sank auf einen Stuhl und starrte lange vor sich hin. Dann erhob er sich und stürmte ins Freie.

Wie lange er so umhergewandert, planlos, irr, durch Parks und Straßen, – er wußte es nicht. Es war nach Mitternacht, als er, wie aus einem Traum erwachend, an dem Eingang einer Underground-Station stillhielt. Mechanisch löste er ein Billet, stieg die Stufen hinab, wo an jeder Seite lange Holztreppen in die ungeheure Halle hinabführten, und wartete auf seinen Zug.

In dieser Nacht war er ein Andrer geworden. Der Stahl der Härte verschmolz sich dem ideellen Silber und dem materiellen Kupfer seiner Seele. Ueber die Falschheit der Welt kann man nur lachen. Ihr zürnen und sich über sie grämen, heißt ihr allzuviel Ehre erweisen.

Der letzte Nachtzug brauste mit rothfunkelndem Laternenauge heran. Die hölzernen Wände und Treppen der Underground-Station blickten so dürr trübselig drein. Droben auf der Oberwelt heulte ein eisiger Wind. Matt blinzelten die Ampeln. Nur wenige Passagiere trotteten vorüber.

Krastinik dachte an eine Nacht auf dem großen Bahnhof zu Perth. Nebel über den fernen Bergen, er ganz allein auf einer Bank. Vor ihm auf und ab spazierend nur ein amerikanischer Tourist mit Frau und Schwester, über der Schulter den buntgewürfelten Tartanplaid, der hier als Touristenmode gilt. Er hatte den Mann recht von Herzen beneidet, den Glücklichen mit zwei weiblichen Wesen an der Seite – er so ganz allein, fern der Heimath, einsam wie eine Distel auf Lammermoors Haide, auf die der Hochlandregen niederträuft.

Und dann kam ihm wieder die Erinnerung an eine Nacht in der ungarischen Pußta hinter Großwardein, wo der Eisenbahnzug plötzlich hielt. Man hatte sich verfrüht oder verspätet und ein entgegenkommender Zug wurde signalisirt. So hielt man bange zehn Minuten an derselben Stelle. Die Schaffner liefen mit Laternen draußen auf und ab, unabsehbar dehnte sich zu beiden Seiten die Wüstenei und aus den Sümpfen kreischten unheimlich Wildgänse und Reiher im dunkeln Röhricht.

Am andern Tage theilte Krastinik seinem »Kamera den« mit, daß er sofort morgen Abend mit ihm nach Berlin abreisen werde und bereits gepackt und die »Bill« bei seiner Wirthin erledigt habe. Zugleich machte er sich auf, um Dorringtons diese Mittheilung zu machen. Er ließ natürlich den Grund von Rothers Kommen im Dunkeln, that, als sei dies ein alter Bekannter aus Wien her, und entwickelte die litterarischen Gründe, die ihn nach Berlin trieben.

Sogar Lady Dorrington billigte, was sie eine »zeitweilige und geschickte Entfernung« nannte. Sie äußerte sich sehr erbost über Miß Alice's schmachtende Falschheit, wie Frauen stets dasselbe Benehmen ihrer Schwestern shoking finden, das sie selber doch unter Umständen als echte Frauen in gleicher Weise betreiben würden. Weltklug rieth sie ihrem Neffen, erst aus Berlin seinen Glückwunsch darzubringen: da er schon verreist gewesen sei, ohne zu seinem Bedauern sich Egremonts empfehlen zu können, von plötzlichen wichtigen Affairen abberufen.

»Man muß seinen Rückzug decken und seine Niederlage bemänteln, mein armer Xaver.« Dieser biß sich auf die Lippen.

... Krastinik schlug Rother gegenüber jetzt einen forcirt jovialen Ton an. Er glaube, es werde sich diesem alles zum Guten wenden. Uebrigens möge er nicht alle Hoffnung auf Kathi aufgeben. Der kleine Fleck in der Vergangenheit – was schade das! Das bliebe ja unter ihnen drei – in der Familie. Sie sei ja sonst offenbar ein ganz famoses Weib. Rother liebe sie doch nun mal. Also nicht nachlassen!

»I was schadet's denn! Ich beneide Sie darum. Enden Sie als Gatte einer dicken Gastwirthin, einfach lebend mit einem ruhigen Weib, die sich bescheiden von Ihnen bilden läßt. Solch ein derbes dummpfiffiges Küchenmensch paßt grade für Sie – Sie idealen Schwachmatikus, verzeihn Sie. Damit werden Sie eine gute Brut erzeugen – Darwinische Zuchtwahl.

Hören Sie in mir den kundigen Thebaner! Sie meinen, die Leute werden sich über Sie moquiren? Pah, was geht Sie die Gesellschaft an! Sie Glücklicher, Sie haben ja keine Rücksichten zu nehmen wie ich. Lägen dann die Neidhammel, die sich über Sie mokiren, nur in Ihrem Ehebett!

Ja, nur los, ich gebe Ihnen meinen Segen! Nur hüten Sie sich, daß Sie nicht wie als Freier auch als Mann den blöden Corydon spielen – solcher Sentimentalität sind die Weiber und nun gar solche Weiber bald überdrüssig.«

Aber Rother wollte jetzt von solchen Predigten nichts hören. Stumpf und begierdelos, schien er in nörgelnde Apathie versunken. Hatte er zu viel von dem ungewohnten London Fogg, dem dicken Nebel geschluckt?

»Ich will ewig reisen, und wenn ich auf Reisen bin, ärgere ich mich über die tausend Plackereien, die damit verbunden,« warf er mürrisch hin.

»Pah, Sie sind jetzt eben in krankhaft grämlichem Zustand. Glück und Unglück wechseln, ebenso die Stimmungen der Seele in ewigem Ebben und Fluthen. Diese ewige Unzufriedenheit ...«

»Nein, nein, es scheint noch etwas Anderes: ich leide an einer Nervenschwäche, die sich als unbestimmte Angst äußert. Ich fürchte alles Mögliche: Schmerz, Arbeit, Ueberarbeitung. Ja, ich bin überarbeitet; ich glaube, ich muß in eine Kaltwasserheilanstalt. Ewig bohre ich mich in unliebsame Erinnerungen ein, fürchte mich – ich weiß selbst nicht wovor.«

»Ja, das scheint ernstliche Psychose,« unterbrach ihn Krastinik wohlmeinend. »Sie müssen 'was für sich thun. Spleen ist schlimmer als alle Ueberarbeitung. Die fürchtet nicht der wahre Künstler.« Seine Stimme nahm unwillkürlich einen salbungsvollen Klang an, als ob er sich bereits mit dem »wahren Künstler« identisicire. »Ja, jede Minute benutzen, das ist das einzig Wahre, und ganz allein auf sich und den lieben Gott stehn. Lassen Sie doch die Quängeleien!«

Wer von Beiden war wohl der Dümmere? Der Eine litt an unbefriedigter Ruhmsucht, der Andre an unbefriedigter Liebe. Krastinik kam sich aber gar schneidig und bedeutend vor, weil ihm Alice's sogenannte Falschheit nicht das Herz brach und ihm der Kopf von Ehrgeiz-Plänen brummte. Er erklärte jetzt, das wahre Glück in der Selbstbefriedigung vollbrachter Pflicht und Arbeit entdeckt zu haben, und citirte als Wahlspruch ein Impromptu:

Gebt mir Donner, gebt Orkane.

Nur nicht diese Windesstille

Auf dem Lebensoceane.

Denn zu kämpfen liebt der Wille.

»Jaja, es ist wunderbar wie eine erfüllte Pflicht beglückt. Willenskraft, Energie – darin liegt Alles,« hob Krastinik wieder an. »Aber wie schwer ist's, sich zu erheben! Die Indianer in Mexico bleiben in ihrem eigenen Kothe liegen, wie mir ein Reisender jüngst erzählte. Man prüft ja Aehnliches jeden Morgen im warmen Bett. Und in den alten Adam nicht zurückzufallen, wie unmöglich! Da ist nun die Gesellschaft mit ihren tausend albernen Kleinlichkeiten! Haben Sie eine ungeschickte Verbeugung gemacht, so ärgern Sie sich – nicht? Und wenn Sie alle Weisheit der Vorsehung im Leibe hätten! Statt aber schiefes Betragen zu bessern, erzielt man bei sich nur unfruchtbaren Aerger. So doktert man an Allem herum und spintisirt sich sogar vergangene Uebel schlimmer aus, als sie waren.«

Rothers Mißmuth stieg nur durch diese Vernünftelei. Wenn man Andern seine Noth klagt, beweisen sie sogleich, dies sei nur eigene Schuld gewesen.

»Eine Hölle auf Erden! Tausend Nadelstiche! Und Willenskraft – als ob's einen Willen gebe! Wir werden unsre Thorheiten nicht los – die sind uns vererbt, und angeboren. Wie wir einmal hereinfielen, werden wir's stets. Wen einmal ein Weib dupirte, der wird stets aufs neue dupirt. Ich merke das, ich fühle das.«

»Wohl wahr. Aber aus allem Mißglückten kommt doch irgendwas Geglücktes. Aus der Jagd nach dem Glück hat sich wohl Mancher schon Philosophie geholt.«

So schwatzten sie immer weiter fort in die Nacht hinein. Je mehr man abführt, desto besser die Verdauung, meinen manche Leute. Je mehr man schwatzt, desto reger die geistige Verdauung. Aber sie führt gar leicht zu geistigem – Durchfall.

Die Empfindsamkeit über die Weltmisère übte auf Rother eine vergiftende Wirkung: Sie bekehrte ihn zum Materialismus. Die elenden Erbärmlichkeiten einer unidealistischen Weltanschauung wuchteten ihn völlig nieder, wie denn wahrer Idealismus erst durch innere Ueberwindung des Materialismus errungen werden muß. Die Verzweiflung des Idealismus führt zum Leben, der materialistische Pessimismus zum Tod.

Krastinik ermahnte ihn eindringlich beim Mittagessen, wo Beide wenig Appetit entwickelten, doch der Welt und ihren dummen Spottgrimassen dreist ins Auge zu sehn. Außerdem sei zehn gegen eins zu wetten, daß kein Mensch von Rother's Kathi-Tollheit etwas ahne.

»Ach, die Welt weiß Alles, selbst unsre Lügen,« seufzte Rother.

»Meinen Sie? Meinethalben. Jeder muß eben sehn, wie er's treibe. Nie ist ein Mensch durch Disput mit Gegnern überzeugt, nie durch Andrer Warnung und Geschick bekehrt. Lebensklugheit suchen ist umsonst – sie ist wie das Glück, wie das Gefühl des Behagens, einfach da.«

Beide versanken in ein düstres Sinnen.

»Wie konnte ich nur –!« fuhr es Rother heraus. »Ich muß mich schämen. Unerwiderte Leidenschaft für ein üppiges Weib ist doch lächerlich.«

»Das finde ich nicht. Ob nun physisch oder psychisch, Hingebung ist immer schön. Nur egoistische Sinnlichkeit ist sündig. Ja, Du lieber Gott, die Liebe wird wie jedes Laster eine Krankheit, der man fröhnen muß.«

»Ja, es ist gleichsam ein Faulheitszustand, aus dem man sich nicht aufraffen kann. Und die Strafe der Faulheit bleibt ja nie aus, in tausend albernen Formen, als Abhängigkeit von allen Außendingen. Nur das Innere, wenn man sich dorthin zurückzieht, ist fehlerlos während die Außenwelt unaufhörlich Fehler bringt.«

»Sehr wahr. Ach, Fleiß ist die höchste Weisheit, Arzenei, Rettung, Genuß zugleich. Ja, wenn man sich einreihen könnte in die Schaar jener Künstler und Denker, die vor uns gestrebt und gewirkt!«

»Und statt dessen bohre ich mich ein auf einen Fleck in ewigem Brüten über Nichtigem! Der gesunde Mensch sollte lieber jeden Tag als eine freie Gabe betrachten, für die er danken muß. Ja, was sind wir alle für thörichte elende Zeitvergeuder!«

Wie die Feuerpfeile, welche die Hindoohs durch die Luft schießen, um den Pfad ihrer Barken zu lenken, so beleuchtet manchmal eine jäh aufzuckende Augenblickserkenntnis die Nacht unklarer Empfindung.

Am Spätnachmittag (sein Zug ging abends, Route über Vließingen) verabschiedete sich Xaver von seinem väterlichen Mentor. Dieser begleitete ihn eine Strecke weit nach Haus zurück.

»Also Du reisest mit Deinem neuen Freund! Gut, gut, auf Wiedersehen hier im Herbst.« Dorrington klopfte seinem jungen Freund auf die Schulter und sah ihn mit jenem herzlichen Wohlwollen an, das den Grundzug seiner edeln Natur bildete. »Ich verliere Dich ungern lange. In meinem Alter! Wer weiß, ob man sich wiedersieht! Ich für meinen Theil gehe jetzt bald aufs Land. Ein Buchenwald mit seinen weißen Stämmen macht einen ruhigen Eindruck. Was soll mir all der Kultur-Kaleidoskop!«

»Ich schreibe Ihnen jede Woche zweimal, mein theurer väterlicher Freund. Nie werde ich Ihre Güte vergessen.«

»Ach, tutut! Larifari! Ich hab' Dich gern und will Dir wohl und Dich zu fördern macht mir Vergnügen. Das ist der reine Egoismus!«

»Sie und Egoismus!« lächelte Krastinik.

»Pah, Egoismus ist die Triebfeder all unsrer Handlungen. Man schwatzt von Philanthropie – was soll das! Das Wohlthun erregt dem Einen ein eben solches Lustgefühl, wie dem Andern die Befriedigung seiner Bosheit.«

»Ja, wenn Sie's so nehmen! Aber was bleibt denn da übrig! Wo finge dann die Tugend an! Verfeinerter Egoismus steckt natürlich in Allem. Der Märtyrer am Brandpfahl pflegt den verfeinerten Egoismus, sich über die Welt erhaben zu fühlen. Auch das ist ein Lustgefühl.«

»Sehr gut.« Dorrington wiegte beistimmend sein ehrwürdiges Haupt. »Du fängst an, zur Erkenntniß zu gelangen. Fahre so fort!«

»Aber nein doch! Sie als Prediger der Selbstsucht – das widerspricht ja Ihren eignen Theorieen. Und überhaupt, mir scheint diese kalte Vernünftelei doch anfechtbar. Ist der Mensch nicht von Natur gut, selbstvergessend? Sobald man Jemand ertrinken sieht, heißt uns der Instinkt nachspringen, also etwas Unselbstisches. Erst die Berechnung und Ueberlegung läßt uns stillestehn. Wie kommt das? Des normalen Menschen Gewissen ist also von Natur edel und gut.«

»Gewissen? Was ist das? Die Philosophie hat längst festgestellt, die Psychologie längst deducirt, daß dies Gewissen uns anerzogen wird.«

»Das glaub ich nimmermehr. Das Gewissen ist der große Unbekannte, der unbekannte Gott, etwas Transcendentales. Dies ethische Prinzip ist jedem Menschen eingeboren.«

»Dann ist's also doch nicht transcendental. Was wird dann damit, wenn der Mensch stirbt?«

»Das können wir nicht wissen – wenigstens, sobald wir die Unsterblichkeit leugnen.«

»Das Gewissen soll also jedem Menschen eigen sein. Dann trüge es ein individuelles Gepräge. Und doch soll's ein allgemeines Prinzip sein?«

»Es ist kein individuelles Prinzip. Sondern das Gewissen, das Unbekannte, Unbewußte, ist das Prinzip der Existenz selbst. Es lebt in jedem Lebewesen als ein Theil des großen ethischen Gesammtprinzips. So erkläre ich mir das.«

»Und doch tritt ja das Gewissen bei jedem Lebewesen verschieden auf, je nach Erziehung und Abstammung. Der Eine hat ein zartes, der Andre ein hartes Gewissen. Und seine Gebote – ändern sie sich nicht nach Zeit und Ort? Was bei uns als Verbrechen gilt, mag im Orient oft Sitte gewesen sein.«

»Möglich. Ich erinnere mich, daß ich als Kind weinend zu meiner Mutter kam, weil ich mit Steinen werfend unversehens einen Vorübergehenden getroffen hatte. Es war nicht Furcht vor Strafe, sondern die Reue, einen Menschen verletzt zu haben.«

»Gute Race!« erklärte Dorrington kaltblütig. »Die Knaben des Pöbels, welchen Thierquälerei einen Hochgenuß bereitet, würden in solchem Fall über Deine Dummheit lachen. Es ist alles Abstammung.

Freilich, gute Race – hm, hm! Wer weiß, ob unser Idealismus – ich war mein Lebtag ein eben solches Kind und bedaure in Dir meine eigne Schwäche – nicht eine physisch schlechte Race andeutet! Unsre Eltern haben an einer Art Psychose gelitten, an allzu zarter Feinheit des Nervensystems, waren nicht normal gesund d.h. brutal-egoistisch, als wir gezeugt und geboren wurden. Der Idealismus ist eine Krankheit; davon laß' ich mich nicht abbringen.«

»Meinethalben!« Krastinik seufzte tief auf. »Aber was hilft's, das zu wissen! Damit kommen wir keinen Schritt weiter. Wir müssen ja doch das Leben ertragen, wie's einmal ist, und unsre idealen Forderungen verkneifen.«

»Ja, bis der Tod uns kneift.« Der Alte gähnte leicht und schüttelte sich, wie in einem Gefühl des Unbehagens. »Und um's erträglicher zu machen, hat man sich die Mär von der Unsterblichkeit erfunden. Das ist auch so eine Art Größenwahn des Menschen. Endlich sollte die Naturwissenschaft ihn doch belehrt haben, was für ein Wurm er ist. Wahrhaftig, man sollte denken, daß Dein ›eingeborenes Prinzip‹ beim Menschen nichts andres als der Größenwahn ist!! Erst dachte er sich Sonne, Mond und Sterne um seine winzige Erde hertanzen und schneiderte sich einen Gott zurecht, der nur für ihn und seine Bedürfnisse da war! Jetzt muß er wohl oder übel einsehn, daß sein Erdklumpen nur einen Punkt im Universum vorstellt. Darwin hat ihm endlich zu Gemüthe geführt, daß er nur ein höher entwickeltes Thier sei. Und trotz alledem hält sich der veredelte Menschenaffe immer noch für einen hochwohlgeborenen Grandseigneur, an dem Sonne, Mond und Sterne ein ganz besonderes ehrfürchtiges Wohlgefallen haben!«

»Sie übertreiben.« Der Graf lächelte etwas ironisch. »Wäre dem so, so würde der veredelte Menschenaffe wohl etwas mehr in seiner persönlichen Aufführung danach streben, vor Sonne, Mond und Sternen mit Ehren Parade zu stehn! Uebrigens – über diese Descendenztheorie läßt sich noch streiten. Längst hat mich einfache Logik gelehrt, daß der Uraffe, von dem wir abstammen äußerst verschieden gewesen sein muß von dem Urahnen des eigentlichen Affengeschlechts. Warum hat nur der ›Menschenaffe‹ solche Fortentwickelungsfähigkeit gehabt und warum ist der Affe, wie wir's am Gorilla und Schimpanse heut sehn, nach Aeonen immer derselbe geblieben? Der Menschenaffe war eben ein Genie. Denn Genie scheint mir keine concrete Fähigkeit, sondern eine Art Baccillus, der im Gehirn bei der Geburt steckt und sich langsam je nach den Umständen fortbildet oder auch nicht. Der Eine wird ein großer Mann, der Andre ein Verbrecher. Wie mancher Handlungscommis könnte ein Clive, wie mancher Midshipman ein Nelson werden, wenn die Umstände ihn begünstigen! Cäsar Borgia wurde kein Cäsar: er hatte kein Glück. ›Sulla der Glückliche!‹ ›Cäsar und sein Glück!‹ O die Römer waren kluge Leute. Der Menschenaffe hatte Glück und hatte Genie. Der Ur-Gorilla aber hatte ein Durchschnittsgehirn und weder Glück noch Initiative. – Nein, nein, unsere Verwandtschaft mit dem Affengeschlecht scheint mir nur äußerlich und kann nur dem Oberflächlichen imponiren.«

»Sieh, sieh!« spottete Dorrington. »Da haben wir den menschlichen Größenwahn in optima forma. Uebrigens,« brach er ab, indem er nachdenklich vor sich hin blickte, »vielleicht verdanken wir unserm Größenwahn auch unser bischen Größe. Man muß an sich glauben. Goethe sagte sogar, daß noch kein rechter Kerl an seiner Unsterblichkeit gezweifelt habe.

Ja, mit dem Größenwahn ist das ein eigen Ding. So müssen z.B. Mohamed, Christus, Buddah sich für Übermenschen ausgeben, weil die Menschen nur die Person, nie die Sache sehn und daher ohne dies das Große in ihnen nicht siegen könnte. Solch ein Größenwahn scheint also nothwendig, wird sogar zur Tugend!«

Krastinik schwieg betroffen. Diese Auffassung kam ihm sehr gelegen und leuchtete ihm ein. Doch warf er hin:

»Größenwahn scheint fast immer gepaart mit hochmüthiger Verkleinerung der Andern.«

»Nun ja, das ist eben der natürliche Egoismus, aus dem ja auch der Größenwahn hervorgeht.«

»Sei also der Größenwahn der Großen berechtigt – wie aber entschuldigt man die Einbildung der Kleinen?«

»Ach, denken wir auch hier menschlich! Nur die Lumpe sind bescheiden. Was wären wir ohne Hoffnung! Ein solcher Größenwahn ist oft Selbsterhaltungstrieb. Dagegen ist nichts zu sagen. Ein solcher Glaube tröstet einen armen Teufel im Kampf ums Dasein; der Glaube an seine innere Bedeutendheit hält ihn aufrecht.«

Beide blieben an einer Wegebiegung stehn, um sich zu trennen. Sie hatten sich schon die Hände geschüttelt und hielten sich noch immer bei der Hand.

»Schon gut, aber man macht sich doch lächerlich –«

»Weil die Eitelkeit der Andern sich über unsre Eitelkeit ärgert? Nun ja, man muß es nicht herauskommen lassen. Das ist ungeschickt. Die Hochmüthigsten sind die, welche ihren Hochmuth nicht mit Worten zeigen. – Na, es soll mich wundern, wie Du in der Hauptstadt des deutschen Geistes mit all den großen Geistern auskommen wirst. Meinen Segen hast Du dazu! Lebwohl – mein Junge, lebwohl!«

Sechstes Buch
I. Bei seiner Rückkehr hatte Rother folgenden Brief gefunden:

»Geehrter Herr,

Verzeihen Sie, daß ich es wage, dieße Zeilen an Sie zu schreiben, es ist ja nur betreffs meines Bildes, um dessen Rückgabe ich Sie einst bat. Ich weiß, daß Sie mir zürnen. Denn wenn Sie Charakter haben, müssen Sie das thun, denn Ursache haben Sie vollauf, und eben weil ich das annahm, glaubte ich damals nicht eine wunde Saite bei Ihnen zu berühren, Erinnerungen bei Ihnen wachzurufen – – wenn ich Sie um Rückgabe meines Bildes bat, weil ich Selbes für Sie längst wertlos wähnte und außerdem sind Sie in ganz Deutschland der einzige Besitzer eines Bildes in dieß Genre, da ich seiner Zeit bloß drei machen ließ und die zwei andern in Händen meiner Familie sind.

Da ich nun aber aus Ihren Zeilen ersehen daß Ihnen noch ein klein wenig an dem Bilde liegt behalten Sie es als Erinnerung an eine traurige Zeit für Sie und mich und wenn es Ihnen manchmal aus versehen in die Hände kommt, urtheilen Sie nicht zu strenge über daß Original, welches auch ein schlagendes Herz in der Brust hat und auch recht deutlich fühlt was wohl und wehe thut ... Mit dem Kohlrausch bin ich fertig für ewige Zeiten mein Ohr wird beleidigt wenn ich von ihm höre. Fragen Sie mich nicht wie es gekommen, sondern ziehen Sie den Charakter dieses K. in Betracht. Dann können Sie sich selbst Antwort geben. Nun sende ich Ihnen meinen letzten Gruß und wünsche Ihnen all das gute was man Jemand wünscht, für den man die größte Achtung im Herzen hegt«

Rother stützte sein Haupt in beide Hände. Große Thränen quollen aus seinen Augen und jede Thräne brannte.

Dann stürzte er sich auf sein Schreibzeug und entwarf in einem Zuge folgenden Brief:

»Verzeihen Sie, wenn Ihr Brief mich drängt, auf einige Punkte desselben noch einmal zu antworten.

Hätte ein Mann diesen Brief mit seiner ruhigen Vornehmheit der Gesinnung, in ehrlichem Eingestehen eigener Verschuldung und doch Bewahrung der eigenen Würde, geschrieben, so würde ich nicht anstehen zu urtheilen: Diesen Brief hat ein Gentleman geschrieben.«

Sie täuschen sich aber in zweierlei Dingen.

Sie meinen, ich müsse auf Sie »böse sein«, wenn ich Charakter hätte. »Charakter« zeigt sich aber nicht in kleinlichem Nachtragen, sondern in großmüthigem Verzeihen und vor allem in Beherzigung des französischen Sprüchworts: »Alles verstehen heißt alles verzeihen.« – Ich bin eigentlich nie »böse« gegen Sie gestimmt gewesen, sondern habe nur Mitleid und Bedauern empfunden. Daß ich wie gewöhnlich auf den ersten Blick den Charakter jenes K. durchschaute, ist ja natürlich; daß Sie meine Warnung so sehr berechtigt finden mußten, freut mich wahrlich nicht, sondern betrübt mich tief. Es ist aber ein altes Porrecht der Frauen, oft den erbärmlichsten Wicht dem Besten vorzuziehen. »Schwachheit, dein Name ist Weib.«

Wenn Sie aber wähnen, daß ich jedes Interesse für Sie verloren hätte, so irren Sie sich leider sehr über die Tiefe der Empfindung, welche Sie mir eingeflößt haben. Stolze Naturen wie die meine, welche innerlich stets einsam sind, pflegen Liebe und Haß nicht täglich wie ein Hemd zu wechseln. Die landläufige Verliebtheit ist, bei Männern wenigstens, eine Sache, die mit Essen und Trinken auf einer Stufe steht. Solche »Liebe« ist Eitelkeit und Sinnlichkeit, wenn sie nicht Wahnsinn ist. Bei meiner großen Geringschätzung der weiblichen Natur habe ich das stets nur als Spiel und Sport betrachtet und behandelt. Bei Ihnen aber liegt die Sache anders. Ich glaube kaum, daß ich je wieder fähig bin, ähnlich selbstlose Gefühle für irgend ein weibliches Wesen zu hegen. Die Liebe hat ein sehr sicheres Warum, sie ist ein Naturtrieb. Ich zweifle daher nicht, daß Sie eine naturnothwendige Ergänzung meiner Natur geworden wären.

Doch das Leben ist rauh und erbarmungslos, und die Verhältnisse meist unüberwindlich, – wenn sie es auch im äußersten Nothfall für Menschen von meiner Energie niemals sind. Doch – geschehn ist geschehn und vorüber ist vorüber.

Doch werden Sie begreifen, daß nach solchen Erlebnissen ein völliges Vergessen unmöglich ist und daß ich, wann und wo ich Sie auch je im späteren Leben wiedersehen mag, Sie niemals ganz gleichgültig für mich sein werden, ebenso wie Sie nie meinen Namen lesen werden, ohne daß ein seltsames Erinnerungsgefühl Sie beschleicht.

Jedenfalls aber danke ich Ihnen herzlich für Ihren Brief, und danke Ihnen, daß Sie mir »größte Achtung im Herzen« bewahrt haben. Ich erwiedere diese Achtung und bleibe Ihr schweigender Freund, der Ihnen für alle Zukunft aufrichtige Theilnahme ohne alles Nebeninteresse heimlich bewahrt und Ihnen mehr Glück und Seelenfrieden wünscht, als Ihr Schicksal es bisher Ihnen bescheert hat.

Schon wollte Rother diesen Brief absenden – natürlich an die alte Adresse in der Gerichtsstraße –, als sein Blick zufällig auf das Couvert fiel, das er natürlich nach Erkennung der Handschrift sofort erbrochen hatte, ohne den Poststempel zu beachten. Jetzt fiel ihm dieser ins Auge: – Hamburg! Was bedeutete das? Sie hatte sich dieses Kohlrauschs entledigt und ging nun dennoch nach Hamburg zurück?!

Ohne zu zögern, eilte er sofort zu Frau Lämmers.

Diese empfing ihn mit größter Verlegenheit.

Sie habe Herrn Rother aufgesucht, um ihm Mittheilung zu machen – obschon sie ihn ja kaum kenne, sei dies doch ihre Pflicht gewesen. Und nun grade mußte sie erfahren, daß er verreist sei!

Worum es sich handele? O ganz einfach. Erstlich wollte Kathi durchaus nicht dulden, daß Rother in Ungelegenheiten gebracht werde, und erklärte, dabei werde sie nie gegen ihn zeugen. Und dann, sobald sie unter den dringenden Umständen mit Kohlrausch wirklich Ernst machen wollte, habe sich dieser unter allerlei Vorwänden »glatt wie 'n Aal« zurückgezogen. Endlich sei es klar geworden, daß er im Grunde auch nur darauf spekulirt hatte, das schöne Mädchen herumzukriegen. Endlich in einer heftigen Scene, als sie ihm Vorwürfe machte, erklärte er brutal gradheraus, daß es ihm nicht einfallen werde, ein Mädel ohne einen Pfennig in der Tasche zu heirathen. In einer Aufwallung wahnsinniger Wuth hatte sie ihn darauf geohrfeigt, ihm die Thür gewiesen und einen heiligen Eid geschworen, sie wolle ihn niemals wiedersehn. – Stundenlang, erzählte Frau Lämmers, habe sie sich auf dem Sopha in Weinkrämpfen gewälzt und immer wieder gerufen: »Das ist die Strafe! O Rother, Rother!«

Daraufhin sei sie, die Wirthin, heimlich zu Rother gegangen. Als sie dann Kathi mittheilte, was sie gethan – worüber diese aufgefahren sei: »Ich sterbe vor Scham!« – habe diese, sobald sie erfuhr, Rother sei nach England gereist (also jedenfalls für lange), sich würdig gefaßt. Das freue sie. Er sei nun wenigstens erlöst und gerettet. Nie werde sie ihm mehr unter die Augen treten können.

Was aber nun! Wovon leben! Wieder die alte Geschichte, wie im vorigen Sommer! Einen ihrer alten Verehrer beglücken – ja, dazu war noch immer Zeit. Aber ehe sie das that, eher sterben!

Da führte ihr in einem Café der Zufall einen jungen eleganten Herrn in den Weg, mit dem sie in ein Gespräch kam. »Ja und was wollen Sie! In den hat sie sich verliebt! Und nun ist's obendrein ein sehr reicher junger Herr. Kurzum –«

»Kurzum! – Aha!« Es war Rother, als ob eine andre Stimme so dumpf aus ihm antworte. »Und da sind sie nun sozusagen auf der Hochzeitsreise?«

»Ja natürlich! Hier hätt' ich das Verhältniß nie geduldet und Kathi selbst wollte nicht – hier wäre sie ja doch leicht ausgespürt worden. Wohin sie sind, weiß ich nicht recht. Doch glaube ich –« Sie zögerte.

»Nur heraus mit der Sprache!«

»Ich hörte mal, wie er viel von Norwegen erzählte, wo er hin wollte. Das sei jetzt bei den Herrn Touristen so beliebt. Und sie ließ sich viel von ihm erzählen darüber.«

»Stimmt. Poststempel Hamburg. Und ... und – wie heißt ihr neuer Amoroso?«

Frau Lämmers zögerte. »Ja, ich weiß nicht ... Sie müssen mir versprechen, mich nie zu verrathen ...«

»Mein Ehrenwort.«

»Also gut. Er heißt Eugen Wolffert.«

»Eugen Wolffert! Der Sohn des Kommerzienrath Wolffert – des Waffenfabrikanten, des fortschrittlichen Reichstagsabgeordneten?«

»Derselbe.«

Rother stand einen Augenblick regungslos. Es durchschauerte ihn jählings der Gedanke, daß es wohl gar keinen Zufall gebe, sondern alle Dinge innerlich aus Nothwendigkeit in einem abgezirkelten Kreise zusammenlaufen. Berg und Thal kommen nicht zusammen, aber wohl die Menschen in Berlin.

Er faßte sich jedoch rasch und that möglichst unbefangen. Daß die Sache nun also endlich aus und zu Ende sei, befriedige ihn. So sei Kathi denn besorgt und aufgehoben. Somit empfehle er sich Frau Lämmers und danke ihr für die vielen Unannehmlichkeiten, deren sie dieser Geschichte halber sich unterzogen.

Zu Hause steckte er sich eine Cigarre an und überließ sich Träumereien, die an seine Vergangenheit anknüpften.

Eugen Wolffert! Ja, den hatte er gekannt. Er dachte an eine Episode seines Jugendlebens zurück, an den Tag seiner Abiturientenprüfung.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Der würdige Pädagoge hatte gesprochen, ordnete seine weiße Kravatte, schob seine Brille zurecht und erglänzte von dem milden Lächeln väterlichen Wohlwollens. Die Mütter, völlig überwältigt von den klassischen Citaten und Rührung, weinten bitterlich. Die Schwestern starrten – nicht nach dem speziellen Bruder, sondern seinen speciellen Collegen. Die Väter versuchten ergriffen auszusehen. Kurz, alles ging so zu, wie es seit grauer Vorzeit bei Abiturientenentlassung herkömmlich ist. Leider schienen die »nicht ganz gewöhnlichen Charaktere,« wie Director Sprengler es so schön ausgedrückt hatte, »der drei Aspiranten des öffentlichen Lebens« am wenigsten sanfteren Gefühlen zugänglich. Der Eine lehnte mit verschränkten Armen (eine Stellung, die er zur äußersten Entrüstung des Pedells und der jüngeren Schulamtscandidaten während der letzten fünf Minuten kaltblütig behauptet hatte) an einem Pfeiler in der Haltung stolzer Gleichgültigkeit. Der Andere blickte dem Lehrer seiner unerfahrenen Jugend, die Augen halb geschlossen, in die Reuer der Beredsamkeit strahlenden Brillen, – mit dem kahlen und mitleidigen Lächeln, das sich bei näherer Besichtigung wie verächtlicher Hohn ausnahm. Der Autokrat der Aula schien übrigens an diese verrätherischen Anzeichen eines schlechten Gemüths durch langjährige Erfahrung gewöhnt.

O, er fühlte es, der absolute Dynast, mit gerechtem Groll: dies war nicht mehr das Lächeln des Trotzes sondern das triumphirende Lächeln des Befreiten vor seinem früheren Kerkermeister.

»Dieser Jüngling nimmt ein schlechtes Ende!« murrte der wohlwollende Seher einem grauhäuptigen Oberlehrer der Anstalt zu – dem wohlbekannten Dr. Müffich, welchem jene von der gelehrten Welt mit solchem Beifall aufgenommene Abhandlung über den Bart des Sokrates gelang. »Recte!« versetzte dieser graue Trojaner. »Die Jugend wird immer verderbter!«

»Und welch schlechte Manieren!« wisperte der schöne Dr. Lucä, welcher einen Essay – beileibe nicht Dissertatio, heute wird die Wissenschaft modern und elegant, Schlafrock wird unschicklich selbst für Metaphysiker, und die schlafmützigste Gründlichkeit wirft sich in Frack und Glacee – über die Superiorität des französischen Geistes verbrochen hat: ein Thema, das ihm bei einem gerechten deutschen Publikum große Sympathien gewann. Lucä war auch mal in Paris gewesen und litt am Größenwahn der Gallomanie.

Der dritte Jüngling entfaltete indessen die Talente eines Satelliten. Erst versuchte er die stolze Nonchalance von Nr. 1, dann die sardonische Grimasse von Nr. 2 nachzuäffen. Schwankend zwischen der Verehrung zwei so illüstrer Vorbilder, gähnte und grinste er in schönem Wechsel, bis er endlich, ermüdet von seinen erfolglosen Anstrengungen, das Kennzeichen seiner wahren Natur entwickelte, nämlich den träumerischen Blick phantastischer Duselei.

Der großartige Ritus der Entlassung war nun zu beendigen durch den ehrenvollen Akt des Händeschüttelns mit dem einstigen Despoten. Der Gleichgültige schüttelte mit jovialer Herablassung, der Träumerische wie ein verlegenes Kind, und der Höhnische mit einer beleidigenden kalten Höflichkeit.

Dann wandte sich der wohlerzogene junge Mann mit einem halb natürlichen, halb affektirten Gähnen zu seinen zwei Freunden, welche mittlerweile ihren Familien eine zarte Eröffnung über einen zu haltenden »Soff« bereitet hatten, den die drei Abiturienten für den Abend verabredet hatten. Für ihn selbst schien keine Familie anwesend. – Sie standen allein in der Vorhalle der Aula. »Eh bien!« rief der Gleichgültige, offenbar die Hauptperson dieses Kleeblatts, »all right? Gürten wir denn unsre Lenden und wandeln in das gelobte Land, wo Bairisch und Kutscher in Strömen fließet! – So leb' denn wohl, Du altes Haus! Herr Pedell, unsre Ueberzieher! Und hier, lieber Herr, ein kleines Souvenir für so viele Mühe!«

»Danke, danke, Herr Wolffert!« kratzfußte der gerührte Herr Baum, drei Thaler bis ins Herz hinein fühlend, »danke Sie vielmals! War mich immer eine große Ehre, einem so seinen jungen Herrn gefällig zu sein! Ich hatte, därf ich woll sagen, stets een Auge auf Ihnen! Viele Mühe – hehe! Des dürfen Sie woll sagen! Schon – alleine –«

»Die Carcer!« lachte der junge Mann fröhlich. »O muß ich denn auch Dich verlassen, Wiege meiner Jugend? Wann war's denn das letzte Mal, lieber Herr Pedell?«

»Na, wissen Sie, mir däucht, als Sie Herrn Schulamtskandidaten Specht so frech – däs will sagen, ich meine – so kavaljeremang traktirten! Die Geschichte mit das Fenster!«

»Ich kann mich wirklich nicht erinnern!« behauptete der Schwerenöther. Er wollte es gern noch einmal hören.

»Nä, däs muß man sagen? Nich erinnern? Vier Stunden Brummen? Däs heißt – ich erinnere mir, gebrummt haben Sie nicht, aller jejrölt haben Sie janz laut ›Steh ich auf finstre Mitternacht‹ und andere jefühlvolle und patriotische Jesänge und – juter Jott! – jejessen haben Sie! Ich erinnere mir, der Career glich Sie einer Eßwaarenhandlung!«

»Bravo! Kapitales Gedächtnis! – He, Leonhart!« Der Höhnische hörte auf diesen Namen. »Willst Du nicht über die Functionen der Erinnerung in den Gehirnen der Masse philosophiren? Hier Herr Baum hat ein tief entwickeltes Stullengedächtniß!«

»Und ein Trinkgeldgedächtniß dazu! Ich habe nie daran gezweifelt: Seine ›Freuden der Erinnerung‹!«

»Na, was däs anbelangt, Herr Leonhart, so gaben Sie mich mindestens nich ville Jelegenheit, dies Jedächtniß zu exerciren!«

Der erboste Pedell war offenbar schon lange von der Insolenz dieses Leonhart gereizt. Er riskirte lieber sein Trinkgeld zu verlieren; vielleicht wußte er, daß er doch keins bekam.

»Unsinn, lieber Herr Baum!« lachte Wolffert. »Er meint's nicht so! Er insultirt Leute manchmal nur, weil es so seine Gewohnheit ist. Keine böse Absicht!« Er versuchte augenscheinlich den Protektor zu spielen. »Und nun, um auf den besagten Hammel zurückzukommen« –

»Sie meenen den Specht? Nu, sehn Sie, die Sache war Sie die: Die Klassenfenster stehen offen. Und Monsieur Specht« – nach drei Thaler Trinkgeld darf man schon was riskiren! – »kommt in die Prima, wo er ja nischt zu suchen hat, und kreischt: ›Fenster zu! Sie da!‹ Und damit meint er Ihnen, Herr Wolffert, insofern als Sie zunächst das Fenster standen, sehn Sie –›Sie da,‹ sagt er ›machen Sie mal die Klappe zu!‹ Däs traf Ihnen. Und Sie sagen, sehen Sie: ›Herr, den ich nicht zu kennen die Ehre habe‹ – däs war frech, entschuldigen Sie mir, aber däs war frech!« (›Frech‹ bedeutet: tapfer und brav, im Schuljargon) »Sie sollen Ihre Lehrer kennen. Sehn Sie! – Also: ›Ehre habe!‹ sagen Sie ›machen Sie lieber selbst Ihre Klappe zu!!‹«

»Das war riesig frech!« jubelte der Träumerische und warf einen Blick tiefen Respekts auf seinen vom Bewußtsein edler »Frechheit« strahlenden Freund.

»›Oder bitten Sie mir erst!‹ sagen Sie. ›Man bittet in anständige Jesellschaft!‹ – Na, das Jesicht von Spechten können Sie sich man selber imaschuiren!«

(Baums klassische Studien bereichern seinen Wortschatz mit Gebilden einer seltsamen Sprache, welche von Gelehrten der Tertia für Chaldäisch erklärt wird, mit Anklängen an das Etruskische.) »Roth, wie ein Puter schreit er: ›Sie impertinenter Flegel!‹ sagt er ›Ihren Namen!‹ – Hehe, impertinenter Flegel! sagt er – entschuldigen Sie mir, aber däs war stark! ›Impertinent‹ ist stark!«

»Wurde noch nie einem Primaner geboten!« bemerkte der Höhnische, mit schmunzelnder Befriedigung, daß man selbst diesem Heros so was bieten konnte!

»Lachen Sie nicht!« rief Wolffert jedoch mit herrischer Stimme, roth vor Zorn. »Ich werde diesen vulgären Burschen später zurecht setzten! Bei Philippi sehen wir uns wieder!«

»Na gut ›Impertinenter Flegel!‹ sagt er also –«

»Sie brauchen es nicht wiederholen!«

»No, nee! Entschuldigen Sie mir – hm! hm! Imper – das war stark! ›Ihren Namen!‹ sagt er. Sagen Sie: ›Mein Name ist Wolffert! Ich bin sonst ein sehr höflicher Mensch! Aber, wenn ich mit Grobianen –‹ hehehe! Das war frech. ›Das wird sich finden!‹ schreit er. Und es fand sich, daß Sie sich im Career fanden! Na, frech war es doch!«

»Danke für diese Erinnerungen einer schönen Seele und besonders Ihre erläuternden Bemerkungen! Adieu, lieber Herr! Muh i denn, muß i denn zum Städtle hinaus und Du mein Schatz bleibst hier? Hat mich sehr gefreut, Ihre langjährige Bekanntschaft gemacht zu haben!«

»Ileichfalls! Ileichfalls, Herr Wolffert! Erhalten Sie mich Ihr schätzbares Wohlwollen! – Ihr Diener, meine Herrn!«

»Empfangen Sie die Segenswünsche eines kindlichen Herzens!« Leonhart klopfte ihm gravitätisch auf die Schultern, »Lieber Baum, wachsen und blühen Sie und mögen wir – wer von uns beiden wünscht's am innigsten – uns nimmer wiedersehn!« Er verschwand ohne Trinkgeld.

»Impfpudtanz!« (Sollte heißen: Impudenz), murmelte der verletzte Kastellan. »Redensarten hat er immer, die man nicht braucht, aber nie einen Dreier!« Der Träumerische gab eine Mark und sagte simpel Adieu. Der Pedell, welcher den Wert jedes Menschen richtig taxirte, dankte ihm kaum. Nur Unverschämtheit flößt den niederen Ständen Achtung ein.

Die Drei schritten rasch, um sich warm zu laufen, Arm in Arm vorwärts.

»Die langweilige Geschichte wäre also endlich vorüber!« hob Leonhart an. »Nun steht noch der Einjährige wie ein Gespenst vor meinem ahnenden Geist. Der Schuljunge ist todt, todt, todt!« Das »todt« tirilirte er mit einem Juchzer in die Luft hinaus.

»Pah, was sind Unteroffiziere und drei Millionen Donnerwetter, multiplizirt mit einer Erbswurst,« fiel der gewaltige Wolffert mit seiner üblichen gezierten Genie-Pupperei ein, »im Vergleich zu den Impertinenzen dieser Schulmeister! – Juchhe, ich bin so hungrig, als wäre heut nicht der feierlichste Moment meines Erdenwallens. Erst gezüchtet und auf die Lebensweide geschickt, wie Hämmel mit Zeugniß Strichen auf dem Rücken! Dann auf die Thierschau geschickt und hartgeritten beim Militär und wieder mit Zeugnissen aus dem Militärdienst entlassen! Dann mit Zeugnissen vor den Altar getrieben und dann selig verstorben und beerdigt – mit Zeugnissen!«

»Sehr gut.« Leonhart lachte laut und bitter auf. »Wieviel Papiergepäck ein Mann auf die Reise über'n Styx mit sich bringt! Wieviel ›Zeugnisse‹ man braucht, um ehrlich sterben zu können!«

Rother schwieg und lauschte nur entzückt auf die krankhaft sprühende Lustigkeit dieser phosphorescirenden Nichtse. Mit der gleichen widerlichen Affektation, an die er heut nur mit verächtlichem Lächeln zurückdenken konnte, feierten sie dann ihr Abschieds-Convivium, wobei natürlich Wolffert wieder als Präses und Matador strahlte. Sie hatten sich dann mit dem Versprechen getrennt, auch im späteren Leben (jeder von ihnen ging vorerst verschiedene Pfade: Wolffert als forscher Corpsstudent nach Heidelberg, Rother auf die Malerakademie nach Düsseldorf, Leonhart nach seiner Heimat in Quedlinburg am Harz) zusammenzuhalten. Wie es gewöhnlich bei solchen Versprechen geht, hielt es keiner. Anfangs hatte man noch ab und zu von einander hören lassen. Bald erlosch jedoch jede Verbindung. – Leonhart und Rother hatten sich erst spät in Berlin wiedergetroffen, beide mittlerweile bekannte Namen in ihrem Fach geworden. Wolffert war für sie ganz verschollen.

Sohn eines sehr reichen Mannes, des Kommerzienrats Wolffert, (Waffenfabrikant und fortschrittlicher Reichstagsabgeordneter), benutzte der bezaubernde Eugen natürlich diese natürlichen Vorteile, um vorerst das Leben zu genießen. Er lebte in Paris, London, Rom und tobte sich aus, ging dann nach Amerika. Nachher warf er sich auf naturwissenschaftliche Studien mit demselben Eifer, wie er früher Rudern, Schwimmen, Fechten, Reiten und ähnlichen Sport cultivirt hatte, und glaubte in der Chemie den Schlüssel zum Welträtsel entdeckt zu haben. Allein, er brachte es auch hierin zu nichts und der himmelstürmende Titane in Glacés, der auf der Schule sich als neuer Mirabeau von den Commilitonen anstaunen ließ, entpuppte sich, wie so viele »Genies« der Flegeljahre, als ein höchst gewöhnlicher Dilettant und Weltbummler. Wer hätte damals prophezeit, daß der blasse süffisante Leonhart ein berühmter Dichter und der träumerisch schüchterne Rother ein sehr bekannter naturalistischer Künstler werden könne! Aber auf den schneidigen eleganten Wolffert – ja, auf den hätte Jeder geschworen, daß etwas Außerordentliches in ihm stecke! Und nun nichts, gar nichts – ein reicher junger Mann, der den Namen seines Vaters führte – der Sohn seines Vaters!

Ach, Rother erinnerte sich mit wehmüthiger Ironie an verschiedene Wunderkinder, in welchen die Herrn Schulmeister neue Säulen der Wissenschaft geahnt hatten, – besonders einen gewissen neuen Mommsen. Ach, dem jungen »Doctor« war er kürzlich begegnet. Wie hatte nicht er selbst den früher bewundert! Und nun mit seinen welt- und leidgeschärften Augen sah er einen kümmerlichen philiströsen Durchschnittsmenschen in dieser jungen Leuchte der Wissenschaft – ein Menschlein, grade gut genug, um in alten Pergamenten zu büffeln und Inschriften mit seiner blöden Brille zu entziffern.

Eugen Wolffert! Eine unaussprechliche Verachtung ergriff ihn bei diesem Namen. Dann keimte allmählich ein düsterer Haß in ihm empor. Ein solcher Halb-Mensch, der nie wahrhaft gelitten, nie wahrhaft gelebt, nie wahrhaft gestrebt, geschweige denn gewirkt – ein solcher Eunuch geschwätziger Pseudo-Bildung kreuzte seinen Weg und nahm ihm, was sein durch das Recht der Liebe und des Leids. Wie er auf der Schule durch seine imponirende Aeußerlichkeit den unscheinbaren bescheidenen Rother niedergedrückt, so sollte er auch jetzt den Sieg davontragen?

II.

Krastinik hatte sich sofort nach seiner Ankunft in Berlin durch Rother verschiedenen Litteraten vorstellen lassen. Einigermaßen über die Verhältnisse aufgeklärt, mit Empfehlungen versehen, machte er sich nun sofort daran, seine Feder-Versuche auszubeuten. Seine Lyrika lagen wohlgeordnet in einer Mappe und er gedachte sich einen Verleger zu sichern, indem er vorerst einige Proben in einem Journal placirte. Er ahnte zwar sehr wohl, daß der deutsche Biedermann grundsätzlich keine Gedichte liest; allein er meinte mit Recht, daß es zum Debut eines ordentlichen Autors gehöre, ein Bändchen Gedichte, womöglich in Maroquin mir Goldschnitt, herauszugeben. Rother hatte ihm einen eben etablirten jungen Mann bezeichnet, der sein väterliches Erbteil auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege zu verputzen dachte und am Laster des Bücherdruckens »mit geschmackvollen und stilvollen Einbänden« (nebst Inhalt als Beilage) litt. Um denselben zu kapern, beschloß also der leidlich schlaue Graf, die Redaktion des »Bunten Allerlei« anzusuchen, deren Chef an der fixen Idee litt, Talente zu entdecken – falls ihm dies nichts kostete und der Autor sich seine Protektion gefallen ließ.

Doctor Gotthold Ephraim Wurmb empfing den Grafen mit verbindlicher Höflichkeit, gemäßigt durch eine gewisse steife Zurückhaltung. Er war ein ziemlich behäbig aussehender Herr von untersetzter Statur und duftete stark nach Moschus. Seine geblähten Nasenflügel zeugten für Aufgeblasenheit und versteckte Brutalität. Seine breiten lüsternen Lippen umspielte eine überlegene Ironie, die auf den tieferen Beobachter als recht gezwungen wirkte. Seine blonden Haare sträubten sich über einer breiten Denkerstirn und sein schmaler blonder Ziegenbart versteckte nur halb ein wohlgenährtes Pfaffenkinn. Unter seiner Brille funkelten ein Paar mausgraue Aeuglein listig in die Welt hinein, die unter Umständen tückisch genug schillern konnten.

Unendlich durchdrungen von der Wichtigkeit seiner Stellung und dem Gewicht seiner Autorität, empfand er doch mit der echten Unterwürfigkeit des Parvenu-Plebejers einen angenehmen Kitzel, einen Grafen von so berühmtem altem Adel bei sich antichambriren zu sehen.

Die Gedichte eines Grafen Krastinik zu veröffentlichen, konnte dem »Bunten Allerlei« in jedem Fall nur als Folie dienen.

»Ja,« sagte er, »geschätzter Graf, Ihre Verse haben mir wohlgefallen, gewiß. Ich erkenne in denselben jene wohlthätige Mischung von Idealismus und Realismus, welche ich vertrete. Lesen Sie darüber die trefflichen, vornehm gehaltenden Artikel eines Heinrich Edelmann und Rafael Haubitz, welche ich öfters bringe.« Der Graf erinnerte sich, etwas davon gelesen zu haben. Es ward ihm von alledem so dumm, als ging ihm ein Mühlrad im Kopfe herum. Es kam ihm vor, als ob hier lauter offene Thüren eingerannt und truisms, wie die Engländer selbstverständliche Trivialitäten nennen, mit hochtrabendem Wortschwall vorgekäut würden. Doch lag dies ja vielleicht an seiner laienhaften schwachen Einsicht. Doctor Wurmb fuhr fort: »Die sogenannten Realisten sind meist bloße Rhetoriker. Hüten Sie sich vor diese, vor allem vor Friedrich Leonhart, den ich früher zum Schaden des Blattes protegirte! Den kennen Sie nicht? Nun, Sie werden ihn noch kennen lernen in seiner ganzen Größe. Der Schrecklichste der Schrecken ist Leonhart in seinem Großenwahn, – Apropos, kennen Sie meine ›Ausgewählten Gedichte?‹« Krastinik mußte verneinen. »Ah! Nun, ich gehöre nicht zu denen, die ihre Werke hausiren tragen. In vornehmer Absonderung von dem großen Haufen der Journalisten verschmähe ich jegliches persönliches Hervordrängen. Doch, ich darf es sagen, Herr Graf, meine Gedichte müssen Sie kennen lernen. Hier liegt grade zufällig ein Prospekt, der in 100000 Exemplaren vom Verleger versandt wird! Hier, lesen Sie ihn! Sie finden darin Urteile jeder Schattirung ... sogar Leonhart hat darüber geschrieben.« Er drückte dem Fremdling ein gelbes Plakat in die Hand. Die horrende Rechnung von achthundert Mark, die der Verleger ihm grade heute über den Prospekt gesandt, zeigte er freilich nicht.

»Eigentlich mißbillige ich auch diese vornehme Art der Reklame, Todfeind jedes Humbugs wie ich bin. Doch, mein Gott, wenn der Verleger durchaus will!«

Krastinik bekräftigte, daß dies gar keine Selbstreklame sei. Im Vergleich dazu erzählte Wurmb einige Schaudergeschichten von dem dreisten Selbstlob eines Leonhart und Consorten.

»Ich sage nochmals, hüten Sie sich vor dem, Herr Graf! Beim dritten Mal, wo Sie mit ihm zusammen sind, gerathen Sie in Zank mit ihm – passen Sie auf! Also Ihre Gedichte drucke ich alsbald. Es ist zwar eigentlich bei mir Grundsatz, die Autoren, ehe Sie Aufnahme im ›Bunten Allerlei‹ finden, etwas zappeln zu lassen,« das Letzte begleitete er mit humoristisch seinsollendem Lachen, »damit dieselben energisch dem Ziel entgegenstreben, des ›Bunten Allerlei‹ und seines erlesenen Mitarbeiter-Kreises würdig zu werden. Es mag Ihnen arrogant scheinen, bester Herr Graf, aber ich versichere Sie, die Leute kommen zu mir mit einer Beharrlichkeit, die mich tief rührt. Keine Ablehnung schreckt sie ab. Man hat eben Vertrauen zu mir, wie denn zwischen mir und meinen Mitarbeitern und dem Publikum ein herzliches Verhältniß besteht. Ich hoffe, mein lieber Herr Graf,« er hatte sich im Verlauf seiner Ansprache ordentlich in einen gnädigen Ton hineingeredet, »daß ich Ihnen die Spalten des ›Bunten Allerlei‹ offen halten werde. Sie sind nun glücklich Mitarbeiter geworden und es wird nur an Ihnen liegen, ein intimes Verhältniß anzubahnen. Wie gesagt, Ihre Gedichte drucke ich ausnahmsweise sofort.« Daß er dies ausnahmsweise nur deshalb that, weil der Name »Graf Krastinik« ihm imponirte, verschwieg er freilich. Man muß die Leute nicht übermüthig machen. Auch als der Graf sich empfahl, verabschiedeten ihn die hochtönenden Worte: »Es mag Ihnen arrogant erscheinen, aber in meiner Schule hat sich schon mancher ungeschliffene Diamant polirt. Unter mir haben sich Kritiker und Dichter, wie Heinrich Edelmann, Rafael Haubitz und so weiter, entwickelt. Selbst Leonhart schlug unter mir einen besonnenen Ton an. Eine unpartheiliche Central-Leitung schwebt gleichsam über den Ereignissen der Kunst und Litteratur in der Redaction des ›Bunten Allerlei‹. Dies schien ein dringendes Bedürfniß in unserer Zeit des Selbstlobs, der Reklame, des eiteln Größenwahns. Ja, es mag Ihnen arrogant erscheinen, mein bester Herr Graf, allein ich bin der geborene Redacteur!! Mit bescheidenem Stolze darf ich mir dies selbst gestehn. Also Adieu, auf Wiedersehn!«

Noch auf der Treppe summte es in Krastiniks Kopf von »Buntem Allerlei« und »geborenem Redacteur« und ähnlichen Chosen. Er hatte es nie in seiner Einfalt für möglich gehalten, daß man sich der Redacteurschaft in einer Weise rühmen könne, als sei dies eigentlich etwas viel Höheres als Dichter- und Künstlerthum. Er wußte noch nicht, daß bei dem Worte »Schriftsteller« den deutschen Biedermann der Menschheit ganzer Jammer anpackt, eine Art horror vacui. Hingegen »Redacteur« – wie anders wirkt dies Zeichen auf ihn ein! Das erinnert so an »feste Anstellung« und andere ersprießliche Dinge. Wie sollten die Redacteure daher in ihres Werthes durchbohrendem Gefühle nicht tief auf die Schreiber herabschauen, deren Manuscripte sie zum Druck befördern!

Also eine neue Spezies – der Redacteur-Größenwahn! dachte Krastinik.

III.

Mitten in seiner Ungewißheit, ob er sich bezwingen oder noch weiter sich um Kathi kümmern solle, erhielt Rother einen langen Brief seines Münchener Freundes, des genialen Genremalers Knorrer. Der Brief lautete:

»Lieber Kamerad!

Ich sitze hier in der Nähe von Meran, in Ulten. – Bis zum Gardasee war ich in den Früh-Frühling Südtirols hineingebummelt. Hei, Früh-Frühling, sanfte Himmelstochter! Wie überall ein neues Wesen aus Allem weht und flüstert! Die Stelle am Bache, wo das Vergißmeinnicht deutungsvoll uns mahnen soll, wird erst geahnt. Froh erstaunt schleicht man hin durchs Brautgeheimniß der Natur.

Verzeih diesen lyrischen Schwulst! Aber hier wird man, hol mich' der Teufel, par ordre de Mufti ein poetischer Duselfritze. 's ist doch hier alles wie sonstwo auch. Das Weibervolk (›aha, da kommt's!‹ hör' ich Dich lachen), das Weibervolk, meine spezielle ägyptische Plage, ist doch hier dasselbe wie überall.

Ein großes Mutterschaf ohne andre Bestimmung, als – –, das dabei von ätherischen Gefühlen blökt! Meine Wirthin geilt mich an. Ihr Mann sei u.s.w. Die Natur ist eine infame Kupplerin. Man gruselt sich heimlich vor der ganzen Schmutzerei. O ich fühle es: Keuschheit allein macht stark. Und diese stumpfsinnige Selbstverständlichkeit, womit diese Cochonnerien sich in Scene setzen! Meine Aufwärterin hier, ein äußerlich anständiges Mädchen, nahm einen Zehn-Gulden-Schein verständnißinnig entgegen und besucht mich Nachts. Nachher gestand sie mir, sie nahe dem Kap der guten Hoffnung, und da komme es auf Einen mehr oder weniger nicht an. Jaja, das sind so unsre kleinen Ehebrüche!

Pfui, Pfui darüber! Und neben uns klebrigen Erdwürmern diese leblose Natur in ihrer vornehmen Ruhe, so keusch, so ernst, so stolz!

Von Mori fuhr ich nach Riva an den Gardasee – wie wurde mir da!

Diese grauen Kalkfelsen, die senkrecht in die wunderbare Bläue des Seespiegels hineinstürzen! Diese Schneefäden, sich von den Bergen, die noch wie spitze Zuckerhüte herübernicken, in die Rebenterrassen hineinschlängelnd! Rings das feine Silbergrau der zierlichen Olivenblätter, das helle Grün der Maulbeerbäume, das frische Weinlaub, der saftig derbe Ton des Citronenbaumes. Und auch unser heißgeliebtes Feigenblatt hängt überall in seiner fünfzackigen Helle, wie ein Panier der Unnatur, eine Selbstironie der Natur. Das Alles von einem durchsichtigen silbrigen Schleier umsponnen, der sich über See, Bergkette, Maisfelder, Villen und Bastionen schlingt. Riva's kleine Festungswerke bilden die letzte Grenzmark Oesterreichs, der Dampfer auf dem See bedeutet schon italienischen Boden.

Ach, man schwelgt in malerischen Motiven. Mein Skizzenbuch füllte sich, ich male jetzt hier in Ulten nach meiner dortigen Studie den Ponale-Fall am Gardasee.

Weiße Gartenmauern. Feurig glühende Rosen. Moosbewachsene Mühlen. Dunkeläugige Bübchen und Mädel in entzückend schmutzigen Röckchen, die uns eine Bastonada auf die Fußsohlen versprechen, falls wir ihnen nicht einen Soldo verabreichen. Mächtige Stier-Fuhrwerke, Schiffe im Hafen, alte bröckelnde Thürme und Thore. All das hart an die Felsen angeklext, deren großartige Linien der Schöpfungsmeister so ›klassisch‹ componirte. Hier und da in die Landschaft ein paar spitze Cypressen mit ihren dunkeln pyramidenförmigen Laubkegeln oder ein Häuschen mit rothem Dach oder ein zerfallenes Gemäuer als ornamentale Sprengsel hineingesetzt. Wirkt wahrhaftig, als habe die Natur hier mal im größten Stil der Renaissance (denk' an den landschaftlichen Hintergrund aus Cadore's Gebirgen in Tizian's Gemälden!) ein monumentales Landschaftsbild kunstvoll angelegt. Welcher pastose Farbenvortrag, wie markig auf die Aether-Leinwand des Horizonts aufgetragen, und dann wieder wie fein mit dünnem Pinselvortrag abgetönt! Aber so gar nicht Impressionalistisch, weiß der Teufel! Dicke Massen Bleiweiß mit dem Spachtel nebeneinander kleben und dann unter einer falsch gewertheten Perspektive der Lichtreflexe mit Finger und Pinsel dran herumschmieren – das verschmäht diese italienische Natur. Sie hat doch einen ganz besonderen antiken Charakter, diese sonnendurchgohrene Italia, einen gewissen altrömischen Faltenwurf ihrer Toga, den ihr Germania mit ihren Tannenzöpfen nicht nachmacht. Man merkt hier überall den Michelangelesken Formensinn, die klare Würde Rafael'scher Composition, die markig satte Farbentiefe der Venetianer.

Sogar die Weiber – – (›ah, da sind sie wieder!‹ lacht mein Freund Eduard, nicht?) – Da sah ich in Trient, eskortirt von einem schlangenäugigen Abbate (o wieviel Grandezza und Weltgeschichtlichkeit steckt in jedem italienischen Pfaffen!) eine fette Wildsau mit lüstern schmatzenden Lippen, aber doch einem großen Zug im Profil. Aber die Tochter – ah, diese ungesuchte Vornehmheit einer alten Race, einer uralten Cultur, im italienischen Typus! Diese versteckte schläfrige Glut, diese schwärmerische Inbrunst, diese göttliche Faulheit und glückliche Beschränktheit in den süßen Augen! – –

Die Tyrolerinnen sind rohe Töpferwaare dagegen. Da hast ein Liedl zum Fidibus-Anstecken!«

Das »goldne Dachl«.

Keusche Margaretha Maultasch,

Landesmutter und Regent,

Deines Innern Lücken stopfte

Nur ein ganzes Regiment.

Neidisch schaut Dein goldnes Dachl

Jede Jungfrau in Tyrol –

Liebevolles Gretchen Maultasch,

Warft, vielleicht nur ein Symbol!

Weißt, man kommt wahrhaftig hier in die Stimmung zur Dichteritis hinein – hier, wo die alten Minnesänger geweilt, wo immer noch ein Geigenstrich, stahlscharf wie von Volker's Fiedelbogen, über die Thäler hinzutönen scheint; hier wo Walter von der Vogelweide geboren, dem seine Heimathstadt Bozen endlich ein Denkmal gesetzt. Ich liebe Bozen. Ich liebe diesen Fruchtmarkt, diesen dunklen Wein in Krystallflaschen (die öl-verpichten Stroh-Amphoras in Wälschland sind freilich einem Künstlerauge anheimelnder), diese Mischung von echtem Risotto und Mehlknödelei – soll heißen: von Italienischem und Tyrolisch-Bajuvarischem. Ich liebe die bogigen schattenkühlen Arkaden der heißen Thalkessel-Stadt. Ich liebe den spitzen Thurm auf dem großen Platz, der sich in den Aether bohrt mit all den Spitzbogen und Schildereien mittelalterlichen Meißels, wenn der Mond an ihm vorbeischifft mit dem Wolkensegel. Wie reist er so schnell! Eben stand er noch links, nun steht er rechts vom Thurm. Wie, Närrchen? Nicht der Mond, wir selber reisen ja. Die Erde kreiste und uns alle riß er fort, der Sturm des tauben Weltgesetzes, während wir sicher zu ruhen wähnen beim Schöppchen Wein! Holla, Kamerad, es ist doch zum – zum metaphysisch werden. So spielt er mit uns Kegel, wahrhaftig, der große Unbekannte, der Welt-Regisseur, der die Coulissen verschiebt und die Aktschlüsse arrangirt und die Stichworte soufflirt!

Die Stichworte! Ja, da komm' ich nun auf eine tolle Geschichte. Den großen Männern gelten solche Rollen-Stichworte zum Auf- und Abtreten doch zumeist. Und da ist nun hier, wo ich heut grad sitze, in Ulten, ein solches Stichwort gefallen. 's ist eine seltsame Geschichte und ich will sie Dir erzählen. Weiß der Henker, die Sache klingt mir so plausibel und der Stoff ist so patent, daß ich in einer Frühlingslaune mal den Pinsel wegwarf und sie Dir ganz schriftstehlerig demonstriren werde. Vielleicht bringst den Krempel irgendwo an in eurem geschäftsmäßigen Berlin, wo man goldne Eier legt und gackert und bei jedem winzigen Ei ein Wesens macht, als müsse ein Phönix herauskriechen. Da hast meine Stümperei – lies sie halt als Kamerad und College als ein ulkiges G'spaß Deines handfesten Knorrer.

Man könnte mein Geschreibsel etwa überschreiben:

Der Jugendtraum eines großen Mannes.

Es war Mai in Ulten, diesem entlegenen Seitenthale Merans, wo der thauige Hauch der grünen Schluchten an die Nordalpen erinnert. Im »Mitterbad« zogen die Gäste ein, um die Glieder in dem vitriolischen Eisenwasser der berühmten Quelle zu erfrischen.

Der Mai und Südtirol – die zwei Dinge gehören zusammen. Die ersten rothen Pfirsichblüten flackern unter den duftwarmen Bogengängen der Gärten auf, die Wiesen gleißen in blendendem Smaragd, und die Schatzkammern König Laurins, den die Sage hier sucht, thun sich in den Nebengewölben auf.

Von allen Höhen donnerten Böllerschüsse, die sich im schläfrigen Echo der Thäler melodisch fortsetzten, aber die Holzhäuser erzittern machten. Glockenklänge durchschwammen die stille, heißbrütende Morgenluft. Von der Kirche her mahnten Orgel und Posaunen, das heute das große Freudenfest der katholische Kirche, Frohnleichnam, sei. Rings auf den sanft Bergpfaden wand sich die Prozession entlang, mit bunten Fahnen und quirlendem Weihrauch.

An der Hecke des Gartens am Wirthshaus des Badedorfes, wo die Rosen in dichtem Flore einander grüßten und Gluthnelken, Schwertlilien und Windrosen farbig im leisen Morgenwinde wogten, schritt ein einsamer Wanderer entlang, abseit dem Festlärm der Prozession.

Die Wolken standen in glänzenden Lichtballen über den Bergen, wo spätgefallener Schnee unzerichmolzen glitzerte. Sie glichen einer Lawine, welche vom türkisblauen Aether sich auf die winzigen Joch herabsenkt. Der Silberdunst, welcher wie Weihrauchdampf in Becken und Schalen zwischen den Abhängen sich gestaut hatte, löste sich. Und über dem bunten Mummenschanz da unten flammte die Hostie der Schöpfung, flammte die Sonne empor.

Die ganze Landschaft funkelte in der verschwenderischen Gluth des Maimorgens wie eine Goldmine. Ein ungeheures Netz von goldigem Dunste und zartem Sonnenstaub, dessen Millionen Maschen millionenfach wie ein Meer von Leuchtkäfern und Glühwürmchen auf- und niederzitterten, spann sich in verwirrendem Strahlentanz über die Matten. Es schien ein wundersamer Feenschleier, den die Natur sich in dieser blumigen Einsamkeit gewoben – als harre sie, in züchtige Bräutlichkeit vermummt, auf ihren Liebsten, den alles belebenden Sonnengott.

Aber von alledem sah der Wanderer nichts. Hastig, wie von innerer Unruhe gepeinigt, schritt er dahin, weit ausholend mit den mächtigen Gliedern, daß die Eidechsen, die hier in Rudeln listig äugelnd ihre zierlichen Schuppen sonnten, nicht rasch genug in die Steinabhänge senkrecht hinuntergleiten und sich im rankenden Epheu verstecken konnten. Nur eine alte Eidechse trotzte selbst dem Stöckchen, das der Wanderer mechanisch schwang, so daß der Kies umherstäubte. Auf einem Felsblock hockend, stierte sie den großen Menschen mit boshafter Ironie an. Errieth er den bemitleidenswerthen Geisteszustand des großmächtigen Thierbruders? Machte sie als erfahrenes, vielgereistes, kühles Schuppenwesen sich über die thörichte Krankheit des menschlichen Säugethiers lustig und verglich damit die stille Seligkeit amphibienhafter Kälte? Ach ja, Eidechsen sind nicht verliebt, sie lieben nichts als den Sonnenschein und nahrhafte Insekten. Eidechsen sind gar glücklich.

Der junge Mann in städtischer Kleidung gehörte sicher nicht zum Ort, er war Curgast. Kein Tiroler, wohl nicht einmal ein Süddeutscher. Seine eckigen und doch strammen Bewegungen ließen auf einen Sprößling unsres Nordens schließen. Seine Gestalt erschien hünenhaft. »Der Held war wohlgewachsen, von Schultern breit und Brüsten, von Beinen war er lang,« gleich dem grimmen Hagen. Und war auch sein blondes Haar keineswegs »gemischt mit einer greisen Farbe,« so konnte man die schöne Bezeichnung »und schrecklich von Gesichte« in gewissem Sinne wohl auf seine Züge deuten. Denn ein seltsam überraschender Ausdruck hartnäckiger Entschlußkraft und unbeugsamer Energie ballte diesen Mund so ehern, blähte die Nüstern der kurzen etwas aufgeworfenen Nase, prägte sich in dem massiven Kinn aus. Aber noch etwas mehr, wie diese Eigenschaften rücksichtsloser Activität, blitzte in dem hellblauen durchdringenden Auge unter buschigen Wimpern hervor. Dieser Blick hatte etwas Fascinirendes, wie überhaupt die ganze Erscheinung des Menschen. Trotz der markigen Festigkeit des Ausdrucks ließ sich jedoch keineswegs ein damit gepaarter träumerisch-weicher Zug verkennen, der auf reich entwickeltes Gemüthsleben und Empfindungsvermögen schließen ließ. Jeder Einsichtige mußte sofort erkennen, daß eine ungewöhnliche Originalnatur in diesem etwavierundzwanzigjährigen Jüngling schon durch die Erscheinung sich anzeige Etwas eminent Männliches sprach aus diesem Auge, das selbst, wenn ungebundener Humor in den Mundwinkeln zuckte, von einer eigenthümlichen meertiefen Schwermuth umdunkelt schien – jener bekannten Melancholie bedeutender Menschen in früher Jugend.

Indem er rastlos die Hecke umkreiste, lugte er fortwährend nach einem Fenster des Wirthshauses hinauf. Umsonst, es blieb verschlossen.

Der Morgen wandelte höher am Himmel empor. Die Mehrzahl der Prozessionswaller kehrte heim durch die Dorfgasse, welche die Mädchen des Zuges mit Blumen bestreut hatten. Ein schwerer Tritt ließ sich vor dem Wirthshaus hören, die Thür ward aufgerissen, zugleich hörte der Horchende einen scharfen Wortwechsel, nachher ein Geräusch, als ob ein Protestierender unsanft hinausgeworfen würde. Dann wurde die Thür zugeschlagen. – Aber es blieb nicht still, sondern eine jammernde Stimme ließ sich in einem halblauten Selbstgespräch vernehmen, indem sie näher und näher zu des Lauschenden Standpunkt vorüberkam. Wie, was? War das nicht der »Badhiesl« aus St. Paukraz, der immer als Botenläufer von Obermals (Meran) der eifrige Vermittler der Liebeskorrespondenz gewesen, welche der junge Norddeutsche mit der schönen Bewohnerin dieses Ultener Wirthshauses, Josefa Holzner, der Wirthstochter, unterhielt? Hören wir!

»'s is a Sünd und a Schand!« jammerte der Hinausgeworfene vor sich hin. »Solch 'an Staatskerl und solch a fein's Madli! Himmelherrgottsakerment, das reut euk (euch) noch. – Ach und gar so gut 'zahlt hat er mich!«

»Badhiesl!« rief der junge Mann hastig. »Was hast?« Dieser aber fuhr erschrocken auf, starrte seinen Auftraggeber einen Augenblick trostlos an und stieß dann krampfhaft hervor:

»Rausg'schmissen hat mi der Alte. Aussi is, aussi!« Und damit macht er als weichmüthiger Naturbursche sich plötzlich auf die Hacken und lief davon.

Tief aufathmend blieb der Norddeutsche vor der Schwelle des Wirthshauses stehen. Er hatte so etwas geahnt. Wäre es möglich, daß der alte Holzner die grenzenlose Ehre, deren man ihn würdigen wollte, verschmähte? Schwiegervater eines preußischen Junkers zu werden – giebt es eine süßere Aussicht?!

Wie lange hatte der junge Junker mit sich selbst gerungen, ehe er zu dem Entschluß kam:

Josefa Holzner, das schönste Mädchen in Ulten, die Perle von Tirol – sie muß sein eigen werden, koste es was es wolle. Vor zwei Jahren hierher verschlagen, hat ihn der goldne Pfeil Amors aus ihren Augen durchbohrt. Und er ist regelmäßig wiedergekommen, Jahr für Jahr – und jetzt weiß er's: Sie oder keine!

»Sie liebt mich wieder, so sollt ich doch denken. Ja, sie thut es. Und ob uns stärkere Schranken trennen, als die Mainlinie leider Süd- und Norddeutsche spaltet – diese Schranken will ich wenigstens brechen, wenn ich auch die Deutschen nicht eins machen kann. Die Kerls alle, meine Nebenbuhler, diese schmachtlappigen Zierbengel von Kurgästen, die um sie herumschwenzeln – ich hab sie alle eingeschüchtert und 'rausjejrault. Holla, ich bin ein Mann! So will ich denn jetzt das letzte und äußerste thun. Meine Geliebte wird Josefa nicht, denn ich liebe sie. Meine Frau soll sie werden, und ob all' meine hochadligen Sippen und Magen sich vor Schreck die Hälse ausrecken! Qu'est que cela, la noblesse?! Was ist's mit dem ›Adel‹. Meine Mutter ist eine Bürgerliche, gar keine ›Geborene‹. Sie nennen mich junkerhaft – weil ich stolz bin, nicht auf meine Junkerei, sondern auf meine Mannheit. Ja, ich bin preußischer Junker, ich ehre den Adel, dessen Glied ich bin – aber der wahre Adel, der steckt im Menschen selbst. Im Volke steckt die wahre Kraft. ›Bildung‹ – ich pfeife was drauf! Ob Josefa französisch parliren und das Klavier stümpern kann, das ist mir gleichgültig. Sie ist schön, sie ist klug, sie ist gut und ich liebe sie. Das ist genug ... Ja, Kampf wird's kosten. Aber ich will ihn schon durchfechten, ich! Ich hab' Schneid' genug, mir allein durchs Leben zu helfen. Habt's a Schneid'! sagen wir hier, wir Tyroler. – Nun so laßt doch seh'n, was der Alte will.«

Er hatte am vorigen Abend an den Alten per Badhiesl geschrieben, als dieser ihm gedroht, man werde nun Josefa einsperren und ihr jeden Umgang mit ihm untersagen, er wolle in allen Ehren um ihre Hand werben. Er bitte hiermit ihm Josefa zur Frau zu geben, und werde dankbar dafür sein! Nach der Frohnleichnamprocession werde er sich die Antwort holen.

Was mußte ihn, einen obskuren märkischen Adligen ohne Vermögen und Konnexionen, aufgewachsen in altererbten nichtigen Vorurtheilen des sogenannten »Standesgefühls« und Kastenunfugs, dieser Entschluß gekostet haben, der vielleicht seine ganze Zukunft zerriß! War er »sentimental« oder »poetisch«? Gott bewahre! Eine eminent praktische Natur. Aber er trug jene elementare Leidenschaft in sich, welche bedeutende Menschen besonders in der »Liebe« zu Thorheiten verleitet, die mittelmäßigen Durchschnittsnaturen stets erspart bleiben. Ob »praktisch« oder »poetisch«, ob Dichterling oder Staatshämorrhoidarius bleibt sich gleich – auf die Bedeutendheit kommt es an. »Sentimental«! Das Genie ist nie sentimental, aber es scheint für kleinlich rechnende Gemüther darum oft etwas Kindlich-Jugendliches und darum Lächerliches auszustrahlen, weil es den Maßstab einer eigenen Wahrheit und Wahrhaftigkeit in sich beschlossen fühlt und daher die Anschauungen der Welt verachtet. Das Genie ist nie lächerlich, denn es ist sein eignes Gesetz. Es stellt einen geistigen Vollblutmenschen andrer Ordnung dar, der das ewig Menschliche in höherer Form und energischer zum Ausdruck bringt, als die andern.

Mit schnellem, entschlossenem Schritt betrat er Schwelle, drückte auf die Klinke der Gaststubenthur und – stand dem alten Holzner gegenüber. Im selben Augenblick verschwand eine weibliche Gestalt auf ein barsches »Geh' ?naus!« durch eine Nebenpforte. Nur eine Sekunde lang traf das glühende Auge des jungen Mannes den in Thränen schwimmenden Blick des Mädchens. Ihre Züge waren klassisch geschnitten – die zartliniirte gebogene Nase, der kleine Mund, die wunderschön geformten Schläfen und Augen. Obwohl die Innsbruckerinnen im ganzen als die schönsten in Tirol gelten, findet man doch die vornehmsten und feinsten Profile in Südtirol. Es ist die alte gothische Nasse. – Aber dies schöne Bild entschwand wie eine Vision, und die rauhe Stimme des alten Wirths, einer sechs Schuh langen Hünengestalt, über gewöhnliches Leibesmaß wie er selber, weckte ihn aus dem minutenlangen süßen Delirium seiner Leidenschaft. Als die beiden sich so gegenüberstanden und wie Kämpen vor dem Zweikampf maßen, schienen sie selbstzwei auferstandene Gothen, Dietrich von Bern und der alte Hildebrand!

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Abgewiesen! Schmählich; für immer!

Einen langen Blick warf er nach den verschlossenen Fenstern im Oberstock empor: dort in der Ecke lag ihr Kämmerlein. Aber nichts regte sich, nichts. Vielleicht schluchzte sie dort auf den Knieen, vielleicht starrte sie verstohlen hinaus, um die geliebte Gestalt, bis sie entschwand, zu verfolgen. Aber sie zeigte sich nicht mehr. War wohl auch besser so. Es konnte ja doch nichts werden! Bauern sind praktisch und Bäuerinnen erst recht. »Gelten's?« Der Vater hat es wohl lange gesagt und erst der Herr Pater – nur gleich und gleich gesellt sich gut ...

In stummem, kochendem Grimm schritt er fürbaß, immer drauf los. Er wollte zur nächsten Stellwagen-Station; seine Sachen waren gepackt, er konnte sie sich nachschicken lassen. Nur fort, fort!

»Einem Ketzer, der vielleicht nicht mal ein Christ sei und an Gott glaube – leichtfertig genug rede er ja dazu – seine Tochter geben?« Das sollte dem alten Holzner einfallen! Nein, nein und dreimal nein! Versuche der Ketzer nicht, sich noch mal Josefa zu nähern – sein feierlicher Fluch solle sie treffen. Er habe mit dem hochwürdigsten Pater Eusebius gesprochen. Na! der sei ganz außer sich gewesen. Eher sterben und verderben solle die Josefa, als in die Krallen des Satans fallen! Und somit Gott befohlen! – Und sie? Nun, sie fügte sich!

Verwünschung auf Verwünschung knirschte der abgewiesene Freier zwischen den fest aufeinander gepreßten Zähnen hervor, als er seinen einsamen Weg fortsetzte,und sein Stöckchen tobte sich an Bäumen, Sträuchern und Blumen in schneidigen Hieben aus. Wer ihn jetzt beobachtet hätte, den würde das Löwenhaft-Wilde, fast Brutale seines Wesens frappirt haben.

Schmetterlinge und schillernde Käfer schwirrten durch die Obstbäume und Farnkräuter, durchs roth-weiß-gelbe Gewimmel der Wiesen und das unabsehbare Wirrsal des allüberfluthenden Grüns.

Citronenfalter flatterten über neu entfalteten Knospen. Ueber dem Vergißmeinnichtblau der Berge zuckten goldige Glorien auf, während jene in rhythmischen Linien wie eine weihevolle Farben-Symphonie zu verschwimmen schienen. Das Wasser sickerte melodisch in seinen launenhaften Windungen. Aus sonnverbranntem Gestrüpp der Halde klingelten die Ziegenglöckchen. Der betäubende Geruch blühender gelb-blumiger Berberizen quoll durch die grünen Ackergassen. Dünne Säulen milchigen Rauches, aus der Thalmulde aufqualmend, zeigten an, wo in breitem Bogen Wasserfälle geschmeidig über rothe Porphyrhänge rollen, sich in der Luft überschlagend und mit metallischem Aufdröhnen millionenfach wie in Elfenbeinspäne zersplitternd. Der endlose schnellende Bühel hohen Grases schien die unermeßliche Maikraft, den Keimmonat, zu versinnbildlichen. Es war, als ob Wesen und Dinge in stiller Seligkeit verschmölzen.

Aber ein nahendes Gewitter tummelte seine kupferrothen Wolken um die jähen Spitzen, welche ihren Kegelschatten tiefer senkten. Ueber den weinbestandenen Terassen des schrägen Gebirges, über dem Kirchlein, zu dem sich einzeln Hütte an Hütte hinanzog – an die Bergwand angeklext und vom Wetterschein jetzt geisterhaft bemalt – thürmte sich, starr und blaß wie der Tod, die eisbekrustete zerrissene Dolomitenkette empor. So starrt die Leidenschaft, eine Medusa, in den Frieden der Gotteswelt hinein.

Da ließ sich der Ruf eines Kuckucks auf dem lautlosen Nadelgehölz vernehmen, die lautlosen Einsiedler-Monologe der ruhenden Natur unterbrechend und störend.

»Verfluchter Kuckuck!« rief der finstre Wanderer, indem er seine verschmähte Freierschaft mit der symbolischen Bedeutung des Vogelrufes unwillkürlich in Verbindung setzte.

Aber der Kuckuck ließ sich nicht das Wort verbieten; er schlug fort. Da huschte auf einmal, wie ein plötzlicher Sonnenstrahl, ein schalkhaftes Zucken frisch erwachenden Humors um den ehernen Mund, und während er sich reckend mit dem Arm eine Bewegung machte, als streife er etwas Lästiges ab, kam es plötzlich über seine Lippen: »Hol's der Kuckuck, ich bleibe doch der Otto Bismarck!« Basta.

So geschehen anno domini eintausendachthundertneununddreißig. Josefa heirathete einen biedern, katholischen Schreiber, Alois Schmid, in Salzburg. Dort liegt sie begraben.

Na, was sagst dazu? Wär's nicht hübsch, wenn's so gewesen wär'?

Als ich die Anecdote niederschrieb, stützte ich mich auf völlig genügende Berechtigung dazu. Denn nicht nur ist die Affaire in dieser Form in ganz Tirol bekannt, nicht nur wird sie in Meran jedem Fremden erzählt, sondern sie ist in alle möglichen Bücher über Meran und Tirol übergegangen. Eine Autorität wie Noë erzählt sie in seinem »Frühling in Meran« als absolut feststehend. Baillie Grohmann, der zuverlässige Kenner Tirols und Autor von »Tyrol and the Tyrolese« hat in seinen »Gaddings with a primitive people« (1879) die Sache mit äußerster Breite behandelt, sogar in einer Extraanmerkung versichert, er habe alle Details persönlich untersucht und könne sich dafür verbürgen. Es sei nicht die geringste romantische Zuthat dabei. Ich war also vollauf berechtigt, diese Geschichte, deren ›Entdecker‹ ich ja keineswegs bin, in dieser Form niederzuschreiben, und begehe damit nicht die geringste Indiscretion.

Nun muß ich aber zur Steuer der Wahrheit erklären, daß von Eingeborenen, die genau unterrichtet sind, mir seither feierlich versichert wurde, es sei ein andrer Herr von Bismarck gewesen. Obwohl mir dies psychologisch nicht plausibel scheint, indem ich annehme, nur eine geniale Natur sei solcher liebenswürdigen Jugendtollheit fähig, so will ich also hiermit einfach die Frage offen halten.

Aber wahrhaftig, es ist doch immer die alte Geschichte: Wo ist die Katz, wo steckt die Frau! Kennst Du das famose Tagebuch des Nürnberger Scharfrichters aus dem 14. Jahrhundert? Darin wird erzählt, wie ein Freudenmädchen als ewig rückfällig durch Erregung öffentlichen Aergernisses endlich zum Tode verurtheilt wurde, sintemal sie sich in unanständiger Stellung auf der Straße entblößet und dazu geschrieen habe: ›Hui, ..., friß den Mann!!‹ Friß den Mann! welche Welt liegt in diesem erotischen Lakonismus. Ja, hui! Siehst Du sie nicht ordentlich schleckern, dem Mann das Mark aus den Knochen saugen, he? Ja, an der Schürze hängt, zur Schürze drängt doch alles, o wir Armen! wie Papa Altmeister so schön irgendwo singt.

Na lebwohl! Das ist der längste Brief, den ich jemals schrieb, sacré nom de dieu! Ich fühle halt das freundschaftliche Bedürfniß, hier aus meiner olympischen Einsamkeit von den Inseln der Seligen her, als glücklicher Lotosesser Deiner Berliner Nervensaft-Vergeudung ein Maulvoll frischer Bergluft zu schicken. A rivederci! Dein

Knorrer der Keusche.«

Dies Schreiben wirkte auf Rother giftig aufregend, wie grünlich schäumender Absynth. Das Grünen und Schäumen einer hoffnungsüppigen Lebenslust schmeckte darin zugleich nach bitterer pessimistischer Hefe. Man mußte den Schreiber des Briefes kennen, um den Inhalt zu würdigen.

Knorrer war eine prächtige Repräsentativfigur altbajuvarischen Kraftadelthums. Seine naturalistisch derben Kneipscenen hatten durch den virtuosen flotten Strich der Vortragsmanier Schule gemacht. Er hatte in Paris unter Courbet und Couture studirt und aus deren Ateliers die markige Frische seiner Palette mitgenommen. Weniger sein eigentliches Kunstvermögen – denn dies verkümmerte ein wenig neben dem agitatorischen Eifer seiner schulemachenden Reformbestrebungen –, als die ganze gesunde Verve seiner künstlerischen Persönlichkeit, gab ihm eine führende Stellung in der naturalistischen Strömung der neudeutschen Malerei, zu der auch Rother sich zählte. Wie es bei den meisten Originalmenschen der Fall zu sein pflegt, wohnten zwei Seelen in seiner Brust. Die eine gehörte einem Denker und Agitator, der mit wahrem sittlichem Eifer dem echten Ideal der Wahrheit anhing und wider conventionelle Verlogenheit einen tapferen Kreuzzug führte. Die andre hingegen gehörte einem Genüßling, dem seine Laune und Leidenschaft stets als oberstes Gesetz gegolten. Hier nun kam ein Umstand hinzu, der ihn erst recht in Zwiespalt mit seinem besseren Selbst brachte. Er galt nämlich mit Recht als einer der schönsten Männer Deutschlands. Und zwar nicht von jener charakterlosen verwaschenen Schönheit des Dandys konnte die Rede sein, die so wohlfeil wie Brombeeren. Sondern sein mächtiger Kopf mit den krausen trotzigen Locken, der breitgewölbten Stirn, dem kühnen Knebelbart zeigte große wuchtige Formen. Allerdings entsprach seinem Stiernacken ein düstrer Stierblick und rücksichtslose Sinnlichkeit lag in seinem kräftigen Ausdruck. Auch seine Gladiator-Gestalt wie sein Gesicht verloren mit den Jahren (er stand im besten Mannesalter) durch constante Verfettung an Ebenmaß, wenn er auch immer noch in seiner burschikosen Jovialität eine imponirende Erscheinung blieb. Diesen Vorzug hatte er stets an sich gekannt und geschätzt.

Allmählich bildete sich bei ihm der Wahn aus, weil so viele sinnliche Weiber seinem Mannesthum nicht widerstehen konnten, daß überhaupt beim Weibe nichts als die physische Begier der sogenannten Liebe mitspiele. Seine gänzliche Verachtung des schönen Geschlechts verrieth zwar einerseits den Größenwahn des »schönen Mannes« (diese bekannte Spezialität), andrerseits aber seinen verkappten Idealismus. Stolz auf seinen Geist und seine psychische Genialität, auch gleich stark zum geistigen Kampf wie zur Sinnlichkeit hingezogen, verachtete er seine eigene Unwiderstehlichkeit dem Weibe gegenüber, das in ihm nur eine Wollustmaschine suchte, das seine Schenkel und keineswegs sein Gehirn anbetete. Seine Eitelkeit wie sein berechtigter Mannesstolz, der dies durchschaute, fühlten sich tief davon verletzt. In ihm brannte dabei eine seltsame Scham, als ob auch die Jungfräulichkeit seines Innern durch diese Erotik plump in den Koth gezerrt sei. So litt er an einem ewigen seelischen Katzenjammer, den er nicht Wort haben wollte und den Niemand erkannte. Der gefallene Engel, der idealistische Heldenmensch rumorte in ihm, den der Sinnendienst so lange unterjocht hatte, bis ihm zum letzten Aufraffen fast keine Zeit mehr blieb. So erregte er denn ironisches Gelächter, wenn er in trotzigen Kampfreden vor allem die Keuschheit als Grundbedingung des echten Künstlerthums empfahl – ohne daß man erwog, wie er, der von einer Liebelei in die andern taumelte, ja am besten den Werth eines vermißten Gutes ermessen konnte.

Allein, auf der andern Seite wollte er wieder sein tiefes seelisches Unglück, seinen bitteren Sündenfall d.h. die Abtrünnigkeit von idealeren Zielen, zu denen er bestimmt schien, nicht Wort haben. Dann strich er geflissentlich die körperliche Tüchtigkeit heraus, verstieg sich zu Albernheiten, wie: Ihm seien Macher wie Meissonier und Sardon ein Ekel, schon weil diese persönlich kleine mickrige schwächliche Menschen sein, während ein Kerl wie Zola ihm schon durch seine Metzger-Figur imponire. Und dergleichen Dinge mehr, die eine feine sensitive Natur wie Rother mit staunender Verwunderung anhörte, ohne sich in seiner schwächlichen Anschmiegsamkeit zur Geringschätzung solcher Unreife erheben zu können. Auf ihn übte aber alles das einen verderblichen Einfluß aus. Wenn man einem Menschen unaufhörlich die Sinnlichkeit der Erotik als Höchstes preist und selbst, indem man darüber schimpft, diese Episode des Manneslebens als das eigentliche Epos und das einzig Lebenswerthe feiert, so muß das endlich auch dessen eigene Weltanschauung beeinflussen.

War es daher zu verwundern, daß Rother, nachdem er das saftige geistfunkelnde Schreiben Knorrers gründlich verdaut hatte, einen Anfall von Liebessehnsucht erhielt, der einen totalen Rückfall des Reconvalescenten in seine alte Krankheit bedeutete? Die Erzählung von der angeblichen Bismarck'schen Liebesaventüre umnebelte vollends seine geblendeten Augen. Ah, also selbst die großen Männer der That beugten sich der allmächtigen Venus. Um wieviel mehr also die Künstlernaturen. Rother's Größenwahn erwachte wieder: Sein besonderes Liebessiechthum schien ihm gleichsam ein besonderes Zeichen seines Ingeniums. Die aufreizenden erotischen Phrasen Knorrers fielen so auf fruchtbaren Boden und bald wucherte das Unkraut empor, daß es Rother über den Kopf stieg. Grade Kathi's anständiger Brief und die Andeutungen, die ihm Frau Lämmers gemacht, entfachten aufs neue in ihm die alte Liebe. Sollte er das herrliche Geschöpf nun also wirklich den Klauen eines solchen verlebten Kohlkopfs überlassen? So sollte das enden? Der alte Irrwahn betäubte ihn aufs neue. Trotz seiner bitteren Erfahrungen damit, construirte er sich Kathi wiederum als eine edle ungewöhnliche Natur zurecht. War es nicht gradezu seine Ritterpflicht, das arme unglückliche Wesen zu retten?

Zudem, war er selbst nicht, mitschuldig an allem? Hätte er damals nicht nach Hamburg so unzarte Beleidigungsbriefe geschrieben, so wäre gewiß der ganze Krach und Skandal mit all seinen Consequenzen verhütet worden.

Als sich Rother bis zu diesem Punkt hineingeredet hatte, hielt es ihn nicht länger und er suchte unverzüglich nach seinem Koffer. Was hatte er denn eigentlich auch zu versäumen und was interessirte ihn sonst auf der Welt? Er war ja als Künstler frei und ungebunden genug, um nicht an die Scholle gefesselt zu bleiben. Direkten Geldmangel kannte er nicht. Sein angefangenes Bild konnte er ruhig auf der Staffelei trocknen lassen. Eine Studienreise nach dem Norden (falls die Vermuthung von Frau Lämmers richtig) konnte ihm nur gut thun. So mochte er das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden. Die Hauptsache war vorerst, in Hamburg das entflohene Wild aufzuspüren.

Mit der trotzigen Afterstärke weichlicher Naturen setzte er mit aller Hast seinen Vorsatz ins Werk. Für Krastinik hatte er gethan, was in seinen Kräften stand. Dieser fand also richtig in dem jungen Verleger, der sein väterliches Erbtheil standesgemäß zu verputzen wünschte, den bekannten Dummen, der ihn druckte, zumal die Gedichtproben Krastiniks im »Bunten Allerlei« von dem großen Wurmb mit feierlicher Leutseligkeit in einer Randglosse angepriesen waren. Wurmb that sich nicht wenig darauf zu Gute, »dieses vielversprechende Talent in seiner Schule heranzuziehn und ihm stets die Spalten des ›Bunten Allerlei‹ offen zu halten.«

Als nun gar Graf Krastinik mit dem jungen Gentleman-Verleger mehrmals Skat spielte und einmal mit demselben spazieren ritt, auch die sehr kostspielige Maitresse desselben mit Kennerblicken lobte – verschwor sich der junge Mann, seinen gräflichen Freund zu »machen«. Demgemäß druckte er dessen sämmtliche Gedichte und drei Dramen-Fragmente dazu in unmäßig opulenter Ausstattung mit Schwabacher Lettern auf Velinpapier mit gothischen Initialen und ließ ganz besondere Einbanddecken zeichnen. Sodann inserirte er in allen Berliner Blättern diese herrlichen Einbände, im Reklame-Stil der »Goldnen hundertzehn«. Das Inserat fing an:

»Ein neuer großer Dichter

erstand

unstreitig

in Xaver Graf Krastinik.«

Man empfahl darin diese Dichtungen dem Busen sämmtlicher deutschen Jungfrauen. Das zündete. Dreizehn Familienblätter (– zuerst von allen die »Gartenlaube«, durch den Tod unsrer unvergeßlichen Marlitt noch in herbe Wittwentrauer versunken –) meldeten sich dem »hochgeborenen Herrn Grafen«. Dieser aber setzte sich hin und begründete in einem langen Schreiben an die Kommandantur seiner Kavalleriedivision, sowie in einem Brief an den ihm befreundeten Chef seines Regiments, sein Gesuch: fürs erste auf ein bis zwei Jahre zur Disposition gestellt zu werden. Er müsse sich seiner angegriffenen Gesundheit und gewissen litterarischen Arbeiten widmen. Das Gesuch konnte ihm nicht abgeschlagen werden. Uebrigens empfing er die Erfüllung seines Wunsches schon mehrere Wochen hernach.

Rother hatte also jetzt keinerlei Verpflichtung mehr gegen den Freund, den er auf so seltsame Weise erworben und dem er mit auf die Füße geholfen. Dieser war auf dem besten Wege, ein gemachter Mann zu werden, insofern es sich um Befriedigung seines litterarischen Ehrgeizes handelte. Rother hinterließ daher nur einen kurzen Brief an Krastinik, worin er um Verzeihung bat, daß eine Geschäftssache ihn zu plötzlicher Abreise zwinge. Er werde bald wieder zurückkehren. Da Krastinik nicht das geringste Interesse an Kathi's Wohl und Wehe bekundete, sondern nur Neugierde, wie sich Rother aus der Affaire wickeln werde, so theilte dieser ihm nur ganz allgemein mit, daß die Sache sich in Wohlgefallen aufgelöst habe. »Aha, ich wußt' es ja! Wer droht, thut nie 'was!« Damit hatte sich der gute Freund beruhigt. Auch war Rother viel zu vorsichtig, ihm etwa nähere Details z.B. die Wohnung der Frau Lämmers mitzutheilen. Derlei heimliche Liebesaffairen bilden einen Hang zum Versteckenspielen und steten Argwohn aus.

– Zum zweiten Mal binnen so kurzer Frist landete Rother's lecker Kahn an der Elbemündung.

Siebentes Buch
I.

Krastinik dichtete nun frisch drauf los. Als höchstes Ideal schwebte ihm die schöne Form, das virtuose Schönreden, vor. Hier waltete ein psychologisches Gesetz ob. Denn, obschon durch innere Stürme hin-und hergerüttelt, verleugnete der Graf natürlich nie den früheren Offizier und die hocharistokratische Erbschaft des östreichischen Feudalgeistes. Der Aristokrat pflegt wie im Leben, so auch in der Kunst die Form. Seinen Standesgenossen, den Pseudo-Dichter Graf Platen bewunderte der edle Lord über Alles. So drechselte er denn an seiner markigen und bilderreichen Sprache, die wie Alles bei ihm auf den Effekt berechnet war, meist so lange herum, bis sie schwulstig und gequält wirkte.

Es gehört zum guten Ton eines Mannes der guten Gesellschaft, daß er Jedermann möglichst viel Verbindliches sage. Man muß sich beliebt zu machen wissen. Krastinik bewährte auch hierin den besten Ton. Er machte jedem Litteraten den Hof und sprach über Jeden gut – aus Klugheit, wobei er natürlich Jedem verschwieg, daß er hinter seinen Rücken ebenso intim mit dessen Todfeinden verkehre. Seine angeborenen Gentleman Manieren fielen unter den Litteratenplebejern wohlthätig auf. Er übervornehmte noch die »vornehmsten« Frack-Geister, den schönen Ernst Kabel und den noch schöneren Emil Buttermann (den Leib-Romanzier der »Berliner Tagesstimme« als Protegé der Frau Dr. Bergmann, Chef-Redactrice dieses Weltblattes). So führte Krastinik ordentlich die bisher dort unbekannte Gattung des Offiziers und Junkers typisch in die Dichtergilde ein, ohne indeß mit systematischem Ernst diese Theil-Aufgabe zu verfolgen, die ihm vielleicht eine feste Stellung in der Litteratur gesichert hätte.

Eine besondere Zuneigung bewies dem hochgeborenen Herrn Grafen kein Geringerer, als Heinrich Edelmann. Diesen Messias der Poesie, welcher alle drei Jahre ein lyrisches Gedichtchen als epochemachende Missethat verübte, verehrte Alldeutschland als Leiter eines umfangreichen Pump-Systems. Auch die Mildthätigkeit edler Freundinnen hinter den Coulissen wirkte in wohlthätigem Halbdunkel. Seine berühmteste Leistung bildete das lyrisch-melodramatisch-symphonische Opus »Paris«, worin die Belagerung von Paris und die Kaiserproklamation mit gegenseitig auftretenden Massen-Chören in zwölftausend griechischen Tetrametern besungen wurden.

Sein Aeußeres schien unheilverkündend: Er glich einem verhungerten Aasgeier. Seine Raubvogelnase, seine blutlosen schmalen Lippen, sein mangelndes Kinn, sein lauernder Blick bildeten für den Physiognomiker ein anmuthiges Ensemble, welches durch seine sauber elegante Kleidung, sowie sein liebenswürdiges und doch reservirtes Wesen, in welchem er den sinnenden Idealisten herauszubeißen strebte, nicht verdeckt werden konnte. Seine Lieblingsstellung, in welcher boshafte Aufpasser wie Schmoller und Leonhart ihn häufig mimisch abkonterfeiten, entpuppte unbewußten Selbst-Verrath. Er saß dann nämlich fromm und vornehm als Jesuitenpater am Tisch, nur hier und da ein salbungsvolles Wörtlein mit seiner stillen sanften Stimme lispelnd, und blickte die Redenden mit verklärtem Schief-Blick an, während sein Denkerhaupt halb zur Seite hing und seine Hand unterm Tisch seinen gold-umränderten Kneifer putzte. Man mußte bei dieser unterm Tisch hantirenden Hand unwillkürlich an »Mogeln« beim Kartenspiel denken.

Eigentlich war er nur ein halber Mann, eine Hälfte, wie ein Siamesischer Zwilling, der mit einem andern Wesen verwachsen. Seine schönere Hälfte stellte nämlich ein Herr Rafael Haubitz vor, mit welchem zusammen er eine Serie kritischer Broschüren plante, unter dem Titel: »Die idealen Waffenbrüder.« Darin wurde ein süddeutscher Graf, der außer mehreren Millionen auch ein didaktisches Talent besaß, als Genie gepriesen; andere Leute hingegen, deren Hand zu fest am Federhalter klebte, um »offen« zu sein, mit gebührender Verachtung bestraft. Man hätte diese Waffenbrüder sozusagen zu Fechtmeistern promoviren können, wegen unerschöpflichen Reichthums an allerlei Finten.

So »fochten« sie denn rüstig weiter als wackre Handwerksburschen der parnassischen Heerstraße und erwarben sich den ehrlich verdienten Beinamen: »Die ungeschundenen Raubritter.«

Wie gesagt, begrüßte Edelmann einen neuen Priester des Idealismus mit wahrer Inbrunst und bedurfte nach dem Titel »Graf« keines Beweises mehr für die Bedeutendheit desselben. Er sah's ihm gleichsam an der Tasche an.

Da Krastinik den Wunsch aussprach, auch den Musagetes Rafael kennen zu lernen, so wurde verabredet, daß ihn Edelmann in den berühmten Verein » Drauf« führen solle, wo als Vorsitzender und Vice-Vorsitzender die beiden idealen Waffenbrüder fungirten.

So sah denn der Neophyt der litterarischen Mysterien den Messias der Zukunftspoesie dort leibhaftig.

Dieser Gott erkor als sterbliche Hülle die Gestalt eines bleichen Jünglings mit langwallender schwarzer Mähne, Spitzbärtchen und Kneifer. Er litt an permanentem Stockschnupfen und stotterte ein wenig; dabei lag im Tonfall seiner Stimme eine undefinirbare Arroganz. Sein Roman »Die neuen Riesen« in sechs Bänden befand sich seit beiläufig sechs Jahren unter der Presse und tauchte regelmäßig als mystischer Lockvogel auf, wenn ein neuer bedeutsamer Pump der beiden Waffenbrüder inscenirt werden sollte. Sie versandten dann neben den Privatbriefen, welche das Erscheinen dieses Meisterwerks nebst dem Dantesken Epos »Lied der Völkermuse« (»Mölkerfusel« hieß dies ungeborene Riesenwerk im Privatjargon der litterarischen Kreise) ankündigten, noch ein Plakat:

»Demnächst erscheint:

Kritische Schneidemühle.

Herausgegeben von Heinrich Edelmann und

Rafael Haubitz.«

Zugleich erbaten sie dabei Einsendung sämmtlicher Werke des Autors »behufs eingehender Würdigung« sowie von Manuscripten aus der »geschätzten Feder« des erkorenen Opfers. Besonders das Manuscript-Anhäufen gehörte in das System der Waffenbrüder als eine Art Strebepfeiler des Ganzen. Sie wußten, daß der Autor um sein Manuscript bangt, wie eine Henne um ihr Küchlein, und gerne ein Darlehn sendet, um wenigstens sein »verlegtes« Manuscript zurückzukaufen.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Rafael empfing den Grafen sehr gnädig und beehrte ihn mit huldvollem Handdruck, als Heinrich ihm mit verschwimmenden Augen, indem er gerührt seinen Kneifer putzte, einen neuen edeln Kämpen des Idealismus vorstellte. »Jaja, bewahren wir uns den I-I–Idealismus!« geruhte er zu stottern »darin liegt Alles. Die Phi–Philister haben den idealen Sinn schmählich ver–ä–loren. Nicht aber wir, die deutsche Ju–Jugend. – Sehen Sie, lieber Krastinik – Sie nennen mich doch einfach Haubitz? ich bitte darum – sehn Sie unsern Verein ›Drauf‹! Kommen Sie häufig her! Aus ihm wird dereinst der große Dichter der Zeit hervorgehn. Wir beginnen damit, unsre Begriffe zu läutern, ehe das Schaffen anhebt.«

Das sei sehr löblich, bekräftigte Krastinik trocken. Mittlerweile sah er sich die Garde du Corps an, die, um die beiden Reform-Messiasse gepaart, daselbst tagte. »Drauf«! Wahrhaftig, das schienen ordentliche Draufgänger, unter Umständen auch Durchgänger. Manche sahen so pfiffig aus, daß man ihnen den geriebensten Pump-Idealismus schon zutrauen mochte. Andre wieder bewahrten noch ein kindliches Wesen und schienen vom Rasirmesser der Erfahrung noch verschont, obschon sie krampfhaft ihr keimendes Bärtchen zupften. Man hatte da auch einen gewissen Victor Hugo, oder Carlyle redivivus, einen Sagus des Nordens mit völlig verwildertem Urwald-Bart und titanischem Haarwuchs. Sein breiter Turner-Hemdkragen war noch unübertüncht von Europens Höflichkeit und schien bei der letzten Sintfluth zum letzten Mal in der Wäsche gewesen. Übrigens trug er bei der größten Kälte einen Turneranzug aus Drillich; darunter freilich Jägersches Woll-Regime, so daß es ihm nichts schaden konnte. Doch brauchte das ja Niemand zu wissen: die wunderbare Abhärtung des Sagus bildete einen Grundpfeiler seines Ansehens bei den Gläubigen »Jungdeutschlands«. Diese Litteraturstudenten verehrten diesen würdigen Meergreis, Ambrosius Sagusch (man leitet hieraus einfach »Sagus« ab), wie einen heiligen Vater. Wenn er so mit Pfingstapostelzungen zu säuren anhob, verehrte man ehrfürchtig eine neue Apokalypse, eine Offenbarung Johanni in ihm. »Im Anfang war das Wort und das Wort ward Fleisch« – was Wunder also, daß er während seiner Wortspendung mit würdevollem Bedacht diverse Fleischgerichte zu sich nehmen mußte, deren Werth in irdischem Mammon nachher auf gemeinschaftliche Kosten seiner Verehrer festgestellt wurde.

Kurz, Ambrosius Sagusch blieb eine naive kindliche Seele und schnorrte grundsätzlich gleich beim ersten Mal. Hierin war er Doctor Heinrich Edelmann überlegen und wich von dessen Spinnen-System beträchtlich ab, welches langsam, aber sicher seine Fliegen umgarnte. Obschon daher Jeder von Beiden über den Andern offiziell urtheilt, derselbe sei »ein vornehmer idealer Geist«, herrschte doch eine verkniffene Animosität zwischen dem Sagus und den verbrüderten Weihepriestern, welche von kleinlichen Seelen vielleicht als Geschäftsneid ausgelegt werden konnte. »Ah, lieber Graf, bist Du da?!« rief Sagusch, indem er den Grafen zärtlich umarmte, der darüber etwas betroffen schien. »Ich habe schon viel von Dir gehört. Deutschen Gruß und Handschlag! Warum sind wir alle so kalt? Warum fliegst Du nicht in meine Arme?«

»Ich danke Ihnen, werther Herr ...« stammelte der Graf erstaunt. Aber da grollte ein gewisser Unmuth in des Sagus Seherstimme, als er, die Jupiterlocken schüttelnd, losknurrte: »Neune mich doch Du!«

Krastinik verbeugte sich verlegen, wurde aber eiligst von einigen Litteraturstudenten über die ihm zu Theil gewordene Ehre belehrt. Der Sagus, welcher die Wurzeln alles Übels zugleich auszurotten wußte, verpönte nämlich das neumodische »Sie«. Dafür sagte er zu Frauen »Ihr,« zu jungen Leuten »Er« und zu auserkorenen Schlachtopfern »Du«. Man fand das riesig originell, wie es einem Riesengeiste geziemt, dessen Roman-Ungethüm »Die Strohmer« an die schönsten Dunkelheiten des seligen Mystikers Hamann gemahnte.

Der löbliche Verein »Drauf« schien vollzählig versammelt und die Versammlung konnte nun losgehn. »Wer ist denn das da?« fragte Krastinik plötzlich, »Der da am andern Ende mit dem düstern Blick und der ausgearbeiteten Stirn, der so lebhaft plaudert?«

»Ach, das – ist Leonhart!« machte Edelmann gedehnt. »Wie der sich nur heut herverirrt hat! Er war doch noch niemals hier.«

»Ja, er hat einen jungen Frischling mitgebracht, der hier eingeführt sein wollte. Wieder mal Einer von seinen Protegés. Wie lange wird's dauern! Sie müssen wissen, lieber Freund,« wandte sich Haubitz an den Grafen, »dieser Leonhart – ein Bramarbas und Aufspieler ohne alle und jede Begabung – hängt in seiner trostlosen Unreife eben stets von den Anregungen ab, die ihm von Andern zugetragen werden. Was er heut feierlich in den Himmel hebt, erklärt er morgen für den ungeheuerlichsten Unsinn. Heut entdeckt er ein Genie, morgen ist's ein dummer Junge.«

»Ja, so ist's!« versicherte Edelmann mit einem wohlwollenden Mitleidsseufzer »Der arme Leonhart! Da hat er jüngst ein Drama geschrieben ›Nemesis‹ – da hat ihn aber die Nemesis gehörig ereilt. Ein trauriges Opus à la Grabbe. Er ist ...«

»Ah, meine theuren Herrn Waffenbrüder!« unterbrach ihn eine tiefe Stimme von eigenthümlich vibrirendem Wohlklang. »Ich erlaube mir hier, Ihnen einen Collegen vorzustellen, der Ihre Bekanntschaft zu cultiviren wünscht: Herr von Lämmerschreyer.«

Leonhart war. herangetreten und präsentirte dabei einen jungen Menschen, der sich das Air eines Offiziers in Civil gab und sehr elegante Verbeugungen cultivirte. Aus seiner Uhrkette baumelten eine Reihe Medaillons und sein hellgrauer Anzug wurde durch einen weißen Hut vorteilhaft gekrönt. Ein glänzender Wirbelscheitel legitimirte ihn als Inhaber eines wandelnden Bürstenladens. Seine griechische Nase und seine niedrige Stirn liefen ineinander über, seilt kleiner lüsterner Mund athmete brutale Geilheit, seine Schlangenäuglein zwinkerten verschmitzt frech, halb von dem breiten Augenlid bedeckt wie Schweinsaugen. Seine aufgedunsenen Backen und sein stattlicher Leibesumfang befähigten ihn zum Hamletschmerz, obschon er grade keinen Vater zu rächen hatte. Doch »fett und kurz von Athem sein« ist ja das erste Erforderniß zum melancholischen Dänenprinzen – das Uebrige findet sich.

»Ah, Ihre ›Oden am Strome der Zeit‹ empfing ich!« Der immer herablassende Heinrich schüttelte dem neuen Bruder in Apollo innig die Hand. »Werde mich demnächst mit Kraft und Nachdruck darüber äußern!« Sobald er diese Lieblingsphrase losließ, wußten Eingeweihte, daß er keine Zeile unter zwanzig Mark Pump-Gebühren schreiben werde – nie ohne dieses.

»Jaja, er bezeugt darin sich und seinen näheren Freunden seine und ihre Erhabenheit, wuchtig aufstampfend in Pindarischen Metren!« lachte Leonhart. »Wie heißt doch gleich die Eingangs-Widmung?

Laß mich hochauftönend im Odenschwung

Rufen Heil uns Söhnen der Gottheit, Heil!

Nieder mit Pfaffen, Tyrannen und Prosa! Hoch

Verskunst und Tugend!

Fahren Sie so fort, lieber Odensänger! – Apropos,« wandte er sich an den biedern Heinrich »ich habe Ihnen noch gar nicht gedankt für Ihren schönen Brief über mein Drama ›Nemesis‹. Sie werden's also wirklich nächstens ausführlich besprechen? Ach, ich kann Ihnen nicht sagen, wie es mich erfreut, daß grade Sie sich so günstig darüber aussprachen.«

Hier räusperte sich Ambrosius Sagusch doch etwas bedenklich, Krastinik sah betreten aus und über Heinrichs bleiche Wange flog ein flüchtiges Roth. Eine boshafte Freude blitzte in Leonharts Auge und er fuhr unverdrossen fort:

»Sehen Sie, das hat mich ergriffen, dieser ungekünstelte collegiale Zuruf: ›Ihr Drama hat einen gewaltigen Odem. Es ist in seiner Art, ich möchte sagen, vollkommen.‹

Und Sie, lieber Haubitz, Sie machen ja Ausstellungen, aber Sie schließen doch ernst und ehrlich: ›Jedenfalls besitzen Sie eine elementare Dichterkraft.‹ Das war mein Urtheil stets und ist es noch heute! Dank, Dank! – Aber da klingelt ja unser Präsident zur Tagesordnung.. auf Wiedersehn!« Nachdem er diesen parthischen Pfeil abgeschossen, setzte sich Leonhart mit seinem eingeführten Gast behaglich nieder und bestellte eine Flasche gefälschten Rheinweins, da Edelmann in aller Eile aus seinen Vorsitzenden-Platz geeilt war, um der unheildrohenden Festnagelung des bösartigen Realisten zu entrinnen. Krastinik verlor jedoch den seltsamen Menschen nicht aus den Augen, an den ihn alsbald ein unerklärliches Interesse fesselte. Nach den Warnungen, die ihm zu Theil geworden, hatte er vermieden, ihn anzureden, was ihm freilich durch den kalten Gruß des hochmüthigen Dichters erleichtert wurde.

Es wurde nun ein Vortrag des abwesenden Ehrenmitglieds Paulus Hartung, genannt »der Knüppelreformer«, verlesen. Derselbe war datirt: »Geschrieben am Jahrestag meines letzten Selbstmordversuches« und brach in der Mitte ab, »da der Autor plötzlich von einer Gemüthskrankheit ergriffen wurde« – eine traurige Mittheilung, welche jedoch die Anwesenden mit stoischer Ruhe entgegen nahmen, da ja Jeder von ihnen aus eigener Erfahrung den Rummel kannte.

Paulus Hartung war augenscheinlich in Spanien reichbegütert und stolz will man den Spanier. Daher entwickelte er als Baumeister voll Lustschlössern eine Sicherheit, als sei er zum Oberhofbaurath der hochlöblichen Vorsehung bestallt. Kommen, hören, sehen und staunen! Das Theater müsse vorerst durch Niederreißung sämmtlicher Kunstbuden gereinigt werden. Sodann sei Abschaffung der Coulissen nöthig und ein Orchester voll Posaunenbläsern habe als Chor im antiken Sinne mit nägelbeschlagenen Kothurnsocken zu beiden Seiten des Podiums aufzumarschiren. Ferner verlangte der Knüppelreformer ein neues klassisches Reportoir, dessen eisernen Bestand die Komödien von Lenz und Klinger sowie »Die Kindsmörderin« voll Leopold Wagner zu bilden hätten. Nur so, der lästigen Concurrenz fremder Götzen wie des Engländers Shakespeare entledigt, werde das »Jüngste Deutschland« seine hohen Ziele einer Theaterreform im Sinne einer wahren Volksbühne erreichen und vor allem seine eignen Stücke zur Aufführung bringen, wobei er besonders auf das allbekannte herrliche Blutschande-Trauerspiel unseres Rafael Haubitz »Der Würgeengel« hinweise.

Lebhafter Beifall lohnte den gediegenen Vortrag. Nur Leonhart hatte sich wenig taktvoll benommen und stets mit der Hand schmunzelnd über seinen Schnurrbart gestrichen, als verberge er mühsam seine Heiterkeit. Auch Lämmerschreyer profitirte nicht viel – seine ganze Dichterseele wandte sich der homerischen Begierde des Trankes und der Speise zu, während er zwischen dem Kauen einige Anekdoten von einem »feudalen Weib« zum Besten gab, wie es einem solchen Verehrer der Tugend und Todfeind aller Tyrannen angemessen.

»Sie übernehmen den Wein, Herr Leonhart? Ich behalte mir Revanche vor!« meldete der Jüngling hochtrabend.

»Oller Renomierstengel!« brummte jener zwischen den Zähnen.

Eilt gewaltiger Kumpen mit Hummersalat fuhr vor, welchen Lämmerschreyer bestellt hatte. »Welch ein Gebirge! Der reine Kau-Kasus!« wortwitzelte der Jüngling.

Leonhart ermunterte ihn ironisch zu kräftigen Einhauen. »So ist's recht, mein Lieber! Den Dicken gehört die Zukunft.«

»Dank Ihnen.« Der Jüngling brach sich eine weite Gasse in das Gericht und begleitete diese ritterliche Handlung mit dem prickelnden Witzwort: »Die Stätte, die ein guter Mensch betrat, ist eingeweiht – weeß Knäbbchen – für alle Zeiten.«

Hier wurde er aber unliebsam unterbrochen.

Ein Studiosus der Philosophie, der starr und steif wie ein steinerner Gast dagesessen und den Orakeln gelauscht, dafür aber unbändig viel geistige Getränke genossen hatte, fühlte sich voll dem Kneifer Lämmerschreyers schon wiederholt beleidigend gestreift. Jetzt brach er plötzlich ganz unmotivirt los: »Mein Herr, wünschen Sie was von mir? Sie haben mich fixirt.«

Lämmerschreyer ließ die Gabel fallen und starrte ihn majestätisch an. Das empörte jenen Musensohn aufs höchste, er sprang auf und rief: »Sie! Sie fixiren mich ja immer noch. Wenn Sie Student sind, geben Sie mir Ihre Karte!«

»Die bekommen Sie nicht!« schnaubte Jener mit ausgeworfener Nase. Er war jedoch sehr blaß geworden.

»Was? Erst fixiren und dann nicht Karte geben? Das ist eine erbärmliche Kneiferei!«

Hier legte sich jedoch Leonhart energisch ins Mittel und nach üblichem Hin- und Hergerede erklärten sich Beide für Ehrenmänner. Während dieser lebhaften Vorlage am andern Ende der Tafel, welche hier und da durch die Klingel des Präsidenten Edelmann beschwichtigt wurden, hielt ein Individuum am entgegengesetzten Ende der Tafel einen unverdauten und unverdaulichen Vortrag über den »Begriff der Schönheit«. Es mummelte und murmelte ununterbrochen so fort, indem es in sein Weinglas stierte, und versicherte unablässig, daß »Schönheit der Einklang von Form und Inhalt« sei. Als dies Murmelthier schwieg, sprang Herr Rafael Haubitz auf und bewies in längerer Rede, die er stotternd hervorsprudelte, daß »die Begeisterung« (»Begeiferung?« fragte Leonhart seinen Nebenmann) das eigentliche Prinzip der Poesie sei, wobei er auch wieder die alte Phrase herleierte, bei Chinesen und Negern sei das Schönheitsideal ein ganz anderes als bei uns.

Er suchte sodann darzuthun, daß man den Begriff des Schönen in physiologische und associative Eindrücke zerlegen könne. So z.B. wirken, beim Hinaustreten aus einem Zimmer auf eine thauige Wiese im Morgenlicht, zuerst rein physiologisch das Licht, die Frische, das Grün: als angenehmer Sinneseindruck. Später aber trete das associative Gefühl hinzu: Licht und frische Luft sind gesund für jedes Lebewesen, das Grün aber wirkt schön, weil wir damit in der Erinnerung den Begriff einer blühenden Natur associiren. Warum würde ein grüner Mensch auf uns abschreckend wirken? Weil wir einen solchen noch nie gesehen haben (»Oho! Grüner Junge!« murmelte Leonhart) und das Angenehme geselligen Verkehrs in unserer Vorstellung nur mit weißen Menschen associirt sei. Daher auch unsre Abneigung gegen Schwarze, die von diesen erwidert werde.

Hier bemerkte ein zartes feines Stimmchen, einem mimosenhaften Jüngling angehörig, daß die Natur doch dann nicht schön wirken könne, wenn man sie durch eine rothe Glasscheibe betrachte. Sie wirke aber dabei nur befremdlich, keineswegs unschön. Nachdem dann noch ein furchtbar gelehrtes und bemoostes Haupt von 24 Jahren einen Discurs über die Undulationsschwingungen gehalten und Helmholtz' Theorieen auf den Begriff des Schönen angewandt hatte, trat jetzt ein allgemeines Hin- und Hergerede ein, das der Präsident umsonst zu stoppen suchte. Jeder disputirte auf eigene Faust und verfocht die tiefsinnigsten Theorieen über die Gesetze der poetischen Production. Da erbat sich Leonhart Gehör, und nachdem nothdürftige Stille hergestellt, begann er also:

»Wir haben soeben manch geistreiches Wort vernommen, sind über Vieles belehrt. Erlauben die Herrschaften nun, daß auch ich zu jeder einzelnen These meinen Genf gebe. Wir haben die uralte Prase gehört, Schönheit entstehe, wenn Form und Inhalt sich decke. Nun, in einem Menzel'schen Bild oder etwa in Laibl's ›Drei alten Weibern‹ decken sich Form und Inhalt wunderbar d.h. sind von gleich origineller Häßlichkeit. Ist also auf diese Weise Schönheit entstanden? Keineswegs. Aber ist darum diese meisterliche Häßlichkeit nicht kunstwerkmäßig ausgeführt? Ja.«

Nun gehört aber ohnehin in die Rumpelkammer der alten Ästhetik, die von Aristoteles und Lessing bis auf Vischer und Nordau nur dummes Zeug zusammengeschwätzt hat, die thörichte Voraussetzung, die Kunst habe die Schönheit zum weck. Macbeth als Mörder ist ganz gewiß nicht »schön«. Vielmehr wird das Gleichgewicht der Schönheit d.h. der sittlichen Naturharmonie, erst durch die Zoten des betrunkenen Pförtners, also etwas an sich Häßliches, wieder hergestellt. Wenn wir aber die Wahrheit mit den Realisten als Zweck der Kunst bezeichnen, so verlockt uns auch dies in Irrwege. Wahrheit soll sein der einzige Zweck der Wissenschaft, aber soll sein nur ein Mittel der Kunst. Der Fanatismus der Wahrheit führt uns naturgemäß zur Übertreibung und Karrikatur, also zur Unwahrheit, gerade wie etwa Atheismus zum Aberglauben führt. Die spitzfindigen Erzeugnisse von Ibsen sind wahr, aber nicht schön – und darum wirken sie kalt, blutlos, didaktisch, doctrinär. Nicht schön – fehlt da auch noch etwas Anderes: sie wirken zerrissen, fragmentarisch, wie ein höhnisches Fragezeichen. Es fehlt die Abrundung, der vollausgetragene innere Abschluß. Nun, welches Element möchte denn wohl das letztgenannte Kunsterforderniß hinzuleiten? Denken wir an Schillers allgemeingehaltene Phrase vom »Wahren, Guten und Schönen.« Das Gute – das soll bedeuten: den philosophischen Tiefblick in das Getriebe der Welt und des Herzens, der mit unentwegter Sittlichkeit immerdar die versöhnende innere Lösung findet, selbst beim zeitlichen Untergang des Guten. Eine gewisse Erhabenheit der Anschauung gehört unbedingt zu einem wahren Dichterdenker und zu einem Kunstwerk höherer Gattung.

Das Wahre und Gute in seiner Vereinigung bildet das Schöne, oder vielmehr ist bereits das Schöne. So stellt der grausigste aller Romane, »Raskolnikow«, vollendete Schönheit dar, weil er vollendet Wahres und Gutes in sich birgt. Die meisten Werke von Zola sind nicht schön und nicht kunstvollendet, weil sie mir theilweise wahr und gut sind; »Germinal« und »L'Assomoir« aber nähern sich der idealen Schönheit, weil sie viel Wahres neben einigem Unwahren und manches Gute, von innerer Ergriffenheit und moralischer Erhebung Zeugende, aufweisen.

Ein anderes Gesetz der Schönheit, als das eben aufgestellte, giebt es nicht. Die sonstige »Form« ist etwas Sekundäres.

Wie aber den Künstlergeist in eine Seelenverfassung versetzen, welche das Wahre und Gute d.h. das Schöne erfassen und darstellen kann? Meister Haubitz hat uns allerlei von »Begeisterung« vordeklamirt – ist ihm diese Dame vorgestellt? Leicht möglich. »L'enthousiasme est de tous les sentiments celui-ci qui donne le plus de bonheur« sagt Frau von Staël.

Dieses Gefühl, welches »das meiste Glück giebt«, bezeichnet also den Grad höchster Extase. Glaubt nun ein psychologisch geschulter Kopf, daß dieser Zustand bei Schöpfung eines Kunstwerkes anhalten könne? Doch höchstens bei gewissen Hochmomenten.

Wenn wir nun constatiren, daß durchdringender combinirender Verstand ebensosehr wie reiche Phantasie für echte Dichtung nothwendig erscheinen, wodurch der Begeisterungs-Humbug schon in sich zusammenbricht, so locken wir mit all dem keinen Hund vom Ofen für die Frage: Was ist der geheime Grundkeim des dichterischen Wesens? Nun, meine Herrn, Meister Haubitz hat uns die fable convenue wieder aufgewärmt, die schon in Wielands »Abderiten« der Demokritos zum Besten giebt, daß die Schönheitsbegriffe eines Negers andere seien als die unsern. Allein, was kommt denn für uns bei dieser Prämisse heraus, was gewinnen wir mit dieser Beobachtung? Nichts, denn sie gehört gar nicht hierher. Die äußerlichen und sinnlichen Schönheitsbegriffe sind allerdings verschieden; das können wir, ohne fremde Welttheile zu behelligen, unter uns selbst beobachten. Der eine schwärmt für dicke Frauen, dem andern sind diese ein Horreur. »Was dem Einen sin Uhl is, is dem Andern sin Nachtigall.« Aber die Schönheitsbegriffe der Kunst, von denen doch hier allein die Rede ist, die Begriffe der intellectuellen und moralischen Schönheit waren zu allen Zeiten und unter allen Völker die gleichen. Was edel handeln heißt, weiß der Schwarze wie der Weiße, und was schlecht handeln heißt, ebenso. – Auch mit den physiologischen und associativen Eindrücken ist's eine eigene Sache. So erweckt eine rothe Wange uns Lustempfindungen, weil wir diese Röthe als Gesundheit deuten. Andrerseits aber kann eine rothe Wange das Zeichen der Schwindsucht sein. Sie erweckt uns also Peinliche Empfindungen. Gleichwohl wirkt eine rothe Wange unter allen Umständen auf uns als angenehm d.h. schön, weil diese lebhaftere Farbe die Eintönigkeit der Züge belebt. Außerdem wirkt sogar die veritable Schwindsucht selbst, welche bekanntlich die Züge verfeinern und gradezu vergeistigen kann, auf uns häufig als schön – allerdings nur auf den Gebildeten, auf den gröberen Sinnenmenschen nie. Der Begriff des Schönen ist also im letzten Grunde genommen ebenso abstrakt wie der des Guten – also voll physiologischen und associativen Einflüssen unbestimmbar. Aus diesem Grunde würde z.B. auf den Kunstgebildeteten eine lebendig gewordene Venus von Milo physiologisch als vollendet schön wirken, auch wenn sie stumm und dumm wäre. Hingegen würde sie unter diesen Umständen bei einem normalen Menschen niemals Liebe erwecken können, d.h. jene Schönheit besitzen, die alle Sinne gefangen nimmt. Das heißt also: die rein physiologisch als schön wirkende Schönheit – ja, wirkte sie auch wie die Venus associativ, all unsern Kunstanschauungen gemäß – wird nie als vollkommene, als absolute Schönheit wirken.

Das Psychische spricht unbedingt das entscheidende Wort – so zwar, daß ein unschönes, weder physiologisch noch associativ reizendes Aeußere sich unendlich verschönert durch innere Vorzüge und eine anmuthig seelenvolle Frau auf die Dauer die Schönste besiegt, sobald der Wettkampf um die Liebe des Mannes hervorgerufen wird. Aus diesem Grunde war es ernst gemeint, wenn Alcibiades den Sokrates als »schönsten der Hellenen« bezeichnete Die Griechen faßten eben den Begriff der Schönheit in ihrem eigentlichen Sinne auf – eine Schönheit, welche man selbst durch lebhaftes Mitfühlen gleichsam ergänzt und mitschafft.

Nun denn, dies ergänzende mitschaffende Gefühl für das Schöne d.h. das Wahre und Gute halte ich für den eigentlichen Keim einer echten Dichterbegabung. – »Das Herz ganz voll von einer großen Empfindung« »Der Dichter darf nur schildern, was er liebt oder geliebt hat« – diese Worte Goethes seien Richtschnur. Dies Gefühl, das man philosophisch die Sympathie nennt – meine Herrn, ich erhebe mein Glas auf dies Eine, was den Dichter macht, die »weltumfassende Liebe.«

Als er sein langes Pronunciamento beendet, verbeugte sich Leonhart plötzlich mit leichtem Auflachen: »Mahlzeit, meine Herrschaften! Laßt's euch gut gehn!« und verließ die verblüffte Versammlung, während ihm Lämmerschreyer nach einer eleganten Rundum-Verbeugung mit dem Ruf »Herr Doctor, Ihr Überzieher!« dienstfertig nacheilte.

»Der kommt wohl nicht wieder!« bemerkte Krastinik trocken zu Edelmann, welcher mit vielsagendem Schweigen und unheilverkündendem Schielen unterm Tisch seinen Kneifer putzte.

»Wie er sein Froschtalent größenwahnsinnig aufbläht!« platzte Rafael mit ungewöhnlicher Heftigkeit los. »Er kann nicht ernst genommen werden. Welche unlöslichen Widersprüche, welche trostlose Unreife und erschreckliche Unwissenheit!«

Der Sagus des Nordens schüttelte majestätisch sein bemoostes Haupt und wirkte vernichtend durch vielsagendes Schweigen. Ein Engel durchschritt lautlos das Zimmer. Es war, als ob ein Mehlthau sich auf die Blüthen dieses litterarischen Reform-Frühlings niedergesenkt hätte. Und doch hatte Leonhart ja gar nichts Verletzendes gesagt. Aber ein erdrückendes Gefühl von uneingestandener Ueberlegenheit dieses »Renommisten« beklemmte den freien Odem der stolzen Stürmer und Dränger. So drängen sich die Schafe ängstlich um den Leithammel zusammen, wenn der Löwe in die Herde fiel und sich ein Lamm von dannen trug.

»Schändlich, schändlich! Sehen Sie, Herr Graf, diese Vermöbelung im sogenannten Witzblatt ›Rempler‹. Das ist Tell's Geschoß, das ist Leonhart's grobe Klaue!«

Mit diesem Aufschrei tiefer sittlicher Entrüstung stürmten Haubitz und Edelmann in Krastiniks Stube.

»Nun, nun, lassen Sie doch sehn!«

»Das dürfen Sie nicht auf sich sitzen lassen, hochverehrter Herr Graf,« rief der Edle-Mann mit dem Brustton der Ueberzeugung, indem er ihm ein Zeitungsblatt überreichte. »Doch nein, bewahren Sie ein würdiges Schweigen. Das ist vornehmer. Vornehmsein – darin liegt Alles. Seien wir vornehm!«

Krastinik las.

Kavalier-Poesie.

Es giebt eine gewisse Presse, die dem nicht mehr ungewöhnlichen Sport sich hingiebt, reiche und vornehme Leute, die in ihren Mußestunden der sogenannten Muse opfern, in die thätlich werdende Literatur hineinzuzerren.

Solche bevorzugten Geister – sei es nun, daß sie umfangreiche Banquiergeschäfte betreiben, oder Villen in Italien oder sonstwo besitzen, sei es, daß sie sich des Prinzentitels oder doch wenigstens irgend einer andern hohen Geburt erfreuen – werden dann sorgfältig als »Dichter« präparirt. Sie bilden den »neuen hoffnungsvollen Nachwuchs«, welchen man den alten Berühmtheiten, vor denen man sonst auch unterthänigst katzbuckelt, mit triumphirendem Reklamegeschrei gegenüberstellt. Es wird daher leicht begreiflich scheinen, wenn gemeine Sterbliche, welche ohne den Vorzug des Reichthums und hoher Geburt als »Literaten« auftreten, solchen »neuen Byrons,« »deutschen Flauberts,« »Berliner Shakespeares« und vor allem jener gräßlichen Wereschagin-Sorte, die »zugleich ein Sänger und ein Held« die Unreife ihrer Produkte durch prahlerische Ich-Reminiscenzen verbrämt, mit grimmigem Mißtrauen begegnen.

Nun, jetzt hat man uns den Dichter Xaver Graf von Krastinik entdeckt.

Schon das Hervorheben seiner »vornehmen Weltabsonderung« – die trotzdem die betreffenden M.S. in die Hände der Recensenten fallen ließ – wirkte bedenklich.

Wir kennen sie, diese großen Seelen, diese vornehmen Naturen, welche ihren Größenwahn in der Einsamkeit verstecken (warum publiziren sie denn, da sie's ja »doch nicht nöthig haben?«) und nur mitleidig hier und da ein Wörtchen davon fallen lassen, daß der hochstrebende gedankentiefe Idealismus ihrer heimlichen Dichtersünden natürlich bei solchen Verlegern, Theaterdirektoren u.s.w. keinen Anklang finden könne. Diese »Vornehmheit«, wozu sich noch die bekannte Wereschagin'sche »Bescheidenheit« (diese frechste aller Streberlügen) gesellt, verfehlt nicht ihren Zweck. Eine stets zu solcher Handlaugerei bereite Corybautenrotte trägt den neuen Götzen in die Arena und steckt mit frenetischem Hosianna natürlich die thörichte Menge an. Jetzt kommt der gewöhnliche Verlauf der Farce. Statt des »Schiller'schen Gedankenfluges« erhalten wir elendige Coulissenrhetorik, mit raffinirtesten Bühnenmätzchen zugestutzt. Statt »byronischem Weltschmerz« die alten Affen des Titanismus. Aber es hält nicht lange. Der neue Schiller und weiß Gott was Alles und der dämonisch-byronische Hinker werden zum alten Eisen geworfen. »Des Kaisers neue Kleider.«

Denn in Berlin ist alles nur Modesache. Man muß den Moment ausnützen, länger als zwei Jahre dauert's ja doch nie.

Solche und ähnliche Befürchtungen konnten durch die Proben nicht zerstreut werden, die man uns aus Krastiniks Dichtungen bot. Dieselben waren theils ungenießhar, theils platt. Mit Recht hob allerdings ein Referent hervor, daß das Abwischen des Gesäß-Schweißes an seinem Trakehner nach einem Budapester Wettrennen, wie der Herr Graf dies in originell realistischen Versen schildert, von reicher Selbsterlebtheit zeuge. Nun, wir sind der denkbar größte Verehrer der Subjectivität. Aber, offen gestanden, scheint uns eine »Hymne an die Unsterblichkeit«, in der Dachkammer gedichtet, genau ebenso selbsterlebt und jedenfalls um 100 Procent gewichtiger.

Man verstehe uns recht. Gegen dies Abwischen in erträglichen Versen haben wir gar nichts. Aber dergleichen uns als besondere Genialität vorzuführen – dagegen haben wir ungemein viel. Denn hieraus resultiert eine Spezies, die man am besten als »Kavalier-Poesie« bezeichnen möchte. Nicht wahr, für das in prosaischen Tagesarbeiten hinschlendernde Publikum muß es ja ungeheuer interessant sein zu hören, wie ein »Graf« hoch zu Roß durchs Leben dahinbraust? Nein, mein werther Xaver Graf von Krastinik, daß Sie ein schöner Offizier und eleganter Sportsmann waren und davon, wie auch von etwaigen hochgeborenen und »gar nicht geborenen« Liebschaften, nicht uneben zu plaudern wissen – das macht Sie noch lange nicht zum Dichter, »zugleich ein Sänger und Held«. Aber daß Sie wirkliches und wahres poetisches Empfinden und Darstellungsvermögen besitzen, das erst adelt Sie zum Dichter.

Doch ich erlaube mir den ganz ergebensten Vorschlag, den »Grafen« künftig auf dem Titelblatt wegzulassen. Eserweckt dies immer jenes ungünstige Vorurtheil, unter dem anfangs größere Dichter wie Sie: »Graf Platen«, »Graf Strachwitz«, und »Graf A. von Würtemberg« zu leiden hatten.

Jaja, wenn wir mal 'was produciren sollten, so werden wir auf den Titel das Pseudonym »Arthur Graf Nirgendburg« setzen und unser Schloß verführerisch ausmalen. Wenn der biedere Recensent liest, wie der gnädige Graf auf Jagd gehn und leuteselig mit Dero Unterthanen verkehren so denkt Itzig: »Teufel noch mal! ›Schloß Nirgendburg in der Grafschaft Nirgendheim‹ – am Ende lädt er mich auch mal zur Jagd ein!« Und der neue Heinrich von Kleist ist fix und fertig.

Unser Krastinik – wir wollen ihn mal mit Weglassung seines Titels beehren – läßt sich nur in der freien Dienstzeit herab, mit der Bürgerjungfrau Poesie ein wenig zu scharmuziren.

Ja, Herr von Krastinik – Sie gestatten mir den »Grafen« fallen zu lassen – arbeiten Sie recht fleißig wie andere gemeine Sterbliche und es kann noch was aus Ihnen werden – trotzdem man Sie als »Graf« entdeckt hat.

»Nun, was sagen Sie dazu?« Edelmann putzte wie gewöhnlich unterm Tisch seinen Kneifer, um als Maskirung schielend das Auge darauf zu richten, während er Krastiniks Gesicht beobachtete.

»Gar nichts,« erwiderte der Graf kühl, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich lege das Blatt ad acta. Er ist ungerecht, aber auch hier Zeigt sich etwas – wie soll ich sagen: Die Tatze des Löwen«.

Und dabei blieb er, trotzdem Haubitz darin »den Zahn der Schlange« erkennen wollte.

Aristokraten werden von Jugend an auf Lebensklugheit eingedrillt, gerade durch das Pflegen der äußeren Lebensformen und die stete dadurch erzeugte Selbstzucht.

Halb aus Vornehmheit, halb aus Klugheit, beschloß Krastinik daher, seinen Groll zu verbeißen. Es reiste doppelt in ihm der Wunsch, diesen seltsamen Rempeler, der schon die halbe Welt beleidigt hatte, kennen zu lernen.

II.

»Gott, da sitzt der alte feudale Dondershausen!« rief Leonhart entsetzt, dessen krankhafte Adels-Idiosynkrasie die echte Vornehmheit vieler Kreise des deutschen Militairadels nicht kannte und daher sich auch leider nie curiren konnte, er hat mich gesehn. Ertragen nur die Prüfung. – »N Abend, Herr Oberst.«

Der alte Offizier z.D. grüßte schon aus der Ferne von seinem Marmortischchen im Café Bauer, wo er allabendlich stammgastete, mit der Hand. »Nur immer 'ran aus Biwak, mein guter Leonhart. – Lämmerschreyer? Freut mich sehr. Sind Sie verwandt mit meinem alten Kameraden, General Lämmerschreyer? Nicht? schade.«

»Ja, aber dafür ist er der Neffe des berühmten Malerheros Adolf v. Werther.«

»O entzückt, das zu hören, mein guter Leonhart. Ah, Herr von Lämmerschreyer, wie gut müssen Sie da in die Berliner Gesellschaft eingeführt sein! Fühlung mit allerhöchsten Kreisen ...«

Der alte Soldat mit den graugesprenkelten Bartcotelettes sah danach aus, als ob er seinem Burschen die Benutzung des Stiefelknechts als Wurfgeschoß oft genug erläutert habe und seinen Haushalt nach militairischen Disciplinbegriffen regele. Gleichwohl trug er liberale Anschauungen zur Schau, seitdem er trotz seines Wiedereintritts in die Armee nach seiner Verwundung bei Bapaume das bewußte blaue Briefchen empfangen, – wie das öfters der Fall sein soll. Das hinderte ihn natürlich nicht, nach oben hin Patriotisch die Augen zu verdrehen. Seine Spezialität bildeten »Hohenzollernlieder« und »Kornblumenweisen«; da ihn die bekannte Redseligkeit ausgedienter Militairs bewogen hatte, die Feder zur Hand zu nehmen.

Er war eben ein »Idealist« von echtem Schrot und Korn, welcher auf Paul Heyse und Geibel schwor, auf die deutsche Frau minniglich toastete und sich für Heinrich voll Kleist begeisterte, sintemal derselbe von echtem altem Adel war.

»Ich komme von den Meiningern,« hob er an, »aus dem Viktoriatheater. Diese Aufführung der ›Jungfrau von Orleans‹ – pompös! Bin einfach überwältigt. Wie herrlich hat Schiller die traurige Geschichte umgearbeitet und in ideale Verklärung gerückt! Ich erinnere mich, wie wir vom I. Corps in Rouen einrückten, beim Feldzug gegen Faidherbe, meine Herrn. Auf dem Platz, wo die Pucelle verbrannt wurde, spielten unsre Musikbanden vor ihrer Bildsäule und unsre siegreichen blauen Jungen defilirten. Ein unvergeßlicher Augenblick, meine Herrn, wo wir Offiziere an das Vaterlandsdrama unseres großen Dichters gedachten, dem Frankreich die würdige Apotheose seiner Nationalheldin überließ, nach der abscheulichen Pucelle von Voltaire.«

Er schien jedoch nicht auf eine gleichgestimmte Seele zu stoßen. Wenigstens bewies Leonharts Schweigen und Räuspern, daß keine verwandte Saite bei ihm berührt war. Endlich brach er los: »Na, offengestanden, Herr Oberst, da ist mir die ›Pucelle‹ voll Voltaire doch noch lieber!« Dondershausen fuhr ordentlich zurück. »Sehn Sie, Schiller hat sich überhaupt unfähig gezeigt, diese Idealgestalt in ihrer strengen Würde zu begreifen. Bei ihm ist Alles falsch und verzerrt. Die Weiblichkeit der makellosen Jungfrau sucht er in ihrer sinnlichen Verliebtheit. Und dabei läßt er den jungen Montgommery vergebens ihr Erbarmen anflehen, während in Wahrheit Johanna die Verwundeten pflegte und über die todten Feinde Thränen vergoß.

Freilich, der sentimentale Quatsch in Schiller's Melodrama, der auf die Höhere Tochter bedeutende Rücksicht nahm, bezaubert den Mob. Was wäre Johanna für unsre Backfische, wenn sie sich nicht in Lionel verliebte und zwar beim ersten Blick auf Befehl des Herrn Dichters. Die arme Johanna!

Ach, sie war so weich wie heldenhaft, so bescheiden und so stolz – denn die Herrn Prinzen und Connetables wußte sie gehörig anzulassen, wenn sie nicht Ordre parirten.«

»Hm, ich denke, sie war so faust und anspruchslos ...«

»Ja wohl, in persönlichen Dingen. Aber daneben betonte sie in ihrer erhabenen Kindlichkeit doch stets ihr Allmachtsbewußtsein als Trägerin einer göttlichen Mission. Bei der Krönung zu Rheims, wo das eingeborene heimische Volksthum im Dauphin gesalbt wurde, stand sie in ihrer Rüstung, die Fahne in der Hand, allein am Altar neben dem König. Das ließ sie sich nicht nehmen, das nahm sie als ihr Recht von Gottes Gnaden in Anspruch.«

»Ja,« meinte Dondershausen, um irgend etwas zu sagen; er war so betroffen. »Da wurde der legitime König direkt von Gottes Gnaden gesalbt.«

Leonhart brach in ein lautes Gelächter aus. »Mit heiligem Oel, nicht wahr? Dieser Kotmensch in seiner allerhöchsten Erbärmlichkeit! Und für den mußte die Himmelsgesandtin, vom Gottesgnadenthum ihres Genius umstrahlt, sich opfern!«

»Erlauben Sie, Herr Leonhart,« fiel der Oberst etwas erregt ein. »In Schillers Darstellung ...«

»Na natürlich!« Leonhart schlug mit der Faust den Tisch. »Edler König, der ›auf der Menschheit Höhen mit dem Sänger gehet!‹ Edle Agnes Sorel, ›Krone der Frauen!‹ Edler Herzog von Burgund, Stifter des goldenen Vließes, Blume der Ritterschaft!«

»Nun ja, ›Philipp der Gute‹ hieß er doch?« fragte Jener erstaunt.

»Versteht sich. Der unritterliche Bube, der die bürgerliche Heldin den Engländern verschacherte, im selben Augenblick, wo er seinen Hohen Orden vom Goldenen Vließ zu stiften geruht! An Lüderlichkeit kam er dem guten König Karl beinahe gleich, und wieviel dies sagen will, mögen die ermessen, die von dem ›Hirschpark‹ dieses Vorläufers von Louis XV. wissen!«

»Wie, und das duldete die edle Agnes Sorel?«

»Ja, die wackre betitelte Metze, diese Vorläuferin der Pompadour, die ihrem königlichen Aushälter diesen ›Hirschpark‹ unterhielt!«

»Ich bin starr. Konnte Schiller eine so grobe Geschichtsfälschung –«

»Pah, der arme Schiller! O ihr alle, ihr Lieben, seid charakteristische Schöpfungen des deutschen ›Idealismus‹! Die Wahrheit wäre ja gemein, wäre unschön und außerdem – unklug. O nein, die Wahrheit ist halt erhabener und ›poetischer‹, als die Phrasen-Rhetorik schönfärbender Idealisten. Allerdings gehören starke Nerven dazu, um sie zu ertragen. Ich gestehe, die wahre Geschichte des edeln Marschall Rais, Marschall von Frankreich, dieses Teufels in Menschengestalt, der an der Seite der Jungfrau focht, ergötzt mich mehr als der symbolischmystische ›Schwarze Ritter‹. Jaja, wir wissen, daß dem nichtsnutzigen König und seinen hochadligen Maitressen eine verderbte Satanskirche und ein Stallbubenadel würdig entsprachen. Sie waren es wie immer, für die das brave Volk sich opferte und welche die Früchte seines Patriotismus einheimsten. Sie waren es, welche das Heldenmädchen, die Heilige Frankreichs, in ihrem genialen Wirken hemmten und endlich der Kreuzigung überlieferten. Es ist die alte Geschichte.«

»Für mich eine neue Geschichte,« gestand Dondershausen verblüfft. »Sie rauben mir ja all meine Illusionen, Sie böser Mensch.«

»So? Das ist gesund. Ja, ich gestehe gern, ich bin ein böser Mensch. Seine Majestät Karl VII., Seine Hoheit den Herrn Herzog von Burgund und andre erlauchte Wesen, an die ein niedriggeborener Plebejer wie ich nur mit Ehrfurcht denken sollte, möchte man noch nachträglich mit der Schärfe des Schwertes in Stücke hauen. Aber wenn man das Leben Jeanne d'Ares, dieses kleinen Bauernmädels, vor sich aufsteigen läßt, dann vergießt man die bittersten Thränen.«

»Sie können auch Thränen vergießen?« fragte der Oberst ironisch.

»Versteht sich. So sentimental sind wir Realisten – wir, denen es einen Hochgenuß bereitet, dreiste Unfähigkeit, gemästete Dummheit, strebende Schusterei mit unversöhnlichem Hohn und Grimm zu verfolgen, zu brandmarken, zu würgen.«

»Na, na! das wird ja gefährlich!« Der Oberst z.D. rückte ordentlich vom Tisch ab. Leonhart aber fuhr begeistert fort:

»Ach, um so leuchtender, verklärt in himmlischer Glorie, hebt sich von diesem höllendunkeln Hintergrund die Lichtgestalt des Engels ab, den der Weltgeist wie den Hirtensohn Isais erweckte zur Befreiung des Vaterlandes! Die ganze Geschichte der Jungfrau liest sich wie das Evangelium Johanni. Sie erscheint als der weibliche Heiland der Menschheit. Grade das wirkt so unbeschreiblich rührend und herzbewegend, daß dies überirdische Geschöpf äußerlich stets das einfache Mädchen aus dem Volke blieb und die Schwäche ihres Geschlechtes nie verleugnete. Es mag Schopenhauerianer zum Nachdenken anregen, daß die reinste Heldengestalt der Geschichte ein echtes Weib gewesen ist. Als sie zum ersten Mal vor Orleans verwundet wird, fängt sie an zu weinen. Aber nur einen Augenblick, denn sie hat ihre ›Stimme‹ vernommen. Ihre ›Stimme‹! Die seichte Naseweisheit des naturwissenschaftlichen Materialismus hat sie deswegen eine ›hysterische Person‹ genannt. Aber Jeder, wer sich dem Ideale weiht, Held, Heiliger, schöpferischer Künstler, hört diese unsichtbare Stimme, in mehr oder minder vergeistigter Form. Die wunderbare Intuition, der durchdringende Mutterwitz in Beurtheilung praktischer Dinge, der stete Blick für die Realität, den sie stets bewahrte, neben der schwunghaft transcendentalen Begeisterung zeigt in diesem abnormen Wesen unzweifelhaft das, was wir Genialität nennen.«

»Sehr schön,« sagte Dondershausen nach einer Pause. »Und doch sagten Sie, Voltaire, der sie so schnöde beschimpft, sei Ihnen noch lieber als Schiller's Apotheose?«

»Ja. Es war ein schönes Wort von Gambetta, sein Herz sei groß genug, um Voltaire und die Pucelle zugleich zu beherbergen. In der That, bei all seinen Sünden und Mängeln trug Voltaire selbst viel von jener heiligen Flamme in sich, welche die ritterliche Jungfrau durchzuckte. Das glorreiche, obschon mit Peinlichem gemischte Andenken dieses großen Streiters darf durch kleinliche Benörgelungen nicht getrübt werden. Glauben Sie übrigens nicht, daß ich Schiller herabsetzen will, den ich hoch verehre. Den Geist dieses Sehers beseelte eine ähnliche Lauterkeit, wie den seiner und unserer Madame von Orleans.«

»Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen

Und das Erhabene in den Staub zu ziehn!

Doch fürchte nicht! Es giebt noch schöne Herzen,

Die für das Hohe, Herrliche entglühn.«

Citirte der alte Soldat mit Salbung. »Ich kann mir nicht helfen, mein lieber Leonhart, so 'was darf doch nicht realistisch, sondern mit idealer Verklärung behandelt werden.«

»So, Sie finden Schiller's Geschichtsfälschungen ›ideal verklärt‹? Bedaure. Wir bösen Realisten sind andrer Ansicht. Nicht mit dem Phrasen-Schnickschnack ›Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude‹ stirbt eine Bekennerin wie Johanna. Sie war wollt Schillern nicht rhetorisch genug, die schaurige Wahrheit, wie sie aus den Flammen noch mit fester Stimme rief: ›Meine Stimmen waren von Gott, sie haben mich nicht betrogen.‹

Als sie auf dem Scheiterhaufen stand, war ihr letzter Gedanke: ›O Rouen, ich habe große Angst, daß Du um meinen Tod zu leiden haben wirst!‹ So blieb sie bis zum letzten Moment ein Wunder selbstloser Aufopferung, getreu dem Beispiel des Gekreuzigten, mit dessen Namen auf den Lippen sie verschied.

Ist die ›Ketzerin‹ aber erst verbrannt, dann besudelt man noch ihre Gebeine, indem man sie später zur Schutzpatronin des pfäffisch-royalistischen Obscurantismus zurechtschneidert!«

»Hm,« machte Dondershausen, »Schani, zahlen!« Es wurde ihm sehr ungemüthlich in der Nähe dieses Revolutionärs. Jener aber docirte unbeirrt fort:

»Nein, die Weltgeschichte ist kein Chaos von Gräuel und Unsinn, wie quietistische Pessimisten, die selbst keinen Finger rühren würden für eine tapfere That, gerne behaupten. Sehen wir nur auf die ›höheren‹ Stände, auf das Getriebe der sogenannten ›Politik‹, den brutalen Kampf ums Dasein auf der schimmernden Oberfläche der Gesellschaft – denn allerdings scheint das Bild für den Wissenden ein trübes. Aber fort und fort offenbart sich der heilige Geist zur Rettung der verschlammten Welt unter den Unscheinbaren und Geringen. Der Unterdrückten Vorrecht ist das Genie – ihr Vorrecht und ihre Rache.«

»Empfehle mich. Auf Wiedersehn.« Herr von Dondershausen nahm seinen Hut und machte sich aus dem Staube. Erich von Lämmerschreyer half ihm dienstbeflissen, wie es seine Art, in den Ueberzieher hinein und complimentirte den Herrn Oberst ganz gehorsamst mit vielen Bücklingen bis zur Thür. Er mißbilligte aufs tiefste die thörichte Weltunklugheit, einer so gewichtigen Person verstockt zu wiedersprechen. »Haben Sie das Neuste von Hamerling gelesen,« fragte er, um zu einem neuen Thema abzulenken, »seine Gedichtsammlung ›Blätter im Winde‹? Großartig, nicht?«

»Recht hübsch,« sagte Leonhart trocken. »Du lieber Gott? Wie kann etwas in Versen heut großartig sein? ›Großer Dichter‹ las ich neulich in dem Artikel eines unreifen Epigonen über den Guten. Wer heut nicht in Prosa schreibt, zeigt schon an sich, daß er kein großer Dichter ist.«

»Das scheint mir doch etwas einseitig.«

»Durchaus nicht. Wie kann man anders als in Prosa die großen Fragen der Zeit realistisch, wahrheitsgemäß behandeln? Und wer das nicht kann und will, ist überhaupt kein Dichter im höheren Sinn, sondern ein Epigone.«

»Aber in Hamerling's Epen, wenn sie auch in entlegenen Zeiten spielen, werden doch alle Fragen der Gegenwart berührt.«

»Sehn Sie, darin liegt grade der Fehler! ›Es giebt nichts Neues unter der Sonne‹ diese Ben Akiba-Phrase ist eine der elendesten, die je verbrochen. Es giebt jede Minute Neues. Die Natur macht kein winziges Blättchen in ihrer unerschöpflichen Fülle dem andern ähnlich – und da sollten Menschen und Dinge sich gleichen? Ewig gleich sind nur die großen Gesetze der Entwickelung. Wer das Alterthum ›realistisch‹ zu schildern meint, macht sich für den Geschichtsforscher lächerlich. Wir können uns absolut nicht in den Gedankengang antiker Menschen versetzen. Und wer gar moderne Ideen in antikem Gewande aussprechen will, der thut der Geschichte wie der Dichtung und endlich sich selber, dem modernen Dichtermenschen, Gewalt an. Dostojewski im ›Raskolnikow‹, Zola im ›Germinal‹ – das sind wahre echte Dichter.«

Die Beiden verließen das Café Bauer. Es war so schneidend kalt, daß sie unterwegs im Café Kaiserhof einkehrten, um sich durch einen Grog zum Weiterwandern, zu stärken. Leonhart gerieth dabei in so gereizte Stimmung, als er am Nebentisch einige »politische« Journalisten ihr unreifes Tagesgewäsch über die »Wahlen« verzapfen hörte, daß er Lämmerschreyer'n laut fragte, warum er nicht politischer Journalist geworden sei. Wie könne man ein so schlechtes Metier wie das des Dichters ergreifen, wo man heutzutage ungeheur viel Geist nöthig habe, um überhaupt nur aufzukommen! Zum politischem Journalisten aber gehöre nur eine gehörige Portion Frechheit neben Dummheit und Unwissenheit, um Schiedsrichter Europas zu werden. Er solle mal hören, wie der Größenwahn der politischen Publicistik aus alles »Belletristische« herabschaue!

In gleichem Stil schimpfte er auf dem Heimweg weiter. Da sei neulich ein Vetter zu ihm gekommen, der als Offizier in die Armee getreten sei. »Ein Knabe von neunzehn Jahren!« Da sagte ich zu mir: »Du Junker, der Du nichts bist und weißt, stehst jetzt bereits in der Achtung der Gesellschaft zehnmal höher, als Ich, der ...« er wollte sagen »der große Dichter«, verschluckte es aber anstandshalber, »Jaja, mein Lieber!« Die Beiden hatten sich bierselig untergefaßt und schwankten mutterseelenallein durch die bitterkalte Nacht, die durch das bläuliche Licht der elektrischen Laternen auf dem Leipzigerplatz gleichsam noch eisiger angefröstelt wurde. »Darum seien wir uns klar, daß man nicht vorsichtig genug in der Wahl seiner Eltern, aber noch vorsichtiger in der Wahl seines Berufes sein muß. Wir haben das allerschlechteste Theil erwählt. Wie konnten Sie nur so dumm sein, als Dichter geboren zu werden?«

»Ich kann doch aber nichts dafür,« lallte Jener humoristisch. »Und so sind wir's doch will mal, daran ist nichts mehr zu ändern. I was, wenn ich nur genug habe, um grade leben zu können und dabei schaffen kann, bin ich scholl ganz zufrieden,« spielte er sich als Diogenes auf. »Na, nun wollen wir uns mal – he, Droschke! – als schäbiger Geistesproletar ein Nachtfuhrwerk leisten! Adios, Meister!«

»Ja, wollen Sie etwa gleich vierspännig fahren?« murmelte Leonhart.

III.

»Lieber Federigo, komm doch heut Abend in die Weinstube von Huth. Dieser kleine Mensch, der Krastinik, möchte mit uns zusammensein. Er bewundert mich sehr, sagt er. Neulich bei der Ibsenfeier lernt' ich ihn kennen. Hätt'st Du doch nur diesen Pipsen gesehn mit seinem Hofrathsgesicht und seinen Ordensketten! Das will ein Socialist sein, ein Demokrat, haha! Wenn man mich zum Wirklichen Geheimen Oberregierungsrath erheben wollte, ich stieße den Bettel mit dem Fuße fort. O dieser Pipsen, diese feiste Wildente! Ich sage Dir, wie die ›Gespenster‹ sind sie ihm nachgehuscht – K., der Knochenmann, und dann dieser B. mit der Abrahamsnase und Sch. mit der kalten Bulldoggenschnauze, diese zwei Macher in Ibsen-Schwindel –, als Er mal 'rausgehen mußte. Und dann, als er wiederkam (sie standen alle, vor der engen Pforte Spalier) – wie roch der Meister!«

Dein Schmoller.

»Unabhängige Gesinnung. Die ist erloschen. Man hat ja die Zunftkritik zu einem Sinnbild der Unanständigkeit erhoben.« Leonhart schimpfte in nervös erregten Fisteltönen auf Krastinik ein. »Halten Sie doch eine Reihe von Recensionen, lobende wie tadelnde, über irgend eilte ungewöhnliche Leistung, die sich nicht mit den üblichen Cliché-Phrasen abspeisen läßt, nebeneinander! Sie werden schaudern vor dieser abgründigen Unreife. – Sie, Kellner, eine neue Flasche Mosel! Säure vertreibt Säure.«

»Ja wohl,« schrie Schmoller. »Es giebt keine Kritik mehr! Bestochenes Lob, bestochener Tadel! Wer bei jeder Recension den Grund kennt, mag vor Ekel keine mehr lesen. Mit der Diogeneslaterne muß man suchen, nur einen Mann von Ehre unter den Schriftstellern und eine Zeitung von nicht allzugroßer Schmutzigkeit zu entdecken.«

»Ganz richtig,« fiel Leonhart ein, »vor Allem fehlt überall der weite geschulte Blick, der nicht am Aeußerlichen kleben bleibt, sondern ins Innere der Dinge dringt. Das Kennzeichen jeder alexandrinischen Epoche, der seichte und nüchterne Formalismus, weht uns allerorts erkältend entgegen – selbst aus den kritischen Ergießungen der noch leidlich vornehmen und unbefangenen Geister.«

»Aber was wollen Sie denn!« warf Krastinik ein. »Ihre neue Richtung hat ja doch theoretisch auf allen Punkten gesiegt, trotz aller Bajazzosprünge der ›Alten‹! Freilich ein Beweis für die Gewalt der Wahrheit.«

»Ah pah!« rief Schmoller. »Werden diese Vers-Erbrechen, diese rhythmischen Diarrhoës nicht immer noch gepriesen und auf der litterarischen Mode-Tafel servirt? Liebt der biedere Deutsche nicht immer noch, dies schleichende Gift sentimentaler Lüsternheit den Backfischen, Höheren Töchtern und Salondämchen auf dem Weihnachtstische zu kredenzen?«

»Und doch täuscht dies nicht über die litterarische Vernichtung der ganzen älteren Generation. Schränkt doch eure Polemik ein! Ignorirt sie doch! De mortius nil nisi bene.«

»Hübsch gesagt, Herr Graf.« Schmoller lachte auf. »Aber diese siegreiche Armee der ›Neuen‹ bildet doch auch nur eine buntscheckige Falstaff-Kompagnie. Was segelt heut nicht Alles unter der Flagge des ›Realismus‹ – daß Gott erbarm! Kraftmeierei, Salonsäuselei, Formdrechselei! In wie Wenigen lodert das Elementar-Dämonische, der eigentliche Grundtrieb der Poesie – von dem unser Freund Leonhart immer redet.«

»Wohl,« sagte dieser ruhig, »aber an glänzender Begabung für alles Technische, an hochgestimmter Auffassung des Schönen, an blendender Stilbehandlung scheint doch kein Mangel. Und was für männliche Charakterköpfe, die sich klar profilirt in kernhaft wuchtigem Vorfechterthum für alles Echte und Gute abzeichnen! Dafür tausche ich gern das wohlabgetönte abgerundete Künstlerthum der Alten ein!«

»Ah pah!« warf Schmoller ein. »Mit Deiner warmen Anerkennungs-Manie hast Du so Viele herangezüchtet, die gar keine Realisten sind. Z.B. Albert Wohlheim, diesen hermaphroditisch weichlichen Romantiker mit seiner krankhaft zarten Mimosenhaftigkeit der Charakterskizzirung. Mir ist diese weichliche Schmerzenswollust, diese schwüle nervöse Sinnlichkeit, diese grelle, Effekthascherei zuwider.«

»Hm, da steckt doch aber unter aller Koketterie etwas Wahres. Allerdings mehr bildkünstlerischer Formensinn, als eigentliches Dichterthum. Coloristische Makartereien. Doch bleibt er trotzdem ein reifes und in sich geschlossenes Talent.«

»Aber kein ursprüngliches.«

»Offen gestanden, wenn ich nur ein Urtheil erlauben darf,« meinte Krastinik, »scheint mir Wohlheim doch in seinen Romanen nur ein Lyriker, freilich oft von magischem Stimmungsreiz. Und in seiner form-unsaubern eintönigen Weltschmerz-Lyrik ist er nachahmender Eklektiker. Ueberhaupt ein Epigone. Der gehört noch ganz zu den Alten.«

Schmoller begann jetzt furchtbar aus Hans Holbach zu schimpfen, den er einen »vertuschelnden Schönfärber«, halb sentimental halb nüchtern, nannte. Demgegenüber betonte Leonhart Dessen gefällig leichtes Erzählertalent, ungezwungene Stilflüssigkeit, goldklare Durchsichtigkeit der Darstellung, gesunde Fülle des Wirklichkeitssinns, Weltkenntniß (»ja, sehr prak tische Weltkenntniß« schaltete Schmoller ein), Thatsächlichkeit der Auffassung (»ja, kaufmännisch-kluge!«), reisen künstlerischen Geschmack, lyrische Ader, die in feiner Empfindungsmalerei schwelgt.

»Bezüglich des reisen Geschmacks,« bemerkte Krastinik, »möchte ich wohl einwenden, daß dieser durch einen organischen Fehler gehemmt wird. Die übersprudelnde Laune seiner realen Weltbetrachtung verlockt ihn, über den Nahmen des Kunstwerks wegzuspringen. Ein neckischer Kobold zupft ihm manchmal am Ohr und der Erzähler überläßt sich seinen Einfällen.«

»Darauf beruht grade Holbachs Stärke: auf dem Episodisch Anekdotenhaften. Welche Frische! Und nirgend wirkt seine weltmännische Gewandtheit parfümirt. So bildet er eine Ergänzung zu Schmoller, einen Uebergang zu dem knorrigen Elementarismus der eigentlichen Realisten: so spielt er eine bedeutsame Vermittlerrolle.« –

Als Krastinik gegangen war, fing Schmoller an, diesen kräftig durchzuhecheln. »Diese Dramen-Versuche!«

»Doch nicht ohne Glück. Sein sprühend lebhaftes Naturell befähigt ihn, lebendige wirkungsvolle Scenen aneinanderzureihen. Allerdings versagt bei ihm grade das, was den wahren Dramatiker macht: Straffe Spannung des Conflikts und zielgerechter Aufbau. ›Handlung‹ macht noch kein Drama. Darüber täuscht er uns nicht weg mit seinen theatralischen Kinkerlitzchen und dem schillernden Kolorit seiner Jamben.«

»Und wie vergriff er sich in seinen Stoffen! Nirgends ein schüchterner Griff ins Realistische! Oeder Jamben-Epigone. Von eigentlicher Gestaltungskraft und Vertiefung keine Spur. Die psychologische Entwickelung wird stets als etwas schon Vollzogenes gegeben. Fadenscheinige Dürftigkeit der Fabulirung. Alle Vorgänge sprunghaft und unvermittelt. Und dann die vielen Musterweiber und biedern Menschen! Von denen steckt die Welt ja voll – man merkt's nur nicht! Man kann auch diesen ›Realisten‹ unbedenklich jeder Salondame empfehlen, um so mehr der ritterliche Sänger dem deutschen Weibe so feinfühlige Complimente sagt. Na, er muß es wissen.«

»Gewiß,« gab Leonhart sein abschließendes Urtheil ab. »Seine ideenlose Sinnlichkeit schweift nur ins Theatralische und Bildmäßige aus. Aber er entbehrt nicht einer wirklichen Anschaulichkeit, einer gewissen rauhen Leidenschaftlichkeit. Seine lyrische Formbegabung verleiht auch seiner Prosa einen zarten Schmelz, wo er überall lyrische Momente verschwenderisch ausstreut und einstreut –«

»Ja, um mit solchen Ueberflüssigkeiten die allzu langsam rollenden Räder zu schmieren und die Lücken zu stopfen. Dieses lose Bündel mühsam zusammengeschweißter Genrebilder! Und wird mal ein Ansatz zu aufbauender Komposition sichtbar, so erlahmt er immer wieder.«

»Mag sein. Doch neben pikanter Junkerlichkeit begegnen wir hier stets einer unverwüstlichen Natürlichkeit des Ausdrucks. Auch strotzt er voll scharfer Beobachtung und weltmännischer Erfahrung. Und er schreibt meisterlich.«

»Ja, darauf legt unsre kümmerliche Zeit ja das Hauptgewicht,« brummte Schmoller. »Ach, das alles sind nur lodderige liebenswürdige Episoden-Dichter. Sie plaudern mit anmuthig ungezwungenem Weltton – das ist alles.«

»Ja, aber er kann sehr viel.«

»Möglich, aber er will Null. Das sind Alles nur Kunsthandwerker! Ich sage Dir, Du sollst nicht ewig Leute als Realisten preisen, die keine sind!«

»Ach, nicht davon droht uns Gefahr, sondern ganz wo anders her. Unsere Schulmeister-Aesthetik, die ja stets mit dem Strome schwimmt, fängt an, sich des siegreichen Realismus zu bemächtigen. Nun geht das automatische Einschachteln los, ob dies echter oder das unechter Realismus sei. Es tauchen schon weise Großväter auf, die aus der Weisheit güldner Wolke erhabene Sprüche tönen lassen, um das trockene Studium der Naturwissenschaften als obligatorisch zu empfehlen. Als ob man vom Componisten verlangen möchte, er müsse den Vorlesungen voll Helmholtz über die Schallwellen beiwohnen! Eine neue Abart der Philister-Pedanterie! Nächstens wird noch ein realistischer Aesthetiker die Höhere Mathematik für Berechnung der Zufallsmöglichkeiten den Romanschreibern empfehlen! Daß der Dichter die Bildung seiner Zeit umfassen solle, bestreite ich nicht. Doch dürfte Kenntniß der historischen und litterarhistorischen Entwickelung denn doch dem naturwissenschaftlichen Studium weit vorzuziehen sein. Wer alle Wunder der Physik und Chemie beherrscht, aber von Weltgeschichte und Weltlitteratur nur oberflächliche Kunde erhielt, bleibt ewig ein ungebildeter Mensch – nicht aber umgekehrt.«

»Sehr wahr,« brummte Schmoller mit vieler Befriedigung. »Weiß ich etwa 'was? Wie? Gar nichts, he?« Leonhart nickte zustimmend, indem er ein Lächeln unterdrückte. »Und doch bin ich Karl Schmoller. Das Leben muß man kennen, siehst de woll!«

»Natürlich. Die Wissenschaftlichkeit ist der Tod der Poesie und lockt keinen Hund vom Ofen. Solche zusammenspintisirten greisenhaften Experimentalromane wie Goethe's ›Wahlverwandtschaften‹ fußen auf wissenschaftlicher Grundlage – und mißlingen doch. Hingegen, als Goethe sich die Werther-Krankheit vom Leibe schrieb, da zeigte er uns den richtigen Weg. Man muß seine Dichtung gleichsam mit erleben; dankt erst bildet sich etwas Lebenswahres.«

»Ja wohl,« fiel Schmoller ein. »Darum verweben alle großen Schriftsteller ihre Erlebnisse auf oft kaum merkliche Weise in ihre Erfindungen. So z.B. habe ich ...«

»Allerdings,« unterbrach ihn Leonhart, »ist der hohe Lohn der absoluten Lebenswahrheit nur um den Preis einer schonungslos in den eignen Eingeweiden wühlenden Arbeit zu erringen. Aus diesem Grunde sind all die guten Rathschläge und Empfehlungen naturwissenschaftlicher Studien und gelehrter Experimentalmethode in hohem Grade unwissenschaftlich d.h. unwissend über den psychologischen Prozeß der wahren Dichtung, dieses nur dem Dichterdenker erschlossenen Räthsels. – Das echte Poeten-Ingenium beobachtet, fühlt und denkt einfach schärfer, tiefer und schneller, als die Durchschnittsmenschen, seien diese nun wissenschaftlich oder unwissenschaftlich. Es besitzt tausend unentdeckbare Saugfäden, mit denen es gleichsam naiv-unbewußt und instinktiv alle Bildungselemente in sich saugt. Daher die vielen Momentphotographieen naturalistischer Beobachtung in den Werken großer Dichter, die z.B. den alten Homer zum echten Naturalisten stempeln.«

»Jaja, Du docirst heut wieder einen schönen Stiebel zusammen,« gähnte Schmoller, der von der ganzen Auseinandersetzung, bei seiner verblüffenden Stumpfheit allem Theoretischen und Abstrakten gegenüber, kein Wort verstanden hatte. »Kurzum, ein wahrer Dichter ist ein großer Realist.«

»Aber nicht jeder große Realist ist ein Dichter,« wendete Leonhart ein. »Ein wahrer Dichter ist auch ein Realist, weil er ein Dichter ist. Aber Realismus ohne Poesie ist gar keine Poesie. Realismus ist kein Zauberwort, das feuilletonistisch-schriftstellerische Anlagen zu dichterischer Anschauung ummodelt. Man ist entweder ein Dichter oder man ist es nicht. Ob man die Jungfrau von Orleans oder eine Demimondaine schildert, ist dabei gleichgültig. Beides soll man lebenswahr schildern – nicht wie Schiller's Jungfrau oder Dumas' Kameliendame. Aber das ›Realistische‹ kommt doch immer erst in zweiter Linie – die Hauptsache ist, daß etwas bedeutend sei.« Er machte sich auf den Heimweg.

Irgend Etwas in diesen Bemerkungen mußte wohl auf Schmoller als unbewußt anzüglich gewirkt haben. Wenigstens äußerte er nachher zu Ambrosius Sagusch, den er gleich darauf im »Café Keck« traf, (wo dieser Sokrates eine Phryne väterlich liebkoste und zur Xanthippe umwandelte, da er sie hinterher nicht »frei hielt«) –:

»Ein ganz begabter kleiner Mensch, dieser Leonhart. Wenigstens als Lyriker ist er ganz bedeutend. Aber ›sociale Romane‹ will der schreiben? Lächerlich! Hat der je ein Berlinisches Lokal-Sittenbild geschrieben, wie ich schon mit zwanzig Jahren? Und das ist doch das einzig Wahre!« Als der Andere nicht recht mit der Sprache herauswollte, fuhr er verdrossen fort:

»Dieser Mensch! War der Stammgast je in einer Droschkenkutscher-Destille wie das Kind im Hause? Das ist mein größter Stolz. Noch nicht ins Leben hineingespuckt hat er! Immer die Taschen voll Geld gehabt! Nein, der vermag nicht das Leben zu erfassen. Das ist meine ehrliche Meinung, an der ich erst wankelmüthig werden werde« (er meinte, in grammatisches Deutsch übersetzt: »die erst wankend wird«), »an dem Tage, wo er gehungert haben wird wie ich.«

»So, hast Du schon mal gehungert?« fragte Sagusch trocken. »Beiläufig leih mir doch mal fünf Mark bis morgen!« (Unter morgen verstand der zukunftschauende Prophet des Jüngsten Deutschland natürlich das Jüngste Gericht.)

»Bedaure, bin selbst nicht bei Kasse!« lachte Schmoller auf und verzog sich eilig, indem er den Hohngesang anstimmte:

»Nenne mich Du! Nenne mich Du!«

... »Ein großartiger Kerl, der Schmoller,« dachte Leonhart. »Und wenn er auch ein Schweinehund sein mag, er hat sicher auch gute Seiten. Allerdings bleibt er ewig in seiner beschränkten Sphäre kleben. Ueber all solchen Detailarbeiten thront aber die kosmische Individualität in ihrer umfassenden Bedeutung, in der wie in einem Brennspiegel alle Strahlen des Realismus sich einen. Hocherhaben über neidisches Gekläff wie über die Blindheit unreifer Philister, schreitet die große Dichtkunst der Zukunft, des idealen Realismus und realen Idealismus, ihre dornige nebelverhüllte Bahn hinauf zum Gipfel des Berges. Haltet den Mund und arbeitet! Das möge sich Jeder zurufen der sich berufen fühlt zum großen Werk der Erneuerung.«

Er dachte dies mehr unbewußt. Ader hätte ihn Jemand gefragt, wen er sich unter der kosmischen Individualität vorstelle, so wäre er entweder die Antwort schuldig geblieben oder hätte sein Erhabenheitsgefühl zu der unerschrockenen Offenheit gesteigert: Mich selbst.

Allein, ein dunkles Gefühl seines Größenwahns drängte sich ihm dennoch auf und er erwog mit ruhigem Stolz, ob er an wirklicher Größe oder an Größenwahn kranke, ob er seine unleugbar hohe Bedeutung am Ende nicht doch überschätze. Konnte er nicht bloß der Marlowe eines Shakespeare sein? Wozu theoretisirte er noch so viel? Das sollte das Genie doch nicht thun. Vielleicht weilte der wahre große Dichter der Zeit noch unbekannt in unsrer Mitte, und wandelte schweigend in den Werkstätten umher, auf daß des Dichters Wort erfüllet werde:

»Der König Karl am Steuer saß, der hat kein Wort gesprochen,

Er lenkt das Schiff mit festem Maß, bis sich der Sturm gebrochen.«

Allein in solchen Erwägungen tröstete den jungen Dichter immer wieder sein Schicksalsglaube, der durch Geschichtsbetrachtung und eigene Lebensschicksale in ihm eingewurzelt und gereift war. Was sein soll, soll sein; man wird ja sehn. Wer groß ist, wird nicht klein, ob auch alle Welt ihn klein machen möchte. Wer klein ist, wird nicht groß, ob er auch aller Welt seine Größe aufschwätzt. Nicht der Erfolg, sondern das Urtheil der Nachwelt entscheidet. Außerdem – im Grunde wird doch Jedem, was ihm gebührt. Ausnahmen bestätigen die Regel. Man denkt wohl: Wieviel Cromwells als Landbebauer, wieviel Shakespeares als Dorffiedler, wieviel Moltkes als zur Disposition gestellte Majore, wieviel Rafaels als Zeichenlehrer enden – aber hat man je dafür einen strikten Beweis erbracht? Wie ließe sich das beweisen? – Die Wahrscheinlichkeitsberechnung ergiebt freilich, daß meist nur das Mittelmäßige und das sehr Gute in der Welt leicht Erfolg haben kann, das Gute viel schwerer. Jedoch, auch dagegen ließe sich viel einwenden. – Ist ein sogenanntes »Genie« liederlich und faul und kommt daher nicht zur Entwickelung, so ist es auch kein wahres Genie. Ein faules Genie ist in sich ein Unding. Und die äußeren Hindernisse? So manche Erfahrung lehrt (man sah es noch zuletzt an Bismarck und an Richard Wagner), daß eine höhere Führung, woher auch immer sie stamme, die Erkorenen aus Drangsal, Noth und Niedrigkeit siegreich zu den Höhen der Macht und des Ruhmes emporführt. Es giebt ein Schicksal. Ihm soll man sich demüthig anvertrauen, es wirds wohl machen. »Betet und schüttet frisch Pulver auf die Pfanne,« »dem Tapfern hilft das Glück« – diese Sätze sind nicht nüchtern und skeptisch aufzufassen. Die »Virtus« (nannten die Alten doch »Tugend« und »Muth« so richtig mit dem gleichen Namen) und die »Fortuna« bedingen einander innerlich. Gott läßt den Braven nicht sinken. Schlummert unter den Lumpen eines Bettlers, eines Derwisch, ein geborenes Herrschergenie – so wird Allah dies zum Padischah machen, auf die ein oder die andere Art. Jeder erreicht seine volle Bestimmung, ob so oder so. Wozu also der eitle Größenwahn! Größe ist Größe und bedarf keines anderen Freundes und keiner Ermunterung – denn das Schicksal steht ihm zur Seite.

»Ich habe so viel von Ihnen gehört und will mich min an die Lectüre Ihrer Werke machen, damit ich ein ehrliches unabhängiges Urtheil gewinne!« hob Krastinik plötzlich an.

Beide kamen an einem Tingeltangel-Keller vorbei. Aus der Tiefe tönte der Refrain des schönen Blödsinn-Hymnus: »Constantin – Constantin – Constantino – pel« und das nicht minder herrliche Lied:

»Mach' mir nur keine Wippchen vor, Wippchen vor –!«

Leonhart lachte leise. Es war ein stoßweises häßliches »Hähä!«, in dem man den ganzen Stachel einer verbitterten Seele spürte, die einst unter den Stacheln der Welt geblutet. Oft lag in seinen leichten höflichen Worten ein ätzender Hohn, der gleichsam spielend traf.

»Mach' mir nur keine Wippchen vor!« summte er halblaut vor sich hin.

Krastinik verstand. »Sie mißtrauischer Mensch Sie! Ich wiederhole Ihnen, ich will mir doch selbst ein Urtheil bilden. Welches Ihrer Werke empfehlen. Sie mir zur ersten Lectüre?«

»Alle!« erwiderte Jener lakonisch.

»Alle? Das ist etwas viel.«

»Bedaure. Meine Werke bilden in sich ein System, ein zusammenhängendes Gebäude. Lassen Sie eins aus, haben Sie nicht mehr den ganzen Dichter.«

Krastinik schwieg einen Augenblick. »Bien, werde Ihren Rath befolgen. – Nun sagen Sie mir aber mal offen: Was halten Sie von der litterarischen Gesellschaft Berlins?«

Leonhart antwortete nicht. »Ah, hier sind wir vor Ihrem Logis, Herr Graf,« sagte er ausweichend. »Gute Nacht.«

»Oho, so entkommen Sie mir nicht. Was halten Sie z.B. von Dr. Adolf Kratzenthal?«

»Hm!«

»Und von Herrn voll Schnapphahnitzkoi und von Doctor Gotthold Ephraim Wurmb?«

»Sie meinen kurzum, von der ganzen Blüthe unsrer Journalistik und Geschäftsfabrikantenlitteratur?« Leonhart drückte dem Grafen die Hand zum Abschied und entfernte sich eilig mit großen Schritten, nachdem er das eine bedeutungsvolle Wörtchen geflüstert: »Dreck!«

»Hochverehrter Meister,

Gestatten Sie, daß ich Sie so anrede! Ich bin noch ganz außer mir! Gestern Abend habe ich die Lectüre Ihrer sämmtlichen Werke geschlossen und bin noch weg und paff davon! Ich wollte Ihnen nicht eher schreiben, bis ich Alles verdaut hatte. Ja, alles! Sofort, am andern Morgen nach unserm Gespräch, machte ich mich zum nächsten Sortimenter auf (nicht zur Leihbibliothek) und kaufte (– wird man mir als dem letzten bücherkaufenden Deutschen nicht eine Bildsäule setzen? –) Ihre Bücher en bloc. Ueber Schwächen und Mängel im Einzelnen läßt sich ja rechten. Der Gesammteindruck aber ist der: An Größe der Anschauung, an allgemeiner Productionskraft stehn Sie ohne Gleichen unter den Lebenden da. Sollte ich denn wirklich der Erste sein, der das entdeckt und der das ausspricht? Sollte es möglich sein, daß alle Welt mit Blindheit geschlagen ist, das nicht zu sehen, was doch so klar vor Augen liegt? Wahrlich, ich werde irre an der Welt oder an mir selbst! Helfen Sie mir, dies Dilemma enträthseln! Bis dahin aber seien Sie versichert der steten Bewunderung Ihres (will's Gott) getreuen Schildknappen und Wagenlenkers.«

Xaver Graf Krastinik.

Mein lieber Graf Krastinik,

Ihr Schreiben hat mich gerührt und bin ich Ihnen dafür zu Dank verpflichtet. Allein Ihre schmeichelhafte Verwunderung reizte mich – verzeihen Sie meine Offenheit – zu stiller Heiterkeit. Nehmen Sie es als etwas Ehrendes, wenn ich Ihnen zurufe: Ach, sind Sie noch grün!

Die sogenannten Schriftsteller, sowohl die ungeheure Menge der Mittelmäßigen als auch die wenigen Bedeutenden, zerfallen moralisch in drei Kategorieen (Ausnahmen bestätigen nur die Regel): die Schurken, die Lumpe und die Dummköpfe. Die Schurken verfolgen mit allen Mitteln lediglich ihre Privat-Interessen, die Lumpe haben gar keine Meinung und die Dummköpfe eine Meinung, welche meist noch schlimmer ist als gar keine. Glauben Sie etwa, daß die Burschen, welche die »Oeffentliche Meinung« (lucus a non lucendo) vertreten, es auch nur der Mühe werth finden, die Autoren zu lesen, über die sie ein Verdikt abgeben? Hören Sie einen solchen Nullmenschen über mich faseln, so fordern Sie ihm sein Ehrenwort ab, ob er wirklich auch nur eins meiner Hauptwerke gelesen habe! Doch, pah! Das nützt nichts: Wo keine Ehre ist, wirkt auch kein Ehrenwort. – Lassen Sie's gut sein! Eines Tages muß die Wahrheit durchdringen; so groß ist ihre innere Unwiderstehlichkeit.

Noch eins. Sie werden wahrscheinlich gehört haben, ich hätte die Schwäche, Collegen zu »entdecken«, großzupreisen und dann ebenso schnell fallen zu lassen. Lassen Sie sich nichts vorreden! Tauschender Schein, leerer Schwindel – nichts weiter! Ganz grundsatzgetreu bleiben bekanntlich nur die Bösewichter und seine Ansicht corrigiren ist kein Fehler. Aber nicht einmal das kann man mir bei genauer Prüfung vorwerfen. Ich habe stets dasselbe über Andere gedacht und geschrieben von anfang bis heute. Zwar muß man abrechnen, daß ich einerseits gutmüthig und besonders dem Mitleid für »Verkannte« zugänglich, andrerseits nervös und verbittert bin – daß also der schändliche Undank, den ich stets von »Collegen« zu genießen das Glück hatte, mich irritirt. Das würde aber jeden Andern vielleicht noch mehr empören und ganz bestimmt dessen Urtheil beeinflussen, während bei mir die Objectivität stets die gleiche bleibt. Man wird Ihnen sagen – die nicht gelobten Collegen nämlich, die mein Lob über Andere ärgert –, daß ich später scharfe Dinge geäußert hätte über Leute, die ich früher zuerst begrüßte. Spezielle Widersprüche wird man zwar vergebens suchen, da mein Urtheil über das Einzelne stets feststand, einmal für immer.

Aber der Uebergang von wärmster Empfehlung der Begabung bis zu kühler Betonung der Grenzen dieser Begabung war immer der gleiche. Kaum hatte ich durch rücksichtsloses selbstaufopferndes Eintreten für hülflose Anfänger oder Verkannte denselben Bahn gebrochen, als auch die kritiklose Welt diese an meinen Rockschößen baumelnden Anhängsel für Gleichberechtigte neben mir selber hielt und mich mit diesen, von mir über Nacht geschaffenen neuen »Namen« in einen Topf warf. Ich müßte kein Mensch sein, wenn mich das nicht peinlich berühren sollte! Allein, das Peinliche liegt hier keineswegs in einem egoistischen Grunde: Wären diese Neuen, diese »Dichter von Leonhart's Gnaden«, wirklich auch nur entfernt gleichberechtigt, so würde ich der Erste sein, der dies anerkennte, so wie ich vor einem Größeren als ich mich neidlos beugen würde. Daran zu zweifeln, scheint für jeden Psychologen wohl ausgeschlossen. Die Logik spricht dafür; denn wer sich selbstlos bemüht, Andere, die ihm in keiner Weise nützen können, zu fördern und auf seine Stufe zu heben, der würde auch das Höhere mit gleicher Neidlosigkeit und Wärme anerkennen.

Aber das oben berührte Peinliche würde allein mein Wohlwollen noch nicht erschüttern. Da kommt aber ein andrer Umstand hinzu, welcher freilich in der Niedrigkeit der Menschennatur begründet. Die von mir Aufgepäppelten nämlich fühlen mit Unwillen die Last der Dankbarkeit. Sie fühlen ferner, daß das Vermengen ihres »Entdeckern« mit ihnen selbst, wie es der thörichten Welt beliebt, von diesem selbst nicht gebilligt wird. Den nothwendigen Abstand von ihm, in dem er sie, mehr unbewußt als absichtlich, seinerseits zu halten weiß, empfinden sie wiederum als eine Kränkung. Seiner Superiorität, welche sie früher, als sie sich schmeichelnd an ihn wandten, schon dem äußeren litterarischen Verhältniß nach als selbstverständlich anerkennen mußten, hat er sich durch seine Uneigennützigkeit ja nun selbst entäußert. Und die Welt, die es natürlich buchstäblich nimmt, wenn der Warmblütige irgend einen beliebigen Verkannten mit dem schirmenden Schilde »Mein Freund, der hochbegabte X.« deckt, nennt ja selbst »Leonhart, X., Y., Z. und all die Andern« ruhig in einem Athem – die Welt muß es ja am besten beurtheilen können!

Von jetztab beschuldigen sie ihn in den Krämpfen ihres heimlichen Neides, den sie nicht Wort haben möchten, des Größenwahns, weil er nicht dulden will (so sehr er sonst auch für sie ins Zeug geht), daß sie ihn (dem sie litterarisch alles verdanken, ja der oft gleichsam ihr litterarischer Erzeuger gewesen ist) mit frecher Familiarität unter den Arm nehmen. – Nun kommt das Entscheidende! Ihr »Gönner« hat tausend Feinde. Diese sagen sich, daß es das sicherste Mittel sei, ihn zu isoliren, wenn sie plötzlich seine früher überall todtgeschwiegenen oder gar beschimpften Schützlinge zu loben anfangen – auf seine Kosten natürlich. Und siehe, sie haben sich nicht getäuscht. Unter heuchlerischem Hin- und Herwenden, knüpfen die werthen Genossen und Freunde hinter dem Rücken ihres Häuptlings mit dessen Todfeinden intime Beziehungen an. Bald naht die Stunde, wo sie mit manchem Räuspern ihrer verlogenen und undankbaren Gemüther zu verstehen geben, die Genossenschaft ihres Ruhm-Erzeugers, ohne den doch ihre litterarische Existenz für die Welt todtgeboren geblieben wäre, compromittire sie. Was sie voll ihm und seiner Macht genießen konnten, haben sie genossen – jetzt können sie ja ihren Meister »dreimal verrathen« und mit fliegenden Fahnen zum Feinde übergehn, wo man sie mit heuchelnder Freundlichkeit empfängt.

Da erhebt sich denn plötzlich der beleidigte Löwe in seinem Grimm und ohrfeigt sie mit seiner Tatze, indem er ihnen überall den Flitter abreißt und ihre wahren Blößen zeigt. Darob großes Hallo! »Er ist kleinlich, neidisch, kann nicht vertragen, daß auch Andere gelobt werden; er ahnt eifersüchtig, daß sie ihm über den Kopf wachsen möchten!« Ihm freilich schreiben sie das nicht! Da lassen sie vielmehr die Züchtigung demüthig über sich ergehen, reden von ihrem »steten Dank trotzdem« oder gar von ihrer »trotzdem unabänderlichen Verehrung«, denn in dieser Maßregelung selbst haben sie gespürt, daß der Löwe doch noch lebt und daß er stärker ist, als alle seine Feinde miteinander. »Königsmacher Warwick« nennt man ihn im Scherz, der, wen er hebt, auch stürzen kann. Doch der Spitzname trifft nicht. Denn zu »Königen« kann er Niemanden machen, weil er selbst der König ist. Wohl aber kann er, statt des falschen Geistesadels, eine echte Aristokratie des Litteratur-Geistes gründen und darum hat er sie zu seinen Pairs ernannt. Ein König hat aber das Recht, seine Pairs ihrer Stellung zu entkleiden, wenn sie meutern – ihres wirklichen Adels nicht. Denn wer zum Ritter vom Geist geschlagen, bleibt ebensogut ein Ritter wie der König selbst, und den Adel selbst kann ihm Niemand rauben. Darum läßt man ihnen ihre goldenen Sporen, die ihnen stets gebühren, und sogar den verliehenen Herzogshut, aber nimmt ihnen die Talmi-Krone, die ihnen nicht zukommt. Gerechtes Wohlwollen und gerechter Zorn, in beiden dasselbe Gefühl der gütigen oder beleidigten Gerechtigkeit.

Um im Bilde zu bleiben: – Neben mir lebt noch ein andrer König, ein Nachbarkönig auf engerem und beschränktem Gebiet, dessen Königthum man nicht anerkennen will und der eigentlich ein König- ohne -Land, ein Herrscher ohne Vasallen, ist. Dessen Thron habe ich stets gestützt und werde ihn vertheidigen bis zum letzten Blutstropfen, ob er auch mich verrathen würde wie die Andern und mir nie ein Bundesgenosse – höchstens ins Gesicht mit lugenden Worten – war. Aber was schiert das mich! Zu ihm, dem Könige, halte ich, fest und ritterlich; ihn, meinen Feind oder falschen Freund, grüße ich stets mit dem ihm gebührenden Titel; denn er ist ein König.

Aber die Herzöge und Grafen und Barone des Litteraturreichs werde ich nie als gleichberechtigte »Herr Bruder« grüßen – und gestände ihnen alle Welt den Zaunkönigs-Titel zu. Das ist mein »Größenwahn«, mein königlicher Größenwahn, der da wurzelt in der Gerechtigkeit. Bernadotte, der in ein Paar Scharmützeln gesiegt, corrigirte seinen Meister, den Sieger in hundert Schlachten, wie einen Schulbuben – und die andern Marschälle fanden, Er werde alt und könne nicht mehr commandiren. Aber Napoleon blieb darum doch Napoleon.

So. Jetzt können Sie an der Hand dieses Briefes mich ins Irrenhaus stecken lassen. Wenn das nicht Größenwahn ist!

Ich danke Ihnen für Ihren freiwilligen Zuruf, Herr Graf, und werde ihn nie vergessen. Aber meinen Umgang suchen Sie nicht! Ich bin ein einsamer Mann und fliehe vor allem die Berührung mit dem Federvieh wie die Pest. Ich muß allein sein, denn ich weiß: Der Starke ist am mächtigsten allein. Leben Sie wohl! Ihr

Friedrich Leonhart.

Achtes Buch
I.

Man kappte in der Frühe die Seile. Bald nachdem sie die Anker gelichtet, glitten St. Paulis Mastenwälder hinter ihnen weg und Leuchtthürme tauchten empor.

Die Elbe warf schon bei Kuxhaven Wellen. Das Wasser trug jene schmutziggelbe Färbung, die es nach aufwühlender Erregung wie eine Art maritimer Gelbsucht zu bewahren pflegt. Verdrießlich und mürrisch starrte die Nordsee die Reisenden an, als sie jenseits der rothen Flaggentonnen, einige Stunden hinter Helgoland, endlich das offene Meer erreichten. Die Feldstühle fielen um, die Maschine stampfte gefährlich, die salzig bittern Seufzer der Meersirenen dunsteten über Bord. Doch die Wasserhölle beruhigte sich zusehends, ein heitrer Abend brach herein.

Immer vorwärts in der blauen Einsamkeit. Auf Schaum gewiegt, von Träumen geschaukelt, spinnt die Seele sich ein, wo es märchenstill wird in dem Einerlei der Meeresruhe.

Selbst die alte Jungfer aus Stavanger zankt nicht mehr mit ihrem Freund, dem Herrn Kapitän, und dieser schweigt noch beredter wie gewöhnlich. Der Handelsagent aus Altona trinkt unmenschlich viel Toddy, nur seinem rührigen Mundwerk eine Ersatzbeschäftigung zu bieten, denn zu schwatzen wagt er nicht recht. So majestätisch dröhnt der hörbar lautlose Psalm, der feierlich zum Himmel emporsteigt. Ein einziges Gebet scheint rings der Hauch des Alles. Der Weltengeist schwebt über den Wassern. –

Die bewegte See erschien nach Nord, Süd und Ost in einförmige Bleifarbe getaucht. Im Westen aber glitt ein silberiger Lichtstreif über die öden Wasser hin und brandete mit der durchsägten Woge an den Schiffsbord, den er warm bemalte. Es war, als wolle er das einsame Schiff, dem auch nicht das kleinste Segel am unermeßlichen Horizonte grüßend winkte, gleichsam verbinden mit einer lichteren Welt – wo aus den smaragdgrünen und azurblauen Durchblicken des dunstfleckigen Aethers ein sanfter Strahlenregen herabrieselte.

Einen Teppich goldener Fäden breitete die westliche Sonne vor sich her, die in einem gelben Fluidum langsam verschwimmend wie ein güldnes Heiligenbild über dem Wasserspiegel hing – mit einem Nimbus umwoben von unerträglichem Glanz. Die Strahlen spielten in der flüssigen Tiefe wie Goldfischchen hin und her – bis auf einmal der Sonnenball zu einer rothen Scheibe einschrumpfte und endlich wie ein flimmernder Glühwurm erlosch.

Die erste Nacht auf See in beklemmender Wasser wüste ängstigt stets die ungewohnte Brust. Alles sonnige Grün des Lebens scheint zu versinken, alle Schatten verschollener Leiden quellen aus dem Hades empor und geben dem Kiel Geleit als nächtige Schatten. Man fühlt sich sturmverschlagen.

Der kraftstrotzende überfütterte Holsteiner, der aussah, als sei die Seele von tausend verspeisten Ochsen und Hämmeln in ihn gefahren, mochte gut versichern, daß er jährlich zehnmal hin und herfahre auf der berüchtigten Seeroute Hamburg-Christiania. Schon bei der Mittagstafel hatte er durch seinen urwüchsigen Appetit nicht mehr zur Nacheiferung anspornen dürfen. Jetzt lag er wie ein Erschlagener in seiner Koje. Auch der gelehrte Bremenser, der prahlte, daß er als echter Sohn des Meeres wider alle Neptunische Tücke gefeit sei, brachte schon lang dem Poseidon beträchtliche Opfergaben.

Es schaukelte etwas, die See ging hoch. Eugen aber, am Steuerbord auf ein Pack Taue hingelagert, plauderte gemüthlich mit seiner Cigarre von alten stürmischen Fahrten, wo der Wind rauher pfiff als heut und seine Seele hochging in dunkeln Wogen, die jetzt gleichgültig ermattet. Die scharfe Kühlung drang durch sein Plaid, durchsiebte seine Haare und wusch ihm die Augen klar. O welche Frische, welche stählende Reinheit! Wenn das taktmäßige Aufrauschen der zurückgeschleuderten Wogen, die der Kiel durchschneidet, durch die Nacht ertönt, dann brauste eine ungeahnte Kraft in seinem Innern empor. –

Kathis musterhafter Magen hatte die erste Anfänger-Beklommenheit, leichtes Unwohlsein mit Kopfschmerz, überwunden und marschirte stramm an Deck hin und her.

Ein Schiff stellt bekanntlich eine Welt im Kleinen dar, jede Schiffahrt scheint ein Abbild des Lebens. Die Freuden gering und zweifelhaft als da sind: gute Luft, Essen, Trinken und Nichtsthun – die Schmerzen dafür um so unzweifelhafter, und dem Rest der Glücklichen, die von der Seekrankheit verschont bleiben, wird als Ersatz eine unersättliche Langeweile zu Theil. Auch die Glocken erinnern an die Abschnitte des Erdenwallens, an Tauf-, Hochzeits- und Sterbeglocken – hier Frühstücks-, Mittags- und Vesperglocken genannt. Dazwischen noch »Schiff in Sicht«, allerlei Commandorufe und die eintönigen Schläge, welche die Zahl der Schiffsstunden verkünden. Ach, nur der Haifisch versteht die Qualen eines seefesten hungrigen Magens an Bord zu würdigen. Die öde gähnende Wasserfläche scheint ein ähnliches Vacuum im menschlichen Innern zu erzeugen. Der Magen zeigt eine Geräumigkeit sondergleichen – wieviel Ballast man auch in seine elastische Ausdehnung stopfe, er scheint niemals zufrieden und für alles dankbar, Verdauliches und Unverdauliches, Gewohntes und Ungewohntes.

Kathi entwickelte eine feurige Hinneigung zu Hummersalat, weil derselbe durch seinen hartnäckigen Widerstand gegen Verdauung doch wenigstens eine dauernde Füllung bewirkt. Gekochte Steine wären einem jugendlichen Magen »zur See« grade recht.

Der Mond ging auf. Er hatte eine karmoisinrothe Färbung, welche sich allmählich ins Violette, dann ins Safrangelbe, dann ins Olivenfarbige verlor, bis er auf einmal in gespenstiger Helle weiß und voll auf seilten Wolkenthron emporstieg. Aber eitle breite Schattenwand thürmte sich langsam am Horizont entlang. In der Ferne huschte über die gekräuselten Wogen, dort wo sie genau unter der Leuchtwirkung des Gestirns zu ruhen schienen, ein spukhafter Glast dahin und zirkelte einen runden Strahlenkreis, der in rastloser Bewegung sich um sich selber drehte. Es war, als ob die Meerjungfrauen vor ihrem leuchtenden Herrscher mit silbernen Füßen in verwirrend hurtigem Neigen tanzten.

Das Meer holte voll und tief Athem und sang in mächtigen Rhythmen.

O allgewaltig harmonisches Brausen, o Wiederhall der ewigrollenden Sphären! Eine frische Brise fährt durch die Seele, und fegt allen Alltagsstaub von hinnen. Sanft schläft sich's in der engen Koje, wie ein Kind in der Wiege geschaukelt von der alten greisen Amme mit dem grauen Wellenhaar. Und sanft erwacht sich's, wie sie einlaufen in die Bai von Christiansand, die sie endlich empfängt nach so langer Irrfahrt. Das Wappen Norwegens weht in Lüften, sie betreten den Boden des alten Norge, der Vikingsheimath. Und dann steuern sie wieder drauf los, erst die Küste entlang, dann ins Skagerak hinein, wo meist kein Flecken Land zu entdecken und die Fluth tückischer stößt, als draußen in der offnen See.

Die Schären reihten sich im Mittagsschein aneinander. Ihre glatten nackten Wände strahlten wie Brennspiegel und die weißen Schwingen der Möven, die dort nisteten oder auf den Kämmen der Brandung sich schaukelten, blitzen in stäubenden Funken. Kieferbewachsene Kuppen krönten die Ufer: sie stiegen terassenförmig auf und nieder, wie eine höhere Fortsetzung der auf- und abrollenden Meereswogen. Ueber dem Allen schwebte ein seliger Friede mit säuselndem rosigem Fittich dahin.

Im Hafen lag Schiff an Schiff. Auch solche, die Havarie gelitten. Aus den alten runzeligen Häusern lugten hübsche Frauenköpfe. In grünangestrichenen Booten fuhren junge Mädchen, allein, kräftig mit den Rudern ausholend und ihre breiten gelben Strohhüte hebend und senkend. In der Ferne sah es aus, als schwämmen Butterblumen auf dem Wasser.

Aber bald verloren sie die Küsten aus dem Auge und das breite Skagerak versetzt sie wieder ins alte Einerlei grenzenloser Einsamkeit zurück. Die Mannschaft kommt in Bewegung, der Kapitän schneidet ein finstres Gesicht und beantwortet Eugens Frage, ob er denn wirklich heraufziehe, mit einem kalten Blick seiner wasserblauen Fischaugen und einem süßlichen Zuspitzen seiner schwermüthigen Lippen: »Ja wohl!« Er – das soll nämlich heißen: der Nebel.

Alles veränderte sich. Ein plötzlich auftauchender Dunst, der wie die weiße Kaputze eines Troll über das Skagerak hinflatterte, kroch bäuchlings über die Fluth und verwischte Nähe und Ferne. Das Schiff verlangsamte sein Tempo, wie ein Roß aus scharfem Galopp sich zum Trab mäßigt und endlich sogar in Schritt verfällt. Lange Minuten hindurch, wo der Nebel sie völlig rings umschlossen hielt, stoppte der Dampfer gänzlich und tastete sich Schritt vor Schritt, Kiellänge für Kiellänge, durch den Dunstkreis. Dazu das Schrillen der Kapitänspfeife, das Läuten der Nebelglocke, die Pfiffe der Dampfmaschine, alles um etwaige Schiffe aus ihrer Nähe fortzuwarnen. Doch die Gefahr, welche der Seemann ärger fürchtet als den Orkan, ging vorüber. Der Nebel fiel mehr und mehr, verzog sich und wich hinter ihnen zurück. So jäh und in so undringlicher Masse tritt er selten auf, außer in diesen norwegischen Gewässern.

Schon legten sie in Arendal an, wo sommerliche Lust die hügeligen Gassen mit traulichem Schimmer übergoß. Der frische Geruch aufgestapelten Holzes mischte sich dem feinen Salzarom des Fjords. Eugen drang in eine Conditorei ein, wo die Ladenjungfer am Klavier saß und eine Sonate spielte – ein rechtes Bild für die beschäftigungslose Behäbigkeit einer Stadt, die keinen Bettler zählt.

Au! Als Eugen seinem Entzücken über das virtuose Spiel der Ladenjungfrau, über sie gebeugt, einen etwas zu innigen Ausdruck verliehen, belehrte man ihn, daß eine Norwegische Confect-Beflissene nicht mit einer Berliner Confectioneuse zu verwechseln sei. –

Ein frostiger Frühmorgen sah sie in Christiania (für den kundigen abgekürzt: Xania) landen.

II.

Rother's Nachforschungen in Hamburg wurden ungemein vom Glück begünstigt. Da es Wolffert natürlich nicht für nöthig befunden, seilten Namen zu wechseln, wurde das Hotel, wo er gewohnt, bald ausgefunden. »Ja, war hier mit weiblicher Begleitung. Eine Dame – Cousine wahrscheinlich,« ein verschmitztes Lächeln begleitete diese Verwandtschaft-Bestimmung des Hotelportiers. »Sind vor einer Woche nach Christiana mit ›Kong Biörn‹ abgesegelt.« – Der Dampfer »König Sigurd« stach gerade in dieser Nacht in See. Ohne sich zu besinnen, bestellte Rother einen Kajütenplatz. Bei seiner tiefen Mißstimmung (er hatte zudem keine Paßkarte gelöst und einen alten Paß aus alle Gefahr hin mitgenommen, was ihn in Peinliche Unruhe versetzte, falls ein Beamter in Kuxhaven an Bord käme), gerieth er die ganze Nacht hindurch in aphroditische Spelunken zu einer alten Freundin, die einen Wein-Salon hielt und alle Jahre lebensmüder, anständiger und dicker wurde. Sie gab ihm im Morgengrauen das Geleit zum Hafen. Eine heitere Symbolik.

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Schon stampfte die Maschine gefährlich – das ist die offene See. Eine scharfe »Kühlung« peitschte die Wogen zu einer schäumenden Wasserhölle auf.

In Rother erwachte der Berufstrieb. Er blieb an Deck. Grün schwamm es ihm vor den Augen, doch gefaßten Muthes studirte er landschaftlich die Wuth der Elemente, indem er sich krampfhaft an den Mast klammerte. Unten im Zwischendeck stand schon alles unter Wasser, kein Passagier wagte sich die schnurgrad steile Eisentreppe an Deck hinaus. Ein regelrechter Sturm brach los. Nur der Kapitän in einem weiten Regenmantel saß oben vor seiner Karte und suchte nach dem Kurs. Sogar der Steward deckte plötzlich winselnd die Bank – selbst sein seefester Magen vermochte dem wundersamen Gast nicht zu widerstehen, der sich erst höflich meldet und die Visitenkarte abgiebt, bis er auf einmal unverschämt poltert und dem Magen-Wirth alle Habe zum Fenster hinausschmeißt.

Rother stand so lange oben, wie es anging. Alles Leben schien sonst im Weltenraum erstorben. Sein Plaid flatterte um ihn her, als wolle es ihn wie der Mantel des Faustus in die Lüfte entführen. Sein Mund erbleichte, sein Auge stierte verglast und das Blut erstarrte ihm in den Adern. Doch als Odysseus lauschte er den Sirenen, die ihn mit salzigen Seufzern besprühten.

Land endlich, Land! Dröbak's Kanönchen grüßen. Die werden einst Deutschlands Flotte in Grund und Boden schießen, falls es den nimmersatten Vettern, sobald sie Jütland verschluckt, belieben sollte, mal das gute Küstenland Norge's wie zur Zeit der Hansa in Besitz zu nehmen. Jaja, der »Tysk« genießt hier ein schlechtes Renommee als ein Alles-Annektirer und Jeden-Chikanirer.

Wenn auch am Stadtthor Bergen's nicht mehr das hanseatische Wappen prunkt, so haben die abscheulichen deutschen Räuber doch dort für immer ihr Blut hinterlassen, wie der Unterschied der lebhaften Bergenser zu den übrigen Vikingssöhnen ergiebt.

In Christiana darf man aber nicht an die Vikinger, die alten Nordmänner, denken. Der gleiche Wind weht noch vom Berge, aber der gleiche Himmel sah ein anderes Volk sich hier im Fyord stärkefroh ergehen, hier wo das Nest der Drachenschiffe lag – Seekönigsburg statt Deiner, Oskarshall!

Rother begab sich ins Hotel Victoria, wo Altengland sein touristisches Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Hier lungern manche Briten Wochen lang und ihr Reisegeld bleibt hier. Denn im Hochland soll man Hunger leiden und das mißfällt diesen Alpensteigern, denen nur Lawinen von Eierschaum im Alpdruck erscheinen.

Es konnte nicht schwer fallen, nach der Passagierliste des »König Biörn« und den Fremdenbüchern des Hotels das gesuchte Pärchen aufzugabeln. Sie hatten »Hotel Skandinavie« gewohnt, waren vor einigen Tagen auf der Route über Eidsvold nordwärts gegangen. Ob sie via Trondjem fahren wollten oder den Mjösensee entlang durch Gudbrandsdalen nach Romsdal reisen, das blieb ungewiß. Rother besann sich keinen Augenblick. Er rollte sofort auf den Rädern der Nordbahn gen Hamar.

In Norwegen erinnern die Einrichtungen, Verkehrsmittel, offiziellen Uniformen weit mehr an England-Amerika, als an Deutschland. Auch die Eisenbahn, mit der er dem Mjösensee ins Innere des Landes entgegenflog. In Hamar endet dieses Bahngeleise und zweigt sich von da nach Drontheim ab. Während die Anderen umsteigen, überlegte er, ob er bis morgen auf Ankunft des Dampfers, an den er Anschluß versäumt hatte, hier warten solle. Einen Tag Zeit verlieren? Nein, er wird den Mjösensee entlang mit Skyds, den zweirädrigen Carriolen, nach Lillehammer fahren. Ein freundlicher Norweger, hülfsbereit wie sie alle, führt ihn zu einem Wagenbesitzer. Dieser rothhaarige sommersprossige Bauer mit echtnordischem hartlistigem Ausdruck verlangt einen ziemlich hohen Preis, aber es scheint wirklich eine endlose Strecke. Um 5 Uhr Nachmittag starten sie und erst um 2 Uhr Nachts sollen sie in Lillehammer anlangen. Das Pferd sieht kräftig aus und hat gut gefuttert. Sie preschen los.

Hier und da grüßt zu Seiten des Weges eine Hütte, karmoisinroth angestrichen, wie alle Blockhäuser im nordischen Hochland. Das Gehölz wird spärlicher. Manchmal reckt sich nur eine hohe Tanne an steiler Felswand aus wildem Geröll, wie ein großer Gedanke, alle Trümmer überlebend, sich in verwüsteter Seele erhebt. Die letzten Strahlen der Sonne spielen durchs hohe Riedgras und, von goldigen Lichtern überzittert, schaukeln sich die Halme im leisen Wind.

Ja, der Fjord begleitet die endlose Fahrt. Unablässig sieht man durchs struppige Ufergebüsch sein glänzendes Auge. Rother hemmte etwas die allzu scharfe Gangart des Rosses. Es wird immer stiller, immer dunkler. Nur weiße Wölkchen darüber und silberne Sterne.

Um 11 Uhr Nachts hielten sie vor einer Skydsstation, um noch etwas Abendbrot aufzutreiben. Es gab uralten Schinken, der wie steinharter Bärenschinken, also wie getrocknete Schuhsohle, schmeckte: Eier von zweifelhafter Frische, für die man eilten verbogenen Kupferlöffel mit einer Rinde voll vorsündfluthlichem Schmutz erhielt; vorzügliche Milch und ranzigen Käse von röthlicher Farbe und süßlichem Geschmack, wie man ihn mir im Norwegischen Hochland findet. Der Skydsvorsteher und der Führer unterhielten sich über die Verrücktheit des Engländers, der mit Skyds das ganze Mjösen-Ufer abrase. Sie wunderten sich baß, als er in das Stationsbuch seine deutsche Herkunft einschrieb. Aber nur weiter, weiter! Immer hinein in die ahnungsvoll dämmerige Nacht!

Tausend Erinnerungen quirlten durch sein Hirn, während sein Auge das Mähnenflattern des rüstigen Rosses verfolgte.

Um halb zwei Uhr Nachts – es wurde schudderig kalt – hielt der Wagenlenker plötzlich die Zügel an und erklärte, daß sie unmöglich bis zum Morgen nach Lillehammer gelangen könnten; das Pferd sei zu erschöpft. Sie machten also zu Gjövik vor der nächsten Skydsstation Halt und klopften die Leute aus dem Schlaf. Er erhielt wirklich ein uraltes Himmelbett und versank in unruhigen Schlaf. Frühmorgens hockte er wieder auf der Carriole. Diesmal aber führte das Söhnchen des Wirths als Skydsbub die Zügel und plauderte unverdrossen in den lichten Morgen hinein, selbst eilt kleiner Morgenelf mit rosigen Bäckchen lind wasserblauen Augen. Sie führen fröhlich hindann.

Um Mitttag langten sie wirklich in Lillehammer an, mit einem Hunger erster Güte. Dort aus der Plattform des Hotels hoch oben die Thäler des Mjösenfjords überschauend, genoß er die letzten Stunden des Tages mit unsäglichem Wohlgefühl.

Tausend Sonnenpünktchen flimmerten über der spiegelglatten binnen Fläche des Sees. Doch die Schatten stiegen von den Bergen tiefer und tiefer, bis sie den Wasserspiegel berührten. Das schäumende Wehr glitzerte wie flüssiges Silber, Wiesen und Haferfelder in grellem Grün und Gelb. Meilenweit schlangen sich die Höfe, so schmuck und zierlich, als wären sie buntlackirte Papphäuschen aus einer Spielzeugschachtel. Und dann überlief den See plötzlich eine tiefgrüne Färbung, aus der sich nur in lichtem Grunde die abgespiegelten Waldwipfel abhoben. Die Berge in der Ferne tauchten sich in Violett und Dunkelblau. Ununterbrochen brauste das Wehr durch die schweigende Waldesnacht. Der spitze grellschwarze Schieferthurm der alten Kirche, der in der Abendröthe silbergrau geschillert, ragte jetzt mit kalter Schärfe in die durchsichtige Dämmerluft, während das stumpfe Ziegelroth des Kirchenrumpfes sich zu blassem Rosa abtönte.

Aber indem Rother sich so dem Genuß des Augenblicks hingab, durchzuckte ihn plötzlich ein eigenthümlicher Schrecken. Er empfand einen heftigen tickenden Schmerz, er griff nach der Brust – was war das?

Der Schmerz ließ sofort nach. Rother saß athemlos mit klopfendem Herzen da – aha, da kam er wieder. Und weiter, ab und zu, in regelmäßigen Zwischenräumen meldete sich der eigenthümliche stechende Tick an der Stelle, wo die Lungelflügel sich dehnen.

Rother versuchte mehrere Proben. Er holte tief Athem, er bückte sich – immer derselbe Schmerz. Dann holte er einen kleinen Handspiegel hervor, den er bei sich trug, und besah in der Nähe seine Hautfarbe. Kein Zweifel – runde gezirkelte Rothflecke zeichneten sich auf den Backen ab, unter den Augen wich das Fleisch wie ausgehölt und zusammengeschrumpft zurück. Kein Zweifel – das war die Schwindsucht.

Er untersuchte seine Brust. Sie schien so mager und eng, daß er unterm Halsknochen mit der ausgespreitzten Hand umspannen konnte. Schon als Knabe war er so schmalbrüstig gewesen, daß ein Arzt nach untersuchendem Klopfen bei einem Katarrh ihn angelegentlich fragte, ob er beim Treppensteigen keine Beschwerden empfinde. Beim Militär rangirte man ihn zur Ersatzreserve wegen allgemeiner Schwächlichkeit. Die Anlage lag also schon lange in ihm – die namenlose Aufregung der letzten Ereignisse hatte den Ausbruch nur beschleunigt. Schon früher hatte er den Stich gespürt; in der Nacht vorm Schlafengehen nach erregten Tagen hatte derselbe ihn heimgesucht. Aber er achtete damals nicht darauf. Nun war das Unglück da.

Was sollte er thun! Was suchte er eigentlich hier oben! Ein Grab? Besser, er kehrte gleich zurück, um in Ruhe zu sterben.

Seine Nachforschungen hatten ergeben, daß ein Pärchen wie das gesuchte hier nicht vorübergekommen war. Es fiel leicht das festzustellen, weil verschwindend wenige Touristen um diese Jahreszeit, ehe die Mitternachtssonne beginnt, Norwegen bereisen. Ob sie gleich nach Trondjem durchgefahren? Eine so anstrengende große Tour im Liebesfrühling einer »wilden« Hochzeitsreise? Kaum. Wahrscheinlich waren sie westlich, statt wie Rother nordöstlich, ins Hochland aufgebrochen – mit der vielgerühmten Drammenbahn über Krokleven und Hönevoß zum Randsfjord gereist.

Nun, er wollte wenigstens auch dies noch versuchen. Denn wozu war er sonst planlos, ziellos, in seinem wahnwitzigen erotischen Instinkt, wie der Hund dem Geruch nachschnüffelt, hinter ihrem Unterrock hergeschnobert? Das Lächerliche, Tollwüthige seiner ganzen Reise ging ihm aus. Was wollte er denn eigentlich! Diese romantische Pilgerfahrt einer Minnesiechheit mußte er selbst ironisch belächeln. Und doch! Was hatte er denn zu versäumen gehabt! Freilich, er hätte sich männlich überwinden sollen. Doch – die Vernunft redet und die Leidenschaft handelt. Machens Andre anders?

Was er wollte? Sie noch einmal wiedersehen. In das öde nüchterne Alltagsleben diese tragische Episode einsprengen. Wenn er sie überraschte, welch ein Moment!

Er sprang auf. Brustschmerzen oder nicht – auf zum Randsfjord! Skyds nach Odnäs und von da die Route zurück nach Christiana absuchen!

III.

Die Skydsstation lag aus dem Kamm des Gebirges. Diese Lage hat ihre Reize, aber auch ihre Nachtheile. Das merkte man heute so recht, wo der Regen mit dem Föhn um die Wette über die Wipfel hinpeitschte. Die bläulichen Schieferdächer der Holzstabkirche drunten im Thal, die noch vor kurzem im Sonnenschein geschillert, deckte bleifarbiger Flor. Die höchsten Spitzen schienen ersäuft und selbst die Schneekette, deren eingesenkter Grat sich wie ein doppelreihiges Gebiß hohler Riesenzähne gen Himmel fletscht – auch sie war im Dunstmeer untergegangen. Luftgebilde jagten dahin wie adlerbeschwingte Walküren; wie Flamberge zuckte es droben hin und her.

Wie Trauerflöre hingen die düstern Tannenzweige nieder, gleich braunen Segeln in dieser brauenden Brandung. Selbst die breite Stelle, wo der Bergrutsch wie mit dem Rasirmesser mitten durch Kiefern und Gestrüpp den Abhang glatt geschürft, verdunkelte sich. Alle Conturen verwischt, verquollen, verschommen.

Wie ein sturmzerfetzter Regenmantel legte sich ein grauer Nebelschleier um die schwarzbraunen Felsrippen. Bläuliche Dunstwölkchen verfingen sich in den Kronen der Riesenfichten, die aus den Abgründen bis über den Chausseerand sich emporbäumten. Wolken barsten und entluden sich ruckweis mit heftigem Schwall und verschlossen ihre Brunnen ebenso plötzlich. Donner und Blitz kamen jetzt selten zum Durchbruch, nur schüchternes Wetterleuchten zuckte auf. Aber jeder mäßige Elv (Thalfluß) stieg unaufhörlich und die langsamen Wasserfälle stoben jetzt jählings in die Tiefe, wie der Geier mit gesträubtem Gefieder senkrecht aus schwindelnder Höhe niederstößt. Selbst der niedliche Voß (Sturzfall) gegenüber der Skydsstation, der sonst wie ein dünnes Silberfädchen herunterpendelte, schien jetzt schon eine stattliche Quecksilbersäule. Dazu grollte es aus den Klüften, als wimmerten dort gefesselte Trolls; dem schrillen Tenor der Gießbäche mischte sich der dumpfe Baß des brandenden Fjords, und im Nadelholz pfiff und klagte es wie Aeolsharfen.

In dieser heillosen Sündfluth, wo jedes lebende Herz verdrossen und mürrisch dem Tod entgegenschlug; wo selbst die Natur das jüngste Gericht zu ahnen schien, wenn das All in dem großen gräulichen Urbrei versinken und nur der Leviathan aus der chaotischen Wasserwüste den Ararat bezeichnen wird; wo selbst der Berg sich in Rheumatismus zu schütteln schien, – da winkte die Skydsstation wahrhaftig als »Arche Noa« und der bleierne Gockelhahn über ihrer First als eine Oelzweigtaube.

Allmählich zerrieselten die Wasser des Himmels. Wo vordem breite Regensträhnen von den Bergen herniederhingen, als wären es die wirren Locken der Jötunriesen, aber deren niedergeschmetterte Häupter der Donnerwagen Tür's dahinrollt, dessen Speichen die Blitze entstieben; wo der Donnerer in sein Schlachthorn geschmettert und sein Nornenlied angestimmt hatte, daß ihm vom Flammenart die brennenden Funken fielen; wo er des Sturmes knirschende Weichen gespornt und den Miölnir-Hammer durch den ächzenden Himmelsraum geschleudert, – da spannte er jetzt seinen Regenbogen und entsendete Farbenpfeile durch alle Lüfte. In Balsam sind die Pfeile getränkt – berauschender Duft stieg überall aus der köstlichen Frische der neuverjüngten Erde wie ein Dankgebet empor.

Scholl hallten die goldenen Hufen des Sleipnirrosses auf der Walhallbrücke Bifröst: Odin kehrte heim vom Sturmritt durch den Aether.

Die durchsichtige Luft zeigte das Phänomen der Mondspiegelung – jenen zweiten Mond, der sich in irisfarbigem Dunstkreis um das Gestirn bildet und es wie eine Kapsel umschließt. Allmählich veränderte sich der peinliche blaßgelbe Schimmer, ein unbestimmter rother Reflex flog darüber, und der braunrothe Ton der Ginsterhalde mit den carmoisinroth angestrichenen Holzhütten darin nahm eine tiefere Färbung an.

Aus den Schlüften qualmten und quirlten unheimliche Spukgestalten hervor. Droben jagte der Fenriswolf die zitternde Wolkenheerde vor sich her. Und jenseits der Bergmauer des Fjorde schmetterte die Midgardschlange ihren grünlichen Schweif mit zischendem Geiferschaum an die Schären.

Noch lagerten die Wolken breit und massig auf den wuchtig überhängenden Kuppen, noch lagerten sie mitten auf der Bergstraße. Dumpf und undeutlich wie die Töne des Nebelhorns drang das Hott! und Hü! von drunten herauf. Und erst als die Carriolen beinah in den Hof der Station gelangt und der tüchtige Wolfshund mit knurrendem Spektakel ihre Ankunft verkündet hatte, traten die triefenden Köpft der dampfenden Pferde, die an nasse Nacken anklebenden Mähnen, die gequetschten Deichseln – oder an ihrer Stelle derbe Baumäste, mit Seilen an die Speichen und Achsen des gebrechlichen Gefährts befestigt – aus dem Dunstkreis hervor. Jetzt sprangen auch die allesammt sommersprossigen, rothwangigen, rothhaarigen, rothhändigen Skydsbuben vom Hinterbrette ab, schlenkerten die nasse Peitsche und hauchten in die klamm gewordenen Fäuste.

Endlich trat auch der Leiter der ersten Carriole, wie eine Dachrinne triefend, über die Schwelle des Wirthshauses, indem er einen Ballen Plaids hereinschleppte. Hinten sah man noch eine undeutliche Masse sich schwerfällig heranbewegen, wobei ein vom Sturm umgeklappter Schirm im Umriß erkennbar wurde.

Drinnen in der getäfelten Stube mit den ungekalkten Wänden, wo am groben eichenen Tisch mit Holzschnitzereien, wie das kunstfertige Tällekniv sie in Valders und Hallingdal liefert, und auf den ungeschlachten Querbänken ein Paar alte Bauern und Fuhrleute hockten, saß man freilich wohlgeborgen. Der eiserne Ofen pustete und glühte. Was aber noch an Wärme abging, das ersetzte der Aquavit aus Drammen und der Drontheimer Branntwein, sowie das starke Oel (Bier) aus der Carl-Johanns-Gade in Christiania, wie die Etikette besagte. Dazu gab's süßen rothen Käse und armseliges Flachbrot, auf das man Fett herabträufeln ließ, indem man Speckscheiben am Spieß übers Herdfeuer drehte.

Ja, wenn der Engelske, der da wohl ankam, sich dachte, hier könne er sich behaglich on the fireside am Caminfeuer wärmen, indeß dort über den Gitterstäben ein Gericht Eggs- and -Bacon, Schinken mit Spiegeleier, und knusprige Toaste schmoren, – da hatte er die Rechnung ohne den Wirth gemacht, der breitbeinig und mit langherabwallendem Weißhaar rauchend am Thürpfosten lehnte.

Dieser hielt aus strenge Zucht den hergelaufenen Fremden gegenüber und verdammte ihre Ueppigkeit. Er gab ihnen daher karge und knappe Fütterung, auch Viehställe und Heuschober mit rührigen springenden Insassen als Obdach.

Zur Entschädigung nahm er aber auch dafür eine ungeheure Zeche und schmetterte jede Aufsätzigkeit mit der naturwüchsigen Logik nieder: »Ihr seid reich, wir sind arm. Wir haben Euch ja nicht gerufen. Wenn Ihr also kommt und uns nöthig habt, so gebt uns einen Theil Eures Reichthums mit.«

O, er war eilt freier, unabhängiger Mann, ein Verächter aller Standesunterschiede, – weswegen er auch den Verkehr mit andern Dorfmagnaten möglichst vermied. Denn sie waren ihm ja nicht ebenbürtig, der direkt von Harald Schönhaar abstammte, zu dessen Ehren er auch sein Haar nicht schor.

Wie viele Binder muß doch jener außerordentliche König gehabt haben, sintemal ganz Gudbrandsdalen von beglaubigten Abkömmlingen desselben wimmelt! Aber Ole Erikson's Frau (die soeben beim Durchwaten der Entenpfütze ihre dicken Waden sehen ließ) bewahrte eine Silberschüssel, die der liebebedürftige Harald einer steingrauen Urmuhme höchstselbst zum Andenken verliehen hatte. Also! Mit tiefer Geringschätzung sah der würdige »Republikaner« auf die neugebackene schwedische Königsfamilie, herab.

So vermißte man denn auch das Portrait des Dichters Oskar in der Wirthsstube. Statt dessen gab's da zahlreiche Reclame-Annoncen pennsylvanischer Firmen, betreffs neuer Säe- oder Mähe-Maschinen. Auch ein Plakat mit einem einladenden Auswandererschiffe, Linie Stavanger-Boston, war draußen an die Mauer geklebt; es hatte durch die Feuchtigkeit ordentlich ein Leck bekommen.

Nichts rührte sich, als die Schiffbrüchigen da draußen landeten. Die Gäste drinnen stießen mit den Humpen an und brüllten »Skol!«, als wollten sie die Windsbraut übertönen.

Der Wirth jedoch schmauchte ruhig fort, ohne Wort und Gruß, indem er sich die triefenden Jammergestalten mit jener gemüthvollen Freude betrachtete, welche ein guter Mensch im Hafen beim Anblick der stürmischen See empfindet, wo vielleicht Viele stranden.

Auch als Eugen Wolffert ihm direkt mit einem »Good evening!« auf den Leib rückte, brummte er nur ein kühles »'Evening, sir!« zurück. Der Treffliche, ertheilte nämlich den Gästen häufig zarte Winke, daß man in Norwegen seltsamerweise Norwegisch rede. Und so standen sie beide in der engen Thür, dicht vor sich die Alpen, die das Thälchen zusammenklemmten und bis zum Rand der Chaussee fast senkrecht anstiegen, rings der strömende Regen. Standen und schwiegen sich an, zwei einsame Menschen verschiedener Zunge in der ernsten Felsöde. Der Wirth paffte in die Luft, kühl bis aus Herz hinan. Erst als die undeutliche Masse im Hintergrund sich von einem umwickelnden Plaid losgehülst hatte und zwischen die Beiden trat mit fröhlichem Lachen der blinkenden Zähne und kirschroth feingeschwungenen Lippen und mit schelmischem Leuchten der graugrünlichen Augen, – da klopfte der Bauer bedächtig die Pfeife aus. Das war doch ein gar zu schmuckes Weib!

Jetzt verstand er auch gebrochen Englisch und leuchtete den Herrschaften, die sehr müde waren und unterwegs von Conserven ihr Abendbrot verzehrt hatten, die altväterliche Fremdenstube hinauf. Sie seien doch – ja, hm – Mann und Frau? »Ja freilich!« versicherte Wolffert. Kathi, die den Sinn der Frage vom Gesicht ablas, wurde sehr roth und fragte Wolffert halbkichernd, was Jener denn gefragt habe. Als einzige Antwort gab ihr der Amoroso einen Kuß. – Wann die Herrschaften nach norwegischer Sitte warme Spritzkuchen und Kaffee aus Bett gebracht haben wollten? »O!« meinte Wolffert lachend, »er werde schon selbst rufen, sobald seine ... seine Frau aufgestanden sei.«

Der Wirth hustete schmunzelnd und verständnißvoll, und zog sich diskret zurück. Seinen Segen hatten die Beiden. Eugen schob den Riegel vor.

»Es riecht hier schrecklich nach Farbe.« Kathi nestelte an ihrem Mieder.

»Ja, unerträglich. Da lassen wir einfach das Fenster auf.«

»Aber ich bitte Dich..« Kathi wandte sich halb schmollend ab, indem sie den klassisch modellirten rechten Arm in die Hüfte stemmte und mit der linken Hand am Munde herumknabberte.

»I was! Die Sterne freuen sich nur über uns. Sonst hört uns Keiner.«

»Horch!« Ein eigenthümlich angstvolles Lauschen spannte Kathis Züge, ihre Augen traten weit hervor.

»Was ist Dir, Liebchen? Der Fjord rauscht draußen. Der hört nicht auf. Der wiegt uns ein als unser Hochzeitlied.«

»Jaja,« wiederholte sie gedankenlos, indem sie wie abwesend in die Ferne starrte. »Mir war, als hört' ich eine Stimme ... von Jemand ... Ah!« Sie schrie leicht auf – Eugen hatte das Licht gelöscht.

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Der Norweger lacht ungern und nirgends schweigt man so unheimlich. Der Optimist mag hierin die tiefe Innerlichkeit des Nordländers erkennen. Allein die tiefsinnige Gedankenthätigkeit dreht sich hier doch meist darum, wie man aus einer Krone einen Speziesthaler macht – freilich, wo wäre es anders! Ihre Dichter und Künstler können es nie in ihrer Mitte aushalten, obschon kaum eine Nation der Welt so künstlerisch beanlagt und nur die Dänische reicher an ästhetischen Bildungsphilistern ist. Die Respektabilität in weißer Halsbinde, die über jede wohlriechende Fäulniß den Mantel christlicher Liebe breitet, herrscht in den Städten; im Hochland Haugianische Mystik.

Die Schrecken der Natur und das Hineinragen ihrer Nachtseiten ins Menschenleben führen oft zu sittlicher Verwilderung. Laster und Leidenschaften treten dort mit verdoppelter Stärke auf, wenn auch die frühere Einfuhr von zahllosen Ankern Branntwein in diese Alpengaue statistisch sehr nachgelassen hat und jetzt manche Thäler als unfreiwillige Temperenzler von Kuhmilch und Milch der Menschenliebe leben. Im Bergensstift fand der norwegische Grimm, Asbjörnson, die Märchen zu schmutzig und grobsinnlich, um sie in seine Sammlung aufzunehmen. Dort war's, wo die Frauen zu jedem gemüthlichen Trinkgelage die »Leichenhemde« ihrer Männer mitnahmen, weil man nicht wissen konnte, was passiren würde. Auch jetzt spielt dort das Seitenmesser (Tällekniv), das auch die Gebildeten manchmal aus Affektation an der Hüfte tragen, eine bedeutende Rolle. Man sitzt stets auf einem Pulverfaß. Der Norweger scheint entweder ein verkniffener Choleriker oder ein sommersprossiger Sanguiniker, der jeden Augenblick in Feuer und Flamme geräth.

Dazu kommt der republikanische Grö ßenwahn, der, ähnlich wie die praktischen Schweizer auf die »Förschtenknechte Deutschlands«, auf die Händel Europas im Voll-Bewußtsein eines demokratischen Musterstaats herabsieht.

Dazu noch der Größenwahn der Halbbildung. So sprach der Wirth Wolffert's vier Sprachen, und übte sein Englisch an Shakespeare und Dickens – urtheilte aber, der Letztere sei natürlich viel größer, weil er verständlicher schreibe!! Dieser schauderhafte demokratische Größenwahn des souveränen Pöbels treibt in sogenannten Bauern-Universitäten Nationalökonomie, kaum der A-B-C-Fibel entlaufen. Dieser waldursprüngliche Freiheitsdrang hätte gewiß den seligen Rousseau begeistert. Jeder Düngerhaufen ein ambrosisch duftendes Tropaion des republikanischen Naturstaates!

»Willkommen in Nordland's Thälern!« rief der biedre Wirth und Toddy nebst Pfeifen wurden aufgefahren. Beide politisirten nun radebrechend drauf los und begossen diese Kannegießerei mit manch tüchtigem Schluck, wobei der biedere Ole immer als Leitmotiv ihres Gesprächs gassenhauerte:

»Ja Deutschland ist groß

Und Bismarck famos.

Wir nehmen Alles, was wir können.«

Währenddessen zeigte die Wirthin der schönen deutschen Dame ihre Schmucksachen.

»Sind die Ladies alle so hübsch in Deutschland, wie Ihre Frau Gemahlin?« fragte Ole indem er sich räuspernd Eugen leicht in die Seite kniff.

»Hm – wenige,« erwiderte dieser, halb verlegen halb geschmeichelt.

»Sie haben einen Treffer gethan, Sie smart fellow!«

Ole wurde ordentlich familiär in seiner Herablassung. »Eine solche Frau zu wählen!«

»So? Meinen Sie?« maulte Jener. Der Blick, mit dem er Kathi streifte, verrieth eine nachdenkliche Betroffenheit.

»Na! Die Brut, die da gezüchtet wird!« Der etwas angetrunkene Bauer schlug Eugen jovial auf die Schulter. »Alle Achtung! Ein Kernweib! Vollblut!«

»Wenn Du wüßtest, was für einen Bewunderer Du hier gewonnen hast!« wandte sich Eugen an Kathi. Diese lächelte vergnügt und nickte nur mit dem Kopf.

»Komm, Schatz! Laß uns mal spazieren gehn!« Da war Kathi gleich dabei. Sie schlugen sich seitwärts in die Gebüsche. Kathi war so zärtlich und Eugen so stolz auf ihre Schönheit.

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»Na, good-bye!« Die Wirthin reichte einen Abschiedstrunk hinauf. Das Pärchen wollte weiter, wieder rückwärts nach Südwesten. Kathi vorn auf der ersten Carriole, Eugen auf der zweiten.

Der Skydsbub wurde zurückgelassen, weil er sie störe und sie schon selbst bis zur nächsten Station fahren könnten.

»Also vorwärts!« Die Hengste lümmelten sich auf den Zügeln. »Glatt anreiten!« Wie auf einer Rennbahn starteten die leichten Gefährte los, während der Wirth hutschwenkend ein kräftiges Schnalzen seinen Pferden nachsandte.

IV.

Noch mischte die Dunkelheit Berge und Himmel, so daß die Firnen, die sich langsam rötheten, als rosige Wölkchen erschienen. Noch lag das Schneegebirge wie ein monderhelltes Eiland im Nebelmeer, noch wogten die Wolken wie Banner am Schaft der Riesenföhren hin. Aber nun flirrten Funken nach Funken wie indische Leuchtkäfer von einer Felszinke zur andern und schienen auf allen Gipfeln der Alpenkette ein Freudenfeuer zu entzünden. Die Perlenschnur der Bäche, verwandelte sich im Morgenroth zu funkelnden Rubinen. Die Wipfel schillerten bunt und bunter, voll safrangelben und violetten Tinten überhaucht. Blutroth aber reckte sich aus dem ewigen Schnee die höchste Spitze hervor, wie aus weißem Fasttalar die blutige Rechte des Opferpriesters. Purpurteppiche schien das Morgenroth vor dem Silberthron des Hochlandkaisers hinzubreiten, dessen Lehnenknäufe, die Pässe, aus bläulichem Dämmer jetzt wie Karfunkel aufblitzten.

Der Saum seines Strahlengewandes fegt über die Abhänge hin, ein Lichtschweif streift über die Almen, und weiter schreitet Sigurd über den Kamm der Berge Wo seine Sandale den Boden färbt, da sprießen Alpenrosen. Wo sein flammender Kuß auf auserwählten Stirnen weilt, da flammt er im Herzen fort und gebiert die Gedanken, die Gesänge. Er aber, der Geist des Lichts, wandelt in Majestät dahin über die Scheitel der Irdischen – und währet ewiglich.

So schreitet er westwärts durchs ganze Land, von Dovrefjeld nach Telemarken, zur Küste hin bis ins Bergensstift. Und jetzt schmilzt auch die Gletscherbrünne Brunhildens: der zackige Gürtel von Eisburgen, den Odin um ihren Felsbusen geschlungen hat. Ein Gluthmeer überfluthet das Eismeer. Das Zauberschloß, dessen Thurmvogt der Falke: mit Portalen, aus denen sprudelnde Gießbäche in muthwillig polternden Kaskaden als Springbrunnen ihre zischenden Wassermassen hervorschleudern; dessen Quadern aus Edelsteinblöcken wie Mosaikplatten, halb Saphir halb Smaragd, zusammengefügt erscheinen; dessen spitze Zinnen als Mauerkranz die Wollen tragen, welche in Farbenschmelz verschwimmend, dort oben wie eine Feeninsel dahingleiten – es strahlt jetzt gespenstisch-grell weithin übers Land. Das ist der Justedalsbrä, der größte Gletscher der Welt, der hier wie ein kolossaler Polyp seine Fangarme ausstreckt – aus schwindelnder Höhe niederstürzend, wie eilt gefrorener Katarakt in der Luft.

Und der Golfstrom, metallisch glitzernd, flimmert wie Bernstein auf, als schlummere in seinem Schooß ein versunkener Hort, wo der mystische Maëlstrom sein Nornenlied murmelt.

Ein graues Steinmeer, ein Trümmerchaos, spiegelt sich jetzt in traumhaftem Halblicht die Gebirgswüste von Jötunheim im schwarzen Hexentigel ihrer Fjorde ... Ein Steinadler schwang sich nahebei mit triumphirendem Schrei empor. Ein Lur (Alphorn) lud schmetternd die Heerden zur »Säter«. Ein Renntierrudel trabte drüben die Schlucht hinab, deren Rachen, mit spitzen Zacken wie mit Raubthierzahnen besetzt, schier wie in höhnischem Grinsen gähnte. Die Wasserfälle, das sausende Webstuhlrad der Jötuninnen, dran Silberfädchen auf und nieder schnurren, wälzten sich qualmend dahin wie eine Wolke von Demanten, mit Perlen untermischt. Aber überall glitt über das steinerne Schwungrad der Abhänge in unaufhörlicher Drehung, wie ein buntes Seidenband, oder wölbte sich zwischen den Strebepfeilern des Felskessels – ein Bild der Versöhnung über dein Strudel der Leidenschaft.

Stolz reckte sich jeder Halm, den Nachtthau von sich schüttelnd. Ist doch jeder Morgen nach dem Grabe der Nacht eine Auferstehung der Welt! Wie frisch und leicht und klar grüßte die Luft von den »hohen Fjelden« herüber! Wie ein Schwan mit sterbefrohem Gesang schwimmt die Seele, mit Vögeln und Winden Grüße tauschend, durch der Alpenlüfte Wellen. Und in freudig hinschmelzendem Schwanenlied verblutet der alte Adam, das Alltagswesen des Menschen, die alte verbitterte Kälte. Ein Sturzfall voll Urmelodien scheint die Berge zu durchfluten, der Schöpfung ureigensten Tempel, durchweihraucht vom Tannenarom. Und die Morgenmesse, die seine himmelhohen Hallen durchbraust – vernimmt ihn dein Ohr? Die stürzende Tanne, der hüpfende Elv, sie Alle singen nur das eine, das hohe Lied:

Kraft und Freiheit!

Eins und Alles in unablässig rastloser Bewegung verbunden zu einem Ziel! Ewige Zeugung, ewiges Vorwärtsdrangen! Tod der Ruhe und Leben dem frei entfesselten Kampf!

Ja, ihr Jötuns, die im Leid versteinert, Felsriesen, die ihr ewig seid – stumm seid ihr, kalt und todt. Doch der Geist, der kühn das All umfaßt, hebt den Menschen aus der zwerghaften Noth seines körperlichen Daseins empör: er lebt, er denkt, er handelt, er ist der Gott der Natur. Möge Jötunheim in Trümmer sinken, des Menschen innere Welt erschafft sich immer neu und die Jakobsleiter der Hoffnung senkt sich gerade zu dem hernieder, der aus einem Steine schläft.

Durch dies Felsenchaos schwebt der Odem des Weltgeistes in doppelt belebender Kraft.

O Land der Freiheit, wo das Ich der modernen Kultur in ihrer freiesten Thätigkeit und der Natur in ihrer nacktesten Größe gegenübertritt – du Braut des Meeres, des atlantischen, das auch das Winland deiner Wickinger, die Neue Welt der freien Arbeit gebar – du Panzerst das Herz mit eisigem Stolz. Nicht mehr schaudert es vor dem Schwungrad menschlichen Treibens, freudig mitbewußt des unablässigen Weltenwirbels im Kreis der Schöpfung. Und für Liebe, Glaube, Hoffnung, schenkst du Arbeitslust und Lebensmuth.

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Heidi, schon wieder traben, traben in die junge Sonne hinein! O namenloses Gefühl ungebundener Freiheit, so hinzutraben thalauf thalab durch Felder und Forst, in immer tieferer Einsamkeit!

Wie das Rößlein wiehernd die Mähne schüttelt und wie Kathi jodelt vor eitel Pläsir am Gefühl des Lebens! Abgewaschen, weggepustet aller Staub und Schmutz des Weltgetriebes in dieser Urnatur!

Am Wege schritt ein Mädel im Nationalkostüm vorüber: mit rothem, viereckig ausgeschnittenen Mieder, weißem Unterkleid, geblümtem Hemd, geflochtenen Zöpfen, metallenem Brustschmuck und hoher Sammetmütze. In ihren großen blauen Augen liegt eine Welt sehnsüchtiger Fragen.

Eugen blickte sich nach Kathi um. Ihrer Lippen Erdbeerblüthe schien aus dem Kranz der Wälder zu duften, ihrer Augen helle Wunder den Glanz eitler Perle zu bergen. Liebe mag der Fischer heißen, dem dieser holde Fund geglückt, der die Perle gehoben.

Ach, wenn man nur Zeit und Geld hätte, hier ewig umherzustreifen! Wie, Zeit und Geld, bedarf es dessen? Könnte man doch Alles, Alles abthun, was fesselt an den Pferch der Gesellschaft, und hier als schlichter Tagelöhner sein Brot verdienen, hinter dem Pfluge herschreiten über die dampfende Wiese! Welch ein elendes Leben führen die Städter, die Culturfexen, die Schneidergesellen der Bildung! Wozu das Alles, statt sich auszusingen in die freie Luft, unbekümmert ob die Welt es höre! Gesund sein und leben, leben und lieben, – das sind die höchsten Güter, wenn man sie zu genießen weiß – Gold, Macht und Ruhm schmälern und verbittern nur das stille Genügen.

Diese stählende Hochlandluft, die alles Unreine bei Seite fegte, das frische Erdbeeraroma, das aus allen Moosgründen und Hecken entgegenduftete, wirkte auf Eugen Wolffert's Nerven so reinigend und männlichend, daß in ihm der Wunsch nach einer entschlußreichen That, etwas Großem und Befreiendem erwachte. Er reckte sich gleichsam körperlich und geistig; er straffte die Muskeln seiner Arme und seines verlotterten Hirns, um etwas Besonderes, ihn Emporreißendes zu versuchen. Angesichts dieser gigantischen Natur zersprangen alle Schranken des Conventionellen, als wären sie gemaltes Papier. Denn diese Schranken hat ja nicht die Natur gesetzt, sondern die Thorheit der Menschen. Er sah das kernige Weib neben sich, die gleichsam aufblühte in dieser Urnatur, als wäre sie hier in den mütterlichen Keimboden verpflanzt – und je mehr er sie sah, desto klarer wurde ihm ein Wunsch, ein Entschluß. Ja, das wäre etwas, um zu zeigen, ob noch Schneid in ihm stecke – das wäre hochherzig und kühn!

Sie plauderten am Uferrand eines Fjords, sie plauderten über das Leben.

»O die Feigheit oder Unwissenheit dieser Schriftsteller von Profession! Wie schildern sie das Leben! Du mein Gott, sie verschweigen Alles! – Ich für mein Theil, ich habe keinen Knaben und kein Mädchen gewissen Alters gekannt, die nicht von Grund aus verdorben gewesen wären.«

»Ja, verdorben, nicht wahr?« Kathi gerieth ordentlich in triumphirenden Eifer. »Bei uns auf'm Land liegen schon die Kinder zusammen. Ach, i weiß noch, wenn ich in den Kuhstall ging, um zu melken, was für gemeine Redensarten unser Großknecht da führte. Die Welt ist heut so schlecht!«

»Ja gewiß. Na, Du mußt Dich gut ausgenommen haben, als Du melktest!« Eugen umfaßte sie funkelnden Auges – die Ganglien seiner genialischen Phantasie schienen irgendwie durch diese Vorstellung erregt. Ihr Gesicht glänzte von sinnlichem Lächeln, ihre Hüften schienen gleichsam in sanfter Wallung zu beben und sie warf den Kopf hoch in den Nacken.

»Ach ja,« hob er wieder an, »die deutsche Keuschheit! Davon ließe sich ein Liedel singen. Man möchte eine Extraruthe vom Himmel erflehen, wenn man von all den norddeutschen Tugenden deklamiren hört. Und bei uns in Berlin diese frühreife ekelhafte erkünstelte Treibhausunzucht. Die untern Stände sind ja noch lüderlicher, denn im Naturmenschen kommt das Thier doch am stärksten 'raus. Aber wir von der Bourgeosie, den sogenannten gebildeten Ständen – o wir!«

»Ja, nit wahr?« fragte Kathi eifrig. »Die seinen Damen sind auch nichts besser, als die schlechten Mädchen unter unsereins? Wenn so eine einen dicken Bauch bekommt, so reist sie ins Bad. Ja, dös is bequem!«

Eugen schüttelte mißlaunig den Kopf. »Nein, nein, das sind so Chimären, die Ihr Euch vormacht. Solche wirklichen Skandäler kommen höchst selten vor. Das Uebel liegt viel tiefer.«

»Na, wo denn?«

»Sieh einmal, liebes Kind, die jungen Französinnen werden in Klöstern erzogen und dann gleich nolens volens verheirathet. Man wirst sie ins Bett eines Unbekannten, der sie entehrt. Da sind unsre Mädchen besser daran. Sie kommen von der Schule in Pensionate, wo sie sich untereinander den Kopf erhitzen und – und –« er brach den Satz ab, dachte aber an Belots »Madamoiselle Giraud ma femme.«

»Ja, kurzum, an Unschuld glaub ich zwar nicht, wohl aber an Unwissenheit, welche diejenigen bewahren, die fein sauber bürgerlich in der Familie bei Muttern bleiben. Und die Unwissenheit haben bei uns die Kinder schon mit zwölf Jahren nicht mehr. Denen braucht man keine Unschuld mehr zu rauben, sie besorgen sich diese Arbeit schon selber.«

»Pfu-i!« Kathi spie aus mit sittlicher Emphase.

»Jaja, das Kap Garda fui!« kindischte Eugen wie ein witziger Tertianer. »Da wird man null gefüttert mit Fleisch und Bier; und dazu das ewige Sitzen auf der Schulbank, das auf den Unterleib wirkt; und dazu die Lectüre der alten Dichter – Ovids ars amandi wo möglich – ah, dabei soll ein Mensch voll vierzehn Jahren nicht erotisch werden! Wahnsinnige Unnatur! Die Mädchen heirathen, wenn überhaupt, schon viel zu spät; die Männer heutzutage eigentlich immer. Was treiben sie vom fünfzehnten bis dreißigsten Jahr, um mal eine Grenze anzunehmen, in solchen Dingen? Ach, jeder, der die Welt kennt, kann sich's ja denken. Impotenz, Rückenmarksschwindsucht oder die Charité – der kann Gott danken, wer zwischen Scylla und Charybdis heil durchschlüpft.«

»Ach ja, die Männer!« Kathi nickte mißmuthig, als fände sie diese Gefahren noch gar nicht so arg, vielmehr beneidenswerther, als das weibliche Loos. »Die können machen, was sie wollen.«

»So, können sie das?« blitzte Eugen sie an; so hatte sie ihn noch nie gesehn. »Nun, das wollen wir sehn. Ja, wer ein Mann ist, darf den Kampf aufnehmen gegen eine ganze Welt von Vorurtheilen. Ich will endlich einen Zweck haben, einen Lebensinhalt. Es drängt mich, meinem unnützen vergeudeten vertrödelten Leben den Fehdehandschuh hinzuwerfen. Ich will kämpfen für das höchste Gut des Mannes: für die Frau, die er liebt.

Kathi, ich liebe Dich, ich liebe Dich. Was können alle Dämchen der Welt mir sein neben Dir! Du hast Dich mir hingegeben aus Liebe, ich will Dir's vergelten.«

»Womit?« fragte sie. Es klang schüchtern zaghaft, aber ein Zucken der Lippen und ein schlau gespanntes Aufleuchten der Augen verrieth, daß sie ihn wohl verstand.

»Ich will – nun, ich will Dich heirathen. Bei allen Göttern und Teufeln! Ich schwöre es.«

V.

Rother langte mit der Eisenbahn vom Randsfjord in Hönevoß an, ohne daß er irgendwo eine Spur gefunden. Vielleicht waren sie noch westlicher nach Thelemarken eingebogen.

Unterwegs hatte er einen schäbig aussehenden kleinen Mann getroffen, der ihn nicht verstand, ihm aber, als sie zu Hönevoß ankamen, einen stattlichen Herrn vorstellte, der Deutsch und Englisch verstehe.

Dieser Herr von sehr gentlemanliken Formen entpuppte sich als reicher Agent, der so ganz beiläufig erzählte, er habe den nächsten Wald da drüben soeben für 50000 Dollars gekauft. Und zwar von dem kleinen schäbigen Mann mit dem zerzausten Bart, den Rother für einen Schuster hielt und der sich beiläufig als ein Mann herausstellte, dem das ganze Waldterrain (Hönevoß lebt vom Holz, wodurch es früher Unsummen verdiente) und Mühlen und Wirthshaus gehörten. Als Rother den gebildeten Agenten, nachdem man sich umgekleidet, draußen am Wasserfall suchen ging, kam ein Mädchen aus dem Nebenhaus aus ihn zu und lud ihn in wohlgesetzter Rede zum Abendessen ein, woselbst jener Herr bei Vatern sei. Der Millionär lebte wie ein Handwerker – wenig, aber herzlich gegeben: Buttermilch und Butterbrot. Rother beneidete und bewunderte im Stillen diese Leute, so einfach und schlicht im Aeußern, anspruchslos nur einem edlen Zwecke geweiht: möglichst viel Geld zu machen, aber ohne alle Ostentation! Hier wenigstens fehlte aller Größenwahn.

Doch er irrte sich. Denn alsbald ging das Jammern los, wie das Holz, durch dessen Export nach Amerika sich früher das Land bereicherte, immer im Preise sinke und die Entholzung das Land erst recht ruiniren werde. Jaja, die heutige schlechte Zeit! Jeder will gleich mit eins reich werden – daher die viele Schwindelhaftigkeit und der zunehmende Bankerott des Nationalwohlstandes.

Früher blühte auch die Schiffahrt. Da häuften die Rheder und Großhändler manch gewichtigen Batzen. Aber heut – alles Holzschiffe, alles untauglich geworden für den modernen Verkehr, gegen die Concurrenz der Deutschen verloren. Und dabei will Jeder hochhinaus leben, viel besser wie in Deutschland. »Wir Normannen glauben nun mal, weil wir die Freisten in Europa sind, wir müßten auch die Glücklichsten sein!«

Also auch hier nationaler Größenwahn, der sich hinaufschrauben möchte über die natürlichen Verhältnisse weg!

Als Rother am andern Tag nach Drammen dampfen wollte (ihm war endlich die Geschichte langweilig geworden und er verlangte nach Haus), fuhr ihm der Zug vor der Nase weg; weil er auf ein Signal gewartet hatte, als er Limonade auf dem Perron trank, während hier alles lautlos, nur mit Wink und Pfiff, zugeht.

Er langte also wieder in Hönevoß an. Da er erhitzt und müde war, beschloß er zu baden. Man wies ihm eine Natur-Badeanstalt in freier Luft, wo ein Bergquell durch eine hölzerne Rinne herabgeleitet wurde. Um Mittag bade dort Niemand. Er stieg etwa eine Viertelstunde weit auf steilem Pfad dort hinab, fand den Punkt und entkleidete sich. In der Ferne vor ihm ein reizendes Panorama. Ueber den Schindeldächern der reinlichen Bauernhöfe wirbelten bläuliche Rauchringel empor. Rings einförmiges Bewegen, eintönige Stille. Flöße schwammen den Wasserfall hinab, den man hier als eine Art Dampfwalze benutzt. Wagenfuhren, mit Reisig und Holzblöcken beschichtet, wälzten sich der nahen Sägemühle zu. Allüberall das Hämmern der Spechte, der Schlag der Aexte und das Krachen gefällter Bäume. Unten am Abfluß des Voß flickte ein Fischer in der hier üblichen phrygischen Rothmütze an einem Netz und sonnte sich wie die Florellen, die zu seinen Füßen über den Kieseln spielten.

Aber diese angenehme seelische Siesta wurde unliebsam gestört. Denn grade, als er auf dem schlüpfrigen Gestein unter den eiskalten Rinnen-Sturz gelangte, glitt er aus und fiel der Länge nach hin. Rasch von der Betäubung erholt, fand er, daß der Fall ihn wunderbarerweise sonst nirgends verletzt, ihm aber aus dem rechten Knöchel ein groß Stück Fleisch herausgeschlagen hatte, ohne den Knochen zu verletzen. Das Blut floß in breiten Strömen. Dem Ammenglauben, kalt Wasser stille die Blutung, folgend, hielt er den Fuß ins Wasser und kroch mittlerweile unter die Rinne um das Bad wenigstens zu vollenden. Dann schlich er aus Ufer zurück, trocknete sich rasch mit dem Laken und wickelte dies dicht um den Fuß. Hierauf zog er sich an, und humpelte, den wunden Fuß möglichst hochhaltend und schonend, den steilen Pfad in glühender Sonnenhitze zurück. Droben im Wirthshaus lief man zusammen, war entsetzt über die tiefe Wunde, brachte ihn zu Bett und fing an mit Karbolsäure-Umschlägen zu hautiren. Es kam noch immer Blut. Man meinte, er werde ohnmächtig werden. Dies trat jedoch nicht ein. Aber wie er mit der passiven Hartnäckigkeit seines Charakters bei dem unerwarteten Unfall keinen Augenblick gejammert und mit verbissener Besonnenheit das Nöthige ausgeführt hatte, so lag er jetzt düster mit geballten Fäusten da und murrte wider sein Schicksal. Das konnte nur ihm passiren, dem ewigen Pechvogel! Sein Leben schien dazu bestimmt, stets und immer verpfuscht zu werden. Mit dem Fährtensuchen war es jetzt aus. Er mußte wochenlang auf dem Fleck liegen. Seine ganze Reise unnütz und vereitelt! Und als er in steigendem Trübsinn sein stetes Mißgeschick sich immer deutlicher einredete, fühlte er plötzlich wiederum den Stich in der Brust, der vom rechten Schulterknochen her durch die Brust-Weiche seitwärts in die Lunge bohrte.

Er betastete die Stelle langsam und bedächtig; dann holte er tief Athem und empfand denselben leichten Schmerz aufs Neue. Nochmals in Natura seine Brustweite mit der Hand messend, erkannte er sodann, daß er wirklich bedeutend abgenommen hatte und sein Brustkasten ordentlich verschmälert schien: So furchtbar hatten ihn die abzehrenden Aufregungen des letzten Jahres mitgenommen.

Am andern Morgen erschien ein Doctor, den man herbeigeschafft. Derselbe prüfte die Wunde, schnitt ein bedenkliches Gesicht und urtheilte, der Patient habe »schlechtes Fleisch« in Folge mangelnder innerer Bluternährung. Er nähte die Wunde mit vier Nadeln zusammen. Da er als Deutschenfeind die süßsaure Bemerkung machte, der Herr aus Berlin werde gewiß als Preußischer Allesbesserkönner auch den Schmerz leichter verwinden, so ließ Rother lautlos die Eisenstäbchen durch die Wunde bohren. »Mein Complimang! Der Herr sein ikke (nicht) furchsam,« gestand der Skandinave zu.

In dieser dumpfen stoischen Resignation lag Rother bis zum Abend regungslos da, weil ihm verboten, das Bein zu rühren, nachdem er sich mühsam angekleidet. Das Bett stand am Fenster, er konnte hinaus blicken und sah den Schaum des mächtig rauschenden Hönevoß in die Luft sprühen. Stier und theilnahmlos verfolgten seine Augen das Spiel der Wellen, seine Lippen schienen so starr zusammengekniffen, als wollten sie wie ein bleiernes Siegel ein Geheimniß hüten. Das Sprechen fiel ihm schwer. Ein Trapist des Schmerzes, schien er ein unhörbares »Memento mori« zu murmeln. Alles Andere vergessen. Da plötzlich fuhr er auf. Was war das? Welche Stimme! Er hob mühsam den Kopf und starrte hinaus auf den Weg, der am Fall entlang führt. Ihm war, als erhielte er einen Faustschlag aufs Herz. Ja, da schritten sie Beide engverschlungen am Wasserfall entlang. Es war keine Spiegelung, sondern nüchterne Wahrheit.

Sie, die er suchte – so nahe vor ihm – Beide! Er wollte aufschreien, doch die Zunge klebte ihm am Gaumen. Er konnte nur sehn und hören – ganz Auge und Ohr, stumm, als habe jäher Schreck ihm die Sprache geraubt.

Eine Nachtigall flötete in einem Fliederbusch am Hügel, unverschüchtert durch das rauschende Singen des Wasserfalls.

Hinter den Beiden da unten wandelte ein Wald-Kater mit buschigem Schweif dahin – ein Abkömmling jener Race, die von den Warägern aus dem Morgenlande importirt wurde. Sein sanftes Minnegreinen stimmte zu dem flennenden Geschlechtsschmerz des Nachtigallmännchens, dem ab und zu das Weibchen mit lockendem Tiotö antwortete. Doch schielte der würdige Kater mit einem Schnurrbart wie ein Husarenrittmeister mit falschem Zwinkern und Blinzeln der grünschillernden Aeuglein nach dem Nest des Meistersingers, das dieser mit der üblichen Weltklugheit des Idealisten viel zu niedrig und schief am Dornengeheg gebaut hatte.

O Natur, weise Lehrerin, die nach festen Gesehen das Sein aller Lebeweisen ordnet! Die Katze schleicht und lauert, die Nachtigall singt in brünstiger Seligkeit und wird gefressen. Nur die Liebe besaitet diese Liederkehle – ist das Pärchen getrennt, so ists aus mit allem Gesang.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Unter dem Fenster in der Nähe stand eine Bank. Dort schienen die zwei Glücklichen sich niederzulassen. Nur abgerissene Sätze des Gesprächs drangen zu des Lauschenden Ohren. Es ergab sich daraus, daß sie aus Thelemarken zurückgekehrt, soeben hier angekommen, gleich jetzt am Abend nach Süden weiterfahren wollten. Sie warteten nur auf das Anschirren des Wagens, der sie zur Station bringen sollte. An welchen Zufällen hängt das Leben! Hätte der Zugführer neulich Rother aufmerksam gemacht, daß der Zug sofort losdampfe, so wäre dieser wahrscheinlich nie auf die Gesuchten gestoßen, und der unglückliche Fall mit der Wunde that das Uebrige dazu.

»Also, Kathi, wir reisen sofort über Jütland durch nach Hamburg und lassen uns trauen.« Sie saß abseit, halb abgewandt, den Kopf auf den Arm gestützt, ihr Busen hob sich in schweren Wallungen.

»Ach, süßer Eugen, aber.. ist denn das möglich?«

»Wer soll uns hindern! Wir sind majorenn. Civiltrauung gilt heut wie jede andere.«

»Ach ich kann's noch kaum ausdenken! Was wird Deine Familie ...«

»Laß sie schnattern, die Muhmen? Ich will Die als mein Weib an meiner Seite sehen, die ich zur Mutter meiner künftigen Kinder erkor. Das giebt eine Race – was, Kathi?«

Man hörte den langen vorschmeckenden Kuß durchs eintönige Rauschen des Falls.

»Und ... und ... ich habe Dir nun alles gebeichtet ... die Geschichte mit dem Rother ... ich würde mich todt schämen ...«

»Dies überlaß Du mir! Der soll Dir nichts anhaben!«

»Ach, das wird er wohl gar nicht wollen. Dazu ist er zu anständig. Ich kann nicht herzlos sein, er thut mir leid. Ich fühle für ihn.«

»So? Oho!«

»Ja, freundschaftliche Gefühle.«

»Larifari, werden wir schon unter uns Männern arrangiren. Holla, da hör' das Pfeifen des Kutschers. Wir sollen kommen. Adios, Hönevoß!«

Ja, Freundschaft, Freundschaft! Ist das genug zwischen Mann und Weib? Liebe ist etwas Anderes, ganz Anderes, es ist das Ur-Prinzip der Schöpfungskraft. Venus Vulgivaga und Venus Urania, wahre und falsche Liebe, Sinnlichkeit und transcendentaler Idealismus – Alles verflochten in eins.

Verflucht sei dieser Liebe Raserei, die mich zermalmt! – Nach Deiner Freundschaft frag' ich nicht.

Verflucht die Stunde, da ich Dich zuerst gesehn! Ich wußte ja, der Gram sei meine Braut. – Nach Deiner Freundschaft frag' ich nicht.

Umsonst der Kampf und der eitle Wahn. Gegen den Strom ringt nur ein Toller. – Nach Deiner Freundschaft frag ich nicht.

Auch der Schmerz macht sich noch Illusionen. Ger über die Versagung der Herzenssehnsucht verzweifelt, versteckt noch einen kindlichen Optimismus. Welche Ueberschätzung eines Lebensgutes, es der Verzweiflung würdig zu halten! Dies Leben, diese Episode, ist doch kein tragisches Epos, es ist höchstens eine Jobsiade.

Und doch – welch ein grauenhaftes Gefühl des Erstickens, mit einem heimlichen allbeherrschenden Gefühl umherzuwandeln, das doch kein Anderer kennt! Wahre Liebe ist immer einsam, wie die wahre Größe. Nur die sinnliche Leidenschaft zeigt sich offen.

Seine ganze Vergangenheit zog an ihm vorüber, seine ganze Jugend. Und aus jedem Winkel derselben schien ihm entgegenzukichern: Narr! Narr! Verfehltes Leben!

Er war ein einziger Sohn. Sein Vater, ein Musiker voll bedeutendem Ruf, ein Idealist. Die schrecklichste aller zehrenden Krankheiten, den Idealismus, erbte er also schon von Geburt an. Die geistige Atmosphäre, in der seine Kindheit aufwuchs, Grundzug und Lebensanschauung seiner Familie: ein ästhetischer Idealismus. Gewohnheit und Umgebung bestimmen den Menschen. Der kleine Eduard fühlte gar bald in sich eine künstlerische Mission. Mit seinen Beinchen in der Luft zappelnd, arbeitete dieser niedliche Genius im Schweiß seines Angesichts auf dem Clavier herum und entlockte den Tasten unaussprechliche Töne.

»Die Lorbeeren seines Vaters lassen ihn nicht schlafen!« schmunzelte ein ironischer Kritiker, im Genuß dieses erfreulichen Anblicks.

»Ja, aber andre Lorbeeren!« dachte das Söhnchen. Denn, daß er mäßige Ohren, aber sehr gute Augen hatte, das merkte er nun schon. Die Musik erschien ihm schaal und nichtig: Man liebt gewöhnlich die Kunst nicht, die einen nicht wieder liebt, man verschmäht mit edlem Stolz, wo man verschmäht wird. Kurz, es war aus mit der Musik. Ein verfehlter Beruf mit sieben Jahren! – Dafür schlenderte er in die Museen und lungerte in Bilderausstellungen herum. Dafür las er Erbauliches über die alten Meister, wie sie so flott und nobel lebten, selber in Palästen wohnten und die Fürsten in ihren Palästen sich vor ihnen beugten. Das gefiel ihm noch mehr.

Dann stand er auch wohl in den Ecken der Soireen – sein Vater machte ein Haus –, horchte auf die klugen Reden der Männer und sagte zu sich: »Wärst Du doch auch so klug oder vielmehr, so berühmt!« Sah er einen werden, so stellte sich der logische Gedanke ein: »Wenn Du erst solch einen hast!« – Vornehmlich aber starrte er die Frauen an, diese Wesen einer andern Welt. Das ist so gewöhnlich bei Knaben, die keine Schwester haben. Die erste Schönheit, die sie erblicken, betrachten sie wie eine leibhaftige Aphrodite, deren Göttlichkeit aber fernhält, die einen unheimlichen Engel.

Dieser ersten erotischen Regungen und der üblichen Kinderkrankheiten erinnerte er sich noch mit fabelhafter Deutlichkeit.

Er absolvirte sehr früh die Schule und bezog die Berliner Akademie, um sich zum professionellen Maler auszubilden. Seine Mittel erlaubten ihm das. Da er aristokratische Manieren hatte, so wurde er alsbald von dem knotigen Kunst-Proletariat, das der Staat heranzüchtet, als Muttersöhnchen gehänselt.

Wie unglücklich er war! Er wurde von allerlei Hirngespinsten betreffs Bosheit und Verfolgungssucht der Menschen, zugleich aber von Visionen seines künftigen Ruhmes gequält. Hängen doch Größen- und Verfolgungswahn innerlich zusammen. Auf der Akademie schimpfte man ihn »das verrückte Genie«. Wäre, er einfach »verrückt« oder wirklich ein »Genie« gewesen – wieviel besser für ihn! Beinah hätte man ihn anfangs als talentlos von der Akademie entlassen, wie dies so oft den Begabteren und Begabtesten, die sich in den Drill nicht einfügen, zu passiren pflegt. Das Talent lernt fast nie etwas auf zwangsweisem Schüler-Wege; selbst die Technik muß es aus sich und an sich selbst studiren. In der Akt-Klasse galt Eduard Rother als der schlechteste Schüler.

Allein, seine merkwürdige Produktivität nöthigte doch eine gewisse Achtung ab. Seine Mappen füllten sich mit Compositionen, aus dem Handgelenk hingeschleudert. Wenn auch sein würdiger Lehrer – einer jener tiefsinnigen »Grübler« über die Kunst, die in gelehrtklingenden Schöngeist-Brochüren alles Moderne verdammen und den großen Stil der »Alten« Preisen, weil sie selbst gar keinen Stil besitzen und ihre nüchterne akademische Formfexerei niedlich weiterputzen – erklärte das freilich für verworrenes stilloses Nicht-Können. Doch die gestaltende Phantasie darin mußte wohl oder übel anerkannt werden.

Bald vollendete Rother sein erstes Bild, eine beträchtliche beklexte Leinewand: »Nero an der Leiche seiner Mutter«, natürlich. Der »Schinken«, um im Künstlerjargon zu reden, wurde in der Malklasse ausgestellt. Die Makarterei der Farbe, deren Effekthascherei jenen Meister noch zu über-makarten strebte, und die unfertige Zeichnung wurden allseitig verdammt. Der Composition konnte man jedoch nicht eine gewisse Größe absprechen. Die phrasenhafte Attitüde der todten Agripina und das Grinsen des Nero-Kopfes mochten wohl affektirt erscheinen, aber eine gewisse dämonische Kraft der Auffassung schien nicht zu verkennen.

Als ihm die guten Freunde und Collegen mit augenscheinlichem Hochgenuß die vernichtenden Urtheile der akademischen Herrn Lehrer darüber hinterbrachten, lauschte Rother stumm und regungslos, nur etwas bleicher wie gewöhnlich. Dann stand er plötzlich auf, musterte sein Bild mit einem kalten »Darin liegt viel Wahres!« und wie man es verhindern konnte, hatte er die Leinwand mit dem Malmesser durchkratzt, zusammengerollt und in den Ofen geworfen. Vielleicht erwartete er, Jemand werde das Opfer retten. Es rührte sich aber Keiner – er kannte die Menschen noch nicht, wie jugendliche Pessimisten ja stets zu optimistisch denken.

Ohne sich umzusehen, trat er nun ruhig an seine Staffelei und führte einen Studienkopf aus. »Na, daß Dich nur nicht niederschlagen! Es wird ja schon besser werden!« tröstete ihn wohlwollend ein sogenannter »talentvoller Schüler« – einer von jenen, die im späteren Frust-Kampf des Lebens spurlos verschwinden. Rother drehte sich um und warf ihm einen vernichtenden Blick zu: »Besser zu straucheln wie ich, als zu marschiren wie Du!«

Von der Stunde an galt es als unumstößliche Wahrheit, daß er an unheilbarem Größenwahn leide.

Am selben Abend kneipte er mit einigen Verbummelten bis tief in die Nacht hinein und kam taumelnd nach Hause. Der Mond, der ihn gut kannte, mußte sich über ihn wundern. Sturmnacht, die Eichen des Humboldthains bebten. Er aber schritt immer fürbaß in die Finsterniß und wünschte, daß Einer ihn anfiele. Das wäre ihm gerade recht gewesen.

Früh am Morgen stand er auf und begann sofort ein neues Bild.

Da er gehört hatte, es gehöre zur künstlerischen Inspiration, daß man sich ernstlich verliebe, so suchte er nach einem Objekt. Dies fand er in einem hochaufgeschossenen Mädchen mit lebhaften sinnlichen Zügen, der Tochter eines Kommerzienrath Eisenbaum, der im Hause seiner Eltern verkehrte. Sie war eine sogenannte Jugendfreundin, mit der er sich viel herumgebalgt. Aber die kluge schnippische Ella, die ihn so herzlich verspottete, als er ihr einmal auf einer Landpartie eine Wasserblume pflücken wollte und dabei ins Wasser plumpste, mußte er ja jetzt als Dame behandeln mit ihren fünfzehn Jahren, um so mehr sie weit über ihr Alter entwickelt schien und schon Brüste ansetzte. Er schnitt ihr also die Cour, nur zu sehr. Denn er besuchte Eisenbaums unter allerlei Vorwänden viel zu oft, so daß es auffallen mußte. Ella absolvirte ihren zweiten Tanz-Cursus, dieses wichtigste Stadium im Leben der Höheren Töchter. Ihr Interesse lenkte sich merklich ab. Und einmal, als sie sich leicht zankten, fragte ihn die junge Schönheit: Er sei wohl fast nie zu Hause? Er that, als merke er diesen wuchtigen Hieb mit dem Laternenpfahl nicht; aber er beschloß sie schrecklich zu strafen – nämlich plötzlich ganz auszubleiben. Seine harmlose Einbildung spiegelte ihm vor, daß sie das schwer empfinden und durch seine scheinbare Gleichgültigkeit ihre Liebe geweckt werde müsse. Er glaubte an diese zweifelhafte Theorie, die er mal in dem spanischen Lustspiel »Donna Diana« (Reklam'sche Universalbibliothek, andere Bücher über 20 Pfennig las er als echter Deutscher nicht) gefunden hatte.

Die Eisenbaum'sche Villa, nahe der Eisenbaum'schen Fabrik am Rosenthaler Thor, lag in der Nähe. Auf seinem Weg zur Akademie fensterpromenirte hier der schmachtende Courmacher stets vorüber. Einmal sah er auf der andern Seite Herrn Eisenbaum mit seiner Tochter spazieren gehen. Der Athem stockte ihm und das Blut trat ihm zu Herzen. Doch er richtete den Blick gradaus und ging im Sturmschritt. Auf der andern Seite der Straße hörte er leises sichern. Sein Gehör war ungewöhnlich scharf, wie es bei abnorm nervösen Naturen häufig der Fall. Obwohl er sonst kein Wort verstand, vernahm er doch genau, wie Herr Eisenbaum seiner Tochter bemerkte: »Da geht Dein genialer Courmacher!« Ella lachte. – Er that, als sähe und hörte er nichts, beschloß aber feierlich, dies Haus nie wieder zu betreten.

Diese Selbstbestrafung führte er dann auch hartnäckig durch. Wie gewöhnlich in dieser Alterszone, unter dem Wendekreis des forschen Penälerthums, glaubte er durch doppelte Ungezogenheit zu imponiren. Spazierte er mit seinem glorreichen Intimus Eugen Wolffert stolz die Straße entlang und begegnete zufällig den Eisenbaums, so grüßte er von oben herab. Traf er Eisenbaums bei seinen Eltern, so stellte er sich tief beleidigt, daß Seiner Magniferenz nicht mehr Ehre er wiesen werde.

Aber was half ihm das Gefühl seiner jugendlichen Erhabenheit! Der Traum der ersten Liebe ließ sich nicht abschütteln. Als Kind und Knabe wird ein geistreicher Mensch von der unbestimmten Sehnsucht der Pubertät erzeugt. Es gilt sich selbst erziehn. Oft deklamirte sich der drollige Kunstjüngling damals das Heine'sche »Madame, ich liebe Sie!« vor, ließ dabei das Buch zur Erde fallen und übte sich auf Kniefälle ein. Dabei dachte er natürlich nur an seine stolze Ella, welcher er einst mit dergleichen Kunststücken seine ewige Liebe deklariren wollte. Diese Phantasieen knabenhafter Pubertät wurzelten sich immer mehr zur fixen Idee ein. Zum Glück stirbt man nicht daran.

Um diese Zeit beschäftigte ihn natürlich die sociale Frage. Er wählte zu seinen Skizzen und Compositionen wahre Rochefortstoffe, alles in »rothe« Sauce getaucht. Bekanntlich fraternisiren die Litteraturstudenten des Jüngsten Deutschland plötzlich mit dem vierten Stande, wenn sie der »Dalles« drückt, und dichten Zorn-Hymnen wider die Bourgeosie, sobald ihnen ein Pump mißglückte. Denn man verliert endlich die Geduld. So mußte sich dieser bartlose Jüngling an der Gesellschaft rächen, weil sie ihn nicht als embryonischen Kolossalkünstler erkennen wollte. Um diese Zeit reichte er eine Art Denkschrift über Michel Angelo auf der Akademie ein, in welcher erbaulich ent wickelt wurde, daß eigentlich nur Er diesen Meister verstehe und nicht undeutlich durchschimmern ließ, der Geist dieses Giganten sei auf Ihn übergegangen – woran sich eine Lehre über Seelenwanderung nur so beiläufig anschloß.

Shelley's Studentenstreich »Ueber die Nothwendigkeit des Atheismus« mochte bei den Oxforder Perrücken kaum größere Entrüstung erregen, als dieses Schriftstück Rothers bei dem Lehrer-Collegium der Akademie, dem der Director es mit allerlei kaustischen Bemerkungen vorlas. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen, in Folge dessen der fromme Jüngling seinen Meistern zu verstehen gab, ihre Meisterateliers für gegenseitiges Händewaschen, deren System er durchschaue, imponirten ihm nicht. Einer etwaigen Relegation zuvorkommend, empfahl er sich zu geneigtem Andenken und zog sich auf sein eigenes Privatatelier zurück.

Eines Tages holte ihn sein alter Schulfreund Eugen Wolffert ab, um das Sonnabend-Abendconcert im Zoologischen Garten zu besuchen. Sie ergingen sich dort in Weltschmerz und Raubthierhäusern, bis sie sich in die »Lästerallee« einschoben. Die mondbeglänzte Zaubernacht, durch bengalische Beleuchtung und unverzeihlich gute Musik verklärt, schwirrte von dem Klatschgeschwätz der üblichen guten Gesellschaft, die tausendköpfig durcheinander wirbelte. Rother fand viele entfernte Bekannte und stolzirte, wie er wähnte, sehr gentlemanlike einher. An einer Endbiegung Arm in Arm mit Wolffert herumschwenkend, trat an diesen ein widerlicher Geck heran, den Rother auch von Ansehen kannte, und verabredete mit demselben eine Reitpartie nach Hundekehle. Eugen der Olympier, den alle Dandy's als Altmeister verehrten, drohte leicht mit dem Finger und neckte in seiner herablassenden Schwerenötherart: »Was treiben Sie hier? Taugenichts!«

Der geschmeichelte Dandy schmunzelte: »Hehe, errathen! Hurra« Damit verschwand er geheimnißvoll und stürzte tief in den Menschenstrudel.

Eduard Rother wußte gleichsam instinktiv im gleichen Augenblick, welche Ella gemeint sei. Doch er wollte sich Gewißheit verschaffen. Auch nicht eine Bewegung sollte dem großen Weltkenner an seiner Seite verrathen, daß ihn das im Mindesten interessire. »Sieh doch da drüben den rothen Reflex überm Flammingo-Teich! Wie gut das wirkt! Du, da geht Deine heimliche Flamme, Klara Meier vom Schauspielhaus! Ach sieh doch mal dort Frau Hagar Satzler – so was Geziertes!« Sie schwammen immer rüstig fort durchs Gedränge. »Ah, da ist ja unser Freund Marbach wieder!« (Er hatte ihn die ganze Zeit über nicht aus den Augen verloren. So nachlässig beiläufig:) »Diese Ella ist wohl sein Amour?«

»Ja, eine romantische Geschichte! Der Vater ist ein Dickkopf. Haha, er hat uns Beiden mal den Marsch gemacht, als wir seine holde Tochter, die aus der ›höheren, Schule‹ kam, etwas schneidig nach Hause begleiteten.«

»Lächerbar! Wie heißt er denn? – Sieh doch diese Schleppe!«

»Eisenbaum! – Nun, was ist los?«

Der geckenhafte Jüngling (Sohn eines Millionärs in Colonialwaaren) war plötzlich hinter uns aufgetaucht und legte seine Hand auf Wolffert's Schulter, indem er lispelte: »Drehen Sie sich nachher mal zufällig um!« Er verschwand wieder.

Nach kurzer Pause drehten wir uns »zufällig« um. Hinter uns flanirte Ella mit einer »Freundin« (in Deutschland gleichbedeutend mit »Duenna«), lebhaft kokettirend und schmachtend, der schöne Lasse nebenher. Eduard sah sich sehr rasch wieder um, aber sie erkannte ihn doch und wurde roth. Ein unerklärlich schnippisches Hohnlächeln krümmte ihre Lippe. Er hingegen blieb ganz gemüthlich und lustig, nickte dem Dandy, den er kaum kannte, vertraulich zu und flanirte an Wolfferts Arm vor Jenen ruhig her, da ein Ausweichen in dieser wandelnden Menschenmauer unmöglich schien. »Robespierre,« begann er mit lauter Stimme – sie hatten vorhin tiefsinnigen Unsinn über die Französische Revolution ausgetauscht, deren Sphinxgeheimnisse man in den Flegeljahren bekanntlich spielend löst. Aber Wolffert, der sich lange umgedreht und fascinirend geäugelt hatte, brummte gedankenvoll: »Die ist ja aber doch sehr nett!« Offenbar erwachte in ihm der Gedanke, ob er, der Allbesieger, nicht seinen edeln Waffenbruder ausstechen könne. Eduard hätte ihn um die Ohren schlagen mögen, wiederholte aber mit lauter schnarrender Stimme: »Robespierre« –

»Jaja! Das war ein kleiner mickriger Kerl!« machte Eugen herablassend. »Mein Mann ist Danton, der geniale Alkibiades!«

Hinter ihnen plauderte und liebelte man – und Eduard ging ruhig schwatzend neben Wolffert her, während er auf jedes Wort hinter ihm gierig lauschte und seine Hand sich auf- und zukrampfte, als suche er eine Waffe. An der nächsten Biegung mußten sie sich kreuzen. Rother mußte grüßen und that es. Ella dankte kaum und sah gradaus. »Wen grüßtest Du denn da?« fragte Wolffert verwundert.

»Ella,« erwiderte Jener lakonisch.

»Kennst Du sie denn?«

»Oberflächlich. – Was Marat betrifft« – – Sie trafen nachher noch einmal den Lassen, diesmal allein, dessen Gesicht voll Glück strahlte. Im selben Augenblick kam die »Freundin« und winkte ihm. Er stürzte ihr nach und schlug sich seitwärts in die Gebüsche. »Aha, die Alten sind weg oder haben das Lamm aus den Augen verloren!« gähnte Wolffert. »Der Glückliche! Unbeobachtet von tausend Argusaugen!«

»Hm,« machte Rother kalt. »Wird wohl Schwindel sein. Der sieht mir doch gar nicht aus, als ob ein anständiges Mädchen –«

»Das verstehst Du nicht,« kanzelte ihn der Olympier mit überlegenem Lächeln ab. »Uebrigens bekannte Geschichte. Ich selber weiß es ja. Habe ihre Briefe an ihn gelesen. Sie hängt sehr an ihm, sehr!«

»So, so!« verlautbarte sich Rother gedehnt. »Also, um auf den besagten Hammel zurückzukommen, Desmoulins« – –

Er ging langsam nach Hause. Der Lärm der Wagen und das Rauschen der Musik verhallten hinter ihm, wie ein Rausch von Lust und Leichtsinn. Aus Versehen schlug er eine falsche Richtung ein und gerieth in das Erlenwäldchen, welches den Kanal entlang nach der heutigen Stadtbahnstation führt. Er war mutterseelenallein, diese Gegend damals noch völlig unbelebt, nach der Richtung des heutigen Kurfürstendamm lauter öde Sandflächen und Sümpfe. Hier konnte Einem der Hals abgeschnitten werden, ehe man einen Laut von sich gab. Er schritt fürbaß mit wildpochendem Herzen. Eine nebelige Mondnacht. Man konnte Erklönig lind seine Töchter durch die silberborkigen Erlen flattern sehen. Kohlschwarz lagen im Kanal die Torfschiffe Und Obstkähne, die einen eigenthümlich fauligen, Geruch verbreiteten. In der Finsterniß sahen sie wie Krokodile aus. In der Ferne brausten die Wogen der sogenannten Selbstmörder-Schleuse und ein einsamer Hund bellte den Mond an. Auch der einsame Wanderer sah zum Monde und fühlte einen geheimnißvollen Schmerz, als wolle seine eingesargte Seele den Körper sprengen. Ihm war, als fräße ein Polyp an seinem Herzen, als athme er umsonst nach freier Luft. Er athmete überhaupt schwer und unregelmäßig – schon damals spürte er sein Brustleiden.

Wie der Mond sich wunderte über das thörichte Menschenkind voll Jünglingsbrunst und Mannesernst, dessen Seele zu groß für seinen schmächtigen Körper! Wie er so dastand an der Schleusenbrücke, schien Alles um ihn zu versinken. Alles verloren. Was eigentlich, er wußte es nicht klar. Aber sein Lebensglück, sein Leben für immer verloren, verdorben. Diesen Ekel, diese Verachtung, diese gräßliche Selbsttäuschung überwand er nicht. Einen Augenblick dachte er ernstlich nach, ob er nicht ins Wasser springen solle. Es war damals Mode in Jung-Berlin, sich wegen Durchfall im Examen oder Schuldenmachen rundweg ins Jenseits zu befördern – eine wahre Manie, die sich bis auf die überbürdeten Tertianer der Gymnasien hinab erstreckte.

Aber seine geistige Natur war denn doch zu nervig auf Selbstgefühl erbaut und sein Größenwahn kam ihm zu Hülfe. Er verzweifeln wegen eines solchen Geschöpfes? Pfui! Lächerlich! – – Er fand sich richtig zur Charlottenburger Pferdebahn quer durchs Wäldchen nach rechts hinüber, die ihn nach Berlin zurückbrachte.

Wie lange war das Alles vergessen! wie lange war diese erste Jugendflamme des Narrenherzens, nachher eine glänzende Ballkönigin, die eine ihrer würdige »große Parthie« machte, seiner Erinnerung entschwanden! Seltsam, daß er heut so klar an das Alles dachte, als wäre es gestern gewesen. War es nicht symbolisch gewesen für sein ganzes Leben? Eine mimosenhaft zarte Natur wie die seine konnte nur bestimmt sein, sich ewig zu täuschen und getäuscht zu werden. Das Naturgesetz, das in des Menschen Wesen bei seiner Geburt gelegt, entwickelt sich logisch fort in tausend Varianten.

So gleiten die Tage spurlos dahin in Lebenshaß und Todesfurcht, sie häufen sich hinter uns wie welke Blätter, wie schemenhafte Nebel. Wir fühlen das Naturgesetz, daß die Tugend sich selbst belohnt, und fröhnen dennoch dem Laster, um die entnervende Langeweile abzuschütteln. Wille? Selbstwiderspruch ist das einzige Unrecht. Warum hat die Natur uns unglückliche Schufte und schuftige Unglückliche zur Sünde erzeugt, und straft uns hinterher, weil wir dieser Bestimmung folgen? Warum lauert der Vampyr des Ueberdrusses über dem Schlangensumpf der Begierden. Arbeite! Was? Warum? Ja, so erbärmlich ist unser Loos, daß der Fluch Adams unser einziger Segen scheint – eine Art Opium, um den Dämon des Gedankens zu betäuben, der uns umherjagt wie einen Verbannten, der sein Exil und sein Urtheil in sich selber trägt. – –

Es giebt Momente, wo das Gefühl des Schmerzes zu maßloser Ungerechtigkeit in Beurtheilung der Mitmenschen und überspannter Geringschätzung des gesammten Außenlebens, der Sansara, führt. Ein Abgrund scheint sich plötzlich vor dem Auge des Denkenden zu öffnen: die Nichtigkeit menschlichen Strebens, die Eitelkeit menschlicher Genüsse grinst dem menschlichen Geist entgegen, der zurückschaudert wie der Basilisk bei seinem Anblick im Spiegel. Graue Wüsten ohne Palmen der Schönheit und Quellen der Reinheit dehnen sich endlos umher, die Oase der Liebe ist vom Samum der Leidenschaft verschüttet und Bülbul Poesie scheint eine geschwätzige Elster. Das ist der Abgrund des ewigen Weltwehs – der Schemen Nirvana steigt aus ihm empor, um uns mit Spinnenarmen ins Nichts hinabzureißen.

Von Hügel zu Hügel schweifen meine Blicke über die unendliche Fläche hin und eine Stimme dringt vernehmlich an mein Ohr: Nirgends hier erwartet Dich das Glück. Was hülfe es mir, den Lauf der Sonne zu begleiten – ich begehre nichts, was sie bescheint. Wie eine sturmverschlagene irrende Seele, schleiche ich durch die Welt.

Der Wagen der Nacht durchrollt die Aetherwogen. Die Zweige rispeln. Es ist, als höre man die Schatten der Todten dahinschweben. Ein Mondstrahl berührt sanft meine Stirn, als wolle er Licht streuen in meine dunkele Seele und ihr das Geheimniß der Sphären enthüllen, als wolle er die Morgenröthe eines Jenseitstages prophezeien.

Der Wälder niederhängende Wipfel bedecken mich mit Frieden und Schweigen. Die Bäche, unter Laubbrücken verborgen, schlängeln sich durch die Thäler und spiegeln sie ab. Sie mischen ihre murmelnde Fluth und verlieren sich dann spurlos. So ist die Quelle meiner Jugend zerronnen, ohne Rückkehr. Doch jene Fluth ist klar und meine Seele so trüb. Wie ein Kind vom Ammenliede gewiegt, schlummere ich ein zum Gemurmel des Wasserfalls.

Die Berge stehen sich gegenüber wie feindliche Brüder, die dort in ihrem Haß versteinert. Schon tausend Jahre stehen sie so mit gefurchtem runzligem Antlitz, schneeweiß bleichte ihr Haar. Doch Abends, wenn die Sonne sie überglüht, dann brechen die Wunden auf, dann überrieselt Blut ihre Stirn.

Ein unbesieglicher unwiderstehlicher Drang nach Selbstvernichtung jauchzte in dem totmüden Menschenwurm empor. Ihm war das All götterlos, ohne Ordner und Lenker. Kein Steuer leitete ihn durch den Ocean des Unendlichen und der feste Strand der Erde widerte ihn an. Aber sein Gedanke kreuzte furchtlos durch den unendlichen Raum, von der Ahnung des Unvergänglichen getragen. Eine sterbeselige Todessehnsucht dehnte und weitete seine kranke Brust. Wenn die trivialen Freuden des Lebens als werthlos versinken, wenn selbst die äußere Schönheit der Natur nicht mehr befriedigt, wenn der kindliche »liebe Gott«, die formelle Religion, in Staub zerfiel und der wahre Gott noch nicht an seine Stelle trat – dann erfaßt das Gemüth eine brünstige Leidenschaft für die reinen wandellosen Elemente, denen der Mensch mit seinem geistigen Hochmuth und seiner physischen Niedrigkeit als Zerrbild gegenübersteht. Eine schmerzliche süße Begierde verlangt sich aufzulösen, aufzugehen im Grenzenlosen.

Ja, er mußte sterben. Das war das Beste, das Beste. Wozu die paar Jahre noch hinschleppen eines elenden kümmerlichen Daseins, den verglimmenden Docht noch schüren? Aus, kleines Licht!

Ja, das war das Beste für ihn und für sie. Sie fürchte ihn, hatte sie gesagt. Und was sollte auch daraus werden? Sollte er daheim die Folter weiter dulden, die Folter sie als Gattin dieses reichen Laffen zu sehn, unerreichbar und glücklich, während er verschmachtete? Noch jetzt in seiner Weltabsagung und Selbstvernichtungsgier bäumte sein Größenwahn sich auf gegen solche Herabwürdigung seiner qualvollen Liebe.

Da war das Beste, er ging. Ging in das Land, von wo kein Wanderer wiederkehrt. So ging er Allem aus dem Weg.

Und wieder die Stiche in der Brust! War er nicht ohnehin todgeweiht? Ende es denn gleich mit einem Schlage!

Der Tod stand ihm plötzlich so anheimelnd nahe vor Augen, so greifbar wie ein Freund, der die Hand zum Gruße reicht. Ihm war, als habe er eigentlich nie gelebt ohne Todeswunsch und fange jetzt erst an, sich der Wahrheit bewußt zu werden.

Aber wie es ausführen? Sich mit dem Messer die Pulsadern öffnen? O nein, unmöglich. Offenbarer Selbstmord – das taugte nichts. Dann würde man nach den Motiven fragen, Alles ausforschen, sein Geheimniß ihm entlocken. So würde Kathi's Zukunft erst recht verdunkelt werden. Das zu verhindern floh er ja gerade ins Grab.

Da fiel sein Auge auf die Flasche mit Karbolsäure, die der Umschläge halber auf dem Nachttisch vor seinem Bette stand. Wie ein Blitz durchzuckte ihn der Gedanke, daß man glauben könne, er habe dies Gift mit der danebenstehenden Wasserkaraffe schlaftrunken verwechselt. Und leerte er die Flasche bei seinem angegriffenen und kränklichen Zustand, so genügte das wahrlich, um ihn alsbald zum Styx zu verschiffen.

Er verschob die Ausführung auf den Abend des folgenden Tages.

Leise Schauer fluthen über die Erde, sie bebt und athmet in beklommener Wonne. Berauschend duften ihre Seufzer, keusche Gefühle quellen empor als Blumen. Und sie entschlummert mit sanftem Erröthen bei dem Abschiedsblick des strahlenden Sonnengatten. Er – er lenkt ihre eigenen Pfade nach festen Gesetzen unwandelbar in rollendem Laufe von oben – aber ewig trennt der kalte feindliche Aether die Gatten nach festen Gesetzen. Einst wird kommen der Tag, wo aufjauchzend in brausendem Sturme in des Geliebten Arm stürzen wird die sehnende Erde. Aber sein Kuß ist Flamme und sein Odem Vernichtung. Und wie die Sonnenblume Apollos, wird sie verwehen. Wär' er schon da, der wirbelnde Tag der Vernichtung! O erschölle die grelle Posaune des Richters, wie ein Schwertstreich mitten durchs Herz des Weltalls, wenn im bacchantischen Reigen den Aether durchrasen mit entfesseltem Flammenhaar die Gestirne, scheiternd, wie Orlogschiffe mit brennenden Masten, im unermeßlichen Raum, dem brandenden Chaos! O dann voll zu empfinden die Größe der Schöpfung in ihrem Sturze, wie die gefällte Palme deutlicher zeigt den Schwung ihres Riesenwuchses! O zerschmettert zu werden zu einem Atome, das nur das Samenkorn eines künftigen Daseins! Losgelöst vom Staub in geistigem Wesen durch die versinkende Welt dahinzufliegen, – zaghaft flatternd zuerst, wie staunend und gaukelnd ein Sommerfalter schwebt um schwarze Ruinen, – aber höher steigend, wie eine Lerche, die des Schöpfers Bewußtsein in Lieder aushaucht, – endlich mächtig entfaltend unendliche Schwingen, wie ein Aar aufsteigend zum Thron der Allmacht! Dann zerreißt der Schleier vom Bild der Gottheit, und wir stürzen, vom Blitz ihrer Größe getroffen, zu ihren Füßen. – Hallelujah, Vernichtung! Wird nicht das Blut den Adern der bleichen Erde schöner entströmen in unversieglichen Wellen, als es träge jetzt sickert, mit Fieberröthe, Gesundheit heuchelnd, tünchend die welken Wangen?

Ach, wenn die Welt-Galeere zerscheitert in tausend Stücke, an die wir Alle geschmiedet mit unlöslichen Fesseln – mitzusterben den großen Welttod, süßer ist's, als mitzuleben das Allsein!

Weltvernichtung, Selbstvernichtung! Tausendmal größer als unsre winzige Erde, strömen Protuberanzen flammenden Dunstes von der Sonne aus, hornförmige Zacken an der Lichtscheibe, die wir bei klarer Strandluft mit bloßem Auge erkennen. Ist der Weltuntergang nah vor der Thür, bricht sie schon heran, die große Darkness, wo die Sonne alle Weltlichter verzehrend auslöscht? Wo wir mit der Erde zu Spreu verbrennen oder vergletschern? Und doch – des Menschen Geist umfaßt das All, steht darum über dem All. Die Alpen sind starr und leblos – wir leben, denken, handeln, wir sind mehr. Geist und Leib mag verderben, aber bleibt ein Prinzip der Existenz nicht in jedem von uns bestehen, das den Weltensturz überdauert? Nun, und mag's denn sein, gehen wir unter! Ob wir uns wie ein Bläschen Schaum der sich ewig neu gebärenden Woge der Materie mischen oder wie ein wesenloser Windhauch im Sturme der Zeit verwehen oder uns als Perle einfügen der Weltkette und gereinigt als krystallisirte Geistespotenz fortwähren – – namenloser Schmerz der Selbstvernichtung, du birgst namenlose Wonne.

Ach, sterben, sterben! Alles Schwankende sinkt ins Grab, gern gehe auch ich von hinnen. In jedem Grashalm fühle ich mich ja auferstehen.

Rother hatte Schreibzeug verlangt. Mit tiefer Ueberlegung und stillem Bedacht schrieb er zwei Briefe nach Deutschland in ausstudirt jovialem Ton. Dieselben sollten für später als Beweis dienen, daß er sich keineswegs mit Selbstmordgedanken getragen habe und einem bloßen Unglücksfall erlegen sei. Der erste Brief lautete:

Lieber Knorrer!

Ich befinde mich (eine vorübergehende leichte Verwundung ausgenommen) hier kreuzfidel – lebe, liebe, esse trinke und verdaue ausgezeichnet. Du machst Dir keinen Begriff, wie wohl mir ist, wie ich all meine Schmachtlappigkeiten jetzo belächele. Den Kameelshaar-Ueberzieher aus Salzburg, den Du stets empfiehlst, werde ich mir von hier aus bestellen. – Meine Studienmappe ist voll famoser Motive. Zur Berliner Kunstausstellung werde ich wohl noch 'was fertig kriegen. – Holla, da entschlüpft mir ein Gedichtlein, um das mich Freund Graef und Henry Francis Annesley beneiden möchten!

Eine Walküre.

Minnelieder singt sie laut

An der Wasserhölle Krater.

Liebreich hinter uns miaut

Der Familie treuer Kater.

In den buschigen Schweif ich fasse

Ehrfurchtsvoll, denn hier am Platze

Wächst die ganz besondre Nasse,

Uebergang zur wilden Katze.

Nachtigallen suchen Rosen,

Keine blühen hier am Stocke.

Doch dafür zum Minnekosen

Die lebendige Rose locke!

Ich bin eine Nachtigal hier,

Bin ein Künstler, glaube dieses!

Rose, überleg' den Fall Dir:

Bin ich werth des Paradieses?

He, wie gefällt Dir das, alter Schwerenöther? Habt's a Schneid? Holdrio!

Dein Eduard I. der Tolle.

Gegeben in unserm Hauptquartier zu Hönevoß.

Der andre Brief war an seinen neuerworbenen gräflichen Intimus gerichtet. Ach ja, der erste Amant der schönen Verderberin! Der saß jetzt seelenvergnügt daheim und sonnte sich in seiner neuen Gloriole. Rother lächelte bitter. Welch ein Fant und Esel, ein neuer Werther wie er, der sich noch obendrein schämen muß! Und doch!

Lieber Graf Krastinik!

Mir geht es hier nicht übel. Nur eine Verwundung am Fuße, die ich mir zuzog, zwingt mich, meine Streifereien zu unterbrechen. Hoffentlich bin ich bald wieder hergestellt. Wie gehts? Rüstig vorwärts streben, lieber Freund, und vor Allem das Leben recht wichtig nehmen! Denn wenn man es belächelt, wie's es verdient, dann verliert man allen Arbeitsmuth. Als ich durch die Alpenwildniß mich ins Leere vorwärts schauderte, da dacht' ich wieder: Was sind wir? Wir sind

Ein Punkt.

Den Berggeist ruft ein Echo wach,

Ein Aufschrei und ein dumpfer Krach.

Purzelt dort eine Tanne nieder,

Die aus dem Abgrund die schlanken Glieder

Aufreckend zu Riesenhöhe sprießt

Und über den Rand des Saumpfads schießt?

Nein, die Naturgewalten vom Boden

Wollen ein edler Gewächs ausroden:

Von dem Bergrutsch fortgeschoben

Wurde ein Holzfäller droben,

Glitt wohl aus im Gneisgerölle,

Taumelt nieder zur Eiseshölle.

Und damit ist der Punkt gestrichen.

Auch Du, der dem I-Punkt stolz geglichen,

I-A! Wirst wie ein andrer Punkt

In die Tinte des Nichts hineingetunkt.

Aber man muß solche Stimmungen überwinden. Gewiß, wir Menschen leiden ja alle an Größenwahn, indem wir uns Ameisen auf diesem planetarischen Kehrichthaufen für wichtig halten. Aber was kommt dabei heraus, über unsere Nichtigkeit zu brüten!

Ueber die hohen Fjällen.

Die Luft ist so klar und so frisch und so leicht

Auf den Fjelden.

Der alte Adam von hinnen weicht,

Ich fühle mich frei und als Helden.

Hinauf zur Alm! Ihr Morgenpsalm

Ich will ihn euch melden.

Der zitternde Halm, der springende Salm

Singt: Frei, wir sind frei auf den Fjelden.

Sonnenaufgang in Gudbrandsdalen.

Was rollen die Wogen des mächtigen Logen

Doppelt so fröhlich daher?

Alphörner klingen, Dammhirsche springen

Durch der Wälder wallendes Meer.

Ihre Lilienstirne, die keusche Firne

Der Bergjungfrauen, sie sprüht

In rosigem Licht. Eisbrünne bricht,

Brunhilds Schneebusen erglüht.

Das ist die Sonne, die so mit Wonne

Die Seele des Weltalls schwellt.

Aus Nacht und Sorgen ist jeder Morgen

Eine Auferstehung der Welt.

Am Falkenhorst.

Heil, Freya, falkenäugiger Schwan!

Dich flieht der Selbstsucht Pfau!

Dich flieht der pfäffische Cormoran.

Bitt für uns, unsre liebe Frau!

Du Falk von echter Isländischer Zucht

Aus der Freiheit Heim im Nord,

Du Göttin reiner Liebe, Dich sucht

Meine Sehnsucht fort und fort.

Mit bestem Gruß Ihr

Rother der Schwachmatikus.

Nachdem die Briefe convertirt und zum Absenden dem Wirth übergeben, wobei er lachte und scherzte, raffte Rother sich zusammen zum letzten Entschluß. – –

Der Erde schläfert leise und die Seele sucht Ruhe, Ruhe. Der müden Sonne fallen die Augen zu.

Was rollt die Erde ohne Ende durch das rollende Aethermeer? Nur den wiegt feste Ruhe, wer unter der Erde ruht.

Es pocht, es pocht ans Fenster. Ist es der Regen, der leise niederraschelt ins Farrenkraut? Wuchtig und langsam schlägt ein schwerer Tropfen aufs Fensterbrett, eintönig wie eine sich langsam reibende Feile. Was pocht, was pocht und hämmert da draußen und hier drinnen im Herzen? Wird da ein Sarg gezimmert, ein Sarg der sterbenden Liebe?

Was pochst Du, Herz so wild und laut,

Du nimmermüde Uhr?

Dein Zeiger weist, Dein Pendel tickt

Dem Tod entgegen nur.

Einsam, einsam! Sind alle Wege verschneit, schleicht ein frostiges Verderben umher und mäht die märzlichen Keime? Die Flocken fallen, fallen. Durch die Seele geht bleicher Tod, ein schneeiges Bahrtuch deckt die jungen Blüthen.

Ihm war, als wolle seine Seele hindämmern ins dunkle Reich der Schatten, wo träumerischer Friede auf Asphodeloswiesen blüht.

Der Puls der Zeit steht still, steht still. Ein Heimweh nach dem Nichts säuselt im Abendwind räthselvoll durch alle Wipfel. Zum Sterben müde stehn die alten Bäume. Wie Träume spinnen sich Nebel, vom See aufsteigend, um ihr Haupt. Ueber der Sonne purpurnen Talar gleitet der Hermelin der Nacht. O dürfte so die Welt mit eins in Nacht versinken und ihn nie mehr leeren, den bittern Sonnenkelch der Lebewesen!

Ein tödtliches Gelüsten berauschte ihn mehr und mehr. Der buhlerische Frühlingsstrahl lockte ihn hinab in die Tiefe, wo kein Winter stirbt und kein Frühling erwacht.

In übernächtigem Frost erstarrte der Quell der Thränen und die Hoffnung läßt sich nicht mehr narren. Vorbei, vorbei!

Langsam und bedächtig erhob sich Rother auf seinem Lager und langte nach der Flasche mit Karbolsäure. Er öffnete den Stöpsel und roch daran. Der unangenehme Geruch flößte ihm Ekel ein. Er schüttelte sich. Dann roch er widerholt, um sich daran zu gewöhnen, damit nicht der Geruch ihn beim Trinken zum Vomieren veranlasse. Seiner Willenskraft gelang es. Jetzt setzte er die Flasche an den Mund – – Wie dem Ertrinkenden, gaukelten ihm tausend Bilder vor Augen.

Was ihm je geraubt, was in unerbittlichem Morden sein Leben ihm hingeschlachtet, – es hob sein träumerisches Haupt.

Er wagte kaum zu athmen, in ahnungsvoller Todeswonne. Ein Geist geht um von Baum zu Baum und der Nachtthau schwebt leis hernieder. Ist's Dein Geist, die fern von mir?

Nein, ich kann es nimmermehr vergessen, daß ich Dich geliebt. Ob die Leichensteine belasten mein müdes Haupt und alle Särge springen und ob das All zerbirst wie Glas, – dies Eine werde ich nie vergessen, nicht in Leben und Tod.

Er blickte auf ihr Bild, das er stets auf dem Herzen barg wie ein köstlich Geheimniß. Was ihn einst durchflammt, es zuckte nicht mehr aus der Asche. Das Mondlicht thaut vom Himmel, die Sterne neigen sich nieder – doch nie strahlt die versunkene Welt im Flammengrabe des Herzens.

Hinüber, hinüber! Der Hauch gestorbener Liebe betäubt das traummüde Hirn und zu einer ewigen Liebe jenseits der Erde dichtet es sich hinüber, hinüber.

Er trank.

Dritter Band
Neuntes Buch
I.

Den Goldfischteich bestreuten dicht die pfirsichfarbenen Blüthen der Kastanienbäume, welche ihr dunkelgrünes Haupt beschaulich in dem schmutzigen Wasser spiegelten, das mit Laich punktirt aussah, als habe sich ein Mückenschwarm wie ein Schleier darauf geklebt. Der ganze Thiergarten troff noch von dem erquickenden Regen, gleichsam durchsaugt von fruchtbarer Feuchtigkeit. Und jetzt sickerte das Sonnenlicht überall durch, bis der Wald von eitel Licht getränkt und von glänzendem Goldstaubregen zu riefen schien. Die Dämmerung wandelte sacht heran und könte dies goldgrüne Sommergewand der Natur zu stilleren sanfteren Farben ab. Die zackigen Firste um den Ziethenplatz her hoben sich dunkel in den lichten Horizont, welchen fern nach Nordwesten ein schwüler brenzeliger Schein umwob. Ein Sternlein blinkte am Himmel wie eine schläfrige Nachtkerze in lichter Mittsommernacht, die kein eigentliches Dunkel gestattet. Alles zerfloß in ein liebliches gedämpftes Halblicht. Nur die Feldherrnstatuen am Ziethenplatz postirten sich schwer und massig umher und sogen allen Schatten in ihre Bronze ein.

Leonhart und Krastinik schritten langsam, aus dem Thiergarten kommend, durch die Wilhelmstraße, dann am Café Kaiserhof vorüber ins Innere der Friedrichstadt.

»Die Juden können weder noch sollen sie assimilirt werden. Sie nützen so den Deutschen, weil sie Eigenschaften haben, die uns abgehn. Und gerade durch den Kampf gegen sie sollen uns die eigentlich germanischen Eigenschaften zum Bewußtsein kommen. Das Judenthum ist eine uralte Weltmacht wie die römische Kirche und hat sein ›non possumus‹. Es wird nie untergehn. Selbst wenn es sich äußerlich ganz assimilirte (wobei die viel empfohlene Racenmischung übrigens nur den Deutschen schaden könnte, weil die jüdische Race bekanntlich die stärkere ist), so würde es dennoch einen Geheimbund weiterbilden.«

Krastinik, ein eifriger Antisemit, schüttelte zu diesen Worten Leonhart's ungläubig den Kopf. »Eine Macht wie die römische Kirche?«

»Ja gewiß! Uebrigens ist der Katholicismus seinem Wesen nach ein semitischer Cultus.«

»Was! Wie?«

»Ja freilich! Meine Freunde, die Antisemiten, halten immer schöne Reden, wir müßten zum Wodan-Cultus zurückkehren, um echte Germanen zu werden, und mit dem semitischen Christenthum aufräumen. Das ist aber grundfalsch. Das eigentliche Christenthum ist durch und durch arisch. Christus selbst, dessen Abkunft ja übrigens mythisch bleiben wird, hat ja erwiesenermaßen nur an indische Lehren angeknüpft, vielleicht auch an baktrische, und diese nun auf den Talmud reinigend aufgeimpft. Und die Apostel sind doch andrerseits ganz hellenistisch, Neuplatoniker wie Johannes mit seinem: ›Im Anfang war der Logos‹. ›Und der Logos ward Fleisch und wandelte unter uns‹. – Das ist wieder ganz braminisch gedacht: So wandelten Bramah, Wischnu und der Messias Buddah leiblich auf Erden. Der Sieg des Christenthums über die Welt war ein arischer und speciell ein hellenischer Sieg, gewiß kein jüdischer.«

»Aber erlauben Sie,« bemerkte Krastinik sehr weislich, »die zelotische pharisäische Strenge gegen alle Fleischessünden gegenüber der heidnischen Auffassung ist doch ganz alttestamentlich?«

»Das wohl. Nur vergessen Sie nicht, daß man das Eifern eines Paulus gegen alle unnatürlichen Laster doch vor allem historisch betrachten muß. Das Christenthum bildete eine revolutionäre Sekte, welche die Welt reformiren wollte. Uebrigens ist's mit der Strenge nicht gar so schlimm, wenn man das spätere Geheuchele damit vergleicht – ganz abgesehen davon, daß die Urquelle Christus selbst ja die humane Toleranz so weit trieb, Maria Magdalenen mit seinem Um gang zu begnadigen. Wenn aber Paulus z.B. meint, daß Heirathen immerhin eine Schädigung der reinen Hingebung aus Ideale sei, so kann man ihm das wohl weder verübeln noch bestreiten.«

»Somit vertheidigen Sie also das Cölibat der römischen Kirche?« folgerte Krastinik sinnend.

»Unbedingt. Der große Papst Gregor wußte, was er that. Gerade dadurch kräftigte er dies gewaltige System dermaßen, daß es noch heut hundert Jahre nach der französischen Revolution und fast vierhundert nach der Reformation unerschüttert besteht. O die römische Kirche – Hut ab! Mit der wurde selbst Napoleon nicht fertig und wurde ausgenutzt, wo er auszunutzen dachte. Und überhaupt, Rom allein ist eine wahre Weltmacht und das einzig Positive in diesem allgemeinen Chaos und Krawall von staatlichem und nationalem Größenwahn.«

Leonhart redete offenbar aus tiefster Ueberzeugung heraus. Der österreichische Katholik sah ihn verwundert an. »Das aus Ihrem Munde? Und sind doch Protestant?«

»Ich – ich bin gar nichts, höchstens Christ nach der unverfälschten Urlehre. Aber als geschichtlich denkender Mensch urtheile ich anders. Und auch sonst ... wissen Sie wohl, wenn man dies haltlose moderne Treiben so gründlich satt hat ... ich könnte als Mönch enden!«

Krastinik fuhr ordentlich zurück. Die Worte gruben sich unauslöschlich in sein Gedächtniß ein. Leonhart brach jedoch ab und lenkte das Gespräch auf den Herrschergeist Hegels, diesen philosophischen Tyrannen, der tausendarmig alle Gebiete an sich zog. Es klang, als fühle er in Jenem einen Wahlverwandten, wie denn Krastinik in Leonhart längst eine geistige Despotennatur erkannt hatte.

In der Alten Jacobsstraße trennten sie sich. Leonhart wollte noch nach der Dresdener Straße.

»Ach, da sollen Sie ja ein Verhältniß haben?« fuhr es dem Grafen heraus.

»So? Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Ach, ich weiß nicht, – Mehrere. Alle Welt mokirt sich darüber. Sie sollen schon seit langen Jahren in Ihrem Stammlokal, einer Mädchenkneipe, da eine Wirthin anschmachten, die auch sonst Verhältnisse hat. Ich sage Ihnen das ganz offen, damit Sie sich vorsehn gegen das dumme Gerede. Was geht's mich an! Adieu, lieber Freund.«

»Und Sie wohin?«

»In den Verein ›Drauf‹. Sie kennen ihn ja.«

Leonhart lachte herzlich. »Verein der ›Größenwahnsinnigen‹; wer die meisten Pseudonyme hat, wird Weltpräsident – ja, den kenn ich. Na viel Vergnügen! Ich trau' mich nicht mehr hin, weil ich über die idealen Waffenbrüder Edelmann-Haubitz, die dem Jahrhundert den ›Stempel‹ aufdrücken, einiges Vitriol ausgoß. Also adieu.«

In der That hatten Ambrosius Sagusch und einige andere Sendboten des Himmels an Leonhart einen versteckten Drohbrief gesendet: was er mit seinen Anzüglichkeiten meine. Sie hofften nämlich, daß sie ihm correspondenzlich unvorsichtige Aeußerungen entlocken könnten, was – verbunden mit consequenter Undankbarkeit – zum System des »Jüngsten Deutschland« gehörte. Da Leonhart's Combinationsvermögen jedoch die Absicht einer Skandal-Reclame und irgend eine planvolle Tücke von Seiten jener messianischen Weihepriester witterte, so antwortete er mit boshafter Ironie: Er empfehle den geschätzten Herrn sein Benehmen als Thema psychologischer Studien, wie schwach und widerspruchsvoll die arme Menschennatur. Derselbe, der sich für seine Freunde und auch Feinde manchmal aufopfere, taste die persönliche Integrität solcher Ehrenmänner an! Man möge seine Animosität bemitleiden und sich den schönen Glauben bewahren.

Krastinik wanderte also in den »Drauf« und wurde ehrfurchtsvoll empfangen.

Der ambrosianische Sagusch hielt grade einen begeisterten Vortrag über Ibsen. Was dieser Norweger mit einer kritischen Würdigung der deutschen Gegenwartsliteratur eigentlich zu schaffen hatte, vermochte nur Der zu würdigen, dem es nicht unbekannt blieb, wie leicht dem deutschen Litteraten die hingebend selbstlose Anerkennung alles Fremden fällt, von welchem man ja freilich keine Concurrenz zu fürchten hat. Diese jüngstdeutschen Kritiker mit ihrem »idealen Streben« unterschieden sich von denen der Tagespresse, gegen deren Corruption sie donnerten, eigentlich gar wenig. Doch ein bedeutsamer Zusatz mußte als Fortschritt gelten. Denn ob auch erbärmlicher Neid und niedriges Cliquenwesen sie nicht minder beherrschte als Grundmotiv all ihrer kritischen, Handlungen und Grundsätze, so trat doch außerdem noch eine pedantisch-philologisch-formalistische Nörgelei hinzu, zwar unfähig je durch die äußere Schale in den Kern der Dinge zu dringen, aber dafür argusäugig für jedes Stolpern des Federkiels und unfehlbar auf dem Korpus Juris der Vischer'schen Aesthetik thronend.

Sodann verlas Dichterling Haubitz eine schauderhafte Verreißung über die »Modernen Realisten«. Obschon er seine olympische Geringschätzung Schmoller's überall betont und von Leonhart deswegen heftige Grobheiten eingeheimst hatte, besaß er die geniale Frechheit, hier Schmoller mit spärlichem Lob gegenüber Leonhart auszuspielen, den er einen Nachahmer Schmoller's nannte. Ueberhaupt sei Leonhart (»der junge Dichter«, wie er ihn krampfhaft ununterbrochen betitelte) nur ein Eklektiker von trostloser Unreife, welcher jedem Einfluß folge, den ihm ein Anderer zutrage. Eine gewisse dramatische Begabung wolle er ja nicht verkennen; doch sei das Ganze immer verfehlt und reich an Dilettantischem. Das Widersprechendste, das grade an der Mode sei, ahme er nach, weil ihm offenbar mehr an augenblicklichem als an nachhaltigem Erfolg gelegen sei.

Krastinik staunte, als rede man chaldäisch. Die unmögliche Frechheit des obscuren Dichterlings, der aus solchen Winkeln seine vergifteten Pfeile schoß, verblüffte ihn gradezu. Der handgreifliche Blödsinn dieser kecken Behauptungen ließ doch wirklich bezweifeln, ob der Klugschwätzer jemals Leonharts Werke gelesen habe.

Als Folie las Haubitz dann einen Akt seines Dramas »Ein Morast« vor, worin trotz seines feschen Geschimpfes auf Zola der Schmutz faustdick aufgetragen war. Die Hauptheldin, Timandra Harteran (ihre Zofe trug den in Berlin gewiß recht häufigen Namen: Medora) ließ den Leser im ganzen Stück über ihre Erwerbsverhältnisse im Unklaren. Nicht minder der genialische Held des morastigen Dramas, welcher immer von Austern und Champagner redete, obschon er eine edle Verachtung wider alle Brotarbeiten entwickelte. – So schwebte Rafael über den seichten Gewässern der Modelitteratur und seinem – Moraste herablassend als Jehova dahin, ein Wohlgefallen vor Gott und den Menschen.

Die Versammlung wurde immer zahlreicher. Wer zählt die Völker, zählt die Lumpen! Einer erzählte, daß von seinem neuen Buch 365 Besprechungen erschienen seien, für jeden Tag im Jahre eine – worauf sich Sagusch erbot, fürs Schaltjahr noch eine extra zu liefern. Ein Andrer meldete Jedermann, man habe bei ihm eingebrochen. »Der Executor nämlich!« dachte Krastinik, dem schlimme Befürchtungen einer Collekte schwanten. Ein Dritter, der wie eine betrunkene Eule aussah, hatte dem Edelmann, welchen er auf dessen Redaction (Lokaltheil der »Privilegirten Fortsschrittszeitung«) heimgesucht, als parthischen Pfeil ein philosophisches Lehrgedicht in XII Cantos zurückgelassen. Einen Theil davon hatte er stehenden Fußes zwei Expedientinnen, die er in der Redactionsstube traf, meuchlings vorgelesen. Die armen Schlachtopfer konnten nachher nicht genug über solche Missethat klagen, was jedoch nicht die Versicherung hinderte: »Ja, Herr College, die Mädchen waren ganz entzückt. Sie sehen, selbst auf ungebildete Gemüther wirkt Ihre Dichtung.« Der Mann war tief gerührt und pries den Edelsinn dieses erlauchten Dichters, der mit Recht »Edelmann« heiße, im Gegensatz zu andern Redactionen. »Ach,« rief der Fremdling, »die Kassirer brennen blos mit der Kasse durch, die Redacteure mit der Moral!«

»Und manchmal nicht blos mit der Moral!« bemerkte Krastinik trocken. »Nun, Herr Sagusch, Sie grüßten mich ja unvollkommen – wie geht's Ihnen?«

»Danke,« erwiderte dieser Denker mürrisch, der die »blos« 20 Mark Pump, welche der gräfliche Anfänger bisher erst als Taxe zahlte, noch nicht verziehen hatte. »Man wird altersschwach vor Litteratur!«

»Pfui, pfui!« ermahnte aber Edelmann würdig. »Beherzigen wir Schleiermacher's schönes Wort: ›Bewahren wir uns ewige Jugend!‹ Nicht wahr, Herr Graf, wir werden die Litteratur schon retten? Reichen Sie mir doch die Hand!«

»Verrathen wir also mitsammen das Vaterland!« lächelte dieser.

»Wie machen wir's aber?«

»O vor allem zusammenhalten als natürliche Verbündete wider den gemeinsamen Feind!« Edelmann mogelte mit seinem Kneifer unterm Tisch und eine unheimliche Erregung zitterte in seiner Stimme. »Wir, dem Vertreter des Idealismus, haben vor allem den Erzderber niederzumachen: diesen Leonhart.« Allgemeine Zustimmung. Jaja, das sei ein schlauer Strategem rege Wirrwar wie Staubwolken und wühle die Wogen auf, – um urplötzlich dahinter selbst als Offenbarung emporzutauchen. Sei ein Diplomat der Grobheit.

Krastinik schwieg. Ihm schien das Alles, als ob Flöhe einen Löwen stächen. Der Floh ist freilich mit der Löwentatze kaum zu erreichen, aber er juckt eben so lange, bis er sich vollgesogen hat, und dann kriecht er aus der Mähne wieder wo anders hin. Denn des Flohes Beruf ist zu jucken. Man zerdrücke ihn ja nicht: das stinkt zu sehr. – Faulheit und Unfähigkeit ärgern sich über Fleiß und Talent, weil letztere einen lebendigen Vorwurf bilden, der überall den Neid steckbrieflich verfolgt.

Es wurde so spät, daß Krastinik sich empfahl, um noch die letzte Pferdebahn zu erreichen.

Die beiden Waffenbrüder fielen unisono über die günstige Gelegenheit her: »Ach, es ist schon so spät. Wie werden Sie sich da den langen Weg nach Hause zurückfinden! Gestatten Sie, daß wir Ihnen bei uns Gastfreundschaft anbieten!«

»Hehe,« setzte Rafael verlockend hinzu. »Bei uns steht Ihnen alles zu Gebot – sogar Mienchen, eine kleine Freundin von uns.«

Dies mystische Mienchen bildete eine geheime Trumpfkarte der auf Tod und Leben verbrüderten Idealisten. In ihrem Hause in Moabit befanden sich nämlich einige Zimmer-Mietherinnen sehr eindeutiger Natur, unter ihnen das berühmte Mienchen, jene ihnen auf Tod und Leben verschwisterte Idealistin. Biß nun einer auf den Köder an, wie dies früher dem halbverrückten Henry Francis Annesley passirte, so mußte er unmäßig bluten. (Bei Annesley, welcher trotz aller Maul-Schwärmerei nicht einer gewissen versteckten Aalglätte entbehrte und nur bei seiner krankhaften Sinnengier gepackt werden konnte, hatte sogar ein angebliches Heirathsversprechen herhalten müssen, welches die Waffenbrüder leider zu ihrem tiefsten Schmerz als Zeugen Mienchens auf ihren Eid nehmen wollten.) Gewöhnlich mußte der Hereingefallene Mienchens »Schulden« bezahlen. Die Waffenbrüder und die Waffenschwester sammelten nämlich für einen darbenden Freund, einen idealen Märtyrer.. für ihn hatte Mienchen sich in Opfer gestürzt, die edle Seele. Wer den Vorzug dieses eidgenössischen Umgangs genoß, lernte auch bald den idealen Zweck kennen, der sie bei ihrem Pump-System beseelte. Einige wollten zwar behaupten, der Name des mystischen Freundes sei Spiegelberg und seine monatliche Taxe 20 Mark – er spiele gleichsam die sogenannten Strohmanns bei diesem Whist-Kleeblatt. Uebelwollende fügten hinzu, daß dieser Kerl von Verdauungsfähigkeit sein müsse, neben welchen die Danaidenfässer als reine Spundlöcher erscheinen.

Man erkennt hieraus, wie wenig die Welt sich zu dem idealen Schwunge der verbrüderten Eidgenossen zu erheben vermochte. Sie trösteten sich jedoch mit dem herrlichen Verse des haubitzigen Rafael:

»Und ist die Welt auch nur ein Lappen,

Der bald in Fetzen morsch zerfällt,

Mein großes Herz ist Gottes Wappen,

Es thront in Mir der Gott der Welt.«

– – Mit Mühe und Noth machte sich Krastinik von der übertriebenen Zärtlichkeit der Waffenbrüder los. Am andern Tag aber erhielt er einen Brief von Edelmann:

»In einer furchtbaren Lage bitte ich Sie, lieber Herr Graf, mir umgehend per Rohrpost 200 Mark zu senden. Alle meine Bekannten, die eine solche Summe erübrigen können, sind momentan verreist und ich habe so viel von Ihrer Liebenswürdigkeit gehört, noch ehe ich Sie kannte. Wozu sollte ich mich jetzt an einen Fernerstehenden wenden!«

Was sollte Krastinik thun! Er hatte zwar wahrlich keine 100 Mark als Geschenk (denn darauf lief es ja hinaus) übrig. Aber da er standesgemäß d.h. über seine wirklichen finanziellen Verhältnisse wohnte, gerieth er natürlich doppelt in den Verdacht gräflicher Wohlhabenheit. In einer Anwandlung falscher Scham packte er die Hälfte der erbetenen Summe ein und sandte sie an die Adresse Heinrichs des Vogelstellers.

In dieser Weise war es schon geraume Zeit hergegangen. Sagusch erbat umgehend 500 Mark, wofür er denn auch 20 Mark per Postanweisung erhielt, was er mit schweigender Grandezza in die Tasche steckte und über solche Unwürdigkeit kein Wort des Dankes verlor.

Jeden Augenblick kamen reisende Schriftsteller, die entweder aus der Charité entlassen waren oder ihre Frau dort liegen hatten (diese Angaben wechselten ab), bei ihm angestiegen. Einer, der stark nach Schnaps roch und 3 Mark empfing, erklärte noch in der Thür, er hätte von einem Grafen etwas Anständigeres erwartet.

Ein Mensch in guten Verhältnissen sollte aus Weltklugheit immer vermeiden, mit Leuten von schlechten Verhältnissen in ein näheres Verhältniß zu kommen. Denn abgesehen vom »Pumpen«, dem man sich unvermeidlich aussetzt, lauert dort stets heimlicher Neid. Ideale Unterstützung wird für nichts geachtet, so sehr man auch vorher darum bettelt und mit dem Mund dafür dankt. Auch jede indirekte materielle Unterstützung (Verschaffung von Arbeiten und Arbeitgebern) wird sofort vergessen. Ewig herrscht die fixe Idee, welche von einer Art Irrsinn des Egoismus zeugt: der Unglückliche, dem man Vermögen andichtet oder der es wirklich besitzt, sei verpflichtet, »Collegen« direkt aus seiner Tasche zu unterstützen.

Im Grunde befinden sich überhaupt nur Wenige in der Lage, Anderen pekuniär unter die Arme zu greifen. Diese aber werden meist durch Verpflichtungen aller Art vorweg mit Beschlag belegt. Nur ganz junge und unabhängige Leute können mit gutem Gewissen solchen Anforderungen genügen.

Wer aber die Früchte seines Fleißes, statt diese zur Weiterförderung seiner eigenen Laufbahn zu verwenden, dem Lüderlichen und Faulen in den Rachen wirft, scheint ein Sünder gegen sich selbst. Jeder gutmüthige Mensch sammelt eine zeitlang Erfahrungen dieser Art. Dann tritt der Rückschlag ein und jeder Pump-Brief wird als verschleierte Erpressung aufgefaßt.

Und im litterarischen Leben läuft die Sache auch immer darauf hinaus. Eine »Anleihe« bedeutet Anerbieten der Bestechung. Setzt sich doch das litterarische Leben hinter den Coulissen nur aus Bestechung und Händewaschung zusammen. Daher endeten auch die Pump-Circulare der Waffenbrüder Haubitz und Edelmann mit dem steten Postscriptum: Sie würden sich übrigens revanchiren, indem sie in den ihnen nahestehenden Blättern eine empfehlende Recension über den geehrten Herrn Collegen brächten. Um jedoch ganz gerecht zu bleiben, muß zugestanden werden, daß sie dies schöne Versprechen niemals hielten oder höchstens in Erwartung eines neuen Darlehns. Hierin zeigte sich eben wieder ihre vornehme Gesinnung, die unausrottbare. Tribut empfangen darf der Messias, aber andere loben – nun und nimmermehr. Das wäre doch eine gar zu schnöde Verletzung seiner Integrität.

Es giebt kaum etwas Trostloseres, als das Loos eines armen Aristokraten. Und nun gar, wenn man an seine Armuth nicht glaubt. Fortwährend spielt er eine falsche Rolle.

Auf der einen Seite verstärkt es das Ansehen und dadurch den Erfolg eines Menschen, wenn man ihn für vermögend hält. Auf der andern Seite setzt er sich der Gefahr aus, von Jedermann angepumpt zu werden. Entspricht er diesem Vertrauens-Wechsel auf sein angebliches Vermögen, so begeht er einen Leichtsinnstreich. Entspricht er ihm nicht, kommt er in den Ruf eines gemeinen Geizhalses.

Jetzt wurde es Krastinik innerlich klar, warum Leonhart jeden Versuch übergroßer Familiarität, wenn ihm z.B. der Graf vertraulich über seine Verhältnisse Aufklärungen gab, mit kühler Reservirtheit ablehnte. Wenn er sonst wohl einfach »Krastinik« gesagt, wendete er dann plötzlich die steife Redeformel »Herr Graf« an. Krastinik begriff diesen wahren Stolz, welcher stets die äußeren gesellschaftlichen Schranken berücksichtigte und den bekannten Anwandlungen von Liberalismus-Verbrüderung, die grade den hochmüthigsten Aristokraten oft belieben, nur ein ablehnendes Lächeln entgegenbrachte.

II.

Die Wirthin des »Café Liedrian« (unechter Wein und echte Mädchenbedienung) in der Dresdenerstraße, Helene Meyer, erwachte erst spät am Nachmittag. Sie hatte erst um 7 Uhr Morgens ihre Champagnergäste, einen ungeschlachten Fabrikbesitzer mit Millionärs-Allüren und einen freiherrlichen Rittmeister in Civil, gehörig ausgerupft und nach einem Gratis-Morgencafé entlassen. Nach so schwerer Arbeit verschlief sie denn auch den ganzen Tag.

In ihrem Zimmer sah es immer aus, als ob Geburtstag wäre. Auf einem Marmortisch zu Füßen des Bettes stand ein Aquarium mit Goldfischen, fünf an der Zahl. Auf einem anderen Tisch ein Schmuckkasten aus Crystall mit allen möglichen Schmucksachen. Und oben darauf ein fettes Marzipanschweinchen mit schnüffelnder Schnauze. Außerdem lagen da umher ein Carton, mit blauem Atlas gefüttert und mit Brokatstreifen bestickt, und ein Parfümeriekasten.

Schon lugte der nahende Abend scheu durch die Gardinen. Helene lag in jenem Dämmerzustand da, den das Halbwachen mit sich führt. Die Goldfische, überfüttert wie dies bei kinderlosen Familien der Fluch, aller Hausthiere zu bleiben pflegt, hatten zufällig am Morgen keine Atzung erhalten. Man hatte sie über dem vielen Trubel vergessen. Jetzt regten sie sich, schossen unruhig hin und her. In der lautlosen Stille hörte man deutlich ihr heißhungriges Schmatzen, so deutlich, daß Helene aus wirrem Halbschlummer emporzuckte. Als ob dies lüsterne Schmatzen, in dem zugleich eine Bitte und eine Mahnung lag, einen Geistergruß aus anderen Welten bedeute. Auf seinem Todtenbette hatte ihr vor einem Jahr verstorbener Gatte noch Zeit gefunden, sie zu erinnern: »Helen'ken, Du wirst mir doch meine Goldfische nicht verhungern lassen?«

Ein Schauder durchschüttelte sie, rieselte durch ihre vollblütigen Glieder. Sie riß die Augen weit auf, streckte sich gerade aus und starrte zur Decke empor. Ein Schatten, tiefster Verzweiflung huschte über ihre Züge hin. Dann raffte sie sich zusammen, ergriff die vor ihrem Bette auf einem Fellteppich liegenden Pantoffeln und schleuderte sie kräftig gegen die Thür. Das war das Zeichen für eine ihrer Mamsells, ihr den Café ans Bett zu bringen.

Bald darauf saß sie in ihrem eleganten Frisirmantel mit langen aufgelösten Haaren vor dem Spiegel, goß Eau de Cologne in ihre Locken, ehe sie dieselben mit dem Brenneisen zu kräuseln anfing, und parfümirte mit Eau de Mille Fleurs ihr Morgenkleid. Dann kam ihr der Gedanke, ein warmes Bad zu nehmen. Andere Gedanken, als die einer entsprechenden rationellen Körperpflege und Ernährung, kamen ihr ja überhaupt nie. Den Rest ihrer Zeit verwandte sie auf die Toilette ihrer schönen Seele, indem sie sämmtliche Romane einer umfangreichen Leihbibliothek verschlang.

Während sie noch in ihrem Badezimmer sich bewunderte und vorm Spiegel ihre Reize in allen möglichen Stellungen besichtigte, klopfte die eine Mamsell, die sogenannte Kneifer-Mary (Rother'schen Angedenkens), an die Thür und benachrichtigte sie: »Madame, Ihr Freund ist da!«

In der That saß Leonhart gähnend in einem Winkel und bepustete als ironischer Blasebalg die Bierheben mit schnoddrigen Redensarten. Auf den Wahnsinn des Kneipens »hinten« fiel er ohnehin als alter kundiger Thebaner nirgends herein; hier aber genoß er uralte Stammgastrechte und durfte sich mit einem bescheidenen Glase Bier begnügen. Unter den Kellnerinnen, so oft sie wechseln mochten, fand er stets alte Bekannte. Und so vertrauten sie ihm auch heute allerlei Klatsch. »Wahrhaftig,« dachte er, »früher stand die Kunst unter dem Sternzeichen der Madonna, heut unter dem der litterarischen Kellnerin.« Kneifer-Mary erzählte ihm eine gräßliche Geschichte, wie sie als Backfisch ihrem Vormund entlaufen sei, weil dieser sie habe nothzüchtigen wollen. »Züchtigen – was? Die Noth hast Du zugesetzt. Man verspricht sich so leicht!« gähnte er. Mit Hochgenuß hatte er oft bemerkt, wie sonst recht gewitzte Leute sich fast immer von den Rührgeschichten dieser Damen betölpeln ließen. Er kannte das Sprüchwort: »Sie lügt wie eine H ...« Doch mit seltsamer Inconsequenz glaubte er nichtsdestoweniger an die idealen Aspirationen seiner Freundin Frau Meyer.

Diese Juno erschien. Ihr semitischer Astarte-Typus wirkte stets blendend beim ersten Eindruck, zumal ihre weiße Gesichtsfarbe durch kohlschwarzes glänzendes Haar gehoben und ihre Ueppigkeit mit geschmeidiger Eleganz gepaart erschien. Die holde Wittwe stürzte freudig auf ihn zu und fiel ihm um den Hals.

»Ach da bist Du ja, mein Herzblatt! Seh ich heut gut aus? Uns kann Keiner!«

»An die Wimpern klimpern!« ergänzte Kneifer-Mary naseweis.

Sofort wurde der Engel zur Furie. »Sie haben hier gar nichts mitzureden!« schrie Frau Meyer heftig. »Hier rede nur Ich. Sie haben bloß zu schweigen, verstanden?«

»Ach, ich meinte man bloß!« Kneifer-Mary fing sofort langsam zu weinen an, worüber Leonhart in solche Rührung gerieth, daß er sich zu ihr setzte und sie liebkoste.

Die klassischen Juno-Züge Helenen's verzerrten sich bei diesem Anblick und sie ging wüthend in der Stube auf und ab. Dann commandirte sie mit rauher Stimme: »Marsch fort, Sie! Bringen Sie eine Flasche Lafitte nach hinten für meinen Freund! Und zünden Sie die Gasflammen an.«

»Ich habe noch gar nichts dergleichen befohlen, meine Gnädige,« brummte Leonhart verdrießlich.

Sie fiel jedoch gierig über ihn her: »Wie hübsch er heute ist! So wie ich, liebt Dich keine! Scheusal, wolltest Du mich eifersüchtig machen?«

Er sah sie lächelnd an.

Sie zwinkerte lüstern-verlegen mit den Augen. Das Böse in ihrem Sphinx-Gesicht war es, was auf ihn so bezaubernd wirkte. In den kleinen Schlänglein um ihren schöngeschwungenen Mund erkannte er kußgierig liebe Wahlverwandte.

»Zarewna!« lächelte er. Sie hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Katharina II.

»O mein Orloff!«

Sie hielten sich umschlungen in zärtlichem tête-à-tête.

»Heut hab ich gebadet,« sagte sie kokett, indem sie ihren Hals entblößte.

»Ha, wäre ich die Welle, die Deinen Leib umschließt!« deklamirte er in ungesunder Brunstaufwallung. »Wahrhaftig, ich würde zur Flamme werden!«

»Zur Flamme? Ei!« Ihr Auge funkelte. »Wenn, ich nun aber selbst die Welle würde, die Dich umwogt! Ich würde Dich schon herunterziehen, was?« Und zur Bekräftigung drückte sie seinen Kopf fest an ihren Busen.

Er aber phantasirte fort: »O Sphinx! Könnt' ich doch in Dich hinüberfließen, mich selbst zernichten in Deiner Lebensfülle –« (»Lebensfülle ist jut!« sie knöpfte sich sämmtliche Knöpfe ihres Mieders auf) »in wunschlosem Gestorbensein!«

»Wunschlosem? Oho! Das will ich nicht hoffen! Prost!« Er lachte leicht auf, indem er mit ihr anstieß. Aber unwillkürlich durchschauerte es ihn dabei, als ob ihm der Tod als lieber Gesell zur Seite säße und ihm grinsend ein blutiges Glas entgegenstrecke. Ihm wurde so nachtwandlerhaft zu Muthe, als habe er all sein Leben nur geträumt. Wie lange kannte er nun schon dies Weib! Als sie noch »glücklich« verheirathet war, hatte er schon mit ihr eine eigenthümliche »Freundschaft« gepflegt. Greisenhafte Narrethei!

Wie Betrunkene am Abgrund vorübertaumeln – wann wird er sie beide verschlingen?

»Das reine Gretchen in Auerbachs Keller!« murmelte er halb gedankenlos.

»Nanu!« Sie lehnte sich mißmuthig zurück. »Das ist manchmal Alles so – so falsch bei Dir! Man weiß nicht – ich ärgere mich über Dich.«

»Daß ich noch nicht weiter bei Dir bin, wie?« fuhr es Leonhart heraus.

Sie sah ihn mit einem langen Blick an.

»Du sprichst ein großes Wort gelassen aus.«

Sie spielte wieder ein wenig auf der weinerlichen Moll-Seite. »Ach, ich habe doch Alles verloren mit meinem Mann. Wer kümmert sich sonst um mich!« Sie sah ihn kokett an. »Was, Du doch etwas? Nicht? ›Daß Du mich liebst, daß weiß ich,‹ summte sie neckisch.«

»Auf Deine Liebe.. beiß' ich,« ergänzte er und biß sie leicht in die Backe, über welchen beißenden Scherz sie in ungebärdige Extase gerieth, aber doch Geschäftsruhe genug behielt, von wegen des eben mit dem Notenblatt eintretenden und bei dem allzu intimen Anblick des Pärchens diskret entweichenden Klavierspielers, eilig zu rufen: »Gieb Mozarten 50 Pfennig! – Hier, Herr Musikdirektor!«

In ähnlicher Weise wurden die Mamsells, die ihr Tribut-Glas holen kamen, fortmanövrirt. Von Kneifer-Mary wußte Frau Wirthin übrigens ein famoses Abenteuer zu erzählen.

Sie wollte sich ausschütten vor Lachen. »Also, da kam ein Weinhändler her, Namens Strauß, und wollte Wein bei mir verkaufen. Da wurde die kleine Mary wie verrückt, als der Mann mit mir eine Flasche Wein trank; es war ein hübscher Kerl. Und als ich das nun sah, sagte ich ihm, als er ging, um, wie er sagte, eine Stunde spaziren zu gehen: ›Nehmen Sie doch die Kleine da mit!‹ Das that er denn, weil ihm nichts andres übrig blieb, denn die Person zog gleich ihre Mantille an. Na und als sie zurückkam, da schwärmte sie nun. Und ihm ist sie ein Ekel. Also, was thun wir? Sagen ihr, er wäre hier gewesen, als sie fort war, und hätte ihr ein goldenes Armband mit einem Hufeisen darauf gebracht. Da war sie außer sich. Und was thun wir wieder? Kaufen für 50 Pfennig im Passage-Bazar ein Simili-Armband, finden zum Glück noch eins mit einem Hufeisen. Ich packe das nun in eins meiner Juwelirkästchen, nehme einen Bogen Rosapapier und schreibe: ›Meine süße Maus!‹ Und so weiter – Du kannst Dir denken. Das wird nun angeblich durch einen Dienstmann als Paket gebracht. Na, meine Mary also wie rasend! ›Ist's auch echtes Gold?‹ sagt sie, weil das Simili natürlich keinen Glanz hatte. ›Ja, Mattgold!‹ Am andern Tage kam sie freilich, ihre Wirthin hätte gemeint, es wäre vergoldetes Silber. Ich aber ganz empört: ›Nein, Fräulein, Sie sehen doch, es kommt vom Juwelier. Da giebts nur echtes Gold.‹ Und dann stellen wir einen Strauß von allerlei Blümchen zusammen und schicken ihr das wieder mit einem Rosabriefchen, unterschrieben: ›Dein Sträußchen‹. Er habe es heut nicht aushalten können, ohne ihr einen Beweis seiner Liebe zu geben; morgen komme er. Na, die Extase kannst Du Dir denken. Den ganzen Tag wandelte Sie herum mit verschämtem Gesicht, wie eine Braut.«

Die schöne Helena wieherte ordentlich vor Vergnügen und fiel Leonhart krampfhaft um den Hals.

»Ach, Du bist doch der beste edelste Mensch! Wenn ich mit Dir ein Stündchen plaudere, schwebe ich wie im Himmel; bin so weggehoben über all' das dumme Leben. Wie Du mir neulich erzählt hast, daß es so große Welten über uns giebt und die Erde bloß so klein und wir wie Ameisen – ich weiß gar nicht, wie mir dabei wurde!«

»Originelle Zarewna!«

»Dann bist Du mein Premierminister! Ach, Du bist doch ein abscheulicher Mensch. Niemand würde es für möglich halten – kenne Dich schon so viele Jahre und weiß noch immer nicht, wer Du bist. Da sind wohl ein paar mal Leute hier gewesen, ekelhafte Gesellen, die von Dir quatschten und sich nach Dir erkundigten – daß Du ›Friedrich‹ heißt, weiß ich schon –, aber im Namen-Sagen da waren sie Alle behutsam. Wie ist das nur möglich, daß die Leute dahinter kamen, daß Du hierhergehst, aber ich Dich nie ausfinden konnte? Du mußt schrecklich weit von der Dresdener Straße wohnen. Und im Schaufenster hab ich auch nie Dein Bild gefunden ... und ich weiß bestimmt, daß Du doch ein berühmter Mann sein mußt.«

»Gott Gerechter!« machte er spöttisch, indem er ihre semitische Lebhaftigkeit nachäffte. »Wie soll ich sein berühmt! Ich bin einer der obscursten Sterblichen, heiße weder Veilchenthal noch Aaron noch Lubliner. Und was ich geschrieben habe, das ist bloß ein.. Coursbuch.«

»Ach rede man nich! Bei andern Damen da wirst Du schon anders sein in der Gesellschaft. Dir stehn ja alle Wege offen.«

Er zuckte die Achseln.

»Tröste Dich, mein Kind, unsere Damen haben schönere Idole als mich – mit rothem Kragen und Epauletts. Uebrigens,« er nahm einen ärgerlichen Ton an, »laß diese Nachforscherei! Wenn ich mich Dir entdecken will, werde ich es schon selber thun. Und daß ich's nicht thue, zeigt doch daß ich's nicht will.«

»Ja, glatt wie 'n Aal!«

Sie gerieth plötzlich in ein mörderliche Rage, die sie sofort an ihren, Mamsells auszulassen wußte.

»Häßlich sind sie alle wie die Sünde, und dabei stecken sie Bilder 'raus. Hier bei meinem Freund besaufen sie sich und dann, wenn Gäste kommen, dann lesen sie Bücher. Solche Mamsells sind mir noch nicht vorgekommen.«

In diesem Augenblick aber kam die Mamsell Olga und meldete ihr was.

»Ach so! Entschuldige mich, mein Kind! Da sind Zwei, die sich für mich interessiren!«

»So und da läßt Du mich sitzen? – So lebe wohl, und wenn für immer!«

»Ach, Du kommst ja doch wieder! Und übrigens, wir haben an jedem Finger Einen!« Sie zählte viermal ihre fünf Finger ab.

»Was, so wenig?« – Sie lachte und entfernte sich, trällernd: »Anna, zu Dir ist mein liebster Gang.«

Olga, die in England Geborene mit dem merkwürdigen großgeformten Fuchsgesicht, die so oft mit Leonhart Sechsundsechzig gespielt, sein sogenanntes »langsames Ideal,« versicherte ihm jetzt, sie sei ihm eigentlich auch sehr gut. »Wir kennen uns ja schon so lange!«

Leonhart dachte innerlich, was die Welt wohl sagen möchte, wenn sie diese komischen Freundschaften des »großen Dichters« erführe.

»Edles Wesen!« sagte er gerührt. »Was macht denn Dein Verhältniß, dies gute Schaf? Glaubt er immer noch an Dich?«

»Ach, Sie haben ja nie geliebt. Wenn Sie wüßten wie das ist! Mein Schatz ahnt natürlich nicht, daß ich Andere eben nehmen muß, wie das Geschäft es fordert. ›Ja Mäuschen,‹ sagte er, ›ich weiß wohl, daß Dir welche mal einen Kuß nehmen. Aber Du selbst giebst doch Keinem einen?‹ ›Nie, auf Wort!‹ sage ich dann. Wenn ich ihm die Wahrheit sagte, wär's ja für immer aus. O, dies Geschäft ist einem zum Halse her aus!«

Grade wie die Salon-Kokette ihrer Mama wohl zu beichten pflegt: »Es ist doch jeden Abend ein anderer! Ach, wenn ich nur Einen hätte!«

Darin sind alle Weiber gleich, dachte Leonhart. – Er sah nach der Uhr und schauderte.

Es ist doch eigentlich ein wahrer Skandal. Hier sitzt man nun und sauft regelmäßig für zehn Mark Wein, den die Weiber austrinken! Zehnmal macht schon hundert Mark auf die Weise. Freilich, was ist billiger in diesem verwünschten Berlin! Ein Ekel ergriff ihn vor seinem hartnäckigen Versimpeln in dieser thörichten Anhänglichkeit an zeit- und geldverzehrende angebliche »Studien«-Manieren. Was ihn solche Lokale lehren konnten (tiefere Kenntniß des weiblichen Charakters in seiner entarteten Entfesselung), hatte er doch längst gelernt. Elende Schwäche der Gewohnheit. Aber an eben dieser Schwäche gehen tausende junger Existenzen in Berlin zu Grunde, Studenten, Maler, Musiker. – Selbst ein gewisser Ort war hier lebensgefährlich wegen seiner Unsauberkeit. Alles schwamm dort durcheinander, so daß selbst die Stiefeln durchnäßt wurden. Ein scheußliches Symbol für den sonstigen moralischen Schnupfen, den man sich holt.

»Nicht wahr, mein Kind, wir Beide gehen ganz allein nachher eine halbe Stunde spazieren, um uns abzukühlen?«

Er bejahte, wenn sie rasch mache.

Draußen ging das Gezanke mit den Mamsells wieder los und einige späte Nachtgäste, die erschienen waren, um Jux zu machen, wurden ersucht sich »etwas plötzlich« zu entfernen.

Er hatte es satt, so lange zu warten, während sie draußen geschäftlich herumschimpfte. Er trat daher hinaus mit Ueberzieher und Stock. Da er sie nicht sah, wollte er schon hinuntergehn, als sie von oben mit Muff, Hut und Mantille kam. Sie rief entrüstet: »Na, was ist das?«

»Ich warte,« erwiderte er. »Aber bitte, sehr rasch!«

Sie maß ihn mißtrauisch und sagte unvermittelt: »Ach, Sie sind mir ein fauler Jakob! – Nur einen Moment, daß ich Kasse mache!«

Aber auch das dauerte endlos; ihn ergriff ein unbesieglicher Widerwille.

»Ich muß wirklich gehn,« sagte er plötzlich.

»Gut, dann machen Sie, daß Sie fortkommen,« entfuhr es ihr.

Er verbeugte sich kalt. »Ich danke für die gnädige Entlassung,« drehte sich auf den Hacken um und ging.

»Das war neulich von Dir ein gemeiner Zug! Mich da im Pelz stehn lassen.«

»I, so lange zu warten hatt' ich weder Zeit noch Lust.«

»Da sieht man, wie Du mich liebst! Aber auch gar nicht!«

»Oho, ich liebe Dich fürchterlich!«

»Fürchterlich – das ist schon nichts, das ist Ironie. Du kommst mal alle acht Tage und denkst: Willst mal zu der Frau 'raufgehn und mit ihr eine Flasche Wein trinken. Das ist ganz gemüthlich. Aber Liebe! Liebe für mich allein!«

Er sah sie fest an und sagte ruhig:

»Warum liebst Du mich denn?«

Sie gerieth wieder in Extase und fiel ihm um den Hals: »Wie reizend das wieder herauskam! – Warum! ich Dich liebe? Erstens, weil ich Dir ganze Nächte lang zuhören könnte, wenn Du erzählst – zweitens, weil Du so schöne Augen hast – und drittens, weil Du anständig bist.«

»Na ja!« Er küßte sie. – »Ich muß Dir ja das Küssen beibringen. Das verstehst Du nicht.«

»Aber ich laß mich gern küssen.«

»Oho, das klingt verdächtig.«

»Wie, hast Du schon je gesehn, daß ich mich küssen ließ?«

»Nein, ich hab's nicht gesehn, das ist eben das Schlimme,« brummte er ironisch.

»O Du!« Sie preßte ihn innig an sich. »Riech mal!«

Damit drückte sie sein Haupt an ihren üppigen Busen, wie sie das mit wohlberechneter Absicht zu thun liebte.

»Ach wie berauschend!« gähnte er, den Parfüm einsaugend.

»Wenn wir erst verheirathet sind, berausche ich Dich noch anders.«

Sie küßte ihn glühend ab.

»Na, nur zu! Ich bin bereit, Sphinx.«

Er lächelte neckisch, weil er wußte, daß ihn das gut kleidete. Richtig quietschte sie auch: »O die Grübchen!« und stellte sich wie bezaubert, indem sie jedoch »auf den Schreck« Glas auf Glas hinunterstürzte und ihn ebenfalls animirte. »Denn wie Du weißt, mein Schatz, Liebe ist Liebe und Geschäft ist Geschäft.« So verschwanden die Flaschen natürlich eilig genug, da ja die wackern Mamsells regelmäßig ihr Theil erst einschenkten und wegtrugen – als Preis für das Alleinlassen des Pärchens. Sie wurde ihm heut so langweilig mit ihrem Erzählen von ihren schweren Träumen und schlaflosen Nächten, und von den vielen gemeinen Insinuationen, die man an sie richte (das »kräftige junge Weib, das etwas bedürfe«), und von den Geschenken und Nachstellungen ihrer Anbeter, – daß er sich gähnend erhob und bald das Weite suchte, von ihr die Treppe halb hinab verfolgt. Als er nach acht Tagen wieder erschien, war sie nicht sichtbar, sondern fröhnte im hintern Zimmer dem Champagner mit irgend einem Verehrer. Als er nach wenigen Minuten ging, rauschte sie heraus, ihm nach, in einem schwarzen Atlaskleid mit hochgerötheten Wangen. Er kniff das eine Auge zu, zeigte auf die bewußten Wangen und sagte »O!«

»Julitz war heut göttlich!« rief sie mit affectirter Absichtlichkeit, indem sie den Kopf junonisch zurückwarf kund ihn fest anblickte. Hoffte sie etwa, daß ihm das eifersüchtigen Aerger errege? Er verbeugte sich lächelnd, küßte ihre Hand und sprach väterlich: »Julitze nur weiter, Kind. Meinen Segen hast Du.«

»Wir müssen doch auch 'was für die Unsterblichkeit thun!«

Es war spät und kein Gast mehr anwesend, als er nach etwa zehn Tagen kurz vor 11 Uhr wieder vorsprach. Sobald sie ihn erblickte, schoß sie mit einem kleinen Aufschrei auf ihn zu. – –

»Neulich sah ich Dich auf der Straße mit einem Andern zusammengehn. Du bemerktest mich auch und fast mich nicht gegrüßt. Ich dachte, Du würdest hinter mir herkommen ... aber nichts. ›Siehst Du,‹ sagte ich zu meiner Schwester, ›das ist meine verschmähte Liebe‹.«

Er stellte das natürlich in Abrede. »Ach, rede man ich. Wohl hast Du mich gesehn. Neulich auch glaubte ich Dich vor einem Bilderladen zu sehn ... ich trat an den Herrn heran, der Dir ähnlich sah ... da sah ich erst, er war lange nicht so hübsch wie Du. Ach, das ist den bei mir so eine Tollheit im Kopf: Ich sehe Dich überall, ich glaube Dich überall zu treffen und hinterher als ein Andrer.«

Sie erzählte dann eine Geschichte von ihrem Edelmuth, wie sie Unter den Linden einem überfahrenen alten Arbeiter die Droschke zum Nachhausefahren bezahlt. »Ja, die Reichen haben kein Herz, nur die Armen.«

Sie hatte ihm anfangs – sie blieben vorn, da hinten noch Weingäste saßen – gegenübergesessen, indem sie ihn ernstforschend betrachtete und die Beine bequem übereinanderschlug. Da er aber ihren Fuß dabei emporgehoben und geküßt hatte, sprang sie auf »dafür bekommst Du einen ordentlichen« und gab ihm einen Kuß, daß man es bis hinten hörte. »Ach was soll ich mich geniren! Mögen sie alle reden was sie wollen!« Damit setzte sie sich ihm auf den Schoß und ließ ihren Gefühlen freien Lauf.

»Erzähl mir wieder 'was Interessantes! Du weißt ja alles, alles!« Sie plauderten lang und breit und sie hörte ihm stets mit gespanntester Aufmerksamkeit zu.

Als Olga einmal an den Tisch kam, nahm sie zufällig Leonharts Handschuhe auf, die auf dem Tisch lagen. Dabei blieb ihr Auge plötzlich wie gebannt hängen. Aergerlich steckte er sie in die Tasche, ohne sich etwas dabei zu denken. – In ihrem Liebestaumel blieben beide bis zwei Uhr zusammen und sie selber geleitete ihn hinaus. – Als er nach Hause schritt, kam ihm ein plötzlicher Argwohn. Unter der nächsten Laterne prüfte er seine Handschuhe. Er wollte seinen Augen nicht trauen: da stand groß und breit sein Name! Die Waschanstalt hatte ihn beim Waschen hineingeschrieben und er hatte nichts davon bemerkt! – »Nun gut, wir wollen sehn« dachte er.

»Neulich hast Du gesagt,« hob sie an, »wir gehörten alle zum Thierreich. Dann frage ich mich nur, wozu es dann so viele furchtbar kluge Köpfe giebt – wie z.B. Dein Köppken da, Du!«

»Siehst Du, das hast Du wieder gar nicht verstanden, mein Kind. Nämlich, entwickelt aus dem Thierreich als höhere Gattung werden wir doch ewig bleiben, selbst wenn wir alle thierischen Functionen, als da sind: Essen, Trinken, Schlaf und Beischlaf« (sie lachte auf und steckte den Finger in den Mund, indem sie ihn lüstern anschielte), »völlig abwerfen könnten ...«

»Glaubst Du denn wirklich, daß das geschehen könnte?« unterbrach sie ihn hastig. »Ach, das wäre gar nicht schön. – Ja, was hat man denn sonst vom Leben?« Sie richtete sich straff auf und sah ihn funkelnden begehrlichen Auges an.

»Oho, da haben wir wieder den ollen knuftigen Weltschmerz!« lachte er auf. »Na, den vertreibe ich Dir, wenn wir erst verheirathet sind.«

»Wie er das sagt!« Sie fiel ihm um den Hals. »Ach, das wird ein Leben! Morgens stehn wir auf, trinken Kakau und« betonte sie mit Wichtigkeit »nichts dazu. Dann zweites Frühstück: Rührei mit Schnittlauch oder Sardellenbrötchen. Dann essen wir zu Mittag – ach, ein Spargelgemüse zum Beispiel –«

Er lachte unbändig. »Nein, diese Eßphantasie!«

»Nun ja,« schmollte sie. »Ich muß Dir doch angeben, wie ich Dich pflegen will. Denn was soll denn sonst,« flüsterte sie ihm schelmisch ins Ohr, »aus der Nacht werden? Am Nachmittag liest Du mir wundervolle Bücher vor. Und dann gehn wir gleich nach dem Essen zu Bett ... schon um zehn.« Dabei fiel sie ihm an die Brust und drückte sich fest an ihn an.

»Ach!« seufzte er mit ironisch übertriebener Affektation. »Wär's schon so weit!«

»Ja, das möchtest Du wohl gleich! ... Aber auf vier Wochen, nicht? O ich kenne Dich Bösewicht!«

»O nein,« sagte er, indem er sie glühend umarmte. »Ich liebe Dich wirklich.«

»Wahr und wirklich?« fragte sie schwimmenden Auges. »Sag' mal, wieviele hast Du geküßt seit vorigen Montag?«

Er sann nach. »Ich will mal genau nachdenken ... keine.«

»Keine? O!« Sie umschloß ihn mit beiden Armen in einem Paroxysmus der Leidenschaft. »O so komm doch, heirathe mich! Worum die Andern mich anbetteln, darum flehe ich Dich an. Reise mit mir fort, aus der ganzen Welt fort, an den Genfer See. Dort schaffst Du Deine wunderbaren Werke und ich setze mich zu Deinen Füßen und höre Dir zu ...«

»Meine wunderbaren Werke!« Es schmeichelte ihm aber doch. »Ach, die giebt's gar nicht! Ich schreibe ein Coursbuch.«

»Du mit Deiner dummen Ironie! Ja wohl schreibst Du sie.« Sie holte einen Augenblick tief Athem und ein tiefernster Ausdruck glitt über ihre Züge. »Ich habe alles verloren, alles, Mann, Geliebter und Freund. Alles was ich dachte, hab' ich mit meinem Mann getheilt. Und wenn man nun Niemanden mehr hat, dem man sich vertrauen kann und so isolirt lebt wie ich ... Vater, Mutter, Schwester – das ist alles nichts, die verstehen mich alle nicht. Und Freundschaft – pah! Das ist alles nur Falschheit, Neid, nichts andres. Man darf Keinem trauen.«

»Sehr richtig,« sagte Leonhart ruhig, »die einzige wirkliche Freundschaft ist die zwischen Mann und Weib.«

»Ja,« rief sie, »Dir, Dir möcht ich mich ganz vertrauen. O Deine treuen blauen Augen! So süß, so ... Wenn Du kommst, dann bin ich selig. Merkst Du nicht, wie meine Augen dann leuchten? Mit Dir plaudre ich ganz wie mit ... als wärst Du mein bester Freund. Und nicht wahr, Du wirst mich nie verrathen, Du wirst immer lieb zu mir sein?«

Das schöne Weib brach in Thränen aus und schmiegte sich an ihn, als wäre er ein Rettungsanker in allgemeinem Schiffbruch. Er beruhigte sie durch Liebkosungen und trocknete ihre Thränen mit seinen Küssen.

»Heut seh' ich schlecht aus, nicht?« fuhr sie plötzlich auf, und mit weiblicher Logik abspringend, erzählte er dann, wie sie beim Photographen gewesen sei und dieser ihr empfohlen habe, eine Parthie ihres Halses zu zeigen. Sie knöpfte dabei ihr Kleid oben auf, schlug den Sammetkragen hoch und zeigte, wie. »Mir war's ganz ungewohnt. Denn mein seliger Mann erlaubte nie, daß ich decolletirt ging. – Wenn wir Beide nächsten Winter zum Maskenball gehn, wie Du mir versprachst (nicht wahr, wir thun es doch?« Er nickte), »dann geh ich decolletirt. Denn dem Mann gehört Alles.«

»Ich bin aber noch nicht Dein Mann.«

»Das thut nichts. Du machst eine Ausnahme. Ach was heirathen! Man schafft sich einen guten Freund an. Ja, Du natürlich ... ei, sieh mal her!« Sie knöpfte blitzschnell ihre Taille auf und entblößte die schneeweißen wogenden Hügel. »Wie gefall ich Dir?«

...es war still, kein Gast im Lokal ... Vorn hörte man nur die Mamsells beim Dominospielen miteinander zanken ... sie waren so ganz allein ...

Aus Leonhart's Tagebuch.

Ich verachte einen Mann, zumal einen jungen Mann, der sich nicht eines Weibes wegen wie ein Narr oder ein Geistesgestörter benehmen kann. – So Aehnliches bemerkt Thackeray wiederholt in seinen Romanen, er, der feinste Menschenkenner der neueren Zeit. Im »Pendennis« findet sich eine schöne Stelle, wo der stolze knorrige Warrington dem jungen Pendennis seine Bekanntschaft anträgt. Als der freudig Erstaunte ihn später fragt, wie er zu dieser Auszeichnung komme, erwidert der ältere lebensgereifte Mann: er habe von der Jugendtollheit des jungen Herrn vernommen, wie er eine Schauspielerin, eine abgefeimte Kokette, durchaus heirathen wollte und mit Mühe vor diesem Wahnsinn bewahrt wurde. Das sei ihm das Merkmal einer tüchtigen Natur gewesen. – Tiefste Seelenkenntniß liegt in dieser Bemerkung.

Es scheint ein leicht begreifliches Naturgesetz, daß ideale und zugleich leidenschaftliche Naturen sich mit Vorliebe in rohe und gemein denkende Weiber verlieben. Der Fond ihrer idealisirenden Liebeskraft ist so groß, daß ebenbürtige und würdige Ideale nicht genügenden Stoff für diesen Ueberfluß von Gefühl und Hingebung bieten würden. Wie wäre sonst die wahnsinnige Leidenschaft genialer und großer Männer für so geringfügige oder verächtliche Liebesobjecte zu erklären!

Die erotische Begierde macht zwar manchmal Feige zu Helden, Faulpelze zu Fleißigen, und so fort. Aber viel häufiger tritt der Fall ein, daß sie, selbst wenn sie nebenbei zu höchster Anspannung aller Fähigkeiten reizt, den Charakter von Grund aus vergiftet und verschlechtert. Sie macht Verschwiegene indiscret, Wahrheitsliebende verlogen, Nobeldenkende brutal und boshaft. Sie verwirrt den Sinn für Pflicht und Recht, sie raubt jedes Gefühl der Selbstachtung und Würde. »Aus Klugen macht Thoren die mächtige Liebe« heißt es schon in der älteren Edda.

Nichts ist erbarmungswilliger, als einen edeln und ritterlichen Mann, der sich danach eine Eva zum Fall verlocken ließ, hinterher aus der Taumel zur Nüchternheit erwachen zu sehn. »Und er erkannte, daß er nackt war.« Die Wuth gegen den früher begehrten oder besessenen Gegenstand gährt dann derartig, daß sich der Groll sogar in indiscreter Rohheit Luft macht. Man rächt seine eigne Verblendung und stachelnde Reue an dem früheren Idol, das doch im Grunde stets denselben Werth oder Unwerth besaß.

Nur in uns selbst liegt die Schönheit und das Begehrenswerthe der Begierde. Die Seele will aus sich selbst heraus und fiebert einer Afterschöpfung, einem schöneren Etwas, entgegen, das in Wahrheit gar nirgends existirt als im Hirn des Liebenden. – Wo liegt Anfang und Ende einer starken Leidenschaft, wenn sie plötzlich über Nacht aus äußeren Anlässen erlöschen kann! Man begreift vollkommen, wie diese oder jene Leidenschaft entstehen, wachsen, sich ausrasen konnte. Man begreift sogar alle Thorheiten und Narrheiten, zu denen sie veranlaßte; man würde vielleicht in ähnlichem Falle ebenso handeln. Wie aber ist es möglich, daß eine allesverschlingende wahnsinnige Liebe plötzlich, in sich selbst verzehrt, erlöschen kann – auch ohne daß sie volle Befriedigung gefunden? Schwache Naturen allerdings mögen in einer Art temporären Irrsinns daran zu Grunde gehn. Starke hingegen, und wenn sie bis zur äußersten Grenze gegangen, können plötzlich sich ein Ziel setzen, ohne sonderliche Willensanstrengung. Die Begierde erlischt einfach, auch ohne Sättigung, auch ohne zwingende Umstände – falls sie störend in den sonstigen Lebenszweck eingreift. Auch dann, wenn der Minnekranke fest entschlossen war, sein Ich dem Du zu opfern. »Alles hat seine Zeit,« sagt der Prediger. Aber die Fluth und Ebbe des Gefühls hat, so natürlich sie scheint, doch etwas Räthselhaftes. Bah, kommt mir nicht mit pathetischen Phrasen – es giebt keine Liebe, sei sie die reinste und selbstaufopferndste, die ein gewisses Stadium überdauert. Oder sie ist bereits eine ernstliche Affection des Gehirns.

Ich habe einen lieben Freund. Ich warnte diesen vor einer gewissen anrüchigen Dame. Er nahm sehr ernstlich ihre Partei und schimpfte über die Klatschsucht der Welt. Hinterher erfuhr ich aus unumstößlichen logischen Thatsachen, daß er – er ist sehr verheirathet – mit dieser gefälligen Dame ein flüchtiges sinnliches Verhältniß gehabt. Neulich setzte er sich hin und unterhielt mich wiederum von der Tugend einer anderen Dame, zu welcher die ganze Welt, weil er's ein wenig öffentlich trieb, ihm nahe Beziehungen unterschob. Er erzählte mir ganz unmögliche Tugendhaftigkeiten, wie sie in Romanen der »Gartenlaube« vorkommen könnten, – alles mit dem Bestreben, das gewisse Weib in meinen Augen zu heben und dadurch die Existenz einer intimen platonischen Freundschaft mit derselben plausibel zu machen. Wie ein stummes Bild des Glaubens faltete ich andachtsvoll die Hände. Aber es imponirte mir doch. Das heißt gehandelt wie ein Kavalier.

III.

»Wissen Sie was, schreiben Sie uns einen Messerschneide-Artikel! Etwas gegen Boulanger, wissen Sie.«

»Weswegen?«

»Was für eine Frage! Es liegt im Interesse des Blatts.«

»Möglich. Aber ob in meinem Interesse?«

»Herr Doctor, ich bin erstaunt..«

»Und ich erst! Gott, seien wir doch keine Kinder! Die Hauptsache dabei (ich will ja den Artikel gern schreiben) ist die: Was – nützt – es mir?«

»Aber das hätte ich nie von Ihnen gedacht! So wenig Eifer! Natürlich werden wir Ihnen den Artikel sehr hoch berechnen.«

»50 Pfennig pro Zeile?« höhnte Kratzenthal. »Nein, alter Freund. Da fällt mir ein: Warum schreiben Sie denn den Artikel nicht?«

»Ach!« Kössel kratzte sich hinter den Ohren. »Das ist eine sehr sehr prekäre wichtige Affaire. Das kann nur eine ganz gewiegte Feder – wie die Ihre, Herr Doctor Kratzenthal.«

»Ach zu gute« schnaufte dieser durch die Nase. »Sie wiegen mein gewiegte Feder in sanfte Illusionen«. Mit einem Wort, er sprang plötzlich auf, »Sie selbst fürchten sich den Artikel zu verbrechen und wollen einen stillen Compagnon dazu. Ich wittere Unrath. Holla, der Bankier Hollmann!« Kratzenthal brach in ein wieherndes Gelächter aus, schlug seinem Chef auf die Schulter und grinste: »Spekulirt auf Baisse! – All right! 100 Mark pro Zeile – 100 Zeilen Umfang – macht 10000 Mark – dann schreibe ich ihn, den Messerschneide-Artikel.«

Nämlich im Sinn all der früheren Messerschneidungen, welche fast jedes Blatt wie eine Art monatlicher Excremente von sich giebt.

Solche Schauderaffaire erzählte Schmoller dem staunenden Leonhart, als er mit diesem das Zeitungszimmer des Café Bauer durchstöberte, ob sie nicht Beide wieder irgendwo beschimpft worden seien. Er hatte angeblich diese Scene belauscht, als er die Redaction eines großen Blattes heimsuchte. Dann erzählte er noch, wie plötzlich ein schrecklicher Skandal dort losgebrochen sei, da die Gattin des Chefredacteurs Kössel, eine frühere Köchin, diesem grade wie gewöhnlich ihren allabendlichen Gardinenpredigt-Besuch auf der Redaction abgestattet habe. – Dieser professionelle Verfolger der Bosheit sog sich freilich solche Geschichten oft rein aus den Fingern. So galt es ihm diesmal, das bekannte Verhältniß von Börse und Presse in ein Späßchen zu bringen. Allein, es schien nicht so bös gemeint, wie es klang. Aus Klatsch, Nichtigkeit und Jämmerlichkeit setzt sich ja das unselige Leben des Berufsschriftstellers zusammen und als einzige Rache bleibt ihm die böse Zunge. Jedermanns Hand ist wider ihn drum ist seine Hand wider Jedermann. Verzweiflung lachte aus Schmoller's Verleumdungsmanie. Das Unberechenbare war hier nie das Unentschuldbare. Grade wie Leonhart fühlte er sich dämonisch zum Geifern getrieben.

»Kratzenthal platzt noch vor Gift, wie die Ratte in ihrem Loch. Kössel sagte mir mal, man müsse die ewige Wuth Kratzenthals nur bedauern, da sie von Hämorrhoiden herrühre.«

»Das ist keine Entschuldigung. Aber ich kann mir nicht helfen: obschon er mein Todfeind, halte ich ihn für einen Ehrenmann,« versetzte Leonhart ruhig.

»Ehrenmann – ach Du bist doch immer der Alte!« knurrte Schmoller. »Wie hat der Mensch sich immer ruppig gegen Dich benommen!«

»Das tangirt aber nicht seine sonstige Ehrenhaftigkeit. Denn daß er meine Recensionsexemplare andauernd todtschweigt und dem Antiquar verkloppt, diese Naivetät theilt er ja mit allen Preßbengeln. Er ist muthig und unabhängig, erinnert mich immer an einen Dachshund – bissig und brav.«

»Ja, die Beine hat er sich krumm gelaufen wie ein Teckel – das stimmt. Übrigens sind sie alle toute même chose! Jeder Redacteur schießt Probepfeile eingebildeter Willkühr, ob nun von liberalem oder conservativem Göttersitz! Da ist mir doch die Schwefelsäure der ›Berliner Tagesstimme‹ noch lieber, als dieser salzlose Ohnmachtgeifer!«

»Ist er eigentlich ein getaufter Jude?«

»Und ob! Drei Juden in eins! Darum belfert er ja auch soviel gegen jüdische Gesinnung, um seine Abkunft vom Mühlendamm zu verdecken.«

»So 'was ist mir allerdings doppelt widerlich.« Leonhart runzelte die Stirn. »Ich kenne ungetaufte Ehrenmänner. Für getaufte grüne Judenjungen, die ihre Stammesgenossen begeifern, sollte man aber eine Extraruthe parat halten. – Doch wie gesagt, ich glaube, wir beurtheilen Kratzenthal ganz falsch. Grade weil er ein ewiger Krakehler ist, halte ich ihn für einen ehrlichen Kerl. Allerdings leidet er als neuer Lessing an hochgradigem Größenwahn.« Wer litte zwar nicht daran! dachte er heimlich. – Darin freilich kamen Beide überein, daß die conservative Presse der fortschrittlichen ganz würdig sei, »daß sie alle Beide stinken.« Unpartheilichkeit? wie haißt?!

»Sieh da, Federigo, Du hier?« tönte eine Stimme neben ihm.

»Ei, Holbach, und was treibst Du hier?«

»Komm doch an unsern Tisch – Kasimir Pakosch ist hier!« Holbach lud mit seiner üblichen gewinnenden Liebenswürdigkeit ein, so daß Schmoller und Leonhart bald einem bleichen Herrn mit genialisch zerwühltem Haarwuchs gegenübersaßen. Er trug einen schwarzen Sammetrock und einen weißen Hut mit Schleier, sowie Hosen von weißem Kaschmir. Außerdem lehnte er sich auf einen schwarzen Stock mit breitem Silberknopf, dem das Lasalle'sche Motto eingravirt: »J'attendrai mon temps.« Er bedurfte dieser Stütze seines jungen Greisenalters, da er hinkte. Ueber dies Hinken verbreitete er zwar, er sei bei Mars la Tour verwundet; Böswillige schrieben es jedoch ganz andern Ursachen zu.

Dies war der berühmte Kasimir Pakosch, der Regenerator der deutschen Zukunftsbühne. Leonhart kannte ihn bis ins Mark seiner Herzensschöne von dem Tage her, wo er sich ihm gemeldet, um die Hauptrolle seines Festspiels »Sedan« zu spielen, welches von einem »Dramatischen Verein« aufgeführt wurde. Dieser unglaubliche Scherz des hinkenden Dichters fand seine Erklärung in dem Umstand, daß gleich darauf Pakosch's dämonische Weltschmerztragödie »Der Mulatte« in Berlin aufgeführt wurde und er durch diesen Coup die scharfe Kritikerfeder Leonharts lahm legen wollte.

»Ach, mein theurer Herr Leonor!« grüßte huldvoll der große Mann. »Und was macht Ihr Drama ›Der Wärwolf‹, von dem Sie mir einst erzählten? Wird es denn endlich mal aufgeführt?« Diese boshafte Theilnahme erbitterte den Andern dermaßen, daß er anzüglich erwiderte:

»Ach nein! Da sind überall solche Streber, die ihre Stücke von Hamburg bis Frankfurt und München zum Schrecken des Publikums anbringen, weil sie mit den Theaterregisseuren unter einer Decke spielen und den sogenannten ›Künstlerinnen‹ Gedichte und Bouquets widmen. Man weiß ja, wie so 'was gemacht wird. Ja, und weil Sie sich nach meinem Drama so gütig erkundigen –: was macht Ihre Frau Gemahlin? Das muß ja doch immer unsere erste Frage an Sie, verehrter College, sein.«

Pakosch erröthete leicht, weil er die Beleidigung wohl empfand. Seine Frau, eine morphiumsüchtige Lady Macbeth, welche er nebst einer Villa von dem früheren geschiedenen Gatten (ein kleiner gemeiner Ehebruch lag vor) zum Geschenk genommen hatte, besorgte nämlich all seine litterarischen Geschäfte. War er bloß dünkelhaft bis zum Exceß, so raste sie einfach vor Größenwahn, so daß sie zeitweilig in einer Maison de santé sich beruhigen mußte. Sogar der milde Holbach (der freilich für die kleinsten Gebrechen seiner Nebenmenschen ein scharfes Auge und hinterm Rücken eine gar böse Zunge hatte, falls einer mal nicht seinen egoistischen Zwecken dienen wollte) entrüstete sich, als ihm Frau Pakosch einst einen herablassenden Brief schrieb: »Solche Oberflächlichkeiten wie Sie, lieber Freund, über das letzte Buch meines großen Gatten, darf man an meinen Mann überhaupt nicht schreiben!«..

Tiefgekränkt und rachedürstend schob Pakosch eine Rose aus seinem Knopfloch und reichte sie Leonhart: »Danke für die Nachfrage! Da, mein lieber Leonor, riechen Sie! Da können Sie ja später sagen, daß Sie mit Kasimir Pakosch an einer Rose gerochen haben!!«

»O ich Seeliger! Nennen Sie mich nicht immer Leonor, mein Guter! Ich heiße Leonhart – ›Leon,‹ der Löwe und ›hart‹ – leicht zu behalten.« Leonhart empfahl sich, indem er eine Einladung zur Eröffnung eines neuen stilvollen Bierrestaurants vorwies. »Was wolltest Du mit dem Dolche, sprich?« rief Schmoller. »Da bin ich ja auch eingeladen, wie sich's gebührt. Ich wollt' es diesem Bierjungen auch gerathen haben! Ein Lokal eröffnen ohne mich, den Spezialkenner Berlins, hoho! Nie ohne dieses! Ich sage Dir, vor mir zittern Verleger und Bierverleger.« – –

In dem fürchterlich altdeutsch eingerichteten Restaurant trug sogar die Buffetdame ein altdeutsches Mieder mit Puffen und alles roch nach süffiger Lebenslust, als ob die Herbarien blauer Blümelein von all den Fahrenden Sängern hier auf dem Altar des Vaterlandes niedergelegt seien. Die beiden Dioskuren trafen einige jüdische Theaterfabrikanten, deren schwammiges Gesicht an ihre Rückseite der Medaille erinnerte. Man aß und trank sich satt und schimpfte dabei als Kenner über den Größenwahn der modernen Bierpaläste. Dann hob Aaronsohn an, über die schändlichen Wahlwühlereien der Conservativen zu jammern. »Jotte doch!« fuhr ihm aber Leonhart in die Parade. »Gewühlt wird auf beiden Seiten! Wir sind doch keine Kinder!« – Bald darauf schwang sich der große Witzbold Lerchenheim zu der Behauptung empor, Wien sei die sittlichste Stadt im Vergleich zu Berlin. Es errege im »Sperl« ordentlich Aufsehen, wenn Einer dort Champagner bestelle und der wachthabende Commissär beauftrage die Weiber dann, ja aufzupassen: Das müsse ein Verbrecher sein. – Die eigentliche Presse hatte sich in einer Hinterstube versammelt. Zur Feier des Wahlsieges ließ man die ganze fortschrittliche Presse bei der Einladung aus und nur die Crême der Conservativen zu. Schmoller und Leonhart hieß man als Urgermanen beim Prüfen des »Stoffes« willkommen.

»Meine Herren,« hub der Ehrenpräses an, »ich commandire einen Salamander. Wie uns dies Getränk bayrischen Ursprungs so recht von Herzen schmeckt, sollten wir gedenken an die Gemeinschaft unserer süd- und norddeutschen Stämme. Und wem verdanken wir alles das? Sr. Durchlaucht dem Fürsten Reichskanzler, dem Kenner des deutschen Bieres, sei dieser Krug geweiht! Er lebe hoch!«

Ein donnerndes Vivat. Einer zog sich bereits den Rock aus, um gemüthlicher bärenhäutern zu können: Tibitz, der antisemitische Witzbold, einer der bravsten und darum bestverleumdetsten Männer. Er erzählte soeben in seiner jovialen Art auf plattdeutsch die Mär von »Christofer Clambumbus«, dem Entdecker von Amerika. Bei solchem Salzwasser-Latein wird man halt durstig. Nachdem man dann noch darüber debattirt, daß man ein Internationales Weltblatt gründen wolle, trennte man sich mit einem schneidigen Abschiedsschoppen auf einen »frischen fröhlichen Krieg«. Der Ehrenpräses, ein ehrwürdiger homo obscurus, Peter v. Schnapphahnitzkoy (in engerem Freundeskreis als zartsinniger lyrischer Frauenlob, sonst als malitiöse Schlangenzunge und Anonymus a.D. geschätzt), mußte ledeir per Droschke lallend nach Hause gebracht werden – wie sich's für einen christlichritterlichen Redacteur gebührt.

Schmoller und Leonhart wankten endlich noch in einen benachbarten ur-bajuvarischen Keller. Dort stärkten sie sich mit einem Teller Radi sowie etlichen »Knickebeinen« und schwuren sich nochmals ewige Waffenbrüderschaft mit schon klein werdenden Aeugelein und bierseliger Stimme. Im Laufe der Erreignisse betheuerte Schmoller den nächstliegenden Gästen der Schänke, daß vor seinem neuen Roman, in welchem er alle seine persönlichen Feinde durchhecheln wolle, bereits halb Berlin zittere.

»Ich habe noch nischt jemerkt,« brummte der Wirth.

Darob ergrimmte Schmoller in seinem Leibe und schrie: »Was, Sie! Sie wollen mich wohl uhzen? Sie dummer Bierjunge, he? Ich bringe Sie auch in meinen Roman. Dann werden Sie das Zittern schon lernen.«

Er kam aber an den Unrechten. Denn der würdige Bierpapst hatte selbst Mehreres über den Durst getrunken. »Was, Sie fauler Kopp wollen mir das Gruseln lehren?« brüllte er. »Zittern Se draußen! Wem's hier nicht gefallen thut, der kann schieben! Sie müssen 'raus, Sie! Des is hier nich! Also, meine Herrn, der Zimmermann hat ein Loch gelassen.« Leonhart fürchtete für seinen Freund. Dieser, als Sohn eines Kölnischen Weinküfers mit rheinischer Großschneuzigkeit behaftet, verdiente zwar an sich nicht den Geruch bramarbasirender Feigheit, in dem er stand. Aber seine zerrütteten Nerven schraken leicht zurück.

»Herr, sehen Sie, wie ich bebe vor Erregung!« grollte Schmoller, indem er seinen Cylinder aufsetzte. »Schweigen Sie, sag ich Ihnen, oder ich haue.«

»Was!!!« Der Wirth holte kräftig aus und schwippschwapp saß eine Ohrfeige. »Bange machen gilt nich. Da haben Sie, was Sie verdienen, und nun schreiben Sie man darüber ein Kapitel in Ihren ollen Roman.«

Es entstand natürlich ein allgemeiner »Radau« und die beiden großen Männer wurden langsam hinausgedrängelt. Leonhart faßte den Wirth am Kragen und rüttelte ihn gehörig. Schmoller aber knöpfte sich den dicken Havelok zu, sah käsebleich aus und meinte sodann mit einem süßlichen Lächeln: »Es traf ja nur den Hut! – Wenn ich wollte – sehn Sie diese Arme! Ich war Schmied! Komm, Leonhart, verachten wir die Bande!« Beide schüttelten den Staub von ihren Füßen und wurden mit einem wohlgemeinten Schubs endgültig hinausgeworfen. Leonhart schritt sehr schweigsam fürbaß, während Schmoller eifrig weiter perorirte.

»Haha!« lachte er auf, »hast Du gesehn, Leon, wie ich den Kerl an der Brust faßte und hin- und herrüttelte? Ich sage Dir, er bebte wie Espenlaub! Nun, lieber Freund, Du kennst mich ja! In mir steckt so ein Stück Elementar-Naturmensch. Ich mußte an mich halten, ich mußte! Dank' Dir auch, daß Du mich gehalten hast, – sonst wäre ein Unglück passirt!!«

Leonhart konnte keine andere Antwort, als ein verwegenes Räuspern, finden. Die Phantasie seines edlen Freundes ging wieder zügellos mit diesem durch.

»Es wird noch eine Marmortafel dort angebracht werden, wo wir Beide gesessen haben!« rief der große Autor in tiefer sittlicher Empörung. »Lebewohl, mein Freund, und verachte die Welt wie ich. Man muß Philosoph sein! Du ärgerst Dich noch zu viel.«

Tiefgekränkt schritt er von dannen, wie er tiefgekränkt jeden Morgen erwachte.

Zehntes Buch
I.

Der große Saal des Architektenhauses füllte sich bis auf den letzten Platz, um die angekündigte Vorlesung Friedrich Leonhardts »zum Besten des Unterstützungsfonds der Berliner Presse« zu genießen. Schon aus Neugierde, wegen des vorlockenden Titels. Sämmtliche litterarische und persönliche Feinde des Dichters (sie belegten schon allein die Hälfte der Plätze) erschienen vollzählig und marschirten gleichsam in Gala auf. Man bemerkte den Doktor Drechsel-Caballo, der heute seinen Spitznamen »Richard Löwenmähne« (nicht: Löwenherz) durch wüthendes Schütteln seiner olympischen Locken bethätigte, und die Nachstotterer der »Tagesstimme«, wie sie eifrig Contra-Stimmung machten.

Leonhart trat auf. Er war sehr bleich und der Frack stand ihm schlecht. Er begann mit etwas belegter Stimme, die sich aber allmählich zu sonorem Dröhnen steigerte.

Größenwahn des Militarismus und der Schulmeisterei.

Nicht gegen den Offizierstand wende ich mich, sondern nur gegen die Ueberhebung desselben und vor allem gegen eine Anschauung, welche den Krieg als naturnothwendiges Ideal der sittlichen Weltordnung und den Kriegerstand daher gleichsam als eine geweihte Priesterschaft der Weltgeschichtsentwicklung feiert. Wenn z.B. Herr v.d. Goltz-Pascha in seiner bekannten Schrift den Offizier nur mit dem »Dichter und Künstler« vergleichen will, so übersteigt diese Selbstvergötterung eben das zulässige Maß.

In letzter Zeit sind nun Brochüren erschienen, welche den »Kriegsgedanken und die Volkserziehung« behandeln. Wir verhehlen nicht, daß wir sie mit einer gewissen, steigenden Entrüstung gelesen haben. Der Größenwahn des Militarismus entpuppt sich hier wieder einmal mit erschreckender Offenheit.

Es ist ja an sich ganz löblich, wenn man seinen speziellen Beruf am höchsten stellt. Ludwig Feuerbach sagt in seiner »Philosophie des Christenthums« sogar irgendwo, daß diese Einseitigkeit ein nothwendiges Erforderniß des menschlichen Denkvermögens sei. Am höchsten stehen daher diejenigen Geistesrichtungen, welche die umfassendsten und wenigst einseitigen ihrem Wesen nach sein müssen: Poesie und Philosophie. Wenn sich denselben technische Künste, Musik, Malerei u.s.w. ebenbürtig zur Seite stellen möchten, so bleibt dieser harmloseGrößenwahn ohne schädliche Folgen und gleichsam in der Familie, obgleich er die in Deutschland grassirende Ehrfurchtslosigkeit vor der Dichtung natürlich verstärken hilft. Aehnlich steht es mit der Ueberhebung der exakten Naturwissenschaften. Jedoch dies sind alles nur theoretische Fragen, die wenig ins praktische Leben einschneiden. Anders aber liegt der Fall, wenn ein bestimmter Stand mit dünkelhaftem Kastengeist sich über alle andern erheben will, wie dies ein altes Vorrecht des Kriegerstandes ist. So lange die Welt im Alterthum und Mittelalter wesentlich auf dem Kriegszustande fußte, mochte dies angehen. Heut aber in der neuesten Zeit darf dies natürlich auf die Dauer nur dann möglich beiben, wenn es gelingt, die Soldateska mit einem Schleier des Idealismus zu umweben und sie auch geistig als führendes Element hinzustellen. Dies ist denn auch der Zweck der vorliegenden Schrift.

Der Dichterknabe Chatterton hat das berüchtigte Wort gesprochen, daß er den Intellekt eines Mannes gering achte, der nicht zugleich von zwei entgegengesetzten Seiten her ein Thema behandeln könne. So wollen wir denn wahrlich nicht mit den einseitigen Sophismen ins Gericht gehen, mit denen man einer an sich möglichst unidealen Thatsache die idealsten Seiten abzugewinnen sucht.

Man beginnt dabei mit Ausfällen gegen die Schwärmereien der Friedensliga von einem »ewigen Frieden«. Es ist stets das sicherste Mittel, das denkfaule Philisterthum für sich einzunehmen, wenn man die Gegner als unpraktische Idealisten hinstellt. Nun sind aber alle ideal schöpferischen Geister stets eminent positiv angelegt, wie denn z.B. zu einem großen Dichter der durchdringendste, schärfste Verstand und realistische Weltkenntniß gehören. Vermöge dieser überlegenen Verstandeskräfte sind solche wahren »Idealisten« daher befähigt, die komische Ideologie der Utilitarier, den Fanatismus der Materialisten, zu durchschauen. So sagt Goethe das treffende Wort über den großen Anti-Ideologen Napoleon: »Er, der ganz in der Idee lebte, konnte sie doch im Bewußtsein nicht erfassen; er leugnet alles Ideelle durchaus und spricht ihm jede Wirklichkeit ab, indessen er es eifrig zu verwirklichen trachtet.« Und wenn auch dieser Satz nicht auf unsre Militairpropheten paßt, so werden wir doch daran erinnert, wenn sie umgekehrt die spaßhafte Absicht verrathen, dem Roh-Realistischen das Ideelle unterzuschieben.

Zuvörderst stellen all diese Gesinnungsgenossen die Theorie vom »ewigen Krieg« auf, die sich angeblich auf Darwins »Kampf ums Dasein« stützen soll. Nun ist es keine Frage, daß in den Urzeiten der sogenannte »Kampf ums Dasein« mit dem Kriegszustand identisch war. Gleichwohl wurde derselbe bereits in jenen barbarischen Epochen als ein schweres Uebel angesehen und die Söhne Kains spielen neben den friedlichen Nachkommen Seths durchaus keine gefeierte Rolle. Die gesammte Kulturentwicklung läuft aber einfach darauf hinaus, den Kampf ums Dasein zu mildern und vor allem aus dem Bereich der rohen Gewalt zu rücken. Die Geschichte der Civilisation ist einfach die Geschichte der zunehmenden Waffenabschaffung. Sogar im Kriege selbst ist die roheste Form des Kampfes, das Handgemenge, wo persönliche Stärke entscheidet, fast auf den Aussterbeetat gesetzt. Wie wenig man übrigens selbst in der Urzeit das Waffenhandwerk als etwas allgemein Gültiges betrachtete, geht hervor aus dem Bestehen der abgeschlossenen Kriegerkasten. Ein Ueberbleibsel derselben scheint es, wenn bis ins vorige Jahrhundert der Mann aus den besseren Ständen den Degen an der Seite trug. Seit hundert Jahren ist auch dieser schwache symbolische Ueberrest verschwunden.

Wenn nun die Milderung des »Kampfes ums Dasein« Hauptziel aller Kulturbestrebungen ist und wenn eine solche Milderung in fortschreitender Progression in der That ersichtlich wird, so scheint die Möglichkeit eines »ewigen Friedens« nicht absolut ausgeschlossen, da die roheste Form des Daseinkampfes, der Krieg, auch am leichtesten zu beseitigen ist. Ob aber »ewiger Krieg« oder »ewiger Frieden« der Menschheit bevorsteht, ist ja nicht zu beweisen, da nur die Erfahrung, es lehren kann. Fürs erste sind beides hohles Phrasen. Die Wahrscheinlichkeit spricht aber gewiß eher für den »ewigen Frieden«. Um dessen Unmöglichkeit zu folgern, berufen sich die so hochidealen Kriegsfanatiker auf die Schlechtigkeit der Menschennatur. Sie vergessen dabei, daß nicht nur die edeln, sondern ebenso die niederen Regungen gegen den Krieg stimmen, da dem allmächtigen Egoismus und Eudämonismus die Kriegsmühsal gewiß nicht als ein Wünschenswerthes erscheint. Der Krieg ist nicht identisch mit dem »Kampf ums Dasein« und der Krieg ist keine Nothwendigkeit der sittlichen Weltordnung, der »ewige Krieg« ein Fabelpopanz und der Krieg in jedem Fall ein Uebel. Letzteres geben die Militäridealisten mit verschämter Salbung natürlich allerorten zu. Denn der Avancier-Wunsch des Leutnants scheint doch wirklich kein ausschlaggebendes Moment für Bejahung der Kriegsnützlichkeit!

Aber die Kriegsenthusiasten schwingen sich nun sofort wieder auf den Kothurn des Ideals, indem sie eine Artpersischer Religion proklamiren, den ewigen Kampf von Ormuz und Ahriman, – um den Kampf an sich als aller Dinge Herrlichstes zu preisen. Wir befinden uns in der angenehmen Lage, dasselbe philosophische Lebensprinzip zu hegen und auch öfters schriftlich ausgeführt zu haben. Nun möchten wir aber fragen, all die angeklebten Tiraden über Stählung des Kampfmuthes, Verweichlichung u.s.w. lächelnd übergehend: was das wohl mit dem Krieg zu thun habe? »Denn ich bin ein Mensch gewesen und das heißt ein Kämpfer sein« – so war's gemeint, als Zoroaster seine herrliche Kampflehre schuf. An den Krieg hat er sicher nicht gedacht, denn das hieße Kampf von Ahriman gegen Ahriman, das hieße den Teufel vertreiben durch Beelzebub. Der wahre ernste Kampf, der schwerste und muthvollste Kampf, von dem allein die Entwicklung der Menschheit abhängt, ist der Kampf mit den Dämonen der Welt und der eigenen Brust. Dagegen ist der Kampf der Waffen ein erbärmlicher Tand, eine komödiantische Aufregung, des wahren sittlichen Ernstes bar.

Es ist eigentlich albern, solche Selbstverständlichkeiten noch zu erwähnen. Der Kampf ums Dasein selbst im bürgerlichen Leben erfordert hundertmal mehr Energie und sittlichen Mut, als der frivole oder rein physische Schlachtenmuth. Auch die Bestie ist tapfer in diesem Sinn; aber wenn sie mal nichts zu fressen hat, dann winselt sie. Man müßte es nicht nur als sittliche, sondern erst recht als intellektuelle Unreife beklagen, wenn die Abneigung gegen Krieg und Soldatenspielen, gegen welche Verfasser polemisirt, nicht bei einem modernen Bürger vorhanden wäre. Möge sich der rothe Kragen an der Verehrung der Knaben und Weiber genügen lassen.

Wenn nun alle idealen Redensarten nichts gegen die schlichte Logik der Vernunft verfangen und der Krieg, seines idealen Schimmers entkleidet, als ein trauriges, wenn auch momentan nothwendiges Antikultur-Uebel erscheint, so fällt natürlich eine übertrieben hohe Auffassung des Soldatenstandes in Nichts zusammen. Es soll keinen Augenblick bestritten werden, daß der Krieg die edelsten Gefühle der Menschenseele ausbilden kann, natürlich ebenso die allerniedrigsten. Traurig genug, daß gutmüthige und in gerechter Sache kämpfende Soldaten sich in der Erregung den tollsten Exzessen hingeben können. Das Alles aber gilt für den Krieg nur wie für jedes andere außergewöhnliche Ereigniß, das mit Gefahr verbunden ist. Was aber – fragen wir hier wieder – hat der Krieg mit der Ueberhebung des Offizierstandes zu thun?! Denn nur darum handelt sich's bei dieser Broschüre und vielen ähnlichen! Der Krieg selbst wird ja auch nur gleichsam als pièce de résistance im Hintergrunde weihevoll verwerthet; der wahre Zweck ist bloß der, die übertriebenen Achtungsansprüche des Offiziers in Friedenszeiten zu begründen.

Heut bei der allgemeinen Wehrpflicht ist ja selbst dieses wunderherrliche Institut der sittlichen Weltordnung, »Krieg« genannt, den priesterlichen Händen einer speziellen Kriegerkaste entwunden – wenigstens was die Gefahr, diese so wundersam sittlichende Gefahr, anbelangt: dies höchste sittliche Gut teilt der Offizier brüderlich mit jedem waffenfähigen Bürger, um für sich hernach bloß das minderwerthige schnöd materielle Gut etwaiger Dotationen und Auszeichnungen zu behalten.

Diese großartige Selbstverleugnung, diese freigebige Humanität im Theilen der Sittlichkeitsmomente des Krieges, damit selbst der Geringste derselben theilhaftig werde, muß man um so höher schätzen, als sich ja der Offizier auch ohne den »Kriegsgedanken« um die »Volkserziehung« so unendliche Verdienste erwirbt. Wenigstens ist laut unserm gelehrten Verfasser der Leutnant der wahre Erzieher des deutschen Volkes, während unsere ganze sonstige Erziehung ungenügend und schädlich wirkt. Den letzteren Theil seiner Prämissen mag ich durchaus nicht befehden. Der deutsche Schulmeister leidet eben an dem gleichen Unfehlbarkeitsdünkel wie der »militärische Erzieher« und es scheint daher nur ergötzlich, wenn der Letztere durch seine gewichtige Autorität die Feinde des bestehenden Erziehungssystems verstärkt. Diese Frage interessirt uns ja aber hier nicht, sondern nur die, welcher moralische Nutzen denn eigentlich durch die militärische Erziehung, d.h. die allgemeine Wehrpflicht, bewirkt wird. Es ist mindestens zweifelhaft, ob die dreijährige (in Frankreich noch längere) Entziehung der besten physischen Kräfte aus dem eigentlichen produktiven Kampf ums Dasein nationalökonomisch günstig zu nennen sei. Es ist zweifelhaft, ob wirklich eine Kräftigung der physischen Gesundheit durch das »Dienen« erzeugt wird, die im Verhältniß zu dem enormen Zeit- und Müheaufwand steht. Vermuthlich würden Arbeiten in frischer Luft oder Reisen oder Sport in einem Viertel der Zeit hier wohlthätiger wirken, da die tausend ungesunden Nebendinge des Kasernenlebens, sowie die Ueberanstrengung und die fortwährende Unruhe oder gar Angst sehr störende Beigaben des Soldatenlebens scheinen. Turn-, Fecht- und Schießklubs dürfen Gewandtheit und Handhabung der Waffen vielleicht leichter lehren, als die Hudelung des Unteroffiziers es bewerkstelligen kann.

Doch halt, alle Unannehmlichkeiten des Soldatenleben sollen ja eben den Charakter stählen. Den Charakter! Kann man von Charakter überhaupt noch reden, wo die Grundlage jeder Charakterfestigung, nämlich freier Entschluß und eigene Initiative, von vornherein ausgeschlossen sind? Der »Dienst« soll die große Tugend des Gehorsams einpflanzen. Nun unterschätze ich diese Tugend nicht. Alle Vereinigungen, heißen sie nun Staat, Heer, Privatverein, können sich nur halten durch Gehorsam gegen das Höhere, den allgemeinen Zweck. Dieser Gehorsam aber ist das legitime Kind des freien Willens, der freien Erkenntniß, während der vom Militär geforderte Gehorsam der des Sklaven ist. Würde dieser Gehorsam wirklich als unauslöschliche Tugend durch die allgemeine Wehrpflicht eingeimpft, so könnte dies nur widerliche und traurige Folgen haben. Ein solcher Gehorsam fügt sich in keiner Hinsicht dem modernen Bürgerleben ein; er wird dort nicht verlangt und wäre nur vom Uebel. Nur im sogenannten »Staatsdienst« kann er von Nutzen sein und wirklich blühen ja Streberei und Knechtssinn dort täglich herrlicher auf. Diese hohe Tugendlehre der militärischen Erziehung mag daher einem Absolutisten erhaben, einem modernen Menschen aber muß sie als verächtliche Untugend erscheinen.

Ich leugne auch, daß diese zweifelhafte »Subordination« (die nur im Armeewesen Berechtigung hat) irgend Jemandem für sein späteres Civilverhältniß eingeprägt werde. Die Naturen sind eben verschieden. Der größte Militär (Napoleon) hat direkt gesagt: Nach seinen Erfahrungen sei der Satz »Wer herrschen will, der muß erst dienen lernen,« barer Unsinn. Gerade die, welche nie und nirgends Unterordnung verstünden, würden sich um sobesser auf's Gebieten verstehen.

Vergeblich wird man daher freien, selbstständigen und initiativen Naturen (ich meine hier natürlich keine Herrschernaturen, sondern überhaupt alle energischen Impulsiven) blinden Gehorsam predigen. Wer den militärischen Gehorsam aus der Dienstpflicht ins Leben nachschleppt, war einfach so angelegt und bedurfte einer solchen Erziehung gar nicht. Die Majorität der Menschheit besteht eben schon aus Lakaienseelen, diensteifrigen Naturen, Stimmvieh.

Vor geraumer Zeit machte der Fall viel Aufsehen, daß vier Landwehrmänner bei einem Manöver sich geweigert hatten, in einem Viehwagen transportirt zu werden, darob an den Kaiser ein Beschwerdetelegramm richteten und dafür zu vielen Jahren Zuchthaus verurtheilt wurden. Die Höhe des Strafmaßes mag zu hart gewesen sein; aber das Mordsgeschrei, das die liberalen Blätter darüber erhoben, war unberechtigt. Eine so beispiellose Dreistigkeit, wegen einer solchen Lapalie die Vorgesetzten beim obersten Kriegsherrn per Telegramm zu verklagen, verdiente exemplarische Züchtigung. Es liegt hier sogar eine Unverschämtheit vom rein menschlichen Standpunkte aus vor. Eine andere Frage ist es freilich, ob der betreffende Offizier, falls er wirklich etwas Gesetzwidriges – z.B. körperliche Mißhandlung – begangen hätte, ebenfalls wegen Ungehorsams gegen das Militärgesetz ähnlich hart bestraft worden wäre. Ich fürchte fast, hier hätte die Antwort gelautet: Ja Bauer, das ist ganz was anders! – Jedenfalls aber zeigt die bloße Möglichkeit eines solchen naiven Aufbegehrens seitens vier beliebiger preußischer Landwehrleute, wie wenig der Sinn sklavischer Unterwürfigkeit – als »Gehorsam« ein nothwendiges berechtigtes Militärgebot – im späteren Civilisten wurzeln bleibt. So sind sie nun mal, die modernen Menschen! Vom Militär-Standpunkte aus, der die Menschheit als eine Masse zu drillender Rekruten betrachtet, ist das beklagenswerth, aber leider unabänderlich!

Die weiteren segensreichen Einflüsse des »Dienens« machen sich bemerkbar in einer allgemeinen Zufahrigkeit und verstärkter Brutalität in den unteren Schichten, wie denn seit dem Kriege die Verbrechen gegen das Leben, das Messerstechen, die Roheit der Balgereien sich rapide steigerten. Bei den höheren Ständen (Einjährig-Freiwilliger, Reserveoffizier, d.h. ein Geschöpf mit den Pflichten ohne die Rechte des Offiziers) bleibt eine vermehrte Vorliebe für alles Aeußerliche, Schein, Etikette und alles überreizte falsche Point d'honneur-Gefühl zurück. Das sind die logischen Folgen – weiter nichts. Durch diesen Geschmack am Aeußerlichen wird oft für lange Zeit der wahre Ernst zur Arbeit untergraben. Die aus der Dienstpflicht Zurückkehrenden, seien sie Gelehrte oder Bauer, müssen sich erst mit Anstrengungen wieder an ihren wahren Beruf gewöhnen, aus dem sie plötzlich herausgerissen sind. Natürlich sind unsere geschätzten Militärpädagogen harmlos genug, den Hauptwerth der Erziehung auf Berücksichtigung der individuellen ursprünglichen Eigenschaften zu legen. Kann man sich das Lachen verbeißen, wenn man, einige Sätze des deutschen Ausbildungs-Reglements citirend, ernstlich davon redet, daß die Militärerziehung auf dies wichtigste Moment Rücksicht nehme?! Das ist des Spaßes, und der – Selbsttäuschung genug!

Ja, sehr richtig heißt es in den Vorschriften der Militärerziehungsmethode: »Eine äußere, wesentlich nurdurch Uebungen im Ganzen erzielte Zusammenfügung der Truppe wird bei unerwarteten Ereignissen nicht vorhalten und die Disziplin nur dann ein festes dauerndes Band für das Ganze abgeben, wenn sie auf dem Bewußtsein basirt, daß im Ernstfall der Erfolg von der Erhaltung des durch den Führer geleiteten Zusammenwirkens abhängt.« Das sind goldene Worte und Erfahrung bestätigt sie.

Die preußische Armee von 1806 besaß ein treffliches Offizierkorps in den subalternen Chargen und eine wohlgedrillte Armee, die mit ihrer veralteten Lineartaktik so lange wacker schlug, bis die elende Oberleitung jeden Widerstand gegen den besser geführten Feind unnütz machte. Hätte sie aber jene innere Einsicht, jenes feste dauernde Band des bewußten Zusammenwirkens besessen, so wäre von einer so beispiellosen Auflösung des gesammten Heergefüges keine Rede gewesen.

Im Befreiungskriege aber leistete nachher die preußische Armee Unerhörtes, trotzdem sie zum größten Theil aus Landwehren und das Offizierkorps der Linie wesentlich aus denselben Elementen bestand, die früher bei Jena so schlecht bestanden hatten. Die französischen Truppen mit ihren Veteranenoffizieren waren technisch überlegen. Aber diesmal war die preußische Oberleitung eine glänzende, und das innige moralische Zusammenwirken der Gemeinen und Offiziere ergab sich aus dem gleichmäßig alle durchlohenden Patriotismus.

Es ist also immer der moralische Faktor, die Idee, die siegt – falls sie nur einigermaßen praktisch unterstützt wird. Wie aber soll in gewöhnlichen Zeitläuften durch Militärerziehung dies moralische Element erzielt werden, da weder Offiziere noch Unteroffiziere darauf ausgehen,sich die Liebe ihrer Untergebenen zu erringen?

Nach dieser Theorie würden ja die Chancen des nächsten deutsch-französischen Krieges ungünstig für uns stehen. Denn wie 1870 die technisch ebenbürtige, besser bewaffnete Streitmacht Frankreichs zertrümmert wurde, weil man ein einmüthiges Zusammenwirken der Deutschen durch begeisterte Vaterlandsliebe erreichte – so scheinen die Franzosen diesmal diejenigen, welche ein einmüthiges bestimmtes Ziel haben, während in Deutschland kein Mensch einen ersehnbaren Wunsch und Zweck dabei im Auge hat. Aus diesem Grunde siegen ja oft schlecht bewaffnete ungeübte Haufen in Revolutionskriegen über die ältesten Truppen. Denn wer siegen will und das Leben für nichts achtet, der muß siegen. Diesen Geist kann aber wahrlich keine Erziehung und am wenigsten die militärische, wie sie bei uns getrieben wird, erzeugen!

Wir haben aber oben noch einen andern Punkt berührt, wir sprachen von der Oberleitung. Und da ergiebt sich denn für den Kundigen wiederum die Lächerlichkeit des Offiziersdünkels an sich. Denn nicht die Tüchtigkeit des Offizierskorps entscheidet im Kriege, sondern lediglich die geistige Beschaffenheit des Oberkommandos. Mit schlechten Truppen und Offizieren siegt ein guter Feldherr über gute Truppen und Offiziere unter einem schlechten Feldherrn. Das ist beinahe selbstverständlich.

In Anerkennung dieser Thatsache gehen die heutigen Offiziere sogar so weit, daß sie schon die bloße Energie ohne Talent im Oberbefehl für genügend achten, mit schlechten Truppen Gewaltiges zu leisten. Sie verehren Gambetta, dessen Organisationstalent einfachauf rücksichtslos durchgreifende Brutalität sich beschränkt. Goltz und York erklären geradezu, Gambetta habe in seiner Art wenigstens die Hälfte eines großen Feldherrn repräsentirt – Gambetta, der prahlende Charlatan, der schwatzhafte Advokat, dem notorisch selbst die Anfangsgründe militärischen Wissens fehlten, der nicht mal ein Dilettant, sondern ein einfacher Laie genannt werden muß! So leicht ist es nach Ansicht von Fachmilitärs, ein genügend großer Heerführer eines großen Volkes zu werden, falls man nur überhaupt über das Durchschnittsmaß der Intellekte hinwegragt! Wie viele Gambettas unter Parlamentarien verborgen schlummern, die nur der Zufall nicht begünstigt – wer weiß es!

Wirklich meint ja auch Carlyle, daß im Grunde alles wahre Genie eins und untheilbar sei, daß Shakespeare der größte Staatsmann, Burns der größte Redner und Reformer u.s.w. geworden wären. Und jedenfalls steht fest, daß die wenigen großen Feldherrn, welche uns die Geschichte zeigt – Cäsar, Napoleon, Cromwell, Friedrich der Große, – nicht durch Selbstbestimmung, sondern durch die Gewalt der Umstände Feldherrn wurden und in allen möglichen andern Gebieten sich zugleich versuchten, wie denn nach Napoleons und Friedrichs Vorgange auch unser Moltke stark litterarische Neigungen aufweist. Alle großen Feldherrn, ohne jede Ausnahme, wurden große Feldherrn, weil sie überhaupt große Männer waren, und jeder bildete sich selbst ohne alle Schule durch eigene Denkthätigkeit und Initiative zum Feldherrn aus. Die »militärische Erziehung« hat also auf das wichtigste Moment des militärischen Erfolges: die Feldherrnerzeugung, nicht den geringsten Einfluß. Sie könnte hier höchstens schädlich wirken, da ihr Grundprinzip, dasNivelliren, die Eigenart niederdrückt und das Prinzip der geduldigen Unterordnung, des Avancements nach Anciennität, das Aufkommen des Genies ohnehin hindert. Daher sind Revolutionszeiten (siehe die französische Revolution, den amerikanischen Befreiungskrieg und später den Secessionskrieg) die wahren Pflanzstätten militärischer Begabung, während die berühmte »militärische Erziehung« nur entweder Theoretiker oder Gamaschenhelden erzeugen kann.

Wir fragen also nochmals zum Schluß: hat der Größenwahn des neudeutschen Militarismus das Recht, sich mit solcher Wichtigthuerei als Hauptfaktor der Volkserziehung aufzuspielen? Wir antworten mit einem kräftigen: Nein.

Das Soldatenthum ist auf lange Zeit hin ein nothwendiges Uebel und wir nehmen den Offizier mit stiller Resignation als ein unabänderliches Utensil der sittlichen Weltordnung mit in den Kauf. Doch dem Offizier zu den großen äußern Vorrechten seiner Stellung auch noch ein ideales Piedestal zu errichten – diese Zumuthung lehnen wir ruhig, aber entschieden ab.

Leonhart machte hier eine kurze Pause, trank ruhig ein Glas Wasser, indem er seinen Blick gleichmüthig über die offenbar mißgestimmte, sich räuspernde und unruhige Versammlung hingleiten ließ und fuhr fort:

Wer seine Nation verachtet und das Fremde vergöttert, wie der Deutsche es früher that, verdient, daß er gar kein Vaterland habe. Wer hingegen seine Nation plötzlich als Ausbund aller Tugenden feiert, wie das jetzt nach demMuster der Franzosen und Engländer in Deutschland beliebt wird, mag für seine Thorheit selber büßen. Denn nicht Patriotismus ist der Grund solch chauvinistischen Selbstgefühls, sondern jene uranfängliche Philisterfaulheit, die sich in dem Unrath ihrer eignen Dummheit ganz behaglich fühlt. Es lebe die Bärenhaut! Alle Institutionen Deutschlands sind musterhaft. Wer dagegen schwatzt, ist ein Skandalmacher. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.

Ueber die zwei Cardinallaster, die zwei Hauptpuppen des speciell preußischen Größenwahns möchte ich hier ein wenig unehrerbietig freveln.

Es ist schon gut gesagt worden, angesichts der unglaublichen Phrase, die an Phantastik eines V. Hugo würdig: »Der Schulmeister hat die Schlachten von Königgrätz und Sedan gewonnen« –: »Larifari, der Unteroffizier hat sie gewonnen.«

Ja wohl, das klingt wenigstens nach gesundem Menschenverstand. Und dennoch ist auch dies eine ganz vague Behauptung, die sich ins Unendliche fortsetzen ließe. Denn sicher war es weit mehr die gewandte und umsichtige Führung der Offiziere selbst, sodann die Leitung des Generalstabs, die allgemeine vortreffliche Ausrüstung der Armee; endlich der Wille der Vorsehung, die das zu erstrebende Ziel längst vorgesteckt hatte. »Den Zufall giebt die Vorsehung«, bemerkt Marquis Posa, »zum Zwecke« – muß halt der Mensch dabei sein. Und da helfen z.B. im Kriege Unteroffiziere und Offiziere durchaus nichts, falls nicht die angeborene Tüchtigkeit und Energie und Tapferkeit des Soldatenmenschen, des sogenannten »Kerls«, dahinter sitzt. Jeder, der ein wenig mit militairischen Dingen vertraut ist, wird wissen, daß die ewig neu erhobene Behauptung jedes Reservisten: er habe genaudie Hälfte seiner drei Jahre rein für Nichts vertrödeln müssen, ja das Alles in weniger als einem Jahr lernen können, – stets belächelnswerth bleibt, da ja interne Kasernenfragen und Commiß-Gewohnheiten gerade die drei Jahre vom Mark und Schweiß des Bürgers bedingen. Mit weniger wird halt die Drehung des regelrechten Zopfes nicht erreicht, der dem ganzen modernen Heerwesen noch immer im Nacken baumelt. Kann man mit einem Jahr Ausbildung einen Gemeinen erzielen, der vor dem Feind seinen Mann steht? – O pah, dazu braucht's nur eines Halbjahrs – wie bei den Einjährig-Freiwilligen, die ja ihr zweites Gefreiter-Halbjahr auch eigentlich nicht brauchten. Im Grunde taugen sogar auch die eben erst Eingezogenen dazu, wenn sie nur von gutem Geist beseelt sind.

Aber, mein Verehrtester, was gilt das uns? Wir wollen nicht gute Vaterlandsvertheidiger, wir wollen Soldaten mit allem Gamaschen-Zubehör. Wir spielen halt gern Soldätles und dazu brauchen wir drei Jahre.

Sehr gut. Wer kann einen so rührenden Geschmack anfechten! Spielt ihr nur fort – aber wie? Die allgemeine Dienstpflicht ist es, d.h. das Vaterland und Volk ist es, mit dem ihr zu spielen wagt? »Patriotische Pflichterfüllung« nennt ihr es, wenn dem Vaterlande der ungeheuerste Verlust in national-ökonomischer Hinsicht dadurch erwächst, daß man die besten Kräfte in der schönsten Zeit für Parade-Exercitien vergeudet?

So kauft euch eine Söldner-Armee. Dies aber erinnert an den hessischen Menschenverkauf. Denn nur mit dem, den man gekauft hat, darf man wie mit einem Heloten wirthschaften – freilich thut's im bürgerlichenLeben kein anständiger Mensch.

Die fortwährend zunehmenden Unteroffizier-Prozesse, welche die monstruösesten Details enthüllen, die Selbstmord-Epidemie unter den Gemeinen, weil sie »die ewige Angst und grausame Behandlung nicht mehr ertragen könnten«, haben denn doch in letzter Zeit nicht nur in gebildeten Kreisen und in der Presse einen Sturm der Entrüstung entfesselt, sondern sogar in Offizierkreisen haben sich die ernstesten Bedenken geäußert, ob dieser Eckpfeiler des Preußenthums, der Unteroffizier, noch länger als eine solche Bestie zu dulden sei. Man hat sogar aus den Garde-Dragonern zwei Wachtmeister, welche es bis 2000 Thaler pro Jahr an Bestechungen brachten (dort dienen nur die reichsten Freiwilligen), endlich ausgestoßen. Aber der dreijährige Missethäter an Leib und Seele des armen Rekruten wird noch lange seinen Unfug treiben und, das leicht erlernbare Pensum eines halben Jahres endlos durch tausend Mätzchen hindehnend, den ohnehin beschränkten Bauern das Lernen redlich erschweren. Bei dem intelligenten Freiwilligen wirkt er freilich nicht direkt verderblich, weil derselbe das Pensum ohnehin in ein paar Wochen übersieht. »Der Rest« seiner Dienstzeit »ist Schweigen« – und zwar in wörtlicher Beziehung, nämlich »Maulhalten« vor'm Vorgesetzten. Außerdem ganz nutzlose Strapazen erdulden, wohl auch vier Wochen im Lazareth liegen, und zahllose Brutalitäten hinnehmen. Das ist die Ueberfracht von elf Monaten, außer dem einen, der ihn im Kriegsfall als durchgebildeten Soldaten vor den Feind gebracht hätte.

Mit einem Worte, der wahre Nutzen der dreijährigen Dienstpflicht besteht in der Ausbildung der Dulderfähigkeit des Menschen. Wer das überstanden, kann Allesüberstehn. Der Soldat hat gelernt, wie schwer und sauer das menschliche Leben gemacht werden kann. Das ist schon ein großer Vorzug vom ethischen Standpunkt aus. Und unsere Moralisten des »kategorischen Imperativs« lobpreisen diesen erhabenen Zweck hinter'm warmen Ofen mit sinnigem Behagen.

Aber seltsam! Der heimkehrende Reservist, der drei kostbare Jahre seines Lebens dem Erlernen dieser spartanischen Moral geopfert hat, zeigt sich in der nächsten Zeit nach seiner Entlassung nicht pflichteifriger, sondern weit arbeitsunlustiger wie früher: Er hat für die Gewerbe des bürgerlichen Lebens, also für seinen Beruf und Unterhalt den Geschmack verloren. Sogar bei den Einjährigen zeigt sich nach übereinstimmenden Aussagen nach ihrem Zurücktritt ins Civil zuerst eine unüberwindliche Arbeitsscheu und Hang zum Bummeln. Ganz auffallend aber ist die durchgängige Verrohung der Sitten, Gewaltthätigkeit und Brutalität in Wort und That, bei dem sonst ruhigen Charakter des Deutschen, welche nach jedem Krieg in der Masse, nach jedem Erfüllen der Dienstpflicht bei den Reservisten hervortrit. Begreiflich! In welcher moralischen Sphäre hat der Soldat sich so lange bewegt! Rechtes Arbeiten, d.h. geistiges oder handwerkliches, hat er total verlernt. Dafür ist er gewöhnt, auf lauter Aeußerliches zu achten, und empfindliches Ehrgefühl als gar nicht vorhanden anzusehen, da die pöbelhafte Rohheit in Worten und Thaten seine tägliche Umgangs-Nahrung war. Während der Krieg selbst die männlichsten und hehrsten Gefühle und zugleich alles Bestialische der Menschennatur erweckt, impft der Soldatendienst im Frieden der Seele nur die schändlichsten Empfindungen und Gesinnungen ein: Knechtssinn, mit all seinenAbzweigungen (allerdings eine würdige Vorbereitung für manche amtliche Abstumpfung des Ehrgefühls), Gleichgültigkeit gegen das physische und moralische Kränken des Nebenmenschen, allgemeine Brutalität der Gesinnung. – Verzeihe man diese erneute Betonung des schon früher Gesagten!

Der Vertreter dieser herrlichen Schule echtdeutscher Gesinnung ist eben der Unteroffizier, dieser erlauchte Zuchtmeister und Erzieher von Gottes Gnaden – dieser rohe, freche, knechtische Charakter der zugleich in unsere reine, preußische Luft den moskowitischen Wohlgeruch einer staatlich tolerirten, groben Bestechlichkeit hineinträgt. Wahrlich, ein staunenswerthes Denkmal unserer Triumphe!

Sollen sich diese von Jedermann privatim vertretenen, aber aus guten Gründen öffentlich nur in flagranten Fällen von Rohheit besprochenen Ansichten etwa gegen die allgemeine Dienstpflicht richten? Mit Nichten. Es wäre komisch, so lange Europa sich in Waffen gegenübersteht, daran rütteln zu wollen. Die stets mit jeder neuen Session neu auftretenden Forderungen der Liberalen zielen einfach auf gänzliche Reducirung der Dienstzeit hin, bis dieselbe auf das gebührende Maß von Bürger-Aufopferung herabgeschraubt werden wird – d.h. auf die Hälfte der bisherigen. Vor allem aber wird und soll einmal Ernst gemacht werden gegen den unerhörten Schandfleck der Armee, gegen das in ein unzerbrechliches System gebrachte Unteroffizierthum. Denn nicht in den Mißhandlungen, die solcher Auswurf sich gegen den Bürger erlaubt und nachher, wenn als Schutzleute in den Polizeidienst übergegangen, fortsetzt, liegt das eigentlich Gefährliche dieser Landplage. Nein, sondern die Betrachtung, daß ein auf der untersten Stufe des Geistes und der Moral stehendes Individuum die staatlich patentirte Berechtigung haben soll, die bestialischen Neigungen seiner gemeinen Seele jahrelang an der Blüthe des Volkes üben zu können, mit einer Unverletzlichkeit, die sich bei der späteren Metamorphose in den »Schutzmann« durch die bei uns sprüchwörtlichen Dienst-Meineide fortsetzen darf, – diese Betrachtung selbst wirkt empörend und entsittlichend: Es ist eine feierliche Erklärung der Menschen-Nichtrechte, der brutalen Gewalt. Alle Beispiele von Tyrannei wirken stets demoralisirend auf die Schwachen und Gedankenlosen.

»Militarismus!« Hat man denn wohl bedacht, daß von einem solchen überhaupt erst bei der allgemeinen Wehrpflicht die Rede sein kann? Wer eine Armee von Miethlingen mit der Peitsche drillt wie die Engländer, hat dazu das völlige Recht. Wer sich als Vieh verkauft, mag so gehalten werden. Daß allerdings die Miethlingsarmee Napoleons III. ohne solch entehrende »Disciplin« eine unvergleichlich bessere wurde, ist auch ein Factum. Aber von einem entehrenden Militairzwang kann doch überhaupt erst geredet werden, wo Freiwillige, die höchstgebildeten Elemente des Landes, sich derselben entehrenden Behandlung unterziehen müssen.

Aber lassen wir diesen braven Handlanger der Autoritätssclaverei, den Unteroffizier mit seinen Ohrfeigen und Bestechungen, den Polizisten mit seinen Ohrfeigen und amtlich patentirten Meineiden! Unsre ganze Aufmerksamkeit wollen wir jetzt einem viel gefährlicheren Feinde gesunder Entwickelung, einem viel berühmteren Eckpfeiler des Deutschthums zuwenden. Dieser Charakter ist ein wesentlich verschiedener. Denn obwohl die eigenthümlichen socialen Verhältnisse es mit sich brachten, daß in diesem hochgeachteten Stande sich das niedrige Streberthum mit besonderer Ueppigkeit entfalten konnte, so wird man im Allgemeinen den deutschen Schullehrer wohl für einen höchst pflichttreuen, und mit Geist und Wissen wohlversehenen Mann ansehen dürfen, der in mancher Hinsicht eine Zierde der Nation repräsentirt. Nicht er ist es, dessen verderblichen Einfluß wir hier signaliren möchten, sondern sein System. Wir verschmähen es, in boshaft satirischer Weise zu zergliedern, wie dies ohnehin verderbliche System durch pädagogische Unfähigkeit nur zu oft verschlimmert wird. Wir verzichten ebenso auf Illustrirung des berühmten Schubart'schen Verses: »Als Dionys von Syrakus aufhören muß Tyrann zu sein, da ward er ein Schulmeisterlein.«

Wir lassen alle und jede Rancune gegen die oft unlautern Elemente dieses Standes bei Seite, welchem sich bei uns die Meisten nur darum widmen, weil er zuerst zu Brod verhilft. Denn während Juristen erst mit dreißig Jahren Besoldung erzielen können, ist dies als Schullehrer zu Beginn der zwanziger Jahre möglich. Wir wollen nicht näher auf die Thatsache eingehen, daß dieser Beruf wie kein andrer dummdreiste Arroganz ausbildet. Noch wollen wir das bekannte Faktum erörtern, daß bei uns die gräulichsten Streber, sei es als reactionäre Speichellecker, sei es als fortschrittliche Spekulanten, sich aus diesen Kreisen recrutiren. – Uns selbst ist der Beruf des Pädagogen der höchste und heiligste, aber darum auch verantwortlichste. Und gerade darum sei es erlaubt, ein wenig über die berühmte deutsche Erziehung zu plaudern.

Erziehung kann, soll und muß zwei Ziele erreichen:Ausbildung des Geistes durch wohlverdautes Wissen und moralische Ausrüstung für den Kampf des Lebens. Sehen wir zu, wie die berühmte deutsche Schule diesen Aufgaben gerecht wird.

Was macht im Leben den gebildeten Mann, der zu höheren Gesichtspunkten Stellung zu nehmen weiß? Kenntniß der Geschichte und Litteratur. Ebenso nothwendig, wenn auch nicht so bündig verlangt, sind geographische und Sprachkenntnisse, wovon Englisch und Französisch fast unerläßlich. Die Kenntniß der eignen Sprache, ein erträglich guter Stil, wird als selbstverständlich angenommen.

Wohlan, welche dieser landläufigen Vorstellungen von Bildung erfüllt ein deutscher Student? Keine.

Seine Kenntnisse in ethnographischer Völkerkunde sind miserabel. Begreiflich. Wer hat ihm je die für die moderne Weltbildung unerläßliche Kenntniß der nationalen Eigenarten und Unterschiede beizubringen gewußt? Dies banausische und profane Wissen zu erlernen, überläßt die Schule halt dem Leben, das denn allmählich, durch Reisen, durch Lectüre, (oft aber auch gar nicht) den wüsten Unrath traditioneller Vorurtheile aus dem Schädel entfernt. Die Ströme in Hinterindien hat er freilich auswendig gelernt. Ja, ich schwärme heute noch für Bramaputra und Irawaddie – von der Ethnographie, von der Flora und Zoologie jener Tropenländer habe ich freilich auf der Schule nie das Geringste erfahren. Wenn ich nur die Nebenflüsse des Ganges kenne! Um kurz zu sein, der Unterricht in der Erdkunde nach jeder nützlichen Richtung hin ist gleich Null. Wenn der Schüler nur nach dem Leitfaden hübsch auswendig lernt und der Lehrer auf dem Katheder schlafen kann – das bleibtimmer die Hauptsache.

Die geschichtlichen Kenntnisse? Ein gräßliches Spinnennetz von Jahreszahlen und aneinandergereihten unerklärten Begebenheiten umklammert den armen jugendlichen Kopf und saugt ihm für immer und ewig jedes Interesse an der Geschichte fort. Jene wenigen schätzbaren Geister nehme ich aus, die wie Faust's Famulus mit unendlichem Behagen im Pergamentstaub der historischen Spezialforschung wühlen und oft mit krasser Unwissenheit im Ueberblick der allgemeinen Weltgeschichte eine wundervolle Werthschätzung ihrer eigenen Maulwurfsweisheit in »Quellenforschung« vereinen. Für diese Lumpensammler der Historie mag allerdings gerade der biedere stramme Daten-Unterricht besonders bahnweisend gewesen sein. Aber aus solch bevorzugten Geistern, welchen etwa eine Monographie über einen hohlen Zahn des Königs Ramses gelingt, besteht doch nur ein Millionstel der Unterrichteten. Entschädigt uns die erquickende Anregung solch künftiger »Quellenforscher« für die ertötende Qual, mit dem das geistlose öde Repetiren den jugendlichen Geist niederdrückt und ihm für immer unüberwindliche Abneigung gegen alles Historische einflößt? Ja, nicht einmal in jenem rohen Ballast von Auswendiglerne-Pensum sind Sinn und Ordnung zu erkennen. Zwar lernt der Deutsche verhältnißmäßig mehr von der Geschichte andrer moderner Völker, als diese von der unsern, obwohl mir auch dies Maß ein recht geringes erscheint und der deutsche Durchschnittsgebildete doch wenig Grund hat, sich über die Ignoranz der Engländer und Franzosen in dieser Hinsicht aufzuhalten. Aber während seine eigne Geschichte natürlich ganz wüst und ordnungslos, ihm spärlich undbruchstückweise vorgekaut wird, so daß er wohlweislich von diesem bösen Jahrhundert nichts zu hören bekommt, – werden ihm die Cantönlifehden der Griechen und Römer in einer Breite und mit einer Selbstgefälligkeit vorgetragen, als hinge das Wohl der ganzen Bildung davon ab, wie Cäsar's Legaten, Tribunen, Centurionen und Primipile geheißen. Ebenso fordern dieselben Erzieher, welche die deutschen Gesetze und politischen Constitutionen ängstlich zu behandeln vermeiden, unbedingteste Kenntniß der Gesetze des ehrwürdigen Servius Tullius – um so ehrwürdiger, da er nie gelebt hat – und die Gesetzveränderungen je nach Stand der Parteien werden mit allen Klauseln unauslöschlich dem Gedächtniß eingeprägt.

Bravo! Deutscher Student, kennst Du die Declaration of human rights? Kennst Du die Verfassung des Englischen Parlaments? Nein. Kennst Du die Déclaration des droits de l'homme? sowie die Decrete des National-Convents? Nein. Kennst Du endlich die politischen Gesetze, um welche Deutschland seit Napoleon rang? Nur in nothdürftigen Phrasen. – Aber man frage Dich von der lex Acilia de repetundis bis zur lex Voconia das ganze alphabetische Verzeichniß der leges durch – da bist Du zu Hause.

Und das auch nur, falls Du ein strebsamer und erfolgreicher Lernender gewesen – was ich immer zur Voraussetzung nehme, obschon noch nie ein origineller selbstthätiger Geist der deutschen Gymnasialbildung das Geringste verdankt hat, ja verdanken konnte. Denn selbst die Kenntniß der Antike flösse den Wenigen, die derselben bedürfen, auf dem Wege des Selbststudiums in kürzerer Zeit viel gründlicher zu. Wer wäre je auf derSchule in den wahren Geist der antiken Dichter und Geschichtsschreiber eingedrungen, da die Repetition der »unregelmäßigen Verba« daran hindert! Die lateinische und griechische Grammatik, nicht die Litteratur, derentwillen angeblich die todten Sprachen gepflegt werden, trägt der deutsche Gymnasiast nach Hause. Und dieser Formelkram, der den Geist ertötet, setzt sich auf der Universität fort. Die Studenten, die nicht einzig irgend einem Brodstudium fröhnen, sollen mit ihrer allgemeinen Unwissenheit von geschichtlichen Vorlesungen profitiren, welche irgend einen kleinen specialistischen Winkel-Abschnitt der Historie behandeln, den man in Wahrheit nur durch überschauende Kenntniß der allgemeinen historischen Verhältnisse begreifen könnte. Wo man aber gar einen »Lehrstuhl der Aesthetik« amtlich besoldet, da wird der angehende Bierphilister durch widerliche Shakespeareomanie und Goethepfafferei um den letzten Gran gesunden Urtheils und natürlicher Empfindung gebracht. Ein künftiges Jahrhundert wird darüber richten, ob die einseitige deutsche Gelehrsamkeit die Nation nicht vielfach in Entfaltung ihrer Kräfte gehemmt habe. Das Buch der Bücher, die Weltgeschichte, lehrt, daß aller vernunftwidrige Unsinn eines Tages seine Grenze findet.

Ich verlasse hier den Größenwahn des deutschen Schulmeisters, der als würdiger Bruder des Unteroffiziers und geistiger Knote jede freie Geistesentfaltung zu nivellirender Uniformität herabdrillen möchte. Jetzt wende ich mich zum Schluß einigen allgemeinen Beobachtungen über den deutschen Nationalcharakter zu.

Wir verstehen diesen am besten, sobald wir den französischen und englischen zum Vergleich heranziehn.

Der Franzose ist ein Sanguiniker. Mit leicht beweglicher, jedoch rein in die sinnliche Wahrnehmung gebannter Phantasie verbindet er im Ganzen eine erstaunliche Kälte des Herzens. Er ist grausam, unbarmherzig im Verfolgen egoistischer Pläne und Leidenschaften, zu welchen besonders seine phänomenale Sinnlichkeit zu rechnen ist, brutal im Besitze der Macht und wesentlich nur aus Eitelkeit zur sogenannten französischen Courtoisie und Ritterlichkeit geneigt. Nichtsdestoweniger berauscht ihn seine oberflächliche schillernde Phantasie sehr oft bis zur größten Noblesse und Empfindsamkeit, sobald man an seine Würde als Glied der großen Nation appellirt. Somit ist Eitelkeit und wieder Eitelkeit die Triebfeder seiner guten wie seiner schlechten Handlungen und Eigenschaften. Sein Idealismus ist stets aus diesem einen Beweggrund herzuleiten, persönlicher oder nationaler Eitelkeit. Darum wird er mit Begeisterung Jeden betrachten, der den äußern Glanz Frankreichs fördert, um so mehr er im Ganzen von erstaunlicher Unselbständigkeit ist und sich am liebsten von einem zusammenfassenden energischen Willen leiten läßt. Er ist mit Begeisterung servil, ebenso wie er mit Begeisterung die Freiheit anbetet – Beides, um seiner Phantasie ein Idol zu bieten, heiße es nun gloire oder liberté. Seine aufopfernde Hingebung für dies momentane Idol schlägt natürlich in das Gegentheil um, sobald diese Hingebung dem Heißhunger seiner phantastischen Eitelkeit nicht mehr genug entsprechende Sättigung gewährt. Aber der künstlich zur National-Eitelkeit großgezogenen Eitelkeit seines Naturells und seinem Leithammelsuchenden Instinkt verdankt er seine erlauchteste Tugend, den unbestreitbaren stets bewiesenen Patriotismus, der Alle vereint. Auf Gemeinsamkeit ist der Franzose überhaupt hingewiesen und veranlagt, in eminentem Sinn ein Ζώον πολιτικίν. Ihm ist »die Gesellschaft« Alles, weswegen er eine tödtliche Furcht vor dem Lächerlichen empfindet. Diese in seinem Charakter liegende Unselbständigkeit bei aller Selbstüberschätzung, diese Selbstverknechtung unter die eiteln Dogmen äußerer Gesellschaftszustände erklärt denn das Problem, daß der Franzose – aus Eitelkeit, phantasievoller Nervenerregtheit und angeborner fränkischer Wildheit mit denkbar höchstem physischen Muth begabt – im Uebrigen als ein moralischer Feigling erscheint. Folge von dem allen, daß die französische Nation mit Recht eine große genannt werden kann, der Franzose selbst aber im Ganzen ein kleiner und kleinlicher Charakter ist und bleibt.

Genau das Umgekehrte gilt vom Engländer, wo der Einzelne im Ganzen achtungswerth erscheint, die Nation aber als Totalität einen peinlichen Eindruck hervorruft. Der Engländer entwickelt in seiner Art dieselbe Eitelkeit, wie der Franzose – nur in anderer Form, die zwar weniger kindisch, aber desto widerwärtiger wirkt.

Der Britte ist Choleriker mit melancholischem Anhauch. Die lebensfrohe Eitelkeit, das kindliche Behagen an allem Gleißenden, »Kinderklappern« wie Napoleon das treffend bezeichnete, fehlt daher dem Inselbewohner. Seine Selbstvergötterung richtet sich vielmehr nach innen, statt nach außen. Statt von der Welt Weihrauch zu fordern, baut er sich selber Altäre als sein eigner Hohepriester. Eine ungeheure Werthschätzung seines kleinen erbärmlichen Ichs dehnt sich dann concentrisch auf alles ihm Anhängende, also auch auf seine Nation aus. Daher der starke Familiensinn, der Clan-Geist auf den britischen Inseln. Die Begriffe dieser Insulaner von der Bedeutung ihres Landes und also auch ihrer selbst sind freilich weitverletzender als die der Franzosen. Frankreich möchte die »Herrin der Welt« heißen, an der »Spitze der Civilisation marschiren«. Das will England gar nicht. Civilisation? Giebt's außer England überhaupt nicht. Die Welt? Die Welt ist England. Alles nicht England Zugehörige ist werthlos und gleichgültig, geradezu ein Lapsus der Schöpfung. Der Franzose schwatzt von »des barbares«, der Engländer aber denkt es, ohne daß er es der Mühe werth fände, es auszusprechen.

Alle Continentalen, den eitlen Franzosen inbegriffen, sind Barbaren, unmündige Kinder, bemitleidenswerthe Schwächlinge. Es erhellt daraus der gradezu organisirte Egoismus dieser Nation, welche sogar die selbsttäuschende Phrase des Franzosen bei seinen brutalen Gelüsten gleichgültig verschmäht und die nackte eisige Selbstsucht der Nützlichkeitstheorie offen als Richtschnur ihrer Handlungen angiebt. In Folge dessen wird der englische Staat d.h. die den Staat repräsentierente Adels-Oligarchie stets ein direkter Feind der Menschheit bleiben, weil dort die persönlichen Eigenschaften des Engländers als Mensch nicht sichtbar werden, sondern nur der destillirte Genius dieses Volkes: schrankenloser Egoismus und Hochmuth.

Emerson nennt Jeden dieser Insulaner eine Insel für sich. Schon hieraus erhellt, daß er in striktem Gegensatz zum Franzosen die Tyrannei der äußerlichen Gesellschaftsformation an sich verachtet und diese nur in dem Grade respektirt, als sie seinem Egoismus entgegenkommt. Sein kaltes Nützlichkeitsprinzip läßt daher mit stillschweigendem Achselzucken die verrottetsten Mißbräuche der Gesellschaft bestehn, indem seine durch und durch pessimistische Weltanschauung diese Mißbraucheund inhumanen Thorheiten für nothwendig hält, um die materielle Wohlfahrt, die ihm über Alles geht, aufrecht zu erhalten. Hiermit correspondirt oder vielmehr hieraus resultirt auch die häßlichste seiner Charaktereigenheiten, die alle Schichten des englischen Lebens durchdringende Heuchelei. Es ist dies eine eigenthümliche Verlogenheit der Gesinnung, welche stillschweigend alle Vorurtheile und Legenden der Dummheit in dem Maße sanktionirt, daß jede mündliche und private, geschweige denn gar schriftliche und öffentliche Aeußerung gegen dieselben als ein Beweis mangelnden Anstandes und frecher Pöbelhaftigkeit betrachtet wird.

Im Besitz der schärfsten Verstandesfähigkeit, ist der Britte oder vielmehr macht sich mit instinktiver Absichtlichkeit unfähig, über die selbstgesteckten Schranken seiner Vorurtheile hinauszudringen. Der Franzose fürchtet nur die Lächerlichkeit, der Engländer nur den Skandal. »A scandal« ist ihm aber in erster Linie alles Extravagante und Exentrische – was Napoleon als »Ideologie« bezeichnet hätte. Ein Britte sagt sehr richtig: »Sich gegen die Bornirtheit auflehnen heißt bei uns to loose caste, ›die Kaste verlieren‹«. Und der Kastengeist ist das herrschende Princip Englands, da derselbe auf dem sich selbst abschließenden Insulaner-Egoismus und dem Triebe zum brutalen Hochmuth in dieser Race beruht. Bornirte Bigotterie in jeder Beziehung ist der Stützpfeiler dieses Systems, das um so schwerer zu erschüttern ist, als der Britte genau in demselben Maße treu, zähfesthaltend und schwerfällig, als der Franzose brüderlich, flüchtig und gewandt. Durch dieses Grundgebrechen wird jedoch der Charakter des Engländers vergiftet. Denn der Heuchler dient nicht nur dem Geist der Lüge, sondern selbstgerechter Pharisäismus wird lieblos und inhuman auf den Zöllner herabblicken. Ursprünglich von aufrichtiger Liebe für die Wahrheit beseelt, läßt er dieselbe ungehört verhallen, sobald seine pharisäische Selbstanbetung durch sie verletzt wird.

Neben dem jugendlichen Größenwahn des Franzosen und dem verhärteten greisenhaften Dünkel des Engländers leidet nun der Deutsche vielfach an hündischer Demuth und Fremdthümelei. Dazu hat er wenig Grund.

Man prahlt so häufig mit dem, was man nicht ist und nicht hat, nicht mit dem, was man ist und hat. Möge der Deutsche doch endlich aufhören, seine fragwürdige Tugend herauszustreichen und sich lieber – statt grade hier bewundernd nach dem Ausland zu schielen – seiner superioren Begabung bewußt werden, die ihm in Künsten, Wissenschaften und Gewerken, in Krieg und Frieden stets eine überwältigende Fülle von Talenten verschaffte wie keine andere Nation sie aufzuweisen hat!

So wird man ihm die zwei großen Güter für den Kampf ums Dasein, Klugheit und Fleiß, in hervorragendem Maße nachrühmen müssen. Daß diese Arbeitskraft, Ausdauer und Ueberlegung, nichtsdestoweniger die, aus lauter solchen Einzelkräften bestehende, große deutsche Nation erst durch bittere Not und eisernen Zwang zu einer klugen und standhaften Politik bewegen konnten, während doch diese Eigenschaften sie zu einem politischen Volk in erster Linie stempeln, – das hat der Deutsche einzig seinem mangelhaften Charakter zuzuschreiben. Neid, Mißgunst, Unfähigkeit zur Begeisterung, Gleichgültigkeit gegen ideale Interessen (alle deutschen Dichter und Denker von Wolfram von Eschenbach bis auf Richard Wagner wissen davonein Lied zu singen), Pedanterie und Philistrosität, Knechtssinn, verbunden mit mißvergnügtem Fortschrittsgezänk – das sind kleine und kleinliche Laster, für die man gern die phraseologische Verlogenheit und Leichtfertigkeit der Franzosen und die Brutalität der Briten eintauschen möchte. Es mangelt dem Deutschen vor allem das wahre männliche Selbstvertrauen und dies mußte erst wieder durch das stramme Preußenthum geweckt werden. »Wenn Sie übrigens bedenken, daß Sie Preußen sind, so habe ich nichts mehr hinzuzufügen« – diese großen Worte des großen Friedrich vor der Schlacht bei Leuthen bilden einen Wendepunkt der deutschen Geschichte.

Leonhart verbeugte sich und verschwand. Die Versammlung der Zuhörer summte und brummte beim Aufbruch durcheinander. Ein Offizier schnarrte laut: »Eine solche Frechheit!« und ein alter Herr, der wie ein Gymnasialprofessor aussah, schnob majestätisch: »Muß wegen schlechten Betragens an den Ofen gestellt werden.«

Der allgemeinen Volksstimme aber, welche bekanntlich Gottes Stimme ist, lieh Dr. Drechsler-Cannibalis monumentalen Ausdruck, indem er laut mit ausgestreckter Rechten brüllte: »Ein solcher Größenwahn ist reif fürs Irrenhaus!«

II.

Krastinik und Leonhart gingen in Friedenau spazieren. Sie hatten mitsammen einen Ausflug gemacht, um einen dort wohnenden Antisemiten zu besuchen, da sich Krastinik lebhaft für diese Bewegung interessirte. Freilich hinderte ihn das nicht, mit den jüdischen Redactionen persönlich auf bestem Fuße zu verkehren. Von einem Grafen läßt man sich ja viel gefallen.

Darauf spielte Leonhart an, indem er ironisch äußerte: »Ach Gott, der Antisemitismus des Adels! Da ärgert sich Baron v. Habeiuchts, daß Itzigs Madera und Maitresse feiner als die seinen, und gnä' Fröl'n Adelheid v. Schwindelheim kriegt die Gelbsucht, weil Kalle Mosessohn kann fahren mit Gummiräder.«

»Das sagen Sie, Verehrtester, und gelten doch für einen fanatischen Antisemiten?«

»Wieso ich zu dieser Ehre kam, blieb mir schleierhaft. Mag ich gelten, wofür man will! Man lasse die Leute schwatzen! Ich habe Ihnen schon oft gesagt, daß ich in dem gang und gäben Sinne kein Antisemit bin, sondern nur so, wie alle lebenden Deutschen es sind und ein guter Bruchtheil der anständigen Juden dazu. Ich bewundere den dämonischen Selbstsucht-Instinkt dieser Race und schätze sie als zersetzendes Element für die teutonische schlafmützige Michelei. Nur darf die semitische Unduldsamkeit nicht jedes freie Wort verpönen. Ich hasse nicht die Juden, sondern den jüdischen Geist. Und der steckt in manchem getauften Antisemiten erst recht. Ich habe den Muth meiner Meinung und sage ins Gesicht, was die Philosemiten hinter'm Rücken ihrer jüdischen Brotherrn stänkern. Aber nicht mal die jüdische Presse, die vielverschrieene, taugt weniger als die christliche. Stets gerecht, erkenne ich gewisse großartige Eigenschaften des Judenthums im Gegensatz zu deutscher Kleinlichkeit willig an. Der semitische Größenwahn gründet sich auf wirkliches Kraftgefühl und ihr Nützlichkeitsprinzip verbindet sich sogar mit warmblütigem Gemüth. Eigentlich liebe ich die Juden, diese willensstarke napoleonische Race, ebenso wie ihre Weiber oft den ältesten Blutadel der Welt im Gesichtsschnitt aufweisen.«

»Sie sonderbarer Schwärmer! Und haben's doch so ganz mit den Söhnen Israels verdorben!«

»Mit wem hätte ich das nicht?!«

»Sehr wahr. Wie werden die Schulmeister auf Sie schimpfen nach Ihrer neulichen Rede!«

»Pah!« lachte der Umstürzler verächtlich. »Kerls, die ihr Waschbecken für den Ocean ansehn und den alten Homer, dem bei ihrem Anblick übel geworden wäre, als ihr Eigenthum betrachten! O diese Kleinigkeitskrämer! Wo ist ein Mann, ein Ganzer, unter all diesen Halbmenschen!«

In diesem Augenblick kam eine merkwürdige Erscheinung die Friedenauer Chaussee herab, wie als Antwort auf diese Frage. Ein ungeheurer Hund sprang bellend vorüber und dann folgte ein Herr (seine Kutsche rollte in einiger Entfernung nach) in einfachem schwarzem Anzug mit einem großen Schlapphut, so wie der alte Wodan ihn getragen haben soll. Und ein durchdringendes forschendes Wodansauge flammte unter buschigen Brauen auf, als die Beiden ehrerbietig grüßten und er höflich dankte. In diesen Zügen, welche Europa kennt, lag eine tiefe unergründliche Trauer.

Die Hünengestalt schritt wuchtig vorüber. Die Beiden sahen ihm lange schweigend nach, dann setzten sie ihren Weg fort.

»Schwer genug,« hob Leonhart nach einer Pause, wo Jeder seinen Gedanken nachhing, an, »ja, fast unmöglich, schon heute über einen Bismarck abschließend zu urtheilen! In ununterbrochener Entwickelungskette wälzt sich die Geschichte fort. Diese Kette führt von den Wickingfahrten der Nordseesachsen zur Hansa, von den Wendenkämpfen zum deutschen Orden in Preußen, von den Hohenstaufen zu den Hohenzollern.«

»Sehr gut,« fiel Krastinik ein. »Das ließe sich noch weiter ausführen. Der Nibelungendichter, Wolfram und Walter befähigten wohl Goethe, Schiller und Hutten zu sprechen.«

»Zweifellos. Es ist der Geist Luthers, der in Lessing weiterwirkt.«

»Und vielleicht das Genie Friedrichs des Großen, dessen Abglanz auf Bismarck ruht? Aber nein, dieser Vergleich würde hinken. Vielmehr scheint mir gerade Luther« – er zögerte.

»Ganz recht,« bekräftigte Leonhart. »Dieser derbe sächsische Bauer gemahnt am meisten an Bismarck, falls wir nach einer Parallele suchen.« Nach einer Pause fuhr er fort: »Bezeichnet Bismarck einen Uebergang oder einen Höhepunkt, ein Bleibendes im kreisenden Werden der Dinge? Wir wissen es nicht. Eins aber wissen wir: daß auf ihn die Definition paßt, die Carlyle, der Prediger der Heroen-Verehrung, einem ›Helden‹ giebt: ›Es ist jederzeit die Eigenart des Helden, auf die Realitäten zurückzukommen, sich auf die Dinge, statt auf den Schein der Dinge zu stützen.‹ Auch hat die Prophetenstimme des modernen England sich dahin erklärt: Bismarck sei eine Art Cromwell, soweit dies in unsrer armseligen Zeit möglich. Wirklich ähnelt der grimme Feind des deutschen Plapperments dem parlamentauflösenden Lord-Protektor durch eherne Thatkraft und Zähigkeit sowie eine gewisse Rücksichtslosigkeit im Zugreifen.«

»Hm, ja.« Der Graf nickte nachdenklich. »Selbst das Verhältniß Bismarcks zu Moltke mag Vergleich-Jäger an dasjenige Cromwells zu Blake erinnern. Allein von der mystischen Gefühlstiefe und düstern schmerzvollen Gluth des Puritaners kann man doch nur mangelhafte Spuren in dem praktischen preußischen Weltmann entdecken.«

»Na überhaupt! Das wollen wir denn doch dahingestellt sein lassen, ob man Bismarck zu den Genies vom ersten Range wie Napoleon und Cromwell rechnen dürfe. Von jener Universalität der Begabung, wie sie solche Feldherrnherrscher bekunden, kann hier ja nicht die Rede sein. Freilich, die originale Fortentwickelungsfähigkeit einer schöpferischen Einbildungskraft, welche mir das eigentliche Wesen des Genies auszumachen scheint, besitzt ja der Einiger Deutschlands auch.«

»Wieso?«

»Nun, seine patriotische Idee, von der er dämonisch beherrscht blieb, reifte unablässig in ihm fort. Er trug sie mit sich, er modelte sie stetig um und paßte sie rastlos allen sich bietenden Verhältnissen an.«

»Schon recht. Aber der ekelhafte Götzendienst seiner knechtischen Schmeichler muß doch jeden unabhängigen Mann zum Widerspruch reizen,« erwiderte Krastinik.

»Hm, er bleibt nun eben doch der größte Meistervirtuose der diplomatischen Technik. Wenn man seine Leitung unsrer auswärtigen Geschäfte sorgsam prüft, so wird man zum Verständniß dieser eigenthümlichen Genialität gelangen.«

»Und über ihn als Charakter ...«

»Ach, darüber reden wir doch lieber nicht. Eine optimistische Anschauung zu theilen oder anzufechten, kann keinem Verständigen belieben, da den Zeitgenossen ein genügendes Material zu Gebote sieht. Es gehört der Tiefblick eines Dichter-Psychologen dazu,« Leonhart betonte diese Worte mit verstecktem Selbstbewußtsein, »um die Widersprüche im Charakter dämonischer Individualitäten zu lösen und zu verknüpfen.«

»Das soll wohl heißen: Die Feinde des Bismarckschen Charakters wie die Verehrer desselben haben alle beide recht und alle beide Unrecht?«

»Just so, exactly,« Leonhart liebte es, solche englische Brocken einzustreuen – »sobald man einseitig bei Fehlern oder Vorzügen des Privatmenschen verweilt. Na, und dann gehört es ja zu den unleugbaren Schwächen dieses großen Mannes, jede Antastung seiner unfehlbaren Makellosigkeit als eine Art Gotteslästerung, auch ›Bismarckbeleidigung‹ genannt, aufzufassen: Das ist eben sein Größenwahn. Da behält ein gescheidter Mann seine Ansicht am liebsten für sich, heut wo das Denunciantenthum förmlich herangezüchtet wird. Denn wer die Macht hat, hat immer Recht. Uebrigens, wem steht heut ein maßgebendes oder gar abschließendes Urtheil zu! Seichte und selbstische Parteimeinung deckt sich nimmer mit dem unbestechlichen Wahrspruch, den dereinst überlegene Wissende vor dem Richterstuhl der Geschichte fällen werden.«

»Jaja, ein Urtheil über Männer der That ist überhaupt schwer,« bemerkte der Graf sehr richtig. »Die Gedankenfaulheit urtheilt ja da immer nur nach dem Erfolg. Das mechanische Getriebe der Welthändel unterscheidet sich doch gar sehr von den ewigen Thaten der Kunst und Wissenschaft. Wie kann eine feststehende Werthung möglich sein, wo so Vieles vom Zufall und den ›untoward events‹ abhängt! Und ist nicht Bismarck Opportunist durch und durch?«

»Das ist kein Vorwurf, sondern ein Lob für den Staatsmann, der nur von den Schiebungen der Möglichkeiten bestimmt wird und dessen Größe gerade in dem klaren Blick für das augenblicklich Nothwendige besteht. Und hat etwa der gewaltige Mann je darüber den einen Zweck vergessen, den er mit eherner Konsequenz durch sein ganzes thatenreiches Leben verfolgte?«

»Na, ein selbstloser Idealist kann er doch wenigstens nicht genannt werden. Stets hat er verstanden, sein eigenes Wohl mit der Wohlfahrt des Vaterlandes zu vereinen. Und dabei klagt er noch über die sprichwörtliche Undankbarkeit der deutschen Nation!«

»Ja,« sagte Leonhart lächelnd, »man denkt unwillkürlich an das boshafte Pamphlet Swifts über den schweren Undank, mit welchem Marlborough sich belastet erklärte – in der runden Summe von 54000 Pfund Sterling! Im Gegentheil, ›es ehrt die Nation in der Gegenwart und stärkt die Hoffnung auf ihre Zukunft‹, wie es in dem herrlichen Briefe des Kaisers vom 1. April 1885 heißt, wenn sie das Große anerkennt. Denn wahrlich, dieser Bismarck ist nach Luther und Friedrich unser verdientester Mann.«

»Nun ja, er besitzt ein Willenszentrum von außerordentlicher Stärke, wie schon seine Bulldoggennase beweist,« meinte der Oesterreicher achselzuckend. »Aber das Geheimniß seiner Erfolge liegt doch in der Bornirtheit und Verlotterung der herkömmlichen Diplomatie, mit welcher er zu ringen hatte. An seiner Stelle mit seiner Macht könnten Viele das Gleiche leisten. Pah, mein Bester, die betreffenden politischen Schiebungen bestimmen meist die Politik halb willenlos und als Leiter von 46 Millionen kann man schon gebietend auftreten. Hat doch sogar Excellenz Windthorst in offenem Reichstag ähnliches verlauten lassen!«

Leonhart schüttelte den Kopf und sann einen Augenblick nach. Dann fragte er: »Langweilt es Sie, wenn ich Ihnen meine Auffassung der Bismarckschen Politik vortrage?«

»Im Gegentheil. Ich bitte darum.«

Jener räusperte sich und begann, indem die Gedanken ihm stromweise zuflossen:

»So geniale Züge wir in der Politik Richelieus, Cromwells und Napoleons bewundern, möchte ich doch beinahe die Behauptung wagen, daß ein solcher Meistervirtuose der diplomatischen Technik in den auswärtigen Angelegenheiten kaum jemals erstanden sei, daß Bismarck als diplomatischer Spezialist ungefähr die Stellung unter seinen Kollegen einnehme, wie sein Lieblingsdichter Shakespeare in der Litteratur.

Bei der Abwägung und Werthung staatsmännischer Verdienste muß man in erster Linie die Umstände selbst in Berechnung ziehen. Es war z.B. ein gut Stück Arbeit, wenn Gustav Adolf und Oxenstjerna das kleine arme Schweden zu einer Großmacht erhoben. Aber die europäische Konstellation lag diesem Beginnen auch überaus günstig und zuletzt nahm dies ungesunde Hinaufschrauben eines Kleinstaats zu unmöglicher Stellung ein Ende mit Schrecken. Napoleon und Cromwell vollführten gewiß Staunenwerthes, doch ersterer wurde durch die Elementarkraft der Revolution so hoch gehoben, letzterer blieb vor direkter Einmischung des Auslands durch Englands Inselthum geschützt. Bismarck aber fand Preußen in tiefster Erniedrigung und führte es aus denkbar ungünstigsten Verhältnissen, im Kampf mit dem Innern wie mit dem Auslande, zu der ihm gebührenden Welthegemonie empor.

Daß die Sehnsucht nach der Einheit in ganz Deutschland verbreitet war, daß Myriaden braver Deutscher vor Bismarck darnach gestrebt hatten, daß ihm, sobald man erst sein wahres Ziel erkannte, diese ganze große Nation einmüthig entgegenjubelte, thut seinem besondern Verdienste keinen Abbruch. Daß er schon auf dem Frankfurter Bundestag seinen Schwur des Hannibal im Herzen trug, wird wohl heut kaum einer mehr bezweifeln. Freilich nur in unbestimmten Umrissen. Daß er wie jeder geniale Mensch mit seinen Zielen wuchs, an seinen Erfolgen sich fortentwickelte, steht außer Frage. Erst nach 1870 wurde er ganz Deutscher, bis dahin vertrat er lediglich das Interesse Preußens. Ehre ihm dafür! ›Charity begins at home!‹ sagt das englische Sprichwort.

Erst wenn ein geschichtlicher Individualmensch dadurch erklärt werden soll, merkt man so recht das Mißliche des Vergleichens. Da hat man in der Konfliktszeit Bismarck den preußischen Strafford genannt, weil sein zäher Royalismus an jenen starrköpfigen Minister Karls I. zu gemahnen schien. Und doch erinnert Bismarcks Wesen und Gebahren gerade um gekehrt an die hochmüthigen, nervenkranken, jähzornigen, portweinliebenden Pitts, mit welchen er auch den bis zum Fanatismus gesteigerten Nationalstolz theilt. ›Wenn ich denn von einem Teufel besessen bin, so sei es ein teutonischer Teufel!‹ diese Worte des einstigen Gesandten in Petersburg soll die Geschichte auf das Grabmal des Reichskanzlers schreiben, wie auf das des jüngeren Pitt den Liebesseufzer des Sterbenden: ›My country, how do I love my country!‹ –

Bis 1864 mußte die Politik Bismarcks dahin streben, Preußen möglichst isolirt zu halten, um bei dem augenblicklichen Uebergewicht Oesterreichs im deutschen Bunde nicht ins Schlepptau genommen zu werden und ein zweites Olmütz zu erleiden. Die Neutralität 1859, die freundschaftliche Annäherung an Rußland 1863 und die trotzige Gleichgültigkeit gegen die Forderungen der Westmächte waren wichtige Etappen auf dem langen Wege, den er vor sich sah und mit immer gleicher Umsicht und Festigkeit verfolgte.

Als sein diplomatisches Meisterstück aber hat er stets das Jahr 1864 bezeichnet, wo es ihm gelang, den Rivalen Oesterreich selbst als Hebel zu benutzen, indem er zugleich durch das Danaergeschenk Holsteins bereits den nöthigen Zankdrossel für den lange sorgsam vorbereiteten Bruch mit Oesterreich diesem hinwarf. Von da ab, Oesterreich über das nahende Ungewitter so lange wie möglich täuschend, galt es freundliche Fühlung mit Napoleon zu gewinnen und unter dem Schutz dieser Deckung mit Napoleons Klientelstaat Italien sich gegen den gemeinsamen Feind Oesterreich zu verbinden. Daß Bismarck 1866-68 ein sogenanntes falsches Spiel mit Napoleon trieb, darf kaum bestritten werden. Die Enthüllungen Benedettis über die zweideutige List, mit welcher Bismarck ihm die geheimen Wünsche Frankreichs ablockte und selbst in Form eines Vertrags zu Papier bringen ließ – mit der festen Absicht, eben diesen Vertrag später gegen Frankreich auszuspielen, wie es 1870 wirklich geschah – sind nie positiv widerlegt worden. Lag doch ein besonderer Kniff der Bismarckschen Politik stets darin, den Feind ins Unrecht zu setzen und genau zu dem Schritte zu verleiten, der im richtigen Augenblick den gewünschten Krieg herbeiführen mußte. Diese Taktik wurde denn auch 1870 meisterlich angewandt.«

»Alles ist erlaubt im Krieg und in der Politik – gegen diesen Grundsatz läßt sich schlechterdings nichts einwenden. Es gewährt einen besonderen Genuß, in der Luxemburger Frage 1867 das Schachspiel des im Dupiren stets dupirten Ränkeschmieds Louis Napoleon mit dem kaltblütig sicheren ›Mann von Eisen‹ zu beobachten, der stets vorsichtig, nie übereilt und im gegebenen, Fall unerschütterlich ent schlossen, weder Bitten noch Drohungen zugänglich erschien.

Nachdem man sich 1870 durch Rußland gegen Oesterreich gedeckt, wurde bald genug klar, daß die Errichtung des deutschen Reiches und die Demüthigung Frankreichs von Rußland als eine Störung des europäischen Gleichgewichts empfunden wurden. Es blieb daher nur ein Ausweg und ihn ergriff Bismarck mit untrüglichem Scharfblick im geeigneten Moment: Aussöhnung mit Oesterreich und Bündniß der zwei deutschen Kaisermächte als Bollwerk Mitteleuropas gegen Osten und Westen. Außerdem galt es, durch die Kolonialbeziehungen Frankreich und England wechselseitig gegen einander auszuspielen. Die absolut richtige Haltung Deutschlands in der Bulgarischen Frage, welche Oesterreichs wahre Interessenpolitik klarlegte und dessen nothwendige Entschlossenheit, in gewissen Fällen selbst auf eigene Faust seine Stellung zu bewahren, erwies, scheint von Schwachköpfen ebenso wenig begriffen, wie früher die tiefdurchdachte Führung des Meisters in anderen Fragen.«

Leonhart schwieg einen Augenblick, dann lachte er leise, vor sich hin und fuhr fort:

»Es hat einen tragikomischen Beigeschmack zu beobachten, wie auch diesem Manne der That keine der üblichen Scherze erspart blieben, die man an jedem genialen Menschen verübt, bis Erfolg und Macht ihn gefeit haben. Das berühmte ›Was, der will mehr sein als ich? Der hat ja mit mir am Biertisch gesessen!‹ begleitete auch Bismarcks Auftreten und man wunderte sich nicht wenig über diesen Glückspilz, der Karriere zu machen anfing, ohne regelrechte Staatsexamina absolvirt zu haben. Von übersprudelndem aufrichtigem Wahrheitsdrange beherrscht, konnte er öfters den jovialen Herzensergießungen seiner Zunge nicht Halt gebieten und vertraute seine großen Pläne Leuten an, die ihn gar nicht zu verstehen fähig waren. ›Il est fou‹ urtheilte Napoleon über den Mann von Varzin und der intriguante Phantast Disraeli nannte Bismarcks vertrauliche Eröffnungen ›the moon-shine of a German baron!‹ Endlich fanden von jeher größenwahnsinnige Impotenzen, daß dieser erfolgreiche Streber weit überschätzt werde und daß eigentlich sie die wahren Messiasse seien – so Graf Goltz, so später Graf Harry Arnim. Ein Glück für die deutsche Nation, daß der eiserne Kanzler keine weichherzigen Humanitätsflausen zu üben pflegt, sondern all dies Völkchen mit rücksichtsloser Härte unter seine Sporen tritt.

Und so steht er nun schon jetzt vor dem Auge der Mitwelt wie eine bronzene Statue da in seinen Siebenmeilenstiefeln, den wuchtigen Flamberg dem Boden eingerammt und das Wodanauge unter buschigen Brauen hervorblitzend aus dem behelmten Haupte. Wenn er sich zur letzten Ruhe streckt – ›Il est mort!‹ wird man in Europa aufstöhnen, wie bei der Todesnachricht von St. Helena –, so darf er sich selbst gestehen, daß ein heroisches Leben hinter ihm liege. Man mag an ihm mäkeln, so viel man will – er war unser letzter großer Mann, die mächtigste Erscheinung Deutschlands in diesem Jahrhundert, welcher sich kein Ebenbürtiger in der übrigen Welt vergleichen darf. Der würdevolle großherzige Gentleman, der als erster deutscher Kaiser und echter Mehrer des Reichs so glorreich seinem Volke vorleuchtete, und sein treuer Hagen werden ewig in deutschen Landen fortleben als Ideale heroischer Männlichkeit. Und ein neuer Nibelungendichter wird dereinst von Otto dem Großen singen und sagen, wie von dem alten Marschall der Burgonden:

›Da ritt der grimme Hagen den andern all zuvor,

Er hielt den Nibelungen wohl den Muth empor‹.«

Am anderen Tage erhielt Krastinik in Leonharts Handschrift das folgende Gedicht:
An den Reichskanzler.

Nie mengte ich mich jener Feigen Zahl,

Der Sklavenherde, die der Tag regiert,

Die, als Erfolg mit Lorber Dich geziert,

Dich angestaunt als ihren Götzen Bai!

Nicht Deine Macht gilt mir Unfehlbarkeit.

Nicht Du allein erschufest, was geschehn.

Auch Du warst nur erfaßt vom Sturmeswehn

Der allbeherrschend vorbestimmten Zeit.

Und doch, wie stehst Du hehr und riesenhaft.

Gewaltiger, vor diesem Zwerggeschlecht!

Ein Heiliges glüht unverlöschbar echt

Dir ewig durch den Rauch der Leidenschaft.

Es ist das Letzte, was dem Manne blieb,

Seit Säul' um Säule jeder Tempel fiel:

Der Vaterlandesgröße stolzes Ziel,

Zum eignen Volk der liebevolle Trieb.

Nicht Liebe war ja Deines Lebens Amt.

Dich hob zu Sternen ein erhabner Groll,

Da Dir das Löwenherz im Busen schwoll

Ob aller deutschen Schande insgesammt.

Nicht mitzulieben wie Antigone,

Nein, mitzuhassen, Grimmer, warst Du da.

Doch aus dem Hasse keimte Liebe ja,

Für uns geblutet hat Dein zorniges Weh.

Dein Volk, Dein Vaterland hast Du geliebt.

Des alten Reiches Schemen aufgenährt

Mit warmem Blut, wie's einst Ulyß gewährt

Dem Schattenheer, das durch den Hades stiebt.

Erz nietete den thönernen Koloß.

Noch jüngst – wie Freudenfeuer kreisend rann

Ein flammend Hochgefühl von Mann zu Mann,

Da Deiner Rede Flammenstrom sich schloß.

In Dir nur lebt der wahre Ahnenstolz

Des deutschen Namens, dessen Machtgebot

Einst sonnenhell die weite Welt durchloht!

Geschnitten Du aus Nibelungenholz!

Den deutschen Hundesinn tritt in den Koth!

Lehr Du den Stolz, ein deutscher Mann zu sein!

Wo solche Eichen wachsen, muß gedeih'n

Der deutsche Stolz in aller Wetternoth.

Wo deutsche Zunge spricht, da bleibe stumm

Der Wälsche und der östliche Barbar!

Des Römers Erbe der Germane war –

Civis Romanus sum!

III.

Schon öfters war Leonhart von Schmoller aufgefordert worden, mit ihm socialistische Kreise zu besuchen, damit er mal einen wirklichen Einblick in die soziale Frage gewinne. Schmoller, der bei allem berechnete, wollte erstlich mit Leonhart's Freundschaft dort paradiren und zweitens wagte er sich lieber zu Zweit in die Löwenhöhle.

Die Gestalt Catilinas und seiner Mitverschworenen tauchte unwillkürlich vor Leonharts Geiste auf. Wie sie sich alle zusammenfanden, die Unglücklichen und die Verbrecher, die Bedrückten und die Verkommenen, die Rachgierigen und Genußgierigen, um sich gegen die satte Gemeinheit der Glücklichen zu verbinden!

So entstand ihm in raschem rohem Entwurf realistischer Urkraft das folgende düstere Fragment, indem er dem herostratisch zerstörenden Größenwahn die wahre schicksalmäßige Größe gegenüberstellte und zugleich den Größenwahn der Weiber-Emanzipation in der Gestalt der vornehmen Catilinarierinnen geißelte, die ihr Kapital in die Verschwörung steckten, um es mit Zins und Zinseszins aus dem Staatsbankrott wieder herauszuschlagen.

Soirée bei Crassus. – – Vorn links Lentulus und Cethegus beim Würfeln. Vorn rechts Antonius junior, Crassus junior, Faustus Sulla junior und Metellus plaudernd.

METELLUS. Ich begreife nicht, warum ich diesem Zeitalter die Ehre anthat, darin geboren zu werden. Stände nicht unsere liebe Verschwörung hinter der Thür, so müßte diese Welt an ihrer eigenen Fäulniß verrecken.

CETHEGUS würfelt. Diese adligen Packesel! Damit verschwört sich's gut! Ein Hochverrath gegen die gesunde Vernunft!

LENTULUS. Ja, ihr »neuen Leute«! Ein Metell! Will was heißen! Zwar kein Cornelier, wie ich –! Bin bekanntlich ein Nachkomme des großen Scipio.

CETHEGUS. Ja, Du bist ein – Nachkomme. Ich stamme bekanntlich von einem Schuster ab. Würfeln.

CRASSUS JUNIOR. Ich erlaube Dir endlich zu schweigen, Freund Metellus! Mit Eurer Verschwörung! Bei Euch hapert's am Blinkenden – das ist doch wahrhaft gesetzwidrig! Geld – das ist Alles!

LENTULUS dreht sich nach dem Sprecher um. Ganz recht. Geld – das ist alles! Er verfällt in eine Straßenpredigt. »Wir aber, wir unglückseliges und unschuldiges Volk, wir hungern – ach, wir haben kein Geld! – Jene, jene glücklichen und schuldigen Menschen, sie prassen: sie haben Geld! Wir aber, wir haben derbe Fäuste und unser Magen knurrt uns wach, Jene faulen auf ihren gepreßten Säcken. Auf denn, Volk, und folgere, was Dir beliebt!«

CETHEGUS. O über die ungekämmte Logik!

ANTONIUS ironisch. Zwar, mein lieber Crassus, für die Millionen Deines Erzeugers dürftest Du kaum in bangender Ungewißheit schweben: Die lassen sie heilig und unangetastet!

SULLA. O der alte Crassus! Schlauer Bursche der! »Catilina – anständiges Unternehmen – gut im Gange – läßt sich machen.«

CRASSUS JUNIOR. Wir vom Hause Crassus brauchen's nicht: Sind Geschäftsmänner – größte in der Welt! Kleine Geschäfte verpönt! Alles riesig, großartig, millionarisch!

SULLA. So z.B.: »Königthum nebst Ruhm – Crassus der Erste – ungeheure Anlage – Weltzinsen – mächtiges Geschäft – Rechtschaffenheit wird verbürgt.« He, das war' so was?

ANTONIUS. Uebrigens, mein lieber Sulla, was Deinen hochseligen Vater betrifft – und dann macht er hier republikanische Männchen!

SULLA. Erstaunlich schön! Was gehn denn Dich die Väter andrer Leute an? Dein ehrwürdiger Vater, ein so inniger Verehrer Catilinas – Sprechen bei Seite weiter.

CETHEGUS. Mein Haus gegen Deins! Würfelt. Da liegt der Bettel! Heilige Tonne des Diognes! – Ich sag' Dir, Mensch, ich bin eine lebendige Pfandanleihe. Der nächste Termin bricht mir's Genick! Pah! der große Rechnungstag kommt früher, ja früher. Unterm Galgen ist Alles gleich.

ANTONIUS nach dem Hintergrund blickend. Die Fulvia ist prachtvoll.

SULLA gähnt. Ja, sie ist sehr theuer! Pompeia und Terentia kommen aus dem Hintergrund. Da haben wir Ciceros männliche Hälfte d.h. seine Frau! Und da Caesars Wittwe bei lebendigem Leibe. – Alle Mann ans Ruder! Los! – Des beredten Redners beredte Frau –! Complimentirung.

TERENTIA. Ich danke Eurem Gruß, Quiriten! Was meine bescheidene Beredsamkeit anbelangt –

POMPEIA boshaft. – Ja, ja, meine Theure! Man weiß von den oratorischen Ergüssen, welche Du Deinem Gatten –. Die Nachbarschaft –

TERENTIA hochempört. Was wollen die Nachtmützen? Soll ich nicht die sittliche Würde meines Geschlechtes schirmen, nicht ein rauhes Mahnwort männlicher Tyrannei in die Ohren donnern? Wie Cornelia die edle Römerin zu sagen pflegte – Schwatzen weiter.

Caesar und Fulvia kommen lachend nach vorn. CAESAR grüßend. Antonius, Deine Toga ist reizend! Crassus, Deine ist abscheulich. FULVIA. Nun, Cajus, die neueste Mode –? CAESAR. Die, o schöne Frau, Dein Auge gebietet – FULVIA. Schmeichler! – Rothe Tunica, weißer Gürtel, freie Locken, Rosen im Haar –

CAESAR. Die Moden wechseln. Eine Mode allein besteht ewig und unbestritten: Deine Schönheit und Dein Lächeln!

Sempronia, Crassus maior und Lucull kommen.

CRASSUS. Nu, meine Freunde, die Mahlzeit, was? Schmal, schmal! Aber hochansehnlich genug. Das ist so unser kleines gemüthliches Convivium. Hat gekostet lumpige 300,000 Drachmen. Nu, kann's ja leisten! Die Austern, hä? Eigene Waare, Specialhandel, feinste Qualität, 30 Sesterzien das Stück. Mache überhaupt in Austern und Fischen. Korinth, Brundisium, Ostia –

LUCULL mit ernster Würde. Nach den Ergebnissen meiner Forschungen sowie nach dem treffenden Urtheil des Metellus Pius kann ich diese Austern nur für verfehlt erklären. Beim Zeus, ich scherze nicht: Zu ernst die Sache! Ich muß diese Prinzipien der Zubereitung – das harte Wort sei gesprochen – verdammen. Wie, wenn jenem duftenden Kleinod an Amphitrites Gewand jener prickelnde Reiz, jenes unerklärliche Etwas mangelt –

CRASSUS verzweifelt. Lucull muß die Prinzipien meines Koches verdammen!

LUCULL. Deß ungeachtet waren die Schnepfen gut – der Priapus nicht unwohlschmeckend – der Ziemer mit Geschmack und Bildung behandelt.

CRASSUS. Ich athme auf. Ja, Bildung – das ist mein Panier! Und Geld, viel Geld! Armuth ist ein Verbrechen.

SEMPRONIA. Den Satz könnte man umkehren. FULVIA giftig. Sempronia kann doch ihre Freunde von der Gasse nicht schmähen hören! SEMPRONIA. Fulvia hingegen liebt die vollen Taschen. Je nun, das ist – Erwerbssache!

CRASSUS. Silentium! Ironie stört die Verdauung. – Da kommen die sieben Weisen. Cato und Ci cero treten auf. Ah, ehrwürdiger Cato – nehmen wieder stoische Philosophie ein? Flau, flau! Klares Wasser, aber – Wasser!

CATO. Wie mein erhabener Ahnherr Portius Cato zu sagen pflegte – was ist das? Er faßt Caesars Mantel.

CAESAR. Götter! Mein Mantel ist zartfühlend.

CATO. Dies gestutzte, gezackte, verbrämte, geschniegelte Ding – dieses begabest Du mit dem Prädicat: »Mantel«?! O grobe Wolle, als der Römer statt nach den Wohlgerüchen des feilen Ostens nur nach dem Schweiß seiner Arbeit roch!

CETHEGUS auf Cicero losgehend. Ha, unser Retter des Vaterlandes! Da hat er nun deklamirt im stillen Kämmerlein – ja, sie sind fertig, die extemporirten Invectiven, die plötzlichen Begeisterungen, die im Augenblick gebornen Orakel – das Vaterland ruft: er ist wohlpräparirt! Und nun Alles umsonst!

CICERO. Und warum, o geistreicher Jüngling?

CETHEGUS kalt. Das will ich Dir sagen Die Götter überschütten Dich mit Güte: Sie bewahren Dich vor Gefahren, die erst kommen sollen. Denn, mein lieber Cicero, Consul wirst Du nicht.

CICERO. Wir werden sehen.

CETHEGUS. Und wir werden handeln. Wirst Du nicht Consul, – gut für Dich und uns! Wirst Du's, – auch gut für uns! Aber schlimm für Dich. Warum? Weil man Dich am ersten Tage Deines Amtsantritts in Deinem Bette finden wird, die Kehle durchschnitten von einem Ohr zum andern! Dreht ihm den Rücken.

CRASSUS traulich zu Cethegus. Deine Verdauung gedeiht doch? – Na und die politische Verdauung? Die Verschwörung – hat die auch einen guten Magen?

CETHEGUS. Verschwörung? Ich muß sehr bitten –

CRASSUS. Verbindung, natürlich, Patrioten-Verbindung! Nun, Consulwahl ist 'ne harte Nuß, wenn Dolche sie aufknacken. Verdaut ihr viel Stimmen, he? Zieht ihn in den Hintergrund.

CATO zu Lucull. Ich sage, Cicero ist der Mann. LUCULL. Ein Unmann! Dieser eunuchische Wortekrämer –

CATO. Aus Worten werden Thaten. Ich dächte, Du überließest das mir. Verfügst Du über meine Belesenheit in den Seelen der Menschen? Der theoretisch geschärfte Blick des ergrauten Menschenkenners prüft Herz und Nieren.

LUCULL. Nun, was die Ergrautheit anbelangt, junger Mann – CATO. Nicht Jahre, sondern Thaten machen alt! Ich spreche stets figürlich. LUCULL zieht einen Spiegel hervor. Wie? Dann muß ich ja schrecklich viel graue Haare haben!? CATO verächtlich. Von Thaten des Gedankens rede ich.

Clodius Pulcher (nähert sich). CAESAR. Was? Ist dies nicht Clodius »der Schöne«? LUCULL. Der Klopffechter! Der Bandenhäuptling! CATO. Der Wüstling! Der schändliche Verführer!

CICERO. Und außerdem mein Feind! Dies darf nicht geduldet werden. – Crassus, ich finde denn doch, rein herausgesagt, den Ton Deiner Kreise etwas zu gemischt!

CRASSUS. Ohne Mischung kein feines Gericht – frag' nur die Autorität! Deutet auf Lucull. CATO. O Zeiten, o Sitten! Anrüchige Individuen –

CRASSUS. Wir sind alle anrüchig! Stellt vor. Hoffnungsvoller Knabe werther Geschäftsfreund. Arbeitet in Gladiatoren, auch ein schätzenswerther Artikel, alter Kunde.

CLODIUS grüßend. Fulvia, mein Leben! – Kastor und Pollux! Lieblich wie bezahlte Schulden, unnahbar wie der Staatsschatz!

FULVIA. Deine Gleichnisse sind wahrhaft zeitgemäß. Leise. Sind meine Befehle vollzogen? CLODIUS ebenso. Mit alter Treue! FULVIA laut. Deine Schmeicheleien sind fade.

CLODIUS bemerkt Sempronia, die sich langsam genährt hat. Ah, mein Leben! Kastor und Pollux! Lieblich, wie bezahlte Schulden, unnahbar, wie –

SEMPRONIA ruhig. – der Staatsschatz! Leise. Sind meine Befehle vollzogen? CLODIUS ebenso. Mit alter Treue! – SEMPRONIA. Heut um Mitternacht! Ich muß Dich sprechen. Laut. Man kennt Deine lockern Grundsätze – –

CLODIUS. Verbleibe mit Hochachtung! – Ich stehe wahrhaft über den Verhältnissen. Der Meistbietende soll mich haben. Pompeia und Terentia kommen nach vorn. Amor steh mir bei! Ich bin unsterblich verliebt. Ich bin fähig, ja, ich bin fähig, unbezahlt für die Freiheit in den Tod zu gehen für einen Blick ihrer Augen! – Holde Pompeia – ach! Schneidet ihr die Cour.

ANTONIUS im Hintergrund zu Cäsar. Sieh doch! Clodius der Schöne! Deine Frau – CAESAR – weiß seine Verdienste zu schätzen. SULLA. Ist's denn wahr, daß er bei Dir Hausfreund – ANTONIUS. Nicht? Clodius der Schöne –! Man sagt – CAESAR. Nichts? Das thut man gewöhnlich. SULLA wichtig zu Antonius. Wieviel wett'st Du auf den nächsten Scheidungsproceß?

CRASSUS. Da kommt der Nachtisch! Gladiatoren treten auf. Eigene Waare. Spezialhandel. Meine Fechterschule in Capua, »schwunghaftes Massengeschäft, nur Solides wird geliefert.«

CICERO. Wieviel werden da wohl so »verbraucht«?

CRASSUS. Hundert bis tausend pro Jahr. Jeden Wahltag geht ein Halbhundert drauf. Empfehle Dir, Cicero. Augenblicklich großer Geschäftsstand: »Raufer flau, Skandalmacher gesucht, Krawallbanden dringend begehrt, Lebensbeendiger große Nachfrage«. Klatscht. Hallo! Und daß ihr Euch das Fell von den Knochen haut! Streut Rosen, Mädchen, duftet, Wohlgerüche, und, Gemetzel, hebe an! Alle drängen sich im Hintergrund um die Fechtenden. Crassus und Cäsar kommen rasch nach vorn.

CRASSUS. Wie ich Dir sagte. Antonius maior will mich sprechen. CÄSAR. Mich auch. Sprechen wir ihn! ANTON DER AELTERE rasch eintretend. Verehrter und geschätzter Crassus! Verlegen. Ah, Caesar?

CÄSAR lacht. Ja, ja, Jeden einzeln unter vier Augen, nicht? Ei, wir sind ein Herz und ein Seele Sprechen wir also unter sechs Augen!

CRASSUS. Freund Antonius, Du machst gern ein Geschäft, ich mache auch gern ein Geschäft, Caesar auch; folglich –

CÄSAR. Machen wir ein Geschäft! CRASSUS. Betrachten wir Euer Capital. Sicher angelegt, he? Consulat fest in der Tasche? CÄSAR. Römisch: Ihr wollt den Staat ruiniren und wir sollen Euch helfen? ANTONIUS. Welche Idee! Den Staat? Das heißt – CÄSAR. Sagen wir, den Adel. Als Vertreter des Volks habe ich nichts dawider – ich hasse ihn. ANTONIUS. Und hast 100 Ahnen? CÄSAR. Ich glaube, Du hast 101! Das ist alles Nebensache Was – nützt – es – uns?

CRASSUS. Ihr bildet da eine Gesellschaft und wir legen unser Capital hinein. Aber Garantie, guter Mann!

CÄSAR. Mein theurer Freund, ich bin ein Opfer schnöder Verhältnisse, die heilige Sache der Freiheit hat mir das Herz gebrochen: Wisse, meine Schulden sind unerschöpfliche Danaidenfässer.

CRASSUS. Erlaube mal, mein Sohn, mein Capital geht vor – Ich verlange ein Weltmonopol! Geläufig. Für Eisenwaaren, Kleiderstoffe, Thonproducte, Straßengründung, Straßenbewässerung, Feldberieselung, Tempelbauten – Gehn in den Hintergrund.

CATILINA allein und vermummt, tritt auf und blickt an eine Säule gelehnt in den Festsaal.

Wie hell hier oben! – Goldne Ampeln wiegen Duftspendend sich und leuchtend am Getäfel, Den klaren Marmor der geschmückten Halle Mit einem Strahlenteppich überstreuend. Gold, Silber, Erz, Purpur und Elfenbein, Sie lösen sich in einem Meer des Glanzes. Und unten dunkel alles! – Seht dorthin, Der einsam matten Fackeln Glimmen seht, Roth flackernd durch die sternenlose Nacht! Hört ihr das Hämmern? Seht der Esse Gluth! Dort brütet der Titanen Stamm, gestürzt Zur Tiefe durch die himmlischen Despoten, Und schmiedet seine Waffen wider sie, Aufschauend unter düstrer Brauen Grimm Zum blitzestolzen sonnigen Olymp. Olymp! Vornehmer Laffen, wohlgesitteter Schurken und Narren, worteklaubender Volkspeiniger Tyrannenthrone ihr, Zwergengeschlecht der angemaßten Götter – Wie diese Ampel ich herniederreiße Und in den Grund umstoße ihre Flamme, Am Estrich sie zerschmetternd – also wird Der noch gefesselten Titanen Faust Herniederkommen über eure Giebel. Auch ich bin ja ein Gott, ja, ein gefallener! Ein Promethide, der den Feuerstrahl, In niedere Hütten trug. Ich kostete Von dem Ambrosia eurer feinen Tücke. In eurer Himmel gleißnerischem Licht Bin ich geboren! Bin verstoßen draus, Viel mehr hab' selber mich daraus verbannt, Durch die berechnende Vernünftigkeit, Die götterhohe Selbstgerechtigkeit, Die Makellosigkeit von euresgleichen! Schaut mir ins Antlitz! Wie des Meeres Fluth Durch immer neuer Wogen Schwall den Strand Nicht wegspült, sondern härtet seine Fläche – Ward hart mein Herz durch Haß, Verrath und Trug, Die es bestürmten, und durch Selbstverachtung. Wie der Simum, der durch die Wüste fährt, Unwiderstehlich jede Flur versengt, Nur kahle Oede duldend, – also brennt Ein einziger Gedanke mir im Hirn Verdorrend jed' Gefühl, das außer ihm: Der Rache, der Vergeltung Qualgedanke! Hört ihr den wirren Sang vom Tiber dort? Der Freiheit geller Sang ist's! Der Titanen Dumpfes Gebrüll, das aus dem Aetna tönt Und der Entladung Flammenschreckniß kündet. Ketten, zerreißt! Lastende Berge, berstet! Des Göttersaales stolze Decke bricht, Begrabend mit sich allen Sonnenflitter. – Schlaft wohl, ihr Götter! Doch man wird euch wecken.

Atrium im Hause Cäsars. Cäsar geht sinnend auf und ab. Pompeia liest eine Briefrolle.

CÄSAR für sich. Pompeius, Crassus, Catilina – Felsblöcke gegen den Strom meiner Laufbahn. Die Zeit bröckelt an ihnen. Suchen wir sie wider einander zu rollen, auf daß sie sich selbst zerschmettern. Crassus – gefügiger Lehm, Thon für meine Gebilde. Pompeius – dürr und zäh wie verkalkter Sand. Nur ein eiserner Spaten kann ihn lockern. Laut. Pompeia!

POMPEIA. Mein Gemahl? CÄSAR. Was schreibt Dein Vater? POMPEIA. Er rüstet zur Heimkehr.

CÄSAR für sich. An der Spitze der siegreichen Legionen aus dem ersiegten Asien weg – Rom wird sein. Schnappt dieser Strohmann mir die Welt vor der Nase weg? Laut. Höre, theure Pompeia, Dein hochverehrter Erzeuger wird hoffentlich durch keinerlei übertriebene Gerüchte aus Deiner Feder über die Lage der Hauptstadt beunruhigt? Du wirst ihn von der Ruhe und Eintracht aller Parteien unterrichten. Die catilinarische Verbindung ist ganz unerheblich, trotz ihres etwas freien Benehmens. Du hast mich verstanden?

POMPEIA. Wie Du befiehlst, mein Gemahl.

CÄSAR für sich. Catilina, der Dritte im Triumvirat der Kräfte – ein Granit, ein starrer Granit. Soll ich ihn stützen? Laut. Pompeia!

POMPEIA. Mein Gemahl?

CÄSAR. Tullia ist Deine Freundin, Cicero ist ihr Mann, sie hat eine geschwätzige Zunge. Du hast mich verstanden.

POMPEIA. Wie Du befiehlst.

CÄSAR für sich. Wo sind meine Adler, meine Schwerter? Wo catilinarische Dolche in meinem Sold? Führer der Demokratie – ein schönes Wort! Mein gemäßigter Pöbel ist nur eine Null ohne Ziffer. Volk!

DIENER meldet. Die erlauchte Fulvia! FULVIA tritt ein. Ich grüße Dich, Cäsar.

POMPEIA. Ich entferne mich, mein Gemahl. Der Tochter des Pompeius ziemt es nicht – – jetzt hast wohl Du mich verstanden. Sie rauscht an Fulvia ohne Gruß vorüber.

FULVIA gelassen. Die arme Frau steht noch nicht auf der Höhe des Zeitalters. CÄSAR. Sie ist ein überwundener Standpunkt.

FULVIA. Haha, wenigstens scheinst Du sie überwunden zu haben. Nun, mein Cajus, die neueste Mode – doch was sag ich da! Politik ist ja jetzt das Stichwort. Eine schutzlose Frau wie ich weiß heute nicht aus noch ein, wie ein irrendes Lamm in der Wüste, Naiv. Wie denkst denn Du eigentlich über diesen Catilina?

CÄSAR. O ein ungewöhnlicher Mann! FULVIA. Nicht wahr? Ganz meine Meinung. Ich schwärme beinah für ihn. CÄSAR kalt. Ich nicht. FULVIA. Ach, ich dachte doch? Ich finde manche seiner Pläne – CÄSAR. Nicht zu billigen, ganz recht. FULVIA. Ei? Ja, ich werde ihm doch wohl meine Stimme geben. CÄSAR lacht. Deine Stimme? FULVIA. Spötter! Ich meine natürlich die Stimme meiner Freunde. CÄSAR. Paß auf, wenn der Sergier siegt, bekommen die Weiber das allgemeine Stimmrecht.

FULVIA. Ich sag's ja! Catilina ist unser Mann und ich werde nun grade meine Freunde für ihn stimmen.

CÄSAR. Aber nicht Deinen besten Freund. Küßt sie auf den Arm. Ach, wie traurig! So stehn wir uns feindlich gegenüber, zum ersten Mal.

FULVIA. Flattergeist! Ich bin ja noch nicht entschieden. Lauernd. Darum wollte ich mir eben Raths erholen.

CÄSAR kalt. Bei Deinem Freunde Cicero?

FULVIA verwirrt. Wie, Cicero mein Freund? Welch ein Gedanke! Ich – ich nehme ab und zu bei ihm Stunden in der Rhetorik. Das ist jetzt Mode. Wenn man sich zur Aspasia bilden will – – Nein, Dei nen Rath möchte ich erbitten als Deine beste Freundin.

CÄSAR kalt. Den behalte ich stets nur für meinen besten Freund: mich selbst.

DIENER meldet. Der hochwohlgeborene Portius Cato und der ehrenwerthe Tullius Cicero wünschen den erlauchten Julius Cäsar zu begrüßen.

FULVIA hastig. Wieder die leidige Politik – ich irrendes Lamm – viel Vergnügen, Cäsar! Besuch mich bald! Rasch ab.

CÄSAR für sich. Die gute Frau fängt an, mir verdächtig zu werden. Sie wollte mich ausholen – cui bono? Cicero und Cato treten auf. Welche Ehre!

PORTIUS räuspert sich. Hm! CICERO räuspert nach. Hm! CÄSAR ebenso. Hm! – Ist das Vaterland mal wieder in Gefahr?

CICERO. Es ist so. – Die Stunde der Entscheidung naht. Volk, sammle dich zu deinen Gezelten! Eine Rotte ohne Moral, die das Verderben des Staates auf ihr blutig Banner schrieb –

CÄSAR. Und so weiter. Du willst Consul werden – recht sachgemäß. Der Sergier auch – ebenso sachgemäß. Du willst ihm schaden, er Dir – höchst sachgemäß Verderben des Staates! Je nun, Du weißt mehr als ich!

CICERO. Jener Molch, gedunsen von Blut –

CÄSAR. Hochwerther Mann, ich bin eine schlichte nüchterne Natur und vermag nicht dem Fluge Deiner Rhetorik zu folgen.

CATO. Wie, Julier? Schweig, Cicero – man wagt es – ich sage, schweig! – Menschen ohne Gott und Gebot, wie Catilina –

CÄSAR. Dieser harmlose Taugenichts! CICERO. Harmlos! O ihr Götter!

CATO. Ich sehe, Julier, wo das hinaus will. Einen gewiegten Praktiker wie mich übertölpeln wir nicht, junger Mann – man ist ein enger Geist. Man suche sich am Postament erhabener Ahnen emporzuranken.

CICERO. Jetzo banne geläutertes Mannesthum der Jugend Frevel in gebührende Schranken! In der Moral nur – da steckt die Kraft. Du lächelst? Ah, Du vermagst mich nicht zu begreifen

CATO. Der Umsturz der gesellschaftlichen Ordnung – CÄSAR. Unordnung vielleicht. Ein Kampf gegen mottenzerfressene Vorurtheile.

CICERO bitter. Ach ja, die Vorurtheile der Zucht und Sitte hemmen den freien Geist. Was rede ich noch! Die Wahl steht vor der Thür. Siegt Catilina – dann, Rom, gute Nacht! Er soll nicht siegen, ich bin da! Heut gilt es, Freund und Feind zu kennen. Wer nicht für uns ist, ist wider uns. Im Namen der Moral, bekenne Farbe!

CATO. Man wähle gesinnungstüchtig den erprobten Mann der Regierung! Marcus Portius Cato gab dem Cicero seine Stimme – Römer, gehet hin und thuet desgleichen!

CÄSAR lauernd. Die Wahl ist euch ja doch so gut wie gesichert?

CATO. Wehe! Die Verderbniß der Zeit trägt ihre Frucht. Dolch und Gold schrecken und blenden den Sinn der guten Bürger. Geist der Vorzeit, verhülle dein Haupt!

CÄSAR. Hochzuverehrende Mitbürger, was hilft dem großen Cicero meine eine arme Stimme!

CICERO wüthend. Cäsar, das ist ebenso lächerlich wie abscheulich. Du kennst Deine Talente so gut wie wir selbst. Du willst nicht helfen. Anto nius Maior tritt durch eine Seitenthür hastig ein und bleibt betroffen aus der Schwelle stehn. Ihm folgen Sulla minor und Clodius Pulcher. Betretene Pause. Aha, unser würdiger College in Zukunft, unser würdiges Staatsoberhaupt! Cäsar, es ist genug. Wir überliefern Dich einer würdigeren Genossenschaft. O Moral, Moral!

CATO. Wehe! O Rom, wie tief bist du gesunken! Beide ab.

CÄSAR gelassen. Willkommen, ihr Lieben! Ah, Sulla, welch östlicher Besatz an Deinem Mantel! Deine Locken sind gut gebrannt und die Schminke – laß sehn! Vortrefflich. Ruft. Heda, Marius! Ein Freigelassener kommt. Bring Cäcuber-Wein!

CLODIUS. Marius, wie?

CÄSAR. Sieh da, Clodius Pulcher, welche Freude! Für sich. Was will Der bei mir? Laut. Ja wohl, ich besitze auch einen Sulla. Ich nenne meine Freigelassenen immer nach solchen Urahnen. Ich liebe es, mich am Postament erhabener Vorzeit emporzuranken. Diener bringt Wein.

CLODIUS. Du? Nun, unsre Vorfahren – Dein Wohl, Sprößling des Sulla! – waren groß, aber langweilig. Waren sozusagen nicht von »gutem Ton«.

CÄSAR ernsthaft. Wie wahr! Hat sich was mit ihrer brüllenden Riesenhaftigkeit! Ihr Tigergrimm und Löwenzorn – drollig! Diese Metzeleien aus Rache und Ueberzeugung! Wie anders wir Neueren – nicht, kühner Clodius? Wir morden mit kaltem Blut, wir würgen ohne Leidenschaft – darin sind wir unerreichbar.

CLODIUS. Das ist's, Du verstehst mich ganz. Marius vor Rom, Sonnenuntergang, gewitterschwangere Augenbrauen, kochende Lavagluth der Heldenseele – bah! Wir haben kaltes Erz, wir Gladiatoren, für solche Löwenhitze. Wir Männer der Zukunft – da ist alles kahl, kühl, kalt.

CÄSAR an seine Glatze fahrend. Besonders kahl, geliebter Clodius. SULLA. Auf Ehre, ganz meine Ansicht. Nur wir stehn auf der Höhe des Jahrhunderts. CÄSAR. Stehn wir! – Sprechen wir also von Geschäften!

ANTONIUS MAIOR. Nun, ich darf ja sagen, es macht sich. Stimmen wie Heu! Majorität unberechenbar! Ja, das ›Wie‹ ist schon sicher, aber das »Was«!

CÄSAR. Was heißt »Was«?

ANTONIUS MAIOR. Consulat ist ein schön Ding. Wir sind nicht dazu aufgestanden, um ein paar Schulden zu bezahlen. Es giebt noch andre Rechnungen zu begleichen.

CÄSAR gedehnt. Ach, das heißt »Was«? – Lieben Freunde, ich habe zu thun. Ich fahre aus. CLODIUS eifrig. So? Jetzt gleich? CÄSAR befremdet. Ja wohl. – Dringende Geschäfte. SULLA. Ich auch. Mein Schneider wartet. CLODIUS. Ich schlendre durch die Straßen. Schöne Augen – trala! SULLA. Ich begleite Dich. CLODIUS. Danke. Ich jage stets allein. – Dein Diener, Julier! Ab. ANTONIUS MAIOR. Das »Was«! CÄSAR. Das »Was«! Antonius und Sulla ab.

CÄSAR allein. Bringt man beide durch, Catilina und diesen Lumpen, so ist die Aristokratie verloren. Mein Schwiegervater, der Säbelmann, soll nur anrücken mit orientalischen Gelüsten – ehe er den Fuß auf italischen Boden setzt, sind wir hier fertig. Laß sehn! Ist dieser Catilina ein geistreicher Schwärmer, – gut. Wagt er's aber mein Doppelgänger zu sein, so eine verpfuschte Copie der Natur nach meinem Bilde, so heißt es: Er oder ich. Einer muß fort. – Er will mich heut sprechen, natürlich geheim. Ja, Vorsicht thut noth. Darum meldete ich schon gestern meiner Dienerschaft an, daß ich um diese Stunde ausfahren würde. – Wohlan, Dictator Catilina, wir werden ja sehn. Er geht ins Innere des Hauses.

CLODIUS tritt nach einer Weile hastig ein und nähert sich vorsichtig. Alles leer. Der Marder im Taubenschlag! Ich versteckte mich hinter die nächsten Säulen und ließ die Andern an mir vorbei. Der Augenblick ist günstig. Cäsar fährt aus, wie seine Diener mir schon gestern verriethen. – Macht dieses dürre Ehegespons mir Schwierigkeiten, so werf ich ihn zum eignen Haus hinaus. Ich bin der Clodius, der alles wagt. – Wer kommt? Er verbirgt sich hinter Hausgeräth. Terentia kommt aus dem Innern des Hauses, von Pompeia begleitet.

TERENTIA. Ja, meine Theure, Fortschritt, Fortschritt über alles, über alles in der Welt! Ich marschirte stets mit dem Zeitgeist. Allgemeines Wahlrecht, vorzüglich Redefreiheit – das ist die Zukunft der weiblichen Jugend. – Vale! Begleite mich nicht weiter. Mein Wagen wartet, in ihm Papirius als Lenker der Rosse.

POMPEIA. Dein Liebhaber? So öffentlich? Dein Mann –

TERENTIA. Mein Mann!! Deine Erziehung scheint doch sehr vernachlässigt. Von Zweien bin ich geschieden, einen brachte ich unter die Erde im Kampf gegen seine tyrannische Anmaßung, und sollte Kikero fürchten?

POMPEIA. Laß Dich mit Catilina trauen – der fürchtet ihn auch nicht.

TERENTIA. Pfui, wie Du redest! Dieser Elende, der den Plebejern und Sclaven den Zeitgeist predigt – nichts habe ich mit ihm gemein. Fortschritt auf meine Kosten – dafür bedank' ich mich. Mein Mann soll sich nur unterstehn, bei der Wahl durchzufallen! Na warte! Ab.

POMPEIA. Sie sind alle so fortgeschritten. Warum schreite ich nicht auch fort? Träumerisch. Dieser Clodius stellt mir fast unziemlich nach. Doch wie hübsch er ist!

CLODIUS aus seinem Versteck hervorstürzend, kniet vor ihr. Herrin! POMPEIA erschrocken. Minerva schütze! Steh auf! Was willst Du? Mein Gatte –

CLODIUS. Was schiert mich eine Welt in Waffen! In diesem Staube laß mich ewig ruhn, den Dein schneeiger Fuß geweiht! Sieh, meine Seele drängt sich ins entflammte Auge, das Deines sucht!

POMPEIA. Laß mich!

CLODIUS. O Deine Stimme! Brauste rings die Welt in Flammen auf – ich höre sie allein. Nicht wie ein Modeherr in wohlgeschützter Laube von Liebe schwatzt in wohlgesetzten Phrasen – nein, unterm Laubendach sausender Speere, wie's einem Sohn des Mars gebührt, zujubeln möcht' ich Dir: Ich liebe Dich!

POMPEIA. Schone mich und fliehe! Mein Gatte –

CLODIUS. Der ist fern und Niemand hört mich hier als Venus meine Gönnerin. Und mag die Erde selbst erbebend öffnen ihren Schlund – von dieser Stelle weiche ich nicht!

CÄSAR während der letzten Worte eingetreten. Erlaube mir zu zweifeln! Clodius springt auf. In Dein Gemach, Tochter des Pompeius. Unschuldig bist Du? Möglich. Doch an des Cäsar Gattin darf auch nicht der leise Schatten eines Zweifels haften. Pompeia ab. Nun zu uns, mein alter Freund!

CLODIUS trotzig. Straf' mich Mars, Herr! Scheinst ja sehr vertraulich.

CÄSAR kühl. Ich liebe die Herablassung. – Reden wir von Geschäften! Lieber Mann, Du bist in meiner Hand. Ich werde die Sache dem Senat anheimstellen. Mit erschütternder Beredsamkeit – Du hast ja wohl viele Freunde im Senat?

CLODIUS verbissen. Keinen.

CÄSAR. Schade! Der Censor hat also dann die Gewogenheit, Dich Deiner senatorischen Pflichten zu entheben. Sodann markige Rede Cato's über Zeiten und Sitten – dann schimpfliche Ausstoßung – dann groß Geschrei in der Gesellschaft, höflicher Hinauswurf – die Stadt zeigt mit Fingern auf Dich. Ja, es ist 'was Schönes um den gesellschaftlichen Ruf, besonders für Die, so davon leben.

CLODIUS. Ich bin in Deiner Hand. CÄSAR. So denke Dir mal, ich setzte Dir den Dolch an die Kehle. CLODIUS mit Humor. Ich denke mir.

CÄSAR. Beantworte demnach meine bescheidenen Fragen gewissenhaft wie unter der Schärfe des Schwertes. – Deine politischen Ansichten interessiren mich. Was bist Du eigentlich?

CLODIUS. Catilinarier, Vorfechter der Menschheit! CÄSAR rasch. Das ist nicht wahr. CLODIUS. Auch die Regierung – CÄSAR. Das ist nicht wahr. CLODIUS. Je nun, ich fechte auf eigene Faust. CÄSAR. Das heißt, Du verkaufst Dich dem Meistbietenden. Das bin aber ich. CLODIUS. Du? CÄSAR. Ich. Ich ruinire Dich, wenn Du mir widerstrebst. Was willst Du mehr? CLODIUS lacht. 's ist aber auch wahr! – Was forderst Du?

CÄSAR. Vor allem verfüge ich über Deine Banden für die bevorstehende Wahl. Du magst einen leichten Druck auf die freien Wähler verüben, wirst ihnen mit Knüppel und Messer den rechten Weg weisen. Ein Diener tritt auf und spricht leise mit Cäsar.

CLODIUS. Den rechten? Welchen? Diener ab.

CÄSAR. Schlau bemerkt. Da meldet sich eben der Wegweiser. Zeigt auf ein Nebengemach. Dort hinein. Ich werde Dich rufen. Clodius ab. Pause. Dann tritt Catilina ein, vermummt. Beide grüßen stumm. Catilina schweigt stolz.

CÄSAR. Man sagt. Du hast Dich an Gift gewöhnt. Darum schlägt der Haß aller Götter auch so gut bei Dir an. Du bist sehr stolz.

CATILINA. Ich bin Catilina – was sollt ich anders sein? CÄSAR trocken. Ein Hochverräther.

CATILINA. Das weiß ja der Koth auf der Gasse. Bah, so reden wir doch! Du giebst mir Deine Stimme zu meiner Wahl?

CÄSAR. Nein.

CATILINA. Nein? Damit wären wir im Reinen. Aber das Wichtigste hast Du vergessen: Dich selbst. Meine Späher nisten in allen Ritzen des Erdballs: Pompeius ist bald wieder da. Ich weiß es so gut wie Du.

CÄSAR kalt. In der That?

CATILINA. Die That wird schon kommen, wenn er kommt mit seinen Legionen. Er ist Dir gram, Dein theurer Schwiegervater. Man weiß, daß Deine Gattin viel über Dich klagt. Eine Ehe ist leicht gelöst.

CÄSAR. Wirklich? Für sich. Ich komm' ihm zuvor, verstoße Pompeia wegen der Clodius-Sache. Laut. Was soll das alles?

CATILINA. Nun, ich dächte, einem so geistvollen Haupt wie Dir fällt die Folgerung nicht schwer. Er kommt an und Du machst Dich aus dem Staube. Denn Deine Rolle ist ausgespielt. Dein meisterliches Schaukeln zwischen den Partheien hilft da nichts mehr.

CÄSAR. Meinst Du, edler Sergier?

CATILINA. Ja, ich meine, edler Julier. Ich meine auch: Wer bezahlt Deine Schulden? Um im Ton des alten Crassus zu reden: »Geschäft ist Geschäft. Wann, theurer Busenfreund?«

CÄSAR leichthin. Wann! Wenn ich meine Provinz habe.

CATILINA. Deine Provinz? Geduld, junger Hahn! Wer verschafft sie Dir? Pompeius? Gewiß nicht. Aber der Consul Catilina tilgt Deine Schulden Pause.

CÄSAR. Bestechung? – Der Consul Catilina? Ich sehe Monarchieen in Deinem Blick. Hebt auf den Schild ihn, den Rebellenkönig!

CATILINA. Ha! – Doch um in Vater Cato's Ton zu reden: ›Cäsar, Du bist des Todes schuldig: Hast von Königen geredet!‹ Pah, ich bins. Für leere Titel bin ich viel zu groß.

CÄSAR für sich. O Wahn der Größe! Laut. Wenn nicht etwa mit dem Sturz vom Tarpejischen Felsen, wie willst Du enden?

CATILINA. Vielleicht, wenn der Tag der Freiheit flammend aufgeht über zerbrochenen Ketten und Lictorbeilen, wenn der Panzer der Adelsnarrheit und das erschlichene Goldkleid der Plutokratie zum Kehricht der Vergangenheit verscharrt, aus dem nur noch historische Lumpensammler ihre Säcke füllen, – dann gieß ich Gift in meinen besten Falerner und mit dem letzten Schluck ruf ich zum letzten Mal: Freiheit! – Vielleicht! vielleicht auch nicht! – Du giebst mir Deine werthe Stimme?

CÄSAR. Vielleicht! vielleicht auch nicht. CATILINA heftig. Es ist der Worte genug. Ja oder nein?

CÄSAR fest. Lucius Sergius Catilina, Du bist ein großer Mann. Dein Leib ist von Granit und Deine Seele glatt wie die Schlange. Lucius Sergius Catilina, Du bist ein elender Selbstling. Jeder Legionär, der seine verblichene Rüstung putzt, ist ein Gott neben Dir im Wahn Deiner Grüße.

CATILINA. Du bist – – zu Hause.

CÄSAR. Ruhig und höre mich an! Du glaubst die Menschen zu kennen, mich auch? Hoher Menschenkenner, und das ist das Ganze? Wolltest den Cäsar kennen und weißt nicht einmal, daß er ein Römer ist?

CATILINA. Was soll das?

CÄSAR. Ich spreche römisch. Auch meine Toga hat den historischen Zipfel: Krieg oder Frieden! Ich diktire ihn – Du nimmst ihn an. Wo nicht – gut. Aber ich, Julius Cäsar, schwöre bei den Töchtern der Nacht und bei Fortuna, meiner Göttin, sei's geschworen: Mag Säbelheld Pompeius die Welt in einem einzigen Brand in Asche stürzen, wegschreitend über alle Pläne, die mir theuer – ich hindr' ihn nicht. Und risse er sich einen ewigen Ruhm selbst von den Sternen, während müßig ich hier lungere, und kreuzte er mir völlig meiner Bestimmung Laufbahn – mag er's thun! Doch wie der Leu, den man im Rücken faßt, sich auf den Hauptfeind stürzt, der vorn ihm droht, – so stürz ich mich auf Dich, nicht eher rastend, bis Du niedersinkst.

CATILINA. Und was heischest Du so drohend?

CÄSAR. Wage keinen Schritt, der den inneren Bestand des Römerstaats gefährdet! Wohl kenn' ich Deine Verbrüderung mit Etruskern und Samniten. Man faselt von Autonomie der Provinzen, von einer Auflösung in selbstständige Communen, von einem Republiken-Bündel. Hochverrath an der Majestät der Res Publica, der Civitas Romana! Die Demokratie mag siegen, aber nimmer die Anarchie. Eher sterb ich auf den Ruinen des Capitols, ich, Caius Julius Cäsar!

CATILINA für sich. Was werd ich verlieren? Raum. Und gewinnen? Zeit. Laut. Deine Bedingungen?

CÄSAR. Du setzest mich stets in Kenntniß von allen Beschlüssen Deines Bundes. Du verbürgst mir schriftlich Deinen Einfluß für das nächste künftige Consulat, das mir gehört. Und nur ein Catilinarier darf diesmal siegen, Du oder Marc Anton. – Nicht? Wohlan, am Wahltag sehen wir uns wieder.

CATILINA. Es sei. Ich verbürge Dir's. Ironisch. Wie lange gilt der Vertrag? CÄSAR trocken. Bis die Umstände Dir erlauben ihn zu brechen.

CATILINA. O mein Cäsar, Du kennst meine schwache Seite. Wenn ich bedenke, daß dieser theure Pompeius und die Cäsareaner seines Schwiegersohns sich binnen weniger Monde gegenseitig die Hälse brechen, dann träufeln mir Thränen einer gewissen Rührung hernieder. Lebwohl! Deine Bekanntschaft war mir angenehm.

CÄSAR. Lebwohl! Besuche mich bald wieder! Catilina ab. Er irrt sich in mir. Siegt er, wird er vollen den? Er wird nicht. Nicht Zwei ja schufen die Unsterblichen zum selben Werk. Drum, Catilina, falle!

Boudoir der Fulvia. – Fulvia am Fenster, hinausspähend. Clodius steht hinter ihr.

FULVIA. Eine Schwüle vor'm Gewitter! Alles still. Nur vom Marsfeld her dröhnt das Gewoge der Massen heran, die am Damm der Gesetze rütteln. Die Kugeln, die in die Wahl-Urne rollen, sind heut die ehernen Würfel des Schicksals. Horch, vom Ida donnert der siegspendende Zeus! Ach, das sind ja Märchen. Dreht sich brüsque um. Was bedeutet das, mein Schöner? Du willst nicht?

CLODIUS. Auf Ehre, nein. FULVIA. Warum nicht? Bist Du schlecht bezahlt? CLODIUS. Ich verachte schnöde Gewinnsucht. Meine Ehre – FULVIA. Was hast Du mit der Ehre zu schaffen! Hilf dem Catilina! CLODIUS. Mein sittliches Gefühl verbietet's Für sich. und Cäsar. FULVIA. Ei still! Du, der Todfeind Cicero's –

CLODIUS. Nein, nein, Catilina ist das Verderben. Eine Götterstimme sprach zu mir Für sich. und Cäsar. Laut. Doch auch Cicero – ich verschmähe seine Silberlinge. Nie vermöchte er mich zu kaufen!

FULVIA. Weil er kein Geld hat! Ich glaube Dir, edler Patriot. – Bist Dir also selbst eine Partei?

CLODIUS. So ist's. Ich bin mir selbst eine Partei, allein Für sich. mit Cäsar. Sieht hinaus. Wird eine heiße Arbeit, viel Blut. Auf hundert Mann Todte und Verwundete muß ich rechnen.

FULVIA. Auf der Verlust-Nechnung für Schmerzensgelder wohl das Doppelte! CLODIUS. Tief schmerzet mich Dein Mißtraun. Ich liefre nur solide Waare. Ruft hinaus. He, Sulla! SULLA draußen. He, Pulcher! Erwünscht! Bin im Augenblick oben!

FULVIA. Man erstürmt schon die Häuser, wie es scheint. Sulla tritt auf. Wie, Cornelius Sulla? Ich empfange nie am Morgen.

SULLA. Nie hätte ich gewagt, Allerschönste – aber dieser Tag bricht alle Schranken. Man ist außer sich. Die Gracchen steigen aus ihren Gräbern, die Welt geht unter und ich bin Wahlbeamter! – Du, Clodius, was ich sagen wollte, der Julier hat uns, dem Jungen Rom, uns von der guten Gesellschaft, eingeschärft, gegen den Sergier zu stimmen. Natürlich, wir stimmen alle mit Cäsar. Ich wette ja immer auf Cäsar's Pferde.

FULVIA. O gesinnungstüchtige Wähler! O Curtiusse, begeistert stürzend in den Schlund – der Geldsäckel!

CLODIUS. An die Arbeit! Ich werde für das Vaterland aus allen möglichen Wunden bluten – und's ihm gehörig auf die Rechnung kerben. Haha! Clodius und Sulla ab.

FULVIA schaut hinaus. Was seh ich? Catilina selbst – wie, er betritt mein Haus! Er kommt hierher? Ich verstehe. Er mißtraut mir und will mich nahe im Auge behalten.

CATILINA mit Sempronia und Cethegus tritt auf, in weißer Toga, aber behelmt. Verzeih uns, liebe Fulvia, wenn wir die traute Bundesschwester stören. Die Lage Deines Pallastes, so nah an den Comitieen, zwingt uns, unser Zelt hier aufzuschlagen. Es trägt ein rothes Banner, dies Zelt, was ja nach alter Römersitte eine bevorstehende Schlacht verkündet.

FULVIA. Um so mehr Ehre für Deine treue Clientin, großer Feldherr.

CATILINA. Cethegus, Du bearbeitest also die zehn ersten Conturien der dritten Klasse. Sprechen leise weiter.

SEMPRONIA. Fulvia, hör mich an! FULVIA. Was befiehlst Du, o meine Busenfeindin?

SEMPRONIA. Wir hassen uns und haben uns stets gehaßt. Deine kalte Gefallsucht, dies Maskenspiel mit Deiner eignen Seele – ich verachte solche Mummerei. Ich bin ganz Flamme, ganz Leidenschaft.

FULVIA. Wozu diese zarte Mittheilung?

SEMPRONIA. Du wirst es hören. In dem bittern Haß des gemeinsamen Grimms ist mein kleiner Haß nur ein Tropfen. Mein kleines Herz – es schlägt in Catilina's großem Herzen. Drum sei abgethan Liebe und Haß vergangener Tage. Catilina's Feind und wär's mein Bruder – zwischen ihm und mir sei die einzige Brücke das Schwert. Catilina's Freund und wär's meines Vaters Mörder – ihm biet ich die Rechte zu Schutz und Trutz. Du hast Dich uns heimlich zugesellt in letzter Zeit, bist von Cicero abgefallen und bemühst Dich in unsrem Sinne – gut. Aber eins wisse: Ich folge Deinem Schlangenpfad. Hoffe nicht mit gleißender Windung uns zu berücken. Umzüngelst Du uns mit giftigem Verrath, so mag ich untergehn, aber Du mit mir!

FULVIA. Mach Dich nicht lächerlich! Metell tritt auf. Ein neuer Mars mit dem Heldenschweiß!

METELLUS. Schöne Domina, gewähre mir Gastrecht. Bin hierher befohlen. Salutirt vor Catilina. Melde mich zu Diensten Na, da sind wir ja alle beisammen, wir von der Verschwörung.

CETHEGUS. Wie steht's draußen, Meteller? METELL. Können schlafen gehn. Jetzt wählt sich's ganz von selber. Wer will auch uns 'was anhaben? CATILINA schwer. Das Fatum.

METELL. Was, dies überwundene Ding will sich unterstehen, mit uns von der Verschwörung zu spaßen? Nichts da!

CATILINA. Hm, die Welt ist ein Klumpen Zufall und der Menschen Pläne eine hohle Wahrscheinlichkeitsberechnung. Nimmt seinen Helm ab. Aus diesem Kelch des Kriegs, lüstern nach triefendem Blute, Trankopfer spende ich Dir bald, Fortuna! Umstülpend diese Opferschale, weihend die ersten rothen Tropfen – sei mir fürder günstig! Aus diesem blutigen Kelch will ich mein Glück auf einen Zug in dieser Stunde leeren. Du unsichtbare Macht, die mich gesetzt über der Menschen Scheitel! Du weißt es ja, daß Du mich ausgerüstet und gesandt, um zu vollenden. Aller Zukunft Sterne sie spiegeln sich in meiner dunkeln Seele. Ja, ich bins, keiner sonst. Ich bin allein, ich bin der Herr der Welt.

ALLE. Heil dem Erretter!

FULVIA für sich. Hofnarren ihr! Rast dieser Mensch und steckt euch alle an mit seinem Rasen? Wie der göttliche Sauhirt Eumäos in Mitten seiner Herde, schiebt er dies Gesindel im Kofen hin und her wie ihm beliebt. Laut. Doch halt, was fehlt dem großen Mann?

SEMPRONIA die Andern abwehrend. Ruhe! Kümmert euch nicht darum! Es geht so schnell vorüber wie es kommt. Er leidet an solchen Anfällen.

CATILINA epileptisch erregt, Schaum vor dem Munde, halblaut vor sich hin. Allein? Ich bin nicht allein, bin nicht einsam. Nahen dort nicht die Schatten der Todten? Haha, sie sitzen auf meinem Lager und bohren langsam langsam den Dolch zurück in mein Herz, den Dolch, der das ihre traf. Hei, sie schleifen mich hin an den Rädern der Gedanken und peitschen mit der Geißel der Reue. Fieber des Gewissens, heran! Mir ist so kalt. Einst war ich Stahl, jetzt bin ich Eis. Ich bin abgestorben, verschneit ist jede Blume. Herauf, ihr alten Schatten! Doch ihr wollt nicht kommen, ich bin so vernünftig. – Wie, sollen sie lebend den Titanen schmieden an den Fels ihrer Rache, soll der Geier nach meiner Leber hacken? In den Abgrund stürz ich hinab und Du, o Nacht, empfange den sinkenden Sohn! Hörner hinter der Scene. Schafft mir die todten Augen weg!

SEMPRONIA. Ha, das Zeichen zur letzten Abstimmung! Auf, Sergier, erwache!

CATILINA. Ich bin erwacht. – Hinfürder keine Götter neben mir! Wie ein Königstiger will ich jagen durch die ächzende Welt und Generationen erdrücken mit meiner Tatze. Hätt' doch das All der lernäischen Hydra ewig neu aufkeimendes Haupt, daß ohne Ende ich führen könnte den Todesstreich! Ich will euch!

SEMPRONIA. Die Sonne umfließt sein Haupt mit einem Strahlenreif. Schon seh ich das Diadem um seine Schläfe geschlungen.

CETHEGUS. Hör' die Tuben! Sie laden Dich zum Siege, Imperator.

CATILINA setzt den Helm auf. Die Weltgeschichte steckt in diesen Hörnern. Die Arena ist bereit, das Theater voll, die Wetten gebucht. Ich – wette auf mich selber – eine Welt!

IV.

»Jaja, so ganz Unrecht hast Du darin nicht. Es giebt Leute, die wähnen, daß sie den Weihekuß des Realismus erhielten, weil sie ein paar ›Verhältnisse‹ und Ehebrüche auf dem Gewissen haben. Nächstens wird man hie Befähigung zum Realismus nicht nach der Beschaffenheit der Hirnsubstanz, sondern nach der Befähigung der Genitalien beurtheilen, – womit freilich auch vielen ›Idealisten‹ gedient wäre.«

So ging Leonhart auf die heftigen Ausfälle ein, mit welchen Schmoller die ›sogenannten Realisten‹ bedachte, da es natürlich nach seiner Schätzung überhaupt nur einen Realisten gab: nämlich ihn selber.

»Diese Me–nschen!« polterte er mit tiefer sittlicher Entrüstung. ›Bei denen der ganze Realismus im Ausmalen erotischer Situationen besteht! Als ob darin der Realismus steckte! Es ist zum Todtlachen. Noch nicht ins Leben hineingespuckt haben sie alle und glauben wunders was Großes zu vollbringen, wenn sie ihre kleinen Schäferstündchen lecker beschreiben! Wenn man nicht in Fabriken aufgewachsen ist, darf man überhaupt keine socialen Romane schreiben.‹

»Sociale – hm, in diesem Sinne, ja! Dann hätte aber auch Zola bis auf ›Germinal‹ nichts geleistet. Nein, nein, es regt sich doch allerorts ein sehr gesundes Streben. All diese neuen Unternehmungen und Bestrebungen, systematisch Stück für Stück das moderne Leben, speziell dasjenige Berlins, zu zergliedern auf der Grundlage einer wahren Anschauung der Dinge, sind an sich schon achtungswürdige heilsame Zeichen der Zeit. Mag auch das Dichterische in solchen Versuchen noch einer beträchtlichen Steigerung bedürfen, mag auch der Realismus noch etwas romantisch und zufallmäßig gefärbt sein, – nur entschlossen weiter auf dieser Bahn! Dem Muthigen hilft das Glück. Es muß durchaus mit der Süßholz-Litteratur aufgeräumt werden und der Schmerz des wirklichen Lebens die Kunst beherrschen. Solche Kunst allein kann sittlich wirken, da nur sie den Menschen lehren kann, sich über die Wirklichkeit entsagend oder beherrschend zu erheben. Die akademische Lügenkunst wirkt entsittlichend, indem sie ein entstelltes, optimistisch gefärbtes Bild des Lebens bietet, durch dessen Betrachtung der Ekel an der brutalen Wirklichkeit höchstens gesteigert werden muß. Nicht die Dinge ›verschönern‹, sondern sie verstehen ist gesund. Schön ist allein die Wahrheit. Wahr aber ist nicht nur das relativ Häßliche, sondern auch das relativ Schöne. Der Realismus unsrer heutigen colorirten Photographieen in der Malerei ist weit entfernt von dem gesunden elementaren Realismus der Renaissance-Meister. Und Zola ist noch lange kein Shakespeare. Heutzutage herrscht eine so trostlose Begriffsverwirrung, daß man kaum mehr weiß, was unter ›Idealismus‹ und ›Realismus‹ eigentlich zu verstehen sei. Wenn Einer geleckte Sonette drechselt oder hochtönenden Jamben-Bumbum ausspeit, heißt er ein idealer Dichter. Und wenn ein genialer Neuschöpfer in seine ›idealen‹ Conceptionen sachgemäße Cynismen verwebt, heißt er ein schmutziger Zolaist.«

»Hahaha, so nennen sie uns Beide ja auch!« lachte, Schmoller auf, indem er innerlich dachte: Na, auf Dich paßt's ja auch. ›Und die Idealisten – hoho, die muß man mal bei Lichte besehen.‹

»Ganz richtig. ›Idealist‹ sein bedeutet heut: auf die Vorurtheile und den Tagesgeschmack spekuliren. Christus hieße womöglich: ›Ein polternder Realist‹.«

Beide schritten der Dresdener Straße zu. Man wollte dort mehrere socialdemokratische Führer in einer Kneipe treffen, mit denen Schmoller einige Bekanntschaft pflog. Aus weiser Vorsicht kokettirte er nebenbei auch so lange mit den Christlich-Socialen, bis er deren Treiben kaustisch durch die Zähne zog. Denn Abwechselung muß sein. Er mokirte sich zugleich über Beide.

Als man jedoch an dem Rendezvous-Ort anlangte, ergab sich, daß die Herren hinterlassen hatten, sie würden ins ›Café Liedrian‹ steigen.

»Hoho, famos! Da werden nämlich die Agitationsgelder vom Klempner-Strike mit den Dirnen durchgebracht!« raunte Schmoller seinem Freunde ins Ohr, hochbegeistert von dieser Entdeckung einer neuerfundenen Schlechtigkeit. ›Also vorwärts, das wird ja famos! Du bist ja da bekannt, he, was, wie?‹ Sein Auge blinzelte boshaft.

Leonhart zauderte einen Augenblick. Eine fatale Situation. Doch sich sperren, schien hier das Ungeschickteste. Sie marschirten also dorthin.

Schmoller befand sich in seiner süffigsten Schimpf-und Verläumdungsstimmung. Er verbreitete gleichsam eine unreine Athmosphäre um sich her, indem er über Jeden irgend eine dunkle Geschichte zu erzählen wußte. Seine theoretische Menschenverachtung verschanzte sich dagegen, edle Gefühle und Gedanken zu begreifen, weswegen er stets nach unlauteren Motiven forschte.

»Hihi,« kicherte er, der Eine von den Kerls, der Redacteur Hermann Garibald Hoppel, – na der richtige Fatzke! Trägt den Spitznamen ›der Garibaldianer‹, weil sein Alter ihn aus Begeisterungs-Schmuß für den Italiano ›Garibald‹ getauft hat. Trieb sich in Süd-Amerika herum, weil er als Hauslehrer faule Chosen mit der Tochter vom Hause trieb. Bildete sich als Goldgräber in Chile zum Bret Harte'schen Strolch-Goldherz aus – punktum, streu Sand drauf! Immer zugeknöpft und finster. Hat ganz entschieden einen Mord da drüben auf dem Gewissen. Spielt den Vornehmen, dabei ein Schmutzian bis über die Ohren. Der Andere – o, auch köstlich! Ein riesiger Antisemit und heirathet drum immer Jüdinnen. Jetzt hat er schon die Dritte, aber die brannte ihm durch und macht unter dem Tittel ›Schriftstellerin‹ durch ganz Deutschland litterarische Besuchsreisen bei allen schönen und vermögenden Federschwingern. Verstandez-vous? Paß mal auf, zu Dir kommt sie auch noch.

Leonhart lachte. »Du hast wieder. Deinen guten Tag. Die Menschen sind weder so gut noch so schlecht, wie man denkt oder wie man sie schildert. Das ist, glaube ich, ein altes Axiom – mir aber drängt es sich auf wie etwas Neues. Denn jeder Vernünftige wird doch zu gleicher Erkenntniß gelangen.«

»Ach, habe Dir man nicht! Alles oberfaul, alles.

Ueberhaupt schon die Jüdinnen! Wenn ich denke, als ich bei dem scheußlichen Millionenschinder Ruperti (wie die Bande sich immer auf's Italienische raustauft!) Sekretär war! Die dicke Madam geilte sich immer an mir ab und das Töchterlein Laura – na, die Kröte! Ruft mich mal heimlich ins Badezimmer, als sie halb am Ausziehen ist, natürlich in aller Unschuld – na, ich will nichts gesagt haben!« Schmoller strahlte nicht wenig von dem stillen Bewußtsein, er sei doch ein verdammt schöner Kerl. »O über diese ganze versumpfte Gute Gesellschaft! Da begreift man Dostojewski's ollen ›Raskolnikow‹, der einfach hingeht, um solch 'ne alte Geldlaus todtzuschlagen.«

»Hm,« meinte Leonhart. »Aus Faulheit und Größenwahn. Dem Raskolnikow spukt ja fortwährend Napoleon im Gehirn – das hat Dostojewski sein berechnet.«

»Na ja, so wie Napoleon Dir im Gehirn spukt, Raskolnikowchen,« grölte Schmoller.

»Mir? Danke!« brummte Jener. »Ich dürfte denn doch wohl mehr die Rolle des Rasumichin spielen, bei Deiner eignen hohen Beanlagung zur Raskolnikow-Rolle.«

»Was meinst Du damit?« fragte Schmoller mir einem stechenden Blick. »Uebrigens, das verstehst Du gar nicht. Ueber Raskolnikow kann nur Der mitreden – ja, mein Sohn, das ist die Noth, die Noth, die Du nicht kennst.«

»Hm, mein Theurer, ich erlaube mir zu bemerken, daß der Artillerielieutnant a.D. Bonaparte wohl mehr gehungert hat, als unser imaginärer Freund Raskolnikow, der überall herumlumpt, – was Bonaparte gewiß verschmähte. Und doch ging er keineswegs hin, um eine alte Frau zu raubmorden, sondern er erwartete standhaft seine Stunde und eroberte die Welt. Wenn Du nicht verstehst, wie groß dieser Unterschied, so hast Du Dostojewski's tiefe Psychologie gar nicht verstanden.«

»Pschah! Wie gesagt, was weißt Du von der Noth der untern Schichten!«

»Und was weißt Du von einer philosophische Lebensauffassung! Das Allerbeste ist: zu lachen, sintemal so viel Lächerliches jede Minute wächst. Lache nur viel und vor allem leide nicht an Hyper-Gerechtigkeit, welche dem Pharisäismus sich manchmal nähert. Gott sei mir Sünder gnädig! Man muß mit Hamlet sagen: Ich bin selbst leidlich tugendhaft, dennoch stehn mir mehr böse Wünsche zu Gebot, als ich Macht habe sie auszuführen. Wenn sie nicht herauskommen, wer weiß, ob das mein Verdienst ist oder das der Umstände!«

»Paperlapapp! Du red'st wie der Blinde voll der Farbe. Ueber das wahre Elend hilft all so'n Gethue nicht weg. Gestern genoß ich den Vorzug, einen Kohlenschipper zu sprechen, der zehn Jahre mit gebrochenen Beinen in einem dustern Keller lag. Tableau! Ach und dann all die andern Schandthaten! Daher auch die Lüderlichkeit bei den armen Leuten. Alle Konfirmandinnen von vierzehn Jahren sind schon keine Jungfern mehr. Da hilft nur noch praktisches Christenthum. – Ja wohl, meine Tochter, hier hast Du einen Groschen!« Er warf einer bettelnden Streichholzverkäuferin einen Nickel hinein und stieg erhobenen Hauptes, im Bewußtsein eines solchen praktischen Christenthums, die Stiegen zum ›Café Liedrian‹ hinan.

Die Ueberraschung Frau Helenens beim Erscheinen Leonharts spottet aller Beschreibung.

»So? Mit den Kerls gehst Du um?« raunte sie ihm ins Ohr und girrte dazu zärtlich: ›Federigo!‹

Da er peinlich berührt zusammenzuckte, girrte sie weiter: »Ach simulire man nich! Ich weiß ja, wer Du bist. Und jetzt würde sich ja doch Einer von den Kerls da verplappern. Na, der Schreck, als ich Deinen Namen in Deinen Handschuhen las und mich nachher orientirte, wer Du bist. Also der berüchtigte Schreihals bist Du! Nein, was man nicht erlebt! Und nun giebst Du Dich gar mit solchen Leuten ab! Der da, den Du da mitgebracht hast, der mit dem Havelock – o dem hab' ich schon mehrmals Feierabend geboten, weil er sich so unanständig aufführte. Bei mir herrscht ein anständiger Ton. Ach und Deine andern Champagner-Freunde da hinten! Das scheinen mir auch die Nichtigen. Soll mich wundern, ob Die solche Zeche machen können!« So schwatzte sie fort, fiel ihm aber um den Hals, als er sie ärgerlich abschütteln wollte: ›Ach, ich liebe Dich ja doch, alter Freund! Dadrum keine Feindschaft nich!‹

Die großen Freiheitsapostel flegelten sich hinten in der Weinstube auf dem Kanapee umher und mehrere Champagnerflaschen kollerten bereits geleert aus dem Boden. Leonhart dachte unwillkürlich an eine gemüthliche Orgie der alten Schreckensmänner des Wohlfahrtsausschusses. Er wurde mit Halloh empfangen und bald plätscherten alle wie der Fisch im Wasser in Zotenreißerei umher. Der antisemitische Jüdinnen-Verehrer besah die Bilder an der Wand, welche Nuditäten durchsichtigster Gattung darstellten. ›Ist die nackigt!‹ rief er mit Extase. »Das Wasser läuft Einem im Munde zusammen!«

»Greis, schäme Dir!« kicherte Schmoller. Der Greis schlug sich jedoch kernig auf die Heldenbrust und betheuerte, indem er die holde Olga umarmte: ›Bin ich ein Mann? He, kann ich noch?‹

Olga gab alles zu, obschon sein Wein-Odem sie so widerlich betäubte, daß ihr der Fächer, mit welchem sie stets als grande dame zu paradiren pflegte, aus der Hand fiel.

»Ach, Sie wissen ein Weib so zu nehmen!«

»Na und ob! Wir sind doch auch noch so gut wie so'n oller laffiger Lieutnant mit 'nem Bürstenladen in der Tasche, wä?«

Hier hielt der finstre Redacteur, der laut Schmoller in Amerika einen Mord auf dem Gewissen hatte, die Gelegenheit für gekommen, um den ›verehrten revolutionären Dichter Leonhart‹ wegen seines Vortrags über den Größenwahn des Militarismus zu preisen.

»Ja, da haben Sie mal wieder einen Schuß ins Schwarze gethan, den Nagel just auf den Kopf getroffen. Hier sitzt der Kern alles Uebels. Der nationalökonomische Ruin des Staates wird durch das Wuchern dieses unproduktiven Standes unvermeidlich. Soll das arme überbürdete Volk etwa den Kastendünkel des rothen Kragens mit seinem blutigen Schweiße färben?«

»Hm, da haben Sie mich nun freilich doch nicht ganz verstanden,« wehrte Leonhart ab. »Gegen den Offizierstand, der heut das Ritterthum darstellt, habe ich gar nichts. Im Gegentheil. Die Offiziere müssen sich durch Kastengeist entschädigen. Denn abgesehen von schlechter Bezahlung (wofür freilich die Pension eintritt), wie entsetzlich steht es mit dem Avancement! Mit 42 Jahren Hauptmann – also etwa das, was in einem großen Handlungshause einer der Kommis I. Klasse bedeutet! Man muß hier unbedingt das Talent haben, alt zu werden. Gott sei Dank, sind 90 Procent der Offiziere ganz mittelmäßig und wählen den Beruf nur aus sozusagen physischen Gründen, weil sie für einen höheren Beruf keine Intelligenz haben. Allein, die höher Veranlagten, – was müssen die leiden! Denn in allen unteren Graden hilft ihnen ihre militairische Begabung größeren Stils ja nichts. Sie müssen günstigstenfalls 60 Jahr alt werden, um in eine Stellung zu kommen, wo sie ihr Führertalent entfalten können.«

Dieser belehrende Einwurf mißbehagte den Andern offenbar. Ebenso, als einiger Unsinn über den nächsten Krieg und Boulanger's Rolle vorgebracht wurde und Leonhart ruhig urtheilte: »Boulanger scheint der Dumouriez der neufranzösischen Republik. Solcher Leute Augenmaß sieht in einer Revolution keine Empörung, sondern eine Verschwörung. Ein geborener Revolutionär ist nie ein wahrer Republikaner. Während er mit dem einen Auge der Monarchie droht, blinzelt er liebäugelnd mit dem andern Auge nach ihr hin. Mit der Keckheit eines Prätorianerobersten gedachte Dumouriez die Orleans gegen den Convent auszuspielen. Wer weiß, ob nicht Aehnliches Boulanger vorschwebt! Da ihm der Einfluß im ›Senate‹ mangelt, so gedenkt er wie Cäsar das Heer zu seinem Werkzeuge zu machen. Die Legionäre Cäsars aber waren eben – Cäsarianer, privilegirte Räuber; die Soldaten des Dumouriez aber waren Bürgersoldaten, denen blinder Soldatengehorsam fremd, und jener Lysander der großen Revolution wurde alsbald von der Bühne verjagt. Der Convent nannte ihn den ›großen Verräther.‹ Ob Boulanger ein ähnliches Loos zu fürchten hat? Nun, er hat kein Jemappes in seiner Vergangenheit; dafür hat er den Ruhmestag am Lyoner Bahnhof und die Flucht vor dem Gesindel seiner Anbeter auf einer Lokomotive. Der Radau-General, der ›St. Arnaud der Tingeltangel‹! Ein klassisches Sinnbild für den Reklame- und Strebergeist unsrer Epoche! Lachen muß ich nur, wenn die Zeitungen durch ihr Schimpfen solch' gefährliche Elemente unschädlich zu machen denken. Heutzutage bläht man durch jede Art von Oeffentlichkeit die Leute auf. Man beschuldige und ›vernichte‹ die Leute kräftig mit Druckerschwärze – das ist der Weg, um ihren Namen aller Welt geläufig zu machen. Man muß sehr talentlos oder energielos sein, um auf solcher Schimpf-Basis nicht ein Piedestal für sich zu erbauen.«

»Sehr richtig!« rief der finstre Volksredacteur mit dem Christuskopf. »Uns hat das Socialistengesetz und der Belagerungszustand groß gemacht. Das Schimpfen und Verfolgen zeigt doch immer Furcht.«

Aus dieser Anknüpfung entspann sich alsbald naturgemäß eine socialpolitische Debatte, während die Mamsells sämmtliche Flaschen unterdessen ausbecherten, über den Associationsstaat. Da hatte Jeder sein Steckenpferd. Der jüdinnenfreundliche Antisemit bestand vor allem auf freier Liebe und Aufhebung des Erbrechts. Schmoller bezeugte eine besondere Wuth gegen das Privatkapital und der düstere Redacteur plaidirte für das Genossenschaftswesen als Monopol. Leonhart ließ den Wortschwall eine Weile über sich ergehen, dann aber hielt es ihn nicht länger und sprach: »Meine Herrn! Die socialistische Doctrin entstammt dem Schädel überspannter Ideologen, welche sich im Mantel des naturwissenschaftlichen Materialismus drapiren, um die wahren Materialisten, die rohen Pöbelmenschen, über ihr Wesen zu täuschen. Der Socialismus ist in sich die baare blanke Unmöglichkeit. Denn erstens müßten, um ihn durchzuführen, die Bedingungen der Naturgesetze umgestoßen und eine gewaltsame Herabschraubung und Nivellirung aller Einzelkräfte auf ein Durchschnittsmaß ermöglicht werden. Sie werden mir nun versichern, das socialdemokratische Drillzuchthaus werde der naturgemäßen Aristokratie des Geistes gebührend Rechnung tragen und dieselbe als Beamtenthum der großen Staatsfabrik, als patentirte Erfinder und Ingenieure verwenden. Allein, wie lange würde es dauern und die souveraine Arbeitermasse, willenlos thierischen Instinkten folgend, würde diese geistige Control-Aristokratie mit demselben Haß empfinden, wie die frühere Geld- und Geburtstagsaristokratie. Ja, die Möglichkeit ist für den Psychologen nicht ausgeschlossen, anbetracht der vollständig sinnlichen und äußerlichen Auffassung der Durchschnittsmasse, daß die Geistesaristokratie nicht einmal den Respekt bei dem gemeinen Mann erzwingen würde, den er jetzt mürrisch dem Geld und Titel entgegenbringt. – Andrerseits aber würde höchst wahrscheinlich diese Beamtenaristokratie selbst ihr Loos bald unzulänglich finden und ein höheres Uebergewicht, ihrem Werth gemäß, dem Handarbeiter gegenüber beanspruchen, als der socialdemokratische Staat ihnen nothwendig zugestehen kann. – Wie will sich nun dieser Staat vor all den Unzufriedenen schützen? Ah, an Gewalt wird es ja nicht fehlen, vor scharfen Mitteln werden die großen Robespierres des Socialismus nicht zurückschrecken – man wird die Staatsgewalt schon aufrecht erhalten, nicht wahr? Nämlich womit? Natürlich mit bewaffneter Hand, mit einer kräftigen Jakobiner-Leibgarde der socialistischen Heiligen. Sieh da, und darum habt ihr dem Militarismus den Garaus gemacht? O ihr Thoren! Was für ein Unterschied zwischen den alten und neuen Garden?

Meiner festen Ueberzeugung nach macht die Mehrzahl der socialistischen Utopisten, in Folge mangelhaft construirter Einbildungskraft, sich den Zustand der Menschen ihres Zukunftsstaates in keiner Weise klar. Wir wollen meinethalben annehmen, daß man die Blumen aus der Natur ausjäten, daß man alle feineren Individualitäten in der Wurzel vernichten, daß man die Künste und abstrakten Wissenschaften abschaffen, d.h. den Trieb und Wunsch nach idealen Thätigkeiten aus der Menschenseele entfernen könne. Diese Unmöglichkeit einmal angenommen, müssen wir umgekehrt erwarten, daß die große Masse, welche heut vom niedrigsten thierischen Egoismus gelenkt wird, sich idealisire – zwar nicht ästhetisch, aber moralisch. Bei der Vernichtung des persönlichen Arbeitsgewinns durch die Aufhebung des Privateigenthums müssen eine ideale Arbeitslust und Pflichttreue die rein der Sache wegen wirken, sowie eine fortwährende Selbstverleugnung zu Gunsten des lieben Nächsten angenommen werden. Aehnlich verhält es sich bei der sogenannten freien Liebe oder Frauengemeinschaft, welche außerdem nur für Maurergesellen und Dirnen überhaupt etwas Verlockendes haben mag. Auf der einen Seite sträubt sich jedes ideale Gefühl dagegen und auf der andern Seite verlangt die Durchführung der Theorie die idealste Selbstverleugnung des Einzelnen, der in seinen edelsten wie in seinen brutalsten Instinkten zugleich verletzt wird.

Aendert die menschliche Natur von Grund aus, modelt uns alle um, macht uns zu mechanischen Freß-und Zeugungsmaschinen, zu Thieren oder umgekehrt zu brüderlichen Engeln – ohne diese Prämisse ist der Zukunftsstaat ein Unding.

Auch dies Letzte endlich angenommen, würde man bei wirklich regelrechter und möglichst vollkommener Ausbildung dieses Staates allergünstigstenfalls nur urtheilen dürfen: Viele alte Uebel sind abgeschafft, viele neue hinzugekommen; viele neue Vorzüge hat dies System, viele alte hat es eingebüßt. Die Rechnung zwischen dem alten System, das die Menschheit nun 10000 Jahre weiterschleppt, und dem neuen deckt sich. Nun, meine Herrn, da bleibe ich lieber bei meiner alten Maschine, die zwar voller Fehler und Schwächen, aber durch unablässige Traditionen von Kind zu Kind geheiligt und wohleingeölt wurde. Wozu soll ich mir die Scheererei mit einer neuen ungeölten Maschine machen! Verlorene Liebesmüh!«

Mit zunehmender Verwunderung, die sich zur Entrüstung steigerte, hatte das edle Kleeblatt diese offene Erklärung hingenommen.

»Nu aber raus!« machte der philosemitische Antisemit seinem Grolle Luft.

»Wen haben wir denn da? Einen communen Erzreactionär? Das ist der freisinnige, der revolutionäre Poete? Wir sind erstaunt, Herr Schmoller, wie Sie es wagen durften, diesen Herrn bei uns einzuführen.«

»Das ist ein Mißbrauch des Vertrauens!« trumpfte der Garibaldianer mit dem Christuskopfe auf. »Herr Schmoller, verschonen Sie uns künftig mit Ihren Freunden! Und Sie, Herr, muß ich bitten, unsere Gesellschaft zu meiden. Wir als Vertreter des Volkes können solchen Verrath an den ewigen Prinzipien der Freiheit in unsrer Nähe nicht dulden.« Er stand, die Rechte in der Brusttasche, die Linke am Champagnerkelch, majestätisch da, so daß der Busen Olga's und Kneifer-Mary's sich von einem stillen jungfräulichen Athemzug des Verlangens hob und Frau Meyer murmelte: »Ein schöner Mann!«

Leonhart erwiderte kein Wort, zahlte und ging mit stummem Gruß. Erst auf der Straße kam ihm Schmoller nach, der oben mich parlamentirt und seinen vollen Beifall zu der sittlichen Entrüstung der zwo Volksvertreter beigesteuert hatte.

»Wir gehn wohl noch mal hier in die Kneipe nebenan?« sagte er halblaut. Leonhart nickte. – Das Lokal war zufällig ganz leer und sie nahmen in einem dunkeln Winkel Platz. Hier explodirte Schmoller. »Du hast mich blamirt,« rief er ein über das andere Mal »Aller Blicke im Lokal waren auf mich gerichtet.«

»Auf Dich? daß ich nicht wüßte!« In seinem nervösen Verfolgungswahn waren freilich solche Selbstvorspiegelungen bei dem großen Sittenschilderer nichts Seltenes. Auch ließ Schmoller sich keineswegs durch Leonhart's Ruhe beschwichtigen, sondern schlug einen eigenthümlich provocirenden Ton an, der sich allmählich bis zur Grobheit steigerte.

»Und Du scheinst noch gar nicht mal eingestehen zu wollen, daß Du den gesellschaftlichen Anstand taktlos verletztest?«

»Mein Bester, jetzt höre auf! Ich freue mich, daß mir die Geduld riß und ich dem dummen Größenwahn der alleinseligmachenden Socialdemokratie ein kräftig Wörtlein zu schlucken gab.«

»Ach, was Du wohl davon verstehst!« Schmoller machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du bist ja in solchen Dingen naiv wie ein Kind. Die Noth, die Noth! Du hast immer volle Taschen gehabt, an besetzten Tafeln geschwelgt« – »Weißt Du das so genau?« fragte Leonhart achselzuckend.

»Ja wohl,« fuhr Jener unbeirrt fort, ohne den Zwischenruf zu beachten. »Daher steht Dir auch über meine Geldgeschichten gar kein Urtheil zu.«

»Ich wüßte nicht, daß ich mir ein solches je angemaßt hätte,« fiel Leonhart ein. Doch aus dies überhörte der große Unsittenschilderer und perorirte weiter:

»Mir gereicht das alles nur zur höchsten Ehre. Man hat mich bei Dir schlecht gemacht. Ich weiß wohl wer.«

»Aber erlaube mal, ich habe kein Wort..«

»Ja wohl. Ich will offen und ehrlich bekennen, offen und ehrlich«, diese beiden Adjective liebte Schmoller mit jener Inbrunst, mit der man etwas Unerreichbares erstrebt, das man nie besitzen wird, »daß ich Verschiedene, darunter auch Dich, um nicht unbedeutende Darlehen anging und daß Du Dich mehrfach für mich bemüht hast. Wenn Du es wünschest, will ich offen und ehrlich –«

»Hör' mal, jetzt ist's genug! Habe ich je mit einer Silbe –«

»Ja wohl. Es giebt Leute, die da einfach wähnen, daß ich bei Dir allzu tief in der Kreide stecke. In der Vorrede meines nächsten Romans werde ich daher, um cursirenden Gerüchten entgegenzutreten–«

»Bist Du wahnsinnig?«

»Ja wohl. Dieses Wort zeugt wieder von einer so maßlosen Ueberhebung Sr. Majestät Friedrichs I. des Großen, daß ich nicht ohne ein Lächeln daran denken kann. Nur Du wirst Dich dabei blamiren, wenn ich offen und ehrlich –«

»Offen und ehrlich!! Diese Worte in Deinem Munde!« Leonhart brach in ein bitteres Gelächter aus »Ich ersuche Dich, mich mit den müßigen Hallucinationen Deines Verfolgungswahns zu verschonen. Kein Mensch außer Dir selbst in Deinem schlechten Gewissen, das seinen krassen Undank beschönigen möchte, träumt so etwas. Ich bedaure. Dir heut Lebewohl sagen zu müssen. Schlaf Dich aus! Und bedenke das nächste Mal, wo Du eine Rempelei vom Zaune brichst, daß Du mir nur größte Hochachtung schuldest. Verstanden?«

»Größte Hochachtung, warum nicht gar knechtische Unterthänigkeit!« schrie Schmoller, indem er sich in die Haare fuhr und gezwungen auflachte. »Begreifst Du denn nicht, wie urkomisch ein solches Wort in Deinem Munde klingt? Von übertriebener Eitelkeit geplagt, forderst Du ewig meinen Dank heraus. Ich habe nie Dank dafür beansprucht, wie oft ich hinter Deinem Rücken Dein Genie und Deine Uneigennützigkeit gegen mich gepriesen habe.«

»Hör auf! Ich bin leider nur zu wohl in anderem Sinne unterrichtet. Nochmals, für heut verzichte ich auf weitere Konversation.« Leonhart hatte längst erkannt, daß Schmoller plötzlich, einer Laune seines eingewurzelten Selbstsucht-Instinkts folgend, einen Bruch mit ihm suchte. Er pflegte diese geistreiche Taktik, sobald er sich durch die Erinnerung empfangener Dienste belästigt fühlte.

»So? Aha! Nun, nimm mir um Gotteswillen nichts übel. Es ist nur eine Kompensation für Deine Beleidigungen.«

»Meine –? Nochmals, bist Du wahnsinnig?«

»Siehst Du, wieder eine so schwere Injurie! Doch ich dulde viel von Dir. Wenn ich Dich durch meine Offenheit verliere, so ist das noch nicht zum Selbstmorden! O ich weiß wohl, daß Du schlecht von mir denkst. Aber Du hast keinerlei Recht dazu. Ich bin ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle.«

»Wenn Du's selbst sagst!«

»Deine Ironie trifft mich nicht. O Du, der Du die Noth des Lebens nicht kennst, wie ich, der sein kärgliches Brot sauer erwirbt, dessen ganzes Leben Arbeit und Entbehrung war!«

»Von Deinem vielen Arbeiten merkt man nichts. Und was Dein kärgliches Brot betrifft, so behauptest Du ja selbst, daß Du die höchsten Honorare in Deutschland beziehst.«

Schmoller jedoch überhörte das und bekam, in sein Seidel starrend, einen Rühranfall. »Hast Du eine alte Großmutter wie ich zu ernähren? Hast Du –«

»Bitte nur eins: Verschone mich damit! Ewig hört man von Dir Wunderdinge von Deiner Familien-Aufopferung und so weiter. Nun, ich bin nicht in der Lage, das prüfen zu können. Aber da ich Dich nie mit meinen Privatverhältnissen langweile, so sehe ich nicht ein, wozu ich Deine selbstberäuchernden Edelmuths-Wechsel, die Du auf Dich selber ziehst und jedem Ahnungslosen als General-Entschuldigung gegen alle etwaigen Vorwürfe präsentirst, länger als baare Münze acceptiren sollte. – Kommen wir zum Schluß und offen heraus: Ich weiß, aus tausend kleinen Einzelheiten, die mir nie entgangen sind, daß Du im Grunde Deiner Seele einen tiefen Haß gegen mich nährst. Und wenn Du meinst, ich dächte schlecht von Deinem Charakter, trotz meiner heroldenden Bewunderung Deines Talents, so kann ich mich nur negativ dahin äußern: Wenn ich doch je etwas Gutes von Dir gesehen hätte!«

Schmoller schlug auf den Tisch und knirschte mit unheimlich glühenden Augen: »Jetzt bleibst Du. Du sollst mir mal ausführlich begründen und deutlich aussprechen, was Du über mich denkst.«

»Ach, wozu solche unliebsamen Scenen bis aufs Aeußerste treiben! Adieu.«

»Nein, ich lasse Dich nicht fort, ehe Du mir Rede stehst. Du weichst mir nicht aus. Für feige habe ich Dich nie gehalten.«

»Feige?! Nun gut!« Leonhart lehnte sich ruhig in seinen Stuhl zurück: »So muß ich wohl oder übel daran? Here goes! Also dies erzähle ich mir selbst, an der Hand meiner Erfahrungen über Herrn Karl Schmoller.

Der große Mann, für dessen unverkennbare Begabung ich bereits lebhaftes Interesse besaß, tauchte zuerst vor meinem Horizont in der Redaction des Doktor Arthur Kirmány auf. Er brachte dort eine Recension über Doktor Johannes Adler, den bekannten Redacteur und Dichter, unter, da er diesem viel verdankte. Er versprach Kirmány, einem Gegner Adlers, goldene Berge, wenn er die Recension aufnähme. Dieser, ein stets gefälliger Mann, that es.

Ich bemerke hier gleich parenthetisch, daß Schmoller, als den Doktor Kirmány später ein unverschuldetes Unglück traf, unter denen war, die am lautesten über den Armen herzogen. Ich erinnere mich noch mit Vergnügen des Abends, wo eine Gesellschaft notorischer Lumpen in tugendsamer Entrüstung den Gefallenen beschimpfte und ich taktlos genug war, mit ruhiger Miene zu antworten: ›Lump – so! Na, wir sind doch alle Lumpen!‹

Die nähere Bekanntschaft Schmollers sollte nicht auf sich warten lassen. Diese Ehre kostete ich sofort, als ich Redacteur eines kleinen Blättchens wurde, das einigen Rumor machte. Ich saß am zweiten Tage mit dem Chef und Herausgeber bei der Arbeit, als dieser mit seinem bekannten brummeligen Ton aufstöhnte: ›Da kommt Schmoller! Dacht ich's doch!‹ Und in der That dieser große Mann erschien, lebhafter Neugierde voll, gleich dem Geier, welcher Aas wittert. Mit seiner schnüffelnden Fuchsnase und seinem listigen Catilina-Blick durchforschte er sogleich unser etwas ärmlich ausschauendes Lokal und erkundigte sich nach unsern ›Mitteln‹. Dann hub er etwa also an: ›So na ja! drei Abonnenten habt ihr?‹ Mein Chef, der ihn genau zu kennen schien, bläkte seine Zähne und sagte gar nichts. ›Was, schon 5000? Alle Achtung! Jaja, der Mießnik da! Hat gleich eine Novelle drin! 2000 Mark bekommen, wie ich höre. Ach, reden Sie doch nich! – Also, Mießnik, Sie sind zu den Conservativen übergegangen? Wer hätte das gedacht! Neulich war ich mit ein Paar Judenbengeln zusammen, haben Die geschimpft! Was, der Mießnik? Nachdem er von uns die hohen Honorare geschluckt hat?!‹ Ich sperrte Nase und Mund vor Staunen auf, da ich die Erfindungsgabe Schmollers ja noch nicht kannte. ›Nein, was der Mießnik übrigens meinem Bruder ähnlich sieht! Wahrhaftig, Haare, Stirn und die treuen Augen – alles dasselbe!‹ Ich war gerührt. Wir wollten arbeiten, aber Schmoller ist bekanntlich ein Klebpflaster: Er bleibt so lange sitzen, bis er irgend eine unvorsichtige Aeußerung erschnappt hat, womit er dann hausiren geht.

Mein Chef brummelte fortwährend oder schwieg sich aus. Nachdem Schmoller mich dann gebeten, doch irgendwo mit ihm in einer Kneipe zu plaudern, schleppte er mich widerstandslos fort. Nun begann sein Spiel. Er erzählte mir von meinem Chef und dessen Gattin allerlei horrible Dinge unter dem Siegel peinlicher Verschwiegenheit. Doch lobte er die kluge Frau, indem er unter Anderem folgende köstliche Anekdote von Stapel ließ. Er hatte sie mal gefragt, warum sie ihn nicht mit dem ihr befreundeten berühmten Dichter Kasimir Pakosch zusammen einlade. ›Ach,‹ hatte sie geantwortet, ›der würde Sie nach seiner Art über uns ausforschen und dann würden Sie irgend was Schlechtes sagen und er würde uns dies bei Gelegenheit mit frommer Gebärde wiederklatschen – na und dann wären wir alle auseinander!‹ Ich wunderte mich im Stillen.

Schmoller wich nicht von uns. Er widmete unserm Blatte eine rührende Aufmerksamkeit. Dabei kam er dann bald auf sein berühmtes Steckenpferd: Seine unvergleichlichen Honorare! 10,000 Mark für sein neues Buch – das ging ihm nur so vom Munde. Dann berichtete er auch mit liebevoller Detaillirung, daß seine Braut 50,000 Mark besitze und erkundigte sich, wo er 30,000 Mark unterbringen könne.

›Her damit! Bei uns!‹ schrie mein Chef, dem das Wasser im Mund zusammenlief: Der Köder war selbst für seine Schmoller-Kenntnisse zuviel.

Darauf hatte Schmoller nur gewartet. Er ließ vernehmen, daß sich das hören lasse, und versprach bereitwillig all seine Güter im Monde.

Nun hatte er Anker gefaßt. Mir gegenüber stocherte er, wie ein so bedeutender Schriftsteller wie ich sich überhaupt zum ›Redacteur‹ degradiren könne. Ihm könne man Berge bieten! Und mein Chef schimpfe über mich – o! Das sei überhaupt ein Kerl – na!

Zu Jenem äußerte er dann: Wie er solch einen Kerl wie mich überhaupt dulden könne! Und der schimpfe über ihn – o!

In Folge dessen erlebte er denn das Gaudium, daß mein Chef und ich bei einem seiner gewöhnlichen liebenswürdigen Besuche uns gegenseitig in die Haare geriethen. Da verabschiedete er sich schleunig, worauf wir Andern uns natürlich versöhnten, sintemal die Aussprache ergab, daß Schmoller uns aneinandergehetzt. Doch schien ihm bald meine Freundschaft irgendwie werthvoller zu sein, als die der andern – kurz, er attachirte sich gewaltig an mich.

Ich muß nun, um Schmollers Eigenart zu würdigen, Folgendes bemerken: Seine Grobheit bleibt Schmoller's gefährlichste Waffe. Denn eine angeborne Thor heit der menschlichen Natur liegt in dem Wahn: wer grob auftrete, sei darum auch ohne Falsch. ›Lächeln, lächeln, immer lächeln und doch ein Schurke sein!‹ heißt es im Hamlet. Und dennoch hat der größte Herzenskündiger seinen Richard III. je nach Bedarf grob und zänkisch ins Gesicht, oder aber biderb schmeichelnd dargestellt. ›Sie thun mir unrecht und ich will's nicht dulden,‹ schimpft der polternde Biedermann. Und so –«

Er unterbrach sich. Jener erhob die Hand wie zum Schlage. Dann packte er plötzlich Leonhart leicht an der Brust zwischen den Rockknöpfen, der ihn jedoch im gleichen Augenblick unsanft abschüttelte. Schmoller beherrschte sich mühsam und warf ruhig hin: »Fahre so fort! Ich fange an, Dich zu achten.« Doch wiegte er wehmüthig das Haupt und flüsterte mit umflorter Stimme: »Kleiner Kerl!«

Aus Leonharts Auge brach ein scharfer greller Strahl, wie von inneren Blitzen entzündet. Er bohrte sich dem lauernden Brillen-Blick des Andern entgegen, der wie das scheue Spähen ertappter Neugier verlegen auswich, als könne er sich schwer dem Banne einer neuentdeckten Ueberlegenheit entziehn. Dann schlug er jedoch eine häßliche Lache auf:

»Eine wahrhaft Shakespearische Menschenkenntniß! Ich habe eine traurige Mittheilung zu machen, unter dem bekannten Siegel tiefster Verschwiegenheit – Du brichst es doch hoffentlich?« Schmoller's Lippen umspielte jenes süßlich wollüstige Lächeln, welches der Hochgenuß über fremde Sünden stets seiner Nächstenliebe zu entpressen pflegte. »Leonhart ist verrückt geworden. Er war ja neulich geständig, daß er sich für einen angehenden Weltdichter halte. O Gott, wie jroß ist dein Thiergarten!«

Die röthliche Löwenmähne des Beleidigten, ebenso wie vorhin Schmoller's spitzer Katerschnurrbart, sträubte sich ordentlich vor Wuth.

»Nimmt Dich überhaupt noch Jemand Ernst? Du scheinst Dich immer noch nicht bessern zu wollen, Du richtiges kleines Kind. Wenn ich so wenig vom Leben wüßte wie Du –!«

Leonhart stieß ein unartikulirtes Fluch-Grunzen aus. Er weinte beinahe vor Zorn. Als Correspondent eines großen rheinischen Blattes hatte er Jahre lang in Paris und London gebummelt und sollte den schnöden Vorwurf der Unschuld über sich ergehen lassen? Schmoller ließ ihn jedoch nicht zu Worte kommen: »Nu aber bitte weiter im Text!«

»Du hast's gewollt, George Dandin!« In seiner maßlosen Empörung sprudelte jetzt der geknickte Transcendental-Realiste über alle Schranken weg. Seine absolute Gerechtigkeitsliebe ging unter in dem Sturzbad seiner nervösen Erregung. Wohlan! – Alles, was in meinen schwachen Kräften stand, bot ich auf, um ihm zu nützen, wo ich konnte. Dies belohnte er stets mit dreister Stichelei hinter dem Rücken, trotzdem seine Briefe von Versicherungen seiner Verehrung strotzten. Hier in die Details zu gehn, wäre peinlich über alle Maßen. Hervorheben aber möchte ich die kühne Frechheit, die fast aus Irrenhaus streift, mit welcher Herr Schmoller andere anklagt, wenn er dieselben schändlich mißhandelt hat, und noch den moralisch Entrüsteten spielt.

»Aus meinen Erfahrungen würde ich daher folgende Charakteristik des großen socialen Romanziers zu liefern haben.

Er war wie ein Weib. Je mehr man ihn ›poussirte‹, desto patziger und innerlich gleichgültiger wurde er. Setzte er seinen Cylinder ab und stülpte einen Kalabreser auf, so veränderte sich gleichsam seine ganze äußere Erscheinung. Er sah dann viel bedeutender und zugleich gefährlicher aus. Zaghafte Naturen mochten ihm dann wohl ungern allein im Walde begegnen. Man traute ihm zu, daß er seinem besten Freund plötzlich einen Dolch in die Nippen bohren könne mit dem Ausruf: ›Die Börse oder's Leben!‹

Es harmonirte damit, daß er immer großspurig darauf hinwies, wie Leute, die von christlicher Liebe schwatzten, nichts thäten, zumal für einen Mann wie Ihn, und in Wahrheit in der Welt nur der rohe manchesterliche Grundsatz herrsche: ›Stirb Du, damit ich lebe!‹ Nun, er mußte es ja wissen, da dies sicherlich sein heimliches Prinzip sein mochte.

In seiner schwarzen Seele spiegelten sich alle Menschen pechrabenschwarz. Denn die Welt ist nur ein Spiegel: Was hereinschaut, schaut heraus. In Folge dessen brachte er das Kunststück fertig, sich in einer Welt von Schurken, die er sich ausmalte, als verfolgter Biedermann zu fühlen. Diese Schwäche und Beschränktheit des Menschen beschränkte auch seine Begabung. Wo er wild, trotzig, grimmig und vor allem, wo er boshaft die Feder schwang, war er groß. Dann brach eine elementare Urgewalt in seinen Schöpfungen hervor. Wo er hingegen pausbäckigen Humor pflegen wollte, wirkte er unbedeutend; wo er gar in gerührter Menschenfreundlichkeit schwelgte, wirkte er theils läppisch theils für den tieferen Beobachter widerlich durch verlogene Sentimentalität.

Diese mittelmäßigen Mißgeburten hielt er dann natürlich für seine besten Erzeugnisse, und die unreife Presse, welche seine wirklich bedeutenden Bücher weder las noch verstand, ermuthigte ihn noch in diesem Irrwahn. Man munterte ihn auf, sich zum Idealismus emporzuranken und die Bahnen des greulichen Zola zu fliehen.

Ein Virtuose der Undankbarkeit, hatte er alle Menschen, die es gut mit ihm gemeint, in einer Weise vor den Kopf gestoßen, die man nicht verzeiht, weil sie nicht plumper Rohheit, sondern einer allgemeinen Charaktergemeinheit entspringt. Wohlthat wurde ihm zur Beleidigung. Er fühlte geradezu das Bedürfniß, sich an Leuten, die ihm wohlgethan, zu rächen – dafür zu rächen, daß ihn denselben gegenüber die Empfindung einer Verpflichtung drückte, die er doch nicht einlösen wollte. Hatte ihm ein Verleger ein übermäßig hohes Honorar bezahlt, so erklärte er steif und fest, der Mann habe ihn betrogen, und carrikirte ihn in seinem nächsten Roman. Hatte ein College aus uneigennützigen Gründen ihn gefördert, so munkelte er, dahinter stecke eine listige tiefverborgene Schurkerei. Lobte ihn Jemand sehr stark, so klammerte er sich an irgend ein Wörtchen, das ihm mißfiel, und drohte mit öffentlicher Beschimpfung oder gerichtlicher Beleidigungsklage. Und dies Alles passirte nicht einmal, sondern hundertmal in verschiedensten Variationen. Er war geradezu sprichwörtlich geworden, so daß sich Jeder hütete, mit ihm zu verkehren, mit ihm zu verhandeln und über ihn zu schreiben.

Das Alles aber wäre zu ertragen gewesen, wenigstens für aufrichtige Bewunderer seiner phänomenalen Beobachtungsgabe, wenn nicht obendrein mit der perfidesten Verlogenheit verbunden. Er brachte es fertig, Leuten seinen ewigen Dank schriftlich zu versichern und womöglich am selben Tage in öffentlicher Kneipe dieselben niederträchtig zu verleumden. Daher cursirten denn über ihn Briefe früherer Freunde, wo von fauliger Corruption und gemeiner Bauernfängerei die Rede war. Er log wie gedruckt, erfand Gerüchte, die ihm beliebten, und wußte von Jedermann irgend ein schauerliches Geheimniß. Seine nervöse Brutalität siegte manchmal über seine Falschheit und dann brach er plötzlich unvermuthet Krakehle vom Zaun – sobald der Betreffende ihm aber energisch entgegentrat, wich er feige zurück. Ebenso suchte er, sobald ihn die Umstände irgendwie dazu zwangen, sich wieder an die Leute anzudrängen, mit denen er gerempelt hatte. Er that dies aber auf eine höchst seltsame Manier, indem er versteckte oder offene Drohungen einfließen ließ, welche in solchem Fall mühelos als Erpressung gedeutet werden konnten.

Wenn man aber alledem gegenüber sein fabelhaftes Moralgefühl und seinen Brustton der Ueberzeugung erwog, so fiel einem die bekannte Scene aus dem Drama ›L'Etrangère‹ von Dumas ein, wo der Yankee plötzlich ruhig dem Herzog bemerkt: ›Nach allem, was Sie mir da vertrauensvoll mittheilen, muß ich schließen, daß Sie ein Schurke sind. Und das wunderbarste dabei bleibt, daß Ihnen das noch Niemand gesagt zu haben scheint!!‹«

Leonhart hatte in gleichmäßig eisigruhigem Ton diese kaltblütigen Degenstiche verabreicht, während die Züge des Delinquenten, der die Prozedur über sich ergehen lassen mußte, sich mehr und mehr verzerrten. Seine Hände zitterten, seine Gesichtsfarbe spielte ins Aschgraue – – jetzt sprang er plötzlich mit einem unartikulirten Wuthschrei auf und griff mit der gespreizten Hand krampfhaft in die Luft. War es Zufall, war es bewußte Absicht, – seine Finger umkrallten den Griff des Brotmessers, das im Brotkorbe auf dem Tische lag. Wie von dämonischem Instinkt elektrisch durchzuckt, hob er es hoch, die funkelnde Spitze richtete sich schwirrend gegen Leonhart, noch ein Moment – –

»Setz Dich!« sagte der Bedrohte mit lauter Stimme in strengem befehlendem Ton. Er blieb sitzen, aber sein Gesicht nahm einen furchtbaren Ausdruck an. Sein blaugraues Auge sprühte geradezu Feuer, seine Stirnfalte über der Nasenwurzel trat wie mit dem Messer geschnitten scharf hervor. Wenn zwei Welten in dieser Physiognomie lagen: ein weicher Gemüthsmensch und ein kaltberechnender Mann der That, so verschwand jetzt gänzlich der Zug wohlwollender beobachtender Kraft und ein ungebändigter, zerstörungswilder Despotengrimm straffte seine Züge.

Langsam stockend, zitterte Schmollers Arm in der Luft; seine Finger lösten sich, als ob der unheilverkündende Blick des Gegners ihnen die Spannkraft aus den Sehnen sauge – klirrend fiel das Messer zu Boden. Wie mechanisch machte er einige Schritte vor- und rückwärts mit schlürfendem Tritt, dann sank er auf seinen Stuhl mit einem dumpfen Knurren.

So schleicht der Tiger, der zum jungen Löwen in den Käfig gesperrt, mit unheimlichem Fauchen und knurrendem Heulen um diesen her, als wolle er ihn von hinten anfallen, und verkriecht sich, erstickt von ohnmächtiger Wuth, in die Ecke, sobald der gutmüthige Löwenblick sich auf ihn richtet. Der Zuschauer begreift es kaum, worin die siegessichere Ueberlegenheit des kaum flüggen Löwenbengels besteht, denn der schreckliche Tiger scheint ihm an Stärke weit überlegen. Und doch reißt der Löwe bei der Fütterung die ersten Stücke an sich und scheucht das hungrige Ungeheuer in unfreiwillige Geduld zurück. Ist's ein Naturinstinkt, der den König der Thiere freiwillig anerkennt, so wie der Löwe selbst vor dem festen Blick eines Menschen, der keine Furcht verräth, sich ehrerbietig seitwärts trollt?

Eine tiefe Pause trat ein. Ein Kellner, der sich neugierig gezeigt hatte, zog sich befriedigt zurück.

»So muß es kommen,« flüsterte Leonhart nachdenklich. »Siehst Du, wie Deine Lippen zucken! Vom Größenwahn zum Verfolgungswahn und von da zum Verbrechen – das ist eine logische Stufenleiter.«

»Ich – wollte – nicht –« murmelte Schmoller.

»Schweig! Du wolltest es,« schnitt ihm Leonhart barsch das Wort im Munde ab. »Ich finde das auch ganz begreiflich, nachdem ich Dir die Wahrheit einmal so gründlich gesagt. Wer weiß, ob Du mir nicht noch mit Knüppel oder Pistole auflauerst, um Deinen wüthenden Haß an mir zu kühlen, weil ich Dir die Biedermannslarve herunterriß!«

Schmoller schnappte ein paar Mal nach Luft, als ersticke ihn rasende Wuth. Dann lachte er heiser und gezwungen auf: »Pah, das Alles ist ja doch nur fauler Mumpitz! Du bist ein unreifer Narr und hast noch nicht ins Leben hineingespuckt.«

»Ei! Da wir doch einmal bei der letzten Aussprache sind, – davon hast Du ja freilich keine Ahnung, daß Du mir eigentlich stets eine komische Figur gewesen bist mit Deinem drolligen Größenwahn prahlender Weltkenntniß. Was weißt Du denn überhaupt vom Leben, was hast Du von der Welt gesehn? Nichts. Das kleine Fleckchen Berliner Lebens in unteren und mittleren Schichten! Das spricht ja gerade für Deine große Begabung, daß Du so glänzend schilderst trotz Deiner geringen Lebenserfahrung!«

Schmoller fuchtelte wie außer sich mit den Händen in der Luft. »Ich keine Lebenserfahrung!« Seine Stimme schnappte fast ins Weinerliche über. »Und das sagt mir ein Mensch, von dem noch neulich Ottokar v. Feichseler schrieb: ›Ihm fehlt noch tiefere Lebenskenntniß.‹ O, o!«

Leonhart lachte herzlich und trank sein Seidel leer, indem er sich erhob und den Hut aufsetzte. »Die Lebenskenntniß des guten Kahlkopfs Feichseler! Nun, Haare genug hat er ja gelassen, als er da unten in München als Hofmeister einiger reicher Fabrikantensöhne auf deren Kosten ein Rouéleben führte, wie Du mir erzähltest. Sie haben Dir's ja selbst erzählt und über Feichseler's schnöden Undank geklagt, wie? Nun, seltsamerweise klagt aber Feichseler wieder über Deinen schnöden Undank und erklärt Dich für ein moralisches Scheusal.«

»Das mir! Einem Ehrenmann, der für eine alte Großmutter sich das Fleisch von den Knochen schindet! Gleich morgen schreibe ich Feichseler einen Brief, den er nicht hinter den Spiegel steckt.«

»Ach laß das! Deine gräßlichen Schmäh- und Drohbriefe kennt man ja. Gott sei Dank kannst Du mich nicht denunciren, wie vormals den Luckner, mit dem Du Brüderschaft trankest und gleich am andern Tage an Feichseler petztest, was Luckner unbedachterweise wegen Honorar-Unterschlagung Feichselers Dir anvertraut. Ich persönlich kenne Feichseler gar nicht und er mich noch weniger – es sei denn durch Geschwätz collegialer Kneip-Bekannten gleich Dir, die ich sorgfältigst von meinen Privatverhältnissen fernhielt.«

»Aha!« knirschte Schmoller. »Das habe ich ja stets gewußt. Eine schöne Freundschaft!«

»Mein Lieber, das ist nun nicht zu ändern. Ich kenne eben die Welt. Mit Collegen verkehre ich nur auf zehn Schritt Distance. Willst Du mir aber mit dieser Thatsache zusammenreimen, daß Du und Deinesgleichen über mich schwatzen, als hättet ihr sozusagen an einer Nabelschnur mit mir gelutscht? Wie darfst Du Dich erfrechen, über meine Welt- und Lebenserfahrung zu urtheilen, als wäre ich ein kleines Kind? Hast Du denn auch nur eine entfernte Ahnung von den Erlebnissen meiner Vergangenheit? Wärest Du nicht selbst ein unreifer Schreihals – ja, zucke nur! –, den sein Größenwahn verblendet, so müßtest Du logisch folgern, daß ein Mensch, der halb Europa kennt und überall in tausend höhere Lebenskreise schaute, von denen Du nicht mal eine Vorstellung hast, wohl eine Fülle von Selbsterlebtheit aufspeicherte, wie wenige Andre.

Aber es ist die alte Geschichte. Wer wirklich viel erlebt hat, der schweigt, weil die Masse der Erinnerungen ihn erdrückt und er gar nicht wünscht, über seine vielen Erfahrungen sich auszuschwatzen. Am meisten mit ihrer Lebensweisheit prahlen Kerls, die sich im äußerlichen praktischen Leben herumtreiben, weil sie als Geschäftsmann mit allen Sorten von Handels- und Schwindelsbeflissenen zusammenkamen oder, wie in plebejischen Kaufmanns- und Jüdenkreisen üblich, den Champagner-Weltmann spielen; oder weil sie die Arbeiterverhältnisse und alle Spelunken kennen. Dadurch, daß man an der Börse spielt oder an einer Dampfwalze dreht, wird man noch kein vereidigter Lebenskenner! Frißt solche alberne Anschauung weiter um sich, so wird man nächstens die Lokalreporter als realistische Meistersinger preisen! Auch ein Größenwahn, diese angebliche Welterfahrung in beschränktem Zirkel! – – Doch genug. Die Beleidigung, welche ich Dir ins Gesicht schleuderte, ziehe ich hiermit in aller Form zurück, indem ich meine subjektiv einseitige Darstellung widerrufe. Denn wer kennt die Motive und Verhältnisse des Andern genau!«

»Schreck, laß nach! Der ist nicht von schlechten Eltern.« Schmoller trommelte mit den feisten Fingern auf dem Tisch. »Sonst hätt' ich Dich auch wegen Ehrverletzung gerichtlich belangt!« Er pfiff die Melodie:

»Du bist verrückt, mein Kind.«

... Auf dem Heimwege traf Leonhart, der halb Berlin kannte, ein originelles Pärchen. Der große Verleger und Börsenspekulant, Hauptmann der Landwehr Dr. Sternbaum, kam soeben von einer offiziellen Feierlichkeit, von oben bis unten mit Orden bedeckt. Mit sich schleifte er seinen Adjutanten, den famosen Lokalreporter Reichsfreiherrn von Dattrich, welcher das opulente Festessen als gastronomischer Kenner beschreiben sollte. Er erhielt dafür stets von dem betreffenden Traiteur mehrere Kisten Kaviar und Trüffelpasteten ins Haus geschickt, wie denn seine stilvolle Zimmereinrichtung mit Gobelins, Smyrnaer Teppichen und geschnitzten Möbeln ihm auf ähnliche Weise von der dankbaren Mitwelt gestiftet wurde.

»Da ist ja mein alter Freund Leonhart!« brüllte Dattrich. »Comment vous-portez-vous?«

»Mäßig, es macht sich.«

»Lächerbar! Alle Tage wird dieser Mensch berühmter. Wieder ein Dutzend Bücher ausgespieen? An jedem Finger ein Federhalter festgebunden! Sehen bleich aus, junger Mann. Wohl zu viel geschwiemelt. Jaja, in Ihrem Alter legt man den Hauptwerth auf gut Lieben, in dem meinen auf gut Essen und nachher hier im Alter meines verehrten Prinzipals bloß noch auf gut Verdauen.«

»Ach bleiben Sie bei sich, Herr Baron!« schnarrte der Landwehrhauptmann. Er hatte heut wieder mal zum 101. Mal seinen Trinkspruch auf »Unsern allergnädigsten Kaiser, König und Herrn« gestiftet und strahlte noch vom Gefühl seiner Wichtigkeit. »Wäre auch gut, wenn Sie sich selbst lieber den Fleiß Herrn Leonharts zum Muster nähmen. Gestern wieder gar nicht auf der Redaction gewesen, wie zu meinem Mißfallen vernahm.« Die beiden Herren hatten sich offenbar schon gezankt und Dattrich torkelte hin und her, angetrunken. So beugte er sich denn in diesem indiscreten Zustande zum Ohr seines Prinzipals nieder und flüsterte feierlich drei Worte bedeutungsschwer: ›Ruhig, Alter! Zuchthaus!!‹ – Das frechbrutale Gesicht des Börsenspekulanten und Verlegers verzerrte sich zu einem verlegenen Grinsen und er schielte Leonhart an, ob Der vielleicht gehört habe. Dann lenkte er ein. »So so, liebster Baron, Sie waren leidend. Jaja, schonen Sie sich!«

»Zu Befehl, Herr Hauptmann! Adieu, Dichterfürst!« – Die wandelnden Thermometersäulen (beide hatten allzuviel Quecksilber im Leibe) schwankten dahin.

Elftes Buch
I.

Leonhart starrte auf die Zeitung. Ja, dort stand es wirklich:

»Am nächsten Sonnabend wird nun endgültig im ›Deutschen Theater‹ in Scene gehn ›Die Meeresbraut‹, Drama in fünf Akten von Xaver Graf Krastinik. – Die Ausstattung wird alle Welt überraschen. Die Pracht der venetianischen Kostüme und Dekorationen übertrifft noch die Leistungen der Meininger in Byrons ›Marino Falieri‹. Herr Friedmann spielt die prachtvolle Rolle des Admirals Moncenigo, Frl. Geßner die der Katharina Kornaro. Herr Kainz wird den König von Cypern, Herr Sommersdorf die ergreifende Gestalt des jungen jüdischen Rabbiners Ben Israel verkörpern. – Eingeweihte behaupten, daß eine neue Epoche des Dramas mit diesem Abend anbrechen werde. Der große realistische Stil des Geschichtsdramas, den der junge Goethe und der junge Schiller suchten, ist hier gefunden, wie unsre Gewährsleute versichern. Auch sollen sich Scenen von gradezu überwältigender Schönheit in diesem Erstlingswerk eines großen Dramatikers finden. – Nun, das läßt sich ja an, als ob unserem Berliner Shakespeare Herrn v. Alvers, der mehr und mehr für das naive Volkstheater der Vorstädte zu arbeiten scheint, ein gefährlicher Rivale erstanden wäre, der im Voraus gesiegt hat. Der gräfliche Dichter, welcher schon durch seine herrlichen Gedichte so sehr in Mode kam, dürfte demnach einem großen Triumphe entgegengehn.«

Leonhart warf das Zeitungsblatt auf den Boden und sich der Länge nach aufs Sopha. Ein krampfhaftes Lachen schüttelte sein Zwerchfell. Er lachte sich einmal gründlich aus über die Posse des Lebens.

So war es denn also wirklich gelungen. Nun galt es das Weitere abzuwarten.

Vor einigen Monaten hatte Leonhart einen Brief aus Venedig, der alten Residenzstadt malerischen Farbensinns, erhalten. Kein Geringerer als jener große Verschollene, der lyrische Tenorist Francis Henry Annesley, beehrte ihn von dort mit einem längeren Handschreiben. Den Anlaß dieser überraschenden Kundgebung bot die seit Kurzem erschienene Anthologie realistischer Lyrik, welche auf Annesleys Kosten von Erich von Lämmerschreyer herausgegeben wurde und zu welcher Leonhart ebenfalls Beiträge beisteuerte. Zwar hatte Francis Henry weidlich den Krämpfen neidischer Großmannssucht gegen den unangenehmen Niederdrücker Luft gemacht und über Leonhart eine Reihe anonymer Recensionen geschmiert, des Inhalts, daß dieser eigentlich kein Dichter, sondern ein »Denker« sei – ein Titel, gegen den die Dichterlinge unsrer Zeit bei ihrer schrecklichen Gedankenarmuth eine besondere Animosität nähren. Allein, da ihm Leonharts Einfluß doch unumgänglich für Förderung seiner Interessen nöthig schien, erklärte er plötzlich diesen »Volldichter« für »eine zum Höchsten berufene Natur«. In diesem Sinne schmetterte er ihm auch jenen überschwänglichen Brief aus Venedig, worin er vor allem bat, sein neuestes Werk: »Cypressen«, symphonischer Cyklus für Kammermusik von Gregor Waschuppsky (Opus 22) in allen zur Verfügung stehenden Blättern anzupreisen. Sodann sprang er auf die Anthologie seines Freundes Lämmerschreyer über und bat die Beiträge des p. p. Haubitz und Edelmann zu vermöbeln, da diese undankbaren Zigeuner ihm angeblich schon 5000 Mark Pumpgebühren gekostet hätten. Nach diesem reizvollen Thema kam er auf Venedig zu sprechen, da er in dem Palazzo, wo Richard Wagner gestorben, wohne und den Geist des todten Meisters in sich einathme. Er versuchte dann in unbeholfener Weise Venedig zu schildern, blieb aber bei den Blumenmädchen von San Marko hängen und erprobte einige Genialitätsallüren, indem er das liebliche »bona sera« gefälliger Freundinnen und sich daranschließende nächtliche Gondelfahrten schilderte. Der Stil und die Handschrift verwirrten sich zusehends, unvermittelte Cynismen sprengten sich ein und der ätherische Jünger der heiligen Cäcilia verbreitete sich über gewisse Stühle in Italien. Diese seien von Marmor, aber so niedrig, daß Niemand sich darauf setzen könne. Daher die Unreinlichkeit. Dies sei die wahre Völker-Psychologie, vom Standpunkt des Verdauungsthrones aus – –

Hier brach der Brief plötzlich ab, der dem Psychiater vielleicht ein interessantes Dokument geboten hätte, und es folgten einige Zeilen von fremder Hand. Die Tante Annesley's hatte nämlich die Nachschrift darunter gesetzt: Sie sende den nicht ganz vollendeten Brief, für den bereits das beschriebene Couvert dagelegen habe, da sie aus dem Inhalt ersehe, es handle sich um wichtige künstlerische Dinge. Sie bäte den unvollkommenen Zustand des Schreibens zu entschuldigen, da ihr unglücklicher Neffe, urplötzlich wiederum von einem Nervenleiden befallen, in einer Kaltwasserheilanstalt Linderung suche u.s.w. – –

Leonhart zuckte mitleidig die Achseln. Zugleich aber fühlte er, wie diese verworrenen Andeutungen über Venedig ihm das Bild der Lagunenstadt mächtig vor Augen bannten, so daß es seine Phantasie nicht wieder loßließ. Am andern Tag verschaffte er sich Daru's Geschichte von Venedig aus der kgl. Bibliothek und vertiefte sich darin. Immer mehr wuchs und reifte in ihm der Gedanke, ein paar bronzene Charakterköpfe aus der venetianischen Staatsgeschichte herauszuschneiden.

Bald darauf war er von Xaver Krastinik bei einer merkwürdigen Beschäftigung überrascht worden. Dieser, geräuschlos eingetreten, fand seinen Freund über allerlei Karten und Mappen gebeugt, einen Zirkel und Nadeln mit farbigen Knöpfen in der Hand, ringsumher selbstgezeichnete Pläne und Tabellen mit allerlei Berechnungen.

»Zum Teufel! Was machen Sie denn da?« rief der Ex-Militair erstaunt, nachdem er einen scharfen Blick auf all diese Gegenstände geworfen.

»Ich – ich –« Leonhart suchte verlegen die Sachen zusammenzupacken, Jener hinderte ihn aber daran. Mit sachkundigem Blick griff er einen Hauptplan auf:

»Wollen Sie mir einmal erlauben? Was seh ich da! Das sind ja seltsame strategische Studien. Wie sie wissen, war ich früher ein sogenannter ›gelehrter‹ Militair. Die Sache interessirt mich und ich verstehe 'was davon.«

Leonhart verbeugte sich stumm und ging langsam auf und ab, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, in tiefem Nachdenken.

Krastinik schwieg ebenfalls lange Zeit, indem er die Pläne verglich, die Tabellen zu Rathe zog und mehrere sauber geschriebene Papiere durchlas, die schematisch geordnet und »Dispositionen« über schrieben waren. Plötzlich drehte er sich um und fragte:

»Sie waren auf keiner Kriegsschule?«

»Nein.«

»Sie treiben diese heimlichen Studien auf eigene Hand? Wer brachte Sie darauf?«

»Meiner Treu, Niemand. Es rumorte in mir seit frühster Jugend.«

»Nun, dann ist das wieder eins jener Wunder des Genies, die unerklärlich bleiben. – Warum ergriffen Sie nicht die militairische Carriere?«

»Warum verließen Sie dieselbe so früh?«

Krastinik biß sich auf die Lippen und starrte finster vor sich hin: »Wohl wahr. Sie taugen auch gar nicht zum Offizier, in keiner Weise. Würden bald wegen Insubordination entlassen oder schössen sich eine Kugel vor den Kopf. Selbst wenn die Möglichkeit vorhanden wäre, daß Sie Ihre Begabung je ausnutzen könnten, wozu doch ein Oberbefehl gehört, müßten Sie darüber alt und grau werden. Sie, ein so ungeduldiger Feuerkopf! Ja, unmöglich. Traurig! Sie haben Ihren Beruf verfehlt, hätten in den Generalstab gemußt.«

Leonhart schüttelte den Kopf. »Ich zweifle. Auch das würde mir nichts nützen. Ich gehöre zu Denen, die nur an erster Stelle commandiren können oder gar nicht. In irgend einer Ausnahmezeit wäre ich viel leicht 'was geworden, wie der Ackerbürger Cromwell und der verhungernde Bonaparte. Aber an so etwas darf man nicht denken. ›Der Mann seines Schicksals sein‹ – jaja, wenn das Glück so nachhilft! Der Corse hatte gut reden! Mein Schicksal ist zu schweigen und zu dulden.«

»Aber darin liegt etwas Unerträgliches, eine Infamie des Schicksals!« Krastinik gerieth in ordentliche Aufregung. »Ich wiederhole, ich verstehe genug davon, um zu erklären: Sie sind ein geborenes strategisches Genie. Und wenn Sie das nicht wären, hätten Sie ja wohl nicht von Jugend an sich heimlich mit Dingen beschäftigt, die Sie ja gar nichts angehn und Ihnen keinerlei Nutzen bringen.«

»Wohl möglich. Aller psychologischen Logik nach, müssen Sie wohl recht haben. Allein, was ändert das! Hier ist der Lessing'sche Unsinn von dem ›Rafael ohne Arm‹ einmal anwendbar. Rafael ohne Arme ist eben gar kein Rafael; aber Rafael, der zu Grunde geht, weil ihm Niemand Bilder bestellt, da steckt der Knoten! O diese Tragödie, die furchtbarste des Menschenlebens, der Kampf des Genius mit der Welt! Dem Erfinder vorsagt man das Geld, um es an Uniformknöpfe zu vergeuden, oder steckt den Erfinder der Dampfmaschine ins Irrenhaus als Ideologen, wie Napoleon dies fertig brachte. Kolumbus erbettelt sich kaum ein paar wacklige Nußschalen für eine weltumgestaltende Großthat. Natürlich! Der Geniale, dessen Intuition kraft göttlicher Eingebung mit eins die innere Wahrheit der Dinge erschaut, wird von der blöden Unfähigkeit der Weltautoritäten nach seiner amtlich patentirten Beglaubigung gefragt. Ja, die kann er nicht vorzeigen! Cromwell, das geborene Staats- und Feldherrngenie, kann sich nur als schlechter Landbauer ausweisen, Kolumbus hat gar kein naturwissenschaftliches Doctordiplom hinter sich, Shakespeare vermochte nicht einmal Gymnasialstudien obzuliegen. Was nun? Was fängt die Welt mit einem solchen Größenwahnsinnigen an? – Jajaja, Größe und Größenwahn, wer soll die recht unterscheiden! Der Alchymist, der den Stein der Weisen fand, spöttelte gewiß über die Narrheit des Kopernikus. Und wenn ein Conquistador in erhabener Liebessehnsucht nach einer jungfräulichen neuen Welt sich sehnt, so lacht gewiß die kindsköpfige Liebessehnsucht eines Ritters nach einem schönen Weibe über solche Phantasterei. – Das alles, lieber Graf, ist alt wie die Welt, alt wie die Welt. Warum sollte ich glücklicher sein, als meine Altvordern?«

»Nein und abermals nein!« Krastinik hob heftig beide Arme empor und schüttelte sie. »Das kann nicht so geduldet werden. Sie Genie-Ungeheuer Sie! Wer das ruhig mit ansieht, wie Sie hier bleicher und bleicher, stiller und stiller hinsiechen auf Ihrer einsamen Klause – ich habe Sie fast niemals lächeln gesehn –, Der macht sich derselben Todsünde schuldig, wie das Gesindel, das Sie begeifert. Die oberflächliche Mittelmäßigkeit sich auf dem Markte blähend – der hohle Gemeinplatz-Bumbum eines Phrasendreschers wie dieser Alvers als Hohepriesterthum des hehren Idealismus weihestänkernd – und Sie, der Berufene, immer noch ins Hintertreffen gedrängt, weil Sie kein geschniegelter Süßholzraspeler und Ihre Werke zu hoch sind für den dummen Lesepöbel – – es krampft Einem das Herz zusammen! Das ist die Sünde, welche nimmer vergeben wird, die wider den heiligen Geist.«

»Und grade diese begeht doch die Welt am häufigsten,« ergänzte Leonhart ruhig. »Lieber Graf Krastinik, Sie sind der erste anständige Mensch, den ich im Leben getroffen habe. Sie sind der Einzige, der die jämmerliche Eitelkeit dem Höheren gegenüber, solange dieser nicht durch äußeren ›Erfolg‹ gefeit ist, und den kleinlichen Neid in sich bezwang. Seien Sie stolzer darauf, als wenn Sie eine Batterie erstürmt hätten! Aber lassen Sie mich ruhig verbluten, mir ist nicht zu helfen, weder so noch so. – Sehn Sie hier diese Briefe über mein Drama ›Die Männer von Appenzell‹. O unsere Theaterdirektoren, diese Rotte von Verbrechern am heiligen Geist!«

Da hatte der Eine nach persönlicher Rücksprache mit dem Autor denn doch entdeckt, daß dem Stücke der geeignete dekorative Hintergrund fehle. Ein andrer beklagte den schnöden Realismus, ein andrer den abgestandenen Idealismus des Werkes. Einer konnte es aus Rücksicht auf sein Hoftheater, ein Andrer aus dito Rücksicht auf sein liberales Publikum nicht aufführen. Und doch war das Drama weder conservativ noch liberal, weder idealistisch noch realistisch, sondern einfach erhaben, schlicht und groß. Es behandelte den heldenhaften Freiheitskampf der Appenzeller gegen Oesterreich und die ganze Ritterschaft des Rheingaus und Tyrols unter dem Florian Geyer dieses Bauernkrieges, dem wackern Grafen Werdenberg, der seinen Titel ablegte und brüderlich den Bauernrock anzog. Mit herzerwärmender Frische und Kraft war die naive Begeisterung des Alpenvölkchens geschildert, das nach Niederwerfung aller vornehmen Feinde zu Haus von seinen Bergen ins Deutsche Reich einfällt, um die Welt zu befreien – die Welt, von deren Größe sich solche Herzenseinfalt recht nebelhafte Begriffe macht. Mit ergreifender Wehmuth entwickelte der Dichter dann, wie diese naive Sehnsucht nach Menschenverbrüderung sie immer weiter vom Pfad der Weltklugheit und auch des Rechts verlockte, bis die Männer von Appenzell, welche die ganze Menschheit verbrüdern wollten, sich um schnöde Beute zankten und ihrem Bruder Werdenberg mit Undank lohnten, so daß endlich doch die selbstsüchtige Bauernnatur zum Vorschein kam.

Ueber diese Dichtung, die wie von Alpenzinnen aus menschliches Recht und Unrecht mit milder Ruhe überschaute, hatte der Dramaturg eines Hoftheaters sich weisheittriefend verbreitet: »Sollten hier am Ende socialistische Umtriebe in dichterischer Gewandung vorliegen? Man erkennt gar wohl, wohin der Herr Verfasser zielt,« und so ging der Gallimathias drei Seiten lang fort.

Aber als nun Krastinik tobte und wetterte bei Lectüre dieser Briefe, da trat Leonhart nahe an ihn heran und fragte ihn: »Nun wohl, wollen Sie mir wirklich vorwärts helfen? Sie können es. Ich hätte da wohl eine Bitte..«

»Ist schon erfüllt. Befehlen Sie über mich! Wir wollen doch mal sehn, ob man diesen Schweinepriestern nicht irgendwie auf den Pelz klopfen kann.«

»Nun wohl, so hören Sie:« – – – – – –

II.

Bei dem gefürchteten Rhadamantys, dem »vornehmen« Kritikus Doktor Ottokar von Feichseler, war eine illustre Gesellschaft versammelt und genoß zu einer Punschbowle die Orakel des Gastgebers. »Man bemerkte« zuvörderst den Lord-Protektor und Pfadfinder großer Geister, Doktor Gotthold Ephraim Wurmb, mit seinem mieselsüchtigen Pfaffengesicht. Ferner den feinsinnigen Eklektiker Luckner, eine kleine behende Persönlichkeit von slowakischem Typus mit listig funkelnden Philologenäuglein, übrigens eine ehrenhaft und ideal angelegte Natur trotz einer gewissen boshaften Pfiffigkeit. Er trug immer einen glattgebürsteten Cylinder und gelbe Handschuhe, und spendete den Dienstmädchen Handdrücke wie ein Gentleman. ›Man bemerkte‹ neben ihm den ebenfalls feinsinnigen Eklektiker Adolf Gutmann, auch der ›Scheene Adolf‹ genannt, da er sein holdes Bildniß mit Vorliebe vor seine Buchfabrikate zu setzen pflegte. Ob sein großer Kopf auf seiner kurzen dicken Figur grade so schön wirkte, mußte man edeln Frauen zu beurtheilen überlassen. Jedenfalls konnte man seinem schwarzen wallenden Barte eine ansehnliche Länge nicht absprechen, um welche ihn zwar nicht Barbarossa, wohl aber Erzvater Abraham beneidet haben möchte. Mit diesem stand er ohnehin auf gutem Fuße, denn er lebte wie in Abrahams Schoß. Moses und die Propheten waren ihm hold, obschon er viel über sein Elend zu klagen hatte. Denn sein Vater und sein Schwiegervater lebten alle Beide noch und erst nach deren Tode wurde er dreifacher Millionär. Bis dahin aber mußte sich der arme Teufel mit seiner halben und der andern halben Million seiner Gattin begnügen. Aus berechtigtem Groll über solch dürftige Lage schrieb er gar weltschmerzreiche Poemata und wünschte sich oft den Tod, angeekelt von der Niedrigkeit der Welt. Wenn er von 50 Zeitungen besprochen wurde, jammerte er, daß die 51te fehle, und stellte die kühne Behauptung auf, er habe ja nur Feinde und keinen Freund auf der Welt. Böse Menschen versicherten, wenn er über seinen Nothzustand klagte und nur für hohe Honorare schreiben konnte, daß ihm auch wirklich die Litteratur jährlich ein kleines Vermögen koste. Doch war dies Verleumdung, da er als früherer Börsianer (er machte erst seit seinem 35ten Jahre in bedruckten Papierchen) viel zu viel filzige Geschäftsklugheit besaß. Seine besondere Spezialität bestand in Cigarrenbehältern und Aschbechern, auf deren Grund rothgedruckt stand: ›Gutmann, Pessimistische Novellen‹, eine funkelnagelneue Art von Reclame, um deren Patentrecht ihn Barnum behufs Importirung nach Amerika ersucht haben soll. Daß er natürlich seinen Abscheu vor aller Reklame und vorlautem Vordrängen bei jeder Gelegenheit kundgab, wußte Jeder zu würdigen. Uebrigens war er ein sogenannter guter Kerl und flößte den Eindruck einer gewissen Bonhommie ein. Freilich durfte man nicht tiefer auf den Grund gehen; dann kam ein gehöriger Berechner heraus. Auch fehlte es ihm nicht an bedeutendem Giftvorrath, den er ohne Namensnennung (da er natürlich nie den gemeint hatte, der sich getroffen fühlte) mit vieler Gewandheit zu verspritzen wußte. Wenn er sich übrigens über die Welt beklagte, so hatte er in gewissem Sinne nicht Unrecht. Denn theils in Folge des üblichen Neides auf seine günstigen äußeren Verhältnisse, theils aus Erbitterung Jener, die ihn erst später in seiner Eigenart kennen lernten, verschwor man sich allerorts, ihn für einen stümpernden Dilettanten auszuschreien. Gab doch seine komische Eitelkeit erwünschten Anlaß, sich über ihn lustig zu machen! Lobte ihn eine Zeitung, so mußte dies durchaus auf irgendwelche Bestechung hinauslaufen! Der immer gerechte Leonhart hatte jedoch dies niemals zugegeben, sondern stets Esprit, Wissen, Form- und Stilbegabung, ja sogar wirklichen Gedankengehalt an ihm gerühmt, obschon er Gutmann selbst die offenherzigsten Grobheiten an den Kopf warf und ihm zu Gemüthe führte, daß ihm alle und jede Ursprünglichkeit fehle. Die Andern aber nahmen seine Einladungen an, tranken sein Bier, rauchten seine echten Havanas und erklärten ihn einstimmig für die eingebildetste Null des Jahrhunderts. So geht's in der Welt. Wenn der arme Gutmann sich für einen verkannten großen Dichter hielt, so verdiente das nur ein Lächeln. Wenn er sich aber für ebensogut und sogar für besser hielt, als viele großspurige Rhodomonteure, die auf ihn herabsahen, so vertrat er zweifellos die objective Wahrheit. Selbst sein Charakter gewann bei einem solchen Vergleich, so viel von einem hausirenden Bandjuden in litterarischen Geschäftchen ihm anklebte. Denn eine gewisse vertrauensselige Kindlichkeit und naive Schläue verliehen ihm etwas Gewinnendes, obschon sein Auge tückisch und böse genug aufblitzen konnte, wenn seine unmäßige Eitelkeit ins Spiel kam. Uebrigens besaß er eine begeistrungsfähige Anempfindung, die ihn das Schöne wirklich erkennen ließ, da er ein grundgescheuter Kerl und keineswegs vernagelt war. Alles in Allem noch immer einer der Besseren, eine der merkwürdigsten Figuren des literarischen Lebens, dieser Commis-Voyageur in Poesie, der trotz alledem für die Berliner Litteraturjuden noch ein unverständlicher Idealist blieb.

Außerdem waren noch die zwei neuesten Größen, Holbach und Krastinik, und der philosophische Speichellecker Oberst von Dondershausen anwesend. Derselbe strotzte ordentlich von Biedermannshuberei, die ihm das glattrasirte Kinn wie Salbungsöl heruntertroff. Seine Fischaugen glotzen erbaulich wohlwollend in die unphilosophische Welt hinein. Da er nachher im Hohenzollernclub ein kornblumiges Festbardit vortragen mußte, war er im Frack erschienen und hatte sein ungewöhnlich reichhaltiges Ordenskettchen angelegt, das ihn als einen erprobten Streber mit diensteifriger Handkuß-Vergangenheit auswies. Er thronte hier hochtrabend mit als Kunstrichter, da der erlauchte Doktor Ottokar von Feichseler soeben die berüchtigte Anthologie realistischer Lyrik unter seine kritische Sonde nahm. Dieselbe lag, hochelegant im Kaliko gebunden, auf dem Tisch und ihr Herausgeber, der fettgesunde Jüngling Erich von Lämmerschreyer, saß mit andächtigem Gesicht davor, wie ein Bußfertiger auf dem Armesünderbänkchen. Mit der üblichen Gewandtheit, welche die weihepriesterlichen Rotzjungen und Tugendbesinger des Jüngsten Deutschland bei Verfolgung ihrer Privatzwecke entwickeln, hatte sich der begabte Neophyt eilig aus Leonhart's Bannkreis entfernt, nachdem er dessen Einfluß ausgenützt. Mit bescheidener Zerknirschung machte er alsbald dem Hohepriester des akademischen Idealismus, Ottokar dem Würdevollen, einen Ehrenbesuch und empfahl die Anthologie, welche er soeben herausgegeben, dessen unmaßgeblichem Wohlwollen. Aus dem Munde eines so hochzuverehrenden Mannes würde ihn auch der strengste Tadel erquicken.

Er kannte halt Ottokar's schwache Seite. Greis Ottokar (er war eigentlich erst 36 Jahre alt, aber erklärte sich für zwanzig Jahr älter, da die Stürme der Erfahrung ihn vorzeitig gebeugt hätten) würdigte diesen schönen Zug und beurtheilte danach den ganzen Menschen. Demgemäß pries er Lämmerschreyer sofort als einen jungen Mann von reinen Sitten und lauterer Gesinnung, der sich von dem Größenwahn der Andern frei halte. Auch lud er ihn zu der kritischen Sitzung ein, die er über die tragikomische Lyriker-Revolution abhielt. Zu allen Urtheilen sagte Erich der stilvolle Schwerenöther demüthig Ja und Amen.

Die wundersame Anthologie aber lautete:

Realistisches Jahrbuch der Lyrik.

Herausgegeben von E.v. Lämmerschreyer unter Mitwirkung aller Genies, die seit 1850 das Licht dieses ärmlichen Erdballs erblickten.

Vorrede.

Auf dem Kreis der hier versammelten Dichter beruht die Zukunft der Menschheit. Erhabener Geist, du hast uns viel gegeben! Wir sind die Erkorenen und rufen dem kommenden Jahrhundert. Was nicht für uns ist, ist wider uns. Nieder mit der ganzen altersschwachen Bagage! Man höre und staune: Mit unserer Lyrik befreien wir die altersschwache Welt! Wir sind die Reformation der Litteratur, welche schon unser lieber Genosse Leonhart prophezeite. Noch hat sich aus unsrer Mitte kein Führergenie erhoben, wie Goethe aus der älteren Sturm- und Drangperiode, obwohl wir bereits einen Lenz in Mokamaute und einen Klinger in Haubitz besitzen. College Hartung mit seinen orientalischen Allüren, die sich an Freiligrath geschult zeigen, fühlt sich dem Maler Müller verwandt und in dem strengen Ernst des Didaktikers Edelmann ahnen wir den Herder unsrer Epoche. Wer vermöchte Klopstock'schen Würdeschwung in unserm Freunde Max Henkelkrug zu verkennen! Schiller'sches Pathos athmet in Vielen, auch in unserm gefeierten Dramendichter Herrn v. Alvers. Kurz, man dürfte sagen, daß die Rollen vertheilt sind, und die thaufrische Blütheperiode einer neuen Klassicität nun losgehn kann. Wie gesagt, nur der Goethe fehlt noch, aber sollte nicht Anno Buchsbaum die Keime eines solchen in sich tragen? Und wenn uns auch Goethe und Schiller versagt blieben, so wird doch hoffentlich unser großer einziger Lessing neu erstehen in unserm Ambrosius Sagusch. Vivat sequens!

Der Herausgeber.

Max Henkelkrug. Der Weltbefreier.

Der Satan führte mich im Traum

In der Versuchung Bergeswüste

Und zeigte mir den Weltenraum

Sammt allen Schätzen jeder Küste.

Ich lachte in erhabenem Hohn:

»Armseliger, was willst Du schenken?

Zaunkönignestlein – Kaiserthron!

Der Adler soll die Schwinge senken?«

Hei, Pegasus, ins wilde Turnei!

Grimm sei Dein schneidiger Sporn!

Die Schranken der Sitte sprenge entzwei!

Hell schmettre der Freiheit Horn!

Die Geißel des Spottes in linker Hand

Und das Flammenschwert in der Rechten,

Den Popanz Wahn zu Boden gerannt!

Hinaus zum lustigen Fechten!

Fortreißt der Pegasus mich unaufhaltsam.

Auf, Flammen, mögt ihr prasselnd mich umwogen!

Der Ruhe Halfter sprengt mein Geist gewaltsam.

Nun, Myrmidonen, fürchtet meinen Bogen!

Die Sonnenrosse mögen mich zerschmettern.

Sei nur des Brütens Bann von mir genommen!

Der Aar saugt Lebenslust in wilden Wettern.

Verzweiflung und Martyrium, willkommen!

Ein heller scharfer Ton

Durchs Herz der Menschheit bebt,

Wie vor Posaunendrohn

Einst Jericho gebebt.

Ein Schauder wunderbar

Den Glücklichen ergreift,

Wie wenn ein lichter Aar

Ihm seine Locken streift.

Ein wilder Harfenklang

Um Schmerzverdammte schwirrt,

Wie Saite, die zersprang

Zerissen niederklirrt.

Ein Schrei, vor dem uns graut,

Im Herzen nimmer schweigt,

Wie klagend eine Braut

Sich auf die Walstatt neigt.

Ein Drängen unbekannt

In freien Seelen stürmt,

Wie wenn Gigantenhand

Den Berg zum Himmel thürmt.

Dies Drängen und dies Sehnen

Verläßt die Menschheit nie

In Lächeln und in Thränen

Und heißt – die Poesie.

Seid ihr hin, ihr schönen Tage

Ohne Plage, ohne Klage,

Wo noch frisch mein Blut,

Wo ich glaubte, niederringen

Könne alles und erzwingen

Stolzer Jugendmuth?

Mann und Greis in früher Jugend,

Ohne Laster, ohne Tugend,

Seltsam war mein Loos:

Bald in kühlen Scheingefühlen,

Bald in der sirokkoschwülen

Leidenschaft Getos.

Jeder Stern ist jetzt verblichen.

Auf der Welt gemeinen Schlichen

Suchte ich Ersatz.

Hab zur Herde mich erniedert.

Doch ich fühle angewidert:

Hier ist nicht dein Platz.

Liebe mag sich mir nun nahen.

Ach, ich kann sie nicht umfahen,

Denn mein Herz ist todt.

Glück und Ruhm sie mögen kommen.

Ach, mir kann es nichts mehr frommen.

Komm Du, grause Noth!

Wir nur passen noch zusammen!

Schüre mir die letzten Flammen

Für ein Lied empor!

Daß mein Zorn Dir, Sclavenherde,

Einmal zugedonnert werde,

Den ich lang Dir schwor!

Doch der Schmerz, der mich gezüchtigt,

Auch mich läutert und mich tüchtigt.

Jede Thränenfluth,

Die mir brannte unvergossen,

In mein stolzes Herz verschlossen,

Stähle mir den Muth!

Sommer ist dahingegangen

Und mein Blut schleicht matter nun.

Gelb und fahl die Blätter hangen

Und des Waldes Sänger ruhn.

Doch des Herbstes Abendsonne

Röther malt den Ahornhain

Und am Rhein in stiller Wonne

Frisch gekeltert perlt der Wein.

Ruhig sitz' ich beim Pokale,

Ruhig harre ich der Zeit,

Wo die satten Rebenthale

Und der Ahornwald verschneit.

Nach der Jugend Frühlingswärme

Folgt des Alters greiser Frost –

Winter, glaubst, daß ich mich härme?

Skol Dir, Skol im Herbstesmost!

Ob Dir der Jungfrau Scherz

Wie Rosenduft gefalle,

Der verschwiegene Mannesschmerz

Gleicht gediegenem Metalle.

Wenn die Sonnenstrahlen funkelnd

An den Bergesspitzen haften,

Selbst den Schluchten, grausig dunkelnd,

Reiz verleihn sie, zauberhaften.

Wenn ein Regenschleier schaurig

Dir verbirgt der Sonne Glänzen,

Dann erscheint Dir trüb und traurig

Selbst der Matten frohes Lenzen.

Krieg allem Feigen, Schlechten, Morschen, Alten!

Ich fühle auf der Stirn den Weihekuß.

Mit Arimanes' ewigen Gewalten

Des heiligen Feuers Priester ringen muß.

Kampf ist die Losung. Mit der Wahrheit Nadel

Durchstech ich geistig Blinden ihren Staar.

Was ficht mich an der Menge Lob und Tadel?

Was ficht mich an Verkennung und Gefahr?

Harold Theopol Mokamaute. Aus allertiefstem Wonneweh.

Die dumpfe Dämmrung lastet

Auf meinem Adlergeist,

Seit mein unsterbliches Sehnen

Als sterbliche Liebe kreist.

Es kreist wohl über die Erde

Zur blauen Ewigkeit, –

Der Liebe Strahlenbrücke

Führt über den Schlund der Zeit.

Und floh auch Deine Liebe,

Die meine kann nicht entfliehn.

Und fliehst Du aus dem Leben,

Mir kannst Du Dich nicht entziehn.

Dein Tod zieht nach mein Leben,

Dein Schatten mich dann umschwebt,

Bis mit Deiner süßen Leiche

Für ewig er mich begräbt.

Ich will für immer verzichten

Auf jede Unsterblichkeit –

Denn ohne Deine Liebe

Wär sie unsterbliches Leid.

Und kann die Seele lieben

Wie hier im Aetherraum, –

Sie könnte nicht ertragen,

Was hier zu träumen kaum.

Denn hier auf Erden ist Liebe,

Die nimmer vergeht, ein Traum –

Für die Wirklichkeit des Glückes

Hat keine Seele Raum.

O süß-unsterbliche Wonne,

Für ewig zu enden nun,

Doch ewig Wange an Wange

Im selben Grab zu ruhn!

Nur keine Thränen, keine eitlen Klagen!

Ich werde nie Dich wiederschaun im Leben.

Doch Dich verlierend werde ich Dir sagen:

Ich hatte meine Liebe Dir gegeben.

Alles ist froh und alles ist hold

Vom Grasgrün bis zum Sonnengold.

Die Erde lächelt in Mairegenduft

Und Iris schwingt sich in schweigender Luft.

Und das liebliche Mägdlein bückt sich munter,

Blumen zu sammeln in kunterbunter

Farbiger Reihe zu reizendem Strauß

Und füttert die Sänger im Vogelhaus.

Sehnend streck' ich die freien Glieder,

Jauchze Glückauf in die schimmernde Luft.

Ströme unendlich beseligend nieder,

Neuer Welten balsamischer Duft!

Ein Veilchen, fand ich Dich im stillen Haine,

Sorglos ob je, ein Auge auf Dich fällt.

Doch eine Rose heut im Sonnenscheine

Blühst duftig Du, ein Wunder aller Welt.

Ich lieg im Schooß Dir neugeboren: Als Sohn und Buhlen

Hast Du, Madonna, mich erkoren, mich mütterlich zu schulen.

Den Bund von Frühling und Sommer mag später ein Sprosse krönen,

Auch ich an Deinen Brüsten lag: Zähl auch den Gatten zu Deinen Söhnen.

Sprichst Du zu einer Frau: »Sie sind sehr tugendhaft,

Sehr geistreich und sehr weise, vollkommen ganz und gar,

Doch leider – daß doch Gott nichts ganz Vollkommnes schafft! –

Sie sind nicht schön« – sie denkt: »Der Dummkopf, der Barbar!«

Sprichst Du zu einer Frau: »Sie scheinen lasterhaft,

Albern, gemein und dumm, doch dies gesteh ich dreist:

Sie sind sehr schön, Sie reizen des Mannes Leidenschaft« –

Sie denkt: »Der Mensch ist roh, doch hat er wirklich Geist.«

Leer sei Deine niedre Stirn,

Jammerst Du, Du dicke Gute?

Ei was thut's, Grisettendirn?

Fülle steckt in Deinem Blute.

Weiter will ich nichts vom Weib:

Volles Herz in vollem Busen,

Treue und gesunder Leib.

Alte Jungfern sind die Musen.

Faul sind wir von Natur in allen Stücken,

In einem Punkt nur fleißig immerdar:

Uns selbst zu quälen will uns immer glücken,

Denn hier sind wir erfinderisch fürwahr.

Es ist ein Tantalusgefühl,

Zur Sinnlichkeit sich selbst zu treiben,

Doch im Genuß noch nüchtern-kühl

Und ohne Wonnerausch zu bleiben!

Nicht zähmen die verworfne Gier

Und deutlichst ihre Folgen kennen

Als wolle man nicht löschen schier,

Aus Faulheit lieber so verbrennen!

Wenn ich in das Lotterbette eile,

Ist es nur, mich zu verstecken

Vor der Fledermaus der Langeweile,

Die mich hetzt in allen Ecken.

Ach, es ist nicht mehr der Reiz der Sinne,

Denn ich weiß, was ich dabei gewinne:

Einen Katzenjammer besten Falles,

Einen schnöden Kitzel – das ist Alles.

Wird mein Wille mich denn nie erretten

Von den langgetragenen schweren Ketten?

Ja, ich thue einen großen Schwur:

Will mit einem Rucke sie zerreißen,

Tilgen jedes Sündenbrandmals Spur

Und den innern Moloch von mir schmeißen.

Liebe war es oft, die mich verführte

Und mit Leidenschaft das Herz mir rührte –

Kalt und ruhig blick' ich nun umher,

Keine Liebe kann mich locken mehr.

Es leuchtet in meines Innern Haft

Die Central-Seele der Welten.

Doch auch die Flamme der Leidenschaft,

Sie lodert daneben – was hilft das Schelten?

Vom Herbstwind eine Frühlingsblum' geknickt

Sahst Du noch nicht?

Dein Auge leicht dies Phänomen erblickt:

Mein Angesicht.

Elender, sieh Dein Bild in diesem Spiegel!

Die Lippe blaß, die Stirne düster!

Ehrloser Lüste und des Grames Siegel

In jeder Falte ausgeprägt.

Ach! Meiner Sünden Leiden trägt

Dies Antlitz, wüster, immer wüster.

Ich dämmte in mir meiner Liebe Fluth

Und barg voll Muth die innerliche Gluth

Und widerstand den Augen, die mich riefen:

»Was zauderst Du? O laß den Blick, den kalten!

Soll ich vor Dir denn noch die Hände falten?«

Die Zweifel, Zorn und Kummer, die schon schliefen,

Weckt' ich auss neu, um mich ihr fern zu halten.

Denn so nur in dem selbstgeschaffnen Leid

Könnt' ich das Werk vollenden, das ich plante:

Die Zukunftsschöpfung meine Seele ahnte,

In der mein Gram ward zur Unsterblichkeit.

O könnt ich nur einmal die Liebesqual,

Bekennen, mich stürzen zu Deinen Füßen,

Und auf sie drücken das Henkermal

Wuthbrennender Küsse, die Lust zu büßen!

Um Deine Kniee mit heimlicher Gier

Meine Arme brünstig stehend verschränken,

Deine zitternde Hüfte umspannend, zu mir

Deinen wallenden Busen, niedersenken.

Und immer weiter tasten jetzt

Auf taumelnder Inbrunst Stufenleiter,

Bis meine lüsterne Lippe zuletzt

Vom Nacken kostet weiter und weiter.

Bis die zarte Wange an meiner lehnt!

O könnt ich das Eis Deiner Keuschheit schmelzen!

Ha, wie der Verschmähung Rache sich sehnt,

Dich schwelgend durch Höllensümpfe zu wälzen!

Paulus Hartung. Grabesseufzer an Serafina.

Die Perle birgt sich in der tiefen Muschel,

Brich sie heraus, so stirbt das Muschelthier:

Zur Liedesperle formt sich die Empfindung.

Doch ach! das Herz es bricht darüber Dir.

O sage nicht, daß dahin Deine Zeit

Und daß Deine Schönheit zu früh verblüht

Und daß Deine Jugendfreudigkeit

In der Schwermuth Asche für immer verglüht.

Einst streifte Dein Falkenauge nmher,

Deiner Schönheit Beute suchte es sich.

Nun senkt Dein Blick sich liebeschwer,

Wie der Taube, die nie vom Neste wich.

Und ist Dein Schritt nicht mehr so leicht?

Doch kehrte ich aus der Fremde zurück,

Entgegen eiltest Du mir vielleicht

So schnell, wie früher im Jugendglück.

Und wäre auch Deine Schönheit verblüht,

Sie blühte weiter im Herzen mir.

Denn ewig bewahrt ein liebend Gemüth

Die Rose der Erinnerung hier.

Ich möchte stehn, wo wie ein flinker Aar,

Deß Fittich leuchtet in der Sonne klar.

Wie weiße Federn sträubend seine Wellen,

Herniederstößt vom Berg der Wasserfall,

Bis am Granit die Fänge ihm zerschellen.

Wie Banner Wassersäulen wehn, die hellen,

Durchwirkt mit Gold, Rubinen und Smaragd,

Und schmetternd rollt es, wie Drommetenschall,

Wie Pauken wirbelt es in dumpfem Takt,

Und höher, dichter thürmt sich Wogenschwall,

Als lärme eine Heerschaar von Rebellen

In diesem Höllenschlunde, von Dämonen,

Die mächtig rütteln an den Felsenthronen,

Bis sie sich selbst erobert Sonnenkronen.

Hier möcht' ich stehn an des Verderbens Quellen,

Wo aus dem Abgrund dumpfe Schreie gellen.

Trüb war mein Blick von unvergossenen Thränen,

Mein Auge noch Dein Auge mied.

Daß Du verbergen wolltest, konnt ich's erwähnen,

Wenn sanft Du niederschlugst das Lid,

In Deinem Auge nur den Widerschein.

Verstohlenen Mitleids, das mir galt allein?

Ein Augenblick hat mir Dein Herz erschlossen,

Zum Tag des Glücks bin ich erwacht.

Auf welke Herzensblumen hat ergossen

Des Friedens Thau sich über Nacht.

Als Deine Lippe zitternd mich berührt,

Ward jedes Leidens Schatten mir entführt.

Und neue Sonne lag in Deinem Blicke.

Von mir Du fortgezaubert hast

Mit süßer Ueberredung die Geschicke,

Die lange mich verwandelt fast

In eine Mißgestalt, ein Zwittersein,

Ein falsches Wesen, dessen Kälte Schein.

Doch jetzt fällt ab von mir die feige Hülle

Und ich bekenne laut und frei

All' meiner Liebe Uebermaß und Fülle,

Werf' ab des Stolzes Sclaverei,

Der mich vermummt ins fade Geckenkleid.

Frei will ich nun bekennen Lust und Leid.

Ich bin ein Künstler. Und das wahre Siegel

»Von Gottes Gnaden« ist Dein Mund.

Dein Aug' ist meiner eignen Seele Spiegel,

Ich schaue deutlich bis zum Grund

In der Gefühle Strom, den Quell der Triebe.

Mein Auge schärft der Sonnenstrahl der Liebe.

Daß ich ein Künstler, fühl ich erst durch Minne:

Jetzt springt die Fluth des Himmelsquells,

Den noch verbarg der grobe Staub der Sinne

Und des Verstandes kalter Fels.

Der Muse Gruß ist der Geliebten Lippe,

Und wahre Liebe wird zur Aganippe.

Gedanken bleichten Deiner Wange Glanz,

An ihrer weißen Rose zehrt der Gram.

Doch würde Freude oder holde Scham

Umwinden sie mit rötherm Rosenkranz,

Fürcht' ich, daß dieser rauhere Schimmer ganz

Die wahre Anmuth Deinem Antlitz nahm.

Zu früh der Sturm der Leidenschaften kam,

Wollüstig wirbelnd Dich im Lebenstanz.

Der Reue Dorn an Deinen Blüthen nagt,

Der Unschuld Frische ist Dir nicht geblieben,

Nur Liebesthau Dein welkes Herz erfrischt.

Zu brechen ach! Dich meine Hand nicht wagt,

Ich scheue jenen Dorn trotz allem Lieben,

Denn Deiner Farben Schmelz scheint nur verwischt.

Wie Moses, der geschaut das heilige Feuer,

Nicht sagen konnte, was er dort entdeckte,

So auch mein Geist für immerdar bedeckte

Meine Gedanken mit der Liebe Schleier.

Eh mögen meine Haare mir erbleichen,

Eh ich bekenne, was ich oft gelitten.

Wohl hast mein Herz Du mittendurch geschnitten,

Doch keine Thräne siehst Du niederschleichen.

Kein Blut so locken dreischneidige Klingen

Aus Wunden, innerlich verblutend, schweren,

Doch Todesblässe sie den Wangen bringen.

Auch Du vermißt in meinem Auge Zähren,

Wenn Deiner Worte Dolche mich durchdringen,

Mein bleiches Antlitz aber sollst Du ehren.

Zwei Sterne waren's und ein Glanz von Rosen,

Weißröthlich als ob Schnee darüber flockte,

Das war's, was in der Liebe Schlinge lockte

Mich schon Erstickenden und Odemlosen.

Ich brenne, brenne. Ströme nicht noch Meere

Verlöschen meine Gluth, doch brenn' ich gerne.

Entzündend mich an ihrem Augensterne,

Aufs neue stets ich weiter mich verzehre.

Ja, wie ein Phönix in die Flamme springe

Ich selber, die an meinem Marke prassen!

O wie viel süßer wäre doch die Schlinge,

Wenn ihre Arme wollten mich umfassen,

Und glichen sie dem heißen Feuerringe!

Wohl bin ich frei, doch bin ich glückverlassen.

Todtenlied auf die Geliebte des Kalifen.

Wehe, wehe über diese Todte,

Die der Sturm gepflückt in ihrem Lenze,

Eh der Gluthstrom ihrer Brust verlohte –

Sie die Herrin in dem Land der Tänze!

Sie die Herrin in dem Land der Sänge,

Sie die Herrin in dem Land der Rosen –

Laßt drum ihrer Heimathlieder Klänge

Ihre fliehende Seele noch umkosen!

Auf die schwarze Gruft laßt niederflattern

Weiße Rose, die zu Schiras sprießet!

Denn als Pflicht geziemt es den Bestattern,

Daß ihr schönes Leben schön sich schließet.

Nun hat sie das erste Leid betroffen,

Daß auch dieses wandelt sich in Gnade:

Früh steht Allah's Sternensaal ihr offen

Und zum Tubabaum ziehn ihr Pfade,

Während wir die Häupter niedersenken,

Sündenreif, der kargen Erndte harrend,

Und erst spät zum Grabe wankend lenken,

Fast willkommen uns entgegenstarrend.

Sie ist glücklich! Darum auf, Gebieter,

Welchen mehr, als uns, sie hat verlassen!

Warum willst Du, ihres Leichnams Hüter,

Deiner Jugend Mark in Gram verprassen?

Dreier Tage Lauf ist Dir verstrichen,

Speis und Trank versagend Deinem Munde –

Bleich wie sie, die Dir und uns verblichen,

Stierst Du starr und schweigend in die Runde.

Wartest, ruhend neben ihrer Leiche,

Kalt wie sie durch Dein erbittert Härmen,

Ob Dein warmer Odem wohl sich schleiche

In die Adern ihr, das Blut zu wärmen.

Doch genug! Erhebe Dich, Kalife!

Wenn der Liebe Freuden auch geschlossen,

Ist Dir's nicht, als wenn Drommete riefe

Oder Schnauben von beherzten Rossen?

Und Dein Reich, Kalif, es ruft Dich strenge,

Daß den Scepter fremde Hand nicht fasse!

Ferne hör' ich tausendstimmige Menge,

Feindestritte hör' ich nahn, erblasse!

Nein, erröthe in gerechtem Zorne!

Laß die Todten und das Leben wähle,

Daß an unstillbarer Sehnsucht Dorne

Nicht verblute Deine starke Seele!

Also hätte ja auch Sie gesprochen,

Wenn der Feinde Schaaren Dich umdrohten!

An dem Feinde sei ihr Tod gerochen:

So gedenk', o so gedenk' der Todten!

Rafael Haubitz. Aus dem Morast der Sansara.

Jüngst im Traum durch Kaschmirs Hain

Schritt ich hin auf weichem Rasen,

Wo Jungfrauen, selbst ein Kranz,

Rosen sich zum Kranze lasen.

Und ich wollte lechzend schon

Meine Auges Gluth versenken

In den Blick der schönsten Frau,

Sinn und Seele, all mein Denken.

Wollte an mein fiebernd Herz

Ihren weißen Busen pressen

Und in wilder Liebeslust

Zeit und Ewigkeit vergessen.

Ich erwachte. Nacht um mich.

Einsam war ich und verlassen.

Todte Nacht, nur einzeln schlich

Noch ein Schwärmer durch die Gassen.

Wie unschuldsrein sind Deiner Lippen Rosen,

Wie jugendfrisch und rosig Deine Wangen,

Wie weiblich sanft Dein schmeichlerisches Kosen!

Doch tief im Herzen wohnen giftige Schlangen.

Längst ward es ein Morast, in dem versunken

Ein jedes reinre Fühlen, schmutz-getödtet.

Dort wohnt das Irrlicht nur und finstre Unken.

War diese weiße Stirn je schamgeröthet?

War früher je Dein Herz ein Friedensweiher,

In dem sich spiegelte der Stern der Reinheit?

Die Taube Weiblichkeit, hat sie der Reiher

Der Noth verscheucht vom Sumpfe der Gemeinheit?

Ach, überm giftgen Abgrund fliegt die Taube

Verzweifelt hin und wieder in der Herde

Der Fledermäuse, flügel-lahm ihr Glaube

Und fern die Hoffnung auf die Heimatherde.

Sie winkt am Sumpfessaum, ein grüner Anger –

Umsonst! Nachtfalter schwirren dicht und dichter,

Die Taube stürzt sich, flatternd bang und banger,

Betäubt hinab, ihr eigener Vernichter.

Doch bist Du eine Taube, süße Schlange?

Warst Du es je? Du plätschertest mit Wonne

Im heimathlichen Kothe wohl schon lange –

Du mit dem reinen Antlitz der Madonne!

Denn keinen Flecken ließ das Schmutz-Geträufel

Auf Deinen holden Zügen. Zu der Katzen

Geschlecht gehörst Du, Engel halb, halb Teufel.

Wie möchten Deine Tatzen mich zerkratzen!

Doch sehnsuchtsvoll singst Du Sirenen-stimmig,

Als sehne sich Dein Herz nach reinerm Fühlen.

Folgt' ich Dir aber, würdest Du mir grimmig

Das Herz zerreißen, um damit zu spielen.

Gleich wie mit zartem Pfötchen sich ein Kätzchen

Ein Mäuslein fängt als Spielzeug – wie possirlich!

So würdest Du mich Stück für Stück, mein Schätzchen,

Zerfleischen – doch wie zierlich und manierlich!

Du echtes Weib! Das Weib schon eine Sphinx ist,

Liebe im Auge, Wollust in den Adern.

Und wer im Bann des Liebeszauberrings ist,

Soll mit der Fee, die ihn behext, nicht hadern.

Sie übt nur ihr Metier, wer will drob schmälen?

Und das, mein Kindchen, euch am meisten kitzelt,

Selbst wenn ihr wiederliebt, die Lieb' zu quälen.

Das Mündchen seinen eignen Kuß bewitzelt.

Denn wenn auch wahre Leidenschaft euch schmeichelt

Und ihr sie sucht und anfacht, so verlogen

Ist die Kokette, daß sie Kälte heuchelt,

Bis es zu spät ist und der Traum verflogen.

Mein flammend Herz das ist ein Tabernakel,

Zu Weihrauch dort verbrennen Deine Mängel:

Aus dieser Gluth, abschmelzend allen Makel,

Ein Phönix, neuverjüngt, rein wie ein Engel,

Wirst Du entsteigen, die Du aus dem Schlamme,

Wie Venus aus dem Meere stieg, entstiegen

Mit keuscher Anmuth. Meiner Liebe Flamme

Soll zu dem Scheine noch die Wahrheit fügen.

Denn wer versteht unschuldig noch zu scheinen,

Wer äußerlich den schönen Schein bewahrte,

Wird innerlich, daß es nur Schein, beweinen.

Und, wenn sich wahre Liebe offenbarte,

Weit klarer ihre Lieblichkeit erkennen.

Dem Christus folgt zuerst die Magdalene,

Denn Er vergiebt. Wo seine Küsse brennen,

Da trocknet die nutzlose Reuethräne.

Reue? Warum? Blieb lauter nur die Seele

Und kann sie nur zur Liebe sich erheben,

So schwinden alle äußern Sündenfehle.

Wer viel geliebet, dem wird viel vergeben.

Frohsinn wird dann verschönen Deine Züge,

Aus Thränen sprießen blumenreine Triebe.

Verbanne von den Lippen jede Lüge

Und glaube was Du ahnst: Daß ich Dich liebe!

Die unverdiente Schmach erdulden müssen

Und selbst verdiente ist wohl bittre Pein.

Und bitter, an des Grames schwarzen Flüssen

Umirrend, fern dem Quell des Trostes sein.

Vom Heim und seinen Lieben fortgerissen,

Das Meer durchmessen einsam und allein,

Zu suchen Sicherheit am fremden Porte,

Nie zu betreten mehr vielleicht der Heimath Pforte.

Es ist wohl bitter, wenn ein König Dich,

Ein Volk, dem Du Dein bestes Blut geschenkt,

Mit einem Tritt fortschleudert. Sicherlich

Des Undanks Wort und That Dich bitter kränkt.

Und Haß, der in des Freundes Herz sich schlich,

Durch grundlose Verleumdung nur gelenkt,

Ist bitter, bitter höhnende Verachtung,

Und einem stolzen Sinn noch bittrer: Nichtbeachtung.

Gekränkte Ehre bitter einem Ritter,

Und in des Kriegers Brust das kalte Erz,

Der mit sich fallen sieht sein Land und bitter

Um ein zertretnes Vaterland der Schmerz.

Und bitter, wie ein luftversperrend Gitter

Den Kranken und Gefangnen, quält das Herz

Der falsche Stolz, der, wenn's nach Liebe ringt,

Aus eitlem Eigensinn und Trotz sich selbst bezwingt.

Verkannt zu werden bitter und noch mehr;

Verstanden nicht zu werden. Bitter Tod

Im Kern des Lebens. Bitter einem Seh'r

Vorauszusehen seines Volkes Noth.

Bitter, stirbt eine Sendung stolz und hehr

Mituns, zu sterben. Bitter ist das Brot

Der Armuth, bittrer noch ist Sündengeld.

Verschmähte Liebe scheint das Bitterste der Welt.

Und dennoch Dinge giebt's, die bittrer sind

Für Seelen stark und fest, wenn auch nicht rein,

Und edel, wenn auch kalt. Wie Schauer rinnt,

Dies bitterste Gefühl durch Mark und Bein.

Lieben und nicht geliebt zu werden find'

Ich eine Wonne neben solcher Pein.

Was ist vom Bittern übrig denn geblieben?

Es ist: Geliebt zu werden und nicht wieder lieben

Wenn taufendfach ich umdräut von Weh,

Wenn rastlos steigt der Leidenssee

Und zur Krisis drängt das Lebensfieber,

So ist mir wahrlich dies noch lieber,

Als wenn ein einzeln nagender Kummer

Vergiftet den zufriedenen Schlummer.

Wie ich Dich liebe kann ich nimmer sagen,

Nie habe mein Geheimniß ich gebrochen:

Ich will es ohne Klagen weiter tragen,

Der Gram bleibt ungeheilt und ungesprochen.

Denn Scham muß ein Bekenntniß mir verwehren:

Ich würde vor mir selber mich entehren.

Ich halte nächtlich Dich im Traum umfangen,

Ich kühle meine Gluth an Deinen Lippen

Und schmieg' an meine Deine blassen Wangen,

Am Necktar höchster Wonne darf ich nippen.

Doch Morgens ließ der Traum mir nichts als Thränen

Und ungestilltes unzähmbares Sehnen.

O knisterndes flammendröthliches Haar,

O schwüle Farbe der Wangen!

Dein Rehaug' blickt so klug und klar,

Als kenne es kein Verlangen.

Der Geist so herrlich entfaltet und

Die Rede so weise-gemessen!

Wir schließen wahrhaftigen Seelenbund,

Der Leib wird fast vergessen.

Das äugelt so keusch, das girrt so sanft,

Doch unter den Wimpern es lodert,

Und die Scham wird plötzlich zu Boden gestampft

Und fleischliche Opfer gefodert.

Hingebende Wuth, die einander trutzt!

O rasende Sehnsucht der Sinne!

Bald hast Du Simson abgenutzt,

O Astaroth der Minne!

Begierde ist ein Fieber-Rausch: Mein Fieber

Austobte im Delirium

Und kalt durchfröstelt es mich drum.

Ach, rationelle Heizung wär mir lieber!

Der innere Verbrennungsprozeß

Wird delirium tremens durch Exceß.

Man sagt, dem Säufer schlage zur Kehle

Heraus die Flamme vom Alkohole, –

O schlüge die Flamme aus meiner Seele –

Erkaltende Asche, verglimmende Kohle

Könnt' ich nur all meinen Spiritus

Phosphorisch leuchten lassen zum Schluß

In einer Geistesflamme! Statt dessen

Die Flammen nach Innen weiterfressen,

Den wahren Zündstoff so verzehrend,

Des Schaffens Ausbruch ihm verwehrend.

Mitternacht ist lange schon vorüber.

Einsam irr ich durch die regennassen

Von dem Morgenwind durchheulten Gassen.

Röthliche Laternen brennen trüber.

Fort die Kaufmannsstraße lang-langweilig!

Rings im Ehebett schnarcht der Philister.

Schnee und Hagel, tückisches Geknister.

Und den Tod im Herzen, weiter eil ich.

Schaudernd hin am kalten schwarzen Flusse!

Springe! Welt und Gott hat Dich verlassen.

Warum blöde nur das Dasein hassen?

Wirf es ab mit einem raschen Gusse!

Wer im Strom des Genusses zu baden gewillt,

Darf nimmer zaudern und zagen,

Wo die Naphtaquelle der Wollust quillt,

Hineinzutauchen wagen.

Ausbranden muß sich die Leidenschaft,

Bis der letzte Schaum zerronnen.

Vergeudet ist nur die geopferte Kraft,

Wenn nicht durchgekostet die Wonnen.

Den Wermuth schüttelst vom Mund Du Dir,

Den Kelch zur Hefe genossen!

Doch grämelt die halb gesättigte Gier

Ueber Freuden, die halb zerflossen.

Und willst Du Dich spröde entziehen der Lust,

Wird heimliche Brunst Dich verzehren.

Einlullt die Wollust die müde Brust,

Wird Dir Behagen bescheeren.

Und wenn Dir das Laster Gewohnheit wird,

So wolle es nicht mehr bezwingen!

Folg' der Gewohnheit unbeirrt,

Die Tugend kann nie mehr gelingen!

Mit einem feierlichen »Pfui!« unterbrach hier Dr. v. Feichseler die Vorlesung der einzelnen Stücke. »O wie widerlich, wie widerlich! Diese Versündigung an sich selbst, dies Wühlen in Unzucht und Größenwahn! Wohin, meine Herrn, wohin flieht die Moral, die Moral!«

Die kahle Glatze des eleganten Männchens strahlte von sittlicher Entrüstung. Alle Haare, die er je verlor, schienen sich in Gedanken emporzusträuben. So vertheidigt man nur die Moral, wenn man die traurigen Folgen kennt, welche das Abirren vom Pfad der Tugend strafen. War er nicht besonders berufen, als getreuer Ekkart zu warnen, er, den der Venusberg in stürmischer Jugend so grausam gerupft?

»Mich chokirt weniger die Immoralität,« docirte Dondershausen, »als die Zuchtlosigkeit dieser jungen Schwärmer. Wie kann man dichten, ohne ein Privatissimum in der Logik und exacten Philosophie gehört zu haben! Kant's ›Kritik der reinen Vernunft‹, meine Herrn, das erhabenste Werk, so der Menschengeist geschaffen, kann diesen jungen Herrn zur Lectüre nicht dringlich genug empfohlen werden. Bezüglich der Sinnlichkeit in der Kunst denke ich bekanntlich anders, als unser verehrter Wirth. Allein, es muß eine geadelte Sinnlichkeit sein. Man lese meine ›Elegieen vom Mügelsee‹ in Hexametern, von welchen, wie ich wohl sagen darf, eine ganz neue Kunstanschauung der Sinnlichkeit herdatirt. Herr Graf haben sie ja gelesen?«

Krastinik verbeugte sich schweigend. Es war ihm widerlich, diese beiden abgelebten Pedanten ihr Gequatsch wiederkäuen zu hören. – Der Eine als moralischer Akademiker, der Andre als »vornehmer« »ritterlicher« Idealist, der seine greisenhafte Brunst mit ledernen philosophischen Phrasen verbrämte.

Man las weiter in der Anthologie.

Heinrich Edelmann. Pfingsten eines Gottsuchers.

Rastlos wandernd ohne Grauen,

Würde es auch spät und später,

Wirst Du blauen klaren Aether

Durch des Urwalds Dickicht schauen.

Das ist der ruhige Fyord,

Der seinen Gruß entboten

Vom Heimathort zum Meere fort

Als sichrer Port dem ringenden Piloten.

Ist gleich des Glücks Symbole

Das Alpenglühn versunken,

Strahlt noch ein letzter Funken

Auf höchster Alp, des Ruhmes Aureole.

Das ist am Lebenshorizont

Der Abendstern, der später gern

Umwandelt sich zum Morgenstern,

Der durch des Todes Schatten bricht,

Bis sich an neuem Lebenslicht

Die auferstandne Seele sonnt.

Dem Edlen ist das Leben hold:

Der Ruhe Balsam und der Weisheit Gold

Vertraulich spendet jede Nacht.

Die Glorie der Kunst, das Meteor der Träume

Durchzuckt der Seele Sternenräume

In ungeahnter Wunderpracht.

Die auserkornen Geister aber hören

Egerias Geheiß in unhörbaren Chören,

Sich unsichtbare Geister zu beschwören.

Im Walde über Stock und Stein

Irrt König Artus, hinterdrein

Irret die Tafelrunde.

»Merlin, Merlin!« so hallt ihr Schrei'n

Aus weheklagendem Munde.

Merlin, der mystische Seher, hört

Kein einzig Wort, er starrt bethört

Nur in die Augen seiner Trauten,

Die ihm den Weisheitsstolz bethört,

An dem Jahrhunderte bauten.

An der Weißdornhecke sitzt er nun,

Sein Bart ist Moos, seine Füße ruhn,

Von Sommerfäden umschlungen.

Er ist verzaubert und merkt es nicht,

Starrt in der Nixe Angesicht,

Von ihrem Reiz bezwungen.

Die Seele verkauft sich der Liebeslust

Und dem üppigen Außenleben,

Doch der Liebesschmerz in des Denkers Brust

Wird neue Flügel ihr geben,

Abschüttelnd den eiteln Maienblust,

Bis der Sehnsucht Schwingen sich heben.

Die getrennten Glieder sind dann vereint,

Der Völker Tafelrunde.

Und Artus' Schwert mit dem letzten Feind

Sank zu der Vergangenheit Schlunde.

Zum Feeenschloß Avillion,

Zu den Inseln der Seligen, pilgern schon

Alle Templeisen im Bunde.

Und dort, von Sinnlichkeit erlöst,

Merlin das Saisbild entblößt,

Des Grals geheimnißvolle Kunde.

Gerhart Heidenauer Messiasleiden eines Promethiden.

Zu Schmerz und Sünde wird der Mensch geboren,

Sein innerst Wesen nur ist Schmerz und Sünde.

Laokoon, durch alle Deine Poren

Gift spritzen dieser Schlangen Eiterschlünde.

Der Dichter aber wurde auserkoren,

Daß der Dämonen Walten er verkünde.

Er trägt der ganzen Menschheit Sündenschmerz.

Ein Heiland, der gekreuzigt, ist sein Herz.

Nur einen wahrhaft Glücklichen ersinne,

Dem weder äußre Noth noch innre Qual

Das Sein vergällen, dem nicht Ruhm noch Minne

Den Sinn verrücken, der ins Erdenthal

Herniederlächelt von der Weisheit Zinne,

Den auch der Andern Sündenschmerz zumal

Zu Mitleid nicht erregt und edlem Zorn:

In ihm selbst quölle noch des Leidens Born.

Zwischen zwei Polen schwebt das Menschenloos:

Ein wirklich Weh und eingebildet Leiden.

Nicht nur der Schiffer im Orkangetos

Bebt auf der See, die Riffe zu vermeiden.

Falsch ist's, daß in des Hafens sicherm Schoos

Die Sicheren sich an fremder Mühsal weiden,

Sie beben auch in ahnungsvollem Graus,

Die Phantasie malt größere Schrecken aus.

Die Eifersucht ist aller Schmerzen Quelle,

Ob um ein Weib sie Dir das Sein vergälle,

Ob Dich im Ruhmkrieg kränke ein Rival.

Ruhm, Macht, Genuß, Gold, Liebe, Alles schal.

Verwirf sie alle, Tod heißt jede Wahl.

Mann, Weib und Thier verfallen allzumal

Dem Weltprinzip und dies Gesetz heißt Qual.

Wen sie verschont, der schafft sie sich zur Stelle,

Denn ohne Qual sinkt in das Nichts das Sein.

Das All und Nichts sind schmerzenlos allein.

Doch Wiege ähneln sich und Totenschrein,

Zum Leben selber führt des Leidens Schwelle.

Und weil ein höheres Sein der Genius,

Noch höhere Qualen er erdulden muß.

Wenn der Gedanke, fern von Tageshelle,

Selbstmord verübt in seiner dunklen Zelle.

Wohl lehrte die Erfahrung schon von je,

Daß was Euch Schuld bedünkt, nur eitel Weh.

Doch ist's noch mehr: Ein unbewußtes Ahnen

Führt Sündenlose auf der Sünde Bahnen.

Und Weise, über Nichtiges erhaben,

Versuchen sich an Nichtigem zu laben

Und Epimetheus müht sich um Pandoras Gaben.

Denn schwach und zärtlich ist der Künstlergeist,

Leicht das Gewebe seines Innern reißt.

Drum möge er, zum Kampfe sich zu stählen,

Das Irdische dem Himmlischen vermählen.

Die Sehnsuchtthränen nach dem Ideale

Verschlucke Du und opfre mit dem Baale!

Taugt stets Dir Alpenluft? Sei Mensch im Erdenthale!

Du denkst des Sterns, der einst die Wüste Dir erhellt.

Doch Der verhüllte sich in Wolkennacht.

Und einsam nun Dein Herz im Dunkel wacht.

Der Reue Schakalschrei Dich ruhelos umgellt.

In einer Wüste stehst Du ohne Quell und Thau.

Es grinsen rings auf frührer Lebensbahn

Gerippe manch verschollner Karawan'.

Dein wunder, müder Fuß tritt Kiesel hart und rauh.

Weh dem, der opfern will die flüchtige Gegenwart

Der Zukunft, schwanger stets mit neuem Plan!

Doch unheilbaren Siechthums Unterthan

Ist, wer mit trübem Blick stets nach Vergangnem starrt!

Anno Buchsbaum. Schnitzel aus dem Schuldbuche der Zeit.

Still, Krähen! Denn der Löwe brüllt. Die Tatzen

Zeigt er Euch, Minnesänger-Miesekatzen.

Von meiner Feder hofft nicht Degenstöße,

Nur Tatzenhiebe ziemen Eurer Blöße.

's ist Mai. Ein wunderschöner Monat, gelt?

Ja, alle Gaben, die herniedergießt

Aus vollem Horn der Frühling auf die Welt,

Mein frommer Sinn andächtig mitgenießt.

Mit Eimern regnet es vom Himmelszelt

Und alles Unkraut wunderherrlich sprießt.

Ach! Ueber's Wachsthum bin ich schon hinaus,

Obwohl ich hutlos wandle aus dem Haus.

Damit der Frühlingsregen salbe mir

Das Köpfchen und mir neues Wachsthum sende.

Denn aufwärts, wie man wähnet, streben wir,

Wenn uns das Haar durchnäßt die Himmelsspende.

O Streberthum! Was war die Frucht der Gier?

Der radikalste Schnupfen nur am Ende!

Doch freilich (o Mirakel!) wächst mein Bart!

Ja, weil seit Tagen er rasirt nicht ward.

So zeigt sich falsch doch jeder Ammenglaube:

Zu jedem Ding natürlich ist der Grund!

(Gelt, weise?!) Wie im malerischen Staube

Das Meer der Gärten fluthet grün und bunt!

Und wie die Wolke fliegt gleich einer Taube

Entlang die Himmelkuppel blau und rund!

Auch Fröschehallelujah hin und wieder

Und wie berauschend duftet frischer Flieder!

Mit neuem Flieder stets geheimnißvoll

(Ich ahne irgend einen Magnetismus)

Ein neu Gefühl der Brust erblühen soll.

Wodurch? 's ist jedenfalls ein Ding auf ismus.

Schon fühlt' ich 'was, mein Bein vor Rührung schwoll,

Da merkte ich, es war Herr Rheumatismus.

Und das Gefühl saß nicht im Herzen, nein,

Der Frühling regte sich in meinem Bein.

Dies Klima überhaupt! Frau Sonne heut

Glotzt frech vom Himmel, daß wir derbe flehen,

Sie möge haben die Gewogenheit,

Uns etwas weniger im Licht zu stehen

Und einmal glänzen durch Abwesenheit!

Was dann? Nun will sie gar für immer gehen!

So übelnehmerisch? Heißt das ertragen

Die deutsche Grobheit? (Gradheit, wollt ich sagen.)

Nur Euch, Ihr oft besungnen Maiennächte,

Euch will ich nicht bekritteln. Ihr, Ihr seid

Voll mystischer naturgewalt'ger Mächte.

Ja, greint der Kater sein unnennbar Leid,

Das ist das Urmotiv, das wahre, echte.

Schauer-Romantik! Himmel, wie er schreit!

Das ist die Sehnsucht nach der blauen Blume,

Nach »Unbewußtem« und nach Dichterruhme!

Jüngst schrie's vor meinem Lager. Gräßlich war

Das Mordgezeter. Haar, sträub' dich empor!

Erwürgt man nächtlich eine Kinderschaar

Ruchlos und grauenhaft vor meinem Thor?

Ein Kindermord von Bethlehem wohl gar?

Ha, schaudernd ich entschlossen Rache schwor:

Ich griff den Knecht des Stiefels – heiliger Vater

Fortschlich als Missethäter scheu ein Kater!

Ich schleuderte das Holz ihm schwungvoll nach,

Dann setzt' ich mich, in tiefer Rührung weinend.

Der Tag herein mit trüben Schauern brach,

Der Nachtwind heulte. Kurz, sich graus vereinend,

All die Symptome da – mir wurde schwach –

Für eine Poe'sche Vision anscheinend.

Nur daß ich einen Katerdämon habe.

Ist das nicht schauerlicher, als ein »Rabe«?

(Besonders wenn es uns im Schädel brummte!)

Krächz' Du nur »Nevermore«, berühmter Rabe!

Doch wenn ein greiser Kater also summte,

Wär's eine noch sublimre Herzenslabe!

Den früg' ich Fragen, denen er verstummte,

Graus, metaphysisch: »Werden aus dem Grabe

Auch Kater auferstehn?« Mir wurde schaurig,

An meinen todten Kater dacht' ich traurig.

Der Selige – Friede seinem Angedenken! –

Die weiland Gottesgeißel aller Braten

Und Mäuse – warum durfte ich nicht senken

Ihn in die Gruft der Ehre als Soldaten?

Und ihm als letzte Ehrenfahne schwenken

Ueber dem frühen Grabmal seiner Thaten

Ein Häschen ('s war sein Leibschmaus) an den Ohren?

Doch so zu sterben – wär' er nie geboren!

Wie starb er denn? Ein Social-Autokrat,

Fühllos, blutdürstig, und ein grimmer Hasser

Des Eigenthums, ein Held vom Zukunftsstaat,

Ein Anarchist vom reinsten (faulsten) Wasser,

(Er war mein Nachbar) dachte früh und spat:

»Soll dieser gottverdammte Bourgeoisprasser

Vor meinen Augen mästen seinen Kater

Und ich soff heute bloß zehn Cognacs? Brat' er!«

Gewöhnlich nämlich zwölf er 'runtergoß.

Doch die Fabrikherrn, niedrige Tyrannen,

Bekanntlich zahlen Die für Arbeit bloß.

Und schickt sich Arbeit wohl für freie Mannen?

Der feile Mammon fällt nicht in den Schooß,

Selbst Kater müssen ihre Thatkraft spannen,

Für Mäusefang nur füttert man die Armen.

Doch kannten Demokraten je Erbarmen?

Er neidete mein Vieh, so lag der Fall.

Und dieses zu raubmördern er beschloß.

Er that's! Und mit dem Ausruf »Hilf, Lasalle!«

Führte er meuchlings eines Nachts den Stoß.

Das Opfer sank wie dort der Sonnenball

In edler Glorie, sein Herzblut floß.

So werden wir einst Martyrtod erleiden,

Wir »Gründer«, und der Kater Loos beneiden.

Denn, wie St. Marxi heilige Schrift es lehrt

Ward so mein Eigenthum mir fromm entwandt!

Das ist ein Pfaffe, wer sich drob beschwert!

Ich – in den höhern Zweck mich seufzend fand.

Denn hatt' ich nicht mein »Kapital vermehrt?«

Ein Raub am Volk! Einst wird das ganze Land

»Getheilt« in gleichem Stil. Und nicht allein

Den Kater »theilt« man mir, auch Haus, Hof, Schrein.

Der Grund der Eigenthumsverletzung war

Der fette Wanst des Seligen. Wie ein Hase

Mocht' er wohl schmecken, speckig ganz und gar.

Das stach dem Theilungssüchtigen in die Nase.

Er »theilte« ihn für sich mit Haut und Haar.

Doch rieth dem Biedern eine kluge Base,

Noch zu verschweigen, wie geschickt er theile!

Er murmelte zwar heldenhaft: »Na, Keile!«

Doch rasch bedeuteten ihm fromme Seelen:

So schlecht sei diese Zeit, daß die Bethätigung

Des Freiheitsdrangs – z.B. Raub und Stehlen –

Noch ganz entbehre staatlicher Bestätigung.

Man werde es der Polizei erzählen.

So machte er's denn heimlich ab aus Nöthigung.

Auch keine Zeugen gegen ihn auftreib' ich,

Drum seinen Namen klüglich auch nicht schreib' ich.

Ich aber weiß es, daß der Ritter selig

Des Katzenordens sich begrub zu früh

In des Plebejers Magen. Ist's nicht schmählich?

O sei er unverdaulich! Drück' er wie

Ein Mühlstein den Verschlinger, unausstehlich!

Daß selbst solch ein Husaren-Schnurrbart nie

Den Pöbel schreckt! Denn wahrlich, ganz soldatisch

War der Verstorbne und aristokratisch!

Was mir der Todte war, – ihr Nachtigallen,

Die oftmals er mit süßem Mau gestört,

Ihr wißt es ja! Nehmt Alles nur in Allem,

Er war – ein Kater! Aber horch, was hört

Mein Ohr vom Ufer melancholisch schallen?

Quack, Quack! Mein tiefstes Innre sich empört,

Wie hier das Lehrgedicht der Meistersänger

Ersäuft das Minnelied der Mäusefänger!

O Ihr geblähten Frösche, Ihr Pedanten!

O wie erinnert Ihr mich doch – an wen?

Weiß nicht! An was? Je nun, an Folianten!

»Hoho! Hört, hört!« So quackt es jetzt. Es drehn

Auch Spatzen sich auf meinen Fensterkanten.

Ich sehe hier ein Sinnbild vor mir stehn:

Denn Kater, Frösche, Spatzen, Störche, kennt

Man als des Deutschen Reiches Plapperment.

O Eitelkeit, Vanitas Vanitatum!

Ich kenne einen Gecken, welcher sich

Im Sommer Winterüberzieher that um,

Weil er darin mehr einem Manne glich!

Der Schweiß ihm stromweis floß aus jeder Naht drum,

Doch duldete er still und wackerlich.

Er wurde lieber schwach und elend innen,

Um außen stärkern Eindruck zu gewinnen.

Ich kenne Gecken, welche blutarm sind

Und sich deß schämen. Was wird flugs erdichtet?

Sie schreien's in die Ohren jedem Kind,

Sie seien so erbärmlich zugerichtet,

Weil sie gelebt so lustig wie der Wind.

(D.h. höchst liederlich, wird nun berichtet

Im Flüsterton.) Das heißt: Ein Wüstling mag

Er lieber sein, als krank!! O welche Schmach!

Andre Bleichsüchtige und Nervenschwache

Erklären sich für Dandyhaft blasirt!

Der Dritte widmet sich dem Weltschmerz-Fache,

Als ob, weil er sich »angekränkelt« spürt,

Auch »des Gedankens-Blässe« seine Sache!

Doch daß er Hartmann stets im Munde führt

Und nie ein Wörtchen von ihm las, ist schlimm!

Castraten prahlen mit Kombabus-Whim.

Andre versichern, die besonders bläßlich:

Wir leiden, hört, an unglücklicher Liebe!

Man glaubt's, da sie so überraschend häßlich,

Weiht ihnen des Erbarmens edle Triebe.

Was fragt die Logik nun ganz unerläßlich?

Als ob nicht drauf nur eine Antwort bliebe:

Der feige Mensch hat Furcht vorm wahren Sein,

Lügt lieber sich hinein in falschen Schein.

So wandelt der Culturmensch durch die Welt

Auf hohen Hacken, gründlich auswattirt,

Wenn auf das härtste Pflaster brennend fällt

Die Mittagsgluth. So tanzt er eng geschnürt

Der Schwindsucht zu. Der scheint mir fast ein Held,

Wer einmal sich natürlich ausstaffirt.

O Bauern, neidisch sehe ich Euch zu,

Hemdärmelig mit dünnem lockerm Schuh.

Ich kenne Jungfraun, die im Alltagsleben

Grad bis ans Herz uns gehen oder's Kinn,

Doch in Gesellschaft über uns erheben

Um Kopfeslänge sich. Was ist der Sinn?

Zu tief die Graziengewänder schweben

Zwar über ihre zarten Füßchen hin,

Doch wett' ich, daß sechs Zoll die Hacken groß –

So wächst man freilich über Nacht glorios!

Von allen Gattungen der Reue

Ist eine mir zumeist verhaßt,

Sie grade quält mich stets aufs neue

Und läßt mir keine Ruh und Rast.

Die Reue ist's um Fades, Nichtiges,

Um die Vergeudung schöner Zeit,

Der Gram, anstatt um Ernstes, Wichtiges,

Um lächerlichste Kleinigkeit.

Daß meine weiße Weste heute

Zerknittert ward von ungefähr,

Das macht mich der Verzweiflung Beute –

Und wenn es gar ein Schmutzfleck wär'!

Gestern zerbiß ich die Cigarre

Und sog unachtsam Nicotin.

Vorgestern wurde eine Schmarre

Mir als Verschönerung verliehn.

Vor Wochen stieß ich mir die Nase

Am Sims zufällig blau und roth.

Damals verschluckte ich im Glase

Gar eine Fliege – welche Noth!

Zu schwer soupirt' ich neulich Abend

Und hab' den Schlummer drum versäumt.

Und wenn auch Träume manchmal labend,

Neulich hab' ich zu stark geträumt.

Vor Monden habe ich verloren

Ein Zwanzigmarkstück – das ist stark!

Und gestern – wär' ich nie geboren! –

Gab ich als Trinkgeld eine Mark.

Dann hab' ich neulich aus Versehen

Mir auch ein Barthaar ausgezupft:

Welch nie zu sühnendes Vergehen!

Ein Stück der Mannheit ausgerupft!

Und neulich aß ich saure Gurken,

Dann Stachelbeeren und dann Bier!

Ich schimpfe selbst mich einen Schurken –

Das heißt ja schlingen wie ein Thier!

Neulich trug ich zu hohe Hacken,

Doch dann, als mich Clotilde sah,

Reicht' ich ihr kaum bis an den Nacken,

Denn hackenlose hatt' ich da!

Das Halstuch knüpft' ich zwölf Minuten

Mir heut, ein Danaidenloch!

Denn der Effekt, wie zu vermuthen,

Blieb immer ja derselbe noch!

Frisirte eine Stunde tüchtig

Und war so weit, als wie vorher,

Als hätt' ich nur gebürstet flüchtig.

Heut drückt mich der Cylinder schwer.

Und morgen, wo ich ihn gebrauchte,

Setz' ich statt dessen auf den Filz.

War's kalt, in Eisfluth ich mich tauchte –

Heiß, kroch ich unter wie ein Pilz.

War's kalt, ging ich in Sommerjacke –

Heiß, trug ich Winterüberzieh'r!

Rasirt' ich, blutete die Backe –

Es ist um tollzuwerden schier!

O dieses teuflische Erinnern

Zernörgelt mir die Lebenslust!

Wann, Leichtsinn, nahst Du meinem Innern?

Wann wird mir endlich »unbewußt?«

Ich las eine erste Correctur,

Da fand ich einen Fehler nur.

Doch als ich die zweite und dritte las,

Da sah ich, daß ich noch drei vergaß.

Und als ich den Reindruck vor mir sah,

In Ohnmacht fiel ich nun beinah:

Sechs grobe Fehler standen da!

Das ist der Mensch! So lang es nützt,

Ihn weder Fleiß noch Vorsicht schützt.

Schönglatt ist Alles beim ersten Blick,

Doch zeigt ihm der nächste Augenblick

Die Flecken, wenn es halb zu spät,

Die größten aber er übergeht!

Erst wenn sie unwiderruflich geschehn,

Wir alle Sünden und Mängel sehn.

Und auf den Aerger folgt die Reu',

Fruchtlos stets, doch immer neu.

Der Mensch ist ein geborner Thor

Und stets die Weisheit er verschwor.

Wenn Jemand sich gar weise glaubt,

Weil weder Ruhm- noch Geldgier raubt

Ihm seinen Appetit und Schlaf

Und seinen ehernen Busen traf

Nicht falscher Minne giftiger Pfeil

Und wenn er sonst gesund und heil

Und ihm kein Kummer ward zu Theil –

So ärgert er sich mit Fug und Recht,

Daß einmal aufgepaßt er schlecht

Und lückenhaft seine Correctur!

Denn Gram und Aerger ist uns Natur.

Los wird ihn der Blasirte nur.

Dem fehlt zwar Aerger, doch auch Vergnügen –

Ist das der Weisheit Selbstgenügen?

Inconsequenz ist menschlich. Hört den Einen:

Das Leben ist, damit wir es beweinen.

So tief in Sünde ist der Mensch verstrickt,

Daß Heil und Hoffnung nirgends er erblickt.

»Wohlan! So möchtest Du recht baldigst sterben?«

Er ruft entsetzt: »Um Gotteswillen, nein!

Ich mochte gerne siebzig Jahr erwerben

Und sollten sie auch eitel Sorge sein.«

»Welch Widerspruch!« so ruft man ungeduldig.

Dann murmelt er Etwas von der Mission,

Die wir auf Erden ja erfüllen schon,

Von zehn Geboten, kurz, bleibt Antwort schuldig.

Ein Andrer meint, daß allerliebst die Erde,

Daß reizvoll selbst Gefährde und Beschwerde

Und daß die liebe Sünde uns gegeben,

Damit das Dasein recht entzückend werde.

»So möchtest Du denn also ewig leben?«

»Um Gotteswillen, nein! Welch ein Gedanke!

Eh ich am Stab des Greisenalters wanke,

Eh weiß ich nicht, was ich mir selber thue!

Je kürzer, desto besser! Ruhe, Ruhe!«

Nun, alles Dies ist nur ein Widerspruch.

Entweder ist das Leben nur ein Fluch,

Die Welt ein Jammerthal, und drum beweint

Den Säugling, wünscht »lang Leben« eurem Feind.

Oder Ihr meint, dies sei die beste Welt

Und für Genüsse ein ergiebiges Feld,

Und haßt als einziges Uebel drum den Tod

Und laßt Euch schmecken Euer täglich Brod,

Und dann mit allen Kräften dahin strebt,

Daß möglichst lange Ihr genießt und lebt.

Entweder Ihr seid Thoren – so seid's ganz!

Euch dünke jeder Flitter echter Glanz!

Scharrt Gold zusammen, grübelt voll Erbauung

Ob der Methode richtiger Verdauung,

Hascht nur nach äußrem Schein und hohlen Ehren,

Laßt Pflichten Euch das Leben nicht beschweren,

Gedanke und Gefühl sei Euer Spott,

Eßt Hummersauce und verehret Gott!

Oder Ihr kamt zur bitteren Erkenntniß,

Daß alle Ideale hohl und schaal

Und daß der Tod des Lebens beste Wahl –

Dann scheut auch nicht das offene Bekenntniß!

Ja »Weltschmerz«, heiliges und großes Wort,

Gemißbraucht nur von der Titanen Affen!

Wenn Dich entweiht der Mund blasirter Laffen,

So wendet schweigend sich der Dulder fort.

Von ihrem Ichschmerz winseln nur die Thoren.

Denn der hat nie den wahren Schmerz empfunden,

Wer je darüber hat ein Wort verloren:

Der Stolz des Coriolan verhüllt die Wunden.

Der wahre Weltschmerz schweigt. Was soll er sagen?

Nur wiederholen wiederholte Klagen?

Nur fühlen soll er mit bewußter Klarheit

Die eine große fürchterliche Wahrheit:

Daß Glück ein Traum und Unglück einzig wahr

Und daß Zufriedenheit nur Täuschung ist,

Das schmerzenlos allein der Egoist

Und glücklich kaum der thierische Barbar.

Und spricht ein Mensch zu mir mit dreistem Munde:

»Sieh, ich bin glücklich,« dank' ich für die Kunde,

Doch drehe ihm den Rücken, weil ich sehe,

Er ist ein Narr, wo nicht ein Schuft, und immer

Prosaisch-nüchtern von der Stirn zur Zehe.

Gedankenmangel oder, was noch schlimmer,

Empfindungsmangel spricht er aus. Das Wehe

Scheint mir vielleicht im Ausdruck falsch und schief,

Doch immer liegt darin ein Adelsbrief.

Nur Der erhebt sich über das Gemeine,

Wer nicht mehr lächelt mit dem falschen Scheine.

Und das ist auch der Grund, warum kein Dichter

Aufsteht als dieser Zeiten strenger Richter:

Es fehlt die wahre wirkliche Empfindung,

Der faden Weltgelüste Ueberwindung.

Und da nun wieder Jeder weiß, daß Claque

Und Clique heut nur machen in Reclame

Und daß nur aus der stinkendsten Kloake

»Erfolg« sich heut erhebt, die holde Dame,

Wie Venus aus dem Meer, – so sagt man richtig:

Gott, diese Dinge sind im Grunde nichtig!

Still, todtenstill vor mir der Pfad,

Doch hinter mir das Lärmen

Vom Feste einer großen Stadt,

Wo Lust und Leichtsinn schwärmen.

Ich schritt fürbaß und wußt' es kaum,

Hatt' Bitteres erfahren:

Nicht sanft thut's, einen Jugendtraum

Als falsch und faul gewahren.

Da war's, da war's zum ersten Mal,

Als sollt' ich zusammenknicken,

Als wolle geheimer Ahnung Qual

Mein dumpfes Hirn ersticken.

Ein Knabe war ich Abends noch,

Doch als ich mein Lager suchte,

Ein Mann, den zu des Kampfes Joch

Zu früh das Schicksal verfluchte.

Ach, von den Wunden jener Nacht

Kann ich nimmer gesunden,

Wo ich im tiefsten Herzensschacht

Das Lebenselend gefunden.

Eine Sonnenwende war jener Mond:

Mein Geist wird nimmer vergessen

Den Ort, wo jung und ungewohnt

Ich die Hölle des Weh's durchmessen.

Mein fürderes Leben, was ist es wohl?

Unter dem Fels des Lebens

Ein Athemholen schwer und hohl,

So ewig als vergebens!

Oft schleudr' ich ihn ab, bald rollt er zurück.

O Sisyphus, wie dich erretten?

Den Felsen selber schleudre in Stück',

Zersprenge des Lebens Ketten!

Und ist zu hart der Fels, entzwei

Muß er ja gehen am Ende:

An die Mauer der Dummheit und Tyrannei

Rollen ihn meine Hände!

Der Moskowiter stürzt, wenn halbbeeist

Die Newa, in den Winterstrom, nachdem

In heißem Dampf er badete bequem.

Doch heilsam ist es nicht für jeden Geist,

Aus heißem und wildgährendem Gefühl

Zu stürzen in der Praxis Eis und in der Thatkraft Fluthgewühl.

Fort mit weichlichem Bedauern,

Wie Du Dies und Das vergessen,

Warum Dies geschehn statt Dessen!

Was Dir konnte nie gelingen,

Wird vielleicht die Zukunft bringen:

Hoffen sollst Du und nicht trauern!

Ich sprach zur Thorheit: »Fliehe mich!«

Sie dankte schön und nimmer wich.

Die Weisheit bat ich: »Komm' doch her!«

Doch sie zu fangen war zu schwer.

»Und da ich Dich nicht fangen kann,

So komme, Thorheit, denn! Wohlan!«

Und sieh, die Treue kam sofort,

Ließ sich nicht bitten erst, aufs Wort.

Denn Thorheit steckt in Herz und Sinnen,

Wie könnte man ihr da entrinnen?

Die Weisheit steckt nur im Gehirne,

Und wer kann ewig die Gestirne

Beäugeln? Denken macht Beschwerde.

Der Körper will zurück zur Erde.

Und steht man erst auf ird'schem Boden,

Da ist's unmöglich auszuroden

Das Unkraut Laster und Verbrechen,

Selbst mit dem allerschärfsten Rechen.

Und ob ich auch an jedem Tag

Dich um Verzeihung bitten mag,

O Weisheit, daß ich Deinen Lehren

Noch immer muß Gehör verwehren –

Verzweifelnd hab' ich aufgegeben

Den Vorsatz, daß ich je im Leben

Würd' vierundzwanzig Stunden finden,

Ganz rein von Thorheit oder Sünden.

Denn Eins von Beiden mußt Du wählen,

Um langsam Dich zu Tod zu quälen.

Der Grund des Elends aber ist:

Gewohnheit, wie Ihr Alle wißt,

Ist unsre Amme. Ob wir heftig

Anklagen uns und rasch geschäftig

Vorhalten unserm Geist die Gründe,

Warum ja reizlos jede Sünde –

Hilft nichts! Wer je sich gab Consenz

Zur Sünde, fühlt die Consequenz:

Gewohnheit wird sie. Es verschwören

Sich Leib und Seele und empören

Sich gegen jedes Reformiren –

Wie Du begonnen, mußt Du's weiter führen.

Köstlich ist die Tugendentrüstung

Und pharisäische Selbstbrüstung,

Mit der wir auf Andrer Sünden schauen

Voll tiefem Ekel und staunendem Grauen,

Weil wir ihr Laster nicht können verstehen

Und nicht den geringsten Reiz drin sehen,

Vielmehr nur den Ekel davor begreifen.

Wie kann doch A. so weit ausschweifen,

Mit Demimonde sich abzugeben,

Während doch manche Ladies eben

So gerne sich verführen lassen!

»Wie?« spricht B. »Ich sollt' mich befassen

Mit solchem Gräul? Ich halte Hetären,

(Nun, als ob Andre Heilige wären!)

Doch Ehefrauen verführen, entsetzlich!

Auch find' ich's gar nicht sehr ergötzlich.«

Denn Jeder zurück vor der Sünde schreckt,

Welche ihm nämlich selbst nicht schmeckt.

Es giebt in Sünde nicht Maß und Grad,

Es giebt nur einen bestimmten Pfad.

Und wer »natürlich« gesündigt hat,

Wird vom Genusse genau so satt,

Wie von der »unnatürlichsten« Sünde.

Alle die pharisäischen Gründe,

Warum eins besser, das andre schlimmer,

Gelten vor'm Auge der Wahrheit nimmer.

Ans Meer der Freiheit drangen wir verschmachtend,

Mit glühnden Adern stürzten wir hinein,

Der Vorsicht ernste Mahnung nicht beachtend.

Wir tranken bittres Salz, als wär' es Wein,

Erkrankten und ertranken. Tyrannei

Jedoch gefoltert wird vom Einerlei

Des ewigen Durstes, des unstillbaren,

Des nur vermehrten, wenn erfüllbaren,

Nach Opferblut. Am Quell der reinsten Fluth

Verschmachtet sie, lechzt und erstickt an Blut.

Eis oder Wasser heißt der Unterschied,

Den zwischen Bösem man und Gutem sieht.

Ich singe die Sonne am Himmelszelt

Und den Wurm, den sie bescheint,

Und was nur blinkt, stinkt, greint und weint

Die ganze Welt.

Die Lerche steigt übers Korn hinan

Als Ode. Die Schnittermagd,

Sehnsucht-geplagt, an der Sense nagt –

Das ist ein Roman.

Der Greis, der über Jugendthorheit klagt,

Heimlich der eignen schwachen Weisheit flucht ...

Zeigt mir die Venus, die der Welt entsagt,

Und den Apoll, der nur die Sonne sucht!

»Ruhm ist Luft«. Doch wer kann leben

Ohne Luft?

Dumpf erstickt das reinste Streben

In lebendiger Gruft.

Bedenk' ichs recht, so scheint mir in Tibet

Die beste Herrschaft. Dalai-Lamawesen,

Was ist's am End', wenn Ihr's bei Licht beseht?

Die Herrschaft des Genies. Dort wird erlesen

Ein Kind, vom Hauch des Ewigen umweht,

Und was es spricht, macht man zu Glaubens-Thesen.

Nicht Schönheit, Reichthum, Macht und Rang erliest man:

Den Weisesten zum Erdengott erkiest man.

Ja, der Kulturmensch kreuzigt das Genie,

Wofern er's nicht zum Aschenbrödel macht.

Am Himalaya beugt man ihm das Knie,

Nimmt seine Worte als Gesetz in Acht.

Denn Gottesoffenbarung fühlen sie

In seiner Art: Der Allgeist sichtbar wacht

Auf seiner Stirn, der in der Schöpfung waltet,

Doch sichtbar schon als Genius hier schaltet.

Warum nicht Größenwahnsinn? Jeder Wicht

An gleicher Krankheit leidet und er ist

Grad so auf seiner Kleinheit Werth erpicht.

Nur daß man ihm zu zürnen stets vergißt,

Weil er nur lächerlich. Die Rotte flicht

Die Dornenkrone immer ihrem Christ,

Spricht er: »Ich bin Messias«, weil ihr Neid

Zu Haß wird aus verletzter Eitelkeit.

Ich soll mich angestammten Narren bücken

Und nicht dem Dalai-Lama? Nimmermehr!

Ich will den Fuß ihm küssen mit Entzücken.

(Ja, wenn es noch des Papsts Pantoffel wär',

Das würde manchen Pilger hoch beglücken!

Kein Unterschied! Unfehlbar ist auch der!)

Nach Tibet will ich wandern: Jesuiten

Und stehende Heere sind dort nicht gelitten.

Nur Eins mißfällt mir an den dortigen Sitten,

Ein Ding, man nennt's gelehrt: Polyandrie.

Dort weilt in eines Männerharems Mitten

Die zücht'ge Hausfrau. Denn heirathet sie,

So nahn dem Altar auch mit raschen Schritten

Des Bräutigams Brüder alle. Einer nie

Die Hochzeit mit ihr feiern darf, o nein,

Sein ganz Geschlecht nennt seine Dame sein.

Nun bin ich festiglich zwar überzeugt,

Daß jede Dame, die davon vernimmt,

Erklärt, daß dies von Sittenrohheit zeugt

Und »Pfui!« »Abscheulich!« »Shoking!« ruft ergrimmt.

Doch Manche heimlich seufzend auch vielleicht

Für solchen Männer-Communismus stimmt.

Nur ist die eine Vorschrift unerläßlich,

Daß von den Bräutigams nicht Einer häßlich.

Ein Storch fiel mit gebrochnen Schwingen,

Die Menschen den Verwaisten fingen,

Er folgte ihnen treu und zahm.

Doch als die Zeit des Fluges kam,

Zersehnte er sich voller Gram.

Denn ach! der Aufflug wollt' ihm nicht gelingen.

Da senkten seine eignen Brüder

Erbarmend sich zur Erde nieder

Und trugen in vereintem Chor

Auf ihrem Fittich ihn empor.

Was er an eigner Kraft verlor,

Ersetzte ihm die Kraft der Andern wieder.

Ja Scham Euch, Menschen! Wer gefallen,

Gemieden wird er nur von Allen,

Tritt man ihn nicht mit Füßen gar.

Und doch trägt Liebe nur fürwahr

Zum Himmel. Ihr seid liebe-bar.

Beschämen Störche Euch – wie erst die Nachtigallen!

Wer die Lieblosigkeit der Menschen

In ihrer vollen Blöße schaut,

Kann schaudernd nur sein Haupt verbergen

Und weinen laut,

Und in sein eignes Innre blicken –

Ihm graut!

Mir war es im erotischen Schema

Stets ein verlockend possirliches Thema:

Den Newton, der in die Grube ging,

Ohne zu lösen das Minne-Problema,

Soll – so beschließt der Familienring

Eine frische Miß geleiten

Zu den Ehe-Seligkeiten.

Reizende Novellette! Einakter!

Studie für Haase und andere Charakter-

Spieler! Newton, der immer stramm

Cosinus x, Parallelogramm,

Diagonalen und Regeldetri

Auftischt mit Mienen der Galantrie,

Und von alle den Eheattaquen

Keine Silbe versteht, den Nacken

Nimmer beugt zum irdischen Schmutz!

Laßt dies Doppel-Problem uns packen:

Fühlt der entkörperte Denker im Schutz

Seiner Wissenschaft kein Gelüsten?

Oder wird sich in ihrem Putz

Das Frauenzimmer noch immer brüsten

Und sich nicht instinctive schämen? –

Doch will ich den Autor-Eifer zähmen,

Die Sache bleibt besser ungeschrieben.

Was die Frauen und Kinder lieben,

Das behandle als feiner Kenner!

Wer schreibt in Deutschland denn für Männer?

Krankheit, einer Schwäche Geständniß,

Ist die »Liebe«, offnes Bekenntniß

Eignen Unwerths. Ergänzung fodern –

Welcher Mangel an Selbst-Respekt!

Periodischer Liebes-Anfall uns neckt.

Und wenn Andre so deutlich lodern,

Glaubt man selber, es sei was dran.

Glücklich, wer diesem Wahn entrann!

Laß die »Gefühle« vermodern!

Das Denken macht den Mann.

Der Bauer verhungert im Irenland

Und der Städter verhungert an Themsestrand

Und im freien Urwald steht Baum an Baum

Und Asiens Steppen sind wüst und leer

Und die Erde hat ja für alle Raum

Und für alle Schiffe hat Raum das Meer –

Wer schafft dort Raum den Armen, wer?

Der Gesunde staunt über den Kranken,

Kann ihm nicht folgen mit seinen Gedanken,

Sich nimmer in seine Lage versetzen,

Bis ihn selber die Pocken zerfetzen!

Und wenn ein naseweiser Thor

Alle Seelenqualen verschwor

Und über Sünde und Leidenschaft

Die alten Phrasen zusammenrafft

Und Werther, Harold und René

Ihm lächerlich mit ihrem Weh,

So kommt der Schmerz schon ungeladen

Und straft ihn Lügen mit seinen Tiraden.

Was spaßhaft ihm und dunkel war,

Scheint nun sehr ernsthaft, wahr und klar.

»Ich will!« ist leicht zu sagen,

Doch Thun und Können schwer.

Der Knabe will sich wagen

Sofort ins eisige Meer.

Doch fröstelt er am Strande

Und zögert ohne Muth

Und ist erst spät im Stande,

Zu springen in die Fluth.

Statt gleich hineinzuspringen,

Erkältet er sich erst.

Ja, Wollen und Vollbringen

Zugleich, das ist das Schwerst'!

Die That wär' schon halb fertig.

Doch ob die Zeit auch paßt,

Stehn immer wir gewärtig,

Bis uns der Frost erfaßt.

Wir fühlen in manchem Vergnügungslokal

Der Langeweile verzehrende Qual.

Wir gähnen, wir stöhnen, wir sehnen uns fort

Und bleiben doch ewig am selben Ort.

Leicht wäre ja geöffnet das Thor

Und die Stille der Nacht harrt unsrer davor.

Doch weil man bezahlt das Eintrittsgeld,

Pflichtschuldigst duldet man weiter als Held.

Der Posse des Lebens seid Ihr matt

Und klatscht nicht mehr, seid müd und matt?

Was bleibt Ihr? Seid Ihr denn hergebannt?

Ist denn für immer die Thür verrannt?

Was stoßt Ihr des Todes Thür nicht ein?

Sucht Ruh und Frieden im kühlen Schrein?

»Ja, weil wir bezahlt die Eintrittsgebühr,

So wollen wir etwas haben dafür.

Nach so viel Kummer und so viel Pein

Muß etwas Freude in Aussicht sein.

So wollen wir, ob wir auch stöhnen und schwitzen,

Doch den Spektakel zu Ende absitzen!«

Zwei böse Züge hab' ich beachtet,

Wenn ich der Menschen Wesen betrachtet.

Der Cabmann, der recht langsam trottet,

Peitscht, wo sich die Menge zusammenrottet,

Die Pferde, daß sie wie Wetter schnaufen,

Damit er die Andern zwinge zu laufen!

Liest Jemand laut Dein neues Gedicht,

Der Arme sich fast die Zunge zerbricht.

Bald kann er dies, bald das nicht lesen,

Als wäre die Schrift chaldäisch gewesen.

Und Alles dies ganz unbewußt.

Doch des Einen Müh ist des Andern Lust.

Der Mensch ist ein geborner Sclav

Und trägt im eignen Ich die Fessel.

Wenn ihn kein Königsscepter traf,

So dient er flugs dem – Suppenkessel.

Der Tugendhafte nur ist stark

Und nur der Starke haßt Tyrannen.

Das Laster saugt am Lebensmark

Und kann den Tapfersten entmannen.

Die That wird lang vorher vorausgeplant

Und jeder Pfad zu diesem Zweck gebahnt.

Trotz alledem sie nur bestimmen muß

Der eine augenblickliche Entschluß.

Lang klebt die Hand am Hahn – da fällt der Schuß!

So ist der Weiseste, wer langen Rath

Verschmäht, von jeder Welle rasch bestimmt,

Wer mit dem Strome jeder Stimmung schwimmt.

Und wahre Weisheit ist allein die That.

Um der Sansara Kleinigkeiten

Sich kümmern ziemt dem Denker nie.

Doch lässest Du Dich so verleiten,

So lern' auch hier Philosophie.

Der Grundsatz soll Dich vorbereiten:

Ein jedes Ding hat stets zwei Seiten.

Seinen Nutzen hat auch Unbequemes;

Leicht duldet man Unangenehmes,

Wenn man nur eine hübsche Moral

Zu ziehen weiß aus jeder Qual.

Nicht nur die Moral des besondern Falles,

Sondern diese Moral für Alles:

Das Gute hat sein Uebeles oft,

Doch stets aus Uebel unverhofft

Sproßt Gutes. Nöthig sind alle Dinge,

Nutzlos nichts in dem Lebensringe.

Denn aus einer nutzlosen Handlung

Gehn tausend hervor in unendlicher Wandlung.

Jed' Ding ist ein Blatt von dem Riesenbaum,

Ein nöthig Atom im Weltenraum.

Der kleinste Gedanke, das winzigste Wort,

Zeugt Millionen andre sofort.

Täuschung ist Beides, Schmerz und Lust,

Deß seid im Schmerze auch bewußt.

Trinkt fühllos die Hefe, doch schmecket den Schaum.

Denkt, Lust ist ein Traum, doch ein lieblicher Traum.

Wie der Falke von des Jägers Hand

In die Luft sich hebt

Und entkappt froh jauchzend und gewandt

Auf zum Himmel strebt –

Doch, gehorsam jedem Wink sogleich,

Wie er fortgesaust,

Auch zurückkehrt in des Herrn Bereich

Auf des Falkners Faust –

So auch suchst Du nur, was fremd und fern

O Germanengeist,

In das Hohe und das Weite gern

Es Dich vorwärts reißt.

Doch die Heimath dann den Sohn aufs neu

Dringend zu sich lädt:

Dann erst spürst Du recht, wie Du ihr treu.

Aber oft zu spät.

Was ist des Lebens Tragödie?

Ich will es Euch verkünden:

Das Leben ist eine Komödie

Und Späße darin die Sünden.

Doch in der Possenreißer Schaar

Da wollt Heroen ihr sogar

Mit tiefer Rührung finden.

Der prosaische Philister

Sucht Poesie in der Liebe:

Enttäuscht, entnüchtert ist er,

Wenn sentimentale Triebe

Mit kühlem Rechnen nur belohnt

Und die Göttin, die in seinem Herzen thront,

Ihm bald versetzt – Pantoffelhiebe.

»Priester des Ideals« nennt Ihr den Dichter,

Philister, phrasen-seliges Gelichter?

»Pfaffe des Ideals« wär mir noch lieber!

Und wirklich giebt es immer solche Pfaffen,

Die sich mit »Idealismus« Brod verschaffen,

Von des hochseligen Herwegh Kaliber.

Oder des dito Dingelstedt, Verächter

Der Tyrannei als biederer »Nachtwächter«,

Der aber später, wenn das »goldne Vließ«

Von Grillparzer er gab, sich daran stieß,

Daß ihm »das goldne Vließ« noch sei benommen,

Da alle andern Orden er bekommen!

Das größte Geheimniß der wahren Kunst

Beginnt sich erst dann zu enthüllen,

Wenn der Mensch dem Künstler dienstbar wird

Und kein andrer Zweck die Seele verwirrt

Und nur die Musen mit liebender Gunst

Die entgötterte Seele füllen.

Hot, Pegasus! die kümmerliche Weide

Des Alltagslebens lasse hinter Dir!

Ob Du auf Streu nun lotterst oder Seide,

Du sollst nicht lottern. In der Luft Revier

Steig auf und selbst die höchsten Alpen meide

Du nicht in Deinem Flug! In Kraftbegier

Zerbrich die Halfter, sei kein Droschkenschimmel!

Erzhufig Roß der Phantasie, gen Himmel!

Und voll entfaltend Deine prächtigen Flügel,

Trag' mich empor, auf Deinen Rücken springend!

Hui! Schleudre von Dir bald Gebiß und Zügel,

Durch Sonnengluth und Wetterwolken dringend!

Verzicht' auf Dich, wer noch bedarf der Bügel!

Fort, Zaum! Ins Allerheiligste Dich schwingend,

Steig auf, Bellerophon! Mag's droben blitzen!

Die Sonne blendet nicht, die sicher sitzen!

Dies Bildniß ist nicht zeitgemäß. Es wäre

Moderner der Vergleich wohl mit Raketen,

Zerplatzend, während sie im Aethermeere

Aufsegelnd schon den Wolken-Kreis betreten.

Oder mit Luft-Ballons, die man beschwere

Mit tüchtigem Ballast nur, sonst gehn wir flöten.

Pfeilschnell geht's in den stickstofflosen Aether.

Die Stoffbeherrschung weicht, die Sinne später.

Die Blase platzt und mit verrenkten Beinen

Zur Muttererde purzeln wir. Noch neuer

Und zeitgemäßer mag das Luftschiff scheinen.

Dies »Hölzerne Pferd«, gleich Iliums Bedräuer,

In dem sich Holz und Stahl und Dampf vereinen,

Mit einem Schwanz von Kohlenrauch und Feuer.

Fünftausend Pferdekraft hat sein Gestampf.

Poeten lieben blauen Dunst, o Dampf.

Nur Opium ist unsre Phantasie:

Entzücken erst und herrliche Gesichte,

Dann Mattigkeit und Angst. Die Poesie

Hebt uns empor, doch bleierne Gewichte

Ziehn uns zum Staub. Wir nähren in uns nie

Das Göttliche und streben auf zum Lichte,

Ohne ins Thierische uns zu verirren,

Weil Ideal und Sinne sich verwirren.

Den Geist der Alten hat die Welt verloren.

Cäsar wird als Napoleon geboren.

Wo Cincinnat? Nur Washington und Pitt

Noch widerhallen den Heroenschritt.

O bei den Heiligen von Marathon

Schlief gern auch ich, der spätgeborne Sohn!

Zerschmettert sind des Parthenon Gebilde,

Athene schwingt nicht mehr den goldnen Speer.

Doch ob das Gold verblich auf ihrem Schilde,

Noch rollt, vom Golde ihrer Weisheit schwer,

Durch der Geschichte sagenhaft Gefilde

Die alte Musenquelle zu uns her.

O Salamis, wo in der Meeresgrotte

Zugleich Euripides zur Welt gebracht,

Als Aeschylos durchbrach der Perser Rotte,

Der seine Stoffe suchte in der Schlacht!

Als Pindars Hymne, der beseelt vom Gotte,

Weil ihn Corinna's Weihekuß entfacht,

Dem Munde eines Sophokles entstieg,

Das Tropaion umtanzend nach dem Sieg!

O könnt' ich in ein einzig Wort ergießen

Doch meinen ganzen Haß und wär's ein Blitz!

Er sollte mir vernichtend niederschießen,

Sei nun sein Strahl Begeistrung oder Witz.

Wenn fest sich auch des Wahnes Pforten schließen

Und unerschüttert der Tyrannen Sitz,

Der Donner rollt, da hilft kein Blitzableiter

Des Vorurtheils – die Flamme lodert weiter.

O könnte doch mein Ekel und mein Zorn

Ausbersten, wie ein Aetna-Feuerfluß,

Wenn gleich sich aus der Galle bitterm Born

Die Lavaschlacke damit mischen muß!

Aus meinen Wunden zög' ich jeden Dorn

Und spitzte ihn als Liederpfeil! Zum Schluß

In meines Grimmes Acheron mich taucht' ich

Und, so gefeit, kein weitres Rüstzeug braucht' ich!

Ha, diese giftgetränkten Liederpfeile

Nach Kronen schöß' ich sie und Pfaffenglatzen!

Ich schleuderte sie mit des Blitzes Eile!

Ich peitschte sie auf freche Schergenfratzen!

Wie Feuerruthen! hiebe sie als Beile

In manch geheiligt Bollwerk, würd' die Tatzen

Der herrschenden Gewalt damit beschneiden,

Seciren in des Staates Eingeweiden!

Ich schwänge sie als zischend Henkereisen,

Auf Höflingsstirnen Brandmale zu drücken!

Bald nahte ich mit Tritten, schleichend-leisen,

Und höhnte ihre Willkür hinterm Rücken!

Bald würde ich als Löwe mich erweisen

Und brüllen, bis sich die Pagoden bücken,

Der Sündfluth Herold! Ach, Phantome nur!

Denn wir besitzen eine Preßcensur.

»Nur dreißig Jahre Preßfreiheit« erklärte

Für nöthig man, den Klerus zu besiegen.

Ich wollt', daß man uns nur ein Jahr gewährte.

Nicht, weil wir zweifeln dennoch zu erliegen,

(Denn stets das Kreuz Aposteln man bescheerte)

Nein, nur uns zu persönlichem Vergnügen,

Um unsern Abscheu völlig auszuschrei'n

Mit Worten, dauernder als Erz und Stein.

Ja wahrlich, Steine möchte man empören,

Doch besser ist's, die Steine aufzuheben,

Damit's die gähnenden Tyrannen hören,

Die der Lectüre wenig sich ergeben.

Doch wenn die Fenster klirren, wollt' ich schwören,

Daß ihre Taubheit man curirt fürs Leben!

Nach Plötzensee schickt man die lästige Wahrheit,

Doch nur Kanonen bringen hier uns Klarheit.

»Verirrter Jüngling! Dynamit-Sprengler!« rief Feichseler. »Aber man sieht doch wo und wie! Und dazu ist dieser Buchsbaum ein sehr bescheidener Mensch, der nicht an Größenwahn leidet wie die Andern.«

Hier schnitten Lämmerschreyer und Luckner, die den Jüngling kannten, freilich eine sonderbare Grimasse. Aber Feichseler bot sofort einen Beweis, vor dem alles verstummen mußte: »Drei Mal hat er mich schon besucht, um, wie er sagte, von dem Rathe eines älteren Meisters, dem er über alles vertraue, zu profitiren.« Lämmerschreyer lächelte heimlich. Wie oft hatte er mit Buchsbaum über den »lächerlichen stelzbeinigen kleinen dünnen Kahlkopf« gelacht – »klein und schmächtig« galt bei diesen Kraftbengeln als ästhetische Verurtheilung, da sie wie die Chinesen die Mandarinenweisheit am Leibesumfang maßen. Feichseler verlas dann noch einen begeisterten Brief Buchsbaum's an ihn, welcher »Hochverehrtester Meister« anhob und »Ihr ganz gehorsamster« endete. Hier flocht Gotthold Ephraim Wurmb die Bemerkung ein, daß er eigentlich Buchsbaum entdeckt und in letzter Zeit vielen Gedichten desselben die Spalten seines alleinseligmachenden Blattes geöffnet habe.

Am schärfsten klopfte man auf Mokamaute los, weil dessen dämonisch-krankhafte Individualität durch ihre, wenn auch ungesunde, Wahrhaftigkeit die conventionellen Phrasendrescher abstieß. Doch auch Krastinik sprach seine besondere Antipathie gegen diesen Dilettanten aus.

»Sein Leid ist so unnennbar groß und er versichert Jedermann, daß seine Seele nun völlig in der Lüste ekelm Schlund verdorben sei. Aber mit hartnäckiger Rüstigkeit bestellt er den Weinberg der Poesie weiter und setzt seine Leiden in edler Druckerschwärze wie eine vollgeladene Weltschmerzpistole der verachteten Welt auf die Brust. Dieser Kultus der Stimmungslyrik, diese Scheinpoesie, die naturgemäß zur Spielerei und Duselei verlockt, saugt ihm das letzte Mark aus den Knochen. In diesen Beiträgen ist er ja noch gar nicht in seinem esse. Man muß ihn in ätherischen Sphärenräumen herumfuchteln hören. Da löst er zuguterletzt alles in Wortmusik auf, als begnadeter Stimmungsfritze im Vollgefühl des einzig wahren Schöpfermysteriums. Sternenthau und Veilchenblau zu einem weinerlichen Reim verknüpfen – das eigene Persönchen, das weltverachtend nach Weltlust lechzt, selbstverleugnend dem All vermählen, um desto brünstiger die Befriedigung unersättlicher Ichsucht zu genießen – das ist so der richtige Lyriker von Gottes Gnaden!«

Diese herben Worte, welche der männliche Sinn des Ungars ihm entpreßte, gingen besonders dem Herausgeber Lämmerschreyer wie Oel ein. Seine stumpfe griechische Nase blähte sich, als genösse sie einen fetten Bratengeruch, und sein Schlangenäuglein blinzelte tückisch. Nun kam Krastinik selbst an die Reihe.

Graf Xaver Krastinik.

Lebensritte.

Dem Thoren scheint Thorheit, was der Weise spricht,

Der Dinge Innerliches versteht er nicht.

Was sind die Außenformen? Ein Wirbel von Monaden.

Der Geist in seiner Klause nur webt den rothen Faden,

Der regelrecht sich hinzieht durchs Wirrsal der Erscheinungen.

Doch blind ist Eure Wahrheit und Eure Fakta: Meinungen.

Zu jedem Laster, sei es noch so arg,

Liegt in Dir selbst der Keim, o Pharisäer!

Drum sei mit Deinem Tadel lieber karg!

O säh' Dein eigenes Innere ein Späher!

Alles ist ein Wunder in der weiten Welt,

Räthsel Dich umgeben, wohin Dein Auge fällt.

»Ueber nichts Dich wundern« rieth ein Weiser zwar.

Aber wer's befolgte, nie ein Weiser war.

Alles will ich gern ertragen,

Gern des Elends Fülle kosten.

Eins nur mag ich nimmer wagen:

Thatlos langsam zu verrosten.

Doch wer mit der Welt der Kleinen

Sich entwürdigend verschwistert,

Muß sich ewig ihr vereinen,

In ihr Stammbuch einregistert.

Der Teufel hole das Nörgeln und Zaudern,

Das Zupfen an jedem Eselsohr!

Kleckse machst Du über dem Plaudern!

Schmiere frisch darauf los, Du Thor!

Es gleicht der Leidenschaften Weg

Dem Niedergang vom Bergessteg.

Gleitet aus ein falscher Schritt,

Reißt uns alle der Absturz mit.

Was Optimist, was Pessimist!

O Don Quixot-Gerede!

O Fechten um des Kaisers Bart!

Windmühlenflügel-Fehde!

Die Welt lacht sich ins Fäustchen nur,

Wenn Idealisten sich zanken,

Und klatscht sich mästend Beifall gar

Dem hungernden Gedanken.

Und ist Euch nichts geblieben mehr,

So gebt den letzten Thaler her

Und kauft ein Stückchen Blei!

Ein leichter Druck, es ist nicht schwer,

Und alles ist vorbei!

Euch betäuben, dumme Jungen,

Vor dem großen Weltenweh

Durch ein liederlich Juchhe,

Bis Ihr gleich der Welt marode?

Endlich sind doch aus der Mode

Solche Trug-Entschuldigungen.

Wolle nicht wider die Sünde kämpfen,

Das wird nie Deine Begierden dämpfen.

Ihr zu trotzen will nicht taugen,

Sonst verzaubern Dich ihre Augen.

Aber wende ihr stracks den Rücken.

So wird Dir die Rettung glücken.

Freude entflieht mit dem Wind in die Wette,

Sorge hängt zähe wie eine Klette.

Oft schreiben wir der geistigen Arbeit zu,

Was andrer Kraftvergeudung wir verdanken.

Sei nimmer müßig, immer mäßig Du!

Ich glaube nicht an solche Arbeitskranken!

Dir selber nur, Dir kannst Du nicht entrinnen.

Die Ketten der Gedanken schleppst Du mit.

Den Abgrund, der sich öffnete tiefinnen,

Mit leichtem Fuß noch Keiner überschritt.

Ein Opfer braucht er, wenn er einmal klaffte.

Komm, Curtius! Im Tod er erst sich schließt!

Ach, seinem Ich nur Der sich je entraffte,

Wer selbstlos mit den Anderen genießt.

Ach, brauchte man nach jeder Fête

Als Soda doch ein Schlückchen Lethe!

Den Kummer der Vergangenheit

Kann ein Gedanke mindern,

Der uns von Reue nicht befreit,

Doch wohl sie weiß zu lindern.

Was Du auch thatest, gut und schlecht,

Das hat geformt Dein Wesen.

Und jedes Wesen hat sein Recht.

Sei, was Du Dir erlesen!

Kein Epigramm Dich weiht

So beißender Satire,

Als Deinen »guten Freunden« ihre

Erinnerung verleiht.

O Unglücksmutter Unersättlichkeit!

Wer ist denn reich? Wer seines Theils sich freut

Und hartes Brot wie Trüffeln wiederkäut.

Und statt der tausend Weiber, die ihn locken,

Sich nur begnügt mit einem Liebesbrocken.

Enthaltsamkeit – das ist Zufriedenheit.

Trübe Stimmung wird bemeistert,

Wenn man ihren Grund durchdacht.

Blitz zuckt auf aus Nebelnacht,

Gram zum Schaffen Dich begeistert.

Wir bringen vom Meer der Vergangenheit

Nur billige Waare für künftige Zeit.

Die ganze Fracht der Meerbefahrung

Ist unverkäuflich: die Erfahrung.

Mutter Natur, mir hast Du Dich entschleiert

Und jedes Würmchen ist mir lieb und traut.

Der jungen Pflanzen Triebe, stets erneuert,

Mein Auge freudetrunken schaut.

Die Schöpfung liebe ich wie eine Braut.

Denn Du verliehst ja Wolken, Wellen, Winde

Als Brüder, o Natur, mir Deinem Kinde.

Gewohnheit ist die Sünde wie die Tugend.

Vorm Keim des Lasters wahre Deine Jugend!

Umsonst sucht's dann die Mannheit auszurotten.

Die starken Wurzeln Deines Wollens spotten!

Dieser Grundsatz möge stützen

Deinen Wandel bis ans Grab:

Wisse Deine Zeit zu nützen,

Gieb Dich nicht mit Skrupeln ab!

Denn vergeudest Du Sekunden,

Werden leicht Minuten draus.

Jahre werden so aus Stunden.

Und Du wirst – ein altes Haus.

Zweifel, Reue, das sind Ketten.

Taste nicht nach gutem Rath!

Arbeit kann Verzweiflung retten

Und Befreiung ist die That.

Der Bach war unzufrieden

Mit seiner Kleinheit.

Und rief den Regen.

Und trat mit unruhvollem Sieden

Aus seinem Bett. Doch war ihm das kein Segen.

Denn er verlor darüber seine Reinheit.

Nun floß er durch Einöden, war voll Schlamm.

Mit Wehmuth drum gedachte er der Bäume

Und Blumen, die einst seine Ufersäume

Geschmückt. Was schwoll ihm auch so hoch der Kamm?

Die rothe Sonne funkelt

Pfeilscharf durch schwarze Rüstern

Und überm See es dunkelt,

Die Wogen flüstern.

Ich bin gesund und munter.

Doch in der Sehnsucht Wogen

Geh' ich urplötzlich unter,

Hinabgezogen.

Mehr Geistiges zu geben

Dem Menschen Gott vergönnte,

Als für das Erdenleben

Er brauchen könnte.

Ja, dieser Schmerz, uns nahend,

Wenn die Natur uns offen,

Ist ein Beweis, bejahend,

Was wir erhoffen.

Am Apfelfall fand Newton, heißt es,

Das Gravitationsgesetz.

Was sollten wir nicht finden jetzt

Im kleinsten Fall Gesetze des Geistes?

Und sätest nie den wilden Hafer Du

Und opfertest den Sinnen keck,

Warst nie ein Lidrian und Geck,

So traue ich Dir auch nichts Großes zu.

Ich soll mich der Wahrheit schämen,

Hör' ich den Michel toben?

Ich werde mich dann erst grämen,

Wollt Ihr mich loben.

Ich wußte, Liebe scharfe Pfeile wetzt,

Doch daß der Pfeil vergiftet, spür' ich jetzt.

Und wenn sich selbst herunterdrücken

Die Kaiser zum Steigbügelhalter,

Des Papstes weltlichem Verwalter,

Tritt Dante auf der Päpste Rücken.

Der Arzt, der zu studiren beginnt,

Keinem Leiden selber entrinnt,

Hält mit seiner Wissenschaft Schritt,

Macht jede Erscheinung der Krankheit mit.

Nur was wir im innersten Wesen erkennen,

Wissen wir auch beim Namen zu nennen.

Drei Menschengattungen giebt's in der Welt.

Zuerst die sinnlich stumpfen Massen,

Die nichts verehren als Genuß und Geld

Und das Gefühl wie den Gedanken hassen.

Doch dann der Edleren geringe Zahl,

Zu zart durch Denken und Gefühle,

Sie gehen unter, höhnisch und brutal

Zerstampft und übersehn im Weltgewühle.

Denn sie sind Silber und das Silber sinkt

Im seichten Strom des Tages. Doch inzwischen

Die falsche Alphenide prahlt und blinkt.

Dem Silber laßt uns Eisen mischen!

Nein, fliehet nicht den rauhen Lebenskrieg,

Kämpft mit für der Verkannten Sache!

Ein jeder Genius im Glück und Sieg

Uebt für Myriaden Unterdrückter Rache.

»Fort Ihr! Vergangenheit, weich' Du zur Linken!

Und Du zur Rechten, Zukunft!« stolz ich rief

Und stürmte auf und nieder bis zum Sinken.

Nur dieser Worte Kreis mein Hirn durchlief.

Und als ich seufzend meine Uhr dann fragte,

Sah ich, daß von der schönen Gegenwart

Ich einer Stunde Blüthe mir zernagte

Mit löblichen Entschlüssen solcher Art.

Die Harmonie von Leib und Seele –

Halb Sportsman, halb Gelehrter sein –

Das ist ein Humbug. Eines wähle,

Sonst wirst Du keines von den Zwei'n.

Seit mir die Liebe schien ins Herz gleich wie Aurora,

Beklage ich nicht mehr, wie sehr mein Loos zerüttet.

Was immer bergen mag die Büchse der Pandora,

Hoffnung und Liebe jetzt mit Blumen mich beschüttet.

Ich weiß, daß jedem Ding spät oder früh bescheeret

Ein Himmel der Natur, des Ueberird'schen Gleichniß:

Geliebt zu werden von der Frau, die er verehret,

Ist jedem Mannessein das krönende Ereigniß.

Zum Himmel ich erhob die abendmüde Seele,

Schon öffnete er mir sein leuchtend Sternenzelt.

In goldnem Nimbus da, göttlich und ohne Fehle,

Im Halbmond mir erschien die Königin der Welt.

Es singen um sie her die Sphärenharmonien:

»Ave, Maria stella! Heil, Herrscherin der Fluthen!«

Seltsame Horden auch von Geistern sie umziehn,

Die machtvoll in dem Schooß der großen Wasser ruhten.

Sie boten Schätze dar, die dort im Abgrund schliefen,

Schätze, die kaum geträumt der prächtige Aladin,

Schätze, die aufgespürt zur Hülfe dem Merlin

Die Artusritter nicht aus den verborgnen Tiefen.

Die Jungfrau sie empfing mit Huld all' diese Gaben,

Indem die Wimpern sie auf schwarze Augen senkte.

Doch Er, den ihrem Schooß mystische Liebe schenkte,

Oeffnete groß den Blick, sich an dem Glanz zu laben.

Indessen zitterte der Ocean empor

Aus seiner Tiefe, da die Herrin ihm erschien.

Und Deines Halbmonds Rand umfloß der Wogen Chor,

O Jungfrau, liebevoll Dir murmelnd Melodien.

Ja, jeder Silberschaum, ja alle Azurwogen

Des flüss'gen Elements zu Dir empor sich bäumen,

Von Deinem holden Leib ward himmelan gezogen

Dies Meer voll Hoffnungen und gläub'gen Liebesträumen.

»O Ewig-Weibliches!« Die Sphärenchöre sangen,

Prinzipien des Seins, die aus dem Meere stammen.

»O Ewig-Weibliches!« O wolle Du empfangen

Die Bitten hier von Luft und Erde, Fluth und Flammen!

O Unsre Liebe Frau, daß uns Dein Schutz behüte!

Kein Wesen ohne Dich gedeiht auf keine Weise.

Denn unsre Kraft bedarf all Deiner Frauengüte,

Zu einem Großen sie verknüpft verschiedne Kreise.

Durch Dich nur leben wir und blühn, Du unbeschreibliches

Geheimniß jedes Glücks, das sie ins Herze wob.

O Gattin, Schwester Du, o Mutter! Ewig Weibliches!

Nur Dir, nur Dir allein sei Ehre, Preis und Lob!

»Ah, bravo, bravo, lieber Graf!« rief Dondershausen. »Hier sieht man den gereiften Mann, welcher das Leben kennt!«

»Daß ein Mann wie Sie sich unter diese vorlauten Musenknaben und Maultitanen mischt!« flötete Adolf der Schöne.

»Nun, ehrlich gestanden,« Krastinik zuckte die Achseln, »mein Alter in Ehren! Daß meine Gedichte darum besser wären als die der Andern, kann ich nicht finden. Unreife – ja, die erkennt man wohl dort überall, aber auch echte Leidenschaft und mächtiges Wollen!«

Die vornehmen Kritiker und die feinsinnigen Eklektiker zuckten unisono die Achseln. Dann las man:

Helmold Heinrichs. Erotik am Vesuv.

Von Capris Kuppen rinnen nieder hier

Die Bäche, roth beglüht vom Morgenschein,

Als rinne schier ein Meer von Malvasier

Zur blauen Grotte selbst ins Meer hinein.

Und der Vesuv steigt weißlich aus der Flut,

Gekrönt von Wolken. Wie ein Zuckerhut.

Oder ein Beutel, oben dichtgeschnürt.

Bald scheint's, ein Hütlein habe sich aufs Haupt

Der Berg gesetzt. Bald scheint, vom Wind umschnaubt,

Ein bleiches Segel an dem Felsenmast

Stets auf- und abgezogen ohne Rast,

Sobald ein Luftzug dort den Dunst berührt.

Und hier im Angesicht – so malt's kein Pinsel –

Des Flammenberges, des zerstörungsfrohen,

Stürz' ich mich in der Liebe Flammenlohen

Und schwelg' in Deinen Armen, Kind der Insel.

»Ach, das ist mein Lieblingsdichter!« schmachtete Herr von Lämmerschreyer. »Welche Gluth des Colorits!«

»Auch ein bescheidener Mensch!« Wurmb wiegte anerkennend sein Denkerhaupt. »Er schreibt mir jede Woche zwei Postkarten aus Casamicciola.«

»Mir ja auch!« rief Feichseler.

»Und mir auch!« »Mir auch!« Es ergab sich, daß dieser bedeutende Sänger an jeden Anwesenden gleichlautende Freundschaftsbriefe wohl immer zu gleicher Stunde absende. Ein Netz von Massencorrespondenz über das ganze litterarische Deutschland hin! Weniger ergiebig schien freilich seine produktive Ader. Denn er leistete jeden Monat ein Gedicht und erklärte, daß der wahre Dichter nicht arbeiten dürfe. Er müsse sich langsam vorbereiten, die Welt im Kopfe tragend, und alles ruhig reifen lassen. Nur der sei ein wahrer Dichterheld, wer möglichst das Tintenfaß meide.

»Nicht so ewig drauflosschmieren, als könnte man nicht eilig genug unsterblich werden, wie dieser Leonhart!« eiferte der glatte Erich bei dieser gelegentlichen Feststellung der Heinrichs'schen Prinzipien, worauf ein allgemeines »Sehr wahr!« erscholl. Nur Krastinik runzelte leicht die Stirn und bemerkte ruhig:

»Kennen Sie Leonhart so genau? Ich glaube gar nicht, daß er des Ruhmes wegen so viel producirt, sondern bloß aus innerem Muß, um seine Naturanlage auszuleben. Ihm ist das Schaffen, wie uns Anderen das Athmen und Verdauen. Uebrigens, was den Dichter Heinrichs anbelangt, so habe ich von intimen Freunden desselben Schauderdinge gehört und soll derselbe ein ganz gemeiner Schmutzian sein, der ja auch seine Sachen gar nicht selber schreibe. Doch lassen wir das! Jedenfalls ist er ein sehr mittelmäßiges Talentchen und schon seiner Photographie nach, die ich bei Ihnen, lieber Herr Holbach, sah, ein tolpatschiger Schleicher mit seinem Cylinder und seinem Bewußtsein des schönen Mannes.« Holbach, der sich bisher passiv verhielt, vertheidigte jetzt Heinrichs in seiner bekannten Manier aus Sheridan's »Lästerschule«, wo grade beim Vertheidigen tropfenweis Bosheiten nachsickern. Feichseler brannte jedoch vor Begier, zum Schluß der Anthologie zu kommen, und den schließenden Autor, last not least, durchzuhecheln.

Friedrich Leonhart. Robespierre.

Brav, schöner Brissot, mache nur

Madam Roland den Hof.

Wohlwollend lächelt der Patriach,

Ihr Mann der Philosoph.

Wieviel poetisch Phrasengedresch,

Wieviel Genialität!

Doch heiser kichert's aus einem Eck,

Wo ein gelbes Männchen steht.

Da schrie der stramme Maultitan

Danton, wie immer benebelt:

»Du Lederfratz, ist Dir das Maul

Denn immer zugeknebelt?«

Der hat noch nie Bonmots gemacht,

Der kneift nicht in die Backen

Den Bürgerinnen, hat auch nicht

Stierhals und Löwennacken.

Er ist ein schlichtbescheidener Mann

Und mit verliebter Miene

Denkt er sich grade Danton's Kopf

Als Zierde der Guillotine.

Achill an der Leiche des Patroklus.

(Byron und Trelawny verbrennen Shelley's Leiche.)

Zum öden weißen Dünenstrand

Von blauen Bergesketten

Ziehn Pinienwälder schwarz herab,

Die sich im Golfe betten.

Zwei Männer bei einer Leiche stehn

Am Mittelmeere einsam,

Einen Scheiterhaufen entzünden sie

Als Todtenwächter gemeinsam.

»Den Freunden sein sterblicher Ueberrest

Und Albion sein Gedächtniß!

Trage Du fort die Erinnerung, Meer,

Und sein Lied als letztes Vermächtniß!

Für uns letzte Feueranbeter zumal

Der Scheiterhaufen hier lodert.«

Das Feuerzeichen steigt drohend empor,

Als ob es Rache fodert.

Wie ein Riesenarm mit geballter Faust!

Doch dann sich verdünnend bleicht es.

In goldiger Säule senkrecht auf

Bis zu den Wolken reicht es.

Abscheidend vom Unsterblichen

Die sterblichen Erdenatome!

Symbol der Psyche, darüber schwebt

Ein Vogel im Aetherdome.

Wie ein Phönix aus den Flammen hier

Scheint er emporzusteigen

Und tummelt sich zwischen Himmel und Meer

In glückbeseligtem Reigen.

Durchrieselt von erhabenem Graun,

Ruft Byron, reckend die Rechte:

»Hier als Brandopfer werfe ich ab

Alles Feige und Schlechte.

Wie Harmodius als Tyrsus schwing ich mein Schwert,

Von bräutlichen Myrthen umwunden

Ich bringe der Freiheit als Rosenstrauß

Spartanische Ehrenwunden.

Wie mein Ahne ›Ralph mit dem langen Bart‹

Zieh ich an Deckbord des Drachen.

Die Harfe zerschmettert, die Streitaxt hoch!

Durch aller Donner Krachen!

Mein Ahn hieß der Schlechtwetter-Johann,

Ihm hab' ich mich verglichen,

Bin oft gescheitert auf festem Land,

Hab' nie die Flagge gestrichen.«

Auf schwarzen Mitternachtfluthen schwimmt

Ein schwarzer Orlog. Am Sterne

Beim Vordersteven ein schwarz Panier.

Ein Sarg scheint's in der Ferne.

Stumm ist die Aeolsharfe nun,

Die im Schicksalssturme erschollen,

Bis im Schlußakkord des Todes sie borst,

Der Titanenseufzer entquollen.

Er ist jetzt eins mit der Lieblichkeit

Der Natur, die er lieblicher machte,

Mit dem allbelebenden Schöpferhauch,

Der in ihm die Flamme entfachte.

Durch die dumpfen chaotischen Massen des Alls

Schwebt er dahin für immer,

Auferstanden in neuer Gestalt

In ewigem Jugendschimmer.

Mater Dolorosa von Sedan.

Viel tausend Granaten rechts und links

Durchfurchen Feld und Heer.

Doch ragt, von Trümmern umschleudeet rings,

Der Altar blumenschwer.

Noch lächelt die Jungfrau dort herab,

Von steinerner Nische gedeckt.

Zu ihren Füßen wühlt sein Grab,

Wer fallend niedergestreckt.

Ave Maria! Die Stunde dies,

Wo die Glocke zur Messe ruft,

Wo wie ein Gruß zum Paradies

Aufwirbelt des Weihrauchs Duft.

Hier aber Dampf nur überall,

Die Erde bebt im Krampf,

Auffliegender Pulverkarren Knall

Und Kampf und Rossegestampf.

Am Kreuz noch immer die Erde hängt

Und ewige Wehn der Geburt

Durchzittern den Leib, den ewig umfängt

Des Todes eherner Gurt.

Dort schlendert ein bleicher Schemen durchs Feld:

Des Kaiserreichs Gespenst!

Nun zähle die Leichen, Lügenheld,

Ob Du Dein Werk erkennst?

»Es lebe der Kaiser!« – Still, Du Narr!

Der Austerlitzsonne Glanz

Geht blutig unter, doch leichenstarr

Rast weiter im Todtentanz!

Spielt auf, Trompeten, zum letzten Marsch!

Noch ein Idol bleibt ganz!

»Merde!« knirschte die alte Garde barsch

Und wir »La France, la France!«

Zufall.

In einer Schenke im Tiberthal

Trafen zwo Reiter sich einmal.

Der eine Dandy, der andre Roué,

Doch Beide Patrizier vom Wirbel zur Zeh'.

Sie beplauderten überm Wein

Die letzten pikanten Klatscherein.

Den großen Clodius Pulcher-Skandal,

Der als Weib verkleidet im Frauensaal

Bei den Saturnalien Unfug versucht.

Terentias falsche Haare. Luculls

Fischbehälter und Seidenwurmzucht.

Auch wie ein gewisser Sallust den Puls

Der Zeit befühle und sich bereit

Halte, zu sammeln die »Zeichen der Zeit«.

Wie Crassus seine Volksküche und

Sein Volkstheater ihm angepriesen

Als Wichtigstes, doch der Autor mit Grund

Ihn als bestes Zeichen der Zeit verwiesen

An die Schulden des jungen Caesar, Zins

Auf Zinseszins häufend, weil er die Provinz,

Die er künftig bekommt, schon verpfändet. Und wie

Sallust schon dem künftigen Opus verlieh

Den Titel: »Catilina's Verschwörung«,

Weil er prophezeie offne Empörung.

»Beim letzten Fest hat mit Muränen

Crassus gefüttert all seine Sclaven!«

Der Aeltre meint mit lautem Gähnen:

»Dies offenbar erscheinen muß

Nur als Verwechselung. Spartakus'

Besieger? Wenn er seine braven

Muränen mit Sclaven gefüttert hätte

So sähe ihm ähnlicher Das, ich wette!«

Des besten Sportsman Quadriga sie loben

Und der Modelöwin sidonische Roben.

Dann brachen sie auf von ihrem Wein

Und ritten gen Rom im Dämmerschein.

Und als sie den sieben Hügeln nahn

Und die ewige Stadt von oben sahn,

Um des Aelteren Lippen ein Lächeln schlich,

Unheimlich war's und fürchterlich.

»Leb' wohl denn! Daß wir uns wiedersehn,

Verbürge ich, es wird geschehn.

Ich bin ein Mann, von Vielen geehrt,

Von Vielen gehaßt – wie ein ehernes Schwert,

Das stets dem Freund zur Hülfe bereit,

Doch den Feind bedräut in gerechtem Streit.

Nie hab ich dem Feind meiner Sache verziehn,

Stets hab ich dem Freunde Schutz verliehn.

In meinem Herzen für immer ruht

Die Erinnerung an Bös oder Gut.

Wer Du auch seist, beherzige den Rath:

Scheue nie zurück vor verzweifelter That!

Stets finde die Unbill blutigen Sold,

Denn dem Wagenden ist die Klinge hold.

Greift verwegene Hand in das Rad Deines Lebens,

So rufe nach mir, nicht rufst Du vergebens:

Ich zerbreche die Hand! Wer verfolgt und gekränkt,

Der komme zu mir, der für ihn lenkt

Der Vergeltung Stahl und vollführt die Rache –

Denn seine ist meine eigene Sache.

Ich bin der Richter, ich bin der Rächer!«

Und grüßend er winkt mit dem Pfauenfächer,

Den Mantel um Kinn und Mund er schlang,

Seitab vom Hügel herniedersprang.

An eine Schenke am Aventin,

Als matt der Mond herniederschien,

Klopfte ein Vermummter. Der Wache

Am Thore gab er ein Pergament:

»Bring' es dem Führer, damit er erkennt,

Daß ich der heimliche Freund der Sache.«

Geräumig war der Berathungssaal.

Und die Verschwörer allzumal

Saßen um den Führer geschaart

Mit schwarzem wallenden Haar und Bart

Und Leichenblässe im Angesicht

Und Augen, glühend unheimlich-licht.

Ein Becher stand auf dem Marmortisch.

Darin die rothe flüssige Glut,

Ist's Chier, Falerner hell und frisch?

Der Fremde schauderte – es war Blut.

»Die Fackeln hoch!« Und Jeder da

Erkennend dem Andern in's Auge sah.

»Wir sehen uns nicht zum ersten Mal,

Denkst Du der Schenke im Tiber-Thal?«

»Und Du bist Catilina?« »Und Du

Der junge Caesar? Nun, nur zu!«

»Zur Sache!« Sie beriethen lang. – –

Doch Caesar denkt beim Heimwärtsgang:

»Komm' jemals ich zum Regiment,

So wird zuerst vom Rumpf getrennt

Mir dieser widerspänstige Kopf.«

Und Catilina denkt daheim:

»Da ist wohl mancher tücht'ge Keim –

Im Ganzen ist der Bursch ein Tropf,

Der auch gefährlich werden mag.

Und kommt der große Rechnungstag,

Wenn ich mich freue, an allen vier Ecken

Dies feile Rom in Brand zu stecken,

Dann, Caesar, wird Dein Loos nicht besser:

Du fällst von meinem eignen Messer.«

Doch wie verlief die Sache später?

Der Catilina war ein Narr.

Die Invektive machte ihn starr,

Die Cicero ihm zugebrüllt:

So rannte ins Netz er zornerfüllt

Und gilt als schnöder Hochverräther.

Doch Caesar, welcher sacht und stille

Gewartet, was des Schicksals Wille,

Der stets lavirt nach gutem Glück

Und, ging's nicht vorwärts, ging zurück?

Der Zufall nur die Dinge lenkt.

Des Werthes Prüfstein ist erschienen

Stets der Erfolg. Doch Jeder denkt,

Ihm werde dieser Prüfstein dienen.

Genie und Thatkraft? Zufall nur

Uns leitet auf die rechte Spur.

Das Autodafé.

Und ein Mandat ward aufgesetzt:

»Ihr lasset flugs Euch taufen.

Wo nicht, Hebräerhunde, verschlingt

Euch alle der Scheiterhaufen.«

Der Rabbi zerraufte sich Haar und Kleid

Und streute aufs Haupt sich Asche.

Dann salbte er sich wie zum Fest

Aus der heiligen Weihölflasche.

Und als am Holzstoß alle vereint,

Begannen sie alle zu tanzen,

Wie Mirjam, als im Rothen Meer

Ersoffen Pharaos Lanzen.

Und als sie endlich ausgetobt

Und als die geschmeidigen Weiber

Wie die Weiden an Babylons Wassern schlaff

Niedersenkten die Leiber,

Und als die brünstige Raserei,

Ermattet in starrem Krampfe –

Da breitete über die Bühne sich schon

Ein Schleier von bläulichem Dampfe.

Die Henkersknechte in rothem Wamms

Pechfackeln schwingen, vom Thurme

Die Armesünderglocke klagt

In unaufhörlichem Sturme.

Und wie Numantias Bürgerschaft

Sich wechselseitig getödtet,

Die Väter und Gatten das Schwert vom Blut

Der Weiber und Kinder geröthet –

So geht es durch erstickenden Qualm

Hinein ins Flammenbette,

Die Stimmen vereinend im Rachepsalm,

Die Arme verschlingend zur Kette.

Es endet in einer Säule Rauch

Der Feuersäulen Gewimmel,

Wie Moloch's eherne Rechte schwarz

Und glühend sich reckt zum Himmel.

Gleich dem Flammensignal, das Israel

Beim Exodus sah steigen,

Aus der Aegypter Joch den Pfad

Zum gelobten Lande zu zeigen.

Als überm Leichenknochenrest

Die letzte Garbe noch prasselt,

Da wirbeln Fähnlein durch die Luft,

Mailänder Harnisch rasselt.

Der Herold tutet, der Marschall naht.

Den hat der Kaiser gesendet,

Auf daß von den Kämmerlingen des Reichs.

Er das gräßliche Unheil wendet.

Soll er die biedern Rathsherrn nun

An ihrem Wanste spießen?

Der Ritter strich verlegen den Bart,

Die Sach' thät ihm verdrießen.

Den Reisigen brummte er traulich zu,

Die Denkerstirn beschaulich

Auf seines Flambergs Knauf gestützt:

»Die Aventür wird graulich!«

Klebers Ermordung in Aegypten.

Dem Wunderkranze gleich in Ceylons Hain,

Kreuzt Schwert mit Schwert sich hoch im Dämmerschein.

Die Morgensonne lebenswarm umloht

Des Helden Schläfe, aber der ist todt.

Gleich denen, die der Zauberbann umflicht

Von Ischmonie, so starr und leblos schauen

Die Mörder, wie aus Marmor zugehauen.

Zu streuen scheint der Fackel rothes Licht

Auch Wundenmale auf ihr Angesicht.

Wer war es, der mit schnöder Hand zerriß

Dem Sieger hier von Heliopolis

Den Lebensfaden? Dieser Botschaft harrte

Schon lange in Paris Herr Bonaparte.

Das nennt sich Kampf ums Dasein! Wenn der Dolch

Den Helden traf, zum Drachen wächst der Molch.

Caesar Borgia ermordet seinen Bruder.

Des Mondes Strahl sich mischt dem ersten Morgenglimmern.

In seinem Silberlicht wie eisgepanzert flimmern

Die Felsen. Sickernd rauscht hier durch den Felsentrichter

Das Wasser, wirbelnd sich im Kreis, ein Selbstvernichter.

Doch wie gereinigt und geklärt vom Felsensieb,

In welchem Schaum und Tang unlauter hängen blieb,

Die Fluth dann klar und rein zum Tiber niederlief.

Sie zimmert sich ein Bett im Passe hohl und tief.

Hier würde jedes Boot, wo so vernichtungstoll

Der Schaum in wildem Satz zum Abgrund niederschwoll,

Wie vom Gebiß und Schlund des Nilpferds jäh zermalmt.

Dort zog im Mondenschein, vom Wasserstaub umqualmt,

Ein Reiter, schwarz vermummt, sein Haupt gesenkt, verdeckt.

Und vorn am Sattel hing ein Mantel, drin versteckt

Ein Etwas, das er schnell nun in den Strudel warf,

Auflesend Steine noch am Strand und zielend scharf

Nach jener Bürde, die noch manchmal aus dem Fluß

Auftauchte – – jetzt der Leib wohl meerwärts rollen muß.

Doch glaubet nicht, daß ich die Borgias verdamme!

In den Retorten, wo ihr Höllengift gebraut,

Hat sichtbarlich geglüht der Weltenseele Flamme.

Wer Darwins Lehre je mit festem Blick durchschaut,

Der ehrt im Geier, der herabstößt auf die Beute,

In dem unschuldigen Reh wie in der rohen Meute

Denselben Kampfinstinkt rastloser Lebenstriebe.

Gleichwerth sind durchaus dem Menschen Haß und Liebe.

Zwischen zwei Polen liegt die wahre Weltbetrachtung:

Willensverneinung und entschlossene Weltverachtung,

Leben in der Idee, – oder die ungezähmte

Willensentfesselung, die brünstig nie beschämte

Weltlustanbetung. Ach, den Durst sie nimmer stillt,

Wie nur mit wüstem Rausch Salzwassertrunk erfüllt

Die dürstenden Matrosen, beim Sturm im Boot verschlagen,

Bis cannibalisch sie sich hungernd selbst benagen.

»Nein, das geht nun und nimmer an!« brach Feichseler los. »Ist denn das noch Poesie? Das ist gereimte Prosa. Wer das drucken lassen kann, ist kein Lyriker und auch kein Vollblutdichter. Das ist ein Mensch, der rastlos mit dem Verstande arbeitet!«

Unter allgemeinem Beifallsgemurmel ließ sich da wiederum Krastiniks Stimme vernehmen: »Ich bin andrer Ansicht, Herr Doktor. Mir ist diese gereimte Prosa lieber, als ganze Fuder Gelbveigelein-Lyrik. Auch glaube ich gar nicht, daß Leonhart ein Lyriker sein will. Solche historische Hieroglyphen wie diese kritzelt er so nebenbei tagebuchartig aufs Papier, wie ein Andrer seine Einnahmen und Ausgaben bucht. Er will damit gar nicht künstlerisch wirken, sondern schleudert nur so wie die Natur überflüssige Schlacken von sich ab, wie die Lawine aufs Schneefeld stürzt, um im Abgrund zu verdonnern.«

»Er blendet Sie, mein lieber Herr Graf,« trumpfte Wurmb mit sauersüßer Miene ab. Der naseweise Lämmerschreyer aber meinte gewichtig: »Ein Sänger der Freiheit und der Noth des vierten Standes wie Anno Buchsbaum steht mir viel höher.«

»Ach, dieser Brave!« lachte Krastinik auf. »Dieser undankbare Streber! Da hab' ich nun zufällig bei Leonhart allerlei Dinge Schwarz auf Weiß gesehn. Schreibt dieser Mensch ein vernichtendes Schmähgedicht auf den Ghaselendichter X. und richtet nachher an diesen einflußreichen Würdegreis einen demüthigen Abbittebrief, worin er in ergreifenden Worten um Entschuldigung bat und schmerzlich beklagte, daß Herr Leonhart sich erfrecht habe, das Gedicht später bei einem Ausfall auf X. zu citiren, um seiner eigenen Gehässigkeit eine Würde dadurch zu geben!! Diese bodenlose Unverschämtheit, verbunden mit Feigheit und Perfidie, richtet sich selbst und möchte ich überhaupt meine Hände über diese jugendliche Clique in Unschuld waschen.«

»Zu welcher Clique doch Leonhart selbst gehört,« fiel Feichseler ein. »Ach, Holbach, haben Sie endlich eingesehn, was eigentlich an diesen Kerls daran ist, sammt Ihrem Freund Leonhart?«

»Leider ja! Ich überzeuge mich mehr und mehr!« gestand Holbach mit einem tiefgefühlten Seufzer.

Die Adern auf Krastiniks breiter Stirn schwollen bedenklich. »Wovon überzeugen Sie sich?« fragte er scharf. »Wenn Sie sich einen Duz- und Busenfreund Leonharts nennen und denselben, wie Sie mir schon mehrmals sagten, so oft gegen seine Feinde vertheidigen, so sollten Sie doch am besten wissen, daß Leonhart jede nähere Gemeinschaft mit dieser Rotte ablehnt.«

»Hm, Sie gehn denn doch etwas stark für meinen Freund Federigo ins Zeug. Er ist ja ein bedeutender Mensch – hm!« Er machte eine Pause in der Hoffnung, daß Jemand widerspreche, um dann eiligst gehörige Einschränkungen zuzufügen. Es meldete sich aber Niemand. »Allein, er hat doch auch viel von einem Streber.«

»Möglich. Ein Genie ohne eine gewisse Streberhaftigkeit (ich erinnere an Richard Wagner) ist ebenso undenkbar, wie ein großer Mann der That ohne Opportunismus und despotische Gesinnung. Dieser Naturtrieb wird zu einer Tugend. Denn das Genie fühlt instinktiv, daß es sich ja nicht zu dem, was es werden soll, entwickeln könne ohne äußeren Erfolg. Und seine Entwickelung scheint ihm identisch mit der Entwickelung seiner Kunst oder Wissenschaft. Daher glaube ich ebensowenig, wie an ein sogenanntes ›fau les Genie‹ (Genie ist Fleiß), an ein Genie, das nicht in gewissem Sinne erfolgsüchtig ist, weit mehr als ruhmsüchtig. Denn der Ruhm im höheren Sinne des Wortes scheint ja dem Genie ohnehin erb- und eigenthümlich.«

»Sie sagen immer ›Genie, Genies‹!« warf Lämmerschreyer giftig ein. »Sie wollen doch wohl Leonhart kein Genie nennen? Sieht der wie ein Genie, wie ein Goethe aus? Dieser Knirps!«

Eine etwas unwillige Bewegung ging durch die Versammlung. Solche knabenhafte Dummdreistigkeit verwundete denn doch selbst die Anwesenden, zumal drei darunter selbst von unansehnlicher Gestalt waren. Krastinik lachte heiter auf:

»Famos, lieber Herr! Deswegen waren auch Napoleon, Cromwell, Friedrich, Byron, Luther, Richard Wagner, Michel Angelo, Mozart, Gambetta, Victor Hugo solche Hünengestalten, nicht wahr? Machen Sie sich nicht lächerlich! Jaja! ›Sieht Er, mit solcher Kanaille muß Ich mich herumschlagen!‹ Aber der brave Pandur, der auf den Helden des Jahrhunderts die Flinte anlegte, sah nur einen gar kleinen Mann in schmutzigem Anzug mit Krückstock und Schnupftabaksdose. ›Kein Held ist ein Held für seinen Lakaien‹ noch für Lakaien überhaupt. Aber bei wem die Schuld, beim Helden oder beim Lakaien?«

Eine betretene Pause folgte, welche Luckner mit dem Ausruf brach: »Ei, ei, Herr Graf, Sie treiben ja mit Leonhart die reine Carlyle'sche Heroenverehrung!«

»Pardon, wenn ich etwas erregt sprach!« entschuldigte sich der Graf gemessen. »Alles begreife ich. Aber die Keckheit, womit der Gewöhnliche über den Ungewöhnlichen urtheilt und an Ausnahmenaturen denselben Maßstab legt, wie an den Dutzendmenschen, ohne je die menschlichen Schwächen der Größe psychologisch zu begreifen – diese Keckheit allerdings verstehe ich nicht. Wenn man mir bewiese, Shakespeare habe gestohlen, so würde ich mich ehrerbietig jedes Urtheils enthalten.«

Holbach zuckte die Achseln. »Sie ziehen aber so übertriebene Beispiele heran! Was heißt Genie!«

»Ja, das frage ich Sie!« erwiderte Krastinik kalt. »Wie nennt man heut Mittelmäßigkeit? Reife. Was heißt Genie? ›Sturm und Drang‹. Und was heißt heut überhaupt so Manches! Was heißt Freundschaft?« Er warf einen anzüglichen Seitenblick. »Die Fehler und Schwächen eines Menschen durch genauere Kenntniß desselben ausspähen. Was heißt Dankbarkeit? Sich durch die Erinnerung empfangener Dienste belästigt fühlen.«

»Ach, ich verstehe. Leonhart wird Ihnen da wieder allerlei vorgegaukelt haben!« Wurmb schob nervös seine Brille zurecht. »Und er selbst – ich könnte Ihnen Wunderdinge –«

»Ach, lieber nicht!« wehrte Jener kühl ab. »Dergleichen kenne ich. O Gott, wenn künftige Goethe-Pfaffen mit ähnlicher Beharrlichkeit auch in modernsten Waschzetteln wühlen sollten! Der Muthigste schaudere bei diesem Gedanken! Was wird nicht alles zusammengeklatscht! Denn das auszeichnendste Merkmal des Durchschnittsmenschen bilden Klatschsucht und Verlogenheit. Alles wird gelenkt von einem großen Gesetz der Lüge. Wer dem Trieb der Selbsterhaltung gehorcht, dämmt übersprudelnden Wahrheitsdrang. Müßte man nicht ein Engel oder ein – Esel sein, um stets zu sagen, was man denkt? Leonhart ist zu nervös aufrichtig, allerdings. Jede Verstellung ist ihm fremd, jede lebenskluge Vorsicht liegt ihm fern und er selbst entfesselt meist die Verleumdung durch seine Unvorsichtigkeit. – Glauben Sie nicht,« fuhr der Graf nach einer Pause fort, »daß ich Incorrektheiten Leonharts bezweifele. Aber der eigentliche Kern seines Wesens ist hochherzig und edel. Seine Richtschnur wird ewig bleiben: Die Gerechtigkeit, und das ist die schwerste Tugend. Strebe am ersten nach ihr und alles andere wird Dir von selber zufallen! Ja, diese strenge königliche Tugend schleicht auf Erden als Aschenbrödel umher. Niemand will sie. Lobt sie, war's nie genug; tadelt sie, heißt sie gehässig. So kommt es, daß man den Gerechten am leichtesten der Widersprüche zeihen kann. Was schimpfen Sie über seine Herbheit und rücksichtslose Schärfe! Seine strenge Schroffheit ist eine natürliche Folge gerechter Verbitterung. Haben seine lieben Mitmenschen nicht von der alles aufgeboten was in ihren Kräften stand, um das Aufstreben niederzuducken? Müßte er nicht mit Fug und Recht allen heimzahlen, was man an ihm verbrach, wenn nicht seine Verachtung stets seinen Haß im Keim blickte?«

»Sie überschätzen ihn, Sie überschätzen ihn kolossal!« sagte Wurmb erregt. »In vieler Beziehung tappt er umher wie ein unreifer Knabe. Man hört da kaum glaubliche Sachen von einem Verhältniß mit einem bemakelten Frauenzimmer in einer Weiberkneipe, die sich nichts aus mir macht und die er sogar heirathen wollte, um die bekannte ›Rettung‹ an ihr zu verüben. Entweder ist dies eine männliche Sinnlichkeit oder kindische Sentimentalität.« »Wenn ...« Er brach plötzlich ab und erröthete, man wußte nicht warum. Drückte ihn vielleicht gerade auf der Brust ein Briefchen mit einer Freiherrnkrone, wo eine lustrümpfelnde »Adah Freiin von Geisenheim«, geborene »Freiin von Ratzko« ihm den Laufpaß gab, weil er ihr so wärmerisch anbot, mit ihr vor seiner Frau und seinen andern nach Amerika zu entfliehn? Und sie hatte ihn doch bloß als Redacteur benutzen wollen, aus der Distance kokettirend!

»Ich gratulire Ihnen zu Ihrer Philosophie,« Krastinik daß sich auf die Lippen, um nicht hellaufzulachen. »Ich sah noch Keinen, der nicht die Leiden und Leidenschaften anderer recht mit philosophischer Geduld belächelt hätte, noch Keinen, der diese Geduld an sich selber erprobte. Uebrigens, die Mutter der Weisheit ist doch nun mal die Thorheit. Nur aus Most und Wein.«

»O o! Ich bitt' Sie, wo bleibt aber da die Moral?« zeterte Feichseler. »Wozu soll das fuhren! Untergrabung aller altdeutschen Sittlichkeit, Abklatsch der Pariser Verhältnisse! Schämt sich dieser Leonhart denn nicht, falls er wirklich so genial ist, die Gesellschaft verbuhlter Hetären zu frequentiren? Warum gründet er sich nicht eine germanische Häuslichkeit mit einer gebildeten Jungfrau? Ist es nicht eine wahre Schande, daß er die Geschöpfe der Straße litteraturfähig macht? Will er etwa die sociale Frage lösen, indem er ›Arme Mädchen‹ studirt wie Herr Lindau? Pfui, pfui darüber!«

»Hm,« erwiderte der Vertheidiger trocken. »Warum er nicht heirathet, weiß ich nicht. Vermuthlich, weil er kein Geld dazu hat. Warum er ces dames studirt und in seine Bücher bringt, weiß ich. Das sind allen Ernstes nur dichterische und ästhetische Gründe: um die Leidenschaft und die Noth an der abgründigsten Wurzel bloß zulegen. Warum er persönlich an solchen Damen Gefallen findet (so etwas kommt bei uns nicht vor, nicht wahr meine Herrschaften?), weiß ich ebenfalls. Vermuthlich, weil er sie interessanter findet als die langweiligen und dabei prätentiösen Puten des Salons. Wen in aller Welt das Alles übrigens etwas angeht, weiß ich nicht Wohl aber weiß ich, wenn er wirklich irrsinnig genug war einem solchen Weibe seine Hand anzubieten, daß dies weder aus Sinnlichkeit noch aus Sentimentalität geschehen sein kann. Denn er ist mäßig sinnlich und gar nicht sentimental. Obschon ich ihn vermuthlich näher kenne, als die Leute, die über ihn schwatzen, so vermesse ich mich nicht, über seine Motive zu urtheilen. Jeder Mensch hat seine inneren Geheimnisse, die kein Anderer kennt; sich da hineinzudrängen ist roh und dumm, gegenüber einem bedeutenden Menschen aber obendrein frech und infam.«

»Aber ich bitte Sie, schon allein der Skandal, wenn er das Weib wirklich heirathete! Dies schlechte Beispiel –« Feichseler brach ab und erröthete, man wußte warum. Denn die guten Freunde stießen sich bereits unterm Tische an. Behauptete doch der Stadtklatsch, Ottokar habe selbst die ideologische Narrethei begangen, eine Bemakelte zu retten und eine frühere femme entretenue zur Würde einer Frau von Feichseler zu erheben! Natürlich aus rein ätherischem Idealismus, da die junonischen Reize der schönen Frau unmöglich einen Philosophen wie Feichseler hätten verblenden können!

»Nun, Leonhart scheint immerhin ein ungewöhnlicher Mensch und eine liebenswürdige Natur. Aber er ist allzu bissig und dann – auch noch etwas grün. Das heißt –«

»Scheint mir auch,« ergänzte Gutmann bedächtig. »Ich kenne ihn ja auch. Er aß einige Mal bei uns. Noch vor einem halben Jahr machte er mir einen Gegenbesuch und aß etwas bei uns. Er erinnert mich an Aurelie von Fellmarch. Sie wissen: die so oft bei uns aß und nachher solche Bosheiten über mich, meine Frau und das Kind geschrieben hat! Ja ja, der Leonhart wird noch älter werden. Wie wird er in zwölf Jahren an sich selber denken!«

»Ich kann mir nicht helfen,« warf jedoch Wurmb hin. »Ich halte Leonhart für einen unsrer gefährlichen Kujone. Ein furchtbarer Streber, der mit allen Mitteln vorwärts jagt und rücksichtslos niedertritt, was ihm den Weg versperrt.«

Krastinik erhob sich mit ironischen Lächeln. Es wird spät und ich muß mich empfehlen. Nur möchte er zum Schluß dieser Debatte eins bemerken. Hören sie z.B. einen Schmoller, der Leonhart nur zu ewigem Thun verpflichtet wäre, so wird dieser Größenwahnsinnige sich weder über seinen großen Gönner in herablassendem Tage als von einem ›guten Kerl‹ oder mit schimpfender Weise als von einem ›raffinirten despotischen Charakter‹ redete. Und grade so theilen sich überhaupt die Urtheile der dummen Jungen über dies Phänomen. Sagt Ihnen nicht die Logik, daß Beides zugleich nicht so kann und daher keins von Beidem irgendwie der Wahrheit entspricht?

»Ueberhaupt,« setzte Krastinik nach einer Pause fort »gehört doch eine unglaubliche Unwissenheit dazu, ein Dichter, der berühmt war, ehe unsere heutigen Modegötter auftauchten, und nur wegen mangelnder Streberei im Hintertreffen gedrängt wurde, zu dem jüngstdeutschen Gesindel zu rechnen! Nicht, als ob ich jenen jungen Leuten eine durchgängige Sprachvirtuosität und Formbemeisterten absprechen möchte. Nein, im Gegentheil erregt ihr ehrliches technisches Verskönnen kopfschüttelndes Staunen.«

»Auch eine Gedankenfülle schmerzlichen Lebensernstes und ein selbstständiges Lebensgefühl, welches der Erde Bitterniß voll durchkostete und sich in weihevollem Schmerze läutert!« dekretirte der stets in philosophischer Schönrednerei schwelgende Dondershausen und blies die Backen auf.

»Doch auch viel tautologisches Phrasen-Gefüllsel,« fiel Luckner ein.

»Ja, mag das alles nun sein, wie es will, jedenfalls ahnen diese jungen Lyriker in glücklicher Unschuld gar wenig von dem düstern heroischen Kampf, den das eigentliche Originalgenie wie Leonhart durchzuleiden hat, ehe es endlich seine wogende Ideenwelt in die konventionellen Stereotypformen der Litteratur zwängen lernt.«

»Mein Gott,« rief Gutmann achselzuckend. »Sie thun ja gerade so, als ob zwischen Ihrem Abgott und allen andern lebenden Dichtern eine Kluft gähnte, als ob er nicht nur der Erste wäre, sondern gleichsam allein auf einer Insel säße und das übrige Völkchen weitab von ihm.«

»So ist es auch,« bekräftigte Krastinik halblaut. »Wenigstens ist etwas Wahres daran.«

»Ja, lieber Herr Graf,« Ottokar und Dondershausen schüttelten den Kopf, »man hört Sie ja ruhig an, man läßt Sie ausreden. Aber man weiß wirklich nicht.. man versteht kein Wort.. es schwindelt Einem..«

»Einer muß jedenfalls verrückt sein,« brummte Holbach. »Ich begreife ja Ihre Begeisterung, allein..« Er zuckte vielsagend die Achseln.

»Ich kenne ihn ja doch auch am Ende,« hob Gutmann an und warf sich in die Brust, »und schätze ihm als einen näheren Bekannten. Noch zuletzt als ich ihm sprach (er aß etwas bei mir), sagte ich ihm: ›Leonhart Sie sind noch unerfahren‹. Sie vermöbeln zwar In-und Ausland, allein jene berühmte Kneipe, wo Sie als neuer Shakespeare mit Ihren Gebrüdern Green, Dekker und Heywood zusammensaßen, ist das Symbol jener Lächerlichkeit..«

»Ach so, das wollten Sie ihm sagen?« schnitt ihm Krastinik weitere Fanfaronaden ironisch ab. »Hören Sie auf, lieber Herr! Das würden Sie halt wagen, ihm an den Kopf zu werfen! O Jesus Maria!«

»Nun, um ad rem zurückzukommen, worin unterscheidet sich der erlauchte Dingsda denn von uns andern?« Dondershausen schnitt eine verzerrte Grimasse, wie eine Affe, der in einen sauren Apfel beißt, während Feichseler süßlich lächelte.

Holbach, dieser hanseatische Vikinger, der wie Leonhart als Federfuchser seinen Beruf verfehlte, sah mit einem starren Blick ins Leere. Sein blonder angelsächsischer Pferdekopf, der das Roßwappen Hengists und Horsas hätte schmücken können, ähnelte im Ausdruck auffallend einzelnen Zügen Leonharts. Wie dieser schob er die Unterlippe vor und preßte die Lippen fest aufeinander, während die Augenbrauen sich weit vortreten zusammenzogen.

Gutmann machte ein dummes Gesicht, das jedoch einer gewissen Bosheit nicht entbehrte. Luckner fummelte allerlei unzusammenhängende Redensarten dazwischen. Leonhart verstehe nichts von dem einzig wahren Urborn der Poesie, der Germaniestik. (Er sprach dies Wort immer mit einem langen I.) Ein Mensch, der nicht Jakob Grimm studirt habe und über Scheffel, den größten deutschen Dichter nach Goethe, herablassend urtheile, er sei nur ein reizender Idylliker! Neulich noch habe Leonhart sich darüber mokirt, daß Scheffel ins Irrenhaus gewandert sei, weil ihm die dargebrachten Huldigungen der undankbaren deutschen Nation nicht genügten, und daß der biedere Dichter die 46.–49. Auflage seines »Ekkehard« mit großem Kostenaufwand selbst aufgekauft habe, um die 50. Jubiliäumsauflage zu ermöglichen. Auch sei die Fühlung des jungen Poeten zu dem Altmeister und dem »Ring der Nibelungen« nur gering. Das war für Luckner entscheidend. Nach dem Grundsatz, der heut die Welt regiert: Richard Wagner est asylum ignorantiae, versenkte sich der harmlose Knirps-Pimper (wie Leonhart, dessen Verachtung stets drollige Naturlaute fand, ihn zu nennen pflegte) in Musikkennerschaft, um sich über seine Dichterlähmung zu trösten. Für ihn schien das Welträthsel in Bayreuth gelöst. Wie der Bayreuther Meister des Größenwahns keinen Gott neben sich erkannte, so betrachtet auch die Wagner-Gemeinde jeden, der nicht auf ihre lächerliche Einseitigkeit schwört, als eine Art Heiden, und wer noch an die Möglichkeit anderer Weltpropheten glaubt, als Verbrecher. Der Richard Wagner-Humbug bildet ja gleichsam die symbolische Spitze für alle Großmannssucht unserer Zeit.

Krastinik überlegte wie es schien, und sammelte vielleicht Erinnerungen an Aussprüche seines Meisters. Dann erwiderte er gemessen auf Dondershausens Frage: »Bei den Anderen, deren Schaffen trotz aller äußeren Geschlossenheit als innerlich zerstückelt wirkt, stehn wir immer in enge Kreise gebannt, mit beiden Füßen auf der Erde – das heißt auf den Brettern, welche die Welt bedeuten. Nie wird man bei ihnen die Empfindung des bloßen Theaterspielens los. Kombinirt Leonhart dramatische Gegensätze, so gehen sie stets in symbolische Tiefen hinab, während sich bei Anderen die Leute ganz handgreiflich-plump mit ihrem schrecklichen Edelmuth wie mit einer moralischen Ohrfeige drohen. Leonhart's Vorbild scheint offenbar Shakespeare, welcher auch in seinen realistischen Dramen überall Durchblicke ins Ewige eröffnet. So die Villegiatura von Belmonte im ›Kaufmann von Venedig‹. Dort zerreißt der Vorhang hinter dem Saal des Dogenpalastes, wo man über weltliches Recht und Unrecht streitet, und man erschaut das Ewige in der Mondnacht, wo Lorenzo mit Jessica träumt: ›Auch nicht der kleinste Stern, den Du da siehst, der nicht im Schwunge wie ein Engel singt.‹ Was also ist dieser ganze kleine Erdball, mahnt uns der Dichter, dieser Stern unter größeren Sternen! Ist aller irdische Streit nicht müßig?«

»Aber ich bitt' Sie! Shakespeare! Ja, wer möchte den Herkules preisen, den Niemand tadelt – sagt ein lateinisches Sprüchwort. Shakespeare und Leonhart! Wo liegt da der Zusammenhang! Alle Achtung vor dessen Leistungen, aber –«

»Was er ist und kann, können wir jetzt immer noch nicht beurtheilen, so großartig er auch schon als Gesammterscheinung sich darstellt. Denn er, der eigentliche deutschnationale Dichterrealismus, ringt augenblicklich noch mit sich selber, hat sich noch nicht zur letzten Lösung durchgerungen. Er thürmt Cyklopenmauern, hinter denen ein Riese seine Waffen thürmt.« Die verbündeten Eklektiker sahen den Grafen so dämlich an, wie die Ochsen vor'm neuen Thor, so daß dieser sich jetzt eilig empfahl.

Nur Holbach nickte langsam vor sich hin, indem er mit seltsam düsterem Ausdruck wieder ins Leere starrte. Seine löwenhafte Reckennatur verseuchte sich zwar durch und durch mit füchsischer Balancir-Verlogenheit eines Weltlings; er repräsentirte gleichsam als Typus die Welt, also die Lüge. Aber das wirkliche Wohlwollen, das ehrliche breite Herz, das unter all der schwindelhaften Schauspielerei in seiner breiten Brust schlug, errieth intuitiv Manches und fühlte instinktive Verwandschaft: Beide hatten ihren wahren Beruf verfehlt.

Als Krastinik gegangen, faßte Arthur Gutmann den Gesammteindruck der illüstren Versammlung zusammen, indem er nachdenklich murmelte: »Wo mag wohl der Grund stecken, daß der Graf diesen Leonhart so eifrig vertheidigt? Sollte Jener vielleicht grade einen lobenden Essay über Krastinik schreiben wollen?«

Ist doch der Begriff einer unbeeinflußten Kritik längst entschwunden. Man hat heut Kunstbutter, Kunstmilch, alles ist unecht, selbst das Genie wird man noch fälschen können.

III.

Leonhart sah wochenlang keinen Menschen und schloß sich in seine Kammer ein. Er zermarterte wieder sein Gehirn mit tausend Ueberflüssigkeiten, indem er nun dumpfem Groll an die Verräthereien dachte, welche all die Judasse um ihn her gewiß hinterm Rücken an ihm verübten. Mit düsterm Groll reckte er seinen Arm vor sie hin und schwor sich: »Wenn ich je falle (wer weiß, wo und wo sie mir doch noch ein Bein stellen), so reiße ihr euch alle mit in den Abgrund!«

Wieder sprach in ihm jene innere Stimme sein Gerechtigkeitsgefühls, das ihn stets schwächte, weil nur der Einseitige durch Selbstsucht stark wird: »Bist denn Denselber ohne Schuld?«

Aber da erhob sich eine andere Stimme in ihm, gewaltig wie die Wahrheit, und laut rief er es zum Himmel empor, daß die Wände seiner Stube dröhnten: »Ich bin nicht ohne Schuld, doch ihr seid schuldig. Schuld an aller Sünden wider den Heiligen Geist, – jener eine Sünde, die nimmer vergeben wird.«

Er wünschte blutige Thränen zu weinen, dieser angebliche Ewigkeitsmensch, immer und immer wieder durch Nichtiges abgelenkt und innerlich zerrieben. Viele Tropfe höhlen den Stein – der nie endende nagende Aerger unterhöhlte seine Geisteskraft. Facit indignatio versum – aber wenn die Indignation nie aufhört, so versiegen auch die Verse zuletzt.

Das ist ja eben das Erhebende bei der deutschen Geschäftslitteratur und -Kunst, daß man die durchgehende Gemeinheit der Welt dort concentrirt findet, gleichsam symbolisch. –

Leonhart's Gehirn fing an, durch sein zerrüttetes Nervensystem und seinen krankhaften Gemüthszustand geschwächt zu werden. Die unnatürliche Lebensweise der jungen Leute in Berlin, das nächtelange Umherschwärmen in den Kneipen und Nachtcafés, das sogenannte »Sumpfen« lähmt die frische Schwungkraft. Seit er ein ständiger Zuschauer bei dem Hypnotiseur Hansen geworden war, ging es vollends mit ihm bergab. Dieser benutzte ihn bei seinen Experimenten und die leichte Nervose Leonharts wurde hierdurch noch verschlimmert. Er bildete sich ein, magnetische Kräfte zu besitzen; er abonnirte sich auf die »Sphinx«, das Leiborgan der Spiritisten, und ließ sich von einer Collegin, die als begeisterte Prophetin des Spiritusmus galt, immer tiefer in dessen Geheimnisse einweihen. Ueberall sah er gewissermaßen Gespenster seiner Vergangenheit um sich her. In jeder Droschke, wo ein leidlich ähnliches Gesicht herausnickte, glaubte er eine verlassene Geliebte zu er kennen. In der Hasenhaide bummelnd, sah er einst vor der Bude »Des de Mona« (soll heißen: Desdemona) eine Gestalt mit einem Packet vor sich hergehn, die er zu erkennen glaubte. Er machte sich sofort auf die Beine und stiefelte ihr nach, trotzdem bei der großen Hitze ihm der Schweiß aus allen Poren rann. Als er sie erreichte, drehte sich die Unbekannte um – ein wildfremdes Gesicht starrte ihn an, so daß er, verlegen etwas vor sich hinstotternd, eiligst vorüberging. Er fing an, um Mitternacht hallucinative Gedichte zu entwerfen – vulkanische Ideen- und Gefühlsmassen machten sich Luft, um alsbald in kalter Lava zu erstarren Kein »Blümlein wunderhold« sproßte aus den Abgrundrissen seiner Träume empor – nur Erdpechflammen zuckten gespenstig auf. Sobald einmal ein Gehirn eine solche Richtung genommen hat, daß seine Begriffe alle transcendental werden, sobald also wirkliche Hallucinationen vorliegen, wirkt auch dies wie realistische Wahrheit. So ist Dante zu erklären. Das Menschengehirn hat keine Grenzen, mag also auch transcendental denken Maßstab für das Alles bleibt nur immer das Streben nach Wahrheit, welches innere Wahrhaftigkeit verbürgt selbst bei der tollsten Exaltation. – –

Eine gewisse auffallende Kleinlichkeit paart sich oft in einem groß veranlagten Gehirn mit den umfassendsten Ideen. Es ist charakteristisch, daß Goethe auf seinen Manuskripten keinen Klex dulden konnte. Napoleon's welterobernder Geist beschäftigte sich oft mit den kleinsten Nebendingen des ungeheuren von ihm geleiteten Räderwerks und fühlte sich gepeinigt durch die kleinsten Störungen desselben.

So giebt es Schriftsteller, die von ihren Druckfehlern selbst in der Erinnerung noch gefoltert werden. Nun ist ein Druckfehler ja ein häßlich Ding. Aber es steht fest daß man selbst die auffälligsten Druckfehler als bloßer Leser übersieht, weil man mehr erräth als liest. Auch bringt es die sonstige Gleichgültigkeit des Lesers mit sich, daß er einen Druckfehler nie tragisch und als Störung empfindet, während der Autor seinen reinlichen Stil unauslöschlich schimpfirt glaubt.

Der Corrector hat ein wichtiges Amt, dessen er sich kaum bewußt. Seine Nachlässigkeit kann einen Autor unglücklich machen. Was hilft's, wenn eine Autoren-Correctur mangelhaft ausgeführt, hinterher darüber zu jammern! Geschehn ist geschehn, und der Flecken bleibt für ewige Zeiten haften, über dem ein Autor verzweifelnd brüten mag, da ihn ein durch Corrector-Nachlässigkeit ruinirter Satz ewig wie ein Vorwurf drückt. Man pflegt zu trösten: Jeder sehe ja, daß dies ein Druckfehler sei! Welch' ein Irrthum! Das Publikum liest so blind und dumm, daß es dergleichen Fehler wirklich für baare Münze nimmt und sich den Kopf über den Sinn derselben zerbricht.

Dieses Kleben am Kleinlichen tritt als natürliche Reaction ein bei Größen, die sonst nur zu sehr ins Große und Weite schauen. So rächt sich die Alltäglichkeit des Außenlebens am Ungewöhnlichen.

Unter solcher Reaction litt eben Leonhart's Ueberarbeitung.

Immer aufs neue zogen ihn allerlei Erbärmlichkeiten ab. Seine ganze poetische Stimmung ging zum Teufel. Schadenfroh wußte man ihn überall bei fremden Fehden zu verwerthen. Vorsicht, Vorsicht mangelte ihm ewig. Stets ließ er sich zu tief in jede persönliche Zwistigkeit ein und die alberne Furcht vor der Verleumdung der Welt fraß sich immer tiefer. Doch hatte er so Unrecht? Kann nicht aus jeder Mücke ein Elephant werden, denn man aufbläht, um die Laufbahn eines genialen Menschen zu hemmen? Ein unbedacht entfallenes Wort wird zum Verbrechen. Man verliest einseitig Briefe und Urtheile über einen Abwesenden, der sich nicht wehren kann. Ewig verleitete ihn seine Gutmüthigkeit, für andre Leute zu eifrig Partei zu nehmen, als wäre dies seine eigene Sache. Er bedachte nicht, daß die Welt überhaupt nicht an selbstloses Wohlwollen glaubt und Allem unlautere Motive unterschiebt. Seine krankhaft argwöhnische Seele die ängstlich hinterm Rücken Ohren trug, um auf das Geflüster der Menschen zu horchen, setzte immer das Uebelste voraus. Dann aber wuchs auch andererseits sein kühner Muth und er sah Allem fest ins Auge. Was konnte man ihm anhaben, ihm, der über Alles erhaben.

Er fühlte sich rein, er durfte es, so weit er von Pharisäismus. entfernt und so oft er an seine Brust schlug: Gott sei mir Sünder gnädig! Denn Viele hielten ihn für edler als er war, Jeder beanspruchte Hülfe von ihm, und raisonnirte, wenn er sie nicht erhielt. Wer aber hatte ihm denn geholfen, wo sein Leben doch so viel wichtiger? Nichts komischer, als die überspannten Anforderungen an die Menschen höherer Art, da man doch die Herzensroheit der sonstigen Gesellschaft kennt. Den riesenhaften Egoismus eines Napoleon zugestanden stellt ein Vernünftiger stets die Frage, ob die Mehrzahl, der Menschen nicht in ihrer winzigen Weise genau den gleichen Grad von Egoismus verkörpere – ohne die Entschuldigung des Genies dafür beanspruchen zu können. Nichts aber bereitet dem kleinen Philistergeiste so innigen Genuß, als die Schwächen und Mängel der Größe zu erspähen. So wird denn ein unmöglicher Maßstab sittlicher Vollkommenheit angelegt. Man will nicht begreifen, daß auch der größte Mensch nur eben ein – Mensch bleibt und sich der Nothdurft menschlicher Schwäche nicht entziehen kann. Man fragt erstaunt, selbst wenn man vorurtheilslos den sonst edlen Grundstoff einer genialen Natur würdigt, wie es denn möglich, so viel Niedrigkeit mit so viel Größe zu vereinen. Und doch liegt es in der Artung der Ausnahmenaturen, daß sie alle menschlichen Seiten in sich vereinen. Selbstlose Begeisterung paart sich kalter Berechnung, ideale Reinheit schmutziger Sinnengier.

Verzweifelnd an seinem eingeschnürten Leben, suchte Leonhart seine einzige Rettung und Erhebung in der Betrachtung einer edleren Vorzeit. Aus der erstickenden Wirrniß der zwerghaften Kleinigkeitskrämer flüchtete er in den Verkehr mit Geistern vergangener Tage. Seine düstere mystische Gluth entflammte sich an der thatkräftigen Askese des Puritanismus. War nicht auch Cromwell erst in hohem Alter nach vergeudeter Jugend erweckt worden zum Dienste Gottes? »Hie Schwert des Herrn und Gideon! Der Herr hat sie in unsre Hände gegeben!« Der wilde Größenwahn des Puritanismus, der sich berufen fühlte alle Gewaltigen der Erde wie Stoppeln zu vertilgen mit der Schärfe des Schwertes, seiner Gottessendung bewußt, durchrann die Adern des skeptischen Berliners. Durch Cromwells Briefe und Reden geht ein Ton wie von klirrendem Stahl und Milton's Prosa-Polemik stampft wuchtig einher, wie ein Cromwellscher Kürassier im Büffelkoller. – Noch wirft der große Oliver seinen Schatten über das Inselreich, ob auch der Junkerei Hyänenzahn seinen Staub ausscharrte und in die Lüfte streute. Recht so. Die Luft trug ihn über Meer und Länder als befruchtenden Samen, bis die »Maiblume« der transatlantischen Republik emporwuchs. Stets aufersteht im Angelsachsenthum der alte Puritaner.

Sein Schlachtruf rauschte durch das Sternenbanner auf der Schanze von Bunkershill. Und ein Jahrhundert darauf, bei Appotomax Court Station, als vor den neuen »Rundköpfen« die neuen »Kavaliere« den Degen streckten – auch da ritt Cromwells Geist mit Bibel und Feldherrnstab die Reihen entlang. Und im heißen Sande des Sudan, als Gordon sich als Sühnopfer weihte für seines Volkes Sünden, da beugte sich Cromwells Schatten herab auf den letzten Puritaner.

Als der Freischärler sich in den Sattel schwang, zählte er 42 Jahre. Und binnen sieben Jahren erreichte er die höchste Feldherrnstufe, ohne je Soldat gewesen zu sein, so wie ja Friedrich der Große ursprünglich Abneigung gegen alles Soldatenthum empfand und doch blitzschnell die höchsten Höhen der Strategie erklomm. Die innere Untheilbarkeit der genialen Begabung bedarf ja keines Drills, da in jedem Helden ein Dichter, in jedem Dichter ein Held steckt ....

In wildem Grimm, seiner eigenen Ohnmacht bewußt, schleuderte er »Gebete eines Puritaners« aufs Papier:

In meiner Seele haust der Tod.

Jehovah, will dein streng Gebot,

Daß ich soll untergehen?

Der Feinde Schaar ist übergroß

Und ich bin arm und schwach und bloß.

Wie soll ich da bestehen?

In meiner Seele haust der Tod.

Ringsum die feige Meute droht.

Und du hast mich verlassen?

Ich schreie nach Gerechtigkeit.

So strafe der Philister Neid,

Die deinen Diener hassen!

Du bist es, der mich kämpfen heißt.

In deine Hände, heiliger Geist,

Befehl' ich meine Sache.

Die Dummheit und die Schurkerei

Erbebt vor meinem Todesschrei.

Donnre, du Gott der Rache!

Schlag mich ans Kreuz, verfluchte Rotte!

Begeifere, was die Größe that!

Doch glaubt dem unbekannten Gotte:

Euch allen die Vernichtung naht.

Ich werde schreckbar mich erheben

Und Euch zermalmen Stück für Stück,

Daß in erbleichendem Erbeben

Ihr schaudert in Euch selbst zurück.

Du über den Dingen schwebende Gotteskraft,

Aus irdischem Wehe schrei' ich empor zu Dir,

Der in ewig sonniger Klarheit

Thront und richtet!

Lockre des Lebens Bürde auf meinen Schultern,

Nimm die drückende Last von meiner Stirne

Der uralten ewig neuen

Martergedanken!

Nicht erhören sollst Du des Sünders Flehn,

Wenn ich die Sünde, die nimmer vergeben wird,

Wider den heiligen Geist die Sünde

Je ich verbrochen!

Wenn meines Hohns versengender Racheblitz,

Wenn meines Zornes Donner geschleudert je,

Ohne vollgerechte Vergeltung

Der Unbill zu üben!

Wenn dies Gezücht, das schmutzig erbärmliche,

Das mich umkreucht wie zischende Schlangenbrut,

Je gerecht an mir gehandelt

In prahlender Dummheit!

Wenn diese Welt in Waffen, die mich umtobt,

Wenn dieser falschen Freundlinge Selbstigkeit,

Wenn all die neidgeblähten Männlein

Nicht strotzen von Ohnmacht!

Wenn nicht gefrevelt diese verderbte Zeit

An Deinem Erwählten, heiliger strenger Gott,

Wenn nicht moschustriefende Zwerge

Den Riesen geblendet!

Jehova, räche mich! Schenk mir die alte Kraft,

Daß der Philister gleißendes Götzenhaus

Ich zerbreche, auf daß meine Seele,

Stirbt mit den Heiden!

Ja, Du erhörst mich, ja, Du erfüllst mein Flehn.

Ich allein gegen sie alle, Ich!

Denn Ein Gott nur lebt im Himmel.

Zittert, ihr Götzen!

Unbeschreiblicher Geisterduft spann sich um ihn her, lehrte ihn die lautlose Sprache einer anderen Welt. Sein Dasein gestaltete sich ihm zur bloßen Pantomime, welche das Wesen und das Wesenlose verquickte und in welcher die eigne Existenz zu einem Schattenspiel der Laterna Magica des Unendlichen ward.

Und doch untergrub diese Weltentrücktheit noch mehr sein Nervensystem. Oft hält man für Charakterschwäche, was Nervenschwäche sein mag. Der Magenkranke ißt am liebsten das Unverdaulichste, der Nervöse sucht ordentlich das ihm Schädliche. Denn eine verhängnißvolle Tendenz zum Unheil liegt in der Menschennatur.

Der Verfolgungswahn brach aus. Ueberall ahnte er Gefahren, sah überall Schurken, die seine Schritte belauerten. Zugleich brach dabei das kranke Gewissen durch. Denn wer nichts zu fürchten hat, der fürchtet auch nichts.

Jene unsagbare Angst, die ihn manchmal befiel, überkam ihn. Während er angesichts jeder Gefahr sich zu beherrschen wußte, auf hoher Plattform den Trieb sich hinabzustürzen bezwang, bewältigten ihn im Halbschlaf ähnliche Vorstellungen mit lebenswirklicher Todesangst. Er wand sich hin und her, von schrecklichen Träumen gequält. Und zugleich erfüllte ihn das Bewußtsein, daß seine eigene Unvorsichtigkeit diese grundlosen Befürchtungen heraufbeschwor. Als echter Phantasiemensch lebte er stets in der Minute und kannte da keine Vorsicht noch Rücksicht. In drei litterarische Prozesse zugleich war er als Zeuge verwickelt. In einem sollte eine Postkarte vorgelegt werden, welche Böswillige mißdeuten konnten. In dem andern hatte er nicht ganz correct gehandelt und in dem dritten erschien er theilweise selber schuldig. Seine Phantasie malte ihm nun unablässig das Schlimmste vor, was irgend eintreten möchte! Die Verleumdung der Welt konnte sich an jede Kleinigkeit heften und die Dinge ausspinnen! In dem allen aber mahnte doch das heimliche Bewußtsein, daß man insofern etwas Richtiges rathen könne, als er, wie jeder Mensch, so manchen Punkt in seinem Leben wußte, der keineswegs dem idealen Bilde entsprach, das seine Verehrer von ihm entwarfen. Oft war er kleinlich und selbstsüchtig, oft lächerlich gewesen (bekanntlich fürchtet der Mensch noch mehr lächerlich, als gemein, zu erscheinen). Und schon dies quälte sein überzartes Gewissen, wie Andere ein wirkliches Vergehen.

Mitten in diesem Zustand eines kindischen »Angstgefühls«, dem Psychiater als Anzeichen einer schweren Nervenkrankheit wohlbekannt, producirte er aber unaufhörlich mit überreizter Fruchtbarkeit.

Leonhart schien wirklich ein Genie-Ungeheuer. Was er wollte, konnte er. Er schleuderte seine Genialitäten aufs Papier, willenlos. Zugleich stieg seine Macht, ohne daß er es wollte. Sein Willenszentrum schien so überwältigend, daß es gleichsam magnetisch ausstrahlte, und andere, ohne es zu ahnen, in seine Bahn gezwungen wurden.

Das Innere des Genies scheint ein Krater, der fortwährend explodirt und innere Umwälzungen mitmacht. In Folge dessen fühlt sich die Außenwelt dadurch beunruhigt und bedroht. Nun sind aber die Flammenausbrüche des Genies nicht nur verheerend, sondern auch fruchtbar machend wie Nilüberschwemmungen. Erst wenn der Krater schweigt, sieht man, daß Paradiese aus der Erde schossen. – –

Kürzlich war er einem früheren Liebchen begegnet, die als Gesellschafterin einer alten Dame in demselben Hause wie er gewohnt hatte. Er war von dort verzogen. Der Zufall wollte es, daß er eines Tages am Schöneberger Ufer auf sie stieß. In dem Entzücken des Wiedersehens benahm sie sich so anstößig liebevoll, als gebe es er keine Menschen auf der Straße, so daß er, halb gekehrt, halb um unangenehme Ueberraschung zu vermeiden, ihr vorschlug, sie zu Hause zu besuchen. Ihre Dame war zufällig auf eine Woche verreist und sie sollte das Haus hüten. Aber würde der Portier nicht merken – wenn, sie in ihrer Leidenschaft redete ihm das aus. Wirklich kamen sie auch unangefochten in ihre Parterrewohnung, wo sie, kaum angelangt, in einem Liebesparoxysmus über ihn herfiel, daß ihm der Hut vom Kopfe flog. Wer kann dem Wirbelwind widerstehn, wenn ein Weib seinen Willen haben will! Sie habe in letzter Zeit den »Faust« gelesen und sich an Gretchens Stelle versetzt. Und Die könne sie nicht beklagen, sondern nur beneiden. Sie habe Den genossen, den sie liebte. Was hätten denn Andre vom Leben! Jeden Abend einsam am Fenster sitzen und an den Einen denken! Sie solle sich einen Bräutigam, der's ehrlich meine, anschaffen? Ja, wo fände sich der! Und wenn auch, sie mache sich doch nun mal aus allen Männern nichts, außer Einem. Und die Männer seien alle schlecht, die Weiber freilich auch. Aber er, er allein sei gut. Ja doch, wenn er auch nichts davon hören wolle. Man brauche nur in seine Augen zu sehn, dann sehe man, er sei doch ein guter guter Mensch, wenn auch manchmal etwas unwirsch und heftig.

Dann kamen die Geschichten von all den Nachstellungen, denen sie ausgesetzt, da sie ja auffallend hübsch. Dann wieder ein Strom von Zärtlichkeiten. Mitleid und Leidenschaft zugleich ergriffen ihn, als sie so anbetend vor seinem »Genie« (sie sprach es wie »Jenny« aus) auf den Knieen lag, obschon sie im Grunde nur mit »Mein Fritz, mein Fritz« ihr Eigenthumsrecht auf ihn betonte. Das Sopha war weich. Draußen auf dem Hofe spielte ein Leierkasten – –

Heftiges Klingeln weckte sie auf. Als sie mit noch ziemlich verwirrten Kleidern zur Thür eilte, ergab es sich, daß der Portier Unrath witterte und es für strafbar erklärte, fremde Herrn in die Wohnung zu bringen; dazu sei sie nicht von ihrer Gebieterin zurückgelassen. »Das ist ja nur mein Bruder!« versicherte sie. Nach einigem Parlamentiren gab sich der Mann mit dieser berühmten Ausrede zufrieden und verschwand brummend vom Schauplatz seiner Pflichterfüllung, da die Bediensteten und Portiersleute meist zueinanderhalten. »Ach, ich habe ja Ausrede gemacht!« wiederholte sie mehrmals, als er sich hastig zum Aufbruch fertig machte. Er aber wollte durchaus nicht bleiben, durchaus nicht. Ein widerlicher Schrecken befiel ihn. Wenn man ihn nun hier überraschte – es hing ja nur an einem Haar –, welch ein Skandal! Und der Ruf des unglücklichen Mädchens für immer ruinirt. Wenn das Weib auch rücksichtslos und schrankenlos sich hingiebt, nur den einen Zweck im Auge, so sollte doch der Mann um so mehr sich zu beherrschen wissen. Und ach, er liebte sie ja nicht!

Lüderlichkeit scheint das einzige Mittel, um sich über die Qualen der Liebe wegzusetzen. Die Sinnlichkeit birgt das Lebensproblem. Nur wer sie überwand, ist glücklich. Traurig genug, daß sich mit Genialität fast immer eine abnorme Sinnlichkeit paart. Und was sucht Sinnenlust anders als Liebe? Und scheint nicht Liebe nur ein ewiges Suchen und nicht Finden? Ueberall in jeder Verbindung steckt irgendwas, was vom weltlichen oder vom seelischen Standpunkt aus nicht befriedigt. –

Den Tod im Herzen, riß er sich los, während sie, wie eine Klette an ihm hängend, bis vors Haus (es dämmerte, ein Sonntag-Abend) ihn hinausgeleitete. Wenn nun aus dieser Ueberrumpelung eines Augenblicks endlose Folgen entstanden, was dann? Schon brach bei ihr der naive Größenwahn aus, der in jedem Weibe schlummert. Wie die Dienstmädchen heut als Damen sich kleiden und das Theuerste grade gut genug finden, so stellt sich auch jedes Weib, ob hoch ob niedrig, auch sofort ihrem Liebhaber gleich, sobald dieser einmal mit ihr demselben Naturtrieb gefröhnt. Die Maitressen der Fürsten sehen nur einen Mann, der nebenbei auch Fürst heißt und dessen geheimsten Schwächen sie kennen.

So behandelte auch dies Mädchen im Triumph eines erlangten Liebeswunsches den Gegenstand desselben schon ganz als ihr zugehörig. Natürlich mußten sie sich morgen gleich wieder treffen, und als er Ausflüchte fand, schalt sie ihn mit zärtlicher Zudringlichkeit.

Auch das noch! Als ein recht trister Würdegreis wankte das Opfer einer erzwungenen Liebe heim und fluchte seiner Schwäche. Und war er etwa schuldlos? Hatte er früher nicht selbst mit dem Mädel angebändelt und ihr nachgestellt? War sie nicht blos ihm allein als Beute zugefallen mit der ehrlichen Zuneigung eines naiven Gemüths? Vor dem Tribunal einer höheren Sittlichkeit blieb er ein Schurke, wenn er das Mädchen nun einfach abschüttelte. Abgesehn davon, was noch leider daraus kommen und was ja Niemand berechnen konnte.

Dazu führen stets diese kleinen Unregelmäßigkeiten, welche die meisten Männer auf die leichte Achsel zu nehmen pflegen. Niedrig plebejische »Verhältnisse«, eigentlich doch komischer Art. Allein, was blieb denn ihm anders übrig, einem jungen Mann und armen Teufel? »Verhältnisse« in der »guten« Gesellschaft kommen viel seltener vor, als das thörichte Gerede annimmt. Und zum Heirathen gehören drei Dinge: Erstens Geld, zweitens Geld und drittens nochmals Geld. Und das besitzt man heut genügend erst, wenn die Zähne schon wacklig werden.

So wie er litten die Meisten. Und wer nicht mal mit solchen »Verhältnissen« beglückt, bleibt auf die Kellnerin und die Straßendirne angewiesen, auf die käuflichen Silberlinge und auf die Charité.

Nach der Dresdener Straße zu seiner Tante Meyer war er seit jenem Abend mit Schmoller nicht mehr hinausgepilgert. Als er sie neulich auf der Straße traf, hatte sie häßlich aufgelacht und ihm den Rücken gekehrt.

Er war wie vom Donner gerührt. Eine unabsehbare Perspektive möglicher Unannehmlichkeiten eröffnete sich vor ihm. Er erkannte, wie Schmoller's böse Zunge jenen Abend ausnützen konnte, welchen Grund zum Klatsch er den lieben Herren Collegen geben würde, in welche seltsame Zwangslage er unter Umständen gerathe. Nachdem nämlich sein Incognito gebrochen und sein dortiges Verkehren festgestellt, mußte die semitische Helena auch bald dahinter kommen, daß er sie in seinem naturalistischen Venuslied »Isauscha« abconterfeit.

Sein Nervensystem zitterte in allen Fugen, Ekel und Gram quollen ihm zum Magen auf, so daß er eine Art Angst-Cholerine bekam. Schlaflos wälzte er sich hin und her, Nacht für Nacht.. Was würde sie thun? Er erwartete bestimmt, daß sie ihm schreiben werde. Nichts.. Sie hatten ja freilich einander nichts vorzuwerfen. Allein ein Weib denkt über so etwas ganz anders.

Gräßliche Träume plagten ihn, die einen seltsamen erotischen Schrecken verriethen, der seinem Zustand entsprach.

Er sah sich als Zwangsgeliebter der Semiramis, den sie in rasender Tobsucht mänadisch erdrosselt und zerreißt. Und dabei spürte er sich widerstandsunfähig und empfand eine gewisse tödtliche Wollust bei diesem entehrenden Liebestod. War's auch nur ein Traum, aus dem er schweißgebadet erwachte, so lag doch eine düstre Beichte darin, die er sich wachend kaum zu bekennen wagte.

Liebte er jenes Weib? Nein. Er liebte überhaupt nichts. Er suchte nur vergeblich nach einem würdigen Objekt seiner verhaltenen Sinnengier.

Die entsetzliche Liebeskrankheit befiel ihn wieder und nagte an seinen Eingeweiden. Was hilfts dagegen anzukämpfen! Die erotische Leidenschaft herrscht als stärkste von allen, und hat sie sich auf einen einzigen Gegenstand concentrirt, so bricht sie ewig wieder nach derselben Richtung hin hervor. Welch ein Gefühl, mit einem Geheimniß solcher Art umherwandeln zu müssen! Ein Gefühl, das man wie eine Selbstentehrung verbirgt und wie einen Makel empfindet. Ewig sah er sie vor sich. Vergaß sie ihn wirklich? Was war geschehen? Hatte sie ihm nicht unzähligemal geschworen, daß sie ihn wahnsinnig liebe »ihn nur allein« und nur sein mephistophelisches Hohnlächeln fürchte? »Ich sage Dir alles, alles, und glaube Dir alles, und Du sagst mir nichts, gar nichts.« Nun wußte sie ja – – Ein niedlicher Tasso mit solch einer Leonore! Und doch!

Schon in der antiken Entfesselung aller Genußsuchtinstinkte erklärten Lukrez und andere Jünger des Epikur Entäußerung von allen Leidenschaften für das wahre Glück des Menschen. Scheint dies nicht vielmehr Temperamentssache? Bietet nicht die Leidenschaft der Liebe eine stärkere Erfüllung jener inneren Sehnsucht, welcher kein Mensch sich entschlagen kann, als die olympische Ruhe des Denkers oder des Christen?

Und andrerseits, man betrachte das Leben eines Mannes der That, der aus eigener Kraft die höchsten Ziele des Ehrgeizes erklomm, welch ein unermeßlich unglückliches Leben! Wieviel süßer eine Stunde am warmen Busen des geliebten Weibes, als alle Stunden »krönender Gnade«, höchsten Triumphes! Und dort kommt wenigstens die Nervenreizung durch schmetternde Trompeten, Rosseschnauben, wehende Standarten, Blut und Pulverdampf hinzu. Hingegen die Befriedigung des geistigen Arbeiters, etwa durch das schale Lob auf bedrucktem Papier, wie werthlos wäre sie, wenn nicht die Arbeit selbst ihm Nervenreizung gewährte!

Die Sinne wollen gesättigt sein, koste es was wolle. Wozu das Belasten mit allem möglichen Wissen! Was frommt es, sich mit den Begebenheiten der Vergangenheit vertraut zu machen! Wieviel glücklicher der Handwerker in seinen vier Pfählen bei Weib und Kind, dessen Gedanken nicht über sein Tagewerk hinausgehn! Traurige Ehre, ein »Erwählter des Herrn« zu sein! Sei lieber der Erwählte eines Weibes, das dein Gemüth und deine Sinne befriedigt! Die geschlechtliche Liebe ist die einzige Poesie des Glücks, die einzige Leidenschaft, die kein wesenloses Ziel erheischt. Halb Empfindsamkeit, halb Schmutzerei. Man sollte für jede Hälfte zugleich ein verschiedenes Liebesobjekt wählen. Natur verlangt's .....

Als er nach längerer Pause, dämonischem Zwange folgend, seine alte Flamme aufsuchte, fand er sogleich die Lösung des Räthsels, nämlich die Schöne Helena scharmuzirt von dem schönen Erich v. Lämmerschreyer. Dieser glatte schleimige Bursch hatte eiligst, sobald ihm Schmoller davon klatschte, seinen Finger in die erotischen Wundenmale seines früheren Gönners gelegt und denselben gar leicht in der Gunst dieser ehrgierigen Donna Laura verdrängt, die sich durchaus vom Schicksal erkoren fühlte als morganatisches Ideal eines lorbeergekrönten Petrarka zu dienen!

Da wäre sie bald schön hereingefallen mit ihrem »festen Verhältniß«. Sie mochte ihn ja sehr gern – that er doch immer, wer weiß wie, als ob er mindestens der Großtürke wäre, dieser überspannte Exaltado – nein, dieser pauvre bürgerliche Leonhart, über dessen Schimpfmaul die allwissende »Berliner Tagesstimme« stets so witzig herfiel, konnte ihrem hohen Streben nicht genügen – lang für den erhabenen Herrn von Alvers gehalten! Hingegen, Herr von Lämmerschreyer, Redakteur der »Berliner Tagesstimme« – wie anders wirkte dies Zeichen auf sie ein!

Ja, der ideale Jüngling war wirklich zu der weltbeherrschenden »Berliner Tagesstimme« durch Schlangenwindungen ankriechender Streberei emporgeglitten. Auch sein Freund Rafael Haubitz tauchte zugleich als Theaterkritiker einer größeren Zeitung auf, so daß nun das Jüngste Deutschland alle Segel seines idealen Schwunges zur Reinigung der Litteratur einsetzen konnte. Betrachtete doch Haubitz die gesammte Theaterwelt als eine Mistjauche, die im weitesten Umfange ausgepumpt werden müsse!

Lämmerschreyer aber erstand dem deutschen Volke als geschätzter Kunstkritiker. Wie er das wurde, o es geschehn noch Zeichen und Wunder! Nach seiner eignen Erzählung (er übte sich manchmal in einer wohlfeilen Selbstpersiflage) verhielt sich die Sache so: – – –

»Sie wollen bei uns eintreten?« schnob ihn der Chef des großen Blattes imperatorisch an. »Was können Sie? Womit empfehlen Sie sich?«

»Mein Styl –« begann Jener zaghaft. »Ich schreibe –«

»Ach was! Bei uns wird überhaupt nicht geschrieben – da wird nur geschnitten und geschmiert – geschnitten mit der Scheere, geschmiert mit dem Kleistertopf. Ich frage nach Ihren journalistischen Fähigkeiten. Können Sie machen Skandalnotizen?«

»Ich weiß nicht, ob – wenn Stoff und Grund –«

»Aha, ein Anfänger! Stoff und Grund braucht nicht da zu sein – man findet ihn. Ich frage, können Sie verdächtigen, wie? Können Sie verleumden?«

»Ich glaube, daß in einer guten Schule –«

»Daran wird's Ihnen bei uns nicht fehlen. Doch ich sehe, Sie sind noch grün. Man kann Ihnen den politischen und lokalen Theil nicht anvertrauen. Wie wär's denn mit der Kunst-Kritik, was?«

»Ich verstehe leider nichts davon.«

»Sancta simplicitas! Sie sollen aber verstehn! Hier – da! Da ist der Katalog der Kunstausstellung. Schreiben Sie mir ein Feuilleton. Was roth angestrichen ist, wird gelobt. Was gelb angestrichen ist, wird gerissen.«

»Ich werde mich sofort an Ort und Stelle begeben.«

»Gut, tummeln Sie sich. Ich gebe Ihnen eine Stunde zum Besuch der Ausstellung und zwei zur Niederschrift des Artikels. Hoffentlich haben Sie keinen sogenannten ernsten Geschmack?«

»Nein, ich habe gar keinen.«

»Desto besser! So haben Sie doch etwas, was zu einem Journalisten gehört. Vorwärts! An's Werk!«

Der Neuling fuhr per Pferdebahn zur Ausstellung und sah sich die Sachen flüchtig an; dann ging's an's Schreiben à fünf Reichspfennige per Zeile. Zwei Stunden später hatte der Chef das Manuskript in Händen. Bei der Lectüre desselben entglättete sich seine Stirn und er war zufrieden.

»Nussikow's Portraits zeichnen sich wieder durch jene markige kecke Pinselführung aus, welche die überwundenen Standpunkte der alten Schule beschämt. Seine breite massige Farbengebung, sein schönes rothes und gelbes Colorit, seine feinen Pinselstriche, seine unvergleichliche Wiedergabe der Spitzenmantillen, seine wunderbare Kraft in Darstellung des Ewig-Weiblichen und Ewig-Nackten seine saftige Frische – alles athmet die Gesundheit des modernen Realismus.

Adolf v. Werther's herrliches Bild zeigt diesen größten deutschen Meister auf der vollen Höhe seiner gigantischen Genialität, welche zugleich die Phantasie eines Cornelius mit dem Realismus eines Hogarth vereinigt Da ist Nichts von den althergebrachten Formeln eines abgestandenen Idealismus. Alles so natürlich, so naturwahr, so phothographisch genau bis auf die Uniformknöpfe, daß man wirklich vor einer kolorirten Photographie zu stehen glaubt. Und Dies ist ja das einzig Wahre. Nirgend eine Spur von sogenannter Poesie, nirgend jene akademische Composition, wie die Leute der guten alten Zeit sie anzuwenden pflegten. Alles ist da nüchtern, man möchte beinah sagen steif – aber hierin eben bewundern wir die treue Wahrheitsliebe, die tiefe Auffassung dieses Koryphäen. Die größten Bildflächen werden hier mit einer Schnelligkeit kolorirt, welche staunenswerth erscheint. Wie in einer Fabrik wird die Kunst größten Styles en gros betrieben. Wir glauben nicht fehlzugehn, wenn wir den Meister gleichsam als einen in's Große übersetzten Signor Carlo – jenen berühmten Musikmaler des ›Walhalla-Theaters‹ –, als einen wahren Maler der Zukunft bezeichnen, in welchem das Vorbild Amerikas auch auf künstlerische Sphären zurückwirkt.

Erhaben und unvergleich groß zeigt sich wieder wie gewöhnlich der größte Maler der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Adam Brenzel, dessen urwüchsige Titanenkraft den falschen Idealismus und Schönheitscultus mit der Keule des Naturalismus zu Boden schlug und den tiefsinnigen Ausspruch Macbeths: ›Schön ist häßlich, häßlich schön‹, mit so erfolgreichem und umfassendem Verständniß in die Wirklichkeit übertrug. Sein neuestes, kaum eine Hand breit großes Meisterwerk ›Schmutzige Kinder im Bade‹ ist von einer liebevollen Versenkung in die intimsten Details, für welche jegliches Lob zu groß. Wie das eine Kind sich das Näschen schneuzt, wie das andere die Zunge herausstreckt, wie das dritte das Hemdchen aufhebt – das ist alles von einer wunderbaren Schönheit, von zauberhafter Lieblichkeit und Süße der Empfindung. Und wie der kleine Schmutzfleck in dem besagten Hemdchen gemalt ist – es ist wonnig. Auch mache ich den Beschauer noch auf das entzückende Kerlchen im Hintergrunde aufmerksam, das dort seitwärts in den Gebüschen sich dem Naturgenusse hinzugeben scheint. Das heißt die Natur gleichsam, wie Aktäon die Diana im Bade, in ihrer vollen Blöße belauschen. Getrost und unbefangen schreiben wir es nieder: Dieses kaum eine Handfläche breite Bildwerk des Altmeisters wiegt ganze Galerien Rafaels auf.

Allen deutschen Frauen und Jungfrauen sei auch die neue Schöpfung Tischenborn's innig empfohlen ›Helena und Cassandra an der Thränenweide‹, welche in ihrem glatten, gleichsam gefirnißten Pinselstrich den gewiegten Meister erkennen läßt. Besonders vorzüglich sind die Aschenkrüglein und die hellen Perlenzähren gemalt, welche, den schönen Augen entquellend, sicher das tiefe Mitgefühl unserer geneigten schönen Leserinnen erwecken.«

»Junger Mann,« sagte der Chef, welcher während der ganzen Zeit in heiligem Kampfzorn die Scheere geschwungen und einen wahren Ballen von kaltem Ausschnitt auf dem Redaktionstisch angehäuft hatte, »Sie gefallen mir. Sie verrathen Spuren eines spekulativen Kopfes. Sie haben meine Intentionen in diesem Artikel nicht übel ausgedrückt. Natürlich, hätte ich das Feuilleton geschrieben – doch dazu habe ich ja gar keine Zeit Die Politik reibt all meine Kräfte auf. Lesen Sie meine ›politische Rundschau‹ jede Woche – daran werden Sie erkennen, was Styl ist. Ihre Sätze sind noch ungelenk. Das ist der Tod für ein Journal. Schreiben Sie ganz knapp und kurz – recht viele Punkte. Doch Sie sind noch jung. Ich als älterer gereifter Journalist belehre Sie. Sogar Ich habe so angefangen. Da, recensiren Sie mal gleich dieses Buch!«

»Ich bitte um Entschuldigung, ich habe seinen Inhalt leider noch nicht kennen gelernt.«

»Unglücklicher, genügt es nicht, wenn ich Ihnen sage, daß dies Buch von einem unserer Gegner herrührt? Vorwärts an's Werk!«

Lämmerschreyer blätterte fünf Minuten in dem Buche und schrieb:

»Dunkle Verhängnisse von Fritz Leonhart. – Ein ungesunder Zolaismus durchweht dieses Machwerk. Es erweckt einen widrigen Eindruck. Die Charaktere sind verschroben. Die Handlung dürftig. Der Styl läßt Alles zu wünschen übrig.« –

»Zum Teufel!« schrie der Chef wüthend, »Sie verstehn ja gar nichts. Zolaismus?! Das ist ja eine Reklame-Recension. Haben Sie noch nie vom ›vernichtenden Lobe‹ gehört? Das wenden Sie hier an – ich mache Ihre Anstellung davon abhängig.«

Jener zerbrach sich mehrmals den Kopf, blätterte nochmals in dem Buche und schrieb gelassen die großen Worte:

»Ein hübsches Büchlein. Eine gewisse, deutlich die Jugend des Verfassers verrathende, rührende Naivetät fordert eine strenge und gerechte Kritik zur Schonung auf. Diese Schilderungen des Berliner Lebens entbehren nicht der Frische. Häufig schlägt Verfasser einen kecken Ton an, wird aber dann leider herzlich langweilig. Doch sind in diesem ansprechenden Versuch immerhin das redliche Streben und der Jugendmuth dieses arbeitssamen und fast wie Calderon und Lope (man kennt Platen's Distichon) fruchtbaren Schriftstellers anzuerkennen. Wird Leonhart erst gründlicher das Leben kennen lernen, so werden auch seine Charaktere jene Unreife jugendlicher Anschauung verlieren, die in jeder neu auftauchenden Romanfigur einen Karl oder Franz Moor zu sehen glaubt. Vielleicht gewinnt die jetzt recht alltägliche, magre und schattenhafte Fabel dann auch an Spannung. Die Sprache verräth oft Nachlässigkeit und die mangelhafte Schulung des Autors. So heißt es – wir könnten zahllose andre Beispiele anführen – z.B.: ›Edgar saß ruhig auf dem Felsen und starrte in die blaue Unendlichkeit (!).‹ Möge es uns der Autor nicht verübeln: Herr Edgar gleicht wirklich dem berühmten Greis, welcher auf dem Dache saß und sich nicht zu helfen wußte. Haben Sie schon mal eine ›blaue Unendlichkeit‹ gesehn? Ich nicht. Auch finden sich zahlreiche Anklänge an ältere Meister. Z.B.S. 163: ›Gehorsam ist die Pflicht eines Christen,‹ grobes Plagiat aus Schiller's ›Kampf mit dem Drachen‹, u.s.w. Kurz, trotz unserer redlichen Bemühung, dem strebsamen Autor gerecht zu werden, und obwohl wir nicht daran verzweifeln wollen, daß dieser später einmal etwas Ordentliches zu leisten fähig sein werde –, müssen wir dies Büchlein doch im Ganzen als ›kaum eben genügend‹ bezeichnen.« – –

Der Chef las – »Sie sind zum Feuilleton-Redakteur ernannt!« rief er aus. »Das Buch liest Keiner von unsern Abonnenten. Haha, neulich hat Leonhart mich nicht auf der Straße gegrüßt – na!« Er rieb sich mit dem wohlthuenden Bewußtsein einer guten That die fettigen Hände.

Jetzt war Lämmerschreyer schon einen vollen Monat Feuilleton-Redakteur und fühlte sich als sechste Großmacht. Während dieser ganzen Zeit hat der Chef immer nur für kalten Ausschnitt gesorgt und jede Erhitzung des Kopfes mit eigenem Federansetzen verschmäht. In der ersten Zeit schrieb der Neuling noch viel – das ist so eine Art Rekrutenfieber, »l'enthousiasme du départ« nennen es die Franzosen. Später entwickelten sich seine journalistischen Fähigkeiten jedoch bedeutend und jetzt maß er sich selbst mit den gewiegtesten Meistern der Scheere und des Kleistertopfs. Auch als Kritiker druckte er gewöhnlich die eingesandten Schemas der Verleger ab oder forderte die Autoren auf, wenn sie ihm bekannt, selbst über sich zu recensiren. So hält man sich die Mühen vom Halse.

Nur über's Theater schrieb er gern selbst. Es giebt da so hübsche Schauspielerinnen und was thut die Kunst nicht für den Ruhm! War er doch der Gewaltige, der selig machen und verdammen kann – war er doch der Spender des Ruhmes, der Feuilletonredakteur eines täglich erscheinenden Blattes!

Manchmal stiegen auch verhungernde Poeten an, die ihre selbstgeschriebenen Opera empfahlen. Nun, da mußte man den Chef sehn, wie er Jedem rieth, seinen Styl nach Ihm zu bilden!! In der That geht die dunkle Sage, daß der Chef neulich einmal sechs Zeilen zu zwanzig Zeilen Ausschnitt hinzugeschrieben haben soll.

Auch Kasimir Pakosch erschien vor seiner neuen Première und ließ aus Versehn in der Nähe des dickbauchigen Kleistertopfs einen knittrigen Brief liegen, in welchen sich eine Banknote verirrt hatte. Doch rief ihn Lämmerschreyer ernsthaft zurück und machte ihn als ehrlicher Finder aufmerksam. Pakosch erröthete. Hatte er sich doch in der Adresse geirrt, da er von hier aus zu Rafael Haubitz wallfahrten wollte. Dafür versicherte er Lämmerschreyer mit verschwimmenden treuen wasserblauen Germanenaugen: »Ja, nur zu Ihnen komme ich, mein verehrter Herr, nur zu Ihnen. Wie würde ich sonst –! Aber die Reife Ihres Urtheils –! Ach, wie wenig liegt mir sonst am äußeren Erfolg, der so leicht in Scherben fällt! Ich bin ein müder Mann, lieber Freund. Nur der Glaube an das ewig Schöne, diesen heiligen Sebastian mit dem Pfeil in purpurner Wunde – nur er hält mich noch aufrecht als Stab meines müden Lebens!«

Ein andermal erzitterte sogar die Redaktionsstube unter dem klobigen Dichterschritt des Herrn von Alvers. Puterroth vor edlem Zorn über den mangelnden Schutz seiner künstlerischen Persönlichkeit, biederte er mächtig darauf los. Sein breiter urgesunder Brustkasten bildete gleichsam den dröhnenden Resonnanzboden seiner sittlichen Ueberzeugung, daß Er als der Erkorene allein den Weg zum Herzen seines Volkes gefunden habe. Um dies Bewußtsein ja nicht einschlafen zu lassen, erließ er von Zeit zu Zeit dröhnende Ukase, worin er Gott und den Menschen sein Leid klagte, er werde lange noch nicht genug bewundert.

»Ja,« rief er mit edlem Freimuth, indem seine große Pickelwarze vor Begeisterung ordentlich karfunkelte, »ja, Herr von Lämmerschreyer, schon als mein Standesgenosse, als Royalist, sind Sie verpflichtet, für mich zu wirken. Ich bin das patriotische Element der deutschen Dichtung. Ich wirke auf mein Volk, ich liebe mein Volk und mein Volk liebt mich. Sehn Sie, für mich besteht heutzutage die ganze Bedeutung eines Dichters in seiner praktischen Einwirkung auf sein Publikum. Hundert Aufführungen hintereinander im ›Neustädtischen Volkstheater‹ – he, was soll's? Laß doch dumme Neidlinge wie Leonhart faseln, Ich sei bloß Theatraliker – ihre respeklosen Ausfälle werden Mir keinen Mann meines Publikums rauben. Mein Volk steht zu Mir, seinem erwählten Dichter.« Er malte jetzt in wenigen Strichen, die den Meister nicht verleugneten, sein neuestes Opus »Gorm der Alte« dem andächtig Lauschenden vor. Gorm der Junge heirathet darin, nachdem er zwei Bräute erdolcht, seine Tante. »Also Sie bringen wohl darüber eine ganz kleine Notiz, etwa dreißig Zeilen oder so, nicht wahr? Ich verlasse mich darauf. Adieu, mein lieber Herr von Lämmerschreyer, adieu. Sie sind ein verehrtes Mitglied jener patriotisch-royalistischen Jugend, die ich begrüße.« Damit schüttelte er dem jugendlichen Redakteur biderb die Hand aus dem Gelenk, indem er jedoch zugleich den Oberkörper würde-kollernd drei Schritt vom Leibe zurückwarf – und stürmte weiter, um seine durchsichtigen Reklamezwecke mit Wasser zu kochen. Wer wollte ihm das verübeln!

Gewiß nicht der Onkel des jungen Lämmerschreyer's, der große Malermeister Adolf von Werther, der seinen Neffen mit manch gutem Rathschlag empfing, als Dieser ihm seine Aufwartung machte.

»Jaja, mein Lieber, mit die Kunst is das Allens ja janz nett, aber so'n bisken Mumpitz muß mit dabei sein. So sage ick immer zu meine Schüler auf die Akademie: Kinder, lernt auf die Guitarre (sprich ›Juhitarre‹) spielen! Damit habe ick viel gemacht. Ein gutes Bild malen is ja janz nett, aber das Bild doch verkoofen – des is noch besser. Und das jeht nur mit Mumpitz, nie ohne dieses! Carrière machen – darin liegt die wahre Musike. Nich wer am besten malt, jewinnt – sondern wer am besten schwatzen und kneipen thut.«

Lämmerschreyer beeilte sich zu versichern, daß er Violoncell spiele.

»Siehst de wie de bist! Violoncell is jut. Damit kannst Du den Damens imponiren un des is die Hauptsache. Komm Du nur mang meine jroßen Abfütterungsjesellschaften – da wirst Du Dein blaues Wunder erleben. Mach' Du man zuerst eine reiche Parthie – das Uebrige findet sich.«

Und es fand sich ja bald. Kaum angelangt und schon einflußreiche Autorität, Feuilletonredakteur der »Berliner Tagesstimme« – man sieht, das wahre Talent bricht sich doch immer Bahn.

Die Hauptsache bleibt immer, daß man von Adel sei. Denn in China, dem Reich der Mitte, wo das Pulver und die Buchdruckerkunst erfunden, gelten nur die Mandarinen vom blauen Knopfe etwas.

Als Lämmerschreyer im »Café Liedrian« an jenem Abend seinen früheren Protektor mit ausgesuchter Höflichkeit begrüßte, stürzte dieser eiligst ein Glas Cognac hinunter und empfahl sich, vom Gekicher Frau Meyer's begleitet. –

Er hatte zu drei Krügen Bier eine große Portion Sülze gegessen. Dies, verbunden mit der Kälte und dem Ostwind der Nacht, wirkte offenbar auf seine Eingeweide. Denn er erwachte mit einem so brennenden Durst, daß er mit nackten Füßen aus dem Bette sprang und die Wasserkaraffe auf dem Toilettetisch halb ausschlürfte. Auch dies sänftigte jedoch nicht die Unordnung seiner Nerven. Denn er wurde von den peinlichsten Träumen heimgesucht. Am vorigen Abend war er in dem Moment auf einen Pferdebahnwagen gesprungen, von links statt von rechts, wo ein andrer im vollen Lauf vorüberschoß. Dabei wäre er fast ausgeglitten. Er malte sich nun in der schweigenden Nacht, während der Sturm um die Dächer pfiff, lebendig aus, wie er so leicht unter die Räder und Pferdehufen hätte gerathen können – ebenso wie er oft an der krankhaften Vorstellung litt, er werfe sich in seiner Nervenzerrüttung in unwillkürlichem Wahnsinn vor einen heranrasenden Courirzug. Nun schwebte ihm wiederum der Traumwahn vor, er setze sich, wie dies Kinder so oft thun, aufs Fensterbrett, schaue vier Stockwerk tief herunter, verliere das Gleichgewicht und stürze hinab.

Es liegt etwas allgemein Menschliches, etwas Weltwahres in solchen Nerven-Hallucinationen. Deutlich prägt sich darin die Angst vor jähem Unglück aus, das verzweiflungsvolle Bewußtsein von der ewigen Nähe des Todes. Und doch würde derselbe Mensch auf dem Schlachtfeld furchtlos den Kugeln trotzen.

IV.

Am andern Morgen erhielt er einen wenig willkommenen Besuch. Verschiedene Male hatte er sich verleugnen lassen – diesmal ging's nicht mehr an. Eine seiner zudringlichen »Verehrerinnen« (aus der Ferne) lief ihm die Bude ein. Fräulein Aurelie v. Fellmarch (»Baroneß« ließ sie sich betiteln, aus eigener Machtvollkommenheit), die wabernde Brunhild-Sängerin versicherte ihm in hundert Briefen und auf einem Dutzend Photographien, er sei der männlichste Mann und sie das weiblichste Weib der Literatur. Sie gab's ihm Schwarz auf Weiß, daß nur ein großer Mensch auf Erden lebe, nämlich Er. Außer diesem Ur-Normal-Universalmenschen gebe es aber noch ein Riesenwesen, nämlich die Urmenschin, das Normalweib, und zwar Sie selbst – die Einzige, die Ihn begriffe.

Leonhart erwartete sie mit gelindem Entsetzen. Erinnerte er sich doch der urkomischen Enttäuschung einer bekannten Schriftstellerin (natürlich »Baronin,« darunter thut man's heut nicht mehr und hebt am liebsten auf den Büchern den Titel ausdrücklich hervor, um die schöne Leserin zu leimen), als sie auf dem berüchtigten Schriftsteller-Strebertag Anno 1885 einige Geisteshelden leibhaftig sah! Hätte sie nicht noch die »hohe blonde vornehme Erscheinung« eines vielbegehrten Damenlieblings und einige letzte Säulen entschwundener Pracht bewundern dürfen, so wären all ihre Illusionen geknickt worden.

Mit sardonischem Lächeln ließ Leonhart also seine heißhungrige Verehrerin in seinen Käfig ein. Er wußte, was er von dem genialen Brunhildenthum schmierender Löwinnen zu halten habe, da hinter patchouliduftiger Geziertheit beim Weibe stets nur die philiströse hohle Äußerlichkeit lauert.

Eine ziemlich hübsche leidlich imposante Donna trat ihm entgegen und schien auch wirklich etwas betroffen über den unerwarteten Anblick, der sich ihr bot. Doch ließ sie als gewandte Weltdame sich nichts merken, sondern bemerkte nur mit erzwungen unbefangenem Lachen: »Ich hätte Sie mir freilich etwas anders gedacht, viel wilder und viel – viel riesiger.«

»Einen, der gut..« wollte es Leonhart herausplatzen, aber er verschluckte es noch rechtzeitig und lud die Dame höflich ein, Platz zu nehmen. Diese begann nun in hochtrabendem Ton, indem sie ihn immer »Herr Wahlverwandter« anredete, ihren größenwahnsinnigen Weltbeglückungsunsinn vorzukäuen. Sie schien sich für eine Art Madame Théot, für eine Regeneratorin des Menschengeschlechts zu halten. Mit ihrem rothen Sonnenschirm (sie trug auch rothe Stöckelschuhe und rothes Hütchen) wies sie figürlich auf sich als neue Madonna, als jungfräuliche Mutter eines neuen Heilands der Idee. Leonhart glaubte ja gern an dies tiefgefühlte Bedürfniß – nur die unbefleckte Empfängniß wollte ihm nicht recht einleuchten.

Indem sie eine russische Papyros sich ungenirt ansteckte, betrachtete ihn die holde Wahlverwandte immer noch mit zweifelhaften Blicken. Leonhart lächelte verstohlen und seltsame Gedanken schossen ihm durch den Kopf.

Jedes Menschen Charakter und Geist steht deutlich in seinem Gesicht geschrieben. Doch nur Wenige verstehen es zu lesen. Von Genies hat man gesagt, sie sähen unbedeutend aus. Vor dem klassischen Kopf Napoleons riefen die Pariser: »Die häßliche Kröte! Wie gelb er ist!« Aber noch mehr: Die Wenigen – bildende Künstler, Dichter und Staatsmänner –, welche diese Kunst verstehen, mißtrauen sich darin und verwirren sich bei zunehmendem Verkehr. Sei mit einem Schuft befreundet, so wirst du bald genug verlernen, die offene klare Sprache seines Gesichts zu lesen. Entscheidend ist daher nur der erste Eindruck.

Wie Wenige giebt es, die über ein »unscheinbares« Aeußere (im gewöhnlichen Weltsinn) wegsehen können!

Alles was wir von Shakespeare wissen, die Thatsache seiner Verkleinerung bei Lebzeiten und plötzlichen Vergötterung nach dem Tode, wo nur noch seine Werke sprachen, zeigt an, daß er in Allem der völlige Gegensatz eines Goethe gewesen sein muß. »Er war sanft, gutmüthig, leicht zugänglich« – diese kurze Charakteristik, die wir über ihn besitzen, malt uns z.B. nicht seine äußere Erscheinung. Und doch scheint dies so unendlich wichtig! Es mag trivial oder richtiger – cynisch klingen, aber man darf die pessimistische Behauptung wagen: die zwei im Leben erfolgreichsten großen Dichter, von denen wir wissen, Goethe und Byron, verdanken ihren äußeren Triumph bei der Mitwelt zum größten Theil ihrer persönlichen Schönheit. Man möchte die Jungfrauen sehen, die begeistert zu Schaper's Denkmal in Berlin hinaufschmachten, wenn Goethe bucklich gewesen wäre! Aesop als Dichter des »Childe Harold« wäre wohl nimmer »the rage« geworden!

Das Genie soll man aus der Ferne bewundern. Rückt man den hohen Bergen zu nahe auf den Leib, so scheinen sie nur unförmliche Felsklumpen voll Schnee und Eis.

Friedrich der Große war gewiß ein Genie und ein großer Mann in jedem Zoll. Aber er war ein Purpurgeborner. Höher stehen Männer, welche »jeder Zoll ein König« wie Cromwell und Napoleon und doch die blinde Welt erst mit Gewalt zur Erkennung ihres inneren Königthums zwingen müssen. »Der kleine ungeschlachte Bierbrauer!« riefen die englischen Royalisten.

.. Die Frau scheint unfähig, abstrakt zu denken, sondern denkt immer concret. An sich ist das kein Fehler; sie ist eben Realistin. Maria Magdalena verstand den Heiland, weil sie das Persönliche desselben transcendental empfand. Dies kann beim Weibe genau so ideal und immateriell sein, wie die reflektive Begeisterung des Mannes, obschon des Mannes sinnlichere Auffassung der Liebe dies nicht zu begreifen vermag. Die Genialität der Frau steckt eben in der Liebe, als weitester Begriff gefaßt, in der warmen Selbstentäußerung des Herzens, womit sie Wunder thut. Die Frau will drum auch einen persönlichen Gott, den sie als Begriff des Guten und Schönen anbeten kann, woraus wiederum die Macht der katholischen Kirche herzuleiten.

»Ja, ich die dämonische Brunhilde-Natur, bin Ihre Genossin!« rief Aurelie in einer ungesunden Aufwallung verspäteter Begeisterung. »Was soll Ihnen ein Intimissimus wie dieser Schmoller! Ich allein verstehe Sie.«

Leonhart verbeugte sich kalt:

»Einen Intimissimus, meine Gnädige, besitze ich nicht. Nach meinen Erfahrungen danke ich auch herzlich für diese edle Gottesgabe. Ich achte am höchsten meinen intimsten Freund, nämlich mich selbst. Dem traue ich, sonst Niemanden. – Sie staunen? Ja, denken Sie sich den denkbar stolzesten und wenigst eiteln Menschen – dann haben Sie mich!«

»O welch ungerechtes Mißtrauen!«

»Durchaus nicht. Mißtraue Keinem und vertraue Keinem, vor allem laß Dir nicht in die Karte gucken. – Ach, mein gnädiges Fräulein, ich sehe dort einige Streifen Rosapapier aus Ihrem Muff hervorlugen. Sollte ich mich täuschen, wenn ich einige Ihrer Gedichte darin vermuthe? O bitte, verleugnen Sie nicht den Heiland, ehe der Hahn dreimal kräht, und kommen Sie gleich zur Sache! Ich bin ganz Ohr!«

»O wie Sie alles errathen! Ich fürchte nur –«

»I, wie werden Sie fürchten! Sind Sie sonst so furchtsam? Also bitte!«

Nach einigem Geziere deklamirte also Aurelie mit Emphase:

Im heißen Biledulgerid

Einsam und stolz ein Löwe schritt.

Doch fing man ihn, um ihn dem Dey zu schenken.

Der ließ ihm einen Käfig baun,

Drin waren Palmen selbst zu schaun.

Der Löwe sollte sich in Sudan denken.

Doch in des Käfigs Ecke lag

Er mürrisch wohl den ganzen Tag,

Aufsprang er nur, ging roth die Sonne unter.

Das Gitterthor er rüttelte

Und zornig brüllend schüttelte.

»Was fehlt Dir?« rief der Dey, »so sei doch munter!

Was mangelt Dir, mein schönes Thier,

In Deinem goldnen Hause hier?

Willst du vielleicht in Ambraduft Dich baden?

Soll ich die Herzen allzumal

Der Lieblingssclavinnen als Mahl

Dir zubereiten? Komm und sei geladen!«

Antwortend donnerte der Leu,

Die Nacht erzitterte aufs neu:

»Mein Haus ist Gold, doch eng ist seine Schwelle.

Die Palmen mögen prächtig sein,

Doch bilden sie nicht Nubiens Hain.

Dies Marmorbecken, ist's die Wüstenquelle?

Die Herzen Deines Harmes gieb

Nur Deinem Tiger, dem sie lieb.

Ich mag nicht Deine duftigen Gewürze.

Doch willst Du mich beschenken, Dey,

So schieße mir ins Herz Dein Blei:

Mit meinem Tode meine Haft verkürze!«

Eine Fee erblickte

Vom Regenbogen

Im Menschengewimmel

Einst eine liebliche lächelnde Maid,

Die Blumen pflückte,

Und ward ihr gewogen,

Trug zum Himmel

Den Liebling ins Reich der Seligkeit.

Schöner dort Alles,

Als auf Erden!

Die Blume glühte

Wie Demantschein!

Des Wasserfalles

Funke sprühte

Und schien zu werden

Ein Edelstein!

Und doppelt empfanden

Dort alle Sinne.

Wie Zephirfächeln

Die Stunden entschwanden.

Auf neue Wonnen sann immer die Fee,

Damit sie gewinne

Ein einziges Lächeln

Von der Erdentochter verschwiegenem Weh.

Denn ewig traurig

Sie Thränen vergoß.

Im Reich der Sphären

Ward es ihr schaurig.

Und holte Wasser die Fee aus der See,

Dann fielen Zähren

Vom Himmelsschloß

Und sie sah dort weinen die Maid in der Höh.

Schmachtend sie schaute

Zur Wolke nieder,

Die über der Erde

Düster braute.

»Was wünschest Du? Wonach sehnst Du Dich?

Zieht es Dich wieder

Zur Menschenheerde?

Sprich, o sprich!«

»Dort fallen Sterne

Und durch mein Haar

Gleich Perlenkränzen

Flöcht' ich sie gerne!«

Die Fee ihr brachte das Sternengeschmeid.

Umsonst sein Glänzen!

Und traurig war

Aufs neue die Maid.

»Fort, Gram, von der Stirne!

Was willst Du? Befiehl!«

Sie sprach: »Ich sehe

Manch schlanke Dirne

Dort unten tanzen im Frühlingshain.

Sie lachen zur Höhe

Im frohen Spiel,

Sie lachen mein.

Glücklicher freilich

Sind sie als ich.

Doch ihre Zöpfe

Sind mir nicht heilig.

Ballspielen möcht ich! Bringe mir

Der Dirnen Köpfe,

Zu trösten mich!«

Die Fee sprach: »Hier!«

Doch traurig wieder

Blickte die Maid

Mit heißen Zähren

Zur Erde nieder.

»Was dünket Dir denn noch wünschenswerth?

Ich wills gewähren,

Zu stillen Dein Leid,

Zu ersetzen die Erd'.«

»Jünglinge wandeln

So schön und lieb

Drunten heiter

Auf flinken Sandeln.

Ich bin im Himmel, doch bin ich allein.

Liebe nur gieb,

Ich will nichts weiter,

Liebe sei mein!«

Die schöne Dichterin legte die Rosapapierchen hin und blickte den Kritiker triumphirend an.

»Nun, was sagen Sie dazu?«

»Liebe sei mein!« hüstelte Leonhardt vorsichtig. »Sehr gut. Es ist ihr ewig Weh und Ach aus einem Punkte zu curiren.«

»Wie, wären Sie etwa mit der Pointe nicht einverstanden? O ich weiß, Sie Cyniker verachten die Liebe!«

»Gott soll mich bewahren! Nichts Menschliches verachte ich. Nur soll man die Dinge beim rechten Namen nennen.«

»Nun was wäre denn die Liebe nach Ihrer Auffassung, Verehrter?« Aurelie schlug kokett die Augen nieder.

Leonhart nahm eine gravitätische Magistermiene an und docirte bedächtig:

»Liebe ist verkappte Sehnsucht nach einer höheren Einheit, mit welcher der einsame Einzelmensch sich in Verbindung setzen möchte. So bildet der Geschlechtstrieb die Poesie im Kampf ums Dasein. So geistig ist der Mensch, daß selbst beim Sinnenkitzel er die Leidenschaft verlangt, die ihn unbewußt veredelt. Freilich, wie rächt sich diese geistige Unzucht! Aus süßester Hoffnung sauerste Enttäuschung, wie Essig aus verdorbenem Wein. – Aber was wird sonst nicht alles über den schönen Instinkt der Fortpflanzung gefabelt! Wenn ich den Namen ›Liebe‹ höre, muß ich schon lachen. O Lüge, dein Name ist Mensch! Wer mit seiner Humanität prahlt, ist meist ein Schurke, und sicher ist grade Der ein grober Sinnenmensch, der Heine's Dictum nicht unterschreibt: ›Denn weißt du, Kind, was Liebe ist? Ein Stern in einem Haufen Mist.‹«

»Ach Sie Schrecklicher, Sie sind Pessimist wie ich!« seufzte Aurelie und schmauchte ihre Papyros mit gedankenvollem Behagen. »Ach, wir Tiefempfindenden machen stets trübe Erfahrungen, nicht wahr?« Sie kreuzte ihre wohlgenährten Beine, so daß ihre Stiefeletten bis zu den Waden sichtbar wurden. »Wie viel Schufte und Narren vergällen uns das Leben!«

»Pah!« Leonhart reichte ihr jetzt eine seiner schlechten Cigarren dar, doch war ihr das zu starker Tobak. »Dann ginge es noch an. Aber 's ist ja viel langweiliger. Ein Franzose urtheilte triftig: Die Welt bestehe nicht aus Schuften und Narren, sondern aus Leuten, die nicht Talent genug haben, um das erstere, doch etwas zu viel, um das Letztere zu sein.«

»Madam Dudeffant bemerkt sehr schön: ›Ceux qu'on nomme amis sont ceux par qui on n'a pas à craindre d'être assassiné, mais qui laisseront faire l'assassin!‹« orakelte die geistreiche Dame, die an der Citatwuth litt.

Leonhart zuckte die Achseln. »Die Niederträchtigkeit der Männer und die Putz-Dummheit der Weiber zu schildern ist fast unmöglich. Physische Laster scheinen im Buch lange nicht so schlimm wie psychische Niedrigkeit. Den Begriff eines Mordes oder den Begriff einer Dirne können wir uns bei bloßer Lectüre kaum vergegenwärtigen. Aber dafür erhalten wir im Buche einen viel stärkeren Begriff von der landesüblichen Seelenverderbniß und Verlogenheit, welche wir sonst im Leben täglich gelassen hinnehmen. Uebrigens macht alles Geschriebene vor einer letzten Grenze Halt und bleibt daher nur halbwahr.«

»Sagt eure triftigen Gründe, Junker Bleichenwang!«

»Gründe wie Brombeeren!« lachte er schlagfertig. »Das Höchste und das Schrecklichste kann man nur fühlen, nicht denken, noch weniger aussprechen. Wie beschränkt ist überhaupt unser Anschauungsvermögen! Daher die Unmöglichkeit, eine ferne Zeit naturgetreu nachzuempfinden. Darin war die naive Renaissance uns voraus, die das instinktiv fühlte und sich wenig Skrupel machte, wenn sie Pharao's Tochter einfach als irgend eine Herzogin von Ferrara mit ihrer Hellebardier-Garde und die Hochzeit zu Cana als das Gastmahl irgend eines Loredano oder Contarini malte.«

Da die Brunhilde spürte, daß sie auf diese Weise nie Oberwasser für ihre geplante Mentorrolle gewinnen könne, wenn man bei allgemeinen Gegenständen blieb, so lenkte sie das Gespräch auf Leonhart's krankhafte Reizbarkeit und Empfindlichkeit. Die solle er sich endlich abgewöhnen. Sie selbst lache nur über die Verleumdung der Welt. (Diese schien ihr allerdings gut anzuschlagen, wie ihr elegant geschnürtes Embompoint bewies.)

»Jeder Aerger über die Welt zeigt doch nur Kleinlichkeit.«

»Hm, seltsam genug, daß des Weltgebieters Napoleon ganzer Hofstaat vor dem Tage zitterte, wo er die englischen Blätter erhielt. Dann gerieth der Empereur in unzurechnungsfähige Wuth. Und Bismarck, der jeden schimpfenden Rotzbuben in Posemuckel gerichtlich belangt und durch seine Bismarck-Beleidigungs-Anträge seine Größe herabwürdigt? Allerdings, einen vornehmen Mann hat es gegeben, der die Leute lächelnd schimpfen ließ: Friedrich – der aber darum mit Recht auch ›der Einzige‹ heißt.«

»Jaja, der hatte eben ein reines Gewissen.«

»Oder er war ein zu großer Menschenverächter und Skeptiker, hatte auch ein kühles Naturell und die natürliche Vornehmheit eines Purpurgeborenen. Uebrigens warf auch er der Maria Theresia heftig ihre Wiener Schmähschriften vor. – Doch haben Sie Recht: Das Toben auf die Welt und das ewige Geärgertsein zeigt ein schlechtes Gewissen, mindestens einen krankhaften Gemüthszustand. Allein, wessen Gewissen ist denn rein, wessen Gemüth ist gesund? Es ist eine Schande feig zu sein. Und doch habe ich Wenige getroffen, die sich nicht vor der Verleumdung schwer gefürchtet hätten, die nicht danach ängstlich umgespäht hätten, was die Leute sagen. Geradezu komisch wird dies, sobald es sich um sinnliche Ausschreitungen handelt.«

»Ja, sinnliche Ausschreitungen – da wird am meisten geheuchelt! Sagen Sie mal, finden Sie es nicht eigentlich unverschämt, daß die Welt sich über dergleichen ein Urtheil erlaubt? Mischt sich doch in gewissen Fällen sogar die hohe Obrigkeit des Gesetzes ein!«

»Ah, doch nur, wenn öffentliches Aergerniß gegeben wird und die betreffende Ausschreitung einer andern Person zum Schaden gereicht.«

»Allerdings, im Ganzen wohl. Doch giebt es ja Fälle, wo der Staat sich einmischt, ohne daß – – Sehn Sie z.B.,« sie sah ihn keck an und warf herausfordernd den Kopf in den Nacken. »Da soll es unter Frauen z.B. die Lesbische Liebe geben. Ich habe mir das erklären lassen. Hat wohl das Gesetz irgend ein Recht, sich in solche Dinge hineinzumischen?«

»O ja!« erwiderte Leonhart trocken. Er erinnerte sich, daß man von der Dame behauptete, sie habe zwei junge Mädchen auf diese Weise zu Grunde gerichtet. »Das kann auch Andere schädigen. Natürlich ändern sich die Sittengesetze. In der alten Welt war das erlaubt. Siehe Sappho!«

»Ach ja, die soll ja auf Lesbos geboren sein!« Die Augen Aureliens funkelten in einem eigenthümlichen feuchten Glanze.

Leonhart hatte genug. Er erhob sich plötzlich und bedauerte unendlich, nicht länger dem Genuß ihrer Unterhaltung fröhnen zu können. Sein Arbeitstisch rufe ihn. Mit einigen oberflächlich galanten Redensarten setzte er sie an die Luft und fand ebenfalls Ausflüchte, als sie mit nochmaligem Besuche drohte. Ein Zucken um ihre sinnlichen Lippen bewies ihm, daß die Brunhilde ihn recht wohl verstand.

V.

»Ja, liebster Herr, das wird eine schlimme Geschichte.« Leonharts Rechtsanwalt, Isidor Knaller, klatschte sich auf sein emporgezogenes Knie. »Das giebt zwei faule Preßprozesse. Doch wie ich mir denke, ist Ihnen das ganz Recht. Macht ja Reklame.«

»Danke schön. Mir sind meine Nerven wichtiger Ich bin verzweifelt. Schon wieder eine neue Aufregung!«

»Werden zwei cause célèbre, liebster Bester. Sie sind also verklagt wegen groben Unfugs in Sache I und in Sache II ist Confiscation verfügt wegen unsittlichen Inhalts.«

»Das laß ich mir nicht gefallen!« schrie Leonhart aufgeregt. »Diese Oelgötzen! Ich appellire an alle Instanzen.«

»Sehr hübsch, liebster Bester. Kostet zwar eine Menge Geld, doch des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Wollen also mal die Corpora delicti durchgehn. Da ist also ad I Ihr Cyklus ›Russische Juchten‹. Origineller Titel. Also gedacht als Text zu Wereschagins Bildern. Lesen wir mal genau.«

Beide lasen.

Der Zar bei Plewna.

Noch labt man sich an Kirchenweihrauchdämpfen –

Da krachte draußen schon das Ungewitter.

Es toastete der Zar, der edle Ritter,

Beim Dejeuner »auf Jene, die dort kämpfen.«

Vierspännig fuhr er dann zum Schlachtgefilde

Und satzte sich auf einen Feldstuhl nieder.

Die Adjudanten zuckten hin und wieder

Zurück vorm grausen Bild – er lächelt milde.

Einmal fuhr Väterchen auch etwas näher,

Doch kehrte er bald um, es war ihm eilig.

Eine Granate flog vorüber freilich.

Dann trank er Wotka, melden freche Späher.

O großer Alexander, lieber wär ich

Diogenes in einer morschen Tonne,

Als solch ein Xerxes, den die liebe Sonne

Durchscheint wie einen ausgestopften Kehrig!

Vor dem Angriff.

Gelbbranstiger Nebel flort um die Redoute,

Aufwirbelt Dampf von ausgebrannten Lunten.

Stumm wird es an den Pallisaden drunten.

Erwartungsvoll nur wiehert eine Stute.

Das Herz zum bersten an die Rippen hämmert,

Am Fernrohr zittert selbst des Führers Rechte.

Rauchsäule, Hornsignal! Klar zum Gefechte!

Die schwere Stunde der Entscheidung dämmert.

In Linien glitzern schon die Bajonette

Entlang den Erdaufwürfen aus den Gräben.

Die Käppis schon in Reihen sich erheben.

Langsam entwickelt sich die Schützenkette.

Der Odem stockt dem Bravsten angstbeklommen.

Da schmettert's Sturm! Aufspringen alle Haufen.

In wilden Sätzen schon sie vorwärts laufen.

Der Festung Mauern sind in Dunst verschwommen.

Kein Schuß antwortet. Mangeln schon Patronen?

Ob schon der Feind die Außenwerke räumte?

Ob er absichtlich mit der Antwort säumte,

Dieweil er sparen will die blauen Bohnen?

Das war ein Schweigen, schaurig, ungeheuer,

Wie vorm Orkan. Stumm die Kanonen starrten,

Wo die Vertheidiger lauern, aus den Scharten.

Da schwingt der Pascha seinen Säbel: »Feuer!«

Das letzte Bivak.

Zu Tausenden liegen sie rings erstarrt.

Die Krähe forscht, wo sie verscharrt

Unter den Schneeaufwürfen.

Wo ohne Spuren ein Heer verschwand,

Zeigt kaum ein Fuß und eine Hand,

Nach denen die Krallen schürfen.

Ein türkischer Vater mit seinem Sohn

In eines verflackernden Feuers Loh'n

Starrten sie stumm und ergeben.

Der Junge träumte vom Houriarm,

Da wird er schlummern sanft und warm.

Mit der Flamme erlosch sein Leben.

Der Alter ührte und regte sich nicht,

In Schmerz versteinte sein starres Gesicht,

Vom Rauch der Asche umqualmet.

Allah Akbar! Gott ist groß

Und der Mensch ein Hund und erbarmungslos

Ihn Azrael zermalmet.

Skobeleff.

Entlang den eisgehelmten Alpenriesen

Dehnt sich der Sieger lange dünne Fronte.

Vom letzten Strahl besonnt, am Horizonte

Abheben sich Spitzmützen der Kirgisen.

Der neue Suvaroff mit seinem Stabe

Sprengt froh vorbei. Ihm regnet es ja Orden,

Wenn Völker um des Kaisers Bart sich morden,

Für diese prächtige Hekatomben-Gabe.

Hurrah! Werft hoch die Mützen, Tusch, Fanfaren!

Er selber grüßt begeistert mit dem Hute.

»Ich danke, Brüder, eurem Heldenmuthe

Im Namen Sr. Majestät des Zaren.«

Ich dank euch! O des unbewußten Hohnes!

Siegt oder fallt, sonst lehrt es euch die Knute!

Unmündigen Unterthanen ziemt die Ruthe

Oder Versprechen unbestimmten Lohnes.

Ein Seitenstück zu jenes Raben Krächzen:

»Gott und der Zarin Ruhm!« (Wie aber kommen

Die Zwei zusammen?!) »Ismail ist genommen!«

Die Nordpol-Melodie zum Todesächzen!

»Am Schipka Alles ruhig.«

Ein weißes Leichentuch bedeckt die Erde.

Wie weiße Lavawellen unaufhaltsam

Nachdrängt vom Berg der Schnee und stürzt gewaltsam,

Als ob ein Donnerkeil geschlendert werde.

Ein jeder Athemzug macht hier Beschwerde.

Der Odem wandelt sich zu Nadeln Eises,

Die sich zerreibend knistern. Und Gefährde

Bringt jeder Fleck des ungewissen Gleises.

Zelte als Mäntel brauchend, in Kaputzen

Die Wachen bei dem letzten Kienspahn kauern.

Den Kugeln zu entrinnen kann nichts nutzen,

Wer nicht verhungert, stirbt in Frostesschauern.

Sie liegen hier ganz einfach, um zu sterben

In Myriaden, wie's dem Zar gefällig,

Die Posten einsam, Bivouaks gesellig.

Doch massenhaft hinrafft sie das Verderben.

»Am Schipka-Paß ist's ruhig« hieß die Kunde,

Die angenehm das Ohr des Zaren kitzelt.

»Am Schipka Alles ruhig« mit dem Munde

Des Todes rings der Erde Echo witzelt.

Der Todtenacker.

Ein ungeheurer Kirchhof ist der Acker,

Dort modern sie in ungezählten Scharen,

Bluthunde, die sich würgten flink und wacker,

Die ebenbürtigen Bestien-Barbaren.

Das heilige Rußland und die heilige Knute –

Der Sultan, der den Paschas, die nicht siegen,

Die seidne Schnur verehrt – vereinigt liegen

Des Molochs Opfer hier in ihrem Blute.

Wie eine Ampel schwebt im düstern Dome,

Hängt hoch ein Geier an der ernsten Wolke.

Ein Pope steht bei diesem Todtenvolke,

Sprengt darüber aus dem Weihgefäß Arome.

Ein rohes Nothkreuz, wo der Berg sich lichtet,

Ist eingerammt den dichten Leichenhügeln.

Ein Crucifix der Pfaffe hier errichtet

Als Vogelscheuche, Rabengier zu zügeln.

Und Geier auch und Wölfe, wilde Hunde,

Sie nahen rings zum Leichenkarnevale.

Sie zehren all von unserem Verfalle.

Der Luft und Erde Raubzeug steht im Bunde.

Wer aber kann den inneren Wurm verscheuchen,

Der schon im Leben heimlich an uns bohret?

Fort, Unsinn, mit des Aberglaubens Bräuchen!

Kein blauer Weihrauch-Dunst den Tod umfloret.

Er grinst dich an aus Schädelpyramiden.

Und lacht der Tod – was sollten wir nicht lachen

Ob all den Nichtigkeiten, die im Frieden

Das Glück und Elend unsers Lebens machen?

O Krieg, du bist der Menschheit Dornenkrone.

Durchzuckt von ewigen Wehen der Geburt,

Geheftet an des Todes Eisengurt,

Hängt sie am Kreuze gleich dem Gottessohne.

Die Hunnenschlacht.

I. Ich träumte jüngst von einem wilden Walde, Voll alten Bäumen, die vom Sturm entlaubt, Der von Sibiriens Strömen niederschnaubt. Schon färbt der Herbst den Blätterschmuck der Halde. Matt klomm empor der Sonne Gluth, Sturm prophezeiend, roth wie Blut, Durch Nebel sie verdrossen kam, Wie ein Gefangner voller Scham, Ein Mörderaug' mit irrer Wuth Verstohlen lugt durch Kerkergitter. Es wälzte nahendes Gewitter Dicht übern nackten Boden dieser Steppen Die Wolkenschaaren hin, wie Riesenschlangen, Die sich von Ast zu Ast nun weiterschlangen, Wie Geister mit langwallend-blassen Schleppen. Der Regen schoß herab in schweren Bächen. Der schmerzlich-grüne Todtenfluß des Hades Schien sich zu wälzen durch die feuchten Flächen. Mir schnitt durchs Hirn das Drehn des Weltenrades, Schwerfällig knirschend über blutigen Leichen Von schwachen Völkern, überlebten Reichen.

II. Und da ich also sann, da ballten sich Aus diesem Nebelmeere drei Gestalten Sie wuchsen auswärts ernst und feierlich. Den Ersten sah zu Roß ich vor mir halten, Wie er hinausstrebt einen Felsenstrich. Der ehrnen Stirne tödtlich düstre Falten, Das Wechsellose seines Blickes schien Durchbohrend mir die Seele zu zerspalten. Tartaren und Kosaken vor ihm knien Und all die heimischen Mongolenhorden. Die Schweden und die Türken vor ihm fliehn. Die ehrne Kiefer schnappt nach stetem Morden, Entsetzlich sträubt sich sein Gorgonenhaar – Er ist der Baal, des Molochs Bild im Norden, Ein unersättlich gieriger Barbar. Und wie einst Iwan that vor Nowgorod, So seine Kiefer knirschend sich bewegt, Als fräße unsre Welt sein Machtgebot, Die sich ihm hülflos selbst zu Füßen legt. Ich ward zu Stein. Doch Grausen mir durchraun Aufs neu die Adern, als ich vor mir da, Langsam herschleichend neben jenem Mann, Ein greises welkes Schemenwesen sah. Die Krallenhand sich hin nach Süden spreizt. Die Krim, das schwarze Meer, die Donau reizt. Nach Westen stürzt die geiergleiche Gier Und Polen's Kraft verblutet unter ihr. Ihr Kuß ist tödtlich wie des Vampyrs Biß, Des Nordens schreckliche Semiramis! Doch jetzt sah ich erheben süßlich fad ein Angesicht, Amoretten es umschweben, Grazie es sanft umflicht. Alexander, parfümirter Ritter für Europas Recht, Du lebendig balsamirter Lügenpopanz, Pfaffenknecht! Ja, das Widerlichste scheinet mir ein fürstlicher Tartuffe, Der den Dandy-Chie vereinet mit dem Diplomatenkniff. Während Polen wird vernichtet, tanzt sich die Quadrille gut. Doch im Innern selbst sich richtet frömmelnde Despotenwuth. »Heilige Schwermuth« oder besser: Neue hat sein Herz zerfleischt! Denn am stygischen Gewässer andre Tugenden man heischt. Keine Fürstengroßmuth, keine Heilige Allianz, o nein! Gottesgnadenthum ist eine leere Fabel dort allein. »Liebenswürdig« warst Du? Braten sollst Du, heuchelnder Despot, In der Hölle Dantes. Platen hat Dir das vorausgedroht. Triffst den »guten Kaiser Franzel«, den gemüthlichen, auch dort, Während frech man auf der Kanzel euch canonisirt so fort. Du, der trieb wie Alexander (wohl damit ihr Beide so Etwas ähnlich säht einander!) Vatermord incognito! St. Georg, der gern erdrücken will den »Robespierre-à- Cheval« Und doch hinter Preußens Rücken mit ihm theilt den Erdenball! Held von Erfurt, sanfter Schmeichler, der mit einem Judaskuß Selbst den größesten der Heuchler übertölpelte zum Schluß! Gecken-Zar und Großmuthsschwätzer, Haupt der Heiligen Allianz, Frommer Buhler, Polenhetzer – Heil sei Dir im Siegerkranz!

III. Schon keimt der nordische Upasbaum Und eine Boa von Ketten Zuschnürt den ächzenden Weltenraum – Wer wird Europa retten? Schon ist die Sonne des Gerichts Am Horizont entglommen, Ein Held entsteigt der Zukunft Nichts – Du Heiland, sei willkommen! Und Geister der Vergangenheit, Sie nahen vielgestaltig. Sind wir noch wie in alter Zeit Ueber alle Völker gewaltig? Zum ersten ein unabsehbarer Zug Mit schleppenden Hermelinen – Den Reif des Kaisers Jeder trug Mit majestätischen Mienen. Die Schwarzen aus salischem Herrschergeschlecht, Rothblonde Hohenstaufen – Weltgebieter nach ewigem Recht Nahten in hellen Haufen. Verächtlich zuckte der stolze Mund. Den Speer hob Otto der Große, Als sollte ein neuer Ottensund Als Grenzmal ihn bergen im Schoße. Das baltische Meer schon ahnend zuckt Bis an die östlichsten Ränder – Grimmhastig Jeder am Gurte ruckt Der schleppenden Kaisergewänder. Dort stack das Schwert des Reichs und wild Ausholten sie alle zum Streiche Und schlugen an des Reiches Schild Am Zweig der Walser-Eiche. Der sechste Heinrich stolz und starr Wuchs auf vor des Ostens Dämonen. Er lachte heiser: »Wer bist Du, Narr, Der den Kaiser will überthronen? Wer ist's? Des Nordens kleiner Zar, Der neben den Ungarn und Polen Als Lehnsmann mir zu eigen war, Er will den Tribut sich holen? Hoiro! Alle Ritter, auf! Der Bär hat schlechte Sitten. Versöhn' Dich mit dem Hohenstauf, O Löwenherz der Britten! Mit dem Adler jage der Leopard! Im tobenden Weltgedränge Sei deutscher Longmuth nicht bewahrt – Ich lehre euch die Strenge!« Da stiegen empor zwei Recken frisch, Der eine ein derber Bauer. In ihm vereint ein seltsam Gemisch' Weltlust und entsagende Trauer. Eine neue Götterdämmerung Weissagen muß er bange. Er droht wie Tor mit Hammerschwung Der römischen Midgardschlange. Der Andre war ein lustiger Fant, Ein scharfer Gedankenspalter Er liebte Minne und Vaterland, Wie der Minnesänger Walter. Sonst schonte er nichts und fürchtete nichts Und haßte Philister und Kutten – – An eurem Wesen uns gebricht's, O Luther und o Hutten! Da aus dem Nebel des Traumes stieg Eine Dreizahl von Heroen: Ich sah des deutschen Geistes Sieg Im Anblick dieser Hohen. Sie schwebten auf wie Adlerflug Vereint zur Morgenröthe. Ihr Genius sie aufwärts trug, Lessing, Schiller, Göthe! Jetzt hob sich aus dem Nebelmeer Eine riesenhafte Erscheinung. Er war allein und um ihn her Der Feinde Völkervereinung! Der kleine Mann und der kleine Staat Drückten allein sie nieder. Zorndorf war nur eine Nebenthat Im Kampf mit dieser Hyder Und gegen die östlichen Nebel zu Hob er drohend die Krücke Und scheucht mit herrischem »Du, Du!« Sie in sich selbst zurücke. Nun aber langsam mächtig wuchs Wie der steinerne Gast zur Höhe Eine ernste Gestalt, ich erkannte flugs Den Stein vom Haupt zur Zehe. Er kannte den treuen Bundesgenoß, Den theuern Moskowiter, Der unsern hündischen Dank genoß. Der Freiherr lächelte bitter. Das war ein Freiherr jeder Zoll, Ein Herr und auch ein Freier! O Judasküsse tückevoll Bei Deutschlands Freiheitsfeier! Europas Herz durchbohrt, verkauft Von lauernden falschen Beschirmern! Der Einheit Blüthe, mit Blut getauft, Zernagt von schmarotzenden Würmern! Das Herz schwoll mir vor Kummer an. Da sah ich Ihn auferstehen Aus der Gruft von Deutschlands Ehre – ein Mann, Fest von Haupt zu Zehen. Einen Flamberg hielt er vor sich stracks, Fest in den Stiefeln stand er. Den Trotz des Slaven- und Wälschenpacks Zertreten die miteinander. Er ist gar schreckbar anzuschaun, Gleich wie ein Götze der Wenden, Mit dem Wodanaug' unter düstern Braun Und immer das Schwert zu Händen. Und da er einen Blick nun warf Nach dem gährenden tobenden Osten, Scholl dort ein Lärmruf grell und scharf: »Laßt nicht die Waffen rosten! Was schwingen wir gegeneinander das Beil, Wie einstmals die Strelitzen? Für uns liegt dort das wahre Heil, Im Westen zu stibitzen. Den Deutschen Erbfeind in den Bann! Er ist der große Verschlinger. Er wuchs aus kriechender Ohnmacht an Zu einem Weltbezwinger. Entscheidungskämpfe schwer und scharf Erwarten euch, Teutonen. Denn nur das heilige Rußland darf Als Weltenherrin thronen. Stets weiter unsers Reichs Polyp Den ehrnen Fangarm dehnte. Siebirien rastlos vorwärts trieb, Bis sich's an China lehnte. Nach China gings vom Kaukasus! Von dort zum Himalaya! Am Ganges und am Bosporus Erwartet uns der Raja. Afghanen-Emir, Perser-Schah, Ihr werdet uns Vasallen! Am Donau-Ufer fern und nah Der Ukas Donner schallen.«

IV. Sind das Lithauens unendliche Strecken? Ein Schlachtfeld sah ich in ahnendem Schrecken. Die Flamme beleuchtet im öden Raume Mit bläulichem phosphorartigem Schein Die reifen Früchte am Pflaumenbaume Und wandelt in Golddukaten die Birnen. Hoch über dem Feuer in stillem Verein Schweben die Raben mit finstern Stirnen, Wie schwarze Kreuze auf goldenem Grunde. Still wird es in der unendlichen Runde. Die Welt der Insekten brummt und summt, Das Zirpen der Heimchen nie verstummt. Das trockene Schilf als Wachtfeuer lodert. Der einsame Schwan, der sanfte Störer, Wie eine silberne Glocke fodert Gebet und Andacht von jedem Hörer. Und rauscht er empor zur nördlichen Fahrt, So wird er plötzlich, eh er's gewahrt, Von rosigsilbernem Licht übergossen. Und dann erscheint das Wolkengewimmel, Als flögen rothe Tücher am Himmel. Durchsichtige Lämmerwölkchen flossen Am Äther hin, rothgoldene Streifen Den blauen Horizont umreifen, Wie von einem Riesenpinsel gezogen. Die Zieselmäuse der Steppe pfeifen. Die Gräser, von frischer Brise gebogen, Rauschen zusammen wie Meereswogen. Die grüne jungfräuliche Oede strahlet, Dies goldiggrüne Meer sich bemalet Mit tausend Farben. Wollüstig badet Die Steppenmöve im Sonnenstrahl. Den Habicht zu reichlichem Raube ladet Die Musik des Tages im Steppenthal, Wo alle Würmer der Erde erwachen, Wo das Rebhuhn hinhuscht am feinen Stengel Der Weizenähre, wo aus den flachen Steppenstrecken, ein schüchterner Engel, Die hellblaue Kornblume sich erhebt Und pyramidenförmiger Ginster. Leuchtkäfer erblassen, der Schatten verschwebt, Hellgrün ist Alles, was schwarz und finster. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Und dieses Land der Zukunft trug Des Deutschen Colonisten Pflug.

»Hm, hm,« urtheilte der Rechtskundige, nachdem die Lectüre beendet, bedenklich. »Das steht schlimm. Zweifellos ›Grober Unfug‹! Sehn Sie, der Paragraph wird jetzt so gedehnt nach Belieben, daß Sie ja ganz unrettbar verloren scheinen. Beleidigung verschiedener Zaren, speziell des verstorbenen, eines engbefreundeten Souverains – o, o! Und dann überhaupt die ganze aufreizende Tendenz! Dieser Haß gegen das engbefreundete Rußland! Ihre Dichtung ist geeignet, Zwietracht zwischen verbündeten Völkern zu schüren. Nein, lieber Herr, vom Standpunkt eines königlich preußischen Richters aus muß man Sie ja wegen, Groben Unfugs', begangen durch die Presse, verdammen. Kommen wir nun zu Punkt. Zwei!«

Er las.

Messalina.

I. O welch ein Wechsel! Neidische Fortuna, du Willst hemmen meinen sieggekrönten Frevellauf Und wähnst, statt Süßes müss' ich Herbes kosten nun? Doch hierin irrst du. Denn des Unglücks Aschenfrucht Schmeckt jetzt erfrischend mir und gaumenreizend nur, Da ich der Hesperidenfrucht zu viel genoß. Und hat der Wechsel selbst nicht manches Reizende? Des Zufalls ungeahnte schlaue Wendungen, Das neue Ungewohnte, das Aufregende Der Furcht und Ahnung und der Hoffnung andrerseits, Der angestrengte Kampf um Leben und Besitz – All' dies ergötzt mich, wie ein fremdes Drama schier. Der Erdballs Herrin gestern, heut auf Tod verklagt, Gestern in sichrer Burg und heut im Haftgemach! Ha, Gestern: meines Lebens wonnevollster Tag! Wir feierten das Winzerfest im Bacchanal In süßer Raserei in des Vergnügens Arm, Mänadisch toll, wie in verschwiegner Mitternacht An Lesbos' Strand in Thraciens Kluft Trybadenschwarm Evoë-kreischend feiert lüsterne Mysterien. Wir aber tobten offen unterm Sonnenlicht. Die Kelternbäume knarrten und vom süßen Most Die Kufen überströmten. Frauen, nackt an Bauch und Brust, Vom Pantherfell umflattert ihre Schultern nur, Das ihre Lenden los umgürtet, tanzten rings. Und Allen ich voran, des Festes Königin, Ich der Mänaden Tollste und Verführendste, Cäsarin aller Lüste auf dem Weltenrund. Als Scepter, Zeichen meiner unumschränkten Macht, Den Thyrsus schwingend überm Haupt bacchantisch wild. Zur Seite mir, den Epheukranz im blonden Haar, Herwankend auf Kothurnen, einem Trunknen gleich, Im Chor der Zecher, er, mein Liebling Silius, Mein Buhle, mir auf offnem Forum angetraut, Mit dem die Hochzeit ich im Kaiserhaus beging Bei Lebzeit meines Schwachkopfgatten – hahaha! Doch mitten in der allerfrohsten Lustbarkeit Erklomm der Gäste Einer einen Palmenbaum Und als wir riefen: »He, was siehst da oben Du?« Schrie er voll Angst: »Gewitter naht von Ostia!« War's eine Ahnung, war's ein Scherz, weißsagend halb? Genug, einschlug es wie ein Blitzstrahl unter uns Und horch! Durchs Evoë der Gäste klirrte Stahl. Enteilend dem Verderben, auseinander stiebten wir, Doch rings umschlossen uns die Garden, mordgewohnt. Mein bärtiger stiernackiger Calpurnius Wird hier durchbohrt, dort Plautius, mein Herkules, Dort Bettius, mein lieblicher Narciß, dort windet sich Cäson, der feiste Zotenreißer, Lehrer aller Gräu'l Und Schüler aller Laster. Reizt uns niemals mehr Zu wieherndem Gelächter Dein gewagter Witz? Weh, Mnester, schonten sie nicht Deinen schlanken Bau, Der dem Caligula, dem Kenner, wohlgefiel? Ich ehre meines Vortyrannen Kunstgeschmack, Obwohl mein Blick für schöne Männer noch geübter ist: Drum, feiler Tänzer, übernahm ich Dich von ihm, Lustknabe einst des Cäsars, liebte die Cäsarin Dich. Haha, er sträubte sich, der vielerfahrne Frauenheld, Der Abentheuer fast für jedes Löckchen zählt: Er wußte, daß verhängnißvoll ich immer ward Für Jeden, den ich liebte. Widerstand er mir, Erreichte ihn mein Gift. Und lieferte er aus Sich meiner Gier, so räumte ich ihn selbst hinweg, Ward er mir lästig, oder meines Gatten Beil Traf seinen Nacken. Ha, er weigerte sich drum, Mein schlauer Mnester. Und was that ich? Holte mir Von meinem Ehe-Esel einen Staatsbefehl, Daß er mir ausgeliefert werde, sintemal Der Knecht nicht tanzen wolle auf der Fürstin Wunsch! Der Spröde tanzte nun, doch in viel feinrer Art. Auch er ward hingeschlachtet, mir zur Freude fast: So straft ihn das Geschick, weil er mich schmachten ließ. Doch Du – das war ein harter tiefempfundner Schlag, Auch Du, mein Silius, mein Pseudo-Ehgespons, Sankst hin zu meiner Seite pfeil- und speerdurchbohrt, Die blonden Locken mischten blutig sich dem Staub. Wann werd' ich wiederschaun Dein frisches Angesicht, Die Rosenflur, auf der mein Mund sich weidete? Nie lehn' ich schmachtend an der glatten Schulter mehr – Nein, Alles ist nun Raub und ekler Würmerfraß. Ich selbst entrann und schleppte durch den Markt mich hin Durchs halbe Rom. Zuletzt ich einen Karren fand, Den rief ich an und setzte mich als Fracht hinauf. So fuhr ich, die Cäsarin, in die Nacht hinein Wie ein erbärmlich Hökerweib. Und als ich mir Den Wagenlenker recht ins Auge faßte jetzt, Sieh da! So war's ein Wohlbekannter, doch von wo? Mit so unzähl'gen Männern pflog ich ja Verkehr! Bald brachte die Erinnrung mir sein Bild zurück: Ein ausgedienter Gladiator war der Bursch. Doch in Arena und Theater nicht mein Aug' ihn traf, Nein, in der nächtigen Taverne, jenem Lupanar, Wo als Lycisca selbst als Dirne ich gedient. Ha! süßer Dienst, nur war er mir nicht schwer genug. Denn nimmer konnte ich befriedigt seufzen: »Gut! Ich kann nicht mehr.« – Ach wie behaglich war es doch Fortschlich ich mich vom ehelichen Thalamus, Wenn mein kahlköpf'ger Schlottrer schnarchte neben mir In tücht'gem Rausch, von Trunk und Völlerei beschwert. Manchmal macht' ich den Spaß mir, den erquicklichen, Zwei Gassenmetzen zuzuführen ihm im Rausch, Calpurnia und Kleopatra, an meiner Statt! Haha! dämonisches Vergnügen labte mich, Weil so das Kaiserlager doppelt ward entehrt. Denn bester Kitzel für den Lüderlichen ist Das Uebermaß der stinkenden Ruchlosigkeit. Ich aber schlich als Priest'rin der Vulgivaga Durch Höf' und Gassen, bot mich jedem Strolche an Und kehrte endlich in der Morgendämmerung Erschöpft, doch ungesättigt zum Palaste heim. (Weh' mir! Was kühlte jemals meine sieche Brunst?) Und sieh, der alte Zechcumpau erkannte mich, Erinnerte sich gern der drallen Buhlerin, Die jeden nervigen Bootsknecht schwelgen ließ im Schooß, Und grüßte mich: Lycisca. – War's ein Schicksalshohn? Ich ließ den Mann im Wahn, der ihn ermuthigte Mich derb zu drücken in verliebter Possenreißerei, So daß die Langeweile eben noch bewältigt ward Und ich mich tröstete in meinem Ungemach. Der Arme, hätt' er mich erkannt, so starb er ja! Gleich jenen Höflingen, die einst im Lupanar Mich trafen und erkannten, und sich weigerten, Um keine »Gottesschändung« zu begehn, wofür als Lohn Ich ihre Töchter schänden und verführen ließ!

II. O Höhe meiner Allmacht! O mein tiefer Sturz! Die Diebin Agrippina stiehlt mein Diadem. Ich sehe sie vor mir im Geist, die Schmeichlerin, Im heimlichen Gemach bei meinem Schattenmann. Wie sie den abgebrauchten Lüstling kitzeln wird Durch schlaues Zeigen und Verhüllen, Bieten und Verwehren auch Wie sie mit schlauem Honigwort ihn reizen wird Der Güte Taubensanftmuth bald im feuchten Blick, Bald edlen Zornes Löwenmuth im Feueraug'! Bald süßlich lächelnd, abgefeimte Buhlerin, Zweideutige Späße lispelnd und gemeinen Scherz! Bald ernst und stolz, der Frauenwürde hehres Bild, Mit majestät'schem Faltenwurf der Tunika, Die leider sich in jedem Augenblick verschiebt, Wenn sie in plastisch schöner Stellung Arm und Bein Heroisch von sich streckt! Wie wird in hohem Ton Vor ihm sie deklamiren aus dem Aeschylus, Zur Lyra singen den Catull, feinsinnig gar Ihm den Horaz erläutern und zuguterletzt Tiefschmerzlich feufzen über den Euripides, Weil er die Frauen so abscheulich schwarz gemalt, Denn unsre schönen Seelen, ach! verstand er nicht. Dann giebt es Ziererei, wenn er sie trösten will Und ihr versichert, heilig sei für ihn das Weibliche. Dann wechselt schroffe Kälte, strenge Züchtigkeit Mit heißem Ausbruch gut gespielter Leidenschaft – Lukretia, Cornelia, Antigone Verwandeln plötzlich sich in die Semiramis, Vampyrisch lüstern und bacchantisch liebeheiß. Wohl, Agrippina, gleichst Du der Assyrerin: Im Herzen Völkermord, im Auge Sinnenbrand, Staatsweisheit auf der Lippe, die von Küssen brennt, Vom Thron sich wälzend in der Unzucht Lotterbett. Ha, dessen rühm' ich mich: Ich war zu stolz dafür, Von Pallas mir zu borgen ihren Tugendschild, Deß glatter kalter Stahl die Blöden blenden soll. Ich war der Sünde offenste Verkörperung, Mein Fleisch und Blut verläugnete durchaus den Geist, Nie heuchelte ich höher'n Sinn. Ich bin die Lust, Denn weiblich ist die Sünde und ich bin ein Weib.

III. Des Fatums Netz hält mich umstrickt, das unentrinnbare: Entweder trifft mich des Kroniden Racheblitz Oder die Himmelsfürstin Juno drückt Das Scepter voller Macht aufs neu mir in die Hand. Versucht hab ich, was möglich, und ich hoffe noch. Bittschriften und Fürbitter bot ich sämmtlich auf, Um unablässig zu bestürmen meines Gatten Sinn. Der Dickbauch hat kein Herz von Stein, ist schnell erweicht Und glaubt am Ende, daß ich schuldlos angeklagt, Denn dumm genug dafür ist der Vortreffliche. Ich selber warf mich ja ihm weinend in den Weg Bei Ostia, vor seiner Sänfte knieend bat Gehör ich für die Mutter des Brittannicus. (Als dessen Vater sich der Geiferer berühmt, Mir selbst ist der Erzeuger nicht so ausgemacht!) Da überschrie mich zwar sein feiger Kämmerling, Erstickend meiner Klagen süß beredtes Fleh'n. Auch hielt er eine Rolle von Papyrus vor Dem Weltbeherrscher, wo verzeichnet meine Schuld: Natürlich konnte dem der Tropf nicht widerstehn, Ihm hat ja stets besondern Reiz Geschriebenes. Doch jetzt zum Gnadenbitten habe ich bestimmt Die älteste Vestalin. Diese Fürsprach' muß Erretten mich. Haha, ein schönes Bild auch dies Und möglich nur in dieser Weltkloake Schlund, Daß die Vestalin für die – Messalina fleht! Natürlich fielen zwar die Meisten von mir ab: Der Mensch vergiebt der Macht der Frevel Uebermaß, Dem Fallenden verzeiht er Nichts. Das tröstet mich, Daß ich den Lumpen rechten Grund zum Hasse gab: Dreihundertfünfzehn Ritter, Dreißig vom Senat, Und von Quiriten eine ungezählte Menge noch, Ließ ich vernichten: Theils weil abhold meiner Macht Und meine Frevel tadelnd, theils aus Eifersucht Und Rachsucht den, der meinen Schlingen sich entzog. So räumte den Vicin ich aus dem Wege mir, Den Gatten von der Nichte meines Hahnreimanns. Die Nichte war gefällig, näherte dem Cäsar sich, Und mir gefiel Vicin. Der Geck hat mich verschmäht, Und sprach von Treu' und Tugend – Beide starben drum. Silan auch starb, der blöde Held. (Stiefvater mir, Denn meine Mutter gab ihm Claudius zur Frau.) Ich war nach seiner Liebe lüstern und umarmte ihn Einst etwas zu verwandschaftlich. Das merkte er Und deutete mir drob sein Mißbehagen an, Blies auf die Freundschaftsflöte, sprach von Unnatur! Pah, Unnatur! Natur ist alles, was Natur erlaubt, Was ich begehe, ohne grad zu sterben dran. Naturinstinkt ist jeder Trieb im Menschenblut: Was ich besitzen will, ist mir auch drum gewährt, Gestattet ist, was mir gefällt. Pasiphaë Verliebte sich in einen Stier. Und fühle ich Verlangen, mich zu paaren einem Krokodil – Wer schreit da Unnatur, da mir's Natur gebeut? Ja, Sinnlichkeit war meines Lebens Lust und Qual: Verzehrend And're, hab' ich so mich selbst verzehrt. Um den zu fangen, der sich meiner Macht entzog, Verlieh ein Gott mir Schönheit – schnell bestrickend wie Medea's Zaubertrank und Paphos' Sommernacht.

IV. O süße tolle Orgien, wo in dem Kreis Geliebter Frechheit, von Begierde wild zerfleischt, Becher nach Becher lachend ich hinabgestürzt Von honigduftendem Falerner rauschgewohnt. – Nie sah ich so verlockend meiner Schönheit Bild Vor Augen, als da ich mich heimlich spiegelte In dem geschliff'nen Erzschild an der Marmorwand Einst im Zenith des Sinnentaumels, wild verzückt. Mein wallend Haar, in krausen Locken ringelnd sich, Wie einer Furie oder Gorgo Schlangenhaar, (Die Furie der Begierde hauste ja in mir, Selbst hetzend den Genuß, von innerem Fluch gehetzt) Blauschwarz wie Ebenholz, von Wollustthränen feucht, Gleich wie ein perldurchwirkter dunkler Seidenflor, Peitschte den weichen Nacken und des Rückens Schnee, Sich schmiegend um des Busens makellose Form Bis zu geschwellter Hüften üppiger Fülle hin. – Des Unterkörpers Stellung war nicht minder schön. Die kleinen Füße in goldfranzigem Pupurschuh Zerstampften ruhelos des Estrichs Mosaik Zum Tact der Flöte, die verlockend girrte rings. Die runden glatten Kniee bebten im Genuß, Matt ausgeglitscht. Wie göttlich hingegossen lag Der Leib, der schmachtend hingeglitt'nen Glieder Pracht, Die Grazie der Wollust jedem aufgeprägt! Durch der zurückgebogenen Schenkel rosige Haut Pulsirte schimmernd Scharlach des erhitzten Bluts Im Blau der Adern, wie der Freude Morgenroth. Purpurgesäumt, schneeweiß, die seidne Tunika War abgestreift, der goldne Gürtel losgelöst, Die blüh'nden Arme nackt und voll emporgestreckt. Und nur des Purpurvorhangs rosiges Dämmerlicht, Der Weihrauchampel matter Schein nun fiel Auf die weißrosigen Formen, lüstern hingedehnt Auf Kissen von Tyrrhenerpurpur perlbestickt. Das goldne diamantbesetzte Diadem, Symbol der Weltmacht, kollerte vergessen dort Auf Perserteppich. Palmzweig, grüner Epheu war, Ihr Weiß zu zeigen, auf die Schulter hingestreut – Durch's schwarze Haar schlang sich der Rosen rother Kranz. Das Auge brauchte keine farbige Zierde, traun! So glühend, wie der Sonne Gold, des Blutes Roth Brach durch die schwarzen Wimpern schwarzer Augen Gluth Im ungezähmten Feuer herrschender Begier, Durch Wollustthränen süß gedämpft, wie durch Des Tropenregens Schleier der Canopus brennt. Die rothen Lippen – heiß geöffnet waren sie, Doch nicht wie eine Rose, die den Kelch erschließt – Wie eine aufgeriss'ne Wunde dürstend stets Nach Balsam für die Qualen einer innern Gluth. Doch kühlt und lindert nicht der Küsse Feuerthau: Drum sog mein Busen ewig unter Seufzern ein Die schwüle Ambraluft, gleich wie den Wüstenwind Des Berberrosses Nüster saugt, zum Ritt bereit.

V. Und welch' ein Götterspaß, welch' witziger Frevel war's, Wenn ich die Jungfrau'n und Matronen, die zum Fest Ich lud und die aus Furcht zum Pallatin gefolgt, Preisgab den Lüsten abgefeimter Lüstlinge. Unwürdig Deiner nicht, o Göttin Aschera, War dieser Einfall. Denn wie Deinem nächtigen Dienst Man unberührte Mädchenblüthe opferte, So fordert' meine Gottheit auch der Keuschheit Raub. Welch greller Angstschrei, welch verzweifelt Wehgestöhn, Welch wildes Weinen der erzwungnen Wollustpein Erscholl da, lieblich meinem Ohr – zu bald erstickt Von meinen nervigen Buhlen vor dem Hochaltar Der Göttin Unzucht, die in Saales Mitte stand. Ja, all die bittern Thränen, die vergossen dort – Auffangen hätt' ich mögen sie im Goldpokal Und schlürfen nimmersatt ihr bittres Salz, Damit der Hunger meiner Grausamkeit gestillt. Wie manche Unschuld, manche Herzensreinheit ward Von mir geknickt und faulig in den Koth gestampft! Doch bei Matronen (ehrbar keusche wählt' ich nur) War sorgsam ein besondrer Reiz von mir erdacht. Denn ihre Gatten lud ich alle ein zu gleicher Zeit: Die zwang ich nun vor ihren Ehgesponsen selbst Mit siechen Freudenmädchen sich genugzuthun. Die armen Weiber aber, die vor Gram und Eifersucht In Ohnmacht fielen, lieferte den Meinigen Ich aus vor ihrer Männer Aug' zum Ehebruch! – So ließ ich sich ergießen, einen Unflathstrom Von namenlosen Gräueln, bis im eklen Sumpf Der Sinnlichkeit, im Pestpfuhl der Verderbtheit ganz In Schlamm getreten alle Tugend, Würde, Sittsamkeit. Ha, welch homerisches Gelächter schallte hell Aus dem Gehege meiner Perlenzähne dann, Wenn der Entehrten Fluch zu mir heraufgetönt. »So geh es Jedem!« rief ich triumphirend aus Und drückte wild aus Herz den Allerschändlichsten »Wer albern sich der Sinnenlust entziehen will Und meines Wandels spottet durch Anständigkeit!« Ha, Beifall wieherte mir der verruchte Schwarm, Noch siedet froh mein Blut bei der Erinnerung – O wie behaglich war's im Pandämonium! – Abscheulich führte sich nur eine Dirne auf, Vestalin war sie: Diese gab sich selbst den Tod Vor meinen Augen – hu, wie sie so bleiern lag, So steif und still! Und langsam rann der Lebenssaft. Ja, er verrinnt und dann ist Alles, Alles aus. Getrost. Noch kocht mein Blut in voller Sinnenkraft Und schleicht nicht siech durch altersschwache Adern hin. Auch jene Arria empörte mich mit Fug, Die standhaft frech im Tod beschämte meine Wuth. Doch welche Lust hinwieder bot der Augenblick, Wenn in der Leidenschaft Umarmung festverstrickt, Wie eine Schlange ihn umgürtend, heimlich ich Auf einen Buhlen, deß ich überdrüssig ward, Den Dolch gezückt und ihm durchbohrt das trunk'ne Herz, Der ahnungslos an meinen Lippen festgesogen hing. Ja, Grausamkeit und Wollust, süße Zwillinge! Erzarmiger Büttel mit dem stumpfen stieren Blick Erbarmungsloser Roheit – welch bezaubernd Bild! Braunfette Dirne mit der schweißig feuchten Hand Und lüstern blinzelnd wie ein Geier – mein Idol! Ein Brief? – Von wem? Von meiner Mutter Lepida? Sie räth, anständigen Tod zu wählen? – Rast die Frau? Warum? – Anständiger Tod? Meint sie freiwilligen? Ich willig aus dem Leben scheiden? Nimmermehr! –

VI. In ungewissem Jugendbrüten, als mein Geist Noch nicht zur nackten Klarheit der Erkenntniß kam, Daß Alles Rauch und Unsinn, außer Sinnlichkeit, Daß Scham und Scheu nur Dummheit, Frechheit Größe ist – Da blättert' ich in faden Philosophen oft, Nach einem Etwas suchend, das ich würfe froh Der Langeweile in den nimmersatten Schlund. Die faselten nun ewig von Unsterblichkeit, Von Seelenleben. Seele? Was ist Seele denn? Ausfluß des Blutes und Gehirns, so ahne ich, Abhängig völlig von des Leibes Regungen, Bethätigung des Körperlebens in Gedank' und Wort Durch ihn geboren, sterbend mit dem Leibe auch. O süßer Leib, du der Genüsse Zeugerin! Dich schmähen sie und nennen ein Gefängniß Dich, Das nur die Seele hemme in dem freien Schwung. Was soll das heißen? Dunkel ist mir dieser Spruch. Hab' je von freiem Schwung ich einen Hauch verspürt? Nichts da! Auf sogenannte Seele habe ich Nie viel geachtet, nur den Sinnen unterthan. Der Leib ein morsch Gefängniß? – Dies ist leider wahr, Daß er höchst unvollkommen für Genuß gebaut Und daß ich oft der Thiere Loos beneidete. Des Löwen Stärke und des Affen Leistungskraft, Des Elephanten Magen ist wohl neidenswerth. Insofern hab' ich allerdings gar oft gestrebt, Mich auszudehnen, diese schwächliche Natur Hätt' mit des Nashorns dickem Leib ich gern vertauscht. Doch sonst schien grad' die Seele mir ein Folterknecht, Ein dummer Richter, der mit frostiger Mahnung stets Durch das Gewissen uns die Lust vergällen will. Wenn wirkliche eine künftige Unsterblichkeit, Wo von dem Leib die Seele, wie man's nennt »befreit«, Verzicht' ich gern darauf, darf ich nur länger hier Im Erdenkothe waten. Ohne Leib – was nützt Mir weit'res Dasein noch? Giebt's drüben Straf' und Lohn, Für meiner Sünden Rechnung müßt' ich zittern dann. Doch Sünde – was ist Sünde? Sünde giebt es nicht an sich. Gesetz und Menschenbrauch erschuf nur diesen Wahn, Ein Freier höhnt der blöden Menge Formelzwang. Und jene Götter, (diese Dichter-Spottgeburt Sie sünd'gen wie die Menschen, übermenschlich fast. Der Göttervater, prachtvoll ist er nach dem Bild Der Künstler, die zwar lügen wie die Dichter auch. Die Locken, die ambrosischen, die Stirn, das Aug' Vor allem seine majestätisch breite Brust, Die mächt'gen Knie, der massige gewölbte Arm – Ach, ein Phantom, ein unerreichter Weibertraum, Ein Mann in jedem Zoll! Wie gerne wär' Ich seine Jo-Kuh und schmiegte tastend mich Europa gleich an ihn in brünst'ger Stiergestalt! Und wahrlich, wenn der Tod nun einmal droht, Den würd ich wählen, zu vergehn in seinem Arm, Semelegleich im Gipfel des Genusses grad'. Ach, all die prächtigen Götter lieb' ich sehnsuchtsvoll, Nur Amor nicht, obwohl ich ihm verpflichtet bin. Er ist ein Kind und kost und schmeichelt mir zu zart: Ich will kein Spielen unter Blumen, keinen Scherz, Nein grimmen Ernst und brünst'gen Kampf der Leidenschaft, Der strammen Mannheit Ringen nur befriedigt mich. Den sonnenlockigen Apoll, so schön er ist, Lieb' ich am mind'sten: Zu erhaben ist er mir. Der Mann, den ich begehre, habe wenig Herz Und gar kein Hirn – so paßt er mir zur Liebelei. Der listige Merkur, den auch sein Gold empfiehlt, Ist mir schon theurer. Ueppig schöner Bacchus gar, Wie möcht' ich dankbar pressen Deiner Lenden Rund, Weil Du den Wein, der Liebe Bruder, uns verliehn! Viel Reize hat der grimmig finst're Pluto auch: Er ist so süß gewaltsam, greift so unverzagt Mit Fäusten zu und wirbt nicht lange, stürmt sogleich; Vielleicht darf ich im Hades seinem Lager nahn, Abschmeichelnd als Proserpina ihm manche Gunst. Neptun, der sehnige Seemann, er gefällt mir sehr Mit seiner Muskeln strotzend rauher Ueberkraft, Ich denk' ihn mir ein wenig grob, er schimpft und schlägt, Ist sonst gemüthlich, kurz ein Muster-Ehebär. Doch ganz besonders, Mars, verehr' ich Deinen Reiz, Starkschenkliger Anbeter der Kythera Du! Wie oft genoß ich dieser Episode Kunst Im langweiligen Epos, das Homer geschmiert, Wo euch Vulkan in traulichster Zusammenkunft Verkettete! Wie lüstern das geschildert ist! – – Nun, wenn Du so der Venus huldigst, holder Gott, Ist nicht mein Mund gleich schwellend und gleich weich mein Schooß Gleich üppig nicht mein Busen wie der ihrige, Wenn meiner Wang' gesunde Röthe auch verblüht Im Fieberroth und schwülen Blaß der Leidenschaft? – Man sagt, das Roma's Stamm erzeugt, weil Du bezwangst Im Tiberhain die Rhea Silva, deren Kind Nachher die Wölfin säugen mußte. Nahtest Du Auch mir doch überraschend ungeladen so! Denn hier der Park Lukulls hat manche Rasenbank, Weich-warm und dunkle Lauben voll Verschwiegenheit: Besuche mich, ich lade Dich als Gast zu mir. Und brauchst Du eine Wölfin, dien' ich selbst dafür: Der Wölfin Brunst verglich man mit der meinen oft! Doch leider ist dies Alles Fabel und Phantom – Nicht Götter sind noch Dauer nach dem Tode, nein! Und dennoch möcht' ich's glauben, täuschend die Vernunft, Denn Nichtsein scheint mir doch das Allerschrecklichste. O wär' doch Seelenwandrung uns bescheert! Macht mich zur Wildsau oder Natter, tückisch geil, Zur Tigerkatze, wühlend in dem Eingeweid Der Unschuld mit der Kralle, die sie sonst verbirgt In Sammet-Pfötchen, dürstend nach der Opfer Blut! Nur, nur nicht Nichtsein! Dies allein ist fürchterlich! Macht zum verworfensten Geschöpf, zum niedrigsten, Zum wehrlos unterm Tritt gekrümmten Wurme mich! Nur laßt mir das Gefühl des Seins im Sonnenlicht, Des Athmens, sich Bewegens, Schlafens, laßt mir noch Des süßen Nichtsthuns Wonne, den Ernährungstrieb, Des Fressens Nothdurft und der Zeugung süße Qual, Laßt kriechen, brüten, paaren, wühlen mich im Staub! – Ja, selbst des Hades Marterstrafen zög' ich vor Dem ewigen Schlaf: Der Schmerzen Wollust lernt' ich dann. Der Probe werth auch dies für Unersättliche.

VII. Wer kommt? Wer seid Ihr? Ein Tribun – und Du erscheinst Ein Freigelassner? Evodus, so nennst Du Dich? Nun denn, was willst Du? (Jung und hübsch ist dieser Knecht, Vielleicht will er mich trösten in der Einsamkeit.) Willst zur Gesellschaft dienen und als Zeitvertreib, Nicht wahr? Wir wollen sehn. Nun, Du gefällst mir wohl. Ich mag Dich. Doch gewöhn' Dir ab den stieren Blick! Was starrst Du mich so an? – Komm her, ganz leise Freund! Schick' den Tribun doch fort, den Kerkermeister hier: Der alte Griesgram stört uns im Beisammensein. Wir wollen plaudern. – He, Tribun, was weilst Du noch? Ungnädig bin ich übrigens. Mein Lager dort Ist mir nicht weich genug. Hol' Pantherfelle her Und Wolle, Linnen, Lammvließ, seidne Kissen auch. Vale. – Mein Schooß ist um so weicher, Evodus. Komm, laß uns kosten, was uns Venus hier bescheert. Komm! – Nein, was grinsest Du so schauerlich? Das ist kein Wollustgrinsen, das ist Henkerhohn. Was packst Du so mich an? Das ist kein Liebesgriff. Ich mag Dich nicht. – Tribun! Noch stehst Du auf dem Platz? Ich hieß Dich gehn. Gleichviel! Jag' diesen Burschen fort, Er ist betrunken. – Keine Antwort? Hörst Du mich? Tribun, gehorche der Cäsarin! Furchst die Stirn, Ein finstres Lächeln huscht um Deinen bärtigen Mund? Was kündet das? Weh, sprich ein Wörtchen! Bist Du stumm? Riß aus dem Hals man Dir die Zunge? Ha, wenn nicht, So will ich's jetzt gebieten, daß Du künftig lernst Zu reden, wenn ich will. – O Zeus, noch immer stumm? Weh mir! Tribun, Du süßer treuer Römerheld, Du Säule unsers Staates, kannst Du weinen sehn Die gnädige Herrin und noch länger foltern sie? Ah! – Rette mich! Zu Hülfe, heda! – Ueber mir Ein Schwert?! – Du trunkner Sclav, wagt Deine Hand zu nahn Den heiligen gesalbten Locken? Wehe Dir! Das ist Verrath, Verschwörung! Fürchterlich soll meine Wuth Euch treffen, falls Du nicht die Klinge senkst sofort. Wie wagst Du's nur auf eigene Verantwortung? Was sagst Du da? Welch schrecklich Wort vernahm mein Ohr? »Auf das Geheiß des Cäsars, hier sein Siegelring!« 'S ist wahr! O Grausen, namenlose Todesangst! So muß ich sterben – noch so jung? Ich habe kaum Zur Hälfte den Pokal geleert. Genuß, Genuß! Entgleitest meinen Händen Du, o Zaubertrank? Ich schreie – höre mich! – O Leben, bleibe mir Tod – Nichtsein – Strafe – Ende – kein Genuß mehr – Schmach, Pein, ewige Pein – Vermodern – – Ah, so schlag' herab Du Blitz des Rächers! Stürze nur, Damoklesschwert! Was schwebt die Klinge über mir? Stoß zu! Verflucht sei Deine Hand! – Nein, gieb mir einen Kuß! Ich lechze noch nach einer Neige Sinnlichkeit! – Was, ich verschmäht? Du lachst mir in die Augen, Knecht, Stöß'st mich zurück? – Wie sollst Du büßen! – Nein, ich irrte mich, Du bist ein braver Bursch. Wie mild Dein Lächeln ist! So laß mich noch ein kleines Weilchen leben, Freund, Im angenehmen Sonnenlicht, ein Stündchen nur! – Zu lang schon wartest Du? So laß mich winselnd Dir Den Fuß umschlingen, mit Verzweiflungswuthgeheul Nach etwas Leben schrein! – Kein weiterer Verzug? So muß ich denn hinab? Nie darf ich buhlen mehr, Nie süßer Sünde fröhnen? – – Schuld gebiert den Tod, Das größte Uebel – Leben ist das höchste Gut. Tod – gräßlich! – – Ah, das traf! – Ein Schmerz noch – – und dann – Nichts.

Rechtsanwalt Isidor Knaller hatte mit Andacht den Kelch zur Neige geleert und leckte sich unwillkührlich die schmalzigen Lippen ab. War er doch ein gebüldeter Mann, der mit Vorliebe in Goetheana herumschnüffelte und die Liebesabenteuer jenes alten Herrn am Schnürchen auswendig wußte. Ob Goethe in platonischen oder andern Beziehungen zu Frau von Stein gestanden, darüber verlautbarte er schon manch schneidiges Wörtlein.

»Nein, nein, mein Hochverehrtester, auch das steht schlimm. Sie treiben's aber auch zu arg. Sie machen aus Ihrem Herzen keine Mördergrube und nennen ja alle Dinge beim rechten Namen. Aber ich bitt' Sie, so 'was geht doch nimmer an! War denn das je erhört? Bei Ihrer ›Messalina‹ wird man ja ganz aufgeregt.«

»Ei, das bedaure ich! Ich selbst verfolgte nur den sittlichsten Zweck, die Nichtigkeit der Sinnengier zu zeigen und ihre Strafe. Außerdem aber, was kümmert sich die Kunst um die Anstandsbücher einer Gouvernante! Ja, dies sind nicht die Geheimnisse der Alten Mamsell, dies sind die Geheimnisse der Messalina. Wem bin ich Rechenschaft schuldig, ich der Schöpfer? Ich thue was mir beliebt und singe, wie mir der Schnabel gewachsen ist.«

»Aber ich bitt' Sie!« Knaller schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Wer soll denn Ihre Werke lesen?«

»Die Männer.«

»Ach herje, wir haben doch alle zu viel zu thun, jeder in seinem Amt. Abends ist man müde, da spielt man Skat und trinkt sein Schöppchen Bier. Aber unsre Damen, die holden Schützerinnen der Litteratur –«

»Pfui Teufel!« Leonhart spie aus. Schreckliche Pause.

Der Rechtsanwalt saß geknickt da und murmelte: »Herr Doctor, Sie sind mir ein Räthsel. – Ja, aber die Gerichte, verehrter Herr, die Rechtspflege dieses Landes müssen Sie doch anerkennen. Unter dem Gesetz stehen doch auch Sie, Sie – Schöpfer. Nehmen Sie mir's nicht übel, aber die Herrn Dichter haben manchmal sonderbare Begriffe. Sie z.B. –«

Leonhart unterbrach ihn: »Ja, ich gebe es zu, ich habe mich nie als Bürger und sozusagen als Mensch, sondern immer nur als Dichter gefühlt, dem Dämon meiner inneren Mission alle Säfte meiner Jugend geweiht.«

»Hm, sehr – sehr interessant,« näselte Knaller. »Aber paßt das wohl noch in unsere nüchtern praktische Zeit? Da sind Sie doch schief gewickelt. Und dann – hehe – wenn Sie so ganz Ihren schönen Idealen leben, so sollten Sie doch eben das unpoetische Weltleben ganz unberücksichtigt lassen. Sehen Sie, unsere Damen – ich weiß das von meinen Cousinen her – hassen Sie ja gerade, weil Sie so – so realistisch, so unpoetisch denken. Sehen Sie, Julius Wolff – das ist ein gottbegnadeter Poet, der das Schöne pflegt. Aber Sie – sehen Sie, die Politik und die sociale Frage gehören doch nicht in das Reich des Schönen, der göttlichen Kunst.«

Leonhart hielt mit Mühe an sich. Ruhig erwiderte er: »Ja, mein lieber Herr Rechtsanwalt, ich begreife, daß Sie, ein so reichbesaittes poetisches Gemüth, das Ideale vertheidigen. Schönheit lebt nur in dem Reich der Träume, in Wolkenkuckucksheim. Aber wir Armen gehen einer ernsten furchtbaren Zeit entgegen, wo der hohle Schönheitscultus, die ästhetische Formfexerei sich endlich verkriechen müssen. Nur die Feder gilt dann noch, welche von Stahl ist – Gänse-und Schwanenfedern zerbrechen. In Bereitschaft sein ist alles.«

»Na, ich grüße Ihre Schwertfeder!« Der Rechtbeflissene räusperte sich vielsagend. »Aber Ihre Sache steht faul, so viel kann ich Ihnen nur sagen. Ich widerrathe Ihnen zu appelliren. Es kostet Ihnen nur ein schmähliches Geld und der hohe Gerichtshof« Knaller sprach dies Wort immer mit ehrfürchtiger Salbung, »kann ja nicht anders entscheiden als der Herr Staatsanwalt. Denn Ihre ›Messalina‹ – darüber sind wir uns ja alle wohl klar – ist ein unsittliches Erzeugniß, hehe!« Er kniff schelmisch ein Auge zu und zwinkerte den Dichter an, als handle es sich um ein vertrauliches Privatzugeständniß zwei schlauer Bierbrüder.

»Herr,« schrie Leonhart wüthend, »ich verbitte mir jedes weitere Urtheil darüber. Was verstehn Ihre verstaubten Codices von der höheren Moral eines Dichters? Ich Ihre Gesetzbegriffe respektiren? Nein und dreimal nein. Sie haben überhaupt keine Competenz, Höheres nach Ihrer Buchstaben-Elle zu messen. Ich kenne das: Das ist so der rechte juristische Größenwahn!«

Knaller sprang erregt auf. »Ich muß mir ernstlich verbitten, Herr Doctor –! Und Sie reden von Größenwahn – erlauben Sie, das ist günstig! Wie, Sie bestreiten die Competenz der Rechtskunde?«

»Gewiß thu ich das. Was versteht ihr Buchstabenkrämer vom Geist des Rechts? Alles glaubt ihr mit strenger Amtsmiene beschnüffeln zu dürfen und verstoßt doch in jedem Fall, wo ihr mit Buchstaben-Frevlern zu thun habt, gegen alle Rechtsmoral.«

»Das wäre! Demonstriren Sie das doch gefälligst an einem Beispiel!«

Leonhart sann einen Augenblick nach. »Ich hab's!« rief er dann. »Positus gesetzt den Fall, ein junger idealangelegter rechtsunkundiger Mensch –«

»Unkenntniß der Gesetze entschuldigt nicht,« fiel Knaller eilfertig ein.

»Aha, da haben wir's ja! – Nun also, der soll einen Wechsel unterschreiben, sagen wir mal: als Künstler für noch unbezahlte Leinwand oder Rahmen oder Farbentüben. Der Kaufmann aber, dem der Jüngling nicht ganz sicher scheint, gängelt ihn so beiläufig dahin, ob er nicht den Wechsel lieber im Namen seines Vaters oder Onkels oder Vormunds, bei dem er wohnt und dessen Erbe er ist, unterschreiben wolle.«

»Oho!« Der Rechtsanwalt spitzte die Ohren.

»Und der Jüngling in seiner Einfalt, begierig die Farben oder die Leinwand für sein Schaffen zu erhalten, da er zudem weiß, daß der Wechsel von dem Unterschriebenen honorirt werden wird, setzt arglos den Namen seines Vaters oder Onkels oder Vormunds darunter. Was sagen Sie dazu?«

»Hm,« Knaller wiegte nachdenklich sein Denkerhaupt. »Grobe Wechsel- und Urkundenfälschung. Zuchthaus ist das mindeste, was –«

»So und was bekommt der Händler, der ihn dazu verleitete, auf die Unwissenheit des Andern bauend?«

»Hm, so 'was ist schwer zu beweisen. Das Jus hält sich an Thatsachen.«

»Aha! Und wenn nun der Wechsel wirklich honorirt wird und sich herausstellt, daß der rechtsunkundige Urkundenfälscher im Grunde genommen nur pro cura geschrieben, etwa wie ein Redactionssecretär oder Verlagsprokurist sich als Redacteur oder Verleger unterzeichnet, falls er in deren Auftrage schreibt?«

»Bleibt ganz egal. Ein Wechsel ist kein Brief. Bekommt der Staatsanwalt das Dokument zu Händen, so geht die Klage von Rechtswegen ihren Gang und der harmlose Jüngling wird im Zuchthaus lernen müssen, daß ein deutscher Reichsbürger die Gesetze seines Landes zu kennen habe.« Knaller stand in majestätischer Pose da das eine Bein wie ein Ballettänzer vorgestreckt, unwillkührlich die Hand in der Brusttasche), als wolle er gerade eine Arie singen. Leonhart lachte laut und anhaltend auf.

»Dacht ich's doch! Ich habe dies Beispiel, das mir gerade durch den Kopf schoß, gut gewählt. Ich sag's ja: Was ist Wahrheit, fragt die Welt mit Pontius Pilatus. Buchstaben und Geist befehden sich in uraltem Kampf. Sie haben mich gar nicht verstanden, wie's scheint, wir wollen uns also nicht ereifern über ein Phantom. Der juristische Größenwahn, der für alle Fälle eine Formel im Futteral trägt und sich im Besitz der höchsten Weisheit wähnt, gleicht dem theologischen Größenwahn an Dummheit und dem Mediciner-Größenwahn an eingebildeter Selbstsucht – er disputirt über den ›schönen Fall‹ und doktert das kostbare Leben darüber zu Tode.«

»Erlauben Sie, mein Herr..«

»Jawohl, stellen Sie den Antrag auf Beleidigung der juristischen Fakultät! Ich selbst pfeife auf eine Rechtspflege, die z.B. noch nicht einmal die Entschädigung unschuldig Verurtheilter kennt. Recht! Wenn Allen geschähe nach Recht, wer wäre vor Schlägen sicher! Gott, der die Nieren prüft, urtheilt sicher gar verschieden und stellt manchen Mörder noch über seinen correcten Richter. Das Recht, das von den ewigen Sternen niederflammt – – Doch genug. Auf Wiedersehn, Herr Rechtsanwalt! Ich appellire bis ins Aschgraue – daß Sie's nur wissen! Also bitte bald den Termin zu betreiben!«

Als Isidor Knaller die Treppe hinabstieg, tippte er mit zwei Fingern gegen die Stirn, nachdem er den Kneifer abgenommen, sich die Augen gerieben und die Nase geschneuzt hatte: »Ein merkwürdiger Fall! Muß doch mit Sanitätsrath Niemeyer reden. Hochgradiger Größenwahn auf der Basis nervöser Zerrüttung.«

VI.

»Ach, erzählen Sie mir doch, hochverehrter Herr Graf!« Dondershausen stellte Krastinik auf dem Dönhofsplatz. »Wie ich höre, ist Ihr Freund, der Maler Rother, in Norwegen auf mysteriöse Weise umgekommen. Steht heute in der Zeitung. Er soll ja an Sie und den Genremaler Knorrer noch vor seinem Tod geschrieben haben.«

»Ja, aus Hönevoß. Einen ganz heitern Brief.«

»Ganz recht. Und ob ein Unglück oder ein Selbstmord vorliege, ist nicht ersichtlich. Er hat die Flasche mit Carbolsäure vielleicht schlaftrunken aus Versehen statt der Wasserkaraffe geleert – gräßlicher scheußlicher Tod! Aber wie, wenn bewußte Absicht –?«

Krastinik zuckte die Achseln und sah finster vor sich nieder.

»Ich weiß von nichts.«

»Hm, mir schien der Mensch immer krankhaft. O unsre Zeit! Alles Folge der schlechten Erziehung«

»Und was wäre denn eine gute Erziehung?«

»Die einzig gediegene Methode der Pädagogik ist die meines Kastellans daheim auf Schloß Dondershausen!« entschied der Oberst hochtrabend. »Dieser versammelt seine Buben jeden Sonntag Morgen, in der einen Hand eine Ruthe, in der andern eine Rhabarberflasche. ›Fehlt euch was?‹ ›Nein, Vater.‹ ›So? Man kann nicht wissen, wofür's gut ist. Da trinkt mal eins!‹ Sie schlucken pflichtschuldigst. ›Zeigt mal eure Schulbücher!‹ Nun findet er entweder Fehler und haut sie oder findet keine und haut dann der Aufmunterung wegen. So docirt er jeden Sonntag die Bitterkeit des Daseins mit Rhabarber und Haue! – Jaja, heut giebt's zu wenig Hiebe, daher schmeckt den Muttersöhnchen auch Mandelmilch wie Rhabarber.«

Krastinik biß die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.

»Wie gesagt, Rothers Brief an mich ließ keinerlei Mißstimmung spüren. Ich schrieb an seinen Intimus Knorrer (ich kenne ihn ja nur kurze Zeit), ob der vielleicht wisse – erhielt aber eine flüchtige kühle Antwort. Es machte auf mich den Eindruck, als ob Dem das Unglück nicht sehr nahe gegangen sei. Mein Gott, der Mann soll so viel mit seinen eignen Liebesgeschichten zu thun haben!«

Man wähnt, daß die leichtsinnigen Tom Jones immer die Gutmüthigkeit gepachtet hätten – mit Unrecht. Joviale Genüßlinge, denen ihr Vergnügen über alles geht, sind innerlich kalt. Krastinik mochte wohl richtig gerathen haben.

»Jaja,« Dondershausen gähnte, »unsre jungen Leute haben keine Lebenskraft. Glauben Sie mir, mein theurer Graf, Ihr Freund Leonhart nimmt auch noch ein übles Ende.«.

»Meinen Sie?«

»Ach ja, der Umgang mit ihm schadet Ihnen, glauben Sie mir«. Er vergaß im Augenblick, daß er gerade eine Stunde vorher an Leonhart das briefliche Ansuchen gestellt, doch ja in die Presse zu bringen, daß unser verdienter patriotischer Dichter Gebhart Lebrecht v. Dondershausen wieder mal einen Orden mit Schwertern und Eichenlaub durch erhabene fürstliche Huld empfangen habe. »Nun, was machen die Proben zu Ihrem Drama, Theuerster?«

»Es geht flott,« erwiderte Jener kurzab und empfahl sich nach flüchtigem Gruße. – Auf ihn hatte die seltsame Todesnachricht aus Norwegen doch einen tiefen Eindruck gemacht. Sollte der Unglückliche wirklich seiner wahnsinnigen allverschlingenden Leidenschaft zum Opfer gefallen sein? Und sollte irgendwie die bewußte Geschichte damit zu thun haben? Aber in Norwegen – kaum denkbar. Nun, was kümmerte Das ihn!

Auch aus England war betrübende Kunde zu ihm gelangt.

Dorrington's Gesundheitszustand schien wenig erfreulich.

Ob er seinen jungen Freund wohl noch wiedersehn werde? fragte er in seinem letzten Schreiben.

Da er bei Siechen vorüberkam, trat Krastinik ein, um in aller Eile einen Schoppen zu leeren. Zu seiner Verwunderung traf er Leonhart, der soeben die »Kreuz und Schwertzeitung« las. »Lesen Sie!« Damit reichte er dem Freunde das Junkerblatt, welches bekanntlich im Verleumden erbliche Traditionen pflegt.

»Es ist ein Unglück für ein jugendliches Talent, ohne den Ernst des Lebens und Strebens kennen gelernt zu haben, mit berufslosem Behagen sich dem sogenannten Dichter-Beruf zu widmen. Die schauernde Bewunderung aller mit-jugendlichen Zeitgenossen begleitet ihn und einige Jahre lang wird das Publikum fragen: ›Was, noch so jung und schon solch ein Hause von Büchern!‹ Noch länger wird es heißen: ›Für sein Alter sehr hübsch‹, bis man allmählich anfängt nachzurechnen, wie alt das junge Talent jetzt ist. Es überschleicht jeden Vernünftigen eine Wehmuth angesichts des Lebensganges solcher Wunderkinder. Wer sieht es später der armen leeren Hülse dort im Staube an, daß sie einst ihre Karrière als Rackete begann? Solche Empfindungen beschleichen uns angesichts des neuen Romans von F. Leonhart. Ganz so schlimm ist es zum Glück mit unserm jungen Autor nicht. Die erste Jugend hat er hinter sich, aber es droht ihm auch eine große Gefahr. In seiner überreizten Fruchtbarkeit liegt ein Mangel an echter Produktivität. Friedrich Leonhart hat ganz entschiedenes Talent, doch seiner frühreifen Leistungsfähigkeit sind zwei Eigenschaften beigesellt, welche die Entwickelungskraft im Keime zerstören. Jeder Dichter sollte sich Schleiermachers schönes stolzes Wort zu eigen machen: ›Ich gelobe mir ewige Jugend‹. Unvereinbar mit der Jugend des Herzens sind aber: Unbescheidenheit und Blasirtheit! Sehr oft findet sich Größenwahn mit einer liebenswürdigen und rührenden Kindlichkeit verbunden. Wo aber die Augen so scharf für menschliche Schwäche und Gemeinheit sind, wo die Verachtung der andern so erfahrungsmäßig und treffend begründet wird, da fehlt doch die Hauptbedingung der Jugend: Der Glaube an Ideale. Mit der Begeisterungsfähigkeit schwindet die gesunde lebenerweckende Kraft und der Jüngling wird zum Greise, ohne Mann gewesen zu sein. Das Maß ist voll, übervoll seiner maßlosen Selbstüberhebung. Schade um das schöne Leben! Was sind das für Züge seniler Blasirtheit und Frivolität! Möchte der junge Dichter doch unsere Wünsche berücksichtigen, die aus einem ernsten Wohlwollen entspringen: Hüte er sich vor seinen Freunden und lerne er von seinen Gegnern! A.v.F.«

Leonhart wand sich in Lachkrämpfen. ›Seht ihr es nicht, das hirnverbrannte Weib?‹ citirte er aus Kleist. »A.v.F.! Aurelie v. Fellmarch! ›Hüte er sich vor seinen Freunden‹ – diese Mahnung aus diesem Munde! Pfui Deibel!« Er spie aus.

»Sollte man nicht eine solche Frechheit sofort festnageln?« rief Krastinik zornglühend. »Ich an Ihrer Stelle –«

»Pah, pah, ruhig und fein still darüber! Gleich kommen Holbach, Luckner und sogar der großmächtige Wurmb, die mich mal wiedersehn möchten. Wahrscheinlich wollen sie mich wegen irgendwas aushorchen.«

»Da geh ich um so schneller. Hab' ohnehin keine Zeit. Muß ins ›Deutsche Theater‹, um mit Friedmann und Förster zu reden – die Herrn machten heute in der Probe einen Fehler in ihren Rollen. Auch mit Fräulein Sorma klappt es nicht recht.«

»Na, die ist wohl verdammt liebenswürdig gegen Sie, he?«

»Na i glaub's halt! Ein Graf! So 'was sieht man nicht alle Tag'!« Krastinik lachte bitter. »Also adieu, mein Engel. Hahaha, ich bin doch herzlich gespannt auf den Skandal, wenn nun nachher – –«

»Sst, die Wände haben Ohren.«– –

Leonhart starrte finster in sein Glas. Heute Nachmittag war er mit jenem Mädchen, das er halb gezwungen verführt, im Thiergarten umhergebummelt. Sie schrieb ihm jeden Tag Briefe, die ihn in Verzweiflung setzten, und so hatte er denn heute zwangsweise zu einem Stelldichein sich eingefunden. Da, als sie in einem abgelegenen Theil des Gehölzes sich in einen Dickichtwinkel zurückzogen, hatte er bei zufälligem Hinausspähen ein Gesicht bemerkt, das hinter einem Baumstamm etwa 50 Schritt entfernt hervorlugte, offenbar mit der löblichen Absicht, eine etwaige Missethat auf dem Fleck zu ertappen. Als Leonhart ihn strategisch wegmanövrirte und seine Rückzugslinie bedrohte, verschwand der Strolch laufend in der Lichtung. –

Dies komisch-unheimliche Bild verfolgte die nervöse Phantasie des Dichters. Fortwährend schien ihn aus jedem Winkel ein tückisches Auge anzublinzeln, ein frecher Mund anzugrinsen. Er schauderte – diese Hallucination des Verfolgungswahns schien ihm typisch für sein ganzes unseliges Dasein, das von tausend Tückebolden allerorts bedroht.

Das Eintreffen Holbachs, Luckners, Wurmbs weckte ihn aus seinem Brüten. Mit Letzterem ward eine frostige Versöhnung gefeiert und bald befand man sich in lebhaftem Gespräch über das Ding an sich. Wie gewöhnlich stellte Holbach, weil ihm das in seinen Kram paßte, den Grundsatz auf, das eigentliche Grundmotiv aller Handlungen sei immer ein erotisches. Mit jeder neuen Geschlechtstriebbethätigung werde immer ein Brett vorm Kopfe weggenommen. Leonhart sei nicht erotisch genug; da liege der Kernpunkt all seiner Weltschmerzelei. Dieser aber dachte so für sich hin: »der tiefbedächtige schlaue Bukingham soll nicht mehr Meister meines Rathes sein.« Er glaubte nämlich, daß Jener ihm nachspüre und darauf laure, eine schwache Seite zu entdecken. In der That fing er auch ein paar Mal einen durchdringenden Blick Holbachs, weitvorgestreckten Halses, auf, in dem ein dumpfer Haß schillerte. Als Leonhart mit seiner gewöhnlichen Bissigkeit einige anzügliche Bemerkungen über einen Händewascher Holbach's loßließ, rief dieser emphatisch: »Ach, der ist ja so harmlos!« Aber er selbst sah dabei verteufelt wenig harmlos aus, in der vollen Gloriole seines Edelmuths und seiner Deklamation wider schnöde Pharisäer. »Pah, er hat so wenig Aeußeres!« machte er, als Leonhart wie gewöhnlich die Genialität Schmollers herausstrich, da die Rede auf diesen kam. Dies empfand nun wieder Wurmb unangenehm obschon er sich ja für einen sehr schneidigen Kerl hielt, dabei aber Holbach's »vornehme« Erscheinung grimmig beneidete. Man dürfe doch nicht ewig, wie Holbach dies thue, die Leute nach ihrem Exterieur beurtheilen.

Leonhart lachte laut auf: »Wir sind doch alle eitle Gecken. Sage Du einem Weisen, der das Ding an sich und die Phänomenologie des Weltganzen intus hat: ›Liebster, Sie sind häßlich wie ein Affe‹, so vergißt er Dir das sein Lebtag nicht. Auch wird er Dich darüber belehren, daß alle großen Männer häßlich waren, z.B. Voltaire, und daß er daher schon seiner Häßlichkeit halber ein großer Mann sei.«

»Jaja, 's ist sehr nett, die Motive der Andern zu durchschauen, wenn man sich dabei nur Selbsterkenntniß bewahrt, mein Theurer!« meinte Holbach mit vielsagendem Blick. Er schauspielerte sich selbst wieder was vor und brauchte unablässig das Gleichniß vom »Splitter und Balken«. Er redete gut von Andern aus purer Diplomatie und flocht manche Andeutung über seine Großmuth gegen eigene Spezial-Schützlinge ein, welche er gleichsam als Ablaß für seine Sünden benutzte. Alles verstehen heiße alles verzeihen.

»Ja gewiß, gleichsam platonisch ist das auch meine Ansicht,« meinte Leonhart trocken. »Das Leben aber ist stählern und verlangt eine andere Politik. Man hüte sich vor denen, die Tugend und Idealismus unnützlich im Munde führen, aber auch vor den allzu feurigen Bekennern der Nachsichtstheorie. Es ist die thörichteste und schädlichste Philantropie, die Taugenichtse und Schwächlinge zu unterstützen auf Kosten der ernsten Kämpfer, die eher sterben, als sich ergeben.«

»Ja, Du hast sehr harte Ansichten,« gab Holbach achselzuckend zurück.

»Ach Gott, die Welt regulirt sich ja doch danach, gerade wie das Gewissen beim Einzelnen der Regulator des Willens sein mag. Wer weint, wird von Jedermann geohrfeigt. Man sieht das bei den Kindern, diesen harmlosen Ur-Egoisten. Nur wer wiederhaut, findet Mitleid. Der Stärkere hat Recht.«

»Sehr gut.« Luckner lächelte spöttisch. »Darum hauen Sie also so viel. Will hoffen, daß Sie stets der Stärkere bleiben.«

Leonhart nickte beschaulich und äußerte: »Alle Angriffe gegen mich, selbst die anfangs gelungenen, – es ist, als ob eine unsichtbare Hand sie von mir zur Seite lenke und auf die Urheber zurückschlage.«

Die Andern sahen sich an. »Nun, wenn das nicht completter Größenwahn!« dachte Holbach und runzelte unwillig die Stirn. »Das ist doch seltsam, bei Gott!«

Wurmb rückte unruhig auf seinem Stuhle hin und her, indem er sich die Brille zurechtschob. Er schien an einem großen Wort gelassen zu würgen. »Hören Sie,« hob er plötzlich an, indem er energisch den Deckel seines Biertrugs zuklappte. »Ich bin nicht so talentvoll wie Sie – das weiß ich wohl.« Gotthold Ephraim brummelte dies mit sauer verdrießlichem Gesicht und hielt sein Zugeständniß für sehr bescheiden, obschon es in Wahrheit nur von bodenloser Unverschämtheit zeugte, da die unüberbrückbare Kluft zwischen dem Genie und seiner Winzigkeit ihm gar nicht sichtbar schien. »Ihre enorme Produktivität – in diesem Punkte kann ich mich ja nicht mit Ihnen vergleichen. Aber über den Realismus, nehmen Sie mir's nicht übel, denke ich reifer als Sie.«

»Es war einmal ein großer Dichter, der den Realismus als Maske benutzte,« murmelte Leonhart halblaut. Hier kam die Rede auf einige Zierden des jüdischen Jungdeutschland, die mit wenig Talent und viel Behagen ihren Kohl pflanzten und mit fabelhafter Geschicklichkeit eine Leitersprosse nach der andern emporkrochen, theils als geschmeidiger Ohrwurm, theils als kecker Radau-Husar. Leonhart sprach sich sehr wohlwollend aus. Wurmb aber nannte sie »ebenso frech streberhaft wie frech eingebildet.«

»Eingebildet? Worauf denn?« lächelte der Dichterdenker.

»Ach je!« fiel Luckner giftig ein. »Wir halten uns doch alle für den jungen Goethe.«

»Das ist hier keine passende Antwort darauf, mein Lieber!« mahnte Leonhart leise und ruhig. Es lag etwas in diesem milden Ernst, was den schnodderigen Neidtrotz entwaffnete. Er bekannte dann in längerer Rede, daß er sich in Gesellschaft talentvoller Juden viel wohler fühle, von deren Energie, gesunder Weltlust und Unabhängigkeitsgefühl sympathisch berührt, als inmitten weltschmerzwinselnder und philosophischer Germanen. Fleiß wirke auf die allgemeine Moral günstig zurück und rüstige Streber seien ihm lieber, als faule Impotente. Als er aber dann auf die deutsche Nation schimpfte, welche jedes wahren Idealismus und jedes Kunstgefühls entbehre, da erhob sich Wurmb in seiner Würde als deutscher Mann und donnerte ihn gehörig nieder. Der Dichter müsse darben und entsagen, nicht durch schnöden Botenlohn seine erhabene Bestimmung entweihen. Schiller – ja, Schiller! Eben deswegen! Seht ihr, sogar Schiller hat so viel gelitten. Also dann könnt ihr Kleinen doch erst recht leiden!

So saugt der Philister aus allem nur das Gift.

»Jaja, Federigo, Dir fehlt eben die lieblichste Tugend: die Lebensklugheit. Du machst Dir tausend Feinde.« Holbach klopfte ihn herablassend mit seiner breiten Bärentatze auf den Rücken.

Der Unkluge zuckte die Achseln: »Jeder folgt instinktiv seiner Naturanlage und so bin ich vielleicht schlauer, als ich selbst denke. Ein Andrer würde sich mit meinem Vorgehen ruiniren. Ich hingegen kann es nur so zwingen.«

»Du wirst Dich noch ändern, Dir die Kanten abschleifen!« meinte Holbach wohlwollend.

Leonhart lachte auf. »Aendern! Der Mensch ändert sich nie, die in ihm schlummernde Vererbung entwickelt sich logisch fort und die Umstände beeinträchtigen sie nicht. Bedenkt man alle Dummheiten seines Lebens, selbst die tollsten, so erkenne Jeder, daß er unter gleichen Umständen just ebenso handeln würde. Nichts lächerlicher als die Phrase: ›Wie der Mensch sich geändert hat!‹ Eil: Hitzkopf bleibt ein Hitzkopf, ein kalter Weltmensch bleibt ewig derselbe, alles Andere ist äußere verbrämende Maske.«

»Jajaja,« Holbach zog mißmuthig den Mund schief. »Aber ich rathe Dir doch, endlich die Krallen einzuziehn und das Schimpfen einzustellen.«

»Da hast Du allerdings Recht. Schimpfen ist nur Verschwendung. Seine wahre Verachtung kann man der Welt nur bezeugen, wenn man sie mit denselben Mitteln schlägt.«

Hier unterbrach ihn großes Hallo, indem eine ganze Horde verdächtig aussehender Individuen sich in die Bierstube ergoß und die vierblättrige Tafelrunde mit einiger Zudringlichkeit begrüßte. Lauter Vertreter der öffentlichen Meinung, sogenannte Preßbengel, welche soeben die Weltdichtung »Germania, Ballet in 15 Tableaus« mit aus der Taufe gehoben hatten. Der Therpsichore-Dichter, nach glücklich überstandener Première mit dem Schweiße des Edlen und obligatem Lorbeer gekrönt, befand sich in aller Munde und in aller Mitte. Man setzte ihn an die Spitze der Tafel neben Holbach nieder und hieß die beiden berühmtesten Reklamedichter sich gegenseitig die Hände schütteln.

Da die Stunde schon vorgerückt, warf man des Tages Sorgen völlig ab und widmete sich, jedes litterarische Gespräch als Fach-Simpelei verpönend, nun mehr völlig dem innigsten Klatsch.

Alle fingen vice versa an, sich zu entschuldigen wegen allerlei kleinen Schmutzereien, nach dem Grundsatz: Qui s'excuse, s'accuse. Wer, ohne daß man ihn darum fragt, plötzlich sich zu vertheidigen anfängt, wird sicher von einem Gewissensbiß gequält. Der Eine, ein vereidigter Syndikus aller Preßaffairen, erzählte allerlei Prozeßchikanen ohne Pointe. Ein Andrer, ein wichtigthuender Affe, stocherte mit seinen ungewaschenen Fingern in den Affairen anständiger Leute herum und fabelte schwungvoll. Dann lobte man sich gegenseitig unverschämt ins Gesicht.

Leonhart lächelte verschmitzt. Der Eine von den Herren, ein hochgemuther Vorfechter der Schriftstellerrechte, hatte einem armen Blaustrumpf in aller Stille ihre Sparpfennige durch Eheversprechen abgeschwindelt. Der Andre, ein fetter Lustspielfabrikant, hatte eine Kellnerin geheirathet, um 4000 Mark zurückzubekommen, die sie ihm nach und nach abgeknapst und dann auf Zinsen gelegt hatte. Die Gerissensten fallen immer mit solchen Weibern am leichtesten herein. Ein andrer wohlklingender Autor aus Oesterreich, Namens »Edler von Ferchwan«, hatte die Tochter einer Souffleuse geheirathet, um sich durchzumästen, da er als Mitglied eines sogenannten »Schmieren«-Theaters verhungerte. Die arme junge Frau war aber sehr schwächlich. Es wurde also contraktlich festgesetzt, wie oft er seine Eherechte üben dürfe, wofür er dann Wohnung und Atzung frei erhielt: im Uebrigen führte Schwiegermutter die Kasse. – Es ist doch immer hübsch, wenn man solche Personalia aus der Vergangenheit eines Mannes zu klatschen weiß, der jetzt als erfolgreicher Possendichter im Golde watet. Ja, der hatte kein Pech an den Fingern!

Leonhart hörte schweigend zu und machte seine physiognomischen Studien. Jedem stand als Lebensdevise aufgebrannt: Die Zunge zum Lecken 'raus nach oben und den Stiefelabsatz drauf nach unten; so, mein Sohn, wird Dir's wohlgehn und wirst Du lange leben auf Erden. Zur Feder griffen diese Leute, wie ein Schuster zum Pfriemen. Sie kannten keine andern Dichterschmerzen als die ums »tägliche Brot«. Die Kunst vom Standpunkt der Wohnungsmiethe aus! Was kann man auch von einer solchen Geschäftslitteratur anders erwarten! Unter all den Klatschweibern und Spekulanten des »Marktes«, für welche die Litteratur nur die melkende Kuh bedeutet, fühlte sich Leonhart manchmal wie ein Mensch unter Larven und Mollusken, wie ein Fremdling aus andern Welten.

Er dachte, was wohl wirkliche Künstler fühlen möchten, wenn sie diese Geldschmerzen der Ritter vom Geiste mit den ihren vergleichen. Z.B. der Bildhauer, der das Modell einer großen Gruppe zerschlagen muß, falls es unbestellt bleibt – weil in seinem Atelier kein Raum mehr dafür bleibt und der Thon zerbröckelt. Welches Gefühl, wenn er auf eigene Faust das Kind seines Geistes und seiner Arbeit, großgesäugt in kummervollen Tagen und Nächten, zerschlagen muß! Und der Dichter, der seine Manuskripte verbrennt, weil er keinen Verleger für so Hohes findet!

Ach, wie gerne hätte er wie Karl Moor fürchterlich Musterung gehalten unter dieser Bande, auf daß da Heulen und Zähneklappern sei in Juda und Israel!

Doch warum, wozu? Diese Sorte wird ja doch ewig die Litteratur als ein Leihamt oder ein Hospital betrachten, jeder tief davon durchdrungen, daß er leben und gedeihen müsse, natürlich auf Kosten der Fleißigen und Talentvollen. »Ich sehe nicht die Nothwendigkeit ein,« dachte Leonhart, wenn er den bekannten Appell an das gute Herz des »Collegen« über sich ergehen ließ. Der Gedanke, daß das Gedeihen eines Genies für die Welt hundertmal wichtiger, als das von zehntausend Dutzendschmierern, konnte diesen Durchschnittsgehirnen ja ohnehin nie dämmern. Und daß es nur eine Todsünde der Inhumanität gebe, nämlich Niederduckung des Bedeutenden und Aufblähung des Mittelmäßigen, schien ihnen noch schleierhafter. Die allgemeine Verdummung und seichte Verkommenheit machte nicht nur das Aufkommen, sondern sogar das bloße ahnende Erkennen eines großen Dichters unmöglich. Hier gab es lauter große Dichter! Jeder grüne Junge, der mal ein Buch verbrochen, sandte es: »Seinem Genossen Leonhart in collegialischer Kameradschaft.« Jeder, der etwas leidlich Tüchtiges leistete und das Wohlwollen des großen Dichters ausnutzte, fühlte sich in Vorreden eins mit ihm oder zählte ihn mit zehn andern bunt zusammengewürfelten »Namen« in einem Athem als gleichberechtigten »Mitstreiter« auf. Hält doch das Hündchen sich stets selbst für den Löwen, wenn der gutmüthige Leu mit ihm spazieren geht! War doch das litterarische Leben zu allen Zeiten eine Verschwörung der Talentlosen gegen die Talente, der Talente gegen die Genies! Schwer fällt es der Mitwelt, mit sehenden Augen zu sehen. Und die sittlichen Begriffe stumpften sich so ab, daß man die Unsterblichkeits-Assekuranzen als den Normalzustand hinnimmt. Auch unterscheidet sich ja die Presse erheblich von der Straßen-Prostitution: Letztere ist für Geld feil, erstere aus – Passion. So wurde denn die Muse zur Milchmagd, zur schwatzhaften Gevatterin, zum kichernden Backfisch, zur faselndeln Großmutter. Die bramarbasirenden »Idealisten« und die angeblichen »Realisten« ersticken mit ihrem Tamtam die Stimme der Dichterdenker mehr und mehr. Sahnenpoesey, aufgewärmter Mumienkohl, Schweinekarbonaden mit sentimentaler Zwiebel und Berliner Paprika genügt – gegen solche Tafelgenüsse vermögen Nektar und Ambrosia nicht aufzukommen. Ueberall Verwirrung der Begriffe. Die Sonnen sind erloschen, kein Mond zieht feierlich am Himmel herauf. Rings lastet tiefe Nacht, nur durchleuchtet von zuckenden Blitzen. – –

Leonhart fuhr aus seinem Vor-sich-hin-brüten auf; er hatte stier in sein Glas geblickt, während der Wortschwall schleusenlos um ihn her brauste. »Sie wollen schon gehn, Herr Kollege?«

Als Leonhart gegangen, wurde über ihn das Verdikt gefällt, er sei eine nervös überreizte Natur, aber ein sehr anständiger Mensch. Nur leide er an allzu tollem Größenwahn. Doch bemerkte ein Wohlwollender: »Wer litte heut nicht daran!« und man ging zur Tagesordnung über.

Daß ein gewisser Unterschied zwischen dem »Größenwahn« verkannter Größe und der hohlen Selbstaufblasung hohler Nichtse bestehe, diese Idee schien Keinem beizufallen. Denn kein Wörtchen wird ja heut lieber mißbraucht, als das ominöse »Größenwahn«. Zerlegt man das Wort in seine Bestandtheile, um sich über den Begriff klar zu werden, so ergiebt sich »Wahn« einer »Größe«, die nicht existrt. Wo also wirkliche Größe hervorleuchtet, bleibt der Wahn ausgeschlossen. Heut aber in unsrer nivellierenden Trivialität würden wir Christus ebensogut wie Shakespeare und Michel Angelo des Größenwahns bezüchtigen.

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Das Genie hat nie etwas davon gewußt, daß das »Genie immer bescheiden« sei. Diese bequeme Doktrin hat sich das Philisterium erfunden, um sich der Heroenverehrung entschlagen zu dürfen. Denn dieser Einbildung liegt nur das Prinzip zu Grunde, daß Rentier Schulze ein ebenso wichtiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft sei, wie das unbequeme und nirgends nach Schablone einzuschachtelnde Genie. Wäre freilich das Genie »bescheiden«, so würde Schulze es völlig übersehen; sobald es aber hochmüthig auftritt, ruft man ihm zu: »Sie sind kein Genie, weil Sie nicht bescheiden sind – so bescheiden, wie Bonaparte, Byron, Goethe, Schiller, Jean Paul, Kleist, Racine, Victor Hugo, Richard Wagner und all die anderen bescheidenen Größen.« Ein meisterhaftes Manöver, das nach beiden Seiten hin deckt. – So kraß und nackt ausgedrückt, scheint vielleicht Karikatur, was doch nur buchstäbliche Wahrheit ist.

Es wirkt unbeschreiblich komisch, die sittliche Entrüstung und Abneigung zu verfolgen, mit welcher Jedermanns Eitelkeit kollert, sobald Jemand sich für etwas Besonderes hält. Die Ochsen, die ein rother Lappen blendet, stoßen mit heißhungrigem Grimm ins Blaue. Von einem gewissen Shakespeare hieß es grollend, er halte sich für den einzigen »Shakescene« (»Bühnenerschütterer«); er sei ein strebernder Hausdampf in allen Gassen (»Johannes Faktotum«); ein Eklektiker, der jeden Stil nachahme, sogar ein Plagiator. Wenn man ihn mit Meister Ben Jonson vergleiche, da sehe man, wie dilettantisch und verfehlt seine Versuche seien, so größenwahnsinnig er auch sein Froschtalent aufblase.

Also quakten aus ihrem Sumpfe die Greenes, Kyds, Dekkers, Haywoods und all die andern Gebrüder.

Shakespeare aber, so bescheiden wie das Genie nun einmal ist, schrieb in sein Sonett-Tagebuch: »Nicht Marmor noch der Könige vergüldete Denkmäler werden überleben mein machtvolles Lied, das da währen wird bis zum jüngsten Gericht, bewundert von noch ungeborenen Geschlechtern.«

Wie kann man gegen das Selbstgefühl des Verdienstes etwas einwenden, wenn man die Großmannssucht all der hohler Impotenzen damit vergleicht! »Schriftstellerrepublik« – ja wohl! Aber jede Republik hat ihren Präsidenten und es giebt ebensowenig eine Gleichheit der Geister, wie der socialen Bedingungen.

Die Litteraten unter sich wollen auch gar keine Republik, sondern Anarchie, wo jeder naseweise Reporter sich als stimmberechtigt neben dem Dichter fühlt und jeder Zaunkönig den Adler »Kollege« schimpft. Eine Republik von lauter Königen – Percy, Prinz Heinz, Falstaff und seine Rekruten in Reih und Glied nebeneinander. Diese Disciplinlosigkeit schadet unendlich. Denn sie bildet die auf Gegenseitigkeit arbeitende Kameraderie aus, welche das Bedeutende nur anerkennt, wenn sie selbst als bedeutend begrüßt wird.

So kommt das Große nicht auf und andrerseits vergeht dem Großen die Lust, wohlwollend das Kleinere zu fördern, weil dieses sich sofort in zu hohe Kothurne unterschnallt.

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»Da kommt ja zuletzt noch was Schneidiges!«

Um eine zugige Ecke biegend, begegnete er einer alten Freundin, Adele der Chansonneuse mit dem griechisch-gemeißelten Köpfchen und dem griechischen Haarknoten, die aus einem Café Chantant in der Alexanderstraße nach Hause wanderte, pflichtschuldig der Polizeistunde 11 gehorchend. Dies freudige Wiedersehen zu begießen, nahm er sie in ein Bierlokal mit und erkundigte sich lebhaft, was denn seine alte Flamme, die Polin Wanda, mache, die sich vom »Geschäft« zu ihrem Liebhaber, einem Xylographen, zurückgezogen hatte und mit ihm wirthschaftete.

»Ach Jott, die erkundigt sich immer noch nach Ihnen, ob Sie mal wieder zu uns ins Lokal kämen; dann will sie immer alles haarklein wissen, was Sie jeredet haben. Ja, Wanda hält immer noch große Stücke auf Sie. Neulich sprachen wir noch von dem letzten Mal, wo wir uns sahen, da am Halle'schen Thor, wo ich bekneipt war und wie Ihr Euch auf offener Straße so abküßtet. Wie ich noch sagte: ›Ach, die Wanda ist gar nicht so stolz! Die nimmt alles!‹ Und Sie ihr nachher das Armband schickten. Und dann war's auf einmal mit der Liebe zu Ende.«

»Ja, weil sie mich die ganze Zeit über belogen hat!« brummte er mißmuthig. »Selbst als ihr Kerl sie eines Nachts abholte und ich sie mit ihm absegeln sah, schwor sie Stein und Bein, das sei eine Andere gewesen.«

»Quatschkopf! Warum läßt Du Dich auch so anlügen?« Die kleine Adele schien immer noch so ausfallend wie früher. »Aber interessirt haben wir uns für Sie doch immer, wir alle Beide. Aber ich hab' ihr immer gesagt: ›Heirathen thut er Dich doch nicht.‹ Neulich waren Sie ja bei uns in der Alexanderstraße mit'n paar Herrn.«

»Ja wohl und Du hast mich gar nicht gegrüßt.«

»Ich wußte ja nicht, ob Sie nicht wünschten, nicht gegrüßt zu werden. Leute in meiner untergeordneten Stellung –« Sie verzog schnippisch den Mund.

»Halt den Rand, Fischerin Du Kleine!«

»Ja und dann war ich auch wüthend auf Sie, weil Sie sich so lange nicht nach mir umgesehn haben. Das heißt, ich –« sie simulirte reizende Verwirrung. »Man braucht ja keine Gefühle zu haben, aber nur so aus Freundschaft. Wir kennen uns doch nun schon sechs Jahre. Erinnern Sie sich, da auf der Treppe bei Wanda –« Sie kicherte.

»Du trugst den Dolch im Gewande. – Nun, wie geht's sonst?«

»Schlecht. Ich weiß die Leute nicht zu nehmen. Von Leuten in meiner untergeordneten Stellung verlangt man Dummheit. Und die Dummen sind immer klüger als die Klugen.«

»Hört, hört! Sehr wahr!« murmelte er. »Also Wanda ihr Verhälniß –«

Hier erhob Adele sofort Zoll für ihre Mittheilsamkeit: »Ich möcht' was essen,« worauf sie später kauend allerlei Interessantes zum Besten gab. Die Wanda sei ja verrückt, sich mit so 'nem jungen Menschen wie ihrem Xylographen zusammenzukoppeln, blos weil sie hoffte, Der würde sie doch noch heirathen. »Den nähme ich nicht, in Watte gewickelt und in Gold dazu! Aber das muß man sagen, gut ist er zu Wanda und läßt nicht von ihr!«

»Dann muß er aber doch ein edler Mensch sein. Das erhöht nur meine Achtung.«

Leonhart wurde nachdenklich. Ja, das war Liebe! Nur in den unteren Regionen blühte dies Blümlein noch. Wanda mit dem vornehmen Gesicht und dem guten Herzen – hatte er sie nicht wirklich geliebt? Als Adele mal in der Charité lag, waren sie Beide zu ihr hingewandert, um ihr Bücher und Leckereien zu bringen. War das auch nur geträumt?

Ihn durchrieselte ein trübsinniger Humor. Wie entehrend drollig, diese unfreiwillige Komik! Was hätte die Neugier der Welt wohl darum gegeben, den berüchtigten Geistesheros hier mit zweideutigen Weibern als langjähriger Kamerad über allerlei obscure und unmögliche Verhältnisse plauschen zu hören!

Die biedre Adele, mit welcher er so manchen Scheffel Salz gegessen, wußte von ihm sonst gar nichts, wie so etwas nur in Berlin möglich ist. Fragte ihn beim Abschied (weiß Gott woher sie diese Andeutung schöpfte), ob er jetzt viel mit den Wahlen zu thun habe. »Nur mit der Stich-Wahl, Kleine!«

Es schnob ein eisiger Wind. Leonhart humpelte schlaftrunken und mit Hühneraugen behaftet nach Haus. Er wohnte in der Bendlerstraße.

Es wurde schon hell. Noch brannten einige verspätete Laternen. Ihr Licht sah röthlich aus, offenbar durch den umrahmenden Gegensatz des dünnen weißen Morgennebels, der über allen Bäumen hing.

Auf dem Teich der sogenannten Rousseauinsel schwammen einige Schilfpflanzen hin und her in der dunklen Tiefe. Der Dichter verselte unwillkürlich, er konnte nichts dafür.

Ihr liebt o, Wasserrosen,

Zu schmücken die dunkle Flut,

Ein Garten bleicher Blüthen

Ueber der Tiefe ruht.

Bis meine dunkle Seele

Wollustberauscht erbebt,

Ueber ihr duftend und leuchtend

Meiner Lieder Fülle schwebt.

Schneeiger Mondstrahl fluthet

In die schneeigen Kelche hinein –

Da zuckt vom Himmel hernieder

Gespenstiger Wetterschein.

Es wirbelt aus tückischer Tiefe

Unheimlich mit dunkler Gewalt –

Und alle Blumen versinken

Und alles ist todt und kalt.

Oben in seiner Kammer (er wohnte natürlich nahe dem Himmel) hatte sich ein Nachtfalter verfangen, der lärmend herumrumorte. Draußen rauschte plötzlich ein Regenguß hernieder und klopfte eintönig auf das Fensterbrett. Wie der eisige Griff des Todes schauerte es den Einsamen an, und ehe ihn der Bruder des Todes mit seinen weichen Armen umfing, quoll ihm die Frage von den bebenden Lippen:

Die Astern draußen verkümmern

Einsam im Regensturm.

Im morschen Holzgetäfel

Pocht der bohrende Wurm.

Eine Motte einsam flattert,

Wo die Kerze einsam loht.

Wer ist hier das Leben?

Wer ist hier der Tod?

In seinen unruhigen Schlummer drängte sich ein Bild der Vergangenheit, aber in seltsamer Gestaltung, die er sich wachend nicht zu erklären vermochte. Das linke Auge lag blutroth wie eine Wunde in dem zarten Haupt. Aber mit rührender engelgleicher Geduld schwebte die zarte Gestalt hin und her, und plauderte wehmüthig freundlich. Eine unsägliche Zärtlichkeit durchströmte sein Herz, als er auf das süße liebliche Antlitz herniederschaute.

Immer noch litt er an der Krankheit, sich um das Urtheil der Andern zu kümmern, während er sie doch tief verachtete. Auch schwankte seine Menschenkenntniß krankhaft hin und her. Sprach er grade mit den Leuten, so ließ er sich dupiren; waren sie ihm ferngerückt und überdachte er ihr Wesen, so durchschaute er ihre Motive wie dünnes Glas. Andrerseits konnte er Menschen antipathisch im ersten Augenblick betrachten, um im nächsten bei seiner überzarten Gerechtigkeitsliebe, sobald dem persönlichen unangenehmen Eindruck entrückt, versöhnlich und milde zu denken. Ihm mangelte gänzlich jener letzte eingeborene Instinkt der Selbstsucht, der keine andre Rücksicht als das persönliche Interesse kennt und alles nur unter diesem Gesichtspunkt beurtheilt, fremd allen sonstigen Einflüssen. Auch seine Eitelkeit blieb immer noch zu reizbar und vergab keinem Dummkopf seine Albernheiten. Er dachte an sein Erstlingswerk, das er in frühster Jugend veröffentlichte. Darin gab es bei aller Unreife der Form schon Stellen, welche einen scharfsichtigen Kritiker mehr als überraschen, welche befremden mußten. Es klang darin, wie das unbeholfene Lallen eines großen Dichters. Wer aber unter den elenden Kritikastrirten hatte das erkannt! Ueber die schwerfällige Form, das Aeußerliche, konnte das Verständniß der Mehrzahl kaum hinwegkommen. Das war seine erste Erfahrung gewesen und wie zahllose sollten noch folgen! Nun hat ja freilich alles seine Vorzüge und alles seine Fehler. Es liegt also in der Natur der Sache, daß wir an unseren Sachen nur die Vorzüge, die Feinde nur die Fehler sehn. Man warf ihm vor, daß er sich zersplittere. Allein, sein umfassender Geist hatte seine Wurzeln so weit verzweigt, daß ihm Vielseitigkeit eine Lebensbedingung wurde. Vielseitigkeit ist an sich noch kein Merkmal des Genies, aber Genie im höheren Sinne ist ohne Vielseitigkeit kaum denkbar.

Fortwährend verplemperte er sich und blieb selten ganz correct. Die »Correcten« sind übertünchte Gräber, deren lackirte Charakterlosigkeit alsbald sich offenbart, sobald man den Firniß ihrer »Grundsätze« abkratzt. »Wahrlich, wir sind zu jung noch!« Diesen Macbeth'schen Ausruf sollte sich Jeder täglich wiederholen, wenn ihn Gleichgültiges reizt. Aber zarte Sensitivität ist die Achillesferse jeder feineren Natur.

Schrieb er Briefe, so gab er sich regelmäßig Blößen, weil ihm die Fleisch und Blut gewordene Verlogenheit der Andern mangelte. »Der Mann, der so seltsame Briefe schreibt,« nannte ihn Einer seiner Judasse, nachdem er lange die Vertrauensseligkeit des jovialen übersprudelnden Wahrheitsdranges ausgenutzt, und drohte Leonhart zu denunciren, weil er einen hochgestellten Staatsmann privatim verdächtigt hätte. Leonhart fand zuletzt nur eine Rettung: daß er überhaupt alle Briefschreiberei mit Unbedeutenden unterließ. Ein hoher Gedanke in seinen Werken zeigte ja sein wahres Wesen besser, als alle mündliche und schriftliche Konversation. Wer sein ganzes geistiges Vermögen in seine Schöpfungen gießt, kann zuletzt, todtmatt und mit aufgezehrten Nervensäften, für seine Correspondenz nichts mehr erübrigen. Werfen doch philiströse beschränkte Geister einem Ungewöhnlichen so leicht haltlose Unruhe vor, weil man bei ihnen unberechnende Aufrichtigkeit höchstens er zielen kann, wenn man ihre Eitelkeit verletzt!

Wie einen Schmoller sein schlechtes Gewissen zu dem Argwohn trieb, daß andere über ihn noch schlimmer dächten, als es der begründeten Wahrheit entsprach, – so litt Leonhart umgekehrt an dem Wahne, daß Andere viel freundlicher über ihn dächten, als sie thaten. Daher warf er sich selber oft vor, daß er zu hart urtheile, wenn er die selbstsüchtigen Motive der Anderen durchschaute. »Gemüth« ist meist nur ein Zeichen physischer Schwäche. Freilich, wie oft nutzt andrerseits der physisch Schwache das Mitleid der Gutmüthigen aus!

Schon hierin befand sich Leonhart in stetem Nachtheil, daß gerade er die Dinge nie persönlich, sondern objectiv auffaßte, da er allein wahre Liebe zur Muse besaß. Ist es nicht schon an sich ein gräßlicher Widerspruch, den persönlichen Freund zu tadeln und den persönlichen Feind zu loben?! Und dabei faselte man noch von seiner Subjectivität!

Doch galt er Vielen als ein harmloser Esel, vom weltlichen Standpunkt aus. Freilich, wer nie im weltlichen Sinne sich wie ein Verrückter gebärdete, wer nicht Stadien einer krankhaften Zerrüttung durchzumachen hatte, ein solcher Dichter möge sich der hochlöblichen Regierung als Hülfsarbeiter melden. Litt nicht selbst der junge Goethe an hochgradiger Weltunfähigkeit, an der Unmöglichkeit, das Dichterthum mit dem realen Leben zu vereinen? Je weiter er sich von wahrer Dichterkraft entfernte, desto höher stieg sein weltliches Ansehn und seine olympische Weisheit, ein Wohlgefallen vor Gott und den Menschen. Erst der erlauchte Greis, auf den Höhen des Lebens angelangt, griff zu dem Streben seiner Jugend zurück und empfand mit abgeklärtem weihevollem Schmerz seinen »Faust«. Hätte seine robuste physische Constitution ihm aber nicht das Ausruhen einer so langen Lebensdauer zur Schöpfung seines größten Werkes gewährt, so würde er ewig als ein Abtrünniger vor uns stehen, der den Titanismus seiner Jugend nicht zu bewahren wußte. Wäre andrerseits Byron nicht so früh dahingegangen, so würde das unreife Urtheil, das nicht im »Don Juan« die Fortentwickelungskeime einer höchsten Shakespearischen Reife zu erkennen vermag, ihn nicht als fragmentarische Erscheinung betrachten. Nur Rafael und Mozart schieden in gleichem Alter als innerlich Vollendete, auch Burns lebte seine lyrische Naturanlage bei frühem Tod genügend aus, ebenso wie Schiller seine theatralische. Auch der Größte, Shakespeare, hatte wohl nichts Wesentliches mehr zu sagen, als er in der Mannheit Blüthe weggerafft wurde. Und nun daneben Marlowe und Kleist! Ach, vielleicht gehört es mit zum Genie, in hartem Selbsterhaltungstrieb sich zu behaupten. Wer sich physisch oben erhält, bleibt Sieger.

Immer wieder peinigte ihn das wirre Angstgefühl vor eingebildeten Machinationen von Schurken. Es kam so weit, daß er sich wuthknirschend am Boden wälzte. Wie Lenau stocherte er fortwährend im schwarzen Schlamm des Lebens umher und suchte nach Cholera-Baccillen. Sein Moralisiren verzärtelte ihn so, daß die bloße Betrachtung der Lebensgemeinheit ihn gradezu krank machte. So wirkt ja auch das sogenannte Ehrgefühl nur krankhaft, falls es die Verleumdung fürchtet, der ja doch niemand entgehen kann. –

Durch die Reaction des berechtigten Stolzes tritt Erhabenheit ein. Statt sich in weltklugem Phlegma zu verhärten, schwang er sich über sich selbst und seine Misèren empor, indem der unbegrenzte, ungebändigte Stolz des starren Individualmenschen sich zusammenkrampfte. Aber auch diese krampfhafte Steigerung des Selbstgefühls in einsamer Selbstbetrachtung diente nur dazu, sein Nervensystem vollends zu untergraben. Er mußte sich buchstäblich in die Haare greifen und krümmte sich wie ein Wurm, weil ihn andauernd die Vorstellung verfolgte, er stürze sich aus dem Fenster eines vierten Stockwerks. Mit voller Klarheit durchlebte er den Schwindel und die Todesangst des Falls. Dann trat dafür der gräßliche Wahn ein, daß er sich vor einen Courirzug stürze. Seine hartnäckige Phantasie klammerte sich an diese Wahnvorstellung wie sonst an andere kleinliche Nörgeleien. Wie ein Krampf kam fortwährend über ihn die ekelvolle Furcht vor der Eisenbahn, diesem eisernen Ungeheuer, das über alles fortrast, über alle Blumen des Lebens. Mußte diese selbstmörderische Psychose nicht eines Tages wirklich zum Verderben führen? Wer stets in den Abgrund starrt, und wäre er selbst schwindelfrei, stürzt endlich doch hinein. –

Seine Nervenkrankheit stieg auf den höchsten Grad. Da er alles that, um sein System zu vergiften, alle Abende schimpfend in den Cafés umherstöberte, ob man ihn immer noch todtschweige, und statt zu soupiren (sein Magen vertrug schon keine schwere Speise mehr) Kuchen aß und fünf schwarze Cafés hinter die Binde goß, – so zerrüttete seine ungeheure Produktivität ihn vollends.

»Morgen: Die Meeresbraut, Drama in 5 Akten von Xaver Graf Krastinik« stand an der Littfaßsäule. Leonhart kicherte häßlich in sich hinein. In der Nacht träumte er seltsam.

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Auf der Asphodeloswiese, die besprenkelt und umwuchert von der mystisch blauen Blume, schritt er in dem Traum dahin. Ahnungsdunkle Lorbeerhaine, klassisch zugeschnittene Berge, und in geisterhafter Weiße Marmortempel ringsumher. Fernverhallend rauschten Chöre durch die wunderhellen Lüfte und als Wolke hing im Aether gar der Fries des Parthenon.

Weiter ging's im Thal der Todten, wo wie steingewordene Psalme Münster hier gen Himmel stiegen und von Bannern schier ein Wald. Und auf einem Teiche zogen Schwäne einen Kahn von Silber. Drin zwei Männer, in den Händen Jeder einen Goldpokal. Den Pokal des heiligen Grales hat Herr Wolfram hier gefunden. Und er schlürft den Quell der Mystik, blutrothen Erlöserwein. Lächelnd spiegelt sich der Andre in dem rosigen Wein der Liebe, tausend bunte Blasen sprudelnd, in Isolde's Zaubertrank.

Walter auch der Fiedeläre, unters Kinn den Arm gebogen, saß, von Vögelein umzwitschert, auf der moosigen Bank von Stein. Und vor einer schattenhaften Schreckgestalt posaunentönig blies ein Sturmhauch her erzklirrend hier das Nibelungenlied.

Mausoloeen, Leichensteine moderten, wo durch Cypressen er fürbaß die Schritte lenkte, höllendunkle Kirchhofschlucht. Einsam saß im Seherkleide dort ein Mann an schwarzem Kreuze. Michel Angelo's Sibyllen schauen kaum so grimmig drein.

Doch nun glitzerte die Landschaft, goldig schier wie eine Mine neugefundnen Eldorados. Sah dort drei an einem Tisch. Tranken all aus einer Kanne Malvasier und trugen modisch zugeschlitzte spanische Wämser. Einer der hieß Calderon. Und Cervantes hieß der Andre mit der abgehauenen Schwerthand. Und des Menschenherzens Meister saß, der Brite, auch dabei.

Von den leidenschaftlich wilden Düften unerhörter Triebkraft noch betäubt, empfing ihn jetzo Brodem künstlicher Parfüms. Rokoko und Voltaires Witze. Lessing trägt den Zopf im Nacken, würdevoll wie eine Toga schlottrige Magistertracht. »Nein, ich gehe keinen Schritt mehr weiter in das Unnatur-land!« Und aus Schrecken vor der Neuzeit war er jählings auch erwacht.

Die Atmosphäre war schwül, tiefblaue Tinten bestrichen die bleifarbene Wand des Horizonts, es wetterleuchtete. Leonhart schritt ruhelos fürbaß durch den Grunewald, daß die Fichtennadeln, die den Weg bestreuten, unter seiner hastigen Sohle knirschten.

Chaotisch wirbelten ihm Gefühle und Gedanken. An diesem Abend sollte das Drama im »Deutschen Theater« in Scene gehn, sein Drama, dem Graf Krastinik den Namen geliehn, damit auf diese Weise ein Werk des connexionslosen strebernsunkundigen Dichters an die Öffentlichkeit gelange. Ob es gefallen würde? Und wenn, wie würden nachher das Preßgesindel und die Theatermenschen sich erbosen, sobald der schreckliche Hereinfall aufgedeckt! Man hat sich einen Spaß erlaubt, eine Mystification! Sie konnten gar von grobem Betrug reden, garstige Chicanen er finden, ja den wahren und angeblichen Autor in corpore in Preß-Verschiß erklären und unmöglich machen!

Leonhart's Finger krampften sich auf und zu. Er fühlte, daß er zum Mörder werden könne, zum Mörder an diesen Elenden, die Gott in seinem Zorn erschuf, um das Höchste und Heiligste, die Poesie, mit ihrer stinkenden persönlichen Geschäftsmacherei zu besudeln. Eine Verschwörung von Schurken und Dummköpfen, nicht werth, auch nur den Staub von den Stiefeln eines Dichters zu lecken.

Nicht Einer unter all diesen Litteraten-Strolchen, der nicht ausschließlich von seinem winzigen erbärmlichen Ich speiste, der nicht an miekriger Selbstsucht, an einer wahren Selbstbefleckung des selbstverliebten Größenwahns litt. Alle verzehrt von hirnzerfressendem Neid gegen gefürchtete Superiorität, kriechend nicht vor dem Talent, sondern vor dem Erfolg, nicht vor dem Verdienst eines Alvers, sondern vor dessen Studententriumphen und seinem »von«. Alle gleich, ob nun germanische Jüngstdeutsche mit augenverdrehender Pseudo-Stürmerei oder jüdische Jüngstdeutsche mit thatkräftiger Realitätsausnutzung, ob nun notorische Streber oder verschämte Akademiker mit angeblich reinen Idealzielen. Alle nur die Wurst nach der Speckseite werfend, alle nur bemüht ihr liebes Ich zur Geltung zu bringen, alle tief von der Wichtigkeit ihres mittelmäßigen Nichts durchdrungen, und von Uebelwollen gegen alles Uebrige beseelt.

Ja, er durfte sich's sagen: Er war der letzte Idealist, der Letzte, der immer nur die Sache sah und nie die Person. Selbst seine Feinde mußten es zugeben. Ihm schien nur eins wichtig: das Verdienst, in welcher Gestalt auch immer. Daß er um so schonungsloser den Größenwahn der Windmacher geißelte, lag in der Natur seiner rücksichtslos herben Wahrheitsliebe. –

Der Verfolgungswahn packte ihn wieder mit doppelter Gewalt und malte die verbündete Schlechtigkeit noch düsterer, als sie in Wahrheit sein mochte. Auch entschwand ihm theilweise die objective Betrachtung, die er in lichten Momenten wie kein Anderer besaß, betreffs der traurigen Nothwendigkeit dieser allgemeinen Selbstsüchtelei, da doch Jeder herbe um sein Fortkommen zu ringen hat. Von Natur sind Wenige schlecht, wenn auch kindische Eitelkeit und nörgelnder Neid nur besonders vornehmen Naturen nicht angeboren scheinen. Allein das Leben häuft soviel Koth an, durch den man hindurchwaten muß, daß die edleren Gefühle allgemach verkümmern.

Gewiß blieben ja Leonhart's wüste Wahnvorstellungen nicht vom Thatsächlichen fern. Die Schlangen berathen sich, um den Löwen von hinten in die Ferse zu stechen. »Wir möchten so gern und an Lebensklugheit – Falschheit, wie es die Dummköpfe nennen – sind wir ihm ja allesammt überlegen. Aber ach, wenn er sich mal umdreht und mit der Tatze haut, da wächst kein Gras!« So ist es die Feigheit der gemeinen Naturen, die allein den hochherzigen Starken vor ihrer Bosheit schützt.

Es ist ein großes ethisches Gesetz, daß der schmutzige Kampf ums Dasein uns empört, sobald wir ihn losgelöst von uns selber betrachten, und daß die Perfidie der Andern die Stimme unseres eigenen Gewissens, die wahre Selbsterkenntniß, fördert.

Wo man auch auf Erden seinen Pilgerstab hinsetzen mag, überall trifft man das menschliche Antlitz und seine Lügen. Lange hatte Leonhart als Correspondent eines großen Rheinischen Blattes in Paris und London gelebt. Mit düsterer Befriedigung dachte er unwillkürlich, wie wenig und oberflächlich man ihn doch kenne, wie viele Leute außerhalb Deutschands mehr von ihm wußten, als irgend einer der »guten Freunde«, die ihn umklatschten. Mit welcher ironischen Schadenfreude erfüllte ihn das prahlende Gethue mancher »Kollegen«, als ob sie mit ihm hundert Scheffel Salz gegessen hätten, während wiederum in ihm näheren Kreisen der Gesellschaft die völligste Unkenntniß seiner litterarischen Verhältnisse herrschte! Vier ganz verschiedene »höhere Töchter« hielten sich allen Ernstes für die unglückliche Liebe seines Lebens und bewahrten daher noch nach ihrer Verheirathung ihm jenes theilnahmvolle Mitleid, das aus geschmeichelter Eitelkeit entstammt.

So blieb er eben in Allem ein Räthsel und zersplittert in unendlicher Vielseitigkeit, die zu seinem Verderben ausschlug – allerdings in anderem Sinne, als einige Klugschwätzer, die es mit den Feinden Leonharts ebensowenig wie mit ihm verderben wollten, in ihrer unendlichen Schläue und Barmherzigkeit über ihn orakelt hatten.

Die Subjectivität des Uebermenschen trieb ihn, gerade weil seine Natur in ihren Urquellen selbstlos und wohlwollend, zu Paroxysmen der Misanthropie.

Du Spreu des Ewigen, die kaum als Dünger der Weltidee noch brauchbar! Flüchtiger Koth, vom Sturm des Schicksals in das Nichts gewirbelt! Du Bestie, die bübische Begierden mit kriechend feiger Heuchelei bemäntelt! Du neid- und haßgeschwollenen Drachenbrut, Du Rattenkönig, Schlangennest der Sünde! Mensch! Lebend schon die Würmer Dich zernagen, sich von der Fäulniß Deines Leibes nährend, in dem die Seele lange schon verfault! Du Blitz, der dort wie eine Zornesader aus dieser Wolkenstirne Runzel aufzuckt, o schlängle Dich als Ariadnefaden hinab zu mir ins Labyrinth der Schmerzen!

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Wie der Trieb zur Sünde im Menschenblut, so liegt im grübelnden Menschenhirn geheimnißvoll ein schrecklicher Drang, zu erproben die Selbstvernichtung. Auf die Höhe des Berggrats stelle ein Kind! Schau, wie's gleich näher und näher kriecht dem drohenden Rand und Kiesel zuerst aufliest vom steinigen Boden. Die schleudert es dann in die Höhlung hinab, um am Schall zu ermessen des Abgrunds Grund, horcht ahnungsvoll, wie spät und dumpf es dröhnt aus der endlosen Tiefe. Der Mutter Vorsicht gängelndes Band zerreißt es, schleicht zum Rande sich vor, umklammert noch den Fels der Vernunft. Der scheint ein sicherer Halt ihm.

Doch wie es starrt in das graue Nichts, da schwindeln ihm schaudernd Herz und Hirn, da gleitet die Hand, da wankt das Knie, gelähmt von gräßlichem Grausen. Im Instinkt der Verzweiflung stürzt es hinab. So umgarnt an der Zweifel gähnendem Schlund den Nichtseinsinnenden grübelnden Geist entschlossene Verneinung des Willens. Bis willig halb, halb magisch gedrängt, halb sinkend, halb gestoßen, er rollt durch Wahnsinn-Nebel in Todesnacht: Todesfurcht versteckt sich im Selbstmord.

Dieselbe Nacht, die den irdischen Zeus, den Alexander, dem Licht geschenkt, sah frech verbrennen den Herostrat der Ephesischen Artemis Tempel. Denn in der Moira dunklem Schooß, und in des Kronos waltender Hand und in des Kroniden Waage des Rechts da liegen vereint die Loose. Das weiße Loos und das schwarze Loos, das Sein und Nichtsein, Leben und Tod, und der Trieb zum Leben, die Schaffenslust, sich paart dem Lebensekel. Die Selbstvergötterung, welche gebiert der Dämon in der Erkorenen Brust, ist nahe der Selbstverachtung gesellt in der Verlorenen Seele. Dieselbe Hore, welche gebiert den schaffensmächtigen zeugenden Geist, den Welterbauer, als Zwilling nährt den zerstörungsfrohen Vernichter. Augustus, Trajan, Vespasian, aufs Neue erbauten nach Götterbeschluß, was niedergerissen nach Götterbeschluß im Reich die Juliersprossen. Welch winzige Spanne Zeit doch trennt vom Nero den Titus! Ja, noch mehr: in Titus' Seele selber lag der Drachen neben dem Lamme. Ein kurzer Augenblick entschied sein wahres Wesen und schied nun ab seiner Jugend Neronisches Element von der »Wonne des Menschengeschlechtes«. So liegt das Verderben dem Heil gepaart und das Leben dem Tode im Menschengeist, und Jeder erfüllt am Ende nur seine vorgebahnte Bestimmung.

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Je mehr Leonhart diesem Gedankengange folgte, desto deutlicher empfand er, bei Titus angelangt, den Begriff des Cäsarenwahnsinns, diesen Gottähnlichkeitsdünkel des Größenwahns. Wie vom Medium einer Vision inspirirt und selbst Medium geworden, fühlte er das Wesen Heliogabals in das seine hinüberrinnen. Ihm war, als spräche aus ihm selber die Seele des Götterwonnetrunkenen, zum Flammentode bereit.

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Mir bahnte den Pfad der erhabene Narr, wahnwitziger Wüstheit Meister mir, Caligula mit dem thierischen Blick der übermenschlichen Frevel. Auch der großdenkende Cäsar-Apoll, die Künstlerbestie, die zum Klang des eigenen Lyraklimperns schwamm auf goldner Barke im Tiber, lotternd auf purpurnem Thalamus, weißstirnige Buhlinnen rosenbekränzt schamlos zur Seite – also zu bewundern das brennende Rom, von lebenden Fackeln entzündet: Nazarenergewürm, ans Licht gezerrt aus Katakomben, gepfählt, erwürgt, aus Kreuz genagelt, verpicht mit Stroh, und mit Naphta sodann übergossen. Dies Schauspiel weckte ihm schauerlich-schön dithyrambische Stimmung. Anschaulich entrollt, studirte er so der Sinnenwelt schrecklichste Wonnen und Schrecken. Der Erkenntniß Aganippe er schlürfte in rinnenden Zähren, triefendem Blut. Im prächtigen Mordbrand suchte er den prometheischen Funken.

Feinschmecker der Psyche, Lucull des Gefühls, wie sinnig verknüpfest Du so in eins die Elemente von Gier und Grau'n! Verschmelzung doppelten Schauders! Der Ueppigkeit süß entnervende Schauer mit markdurchrieselnder Ahnung der Furcht! Dir folgend, du Aristipp-Dionys, hab' ich herrlichen Tod mir ersonnen.

Nur Schnee befreit ein erstarrtes Glied, nur Gluth erstickt der Genußsucht Gluth. Drum stürz' ich vom Lager verzehrender Lust ins Brautbett des Todes, die Flammen.

Ichtys, der Fisch, ist der Christen Symbol, das meine der Salamander, der froh im Erdpech, vulkanischer Lavaschicht der Ur-Erregungen, wühlet.

Man schlendert ins Feuer den Skorpion, dann bohrt er den Stachel ins eigne Hirn: So springt mein Ekel ins Bad des Tods, nicht lökend wider den Stachel.

Als Kind in frischer Ursprünglichkeit, wo die Welt eine Fabel, ein Hirtenidyll, da fühlen wir den homerischen Trieb nachbildender Weltumfassung. Doch drängt die grausame Wirklichkeit sich unablässig in's Innere ein durch jeden Spalt der Sinne, so gährt im Hirn ein schauerlich Chaos.

Mit Selbstverhöhnung beginnen wir, mit Selbstverachtung fahren wir fort und enden, die Ohnmacht des Einzelgeist's, das All zu empfinden, erkennend.

Drum früh dies ahnend floh ich aus Furcht zum rohen Genuß und erkannte sofort in der Sinnlichkeit die einzige Bahn zu gelassener Lebensertragung. O weh mir! wär' ich doch lieber bestimmt zum Kriegstribun, zum Legionar mit ehernen Nerven und blödem Verstand und derbem Behagen am Dasein! Doch wem das Fieber des Denkens einmal die Seele schwächte, fällt immer zurück in neuen Anfall und ihn curirt nur die letzte Krise vom Kränkeln. Was hilft's, mit erlogener Sinnlichkeit an der Außenform kleben und tasten nach Schein-Schönheit mit erzwungener Begier, ein Pseudo-Epikuräer? Die Schönheit des Scheins – o könnt' ich sie nur mit Sein vertauschen, so häßlich es sei, mit des Stoikers Willensübung und fest an Tugend glaubendem Pflichtstolz!

Doch was ist Pflicht, was Liebe, was Haß, was Tugend, was Laster vor'm letzten Begriff, vor'm Verständniß der letzten Erkenntniß? Ein Hauch! der Naturtrieb des Augenblicks gilt nur.

Der Stern der Kybele glänzt blutroth auf Tmolus' Schneehaupt. Im Alpenthal Corybantengetümmel und Cymbalschlag, und es klagt der entmannte Adonis. Die Ammen Jupiters lärmen wild, den Säugling zu schirmen vor'm grimmen Saturn. So schlug ich gar oft im Bacchanal die Lyra der Gottessehnsucht. Die Lasterstimme Astartes so in Priesterhymnen betäubte ich oft, zu retten vor allverschlingender Zeit mein Werk, das im Plan kaum geboren. Des Orients Mystik, den Syrercult, verpflanzen wollt' ich zum Occident, die nüchterne Seele des Römervolks mit dem Rausch der Begeistrung tränken. Die Eisenadern sollten aufs neu frisch schwellen von schäumender Leidenschaft. Die weichliche Sclavin sollte den Herrn durch geistige Herrschaft zähmen.

Mein glühender Ost, Du Mutter der Welt, deren Wiege am Paropamisos stand – ich wollte Dich rächen, Dein treuster Sohn, wider Roma heimlich verschworen, ein gekrönter Catilina! – Zu früh! Erst später wird nah'n der Tag des Gerichts und neue Cimbern des Nordens vielleicht bauen ein neues Carthago.

Der Urzeit sibyllinisches Buch, Hieroglyph und Talisman, Weisheitschatz – ich verbrenne mit allem, wie Sardanapal mit Harem und Kronenjuwelen.

Oft neidete ich des Attis Loos. Doch forderte meiner Göttin Dienst, der Allerzeugerin, Zeugungskraft und Unzucht als Opfergebräuche. Denn Keuschheit ist nur ein Raub am Selbst, und was ist Sünde, die's nicht an sich? Wie der Ptolemäer die Schwester beschläft, so ehlichte ich die Vestalin. Und vermählte die Pallas, herschleppend ihr Bild aus verborgener Zelle beim Mithra-Fest dem Sonnengotte, in dem ich erkannt den beredtesten Zeugen der Schöpfungskraft. Denn Natur ist Gott, statt Göttern ich schuf einen Universal-Naturdienst.

Abram, der Ebräer Erzpatriarch, der Planeten-An betung Thorheit sah, als vom Kasius einst, meinem Heimathberg, er den Sternenhimmel beschaute. Ich aber kam dort zu verschiedenem Schluß. Mir hat da droben sich offenbart der wahre Baal, wie Eliä einst der einige Jehova. »Ich bin, der ich bin, und ich werd', der ich werd'.« Der »Herr des Berges«, der El Gabal, der zuerst auf den Gipfeln erscheinend von dort aus Köcher und Füllhorn schüttelt Strahlenpfeile, Gluthrosen, beseeligend und befruchtend damit überschüttet die Welt! Drum verehrt auch auf Alpen der Perser das Licht. Du Reiner, Du Einer, Du Meiner!

Ich baute Dir Heliopolis, Baal-Bek, Sonnensäulen auch, Chamanim. Trotz bot ich dem Orkus, den Töchtern der Nacht, den Unterweltsgewalten, und dem Mars, der den »Herrn« Adonai erschlug, dem latinischen Mars, der rohen Gewalt, dem Dämon der Zwietracht, der nimmer schließt den Janustempel des Friedens.

Die Sonne erreichte den höchsten Stand im himmlischen Tempel, dem Sternbild des Leun. Typhon, der Meersturm, schweigt und es quillt der Nil des Lebens aufs neue. Doch als Sühnopfer des Fortschritts fiel der neue Osiris. Schau, Isis Natur, Kybele, wie Liebling Adonis stürzt sich selbst in die Hauer des Ebers!

Begierde – Genuß, Grenzpfeiler des Seins, umreiß' ich sie, aufwühlend den Grund, den vulkanischen Boden, in dem wir umsonst nach den letzten Zwecken schürfen. Ans Thor des Schicksals poche ich frech mit der Keulenfrage: »Warum? Wozu?« Ich will den engenden Wirkungskreis durch verwegene Willkühr sprengen.

Vampyr der Langeweile, entfleuch durch des Grabes Pforte zur Urnacht hin, – Herodias Welt, ich fliehe vor Dir in die Wüste der ewigen Freiheit. Eines Heilands Vorläufer erscheine ich mir, wie dem falschen Messias Johannes einst – des Pantheismus Weltreligion siegt einst über die Götzen .....

Allerhaltende Liebe, bald hell bald trüb in der Kette der Wesen vom Stern zum Wurm strahlend, wie jedes nach seinem Grad ein Spiegel des ewigen Feuers – dir vermähl' ich mich nun! Die Asche dem Wind und der Odem dem Urquell, dem er entfloß! So web' ich unsterblich weiter im All, Unendlichkeit wird das Ende.

Verzehrt sind die Wolken der Sterblichkeit, die Sphärenräume zerklaffen – hinauf zum Tabernakel der Urkraft schwebt meiner Seele befreite Flamme! Wo die ewigen Mächte thronen im Licht, im Allerheiligsten wandelt er sich zur Leuchtkraft selbst und leitet dahin an der Eisenkette der Dinge den Funken des Werdens, der nimmer ward, doch endlos wird und von Kraft zu Kraft stets wechselnd hinrollt, wie in Feuersnoth von Hand zu Hand fliegt der Eimer. Kein Ende, kein Stillstand! Alles fließt und wechselt in Licht und Leben und Lust! Unendliche Wonne! Auch Schmerz ist Genuß dem Atom, das als Alltheil sich fühlet. Wohlan denn, zum letzten Sprunge hinein! Weh, weh! Ich verderbe, verlodre. Haha! Jo, Jo! Triumph! O Wollust der Marter, es ist vollbracht!

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Mit wirrem Lächeln und hämmernden Schläfen fuhr der Dichter aus seiner Weltentrücktheit auf und stierte umher.

In hastigem Sturmschritt war er übers freie Feld nach der Wetzlarer Bahnlinie jenseits des Halensees abgeirrt, mit der fieberischen Schnelligkeit seines gestaltenden Gefühls völlig im visionären Bann des cäsarischen Selbstmörders.

In der Ferne raste ein Courirzug heran. Der einsame Wanderer blieb stehn, wie erstarrt, wie vom Blitz getroffen. Seine Augen quollen gräßlich aus ihren Höhlen, sein Mund öffnete sich unwillkürlich, als habe ihn der Starrkrampf der Maulsperre ergriffen, ein Orkan von Gedanken stöberte in Schneeflocken um ihn her – –

Tod, der mit unhörbarem Katzenschritt herschleichend uns hinweg reißt, zwischen Zeit und Ewigkeit bist Du der Rand, unentrinnbar unüberbrückbar. Ewigkeit! Symbolisches Wort für Unaussprechlich- Undenkbares – ein unverständlich leeres Getös für den Gedankenlosen. Doch der Denker Ideen-Stufen durchläuft, bis er steht vor der letzten Fragen Schlund und von unüberwindlichem Schauder gepackt zur Tagesarbeit zurückschnellt. O Riesenkerker, der in sich schließt die Käfige der Welten, – du schreckliches Nie-Gewordenes!

Formlose Urform, die bald sich löst in chaotische Formenlosigkeit, bald ihre fließenden Kräfte ballt zu verdichteten Weltall-Formen! Die unzählbar gewordene Welten verschlingt in Sündfluth uferlos grenzenlos, und unzählbar-werdende Welten sodann aus chaotischem Mischmasch bildet!

Oder ist auch das niegewordene Eins keine richtige Ziffer, vielmehr eine Null: Ist das Nichts die Wahrheit? Und ist das All nur des Einzelnen Wahnvorstellung? Aufzuckend wie Irrlichtschemen, die doch nur wesenlose Ausdünstungen sind vom fauligen Moor? – Enceladus, zerreiße endlich die Ketten!

Meteorisch sausen verwirrend schnell, Leuchtkugeln ähnlich, Weltkörper umher, die der Allgeist, indischem Gaukler gleich, auf und nieder rollen läßt. Und das Diesseits ist nur ein Schatten. Ob dieser Schatten nur vom unfaßlichen Nichts ein Ausfluß? Ob, wie es die Regel ja lehrt, Schlagschatten beweisen, daß Licht in der Näh' oder etwas Persönliches, Festes? Ob alles irdisch-vergängliche Sein nur der Idee Erscheinungssymbol? Nur nicht länger mithuschen im Tanz der Puppen-Schatten, die auf des Lebens Grenzmauer sich jagen! – –

Nein, nicht desertiren vor dem Todesgedanken, vor dem Todesgefühl, vor der letzten Wahrheit! Im Anfang war die That und am Ende sei die That, die lebensvernichtende! – Nicht desertiren, nicht feige sein! – Nervöse Raserei durchzitterte all seine Poren – der Courierzug, das Ungeheuer – wende dich ab, Du kannst sonst nicht widerstehn – hahaha, bin Ich der Messias, so laß doch sehn, ob Gott ein Wunder thut – –

Ein Sprung auf die Schienen, er glitt aus – –

Gott thut heut keine Wunder mehr.

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Jetzt stehst Du allein vor der Ewigkeit, allein mit Deinem Genie.

Sprich ohne Furcht mit Gott, denn er allein kann Dich verstehn. Er legt ein anderes Maß all Dich, als die gemeine Heerde des Tages.

Die schwache Hand der Sterblichen wird nicht rühren an Deinen wahren Werth. Ihr Preis und ihr Tadel kümmern Dich nicht mehr. Dein Geist enttauchte einem Orkan, dem Blitze gleich – Deine Wiege und Deine Gruft wird ewiger Nebel decken.

Aufrecht standest Du in Deiner Rüstung in königlicher Einsamkeit, kein schwa ches menschliches Gefühl schlug unter Deinem Panzer. Du stiegest auf zur Größe ohne eitle Freude, Du fielest ohne Murren. Auf der Sinne hohle Reize blicktest Du kalt herab, ohne Lächeln und ohne Seufzer, und Dein Adlerflug maß die Welt mit einem einzigen Königsblick.

Stirb denn inmitten Deines Ruhmes und löse Dein düstres Sein in die Atome – rein und rauh, wie Du geboren wurdest, ohne Laster und ohne Tugend. Deine Tugend war Dein Genie.

Zwölftes Buch
I.

Das »Deutsche Theater« war buchstäblich ausverkauft. Nicht nur das gesammte litterarische und das übliche Premièrenpublikum Neu-Jerusalems, sondern auch die Crême der »guten Gesellschaft« schien vollzählig erschienen. – – Rechts neben der Direktorloge, wo L'Arronge's freundlicher Vollmond erglänzte, operirte Frau Doktor Bergmann, Chefredaktrice der »Berliner Tagesstimme«, in Mitten ihres Großen Generalstabs, an der Seite ihres Leibadjutanten, des lockigen Apolloschwengels Emil Buttermann. Ah, die Thür der vollgepfropften Loge öffnete sich und unter den Salutirungen des Großen Generalstabs erschien Doktor Bergmann in eigener Person. Er hatte also einmal Europa sich selbst überlassen, um leutselig, wie große Männer pflegen, den leichten Spielen der Musen eine Stunde seiner unschätzbaren Zeit zu opfern. Hält doch Bergmann bekanntlich mit Bismarck das Europäische Gleichgewicht aufrecht. Der Reichskanzler zieht rechts, Er links. Bei dieser Atlasbürde scheint es denn kein Wunder, daß er seinen gewichtigen Corpus, den schweren homerischen Rindern gleich, wankend einherwälzt, so daß man immer fürchtet, er werde einem mit seinen Plattfüßen moralisch oder physisch auf den Fuß treten.

Auch heute suchte er wieder Raum, dieser schnaubende Elephant. Wie dem seligen Napoleon schien Ihm Europa zu enge. Er mauschelte nach allen Himmelsgegenden mit Armen und Beinen, um der Freiheit eine Gasse zu brechen. Sein aufgedunsenes Antlitz, einem plattgetretenen Kuhfladen nicht unähnlich, strahlte vom Bewußtsein seiner Allmacht. O er ist ein graußer, ein sehr graußer Mann!

Sein besonderes Steckenpferd, die Antisemiten-Suche, ritt er wieder mal chevaleresk wie Don Quixote seine Rozinante. Daher der forschende Blick, mit dem er seinen Generalstab musterte. Wie der Riese Polyphem in seiner Höhle tastete er überall an den Wänden seiner Redaktion herum, um den berühmten »Niemand«, einen Antisemiten, unter seiner eignen Hammelherde zu entdecken. Und wehe, wenn ihm solch ein räudiges Schaf zwischen die Finger kam! Dann verspeiste er es mit Haut und Haaren.

Doch getrost, in König Arthus' Tafelrunde schien diesmal alles koscher. Lauter wulstige Lippen und Jatagan-Nasen. Da war Nathan der Weise mit den geschlitzten Augen, der den Kanzlerstab des mosaischen Zukunftsreichs im Tornister trägt. Da war Oskar der Gerechte, der flotte Schächter aller Dichterbabies. Und da war vor allem Er selbst, Israels Gründer, der Zertrümmerer des goldenen Kalbs, der neue Moses, der zum Gelobten Lande leitet, wo da Milch und Honig fleußt. Er schäkerte eben huldvoll mit Frau Doktor Bergmann, welche Lieder ohne Worte mit den Augen flötete, ebenso virtuos wie sie Lieder mit Worten am Klavier brüllt.

Auch im Parkett versammelten sich die Zierden unsrer Kritik, von allen vier Winden hergeweht, wo nur deutsche Zunge klingt, selbst aus dem Lande der Mausefallenhändler. Die leichte Scheerenschleifer-Kavallerie der Preßpanduren formirte sich. Wieviel giftige Früchtchen, neidgrün angelaufen! Da gabs die rührigsten redactionellen Schaukelpferdchen, die mit schnalzendem Hopphopphopplala zwischen Autoren und Verlegern herumtraben. Manch vielgewandter Odysseus, der mit alten Hosen beide Hemisphären durchwandert, schwang kräftig das kritische Richtbeil. In einer Ecke des Saales bemerkte man die wundersamste Pflanze internationaler Bodenkultur: Theodosius Drollinger. Dieser bedeutende Mann war mal in Paris und begann daher seine Orakel unwandelbar mit dem ehrfurchterweckenden Ausspruch: »Als ich in Paris lebte.« Da Papa Augier ihn mal die Treppe 'runter geworfen hat, so ernannte er die Trias der französischen Bühnengötter zu seinen intimsten Duzfreunden in seinen Feuilletons. Er, den ein Augier auf die große Zehe getreten, fühlte sich natürlich, er wußte selbst nicht wie, durchzuckt von gallischem Esprit. Auch hatte er plötzlich den Modedichter Kleist, 70 Jahre zu spät, entdeckt. Die Lebenden schwieg er todt, eben um einen neuen Kleist durch solch uneigennützige Unterstützung heranzuzüchten. Wenn der neue Kleist sich erst eine Kugel vor den Kopf schoß, dann wollte er ihn sofort als Klassiker »entdecken« und von den Todten auferwecken.

Da saß nun Theodosius, diese Carrikatur eines Boulevardiers, die spärlichen Haare in die Stirn geklebt, um doch ja die neueste Mode der jeunesse d'horreur mitzumachen. Doch herrschte unter Kosmetikern über die bahnbrechende Technik seiner Frisur der gelinde Zweifel, ob er Pomade oder Zuckerwasser hierzu benutze.

Sein maskenhaft-todter Ausdruck, sein stier gleichgültiger Blick, sollten ihn als vornehm zurückhaltenden Gentleman aufspielen. Allein, lächerlich reservirt und zugeknöpft, wenn er mit einem anständigen Menschen zu thun hatte, wurde er äußerst munter und zuvorkommend gegen lustige Dämchen, Spitzbuben und Streber. Sein Vorgänger in der Redaction hielt es aus Gewissenhaftigkeit für seine Redactionspflicht, auch die Gattin des Verlegers unter redactionelle Verantwortlichkeit zu nehmen. Theodosius ehrte pietätsvoll diesen fruchtbaren Redactionsusus, auf diese Weise die Vergangenheit angenehm mit der Gegenwart verknüpfend.

Auch er war da, er mit der hackenden Habichtsnase und dem mangelnden Kinn, der große litterarische Todte, der einst die Irrlichter seines schnoddrigen Witzes über die öden Sumpfhaiden seiner heut schon antiquarisch verstaubten Salonstücke verschwenderisch ausstreute. Neben ihm saß ein geistreicher Pavian in großkarrirten Beinkleidern und weißer Weste, und rieb ihm zahllose Paradoxen unter die Nase, und zwar wörtlich, indem er ihm beinahe ins Gesicht sprang. Hinter diesem saß sein Schatten, natürlich ein Baron (denn wo ein Jude, ist auch immer ein Baron nahe). Sein Kater-Näschen und sein ganzes dummdreistes Kneifer-Gesichtchen näselte gleichsam lautlos. Einer jener Litteraturbarone (natürlich stand »Freiherr« groß und breit in Goldschrift auf der Thür seiner Wohnung), welche den ehrenfesten Aristokraten mimen, während der Kenner in ihnen sofort ein neidzerfressenes größenwahnsinniges Streberlein erkennt.

Er erzählte grade in näselndem Ton, wie »Serenissimus sein gnädigster Herr« (einer jener kleinen Köter, kennt ihr meine Farben) ihm eine echte Havanna verehrt habe. »›Mein lieber Baron,‹ meinte der Gnädigste –« Er unterbrach sich, um mit Innigkeit die Gattin eines jüdischen Mache-Meisters zu begrüßen, wie er denn inbrünstig zu Unsrer Lieben Frau vom Jordan betete und mit Gottes Hülfe in den Salons »der geistigen Aristokratie des deutschen (jüdischen) Volkes« zu einer Berühmtheit emporgeschwindelt wurde. Was kann da sein! Man braucht einen Baron als Zimmer-Staffage. Das paßt dem auserwählten Volke in seinen Kram.

Der Adel ist heut immer noch ein gutes Geschäft. Dies wußte ja Frau Hermine Schmidt, geborene v. Preuschen, zu würdigen, indem sie sich schlankweg »Baronin Preuschen« weiter fort titulirte. Und siehe da, es war sehr gut. Mit Enthusiasmus stürzten die jüdischen Federpiraten für sie ins Turnei, sintemal es denselben immer zur besonderen Ehre gereicht, einem Adelstitel unter die Arme zu greifen. Mit Entrüstung muß man jedoch die schnöde Verleumdung zurückweisen, daß all diese adligen Herrn und Damen eines enragirten Philosemitismus verdächtig seien. Sie benutzen eben nur die jüdische Presse ebenso schlau wie die conservative zu ihren durchsichtigen Reklamezwecken. Nein nein, man sitzt nicht immer mit einem Baron an einem Tisch; dies beglückt ja einen armen deutschen Schriftsteller. »College Baron X.« wird daher überall zum Vorsitzenden gewählt. Adel verbürgt Seelenadel, ein sehr gutes Geschäft.

Beide spielten hier die Rolle des »Großen Galeotto«, indem sie über Krastinik eine Verleumdung, »einem on dit zu Folge« aussprengten.

»Haben Sie dafür irgend einen Beweis?« fragte der Mann mit der Habichtsnase.

»Nein, das grade nicht. Aber Beweise beweisen nichts!« grinste Doktor Emil Bengelheim mit seinem grotesken schadenfrohen Kichern. »Es liegt in der Luft. Man sagt.. ›Relata refero, ich bin selbst dabei gewesen‹ wie Commerzienrath Landau zu sagen pflegt. Hihi!«

»El gran Galeotto!« – –

In einer Mittelloge thronte die holde Modelöwin Hagar Satzler in weißem Unschuldgewande, ihren Fächer aus Straußenfedern lieblich hin- und herschwenkend, während ihr andres Katzenpfötchen einen Veilchenstrauß umkrallt hielt. So zart, so weiß, so unschuldsrein wie ein klein Miesekätzchen – sie, die ungenannte Freundin so mancher umwandelbaren Mannesverehrung. Einen hatte sie nach der Riviera versetzt, einen Andern an die Nordmarken – da begriff man denn wohl die heitre Zufriedenheit, die auf diesen edelgeschnittenen Zügen ruhte, das stillbeglückende Bewußtsein eines herzlich guten Gewissens. »Ach,« flötete sie einem neben ihr stehenden kleinen Herrn zu, »ich liebe nur große schlankgewachsene Männer. Sagen Sie doch Ihrem Freund Kabel, er habe so schöne Hände!«

Im Parkett unterhielten sich eifrig Schmoller und Holbach. Letzterer jammerte wieder, daß sein Verleger für ihn so unfläthige Reklame mache, obschon natürlich er selbst hinter den Coulissen das Alles einfädelte. Ueber Schmoller's langgedehnte schnüffelnde Spürnase zuckte und wetterleuchtete es nervös, und seinen bärtigen Mund umspielte ein gradezu wollüstiges Lächeln überlegenen Hohns. »Ihnen schadet das nur, lieber Herr College? fürchten Sie nichts! Hören Sie die Stimme des Pessimisten: Wenn der Tamtam Ihnen schadet, warum ärgern wir uns denn alle so darüber? Das ist doch ein überzeugender Gegenbeweis für die Nützlichkeit Ihres Vorgehens!«

»Haha, Sie alter Schäker!« Holbach lachte heiser auf. »Was Wahres ist ja dran. Worüber sich unsre wahren Freunde freuen, das schadet uns gewiß. Sich zu, ob Deine Freunde sich über etwas ärgern – dann triffst Du sicher das Nützliche!«

»Ach Sie!« Schmoller wurde schon ausfallend. »Sie heulen doch immer mit den Wölfen!«

»Nun, warum nicht?« meinte Holbach begütigend. »Mit dem Hut in der Hand kommt man durchs ganze Land. Folgen Sie meinem Rath: Jedem Kritiker, schreibe er nun bös oder gut über mich, versetze ich auf frischer That einen Dankbrief. Glauben Sie mir, wir sind ja alle Menschen! Alles verstehen heißt alles verzeihen.«

O Du Spitzbube! dachte Schmoller der Fürchterliche. Die Notiz wandert sofort in mein Tagebuch. O schlechte Welt! Nur ich Biedermann verschmähe – –

»Wo steckt denn Federigo?« rief Holbach plötzlich. »Der müßte doch eigentlich die Claque leiten für seinen Freund Krastinik. Ich denke noch an sein Bravo-Gebrüll bei der Première seines Freundes Adler. Er riß sämmtliche Bänke mit sich fort.«

»Ach, bei dem Stubendramatiker! Na, heut hockt er wohl hinter den Coulissen beim Autor in der Stunde der Prüfung. – Uebrigens verkehre ich nicht mehr mit diesem Schurken.« Schurke war bei Schmoller ein Kosename. Bei ihm theilte sich ja doch die Menschheit in zwei Klassen: Die ihm nützten, – anständige Menschen, und die ihm nicht nützten, – Schurken. »Federigo – ja wohl! Ich bemerke übrigens, daß diese Verwälschung des Vornamens von mir stammt. Sie haben sie nur in Commission genommen, Herr Holbach.« Er litt nämlich an der Plagiatbeschuldigungs-Manie.

Auch die konservative Presse war vertreten. Herr Peter von Schnapphahnitzkoy (der polakische Adel darf sich schon 'was darauf einbilden, daß seine Vorfahren noch ärger, als die deutschen Raubritter und Strauchdiebe, das Stehlen und Plündern verstanden) putzte seinen Kneifer zurecht. Seine wasserblauen vorquellenden Froschaugen, sein pomadisirter fuchsblonder Wirbelscheitel, seine aufgestülpte Nase und sein breites bleichlippiges Maul bildeten ein Ensemble, welchem ein lauernder Jesuitenausdruck noch eine besondere Weihe verlieh. Mit spinnefeinem Lächeln tastete er gleichsam mit Spinnwebennetzen vor sich her und umgarnte seine Beute. Wegen allerlei Schuldengeschichten, kaum Lieutnant, aus dem Dienst entlassen, besaß er den hohen Muth, sich als Cirkusreiter das Leben zu fristen. Endlich, um sich zur tiefsten Stufe von der Höhe seines Adels-Tic's herabzulassen, wurde er Litterat. Nicht ohne ein gewisses Talent, besonders zu malitiöser Satire, focht er sich schneidig als litterarischer Freibeuter durchs Leben und endlich zum Redakteur der »Töchterzeitung« empor, wozu außer dem Wörtchen »von« sein formvoller Redeschliff und seine gewinnenden Manieren nicht wenig beitrugen. Gegen einen Schmoller nährte er Geringschätzung, weil sein beschränkter Verstand nur den Plebejer in dem Heros sah, gegen Leonhart hingegen tödlichen Haß, da seine giftige Neidwuth sich innerlich zerknirpst fühlte, trotzdem er sich mäkelnde Glossen erlaubte.

Die lächerliche Anrempelei eines parfümirten jüdischen Apolloschwengels (der eine beiläufige Aeußerung Leonharts über eine, diesem nur per Renommee bekannte, Modelöwin absichtlich mißdeutete, damit er sich als Ritter derselben das Air eines bevorzugten Liebhabers geben könne), hatte der Antisemit Schnapphahnitzkoy dazu benutzt, um Leonhart in eine Duell-Lage zu verstricken. Zwar lag der Thatbestand nicht entfernt so, daß Leonhart den Judenjüngling hätte fordern müssen, umsomehr derselbe nach Duellbegriffen eine unsatisfaktionsfähige Persönlichkeit vorstellte, da er auf öffentliche Ohrfeigung nur durch denunciatorische Ruinirung des Beleidigers geantwortet hatte. Allein, Schnapphahnitzkoy ergriff mit tückischer Freude die schöne Gelegenheit, um zu insinuiren, Leonhart sei beschimpft, falls er nicht Jemanden fordere, und daher wolle er für jenen ihm ganz Fremden eintreten!!! Er konnte dies schon wagen, zumal noch ein andrer sogenannter Freund Leonharts sich würdelos, trotz der überwiegend gegentheiligen Stimmung der Anwesenden, für die sogenannte »Ehre« jener Dame einsetzte, weil derselbe ebenfalls die geheime Gunst derselben zu erringen hoffte. Und Schnapphahnitzkoy spekulirte wieder auf die Gunst dieses Herrn aus Geschäftsgründen. Ergo! Leonhart, immer geneigt von seinen Nebenmenschen besser zu denken, als seine pessimistische Menschen- und Physiognomieenkenntniß ihn sonst lehrte, hielt die Sache jedoch für einen bloßen Spaß und suchte daher den p.p. Schnapphahnitzkoy in dessen Redaktion persönlich auf, um diese wesenlose Angelegenheit durch gemüthliche Aussprache aus dem Wege zu räumen. Allein bald mußte er erkennen, daß er einen schweren Fauxpas gemacht. Denn mit kaltblütiger Tücke bestand dieser ritterliche Shylok auf seinen Schein, sein Pfund Fleisch, sein liebes kleines Duell. Er gab zu, daß ihn die Sache nichts angehe, daß sie überhaupt unbedeutend sei, auch daß er selbst noch nie ein Duell gehabt habe. Trotzalledem aber müsse er darauf bestehn, sich mit Leonhart zu schießen, damit sein empfindliches Ex-Lieutnantsgefühl beruhigt werde. Leonhart stellte ihm die volle Unmöglichkeit der Motivirung vor, falls das Duell ernst sein solle – sei es aber als bloße gemeint, so danke er für solche Zeitvergeudung. Das Duell könne seinen guten Sinn haben (Schnapphahnitzkoy verschanzte sich dahinter, daß Leonhart ja das Duell an sich noch nicht verwerfe), falls es sich um ernsthafte Ehrverletzung drehe, aber nur so. Obschon nun Schnapphahnitzkoy recht wohl wußte, daß jedes Ehrengericht ihn als Rowdie-Raufbold verurtheilen und jeder Gerichtshof ihm das höchste Strafmaß des neu verschärften Duellgesetzes aufbrummen würde, – obschon ferner klar auf der Hand lag, daß er als guter Bekannter Leonhart's, wenn in seinem militairischen Ehrbegriff gekränkt, umgekehrt grade für denselben den Anrempler desselben fordern mußte, um seinem Anstandsgefühl genüge zu thun, – so ergötzte es doch das verkrüppelte Seelchen des Kleinen, den beneideten Großen in dieser Mausefalle zappeln zu sehn. Uebrigens fürchtete er auch ein ernstes Duell nicht. Erstens schoß und focht er meisterlich, wußte sich also von vornherein Sieger. Zweitens lag ihm wenig an seiner traurigen Existenz. Denn, eigentlich kerngesund, dichtete er sich ein aristokratisches Asthma an und sicherte sich nur noch kurze Lebensdauer zu. Es harmonirte damit, daß auch jener unglückliche Liebhaber der hinter den Coulissen spielenden Donna, welcher ebenfalls an Leonhart seine Rittersporen wenigstens schimpfend verdienen wollte, eingestandenermaßen an einem gewissen unheilbaren Leiden kränkelte. Daher der Todesmuth dieser Todeskandidaten.

Nun erfuhr zwar Leonhart bald darauf von verschiedenen Seiten überraschende Dinge über seinen edeln Feind, welche er jedoch schweigend ad acta legte. Auch das sonstige einstimmige Urtheil über den Trefflichen lautete gleich ungünstig. Nicht mal mit der Duell-Bravour hatte es seine Richtigkeit, da er kurz vorher erbleichend »kniff«, als einige gefährliche Studenten ihn wegen einer cynischen Bemerkung über das gesammte weibliche Geschlecht (daher Chef der »Töchterzeitung«) zur Rechenschaft forderten. Aber der Dichter, dessen Mensuren und Schlachten auf ganz anderem Gebiete lagen als auf dem der pöbelhaften Klopffechterei, schien ihm ein bequem wehrloser Prügeljunge, während er selbst vor seinem Todfeind Schmoller zitterte wie Espenlaub, wenn er diesem zufällig auf dem Pferdebahn-Perron begegnete, »zerschmettert von meinem Blicke,« wie der große Sittenschilderer ausschmückend hinzufügte.

Kurz, von welcher Seite man den ritterlichen ironischen Kneiferhelden auch betrachten mochte, – überall blieb er die gleiche einnehmende Überflüssigkeit, die ihre ganze Existenzberechtigung aus dem Wörtchen »von« herleitete.

Einen Augenblick empfand Leonhart, als die fischblütige Ruhe dieses Wouldbe-Gentleman an ihm die hartnäckige Betonung der Duell-Nothwendigkeit »aus unsern gesellschaftlichen Verhältnissen heraus« wie eine Schraubentortur weiterquetschte, das Gelüst aufzuspringen: »Sie sind ja ein Bube, Sie!« Sein Stock zitterte in seiner Hand, es schwamm ihm roth vor den Augen und er sah gleichsam das Blut langsam die wachsbleiche abgelebte Todtenmaske heruntertropfen, wenn er quer durch die hohngrinsende Fratze hieb.

Denn dieser gutmüthig weiche Charakter durfte leider mit Hamlet gestehen: »Wenn ich auch mild bin von Natur, so ist doch was Gefährliches in mir, das ich zu scheuen bitte.« Es war nur ein Augenblick, es ging vorüber. Er überlegte blitzschnell, was denn eigentlich daraus werden solle. Von höchstem moralischen Muthe, fühlte sich der Dichter, zwischen Jähzorn und Niedergeschlagenheit schwankend, so nervös herabgestimmt, daß eine allgemeine Schwäche der persönlichen Initiative (neben höchster Anspannung des Willencentrums in rein geistigen Dingen) ihn vor rohen Aeußerlichkeiten zurückbeben ließ. Sollte er sich hier persönlich mit dem gefährlichen Lauerer herumwürgen? Derselbe war allem Anschein nach wohl stärker, wie denn rauflustige Memmen immer nur dem physisch Schwächeren gegenüber Muth schöpfen, da ihnen ja nichts imponirt als körperliche Züchtigung. Von physischem Muth kann ja überhaupt nur dem Stärkeren oder gleich Starken gegenüber die Rede sein.

Die Renommisten der Fechtböden, prahlend mit ihrem muskulösen Arm, die minder Gewandten abfertigend, laufen oft in der Schlacht davon.

Duell! Sollte er sein kostbares Loben, von welchem die Zukunft der Poesie abhing, aufs Spiel setzen, um einem werthlosen Junkerlein als Zielscheibe seiner Schießkunst zu dienen?! Nein, diese Farce der Selbstentehrung, zu Ehren eines formvollendeten Rowdie für das Gerippe einer moderzerfressenen After-Ehre, sollte nicht den Mephisto des Zufalls ergötzen.

Leonhart erhob und empfahl sich kurz, mit lebhaftem Bedauern, daß ihre Auffassungen so weit auseinander gingen. Schnapphahnitzkoy geleitete ihn mit stummer Verbeugung bis zur Thür. Von beiden Seiten war kein zuchtloses Wort gefallen. In dieser Hinsicht wenigstens verleugnete jener merkwürdige Mensch nicht die Erziehung eines früheren Offiziers.

Beide ignorirten sich natürlich seitdem, wobei Schnapphahnitzkoy selbstverständlich von dem stolzen Bewußtsein strahlte, einen großartigen moralischen Triumph über diesen eingebildeten Dichterheros erzielt zu haben. Es giebt eine Heuchelei der Ehre, wie eine Heuchelei der Moral, und man möchte mit Falstaff fragen: Was ist Ehre! Jedenfalls hatte der Größenwahn der falschen Kavalier-Ehre wieder mal sein Opfer verlangt und zog sich mürrisch zurück, da sein planmäßiger Mordversuch an der gesunden Vernunft und Vorurtheil-Verachtung des Umgarnten machtlos abprallte.

Uebrigens rächte sich der Ritter von Schnapphahnitzkoy später auf eine höchst gentlemanlike Weise für den abgeblitzten Einschüchterungsversuch (eigentlich »Nöthigung« zum Zweck der Körperverletzung), indem er seine Feinde Schmoller und Leonhart nach deren Verfeindung wegen einer Injurien-Klatscherei öffentlich durch eine gänzlich erlogene Thatbestand-Entstellung gegeneinander hetzte, welche Leonhart jeder Zeit durch compromittirenden Abdruck der eigenen Briefe Schnapphahnitzkoy's an ihn hätte aufdecken können. Freilich entsprach es auch der Verlogenheit Schmoller's, daß er, obschon Leonhart gegenüber schriftlich wiederholt das Gegentheil bekundend, seinerseits nun die Darstellung Schnapphahnitzkoy's mit Bezug auf Leonhart's angeblichen »Verrath« an seinem früheren Freunde als richtig auffaßte, während lediglich er selbst seine Ansicht über Schnapphahnitzkoy aller Welt förmlich aufgedrungen hatte. Verlogenheit hier, Verlogenheit dort – in der Mitte die Unvorsichtigkeit einer schwachen Stunde vertrauensseliger Dupirung durch Schnapphahnitzkoy's falsche Freundlichkeit und Wehklage über Leonhart's kühle Ablehnung, welche offenbar durch Schmoller's Verläumdungen inspirirt sei!

Wegen solcher elenden Skandalaffaire hatte Leonhart schlaflose Nächte gehabt, weil er jeden Zweifel an seiner Loyalität als schweren Schimpf empfand, indeß Schmoller wie ein Wahnsinniger umhertobte und der Adelszwerg sich schadenfroh ins Fäustchen lachte, zwei Riesen hinterrücks in die Ferse gestochen zu haben. Gegen solche Meister des äußeren Scheins nutzt nichts die grobe Keule der sittlichen Entrüstung, sondern nur das Stilet ironischen Hohnes ....

Schnapphahnitzkoy referirte hier für die hochvornehme »Kreuz- und Schwertzeitung« und beschloß ritterlich, wie seine Auftraggeber, das Werk eines gräflichen Standesgenossen bis über den grünen Klee herauszustreichen. Lautet doch der allgemeine gang und gäbe Grundsatz der Berliner Kritik: So'n bischen Französisch und so'n bischen Adlig is doch gar zu schön!

Sein herumschlenkernder Kneifer küßte grade zärtlich den edeln Kneifer, welchen der große Heinrich Edelmann neben ihm schielend unter dem Parketsitz putzte. Haubitz hingegen kneiferte kühn die Logen an und strich sein schwarzes Knebelbärtchen, während er stockschnupfend einige weltbewegende Messiasaxiome umherstotterte. Sie referirten ja ebenfalls für ein christlich-teutonisches Blatt und hatten sich feierlich zugeschworen, ihren gräflichen Freund derartig zu preisen, daß er sich einer Anzapfung mindestens um 200 Mark nicht mehr entwinden könne. Das Loos sollte entscheiden, wer von Beiden diesmal »für einen darbenden Freund« die Kritik-Gebühren eintreiben solle.

Schnapphahnitzkoy gab sich mit so was nicht ab, sein Streben ging vielmehr nach einer guten Parthie, wie es bei diesen schlechten Zeiten nun mal nöthig scheint. Doch würdigte er vollkommen die Haltung der beiden verwandten Seelen, welche er sofort als »vornehme Naturen«, wie die technische Phrase lautet, erkannt hatte. Auch Wurmb schloß sich mehrmals begeistert an, wenn sie alle zusammen beim Schoppen die sittliche Größe des wahren charakterfesten Idealismus betonten, im Gegensatz zu der unwahren Weltschmerzfexerei und proteusartigen Unfestigkeit eines Leonhart, auf dessen kindlichen Größenwahn doch nun mal all ihre litterarischen Biergespräche unfehlbar wie die Nadel zum Magnet hinzielten.

Schnapphahnitzkoy erwähnte mit tadelndem Bedauern, daß man doch einen Kavalier wie Krastinik von seiner schier unbegreiflichen Vorliebe für jenes bête noire loseisen müsse. Die Waffenbrüder lächelten verschmitzt. Sie kannten die oft erprobte menschliche Natur. Spielte man nur den Freund gegen den Freund aus, so würde die geschmeichelte Eitelkeit des Einen und die verletzte Eitelkeit des Andern den Bruch schon von selber herbeiführen. Haubitz empfand eine diabolische Wollust des Vorgefühls. Wie wollte er Krastinik anpreisen und ihn den Stümpereien eines Leonhart gegenüberstellen!

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Die Klingel ertönte zum zweiten Mal. Das Bienenkorbgesummne eines Premierenpublikums vor Beginn der Vorstellung verstummte. Die wogenden Linien sanken in sich zusammen. Statt des Rauschens und Knisterns der Damentoiletten hörte man nur noch den üblichen Lärm der sich hebenden oder niederschlagenden Klappstühle, wenn die zu spät Kommenden sich in die Reihen durchdrängen. Der Vorhang ging auf.

Schon nach den ersten Worten verbreitete sich eine angenehme Verwunderung. Das war nicht die geschwollene blühende Jambensprache, an welche man bei historischen Dramen gewöhnt, das war nervige realistische Prosa. Das waren keine theatralischen Pappfiguren, das war wirkliches angeschautes Leben. Der Dichter vermittelte den Geist des alten Venedig so unmittelbar, daß man sich wie zu Hause fühlte. Die Handlung drehte sich um die Vermählung Katharina Kornaro's mit dem Kronprätendenten von Cypern und die Erwerbung dieses Inselreichs durch die meisterliche Diplomatie Venedigs, welche schonungslos jedes Einzelglück ihren Zwecken opferte.

Hier sah man die Emsigkeit, mit welcher sich die Meereskönigin zum Trotz des umbrandenden Meeres auf ihren eingerammten Pfählen lagerte und unablässig mit der andrängenden Fluth um ihr glanzvolles Leben rang, indem sie staunenswürdige Ingenieur-und Baumeisterwerke entgegendämmte. Die unermüdliche Entwickelung der Seekunde, der kühne Erwerbs-und Forschertrieb, der diese Kaufleute in fernste Zonen führte, so daß selbst die verlorenen Söhne Venedigs den Orient überall als Minister, Admirale und Handelsherrn beherrschten – alles das trat hier in die Erscheinung. Vor allem aber entfaltete sich das politische System dieses Insel-Roms, dessen Staatsgebilde die Kraft des menschlichen Willens im geduldigen Verfolgen eines großen Ziels offenbarte. Der Dichter lehrte durch anschauliche Darlegung, warum Machiavell im »Buch vom Fürsten« die geheime Schreckensherrschaft Venedigs als Muster hinstellte – diesen »Schrecken«, der sich auch später im Wohlfahrtsausschuß des französischen Convents als förderliche Waffe erwies. Man begriff, warum Taine den Bonaparte als einen Enkel der italienischen Condottieri gleichsam atavistisch erklären will, als eine posthume Neubelebung des Renaissance-Systems, wie dieses sich am klarsten in Venedig verkörperte.

In dem Admiral Moncenigo hatte der Dichter eine Gestalt geschaffen, aus einem Guße und doch von feinster Detaildurchführung.

Man sah gleichsam die geflügelten Marmorlöwen San Markos ihre Schwingen beutegierig über Land und Meer breiten und ihre Krallen einschlagen. Warum die vier Erzrosse aus Byzanz, welche an der Mittelfront des Doms so ernst herniederstarren auf die tändelnden Tauben der Piazza, an die Sonderstellung Venedigs als halborientalische Weltmacht erinnerten, begriff man an diesem umfassenden Gemälde verschollener Herrlichkeit.

Selbst der Dom San Marko (an dessen byzantinischem, mit romanischem und Ansätzen des gothischen vermähltem Stil alle Epochen der Venetianischen Größe mitgebaut – von der strengen Würde des Donatello-Stils bis zum üppig blendenden Schwung der Hochrenaissance, welche sogar ein Farbengemengsel von Blau, Braun, Gelb, Weiß und grellbunten Fresken zur Schmückung der äußeren Façade verwendete) redete hier in der Theaterdekoration seine wahre Sprache. Man gewann zwanglos tiefere Beziehung zu all diesen Zeugen der Weltgeschichtsentwickelung. In der spitzschnabeligen schwarzen Gondel – ein Sarg unter steinernen Leichen – glitt man gleichsam mit dem Dichter dahin und verstand die Schatten, die um die Kirchhofstille der Paläste griesgrämig dahinschlichen. Unter der hellerleuchteten Rialtobrücke fort, tauchte man unter in dunkle Kanalgassen und trieb langsam hinaus durch Canale Grande zum blauen Lido, während auf abgelegenen Winkelplätzchen allenthalben Kirchen von überwältigendem Reiz reifer Formschönheit emporsteigen. Man athmete gleichsam den Salzgeruch, der die Mauern umwittert und sie mit einer köstlichen bräunlich-grünen Lasur bekrustet.

So verwuchs die Handlung des Dramas gleichsam mit den äußeren Ornamenten der Scenerie. Das ganze Patrizierleben dieser Märchenstadt des Herzens schüttete seine Fülle verschwenderisch aus – Marmor, Gold, Brokat und Atlas, Mosaik und sammetweiches Farbenglühen der Gemälde – und wurde zugleich in seinen innersten Saugfäden offenbar. Es war, als ob die Pfähle, auf denen die Inselstadt erbaut, bloßgelegt würden. Aus allen Thaten und Worten dieses Lebensbildes tönte aber die Mahnung des Dichters: So macht man Weltgeschichte! Das hat den deutschen Tröpfen stets gefehlt. Nur rücksichtslose weltkluge Niedertracht führt zum Ziele. So, durch tausend Verwickelungen unentwegt sein geheimes Ziel vor Augen, pflanzte Venedig auf der Leiche seines vorgeschobenen Schützlings, des Königs von Cypern, sein Banner auf und benutzte die Schönheit der Venetianerin Katharina Kornaro zu einem politischen Schachzug.

Ein seltsamer Epilog krönte das sonst so schonungslos realistische Stück, ein Epiolog, dessen innere Nothwendigkeit gleichwohl sofort ins Auge sprang. Nachdem nämlich der 5. Akt an der Riva gegenüber der Seufzerbrücke im goldigsten Sonnenglanze farbigen Glückes geendet, zog sich plötzlich ein nebeliger Flor über die Scene. Man hörte eintönige Donner rollen und eintönig den Regen niederplätschern. Die meisterhafte Inscenirung gab genau jene Stimmung einer Regennacht in Venedig wieder, wo man gleichsam in purem Wasser zu schwimmen glaubt, von oben durchweicht und unten auf allen Seiten die grünlichen Lagunen. Da glitt eine schwarze Gondel heran, an deren Stern ein Man in schwarzem Pilgermantel stand, eine Lyra im linken Arme gebettet, während seine Rechte mit mondessilbernem Zauberstab die Wogen zu beschwören schien. Und die Wogen murmelten ein Lied von Ihm, dem Gast des zerfallenen See-Gomorrha, das ihn mit Gift berauschte aus venetianischen Kelchen.

Wohl ein Gedanke, würdig eines so großen Dichters wie dessen, der dies gewaltige Drama geschaffen: Dem Weltdichter des Weltwehs, dem Bräutigam der Schönheit, Lord Byron, das letzte Wort zu lassen, die Klage um aller Menschengröße Vergänglichkeit. Und die Gestalt, halb als Vision gedacht, nebelumflort, sprach also:

Noch klebt Schaum und Tang des Meeres,

Dem entstieg dies Wasserwunder,

An dem bröckelnden Gewande.

Marmorsäulen, Palastgiebel

Rings verächtlich niederschauen,

Wie herabgekommene Prinzen,

Vornehm ruhig auf das Lärmen

Dieser neuen Pöbelwelt.

Ueber allem webt sich farbig

Ein geheimnißvoller Schleier.

Den Rialto neubeleben

Bunte Maskenkarnevale

Schauender Erinnerung.

Schnitzerei des Buccentoro –

Die gehörnte Dogenmütze

Auf dem weißen Martyrhaupte

Foscari's und Falieri's

Und des blinden Dandolo –

Scharlachseidene Talare

Der geheimen Tribunale –

Alle Perlen der Kornaro

In dem Goldhaar schöner Damen,

Wie sie Tizian conterfeit –

Alles wirbelt hier zusammen

In ein Bachanal der Sinne,

Feiert eine Dogenhochzeit

Mit dem Meer der Phantasie.

O Venedig, stolze Greisin,

Greisin in zersetztem Purpur,

Steige her zu meiner Gondel

Nieder von den Marmostufen,

Die der Flügellen bewacht!

Wie die letzten Senatoren

Grollend einst hinabgeschritten

Aus dem Saal der letzten Sitzung

Bei dem Fall der Republik!

Also fahre mit mir, fahre

Weit hinweg mit Deinem Freunde,

Weit hinweg aus dieser neuen

Jämmerlichen Welt der Prosa!

Horch, die alten Glocken klagen

Droben von dem Kampanile:

Für Venedig und die Dichter

Hat die Erde nicht mehr Raum!

Langanhaltender Beifall, wiederholtes donnerndes Bravo bestätigte, als der Vorhang fiel, den tiefen und nachhaltigen Eindruck der Dichtung. Das war einmal etwas ganz Neues, etwas, was noch nicht von den alten Tragikern vorweggenommen. Das war das politische Drama, die Historie großen Stils, das realistische Hohelied der Weltgeschichte.

»Krastinik! Graf Krastinik!« schrie es aus allen Logen, von allen Gallerieen. Der tobende Beifall nach den ersten Akten hatte das Erscheinen des vielbegehrten Dichters vor der Rampe nicht erzwingen können. Jetzt aber nach Ende der Vorstellung mußte er doch dem brausenden Hervorruf folgen. Der Director stürzte aus seiner Loge, um selbst hinter Coulissen den Beglückten herauszuholen. Allein nach längerer Pause meldete er persönlich mit verlegenem Gesicht dem ungeduldigen Publikum, daß der Dichter sich bereits entfernt habe. Er danke also im Namen des genialen Verfassers für die herzliche Aufnahme.

So war denn ein neuer großer Dichter aus der Taufe gehoben. Sämmtliche Theaterkritiker stürzten in wildem Pêle-Mêle zu ihren Droschken, um sofort auf der Nacht-Redaction die denkwürdige Thatsache für den Morgentisch Berlins zu serviren. Allen voran als der Findigste rasselte der Referent des »Börsencourier« in seiner vorher bestellten Droschke I. Güte, der einzige Gutmüthige nebenbei, der mit wirklichem Wohlwollen auf etwas Gelungenes hinwies.

II.

Ja, wo war Krastinik? Auch er hatte sich in einen Wagen geworfen und saß nun einsam brütend vor seiner Lampe. Von Leonhard hatte er nichts gehört, da verabredetermaßen, um keinen Verdacht zu erregen, dieser sich ihm fernhielt. Gewiß war er mit im Theater gewesen. Der Glückliche! – Wahrhaftig, der Graf hatte eine Ritterthat auf sich genommen, schwerer und bitterer als manches Martyrium. Sein Stolz litt unbeschreiblich. Hundertmal hätte er hinausstürzen mögen vor die Lampen, um dies vielköpfige Gemengsel von Seide, Patchouli und Pomade anzubrüllen: »Ihr Elenden, ihr Narren! Daß Keiner von Euch ahnt, nur Einer könne das geschrieben haben, der unbekannte Gott, den Ihr nicht kennt! Nicht der Graf, den Ihr so innig bejubelt, ist euer Idol, sondern der verlästerte niedergetretene Anti-Streber, den ihr beschimpft, ohne ihn zu kennen!«

Aber auch der alte Sauerteig der menschlichen Selbstsucht gährte mächtig auf – das eigene Dichterthum des tapferen Mannes, der sich hochherzig dazu überwunden, dem Größeren als Fußschemel zu dienen, fühlte tiefer und tiefer den Stachel verwundeter Eitelkeit.

Man mochte ja seine selbstlose Absicht anerkennen, – aber etwas vom Raben, dem man die Pfauenfedern nimmt, blieb gewiß an ihm haften. Ein Beigeschmack von Neid, den er mühsam unterdrückte, mischte sich der Anwandlung unwilliger Scham und Scheu vor dem Gespötte der Welt .....

Auch am andern Tage erwartete er Leonhart vergeblich. Er ließ sich verleugnen, als natürlich pflichtschuldige Satelliten des Erfolges ihm nacheinander ihre Aufwartung machten. Die eingebogenen Zeugen der Theilnahme häuften sich auf seiner Visitenkarten-Schale. Krastinik lächelte bitter. Noch bitterer, als er die Zeitungen las, welche ausnahmslos einen »Riesenerfolg« constatirten und den gräflichen Dichter in kühnem Schwunge mit Lord Byron verglichen.

Warum kam nur Leonhart nicht? Gegen Abend ließ es Krastinik keine Ruhe mehr. Er griff zu Hut und Stock und machte eine Abendpromenade. Da begegnete ihm der Oberst von Dondershausen, dem er umsonst zu entwischen suchte. Mit Elan stürzte der patriotische Sänger auf ihn zu und drückte ihn an die ordengeschmückte Heldenbrust. Er war nicht im Frack, trug aber gleichwohl seinen neusten Orden mit Eichenlaub spazieren. Er gehe nämlich zu einer zwanglosen Soirée bei Commerzienrath Wolffert. »Sie wissen, der große Waffenfabrikant.«

»Und Fortschrittsredner.«

»Ah, das ist so seine Marotte. Sonst ein hochpatriotischer Mann, wird bei Hofe eingeladen, Sie verstehn. Eine durch und durch vornehme Natur! Kommen Sie mit, Verehrtester! Wolffert wird sich unendlich freuen und die Ehre zu schätzen wissen.«

»Ah, ich bedaure ...«

»Nichts da, liebster Graf! Glauben Sie mir, Der kann Ihnen nützlich werden. Man muß nie die Gelegenheit vorübergehen lassen..«

»Selbst wenn ich wollte, ich bin nicht in Toilette..«

»Braucht's nicht. ›Im Überrock‹ ist befohlen. Ist nur eine ganz zwanglose Abendunterhaltung, nicht in Wolffert's Stadtwohnung in der Viktoriastraße, sondern in seiner Schöneberger Villa. Unter uns, hat seine eigene Bewandtniß. Heut führt sich zum ersten Mal die junge Frau Wolffert in die Gesellschaft ein. Eugen Wolffert junior, einziger Sohn und Erbe.. hm, hm, haben Sie nicht gehört?«

»Keine Spur. Mir eine terra incognita.«

»Na also, der junge Mann leistete sich den Luxus einer etwas excentrischen Heirath. Die Geschichte ist erst vor kurzem ruchbar geworden. Hat sich ohne Wissen des Vaters in Hamburg mit einem Mädchen trauen lassen, das – das – hm, hm, Sie verstehn.«

»Was, ein Akt aus Dumas' ›Kameliendame‹?«

»Gott behüte, nein! Ein sehr anständiges Mädchen, sehr, und wie man sagt, eine blendende Schönheit.«

»Ein armes, tugendliches Bürgermädchen? Ei, ei, wer hätte das von einem Wolffert gedacht!«

»Ja, ja, arm und tugendhaft. Nur.. nur.. ihre Vergangenheit ist ja sonst fleckenlos.. nur soll sie mal einen Monat lang bei einigen Malern in Berlin Kopf-Modell gestanden haben..«

»Modell gestanden?« Krastinik horchte hochauf. »Das ist ja sehr interessant.«

»Ja, wie gesagt, in allen Ehren. Die Herrn Maler, welche sie kannten, stellen ihr einstimmig das beste Zeugniß aus, auch mein hochverehrter Freund Adolf von Werther, den ich soeben besuchte. Ach, ist das ein Mann! Diese schlichte, bescheidene, vornehme Erscheinung! Sie kennen ihn doch?«

Krastinik nickte kurz, ohne zu antworten. Jener freche geschmeidige Streber mit der Handwerksburschen-Visage und der wallenden Rafaelsmähne ekelte ihn an. »Also in Hamburg hat Herr Wolffert junior sein Ideal gefunden?«

»Ja, ob dort gefunden, daraus wird man nicht klug. Jedenfalls hat er sie dort geheirathet und seinem Alten dann einfach die ergebenste Mittheilung gemacht. Der soll wie von Sinnen geworden sein, hat sofort Enterbung verfügen wollen und was weiß ich! Am Ende aber hat ihn Wolffert doch herumgekriegt oder vielmehr, wie man sagt, die schöne Schwiegertochter. Denn unser schneidiger Fortschrittsredner weiß in Allem genau zu rechnen und hat wohl eingesehn – hehe –, da ja doch nichts mehr daran zu ändern war, daß eine schöne Schwiegertochter ihm grade für seinen Salon paßt, wo er alle Kreise zu vereinigen strebt. So machte er denn gute Miene zum bösen Spiel und spielt jetzt sehr geschickt auf der Fortschrittssaite – hehe. Ohne Vorurtheile, verstehn Sie.. Tochter des Volkes, durch ihre Bravheit geadelt.. die Wolffert's brauchen nicht auf Geld zu sehn. hehe.. verachten alles Materielle, verstehn Sie.. der große Freiheitsheld steigt durch seinen Sohn zum Volke herab.. na, seine Popularität soll durch diese volksmäßige Heirath des Jungen enorm gestiegen sein.. utile cum dulci, hahaha!« Dondershausen lachte laut und schmetternd.

Krastinik gingen seltsame Gedanken durch den Kopf. Er dachte natürlich an Rother und seine ähnliche Absicht. Wie wunderbar das Leben die Kontraste combinirt! – Warum sollte er sich übrigens diese Posse nicht mal mit ansehn? Seine nervöse Unruhe und Verstimmung verschlimmerte sich nur durch Einsamkeit. Er mußte Gesellschaft suchen, sich zerstreuen. – Nach einigem Zögern sagte er Dondershausen zu, ihn begleiten zu wollen, und beide rollten im Droschken-Tempo die Potsdamerstraße entlang nach der Richtung des Botanischen Gartens.

III.

Der Jour Fixe des Commerzienraths Wolffert hatte wie gewöhnlich viele Freunde des Hauses angelockt. Auch Neugier, die junge Frau kennen zu lernen, zog an. Kaum angekommen, verloren sich Dondershausen und Krastinik im Gedränge und es gelang nicht, den Wirth aufzustöbern. Endlich zeigte der Oberst dem Grafen den Sohn des Hauses und Letzteren frappirte sichtlich die blasirte Miene des jungen Ehemanns. –

Eugen hatte seinen Willen durchgesetzt, einen »elementaren Persönlichkeitsbeweis« abgelegt, wie der philosophische Oberst dies bezeichnete. Aber nun langweilte sich bereits der junge Weltbummler.

Das eigentliche Fieber der Leidenschaft, das ihm einst die Eingeweihte verzehrt und die Seele verbrannt hatte, verkohlte. Eine gleichgültig gemütliche Zärtlichkeit trat an seine Stelle. Ihn reizte hauptsächlich noch der Gedanke, daß die vielbegehrte Schönheit von ihm schwanger sei. Dies Behagen an ihrer Schwangerschaft hatte etwas schmutzig Egoistisches. Eigentliche Liebe oder Leidenschaft fühlte er keineswegs mehr für das schöne Geschöpf, sondern vielmehr eine eitle Besitzfreude. »Ich habe sie,« das war der Grundgedanke seiner Neigung. Weit mehr, um dies Besitzrecht zu zeigen, als aus Begierde fröhnte er den Freuden der Liebe mit andauernder Regelmäßigkeit. Ganz vereinbar damit war es, daß er innerlich jeden Morgen murrte, weil er leidenschaftlos, einfach aus Gewohnheit und Eitelkeit, seine Säfte verschwendet hatte. So trägt jede erotische Leidenschaft ohne wahre Liebe ihre Geißel in sich selbst. Eine gewisse beiderseitige Kälte sänftigte wohlthuend die Gefühle – ihre Liebesaversion und seine erotischen Flammen. Sein Gehirn fing an, seine Sinnlichkeit zu absorbiren, und eine gewisse Nervenschwäche, die sich latent bemerkbar machte, trat hinzu. Eigentlich fühlte er sich wohl dabei, dem Druck des geschlechtlichen Alleingefühls entronnen zu sein. So löst sich die Empfindung in ewigem Kreislauf ab. Grämliche Verdrießlichkeit folgt meist der sinnlichen Anreizung, beseitigt aber dafür auch das Fieber des Verlangens und kühlt zu gelassener Arbeitsruhe ab. So kann unter Umständen auch das Laster mehr kalte Seelenruhe verleihen als die Tugend, die von Sehnsucht kaum trennbar. Andrerseits erhöht wieder die Keuschheit, sobald sie sich in ritterlicher und hochherziger Leidenschaft für ein bestimmtes Wesen ausdrückt, die Kräfte des Einzelindividuums über sich selbst hinaus. Ein platonisch Liebender, der als Endziel seiner Mühen ein Weib ersehnt, ist von unwiderstehlicher Stärke und wagt den Kampf mit dem Schicksal, indem er die persönliche sinnliche Selbstsucht gleich sam aus verfeinerter Selbstsucht niederzwingt. Hingegen werden Keuschheit und Gesundheit an Leib und Seele um so tiefere Schmerzen bereiten, wenn ihnen die Schwäche und Sinnenknechtschaft der meisten Andern nahegerückt wird.

Wie kann ein sinnlich Denkender je die volle Pein einer unglücklichen Liebe empfinden!

Jedenfalls scheint Alles, Glück wie Unglück, Tugend wie Untugend, vollkommen gleichwertig für die Entwickelung des Individuums.

Schlaffe und müde Genußentfähigung ist ein verdrießlicher Zustand, aber nicht minder die Sehnsucht nach irgend einem Genusse, der leichter oder schwerer errungen werden kann und dessen Erwartung nun die beschauliche Geistesstimmung des Normalzustandes stört.

... Krastinik warf einen prüfenden Kennerblick auf die Gesellschaft und bat den liebenswürdigen Ordensjäger, der nach allen Seiten, bücklingte, um aufklärende Bezeichnungen.

»Wer ist dieser Herr dort, der so krampfhaft gestikulirt?«

Er wies auf einen Bonvivant mit geröthetem Faungesicht bei stark ergrautem Backenbart, welcher in heulenden Fisteltönen einer ewigen Extase Luft zu machen schien.

»Wie? Den kennen Sie nicht? Daß ist ja der berühmte Kritiker Ludolf Lutsch.«

»Ach Herrje! Das jenügt!« schnarrte Krastinik ironisch. »Freut mich den Mann zu sehn, der selig machen und verdammen kann!«

Natürlich schien die Finanzwelt stark vertreten. Auch jener hervorragende Makler war erschienen, welcher einst Kathi in einem so überschwänglichen Brief die Ehre der Maitressenschaft angeboten hatte. Mit einem gewissen Hochgefühl strich er seinen wallenden schwarzen Bart, indem er Kathi aus der Ferne gierig mit seinen Blicken verschlang. Sonst war sein Verhältniß zur Kunst kein intimes zu nennen gewesen und beschränkte sich auf Unterstützung des Ballets. Nun fiel ihm die Binde von den Augen und er erkannte sich als »Idealist«. Bisher schlummerte dieser Trieb im Verborgenen. Aber seit der Prozeß Graef ihn über das wahre Wesen des »Ideals« aufgeklärt, schwang er sich durch fleißige Betrachtung und Behandlung zur Höhe der Kunst, zum Nackten, nunmehr mit vollem Bewußtsein empor. Jetzt brachte er seinen Idealen eine ihm neue künstlerische Begeisterung entgegen, welche auf dem vertieften Studium der sogenannten Natur beruht. Bisher handelte er eben mit dem Instinkt des Unbewußten, wenn er seine nicht ungewichtige Verehrung »diesen Damen« zu Füßen legte. Jetzt aber wußte er, daß ein geheimer künstlerischer Drang ihn zur Betrachtung des Akt-Stehens trieb. O hätte er doch, wie dieser Schwerenöther Eugen, das herrliche Naturmodell käuflich erworben! Er hatte es ja dazu. Denn die Kunst geht nach Brot und das Studium des Nackten ist theuer. Schade! Er hätte es sich gern was kosten lassen. Nochmals Schade! Mit dem erkorenen Spezial-Modell war es nun nichts mehr. Doch wer weiß! Es ist noch nicht aller Tage Abend. Frau Kathi Wolffert würde vielleicht nicht immer unnahbar bleiben. Jedenfalls halten wir fest am Idealismus und am großen Stil des Nackten.

Commerzienrath Wolffert, ein dürrer Mann mit einer ungeheuren Birnennase, Fistelstimme und katzenhaft schleichendem Tritt, huschte liebenswürdig durch die Reihen der Gäste. Krastinik hörte einige Umstehende nähere Familiendetails erörtern. Wolffert junior habe seine jugendlichen Thorheiten überwunden, die befürchten ließen, daß er sich dem Müßigang widmen werde. Mann befürchtete einst sogar, daß er als litterarischer Schöngeist sich dem Staate entziehen wolle. Jetzt aber, da er ein Mann war, that er ab, was kindisch war, und trat ins Geschäft des Vaters ein. Die Firma werde demnächst lauten: Wolffert und Sohn. Um diesen Preis verzeihe ihm die Gesellschaft den unglaublichen Mißgriff seiner Liebesheirath, obschon natürlich die Damen sich fürs erste noch reservirt fernhielten. Man sehe doch den sittlichenden Einfluß der Ehe. Uebrigens könne man von der Vergangenheit der jungen Frau, die als Buffetdame in einem Hamburger Café fungirt haben solle, sonst nichts Uebles reden. – Doch schien über Manches ein Dunkel zu herrschen. So fragte ein junger Sportsman plötzlich mit offenbarer Neugier den soeben sich nähernden Eugen, wohin er doch gleich seine Hochzeitsreise gemacht habe. Er, der Frager, habe davon gehört, es jedoch vergessen. Nach augenscheinlich verlegenem Zögern gab Jener kurz zur Antwort: »Nach Norwegen.« Krastinik horchte wieder hoch auf. Ein Zufall wollte, daß der neugierige Jüngling im vorigen Jahr mit Stangen die skandinavische Route gemacht hatte. »Wir kamen aber nur bis Hönevoß. Kennen Sie Hönevoß?«

»O und ob! Einer der schönsten Tage meines Lebens!« Eugens Auge blitzte auf. »Es war ein herrlicher Juniabend. Ich glaube, der 17. Juni.« Krastinik zuckte leicht zusammen. Wie, trug Rothers Brief aus Hönevoß nicht dasselbe Datum?

»Schneidiger Smoking-room, auf Ehre!« Ein Theil der Gäste drängte in ein kleines elegant ausgestattetes Rauchzimmer. Dondershausen wollte die Gelegenheit benutzen, um der Wirthe habhaft zu werden und den Grafen vorzustellen. Aber dieser bat ihn hastig noch zu warten und hielt sich beobachtend retiré im Hintergrund.

»Stilvoll, intim, anheimelnd!« rief Lutsch begeistert. Er beroch seine Cigarre: »Upmann Regalia?! Jeglichem Lobe zu groß! – Ach, Herr Wolffert, Ihre junge Frau – superb! Etwas blaß. Das giebt ihrem Teint einen intimen Timbre – gradezu stilvoll! Ach, was für ambrosische Weiber dies hochzeitliche Fest wiederum vereinte! Alle Schönheiten Berlins zogen ihr hochzeitlich Kleid an – manche möglichst wenig davon und das sind die einzig wahren!« Dabei hauchte er, mit halb zerkniffenen Augen, das kritische Urtheil: »Diese pastos aufgetragenen, lichtwarmen Rosatöne schmelzend ambrosischen Fleisches!«

»Oller Fleischbeschauer!« murmelte man in der Runde. Lutsch aber fuhr unverdrossen fort, indem er auf Commerzienrath Wolffert lossteuerte, der eben hereingeschlichen kam: »Ihr Ball ist von einer wunderba – aren Schönheit! Selbst auf dem Subskriptionsball sahen meine sündigen sterblichen Augen nicht solche göttlichen Weiber!«

Wolffert senior fühlte sich, wie es schien, peinlich berührt durch diesen ungezügelten Gefühlssturm; denn er fistelte pikirt: »Weiber?! Ich muß doch bitten, Damen.«

»Damen, Madame, Signora, Miß, Milady – was Sie wollen!« heulte Lutsch unbekümmert fort, indem er seinen Chapeauclaque schwenkte. »Für mich bleibt jede Göttin doch einfach ein göttliches Weib! Wir, die wir athmen und weben in der freien vornehmen Lebensanschauung der Kunst – wir jubeln und seufzen halt mit dem Altmeister: ›Das ewig Leibliche zieht uns hinan! Ach und das Unbeschreibliche hier ists gethan‹: Sehn Sie doch nur diese Toilette!« Dabei deutete er auf eine im Nebenzimmer vorüberrauschende Dame. »Muß mir doch gleich notiren.« Er zog sein vielbeliebtes Notizbüchlein, in Saffian gebunden, aus der Fracktasche, in welches er ab und zu eifrig zu kritzeln pflegte, und schrieb die druckreifen Worte:

»Das tiefviolette Kleid mit Devant aus heliotropfarbigem Atlas, augenscheinlich aus dem Magazin der berühmten Firma Gebrüder Witzleben hervorgegangen, wurde noch mehr gehoben durch ein Brillantfeuerwerk. Die ganze Erscheinung möchten wir mit dem einen treffenden Worte kennzeichnen: Brillant!«

»Ach und dort, ich bitte Sie!« Er schrieb wieder etwas Lebendiges aus dem Hintergrund ab:

»Auch unsre Primadonna Donna Lucrezia Calcante – sie, welche gleich Lucrezia Borgia ein süßes tödtliches Gift für liebeglühende Männerherzen besitzt – zierte das Fest des größten Waffenfabrikanten der Welt.«

»Nana, erlauben Sie!« fiel der Vorfechter der Freiheit verlegen ein. »Sie bringen mich um! ›Der Welt‹ – das ist doch zu kolossal!«

Doch der unerschütterliche Lutsch replicirte gewandt: »Ich bin für das Kolossale! Auch insofern – wer ist dort die kolossale Dame?«

»Das ist Frau Cohn, von Cohn und Compagnie.«

»Frau von Cohn und Compagnie,« notirte Jener eifrig und schmückte den trockenen Namen alsbald mit folgender Hyperbel, indem er halblaut heulend schrieb:

»Und wer, der die üppigschöne Frau C. in ihrer hellfarbig gemusterten Brokat-Robe bewundern durfte, konnte ahnen, daß vierzig herrliche Lenze über ihrem Scheitel dahingegangen?«

»Sie sind bescheiden,« lachte Eugen Wolffert, der unvermuthet hinter ihm stand.

»Sind wir immer. Na, sagen wir: ›neununddreißig Lenze‹.« Lutsch schien durch nichts aus der Fassung zu bringen. Seine unerschöpfliche Phantasie setzte schwungvoll fort:

»Als Ebenbild dieser hoheitsvollen Juno schmiegten sich an sie ihre rehäugigen Töchter –«

»Pardon« unterbrach er sich, »hat sie Töchter?«

»Ja doch, Sie schnurriger Interviewer Sie!« lachte Eugen. Aber schon nahm ein neuer Gegenstand die Sinne des leicht erregbaren Ludolf gefangen:

»Gott, was seh ich! Auch Fräulein Rasolinska, unsre göttliche Ballerina? – Eine Inspiration!« Und er schrieb:

»Als ein unter dem Giftbaum der Börse lagernder lieber Freund sie in ihren Diamanten erblickte, rief er begeistet: ›Ich gebe für Fräulein Rasolinska 200000 Mark.‹«

Seine Inspiration hatte ihn so überwältigt, daß er Wolffert senior unter den Arm nahm und mit ihm herumtänzelte, indem er heiser dazu trällerte:

»Du hast Diamanten und Perlen ...«

»Sst, will er wohl still sein!« Eugen hielt ihm lachend den Mund zu. »Sie compromittiren uns noch!«

Da sprach Lutsch die geflügelten Worte:

»Der Skandal – das ist der Ruhm! Lehren Sie mich unsre lieben göttlichen Weiber kennen! Wir verstehen das Frauenherz!« Dabei klopfte er sich auf den Bauch, mit der Befriedigung des guten Gewissens. »Aber ich beschwöre Sie, liebstes Commerzienräthchen,« heulte er plötzlich »sehen Sie doch nur Ihre Schwiegertochter, sehen Sie doch!«

»Ich sehe ja schon!« fistelte dieser halb geschmeichelt, halb ärgerlich.

Im Hintergrunde sah man Kathi, von einigen Herren umringt, die Honneurs machen.

»Halten Sie mich!« Lutsch kniff Eugen in den Arm. Ich gerathe in Extase! Eine Prinzessin, eine ladylike Grazie! Für mich eine Mädchenblüthe von intimstem Reiz!

»Intimstem? Oho!«

»Nein, mein guter Commerzienrath, das verstehen Sie wieder nicht. Wir Kunstbeflissenen reden eine besondere Geheimsprache. ›Intim‹ – das heißt bei uns: ›unsagbar‹, ›duftig‹ ›keusch‹!«

»Keusch – so!« lächelte Eugen.

»Das wundert Sie? Wenn Sie meine Kritiken genauer lesen, so werden Sie ›keusch‹ und ›vornehm‹ als meine Leib- und Magenwörter fast in jeder Zeile entdecken. Wenn ich so einen Mann sehe wie Sie, dann sage ich einfach: ›Ein vornehmer Charakter!‹ Nehmt alles nur in allem, er ist –«

»Ein reicher Mann« brummte Eugen beiseit.

»Und was edle Frauen betrifft.. sehn Sie z.B. dort dies entzückende Wesen!« Er notirte wieder mal:

»Rosaseide mit türkisblauen Schleifen nebst saphirblauem Fächer mit Straußenfedern, eine Perlenschnur um den Schwanenhals ...«

»Sehen Sie, da sage ich schlechtweg: Ein keusches Weib! – Ach, Herr Wolffert, und Ihre Gattin!« Sein Notizbuch zitterte ordentlich unter der Hast des Bleistifts:

»Eine Schlepprobe von weißem Sammt mit weißen Seerosen über einem Kleide von weißer Seide und Brüsseler Spitzen ...«

Kathi trat eben einen Augenblick aus dem Saal herein und Eugen verfehlte nicht, ihr Lutsch zu präsentiren:

»Dir haben wohl die Ohren geklungen! Du hättest Deinen geistreichen Anbeter hören sollen!«

»Geistreich, aber ach, alt.. alt!« heulte Lutsch mit schwermüthigem Augenverdrehen, indem er Kathis Hand unter vielen Verbeugungen zärtlich küßte. »Wir armen Alten! Dahin ist die Zeit, wo die Sonne holder Frauengunst..«

»Sie wollen wohl Complimente hören?« Kathi schlug ihn leicht mit dem Fächer. Aber ihr Auge sah leer und gelangweilt über ihn weg und in ihrem Ausdruck lag eine müde Abgespanntheit, mit einer gewissen nervösen Unruhe verbunden. Ihre Augen irrten umher. Es war, als ob sie etwas suche – aber etwas Fernes, Unsichtbares.

Schon eine Zeitlang wunderte sich Dondershausen über eine auffällige Unruhe Krastiniks, der bald vor, bald zurück trat mit einem spähenden Ausdruck, als ob er etwas erwarte. Jetzt aber, als der Oberst ihn am Rockzipfel ergriff, um ihn durch die Gäste zu den Wirthen heranzubugsiren, wehrte ihn der Graf mit raschem Winke ab. Hastig bat er im Flüsterton, ihn entschuldigen zu wollen; ihm sei nicht wohl und er müsse heimkehren. Als Jener erstaunt zum Abschied die Hand drückte, nahm ihm Krastinik noch sein Ehrenwort ab, nicht zu verrathen, daß er mitgekommen sei. Dondershausen werde ja begreifen, daß es peinlich sein müsse, wenn Wolfferts erführen, wie man hier bloß hineingerochen und dann mit französischem Abschied Reißaus genommen habe. – –

In heftigster Erregung, von widerstreitenden Empfindungen geplagt, durchwachte der Graf schlaflos die Nacht. Also hatte ihn sein Argwohn nicht getäuscht – sie, sie selber, seine einstmalige Liebste! So gleichgültig ihm die Erinnerung verblaßt schien, konnte er sich doch eines seltsamen wehmüthigen Schauers bei ihrem Anblick nicht erwehren.. Und dann andrerseits.. ihm wurde alles auf einen Schlag klar. Die Beiden in Norwegen, Rother auch.. Hönevoß.. am selben Tage.. Rothers Brief.. das Datum stimmte.. hier konnte ein Blinder den Zusammenhang erkennen. Rother's lustiger Brief beabsichtigte nur eine heroische Täuschung. Seine seltsame Todesart, die man ja ohnehin kaum als Zufall deuten konnte, offenbarte sich zweifellos als Selbstmord. Er hatte den Zustand wehrloser Liebesberaubung nicht ertragen, nicht dem Glück des Andern, das ihm gebührte, zuschauen wollen. Und wohl noch mehr. Wie Rother's sensitive zarte Natur es verlangte, mochte er nicht das Glück Kathi's vernichten. Wußte er doch, daß Krastinik in Berlin und, wenn er selbst dorthin zurückkehrte, ein Skandal unvermeidlich war. So starb er denn für seine Liebe, ein ideologischer Querkopf, und endete, wie sein seelischer Organismus es bedingte, unglücklich und edel bis zum letzten Athemzug.

Dem Grafen traten unwillkührlich Thränen in die Augen. Ein unbeschreibliches Mitleid ergriff ihn für dies Opfer erotischer Hingebung, ein Mitleid, das zugleich den gerechten Zorn hinwegschwemmte, der ihm gleichsam Blutrache gegen die Schuldige gebot. War sie denn eigentlich schuldig? Sollte er nun auch sie vernichten? War es nicht genug mit einem Opfer? Aber was thun! Mußte nicht irgend eine Katastrophe sich vorbereiten, wenn er nun wirklich in ihren Bannkreis trat? Und wie das vermeiden? War er nicht jetzt eine berühmte Persönlichkeit, dessen Bild in den Schaufenstern hing? Mußte sie nicht schon auf seinen Namen stoßen, wenn sie eine Zeitung aufschlug? Sie liebte doch wohl ihren Mann und der hatte sie doch nur heirathen können, weil sonst keinerlei Beweis gegen ihre Unbescholtenheit vorlag. Und nun den lebenden Zeugen des Gegentheils vor Augen – – wie sollte das enden? Entweder verbrachte sie ihr Leben in ewiger Angst, die auch sie zum Selbstmord treiben konnte – möglich ist ja alles. Oder sie verfuhr aggressiv und suchte ihn auf die eine oder andere Weise unschädlich zu machen – möglich ist ja alles. Die Rache und die Feindschaft eines gefährdeten Weibes findet ja tausend Mittel. Oder es passirte gar das Schlimmste: Sie liebte ihn immer noch und die alte Flamme loderte wieder auf, on revient toujours á ses premiers amours, besonders eine Frau – möglich ist ja alles. Wie aus diesem Labyrinth sich herauswinden! Da war guter Rath theuer. Vielleicht wußte Einer Rath: Leonhart. Morgen würden sie sich ja bestimmt sehn.

Aber der Morgen kam und unter dem Stoß conventioneller Gratulationsbriefe brachte die Post keine Zeile von der Hand des Nächstbetheiligten. Was in aller Welt bedeutete das! Krastinik überwand seine falsche Scham und tunkte eben die Feder ein, um den Freund per Rohrpostkarte zu sich zu bitten, als ihm der Polizeilieutnant des Reviers gemeldet wurde. Ueberrascht fragte er nach dessen Begehr. Der Beamte fragte verbindlich, aber ohne Umschweif zur Sache kommend, ob er nicht mit dem »Schriftsteller Leonhart« befreundet. »Intim.« Ja, so habe er gehört. Wann er ihn zuletzt gesehn habe?

»Vor drei Tagen.« Ob ihm nicht eine tiefe Verstimmung desselben aufgefallen sei? »Nur wie immer. Leonhart besitzt eine melancholisch-cholerische Gemüthsart.«

»Jaja, Gemüthsart! Gemüthskrankheit darf man da wohl sagen. Litt er nicht an irgend einem körperlichen Leiden?«

»Nicht daß ich wüßte!«

»Oder an Familienkummer?«

»Er hat keine Verwandten.«

»Oder an unglücklicher Liebe?«

»Keine Spur.«

»Oder an finanziellen Sorgen?«

»Noch weniger.«

»Also wohl an sogenanntem Weltschmerz?«

»Ja, wenn man will. Doch nicht in krankhaftem Grade, sondern mehr als tiefempfindender und denkender Kopf.«

»Aber ihn drückte doch wohl irgend ein besonderer Gram oder Aerger oder sonst 'was Guts?« Der Beamte fing offenbar an ärgerlich zu werden über die Fruchtlosigkeit dieses Verhörs.

»Nun – ja!« gestand Krastinik zögernd. »Zweifellos. Der Kummer über den Mangel an Anerkennung.«

»Aha, verkanntes Genie! Dacht' ich mir!«

»Doch nicht so verkannt wie Sie vielleicht meinen. Nur entspricht sein äußerer Erfolg in keiner Weise seinen Ansprüchen.«

»Aha, Größenwahn!«

»Auch nicht eigentlich Größenwahn,« parirte Jener mit leisem Lächeln. »Denn er ist ja völlig berechtigt zu verlangen.. kurz, der Aerger über die litterarischen Verhältnisse fraß an ihm.«

»Also Berufsstörung. Unannehmlichkeiten im Berufsleben!« notirte der Polizeilieutnant mit wichtiger Amtsmiene, als sei er nun mit dieser technischen Phrase dem betreffenden Untersuchungsparagraphen auf die Spur gekommen.

Krastinik konnte sich kaum enthalten, laut aufzulachen.

»Von Berufsleben kann eigentlich keine Rede sein. Das Schaffen eines Dichters ist ja kein Beruf. Doch haben sich schon öfters Dichter, um ähnlichen Kummers willen, eine Kugel vor den Kopf geschossen.«

»Da haben wir's! Selbstmord, Fall Heinrich von Kleist. Kennen wir. Dichter-Wahnsinn. Fall Albert Lindner, Selbstmord oder Irrenhaus. Ich sag's ja: Größenwahn und nichts Anders. – Verzeihen Herr Graf daß ich Sie so belästige. Ihre Informationen waren von entscheidendem Werth.«

»Ja, aber..« Krastinik kam erst jetzt zur Besinnung nach diesem jähen Sturzbad. »Darf ich fragen, warum ich Ihnen diese Frage beantworten, mußte?«

»Nochmals Verzeihung, Herr Graf. Sie wurden eben als der nächste Umgang des Herrn bezeichnet, schon als er vermißt wurde.«

»Vermißt?! Mein Gott, es ist ihm also ein Unglück.. reißen Sie mich aus dieser Beunruhigung!«

»Sehr gern oder, Pardon, leider! Fassen Sie sich Herr Graf. Sie standen dem Herrn nahe?«

»Sehr, sehr. So reden Sie!«

»Nun, Herr Graf lasen wohl gestern im Polizeibericht..«

»Ich lese nie die Reporternotizen der Blätter.«

»So? Nun, ein Unbekannter wurde von einem Eisenbahnzuge nahe am Halensee überfahren..«

»Gerechter Gott!«

»Er hatte sich selbst auf die Schienen geworfen Selbstmörderische Absicht unverkennbar. Später wurde gemeldet, daß ein gewisser Leonhart, Schriftsteller, seit zwei Tagen vermißt werde. Das Signalement und die Identität wurde festgestellt. – O Pardon, es scheint Herrn Grafen doch sehr nahe zu gehn? In der That, Sie werden ohnmächtig. Darf ich ein Glas Wasser –?«

Krastinik wehrte ab. Taumelnd war er aufs Sopha gesunken, dicke Schweißtropfen perlten von seiner Stirn. »Lassen Sie, ich bitte. Mir wird schon besser. Und kein Anzeichen, warum..?«

»Ach gütiger Himmel!« Der Beamte schüttelte den Kopf mit überlegenem Lächeln. »Ihre eigenen Mittheilungen, Herr Graf, bestätigten ja nur, was man sofort annahm. Unbefriedigte Ruhmsucht, completter Größenwahn! Das ist ja eben unsre Zeitkrankheit. – Empfehle mich bestens und bitte nochmals, die Störung entschuldigen zu wollen. Gestatten Sie mir, mich sofort zurückzuziehn. Die Discretion gebietet mir, Sie Ihrem begreiflichen Schmerz zu überlassen. Sie scheinen immer noch recht angegriffen. Gehorsamer Diener! Bitte, sich nicht zu bemühen.. ich habe den Vorzug.«

Der Polizeilieutnant verschwand, indem er noch einmal beim Schließen der Thür aus tiefstem Herzen den Seufzer hervorholte: »Ach ja, der Größenwahn!«

... Krastinik lag lange wie gelähmt. Ein entsetzlicher Schreck war ihm in alle Glieder gefahren. Ihm war, als sei er selbst von den Schienen zermalmt. Eine todesstarre eisige Ruhe durchfröstelte ihn.

Er erhob sich langsam und schritt auf und ab. So mußte es enden, mit einem Theatercoup! So mußte es enden, dies überreiche dämonische Leben, das im Selbstgenuß eines titanischen Urwillens sich selbst verzehrt! O Welt, o Leben, o Schicksal! – –

Berg und Thal begegnen sich nicht, aber wohl die Menschen. In einem inneren Kreislauf, dessen Zusammenhang wir nicht erkennen, laufen die Dinge zusammen. Das Entfernteste verknüpft sich dem Nahen. Nur ward den Wenigsten im blöden blinden Taumel ihres Daseins der lichte Blick verliehen, auf dies Räthsel zu achten. Das Unvermeidliche schreitet mit geheimnisvollem Geisterschritt aus dem Gestern in das Morgen hinüber. Kein Unglück kommt allein, jeder Schicksalswendung verknüpft sich unmerklich eine neue.

Wer klingelt? Für Niemand zu Haus. Der Telegraphenbote? Ein Telegramm, aus London? – – Das Papier entfiel seiner Hand. Lady Dorrington zeigte ihm an, daß ihr Gatte im Sterben liege. Er lasse ihn grüßen und ihm danken für seine Freundschaft und sende ihm seinen Segenswunsch für fernere Erfolge auf jener Laufbahn, die er ihm prophezeit, denn die Phrenologie lügt ja nie.

Eine Weile stand Krastinik regungslos, vor diesem neuen Schlag wie zur Salzsäule erstarrt. So starb denn alles um ihn her. Auch er, sein heißgeliebter väterlicher Freund. Und er sollte ihn nie mehr wiedersehn? Nie mehr? Mächtig ergriff den Trauernden eine unbezwingliche Sehnsucht, die letzten Stunden des theuren Mannes zu theilen. Es stirbt sich nicht so leicht. Wenn er eilte, langte er wohl noch rechtzeitig an ...

Wieder überkam ihn jener Drang plötzlicher Entschlüsse, der so oft schon sein Leben bestimmt. Deterministische Vererbung. Sein Vater hatte einst durch solch plötzlichen Entschluß einer Kavallerieattake unter Radetzky zum Gewinn einer Schlacht beigetragen. Nur fort hier, fort aus dieser Wirrniß!

Seinen Koffer packen – zwei Briefe an »Kollegen« senden, welche es sicher binnen 24 Stunden statt jeder besonderen Mittheilung in Berlin herumbrachten: ein Todesfall rufe ihn auf einige Wochen nach London – war das Werk einer Stunde. – – –

Dreizehntes Buch
I.

Und wieder schwamm er durchs Meer von London, von einem Lichtmeer umflossen. Krastinik schritt langsam an der Kaserne der Coldstream-Garde vorüber, wo am Gitter eine neugierige Volksmenge wie gewöhnlich dem abendlichen Zapfenstreich lauschte. Die Pfeifen und Clarinetten der paradirenden Rothröcke spielten den alten Jakobitenmarsch: Charlie is my darling, my darling the young Cavalier. Unwillkürlich fiel er in den Taktschritt ein. Eine stolze Freudigkeit strömte durch alle Pulse seines Wesens, ehe er sich dessen bewußt wurde. Und er dachte:

Das ist der Marsch des Jahrhunderts! Wir alle sind eingereiht und sollten mitmarschiren. O über die Thoren, die sich wollüstig im Lager der Liebe dehnen oder stillbeschaulich ihr Gärtchen begießen, statt mit klingendem Spiel ins Feld rücken!

Wie schien alles in ihm so von Grund aus umgewandelt! Glich er doch früher ganz jenen hochmüthigen Aristokraten von »historischem Adel«, die wie die Grandseigneurs des Ancien Regime Freiheit und Gleichheit unnützlich im Munde führen und doch jeden nicht »Geborenen« nimmermehr als vollbürtigen Gentleman anerkennen. Wenn er früher seine Verachtung des militairischen Berufes ausgesprochen, so war dies nur eine »liberale« Pose und im Herzen schwelgte er doch im Soldätle-Spiel als dem letzten Ueberrest der feudalen Ritterzeit.

Und jetzt – ihm war, als schreite unsichtbar der Geist seines großen Todten neben ihm her und eine Stimme – er wußte nicht woher – sprach in ihm zum andern mal:

Nein, das ist nicht der Marsch des Jahrhunderts der Marsch des Intellekts. Diese scharlachrothen Söldner sind die symbolischen Satelliten des »Scharlachnen Weibes«. Vor diesen gemästeten Maschinen stellte man zwei Götzen auf – die nannte man Ehre und Gehorsam, zwei lichte Namen für ein dunkles Nichts.

Aber Du, Carlyle, letzter Seher Englands, mit den hochmüthigen Junkernüstern und -Kinnbacken, der Du den Zaren als Muster empfahlst, weil er mit der Knute seine Myriaden zudrille – Du verworrener Widerspruchsgeist, der sich als unfehlbare Wahrheit proklamirte – Du lügst dennoch! Und Dein grober Berserkerhumor und Deine cynischen Wortkolosse sind auch nur Bastarde jener Humanitätsphrasen des aufgeklärten Despotismus – und ihr stammt allesammt vom Lügenvater.

Nein, die Stunde naht, wo auch in diese zurechtgeprügelten Uniform-Automaten der heilige Geist ein neues Leben hauchen wird, und die Puppen werden ihre Götzen selber zerschmeißen. Wie schon jetzt die Iren in der Armee mit der Sache ihrer unterdrückten Heimath fraternisiren, so werden sie dann alle ihr Rüstzeug ohne Schwertstreich den Söhnen der Freiheit überliefern, wenn diese Staatskarossen erst umgestülpt werden zu Barrikaden.

Der Graf blieb stehn, wie gelähmt. Er erschrak vor sich selber, vor seinem Elan. War es derselbe, der einst den französischen Adel der Nationalversammlung in jener berühmten Augustnacht begeisterte, seine eigenen Feudalrechte mit einem Federstrich zum Schuttgerümpel der Vergangenheit zu werfen? Wie und waren nicht auch dies nur ideologische Verzückungen, Phrasen einer Schein-Wahrheit? Solche unreifen Raubthier-Instinkte mochte ein Schmoller nähren, diese literarische Verkörperung des vierten Standes und seiner größenwahnsinnigen Gelüste. Würde aber Leonhart, der eminent positive Denker, also gedacht haben? Nein. Am Morgen hatte Krastinik zufällig auf Trafalgar Square ein Meeting besucht, lauter gediegene Radikale, die da im Chorus die Nationalhymne brüllten: »Briten sollen nimmer Sklaven sein.« Aber sie rochen meilenweit nach Rum, der ja freilich nach Burke den Pfad zum Ruhme bildet! Und die Bestechungs-Schillinge klimperten in der Tasche.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Weiter, weiter. Immer noch ringsum die Mitternachtsbörse, über welche die heilige Hermandad ihren schützenden Mutterarm breitet. Britinnen rechts, Französinnen links, Spanierinnen an der einen Ecke, Deutsche an der andern – – o Du einzig wahre geregelte Schwesterschaft der Nationen, kosmopolitische Weltrepublik! O Neumondfest in Babylon, wo man die Blüthe der Jugend dem Astarte-Cultus opferte, wo alle Provinzen ihre mannbaren Jungfrauen in die Metropole sandten, um jene Marken einzuhandeln, die Rawlinson und Layard entdeckten – wir sind heut sittlicher, wir!

Plötzlich ergriff ihn ein ungeheuerer Schrecken. Ihm war, als ob der Boden unter ihm wanke, als ob er ein Sieden und Summen höre, wie wenn Millionen kleiner schwarzer Höllengeister unter der Erde nach oben krabbelten. Und ihm däuchte, daß ein gespenstiger Tritt hinter ihm herschlürfe. Der Schatten längs der grauen Eisenbahnmauer von Victoria Station – – stand dort nicht der unheimliche Gast neben ihm, der Geist des großen Todten? Tönte nicht ein galliges metallisch gellendes Lachen – oder war's der Pfiff der Lokomotive, die grade über den Brückendamm wegbrauste?

Da knirschte er einen höllischen Fluch zwischen den Zähnen und schüttelte grimmig seine Faust wider den Mond, der über den Baumwipfeln des nächsten Squares emporkletterte. Und fiel betäubt an die Mauer. Seine Schläfe schlug schwer an die harten Steine.

Woran mahnte ihn das Gespenst seiner verwirrten Sinne? An seine schmähliche Schwäche, seine erbärmliche Schuld? Wollte die Leichenhand aus dem Grab ihn züchtigen, weil er dem Todten noch immer nicht zurückgegeben, was sein?

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Krastinik langte noch eben rechtzeitig an, um seinem väterlichen Freunde die Augen zuzudrücken. In dem tiefen aufrichtigen Schmerz, den er mit der Wittwe theilte, hatte er in den ersten Tagen vergessen, was hinter ihm lag. Vergessen, sich selbst vergessen. Jetzt, da er aus dieser wohlthätigen Erstarrung erwacht, quälte ihn mit doppelter Gewalt das alte Leid. Das Leid? Nein, das Schuldgefühl.

Durfte er sich's selbst bekennen, aber mußte er's nicht, – daß in all dem Wirrwar seiner Gefühle erst schüchtern, dann immer dreister die Versuchung ihr Haupt erhob: Nun ist der todt und für immer dahin, der uns alle beschattete mit seiner bleichen Stirn, neben dem als Dichter sich zu spreizen nur dem blinden Größenwahn noch möglich war? Ja, er ist todt – und sein Werk, das meinen Namen berühmt gemacht, ist nun mein, mein. Der Zeuge gegen mich, der aufstehen könnte, mir die erborgten Pfauenfedern abzureißen, ist stumm für ewig.

So fraß die teuflische Lockung sich in seine Seele ein, langsam und stetig wie der Keim eines Verbrechens. Wie wäre bei normalem Zustand ein so unehrenhafter Gedanke ihm je genaht! Aber der Ruhm, – wer ihn kostete, den stumpft er ab für alle anderen Gefühle. Der Größenwahn muß sich sättigen um jeden, ja um jeden Preis.

Er rang verzweifelt mit dem bösen Vorsatz und doch vermochte er nicht, ihn zu bemeistern. Und die Furcht, die Schande! Wie würde man ihn lächerlich machen! Wurde er nicht unmöglich in der Litteratur? In den litterarischen Kreisen Berlins, an denen er mit allen Fasern hing? Das Gift der litterarischen Gesellschaftsstreberei schien ihm längst in alle Poren gedrungen und vergebens suchte er nach einem Gegengift.

Und zuguterletzt – konnte er nun nicht, nachdem er durch jenes Meisterwerk einen obersten Platz errungen, durch eigene Werke sich weiter behaupten? Konnte ihn nicht der edle Ehrgeiz, sich jenes Werkes und des dadurch errungenen Namens würdig zu machen, über sich selbst hinausheben?

Was nützte es denn dem Todten, wenn man der Wahrheit die Ehre gab und seinen ohnehin schon sicheren Nachruhm noch vermehrte? Der große Dichter bedurfte desselben nicht und der Todte bedarf über haupt nichts mehr. Nur der Lebende hat Recht.

So mühte er sich ab, mit allerlei Sophismen sich über sein Vorhaben, über seine feige Schwäche hinwegzutäuschen. Mit jedem Tage wuchs die Schwierigkeit des Eingeständnisses. Würde man nicht fragen, warum er nicht sofort das Nothwendige gethan? Würde man nicht seine plötzliche Abreise dann erst recht mißdeuten? Würde nicht ein immer das Böse voraussetzender Verleumder wie z.B. Schmoller sich dann gar feierlich als Bluträcher des »todten Freundes« aufwerfen, indem er am Ende gar den unerklärlichen Selbstmord Leonharts mit dem litterarischen »Raub« zusammen brachte, der an ihm begangen? Und ob denn überhaupt nicht Jemand in der »Meeresbraut« die unverkennbare Vaterschaft Leonharts herausspürte und demgemäß Vermuthungen losließ?

Die Phantasie spiegelt tausend Fährnisse vor, die hinterher nicht einmal kommen können. Wer etwas auf dem Herzen hat, glaubt, daß Jeder es ahne. Wie die Motte zur Kerze, fliegt ein überzartes Gewissen selbst immer der Sache näher und verplaudert sich selbst Denn der Mensch kann selten ein Geheimniß bewahren und bei sich behalten, alles muß heraus. Daher die heilsame Institution der Beichte – daher die wolthätige Macht der katholischen Kirche, welche dem Drang des Mittheilens entspricht, den man sonst verbeißen müßte.

Bei diesem Gedanken an die katholische Kirche durchzuckte es den Einsamen. Wie hatte es ihn stets gepackt, wenn Leonhart das Leben eines Mönchs als wünschenswerthesten Seelenzustand pries!

Ach ja, ja. Wenn ihm nichts mehr übrig blieb, wenn das Leben ihm ganz zuwider, so konnte er sich ja flüchten in die klösterliche Stille, wo aller Hader schweigt und jede Versuchung endet. »Memento mori!« zu murmeln wie der Trappist, dem nur dies eine Wort die ewig versiegelten Lippen erschließt – das mag nur Weltlinge erschrecken, die noch genarrt von den eiteln Gaben des Lebens.

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Krastinik war, bald nachdem er wieder zu sich selbst gekommen, ins deutsche »Athenäum« geeilt, um dort Berliner Zeitungen zu lesen. Mit fieberhafter Aufregung durchstöberte er alte und neue Blätter. Und nicht umsonst für das Einzige, wonach er fahndete. Zehrten doch die Feuilletons aller Blätter noch immer in üppigen Notizen von dem seltsamen Selbstmord des jungen Dichters. Sogar zu Leitartikeler schwangen sich verschiedene Organe auf, um kräftig an diesem Fall das traurige Loos des deutschen Dichters zu erläutern. Obschon sie selbst im Leben ihn gänzlich todtgeschwiegen hatten, schleuderten solche edlen Leitartikeler jetzo Invectiven gegen die versumpfte Presse. Denn das schien, bald nachdem der Selbstmord Leonharts als breite Notiz überall aufgetischt und verrückte Motivirungen aufgetaucht, nunmehr endgültig festgestellt: daß der junge Dichter sich aus Verzweiflung über seine völlige Erfolglosigkeit und den Mangel jeglicher Anerkennung das Leben genommen habe. Wäre daran noch ein Zweifel gewesen, so wurde er ja bald gehoben durch ein posthumes Ereigniß.

Was mußte Krastinik vernehmen! Sofort nach Leonharts Ende, fiel sein Verleger über seine litterarische Hinterlassenschaft her, indem er einen Vertrag auf ein neues Werk des Verstorbenen producirte, auf welches er bereits eine Vorschußsumme gegeben. Dies neue Werk fand sich vor, überraschenderweise fast ganz vollendet. Ohne Besinnen setzte der rührige Verleger zwei Schnellpressen in Bewegung und publizirte mitten in dem Skandal binnen drei Tagen das Buch. Und welch ein Buch! Das schnellebige Berlin hätte vielleicht auch diese Affaire in acht Tagen vergessen wie jede andere, aber diese Publikation verewigte den Skandal. »Der Schwur des Hannibal«, dramatische Dichtung. – Sobald er die erste Anzeige gelesen, stürzte Krastinik zu Trübner und kaufte das Buch. Gleichsam als Motto trug es an der Stirn die wildtrotzigen Verse:

Ich glaubte nie die Mär, daß am Altar,

Heimkehrend aus der Römerkriege Lager,

Den Sohn er Rache schwören ließ – fürwahr,

Nicht ähnlich dem verschlossenen Karthager!

Der junge Hannibal sah fort und fort

Das Ringen seiner hohen Geistesahnen.

Er ballte nur die Faust und sprach kein Wort:

Man brauchte ihn zur Rache nicht zu mahnen.

Er sah, wie alles nur gelenkt vom Schein,

Wie jeder Wicht der Größe Keim verpfuschte,

Wie jedes stillen Werthes Melodei'n

Der Kameraderie-Tamtam vertuschte.

»Noch ahnet Ihr mich nicht, Ihr glatten Katzen,

Aufsteht ein Rächer aus Hamilkars Geist.

Den Löwen merkt man erst an seinen Tatzen,

Wenn der Gereizte Euch in Stücke reißt.«

»Ihr mögt mir Netze stellen, Gruben, Schlingen –

Einst pack' ich Euch, und wen erst packt der Leu –

Ja, unerbittlich will ich sie vollbringen

Die Rachepflicht, dem Schwure bleib ich treu.«

»Du Stadt der Krämer und der seichten Possen,

Ich schwör's bei der Semiten Gott, dem Bal:

Einst kommt er wie der Blitz herabgeschossen

Und reinigt Dich – der Schwur des Hannibal.«

Das Buch fiel wie eine Bombe mitten in das Leben der Zeit hinein. Es sprengte gleichsam, vom Dach bis zum Erdgeschoß durchschlagend, alle Quadern und Mauern des Wahns auseinander.

Als Form war die dramatische gewählt, die einzige, welche Leonharts innerstem Wesen gemäß. Die Entwickelung der Tragik aus den Tiefen des menschlichen Willens, zwischen Bewußtem und Unbewußtem schwankend, in ununterbrochen schnurgerader Linie psychologischer Folgerichtigkeit, in dramatische Gestaltung umgegossen – dies war sein Ziel. Die geschlossene Composition des gewöhnlichen Bühnendramas konnte ihm daher nicht genügen, da seine umfassende Anschauung über den zwerghaften Rahmen der landläufigen Kunstgesetze hinauswuchs.

Aber überall nahm der philosophische Gedanke bei ihm warmen Erdkörper an.

Die Dichtung fußte auf rein realistischem Untergrund, stellte sich jedoch selbst allegorisch dar. Der Held war ein moderner Faust. Wie Jener als Magister an der Wissenschaft verzweifelt, so dieser an seinem elenden Beruf der berufsmäßigen Federfuchserei. Absichtlich hatte der Dichter seinen Helden in alle und jede Erbärmlichkeit des modernen Litteratenlebens eingetaucht, ihm auch das Kleinlichste nicht erspart. Und was das Unerhörteste dabei, der Held trug Leonharts Züge unverkennbar, nur mit tausend willkührlichen Zusätzen.

Die Anschauungen der modernen Naturwissenschaft lagen überall zu Grunde, waren aber nie aufdringlich breitgetreten. Nirgends fand sich die poetische, Licenz der Zufall-Anwendung, nirgend drückte sich der Dichter bei den schwersten Theilen der psychologischen Entwickelung mit ängstlichem Salto Mortale vorbei, wie die anderen Sonntagsreiter. Der Kampf mit den Naturtrieben trat überall in seiner plumpen nackten Roheit und Poesielosigkeit entgegen.

Ueberall entpuppte sich die hinter dem Werke stehende Persönlichkeit als begnadete Schernatur, die zu größten Dingen bestimmt.

Inmitten der kaleidoskopisch schillernden Mosaikgemälde und Feerie-Wandeldekorationen und nachgepfiffenen Epigonentriller der andern Litteraturfabrikate fühlt man ja wie, die Jungfrau, welche ihrer Mutter über die Bälle klagt: »Ach, es ist doch immer dasselbe!« Der gewisse »Eine« war ihr eben noch nicht im Ballsaal begegnet. Aber hier bei Leonhart neben höchster männlicher Reife und fast schon angegreister Lebenserfahrung eine gewisse unverbrauchte Jugendlichkeit, wie die des tölpelhaften jungen Siegfried, der auszieht, um Krimhild und die Welt zu erobern. Ueberall hatte man hier den ganzen Mann als kompakte Thaterscheinung vor Augen in der tiefinnerlichen Untheilbarkeit seiner elementaren Persönlichkeit, deren Naturgewalt natürlich die diplomatisch kleinlichen Geistesschmarotzer der modernen Hypercultur nicht zu fassen vermochten. Wie man in der Dienst-Correspondenz eines Cromwell oder Friedrich (»Aimez donc les détails!« rieth der Letztere) die ungeheure Arbeitskraft anstaunt, welche jeden Knopf und Stiefel ihrer Schwadronen im Auge behielt, – so erkannte man hier die sittliche Charakterstärke, die innere Wahrhaftigkeit, kurz die Klaue des Löwen breit und wuchtig im kleinsten Worte abgeprägt.

Man sah seine weltbeherrschende Phantasie die Erde umkreisen von Pol zu Pol. Aus den bläulichen Ringeln seiner Kaffeekanne flatterten ihm braune Rosse auf, Beduinen in braunem Burnus. Sieh da, die weißen Mäntel, wie Strauße in gedrängter Herde ihre Schwingen blähen! Der rothe Wüstensand klatscht zum Sattel empor! Schaumflocken bedecken Bug und Nacken der Rosse, so daß sie getigerten Schecken gleichen oder fürstlichen Turnierrossen mit einem Brustlatz von Hermelin! Und auf ihrer Spur schnauft das Hyänenrudel, in wilden Sätzen die Fährte mit den Pfoten durchtastend – denn wo die Wüstensöhne jagen, da fällt ein Opfer zum Schmaus der Hyänen und Geier, die krächzend den Trauerchor um die Gefallenen hüpfen!

Aus dem Lande der Sonne schweifte des Dichters Geist zum Norden, aus der Wüste zum Meer.

Die bläulich zackigen Eisberge der Eskimos, die den Thran in Humpen schlürfen, umschiffte er wie ein Viking. Wie der Pfeil vom Fischbeinbogen, schwirrte sein Schiff dahin durch die tiefaufrauschenden Wellen, ängstlich ächzte, sein Segel vor der kreischenden Brandung, über welcher der zackige Blitzstrahl den Donner heroldete. Und zum Klang gebrochner Helme sang die Seeschlacht wild und wilder, und der Tag sah ihn vorderst fechten. Doch in mondheller Nacht entquollen seiner Harfe die Thränen sehnender Leder.

Wohl drangen die Schreie aus des Dichters eigenem Herzen, man vernahm mit Schauder diese gewaltige Stimme, – wie der faustische Held, am Meere entlangwandelnd, aus Muscheln die ferne Klage des fliegenden Holländers vernimmt, der im Maëlstrom wirbelnd dem tauben Himmel droht, bis er fadentief versinkt zu Seegras und Korallen.

Der Brandung Bucht, die hohle,

Einsam der Wind umpfeift.

Träg von der Bergessohle

Der Nebel sich niederschweift.

Die Wassergeister schweben

Höhnend zu mir empor:

Zu Schaum zerann Dein Leben,

Du bist und bleibst ein Thor.

Es schwimmt das falsche Mondenlicht

Lockend auf kühlem Grunde.

Der Dampfer durch die Wogen bricht,

Sein Licht erhellt die Runde.

Und durch mein Herz, das dunkel kreist,

Mit grellen Feuerstrahlen

Das Schicksal seine Furche reißt.

Leuchte mir, Gott der Qualen!

Ihr Heuchler, Schurken, Memmen, Gecken, Narren,

Du weltliches Gesindel um mich her,

Magst ein Jahrhundert auf die Stunde harren,

Die heut durchwettert meiner Seele Meer!

Ich höre Dich, mein Gott, im Wogenrauschen:

»Laß Menschen Menschen sein! Ich bin Dir gut.

Auf meine Donnerstimme sollst Du lauschen

Und vorwärts branden, Meer, in heiliger Wuth!

Schwemm sie hinweg, die Deinen Pfad Dir sperren!

Du bangst, weil fahler Neid die Messer wetzt?

Furchtlos voran! Ich mach' Dich doch zum Herren

Und trete nieder, was sich widersetzt!

Was half Dir Deine königliche Güte,

Mit Dreistigkeit von jedem Wicht belohnt?

Laß nur Verachtung reifen im Gemüthe,

Den Haß, der keine Nichtigkeit verschont!

Wo Du vertrautest, wurdest Du verrathen,

Und wo Du Edles wähntest, war's ein Traum.

Für ihre schamlos schnöden Missethaten

Verschlinge sie in Deiner Brandung Schaum!

Schmied' allen Haß in einen Blitz zusammen

Und brülle nieder sie mit Deinem Fluch!

Brenn' sie zu Spreu in Deines Hohnes Flammen!«

Sieh her, Jehova, kennst Du dieses Buch?

Wäre dies Buch, das in den Annalen der Litteratur seines Gleichen suchte, bei Lebzeiten Leonharts erschienen, so hätte es seinen Untergang beschleunigt oder direkt herbeigeführt. Thörichte Schwätzer hätten sich an das muthmaßlich Persönliche geheftet, ja vor allem liebevoll nach den angeblichen Modellen der Figuren geforscht und ein Bouquet von allerlei Persönlichkeiten zusammengestellt, um etwaige Beleidigungsklagen zu formuliren. Man muß den Leuten stets ihr Vergnügen gönnen. Niemand hätte die Großartigkeit des Typischen in all diesen scheinbar photographirten Einzelheiten erkannt, Niemand begriffen, daß ein so hoch über den Dingen und Menschen stehender Geist das Recht in sich selber trägt, seine eigene Welt nach seinem künstlerischen Willen zu gestalten. In der trostlosen Armseligkeit jener nüchternen Prosa, die nur mit den Rechenpfennigen der Alltagsmoral handelt, wäre Niemandem auch nur in den Sinn gekommen, die tiefe erhabene Gerechtigkeit dieser Heldenseele zu verstehen. Wer hätte gewürdigt, daß man es hier mit einer Dichtung zu thun habe, welche gänzlich außerhalb aller gewöhnlichen Alltagsbegriffe von Menschen und Dingen stand! Dies war der Realismus einer Wahrheit, hoch über der handgreiflichen Wahrheit der beweisbaren Realität. Allein, mit dem adlermäßigen Sonnenflug dieses byronischen Geistes verband sich hier eine ätzende Satire, deren Bosheit den wahnsinnigen Gallenergüssen Swifts ähnelte. Die juvenalische Ader Leonharts blutete sich aus, bis sein Geist an einer Art Auszehrung von Menschenverachtung, wie an einem Blutverlust jeder Lebenslust, zu versiegen schien.

Welch ein namenlos unglückliches Leben öffnete sich in diesen Blättern, die von Herzblut zu triefen und sich wie klaffende Wunden zu öffnen schienen! Unseliger Mensch! Ihm war das Leben ein graues ödes Meer, über dem nur das Wetterleuchten seines Grimms emporzuckte. Ueberall unterbrach ein grelles Auflachen das methodische Hämmern dieser zermalmenden zerhackenden Maschine eines rastlosen Denkens. Die »saeva indignatio«, welche Swifts Herz nach dessen Ausspruch zerfleischte, schmeckte man auch hier. Schonungslos auch gegen sich selbst, zerpflückte der Dichter unerbittlich seine eigenen Gefühle. Ein unerbittlicher Wahrheitsdrang, ein verzweifeltes Drauflosstürmen gegen jede conventionelle Lüge, raste sich hier berserkerhaft aus.

Rücksichtslos waren die Gesetze des animialischen Lebens betont, die Naturgeschichte des Menschenviehs. Es regnete Ohrfeigen und Nasenstüber. Indem er die bübischen Begierden der Sinnesmenschen entblößte, ekelte sich dieser Faust-Mephisto und hatte doch auch »seine Freude dran«.

Das Ganze bildete einen einzigen Aphorismus, ein riesenhaftes Monodrama, einen von innerer Handlung unablässig bewegten Monolog. Diesem tragischen Humoristen zerflatterte das Stoffliche oft zwischen den Fingern und löste sich in psychologische Tüftelei auf. Die geringfügigsten Ereignisse spann der Reflexionspoet mit keckem Sichgehenlassen zu wichtigen Abhandlungen und schlachtete das Unmerkliche als Stoff unendlicher Betrachtungen aus. So ging seine Laune ihren eigenen störrigen Maulesel-Trab, immer drauflos durch Blumen, Gemüsegärten, Disteln und Nesseln. Sie war nicht wählerisch. Duften die Rosen, so schlürft sie das Arom ein, und duftet der Mist, so findet sie darin einen eigenartigen Haut-Goût.

Die Leichtigkeit in Führung der psychologischen Entwickelung, die sichere feste Hand in Urbarmachung des unbegrenzten gedanklichen Gebiets wurde unterstützt durch den genialen Blick für Rassenmerkmale, die fruchtbare kosmopolitische Bildung des Denkers. Ueberall erhoben sich reine Formgedanken in lichtem plastischem Marmor – statt schönheitsfroher Harmonie vernahm man freilich mystische Orgelklänge einer verschnörkelten Symbolik.

Doch schmolz sich das kalt Abstrakte überall vor dieser belebenden Schöpferwärme in reale Gestalten um, welche sich nur indirekt, indem sich das Begriffliche verdichtete, zu plastischen Allegorieen herausmeißelten. Diese bis zur höchsten Potenz gesteigerte Phantasiekraft setzte sich zu der Bewegung der Weltkörper in Schwingung und möchte das All reflektiv umspannen, ohne daß sie je Gefahr lief, sich im Allgefühl zu verlieren. Diese titanische Individualität sammelte die durch zahllose Kanäle sich hinwindende Reflexion zu klarem Strom und durchflutete das Naturganze des Weltorganismus selbst wie eine besondere Weltseele, immanent der inneren Untheilbarkeit der Dinge.

Hier wagte sich wieder einmal ein Viking-Skalde hinaus in die offene See, als Wrack umhergeschlendert und in brüllendem Orkan wie in warmem Sonnenschein von der unheimlichen Flut gewiegt, welche in immer gleicher fühlloser Schönheit uns alle von dannen spült. Wie die alten Seekönige kreuzte er von Küste zu Küste, wie Odin aus Sagas goldenem Methhorn berauscht. Auf seiner Hochzeitsreise mit der wilden Walküre Wahrheit verbrannte er denn sich selbst und sein Drachenschiff im Feuerwerk cynischer Selbstvernichtung.

– – Wäre dies außerordentliche Geistesprodukt aus der Feder eines Lebenden geflossen, so hätte man die nervig-drastische Methode Leonharts, die minutiöse Ausmalung psychologischer Wandlungen durch Zusammenscharrung ganzer Dokumentbibliotheken, um die Illusion absoluter Lebenswahrheit zu erwecken, als langweilige Weitschweifigkeit benörgelt. Eine unreife Baby-Aesthetik hätte die erotischen Scenen des Buches, welche die tiefste philosophische Absicht bargen, als brutalen Cynismus denunzirt. Ja, die unreifen Janitscharen der bespeichelten Modehelden hätten gar all dies Erdichtete für »Bekenntnisse einer schönen Seele« oder direkte Rousseausche Confessions genommen und demgemäß erläutert. Die Salon-Tätteler, die akademischen Säuseler, die Formalisten hätten mit Erfolg diese freche Verletzung alles gentlemanliken Dekorums gegeißelt. Muß doch die Welt jede Wahrheit in der Kunst hassen, besonders die Frau, welche ja die Welt bedeutet! Und da waltet wohl nur ein mechanisches Gesetz ob, ohne welches die conventionelle Gesellschaftsordnung nicht denkbar wäre. Allein, aus ganz demselben Gesetz folgerte nun das Gegentheil, da es sich um einen Todten handelte, der unter so betrübenden Umständen die Consequenzen der Wahrheit gezogen und sich vom Leben verabschiedet hatte.

Die Kulturmenschheit ahnt nämlich bewußt und unbewußt, daß der geliebte Materialismus d.h. der flotte thierische Kampf ums Dasein ohne die Fiction des »Idealismus« gar nicht möglich wäre. Denn der auf die Naturwissenschaft gestützte Materialismus führt unnachsichtlich zu Consequenzen des Socialismus. Um daher dem Bild von Saïs einen Schleier vorzuhängen, pflegt man ab und zu den sogenannten Idealismus, das Interesse an idealen Kulturerzeugnissen. Man gähnt pflichtschuldig das Postament der Geistesheroen alt und versteckt seine stumpfsinnige Gleichgültigkeit unter dem Tamtam neuer Götzendiener, die vom Abfall früherer Geistesthaten leben und ein großes Geräusch machen, gleich den Ammen Jupiters, um die Stimme ihres Gottes zu übertönen. Man läßt zwar das lebendige Ideale als Aschenbrödel verhungern, aber man muß ab und zu über abstrakten Idealismus faseln, um das Gleichgewicht herzustellen.

So wollte denn das Gejammere über das »unglückliche Genie«, »den edeln Dichter« kein Ende, nehmen. Die »Berliner Tagesstimme« nannte ihn, nachdem sie sich von Schritt zu Schritt mehr für ihren todtgeschwiegenen Liebling erwärmt, bereits nur noch schlechtweg den »erhabenen Jüngling«. Sie wußte mit dröhnendem Pathos unser Zeitalter der Reaction dafür verantwortlich zu machen, daß eine so hochherzige Natur aus purem Lebensekel sich aus dem Leben »fort jraulte«. Jaja, das Herz dieses erhabenen Jünglings brach, denn es schlug der Freiheit sowie der Menschheit. (Die Aktien-Dividende der »Berliner Tagesstimme« war dies Jahr besondere fett gerathen.)

Hingegen wußte das »Deutschnationale Blatt« ganz genau, daß der Antisemit Leonhart nur durch das infame Judenthum, dessen Presse sich besonders an ihm versündigte, zur Verzweiflung getrieben wurde.

Das »Bunte Allerlei« wimmerte wie ein kleines Krokodil und brachte u.A. die boshafte Notiz:

»Wie wir hören, soll der gräßliche Sittenschilderer K. Schm. untröstlich sein. Der Selbstmord seines Freundes L – t wirst all seine Dispositionen um. Denn er hatte denselben bereits als Helden seines neuen Romans ›festgenagelt‹ und als Typus des Größenwahns unsterblich lächerlich gemacht. Leider ist ihm nun der böse Mensch zuvorgekommen. Solche Todten persiflirt man ungern.«

Jedenfalls zeigte sich die Deutsche Presse eifrig bemüht, den Fall Leonhart als typisch für die deutsche Verkennung und das deutsche Schriftstellerelend möglichst breitzutreten. Ein Aufruf des allgemeinen Schriftstellerverbandes und des litterarischen Schutzbureaus erschien, worin jeder dieser Concurrenten den andern für die deutsche Misère in verblümter Weise verantwortlich machte und dann zu dem Fall Leonhart überleitete. Sämmtliche sechzehntausend Schriftsteller und Schriftstellerinnen des Kürschnerschen Lexicons sollten einen Obolus entrichten für einen interessanten Grabstein, welchen man dem »verewigten Collegen« errichten wollte. An den Grafen Oscar von Scheckwitz, Excellenz, und andere millionenreiche Didaktiker richtete man eine Adresse: »Ew. Excellenz! Hochgeborener Herr Graf, hochmögender Herr Kammerherr! Mit jener Ehrerbietung, welche Alldeutschland Ihrem glorwürdigen Schaffen zollt« u.s.w. Er möge, um die entsetzliche deutsche Dichterverachtung im Volk der Dichter und Denker zu brandmarken, das Portrait Leonharts nach einer Zeichnung von Stauffer-Vern anfertigen lassen und seiner berühmten Gallerie einverleiben. Graf Scheckwitz, Excellenz, edelherzig wie immer, zog sich jedoch noch glänzender aus der Affaire. Er versprach nämlich statt dessen die Tantièmen seines neuen griechischen Dramas mit Chören »Gott Hymenäos«, falls dasselbe sofort von seinem Standesgenossen Graf Hochberg aufgeführt werde, als Preis auszusetzen für die beste Denkschrift über »Friedrich Leonhart, den deutschen Chatterton.« Es giebt noch gute Menschen.

Regnete es doch nur so »Erinnerungen an den verewigten Dichter«!

Frank Säuerbach in München veröffentlichte einen Essay in der »Allgemeinen Zeitung«, worin er mit braminenhafter Spitzfindigkeit den Leichnam Leonharts secirte und an demselben pathologische Studien verübte. Der Keim zum Selbstmord habe von jeher in Leonhart gelegen, ebenso wie etwa Satyriasis in dem sogenannten Pantheismus jüngstdeutscher Lyriker. Er brachte als Beweismittel zwei Gedichte bei, die der Unglückliche vor Jahren veröffentlicht habe:

Du, des Tages blind Geschöpf, jammerst, daß Dein Herz verblutet,

Daß Dein ganzes Sein sich fühlt vom Verwesen angemuthet?

Ja, die Hoffnung bald entwich,

Nur den Tod zu suchen frommt, nur der Tod macht Dich unsterblich.

Nur des Denkers Ideal bleibt von Zeit zu Zeit vererblich,

Dein Gedanke unveräußerlich.

Als Volker vorgefiedelt, sprang auf des Tisches Brett

Herr Hagen, jäh zertrümmernd die Krüge beim Bankett.

»Nun trinken wir die Minne und zahlen des Königs Wein:

Der junge Vogt der Hennen – der soll der Allererste, sein!«

Wer will zum Tanz mir fiedeln? Ich möchte schon sogleich

Zertrümmern meines Herzens Gefäß mit festem Streich.

»Nun trinken wir die Minne und zahlen des Schöp fers Wein:

Das Blut des Dichterherzens – das muß das allerbeste sein.«

Diese traurige Lebensverschmähung, dieser bachantische Trieb zur Selbstvernichtung wie zu einem Festgelag, sei nun durch die berechtigte Verzweiflung des Dichters über die stumpfe Aera, in welche ihn das Schicksal verbannte, gesteigert worden. Sogar der Componist Francis Henry Annesley meldete sich einem litterarischen Magazin mit einem Artikel »Meine Beziehungen zu Friedrich Leonhart«. Denn obschon er für alle Zeiten jeglicher Schmier-Bethätigung entsagt und sich ganz der edeln Musika gewidmet habe, besäße für ihn die Feder noch immer genug Anziehungskraft, um zwei edeln Todten den Zoll der Dankbarkeit zu bringen. Dies seien der Maler Rother und der Dichter Leonhart, beide auf rätselhafte Weise verunglückt, wahrscheinlich durch Selbstmord. »Ja, sie wanderten nicht von einer Kaltwasserheilanstalt in die andere, wie so mancher andere Schmerzenreich,« – (gestand der junge Musiker mit achtungswerther Selbstironie) – »ewig entsagend und immer wieder da, von den Todten auferstanden. Sie machten Ernst mit ihrer Verneinung des Lebens, mit dem letzten Facit unter der Summe ihrer Schmerzen.« Und jetzt folgten eine Menge enthusiastischer Lobeserhebungen über die »hehren Verblichenen,« welche »die einzigen absolut selbstlosen, neid- und parteilosen Menschen« gewesen seien, die ihm je begegnet. Er idealisirte sie jetzt ebenso ins Maßlose, wie er sie früher bemäkelt und ausgebeutet hatte. Allein, mochte man darüber denken wie man wollte, etwas Rührendes lag trotz eines Anflugs der alten Schauspielerei in dieser offenherzigen Reue, mit welcher sich der sonst so geckenhafte und seines eigenen Edelsinns bewußte Jüngling selber des knabenhaften Undanks bezüchtigte. Er habe zur Entschuldigung anzuführen, daß er durch die Gesellschaft heuchlerischer Banditen à la Edelmann und Haubitz mit dem Gift eines allgemeinen Mißtrauens inficirt sei, weil er alle andern Menschen nur als elende Selbstlinge kennen lernte. Dies nur habe ihn nicht voll würdigen lassen, was Rother stets für ihn gethan. Seither sei er älter und männlicher geworden, und wisse jetzt, was in dieser kalten gemeinen Welt ein warmes Freundesherz bedeute. Jetzt sei er sich seiner Nichtigkeit und Zwergheit bewußt – seiner moralischen Inferiorität einem Rother, seiner geistigen einem Leonhart gegenüber. Von dem lächerlichen Größenwahn, der ihn dämonisch verzehrt habe, sei er curirt. Den »Schwur des Hannibal« in der Hand, am Grabe dieser großen Seelen, welche der Weltroheit nicht zu widerstehen vermochten, habe er sich zugeschworen, jedem eiteln Ehrgeiz zu entsagen. Wo solche Menschen untergehen mußten, da lohne es sich grade, den Beifall der gemeinen Herde zu erschwindeln und um den feilen Odem des Pöbels zu buhlen. –

So hatte der Tod mit seinem ernsten Seherblick eine schon erblindete Seele erhellt. Der edle Grundstoff und der ideale Instinkt einer schon verschlammten krankhaften Wesensart wurde emporgerüttelt, so wie ein jäher Schreck das Wechselfieber vertreibt. –

Max Henkelkrug veröffentlichte in Separat-Abzug bei Schabelitz (Zürich) eine hochtrabende Rhapsodie in Bänkelsängerformat:

Ein sociales Nachtstück.

Der Dichter der ist todt.

Verscharrt ist sein Gebein,

An seinem Grab ein Rabe droht,

Kreischt »Mord« ins Land hinein.

Der Afterdichter rührte stolz

Die Saiten vorm horchenden Volke.

Da plötzlich sprang der Harfe Holz

Und die Saite barst in Stücke.

Von des Regenbogens Brücke

Erklang es aus der Wolke:

»Der Wicht, der mich erschlug,

Hier seine Strafe fand.

Des Meisters Harfe nie ertrug

Des Ungeweihten Hand.

Wer hat zum Skalden Dich bestimmt,

Geboren und auserkoren?

Odin, der Skaldengott ergrimmt,

Geschworen ist Dein Verderben.

Denn Thoren sollen nicht erben

Den Ruhm, den Weise verloren.«

Die Auferstehung der Todten ist eine schöne Sache. Jetzt war jeder Philister, der sich auf seinen Wollsäcken wälzt, freudig bereit, sein Licht auf den Scheffel zu stellen und seinen Idealismus in wohlschmeckenden Festessen zu Ehren eines halb verhungerten Dichters leuchten zu lassen. Wenn man nur durch Heiligsprechung der Todten den Lebenden ihre Rechte verkümmern kann, dann sind wir allemal diejenigen, welche. Freilich kostet es ja auch weniger, je einen Penny für ein Grabmonument beizusteuern, als ein Pfund zu einer Subscription auf ein zu schaffendes Werk. Statuen dienen zur Verschönerung der öffentlichen Plätze, und zur Drucklegung patriotischer Prospekte, besonders zur Ordensempfehlung des Gemeinderaths. Wenn heut ein Geist herniederstiege, er würde dazu nur rufen: Unsinn, Du siegst und ich muß untergehen.

Doch fehlte es natürlich auch nicht an dissentirenden Stimmen. Denn Haß und Neid überleben selbst den Tod. So schrieb Peter v. Schnapphahnitzkoi in der »Kreuz- und Schwertzeitung«:

»Als wir den hochtrabenden Titel lasen und von dem Inhalt des Buches hörten, befiel uns abergläubische Furcht. Wie, der Kampf mit dem Drachen? Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp? Der Knapp' wagt es und Herr Leonhart taucht in den Schlund – der lernäischen Hyder an der Spree. Zu solcher Schandthat sollte man sich erst aufschwingen, sobald man die Blöße des Gegners entdeckt hat. Aengstlich von Natur, stoßen auch wir nur in solchem Falle zu. Aber ach, solche Kraftleistung kann uns nicht in diesem Falle erschlaffen, denn der verewigte Dichter bietet ja dem Messer der Kritik selbst überall die Kehle dar. Er nestelt sich, wie eine kleine Brigg der ›Wasser-Geusen‹ an eine schwerfällige spanische Gallione; wie ein Torpedoboot an ein Linienschiff alter Holzconstruction, an die bestehende Gesellschaftsordnung an und wundert sich, wenn ihn diese in den Grund bohrt. Er schmeißt seiner spröden Feindin, der bösen Welt, faustdicke Grobheiten ins Gesicht und wundert sich, wenn sie diesem Liebeswinke widersteht. Mein Gott, was kann da sein! Leonhart war ein kecker verschlagener Husar, der sich in Vorpostenschaarmützeln herumhieb, so daß gewiß irgend ein Feldherr, der oben auf dem Berg seine Batterieen ordnet, an ihm seine helle Freude gehabt hätte. Nur muß der mehrfach dekorirte Rittmeister nicht urbi et orbi verkünden, er habe schon selbstständig commandirt und Schlachten gewonnen; dann wird er wegen Vergehens gegen die Disciplin gemaßregelt. Was hat denn der vielbeklagte Jüngling eigentlich geleistet! Romane konnte er nicht schreiben, der Faden seiner Handlung spann sich niemals ungezwungen ab, die äußeren Griffe des Erzählhandwerks beherrschte er kaum, und alles verlief sich ins Gefühlsverworrene. Die glückliche Hand eines alterfahrenen Technikers blieb ihm versagt, er scheiterte an der Klippe der Manierirtheit und Uebertreibung. Wenn er versuchte, geistreiche Silhouetten aus der Berliner Gesellschaft herauszuschneiden, so häufte er nur eine Fülle intimer Details mit reportermäßigem Behagen auf. Statt ohne Umschweif vorzugehn, das Ding an sich zu packen und knapp beim Namen zu nennen, verlor er sich in Schönrednerei, weil ihm für die praktisch-nüchterne Wahrhaftigkeit und ›poesielos‹ trockene Gesundheit des Berolinischen Alltagslebens das feinfühlige Tastorgan fehlte.

Und nun diese unwahre Schmerzfexerei, dies Reklamegeschrei, diese überreizte Fruchtbarkeit! Bekanntlich leidet unsre Zeit an drei großen Krankheiten: Atheismus, Morphiumsucht und Größenwahn. Wir wissen nicht, ob Leonhart an Morphiumsucht krankte. Seinen Atheismus vermuthen wir. Gewiß aber sind wir seines Größenwahns. Bei dieser widerlichen Selbstberäucherung, wo der Dichter gleichsam vor seinem verschönerten Ebenbild anbetend auf den Knieen rutscht, fällt wohl Jedem das gesunde Sprüchwort ein: ›Eigenlob stinkt, Andrer Lob klingt.‹ –

Krastinik lachte bitter auf.

Klingt – ja leider klingt es manchmal wie Zwanzigmarkstücke. Und da scheint denn doch das Eigenlob beträchtlich weniger zu stinken. Ist heut nicht jedes Lob verdächtig? Die wirklich Schlauen fügen in Lobhndeleien stets gehörigen Tadel ein, denn die Möglichkeit einer selbstlosen Begeisterung scheint ausgeschlossen. Fängt bei den ›Kollegen‹, die Wahrheitserkenntniß doch sicher erst an, wenn die persönliche Existenz des Autors erloschen ist. Was aber soll uns dann noch eine Kritik, die eben nur auf persönlichen Verhältnissen fußt? Besser wahres Eigenlob, als erlogenes Andrerlob! Es kommt hier einfach auf den Satz heraus: Quod licet Jovi, non licet bovi. Psychologisch betrachtet, verräth die Unvorsichtigkeit des Selbstlobes nur, daß die Eleusinischen Mysterien der Streberei dem muthigen Verletzer fremder Eitelkeit unbekannt blieben. Krastinik dachte aus der Fülle seiner Erfahrung an all jene Geschmeidigen, die der Kenner auf den ersten Blick durchschaut, heißen sie nun ›Cohn‹ oder ›Baron‹, die geschickt das plumpe Selbstlob vermeiden, sich überall durchwindend ohne anzustoßen und doch vordrängend. Und wird nicht das verrufene Selbstlob vollends eine verzeihliche Nothwendigkeit, falls man gegen ›die Schmach, die Unwerth schweigendem Verdienst erweist‹ gar keine andere Waffe mehr hat? Hier hört das Selbstlob auf, rein persönliche Eitelkeit auszustrahlen, und verliert seinen ursprünglichen Charakter, indem es einfach zur Vertheidigungsrede sich umformt.

Krastinik las weiter. Der kleine Lumpensammler kritikasterte nun so fort, indem er emsig auf die Untugend der Unbescheidenheit losklopfte und einen Injurien-Platzregen vom Olymp des Jupiter Pluvius Stupidus herabgoß. Krastinik verzog keine Miene. Denn wer einmal im inneren Ring der litterarischen Geschäfte thronte, constatirt ja nur mit ruhig geschäftsmäßigem Tone, warum dies und das geschrieben sei. Einen ungetrübten Blick für Ideales pflegen nur Fernstehende bewahren zu können. Zum guten Ton einer wahrhaft vornehmen Kritik gehört es hingegen unbedingt, die Absichten des Autors möglichst zu verdrehen und geistiger Urkundenfälschung zu fröhnen.

Man erstarrt als Uneingeweihter zur Salzsäule über die angeblichen Motivirungen, welche dieser skandalisirende Mephisto über die idealsten Dinge zum Besten giebt. Dies Büchlein riecht zum Himmel, daß Zeus sich die Nase zuhält. Es athmet einen Rinnstein-Odeur von roher Bosheit. Unter dem würdigen Schlachtgebrüll eines edeln Zornes drängelte der verstorbene Litteraturpapst nicht übel mit dem Ellenbogen, um einen Platz in erster Reihe zu ergattern. Er schwenkte als Zwingvogt seinen Hut auf eine hohe Stange hinauf, und wer sich nicht aus dem Staube machte, wurde gefaßt, ›weil man dem Hut nit Reverenz erwiesen‹. Er schmiß sogar seinen Geßlerhut tief ins Lager der Widersacher, um ihn dort wieder herauszuhauen. Das Schlachtgetümmel mit Tschingderatata wollte kein Ende nehmen. Nun hat es ein Ende genommen, freilich ein Ende mit Schrecken. Mag der Geist des seligen Dichters noch so wuchtig mit dem Tölke'schen Knüppel drohen: Wer dies Buch nicht lobt, fühlt sich von ihm getroffen – mag ihm als Motto seines Strebens der alte Vers vorgeschwebt haben: Was kann Genie? das stirbt, eh man's begriffen, verkannt, verlästert, ausgepfiffen, – wir können nur achselzuckend dies hohle Machwerk einer kindischen Selbstanbetung bei Seite werfen. Trefflich urtheilt unser schneidiger Waffengänger Rafael Haubitz: ›Es fehlte eben Leonhart an einer ausgeprägten Physiognomie.‹ De mortius nil nisi bene. Fesselte nicht diese Erwägung unsre Feder, wir möchten dieselbe wohl viel schärfer gespitzt haben. – Zum Schluß nur noch eine ruhige Frage, welche den ganzen Dunst des lächerlichen Todtentanzes einer schwindelhaften Dichtergrab-Bewunderung zerbläst: was hat Leonhart unter all seinen zahlreichen Schreibereien, speciell seinen Dramen, denn je geschaffen, was an Größe der Conception und Schönheit der Ausführung auch nur entfernt sich messen kann mit dem wundervollen Drama Graf Xaver Krastiniks, unseres neuerstandenen großen Dichters? Schlägt ›Die Meeresbraut‹ nicht alle verfehlten Versuche jenes Stürmers und Drängers um zwanzig Pferdelängen? Nicht umsonst erlebte ›Die Meeresbraut‹ jetzt schon die dreißigste Aufführung binnen so kurzer Frist, unerhört im ›Deutschen Theater‹. Dorthin gehe man, um zu schauen, was wahre Dichtkunst bedeutet! Leonhart war höchstens ein Vorläufer des genialen Grafen Xaver von Krastinik.«

Krastinik ballte das Zeitungsblatt mit der Faust zusammen und warf es zerknüllt zu Boden. O öffentliche Meinung des bedruckten Zeitungspapiers, du bist geduldig. Vorläufer, ja wohl! Wagte nicht auch Webster in der Vorrede seiner »Vittoria Corombona« vier Jahre vor Shakespeares Tode den größten Genius aller Zeiten in einem Athem zu nennen mit dem Akademiker Ben Jonson und den adligen Theatralikern Beaumont-Fletcher, ja sogar mit Eintagsfliegen wie Chapman, Dekker und Haywood, die heut kaum der Literarhistoriker beachtet! »Schließlich, doch ohne ihn durch diese letzte Nennung beleidigen zu wollen« nennt der gute Mann als seinen Vorläufer auch noch den gottähnlichen Ewigkeitsmenschen. Eine Posse von tiefbedeutsamer Mahnung. Jaja, Gegengewicht muß sein; gegen drohendes Uebergewicht imaginäre Werthe ausspielen – vive l'Egalité!

Und hier bei diesem Fall, wo durch die überwältigende zerschmetternde Ironie des Zufalls einmal die plumpe Gehässigkeit der Beschränktheit offenbar werden konnte, wo die Aufdeckung der Wahrheit – – Krastinik schauderte in sich zusammen. Er preßte die Hände vors Gesicht, wie um die Welt nicht zu sehn oder vielmehr sich vor ihr zu verstecken.

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Wahrhaft hochherzig und von dem sittlichen Pathos der Wahrheit durchdröhnt, klang der Nekrolog, welchen Hans Holbach seinem Freunde in der »Berliner Tagesstimme« zu widmen wagte. Mochte im Leben diese Freundschaft nur eine äußerliche Schauspielerei gewesen sein, mochte der tiefe Zwiespalt beider Naturen sie einander innerlich entfremdet haben, – der Tod gleicht alle Gegensätze aus. Jetzt balancirte Holbach nicht mehr, dem Vortheil der Weltberechnung gehorchend – der Tod veredelt. Und so tönte die Stimme seiner eigentlichen chevaleresken Natur, seines warmen und gütigen Herzens, aus den Worten:

»Unter dein vielen Erbärmlichen des Weltgetriebes giebt es ein Erbärmlichstes: den Schriftsteller neid. Diesem zumeist fiel Leonhart zum Opfer, während er neidlos alles Tüchtige anerkannte. Nachdem sie sein Genie von allen Seiten benörgelt (hier erwarben sich viele Moralprediger ein besonderes Verdienst, ihm, dem wirklich Moralischen gegenüber), begannen seine Collegen auch seinen Charakter in den Staub zu ziehen, indem sie seine Handlungen entstellten, seine Motive unlauter verdrehten, seine Ausschreitungen übertrieben. Nun lehrt zwar ein Blick aus die ungeheure Produktivität des jungen Dichters, daß er lediglich seinen idealen Zielen gelebt haben könne und daher alle Sagen über sein sonstiges Verhalten ins Reich der Mythe gehören. Wären aber seine Fehler so offenkundig wie die Erhabenheit seiner Dichtungen – wer wäre berufen, darüber zu richten? Doch gegen diese Art giftspritzender Hinterlist bleibt der Edelste und der Stärkste ohnmächtig. Forschen wir aber nach den Gründen dieser Niedertracht, so finden wir überall den gleichen: den Neid der Impotenz gegen das Genie, den Größenwahn der Kleinen gegenüber der wahren Größe. Verzeiht doch die kleinliche Selbstsucht der Mittelmäßigkeit nie die berechtigte Selbstsucht des Berufenen, weil ihre jämmerliche Eitelkeit sich verletzt fühlt! Dabei bedenke man, daß dieser Ewigkeitsmensch keineswegs etwa wie Byron den weltlichen Rang eines Lords trug, was doch nun einmal auf die Welt ganz anders wirkt, als der Rang eines großen Dichters! Man male sich Byrons Leben aus, wenn er zufällig als ein armer deutscher Poet geboren wäre – welch ein Abgrund stummen Leidens öffnet sich da der Phantasie! Und ein solches Leben ewiger seelischer Tortur in verzweifeltem Kampf gegen die Uebermacht des Weltmaterialismus, von widrigen Verhältnissen eingeschnürt, hat Friedrich Leonhart durchkostet.

Zweifellos war Leonhart kein makelloser Heiliger. Doch war sein Herz großmüthig und edel. Seine Verachtung alles Niedrigen und Kleinen entsprang seinem innersten Wesen, in dem nichts gemein und knechtisch. Quälte ihn vermeinte Unbill, die ihn zu thun zwang was er lange bereute, – viele wissen, daß sich ihm auf schwachem Grunde feste Dankbarkeit erbaute. Der Zug verzweifelter Angriffswuth aus tiefer seelischer Verbitterung, der ihn kennzeichnete, ging nicht aus äußerlichen und selbstischen Motiven hervor. Er kämpfte immerzu, heut mit der ganzen Welt, morgen aber auch mit sich selber. Denn der eigentliche Kern einer solchen Heldennatur basirt auf Tugendliebe und Pflichtgefühl, trotz einzelner Schlacken und Flecken. Wäre er mit jenen äußeren Vorzügen geboren worden, die in der Welt allein Erfolg verbürgen, mit Gesundheit, Schönheit, Rang und Vermögen so hätte das reiche Wohlwollen seines Gemüthes sich zu, vollkommener Idealität entfaltet. So aber, eine stete Zielscheibe für die Gehässigkeit neidischer Dummheit, wurden die häßlicheren Seiten seines Charakters von Jugend an genährt Jeder Eindruck warf sich auf ihn mit so intensiver Gewalt, daß zugleich alle Geistesstärke und alle Charakterschwäche hervorgelockt wurden. Die Fehler Leonharts stammten weder aus Entartung des Herzens – denn die Natur hatte nicht den Widerspruch begangen, so außerordentliches Talent mit einem unvollkommenen moralischen Sinn zu verbinden – noch aus Gefühlen, unempfänglich für Bewunderung der Tugend. Niemand hatte ein wärmeres Herz für Sympathie, eine offenere Hand für Unterstützung des Unglücks. Kein Geist war besser geformt für enthusiastische Verehrung edler Thaten, vorausgesetzt, daß er überzeugt war, man habe wirklich selbstlos gehandelt. Vorstellungen eines Freundes, dessen guter Absicht er sicher, hatten oft bei ihm großes Gewicht; freilich durften Wenige eine so schwierige Aufgabe sich herausnehmen. Mahnung ertrug er mit Ungeduld, Tadel verhärtete ihn in seiner Verirrung, – so daß er oft dem feurigen Streitroß glich, das sich wüthend in die Lanzen stürzt. In den schmerzlichen Krisen seines litterarischen Lebens bewies er diese Reizbarkeit in solchem Grade, daß er fast dem edlen Opfer des Stiergefechtes glich, das mehr die Neckereien der Hetzerhorde, als die Stiche des kühneren Matadors zum Rasen bringen.

Aber der Allgerechte, welcher menschliche Schuld nach ihrem wahren Werthe in seiner Schale wägt, wird jeden dieser vergifteten Nadelstiche wie einen Geistesmord verdammen. Schwerer wiegt jede Stunde, die man dem Dichter raubte und die einen Verlust für die Menschheit bedeutet, als das gesammte werthlose Leben seiner Hetzer und ihrer fadenscheinigen Moral.«

Das waren goldene Worte, echt und warm aus schlagendem Herzen geboren. Ja, der Tod ist heilig, er ist ruhig und still. Den Todten zieht man nicht mehr freundlich die Würmer aus der Nase oder tastet an ihnen herum, um die Naht zu finden, aus der man irgend einen Vortheil herausschlitzen kann. So pflegen wir Umgang mit den Lebenden, die Todten aber verbitten sich das. Der Tod ist heilig.

Doktor Gotthold Ephraim Wurb schrieb im »Bunten-Allerlei« über die Oeuvres posthumes dieses neuernannten Litteraturkönigs:

»Sein hinterlassenes erhabenes Meisterwerk zeigt uns, welch unvergleichlich große elementare Dichterkraft in Friedrich Leonhart uns frühzeitig dahingerafft wurde. Mit Stolz weisen wir daran hin, daß wir es waren, die zuerst dieses Urgenie entdeckten, wie so oft schon die Redaktion des ›Bunten Allerlei‹ von sich rühmen durfte. Lange blieb es ja unter Eingeweihten kein Geheimniß mehr, daß in Leonhart der eigentliche Centraldichter unsrer Zeit schlummerte. In ihm wäre uns der lang Ersehnte beschieden gewesen. Und nun ein so schreckliches Ende – weihen wir ihm eine stille Thräne! Vielleicht wäre er der deutsche Shakespeare geworden; so blieb er nur ein zerrütteter Shakespeare. Der schreckliche ›Fluch‹, den man unter seinen Papieren fand, trifft uns natürlich nicht. Wir haben unsre Pflicht erfüllt. Mögen die Elenden, die sich getroffen fühlen, es auf sich beziehen! Das ist das ewig alte Los des Genies in Deutschland. Erst wenn es im Grabe ruht, erkennt man neidlos seine Größe. Was könnte dieser große Mann unserm Volke geworden sein, wenn man ihn an die richtige Stelle gesetzt hätte! So – mußte er verkümmern, verbluten an tausend Nadelstichen. O wie ein edler Zorn uns bei diesem Gedanken durchtobt! Wir werden demnächst Briefe des Verstorbenen publiziren, dem wir einst nahe standen.«

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Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.
II.

Krastinik lag halb zurückgelehnt auf einer Bank im Regentspark. Ein traumhaftes Erinnerungsweh bewältigte ihn. Vor wenigen Minuten fuhr eine offene Karosse an ihm vorüber, in welcher Alice Egremont, jetzt Lady Mowbray, in nachlässiger Eleganz auf den Polstern sich wiegte. Unwillkürlich zuckte er empor. Ihr Auge glitt über ihn hin, sekundenlang blieb es hängen. Er grüßte, sie dankte flüchtig. Er bemerkte, daß sie erröthete. Aber wie bleich sie war! Sollte das Gerücht begründet sein, daß sie eine unglückliche Ehe führe, daß ihr Gatte, der nur ihr Vermögen freite, sie roh behandele? – –

Regungslos saß er noch immer wie angewurzelt. Wie lange er so gesessen, er wußte es nicht. Seine gestorbene Liebe, sein gestorbener Freund, seine gestorbene Muse, die er weiter und weiter von sich entschwinden fühlte – alles floß ihm in ein gespenstiges Bild zusammen.

Wo flüsterte hier nicht Erinnerung! Er hörte ihre Stimme überall, im Zwitschern der Vögel, im Rauschen der Bäume, im Klang der fernen Vesperglocken. In jedem dieser Laubgänge wehten einstgeliebte Locken – wessen, er wußte es selber nicht. Bewahrte die Urne der Erinnerung noch ihren Nektar, dies London noch eine Spur von dem, was sein Herz hier verließ? Hier werden einst Andre wandeln, wo er mit Dorrington plaudernd sich erging. Sie kamen hierher, Andre werden kommen. Den Traum früherer Menschenseelen werden sie fortsetzen und doch nicht vollenden. Denn diesem Traum frommt kein Erwachen. Nichts vollendet sich ja auf Erden, nichts. Alles beginnt, um nimmermehr zu enden. Wir alle erwachen, die Schlechten wie die Guten, die Großen wie die Kleinen, aber dies Erwachen heißt der Tod. Ja, der Tod weckt uns, wie ein Morgengruß. Und Leben heißt sich verschwenden an Schatten, an Schatten.

Wie die alten Aegypter ihre Mumien, balsamirt die Erinnerung ihren Gram für ewig ein.

Ob man den Spiegel in Scherben wirft, jede Scherbe spiegelt doch das alte Bild. Spiegle Dich nur kokett in der schmeichelnden Fluth! Schritt für Schritt lockt es Dich tiefer, bis der Fuß ausgleitet und die Woge über Dich hingeht. So ist die Erinnerung – man spiegelt sich darin und badet und ertrinkt.

Und wenn dies alles nun wahr, wahr wie Leben und Tod, – da sollte man es der Mühe werth erachten, die Befriedigung der Eitelkeit allen Geboten der Ehre voranzusetzen? Nein, nimmermehr.

– Krastinik fuhr zu Lady Dorrington und verabschiedete sich bei ihr. Zu Hause schrieb er zwei Briefe. Einen nach Haus. Von Berlin her war ihm ein Brief seines älteren Bruders nachgesandt. Die Brüder correspondirten sonst wenig, da ihre Lebensanschauungen zu verschieden. Diesmal aber erhielt er einen langen Brief des Majoratsherrn. Er befinde sich momentan auf den Stammgütern in Siebenbürgen und erwarte den Adel der Umgegend zu einer Bärenjagd. Auch sein Freund Graf A – y, der Führer der klerikalen Opposition, werde sich einfinden. Da würde man sich wohl mit Schmerz davon unterhalten müssen, auf welche traurige Bahnen ein Krastinik gerathen sei. Erstlich solle Xaver ja in Berlin sich ganz germanisirt haben und abscheuliche Preußomanie pflegen. Den Kreisen der Oesterreichischen Botschaft halte er sich ganz fern, wie man höre. Unverzeihlich von einem Krastinik. Aber noch schlimmer, man sehe, ihn stets in Gesellschaft plebejischen Gesindels, herabgekommener Litteraten. Er scheine sich allen Ernstes als »Schriftsteller« von Beruf zu fühlen. Jetzt nun gar, – mit Indignation habe er als Haupt der Familie davon Kenntniß genommen, daß Xaver Krastinik mit einem sogenannten Bühnenstück Furore mache. Vermuthlich sei er vom Publikum auch herausgebrüllt worden und, dem Hervorruf gehorsam, vor den Vorhang getreten? Ob er denn nicht selber fühle, wie wenig das für einen Krastinik schicklich sei? In andern Ländern möge das ja angehn. Ein Graf Tolstoy und verschiedene Fürsten schrieben ja auch. Aber grade, in Deutschland, wo man mit Recht die Schriftsteller als Menschen auffasse, die ihren Beruf verfehlten! Als erhabener Dilettant Werke zu redigiren, wie Sr. k.k. Hoheit Kronprinz Rudolf, sei ja gewiß ein vornehmer Sport. Aber die Art und Weise, wie Xaver diesen Sport treibe, sei skandalös. Ganz als bürgerliches Metier. Ob er vielleicht mit Cohn und Itzig schon Brüderschaft getrunken habe? Man behaupte sogar, er verkehre bei Leuten, die wegen Preßbeleidigung des Fürsten Bismarck gesessen hätten. Aber das halte sein brüderliches Herz wenigstens für Verleumdung. – Kurz und gut, was solle denn aus ihm werden? Seine militairische Carrière habe er aufgegeben, doch hoffentlich sehe er ein, daß er sie wieder ergreifen müsse, um sich vor seinen Standesgenossen zu rehabilitiren. Er bitte ihn flehentlich, seinen elenden Papierruhm im Stiche zu lassen und heimzukehren.

Am Schluß schimmerte noch durch, daß der Majoratsherr die finanzielle Lage eines jüngeren Sohnes wohl berücksichtige und ihm daher, falls er sich wieder anständig benehme, gewisse Revennen in Aussicht stelle.

»Ein Almosen!« knirschte Xaver. »Jeder Löwe hat seine Laus! Zu Kreuze kriechen – das fehlte noch!«

Er schrieb trocken zurück, daß ihn etwaige Briefe in Scheveningen finden würden, da er morgen mit dem nächsten Dampfer via Amsterdam zum Continent zurückreise. Im Uebrigen danke er für die brüderlichen Rathschläge. –

Der andere Brief des Grafen ging nach Berlin, an die Redaction der »Berliner Tagesstimme«. Es kostete ihn schwere Ueberwindung, die Feder anzusetzen. Dreimal zerriß er das Schriftstück. Schweißtropfen perlten auf seiner breiten Stirn.

Dann aber sprang er plötzlich auf. Sein Auge blitzte, seine Brust hob sich. Ihm war, als stände er auf einer Bresche, als würfe er sich ritterlich einem fallenden Feldherrn als Deckung vor, um statt seiner den Streich zu empfangen. Der Geist all Derer von Krastinik erwachte in ihm. Seine Ahnen standen ihm unsichtbar zur Seite. Sei ein Mann, sei ein Ritter, Noblesse oblige!

Und er schrieb, ohne Besinnen und Absetzen in einem Zuge.

Nein, der point d'honneur ist keine Falstaffiade und das Gewissen keine Erfindung der Religion. Sobald es spricht, laut und vernehmlich, kann man nicht widerstehen. Wer von ihm gerufen wird, muß der Mann seines Schicksals sein, wie das Gewissen gebeut.

Jeder hat seine Versuchungen des heiligen Antonius und könnte von seinem Standpunkt aus Bekenntnisse des heiligen Augustin schreiben. Aber Auserwählte haben ihr Gethsemane, wo der Kelch der Bitterkeiten zum Ueberfließen voll an ihren Lippen hängt. Sie müssen ihn leeren bis zur Hefe, ehe die Kraft der Weltüberwindung ihr neues Testament offenbaren kann. Erst in der Wüste der weltverlassenen Einsamkeit vernahm Johannes die Stimme der Wahrheit und erst auf dem Patmos des Exils enthüllte sich die Apokalypse des Weltgerichts. So scheint denn das Martyrium auch die allererste Bedingung, die sich vergrößert mit dem Wachsthum des Geistes. Von dem kleinen Martyrium der unglücklichen Liebe, das den jungen Geist läutert und vertieft, bis auf zu dem Martyrium des großen Weltwehs, wie es allen Aposteln der Menschheit die Höllenpforte der Erkenntniß öffnet, ist das Leiden die Mutter jeder Größe.

So lange das Gefühl der Welt- und Gottverlassenheit, die Empfindung des Unglücks dem Menschen fremd bleibt, so lange ist er sich weder seiner Seelenkraft noch Gottes bewußt. Seinen Scheideweg des Herkules, wo der eine Pfad zum Glück und der andere zur Tugend führt, findet Jeder. Aber nur bevorzugte Naturen wissen alle Strudel der Vergangenheit zu glätten. Ein Shakespeare verbirgt seinen Hamletschmerz unter dem Prosperomantel der Phantasie. Aber man braucht diesen Mantel nicht zu besitzen, denn das Talent zur Einsamkeit ist angeboren. Fittich, Stab und Skorpion – Giftkröte, die den Karfunkel der Wahrheit im Haupte trägt – Einsamkeit! In deinen Schoß bettet sich müde, wer sich willenlos fortgerissen fühlt von den immer reißenderen Stromschnellen, die dem Niagara entgegenstürmen.

III.

Die Geschichte Europas verräth einen innerlich bedingten Zug der Entwicklung von Süden nach Norden, von Westen nach Osten. So hatte denn kaum das kleine Küstenreich Portugal in Ostindien unter Almeida und Albuquerque ein gewaltiges Colonialreich gegründet, als auch schon das nordische Küstenland Holland im Kampfe gegen die spanische Weltmacht deren coloniale Eroberungen an sich riß und unter den Oraniern, Wilhelm dem Staatsmanne und Moritz dem Feldherrn, sowie später unter den großen Admiralen Tromp und Ruyter sich zur ersten See- und Handelsmacht erhob. Und wie Portugal seinen einzigen Dichter jener kurzen Glanzperiode verdankt, so erstand in Holland ja auch der bedeutendste Sänger batavischer Mundart, Vondel, während der siegreichen Befreiung der Niederlande von fremdländischem Joch.

Die feuchte neblige Frische, das gleichsam wasserdurchquollene tiefsatte Grün einer Ruysdael'schen Landschaft wirkte beruhigend auf Krastiniks Nerven. In den Cafés bewunderte er die eigenartige Vornehmheit malerischer Ausstattung, die Bambusstühle und kostbaren Porzelan-Gemälde, die ins Wandgetäfel eingefügt. Und die Austern Van Laar's labten ihn wie culinarische Zeugen dieser allgemeinen reinlichen Meeresfrische.

Amsterdam erklärt alle Stimmungseffekte Rembrandts durch seine üppige Fülle coloristischer Motive. Die schmalen Häuschen mit den seltsam gezackten Schornsteinen tragen eine kaffeebraune Farben-Lasur, deren feiner Reiz durch zahlreiche Architekturen aus rothem Ziegelstein von barock verschnörkeltem Style noch mehr hervorgehoben wird. Die Docks, die Canalbecken, über welche sich bogige Brücken spannen, das Netzgewirr der kleinen Gassen, an Venedig erinnernd – alles das wird von einem nebligen Halblichte abgetönt. Unter ihm setzt das natürliche Grün der Baum-Alleen zu beiden Seiten der Canäle einen Flimmer an wie von rostigem Metall.

Doch der pöbelhafte Lärm roher Unsittlichkeit, welcher die Nachtruhe selbst im vornehmsten Stadttheil dieser Hafenstadt stört, trieben ihn schon am nächsten Tage seinem neuen Ziel entgegen. Thalatta, Thalatta!

Kaum in Scheveningen angelangt, warf sich Graf Krastinik auf die deutschen Zeitungen, die er hier zufällig in ausreichender Fülle vorfand. Da fesselte ihn sofort wieder der Name Leonhart. Was war dies schon wieder? Der Verleger desselben hatte unter den hinterlassenen Papieren ein, förmliches Tagebuch vorgefunden und kündigte die unverzügliche Publizirung dieses »großartigen Erzeugnisses« an. Natürlich bestellte der Erstaunte das Buch sofort telegraphisch »zu umgehender Sendung mit Nachnahme«.

Am andern Morgen aber fand er richtig in der »Berliner Tagesstimme« seinen offenen Brief abgedruckt. Wie folgt.

»Eine höchst befremdliche Nachricht dringt zu uns, welche wir nur unter Reserve wiedergeben würden, falls nicht der Name des Betreffenden selbst dafür bürgte, daß hier keinerlei Mystifikation vorliegt. Die Leonhart-Affaire, welche jetzt schon wochenlang die Gemüther der näherstehenden Kreise aufregt, wobei durch Veröffentlichung des angekündigten Tagebuchs wohl kaum eine Sänftigung erhofft werden darf, findet hiermit eine ganz neue höchst überraschende Ergänzung.

In einem höflichen Geleitschreiben hat der vornehme Verfasser des nachfolgend abgedruckten Briefes ausdrücklich ersucht, denselben ohne jede Milderung und Streichung zu publiziren. Er bestehe darauf, widrigenfalls er den Brief einem andern Blatte überreichen werde.«

Krastinik lächelte flüchtig über diesen schlauen Coup. Er kannte seine Pappenheimer: Ehe die »Tagesstimme« einem andern Blatte eine sensationelle Notiz überließ, sei es auch nur eine Brillant-Ente, eher würde sie wahrhaftig den Inseratentheil des »Botschafter« pachten!

»Graf Xaver Krastinik hat sich bemüßigt gefunden, erst jetzt mit einer Erklärung hervorzutreten, welche das größte Aufsehen erregen wird. Wir bringen sie unverkürzt, seinem Wunsche gemäß.

Löbliche Redaction! Nach § 11 des Preßgesetzes steht mir eine thatsächliche Berichtigung frei, welche ich hiermit erlasse. In der ›Kreuz- und- Schwertzeitung‹ fand ich kürzlich einen Artikel, dieses christlichhumanen Blattes vollkommen würdig, aus der Feder eines p.p. von Schnapphahnitzkoy. Dieser Herr, von dessen Existenz ich nur mal von meinem verstorbenen Freunde Leonhart gehört zu haben glaube, ist so freundlich, meine Wenigkeit gegen das ungebührlich herausgepriesene Verdienst meines seligen Freundes auszuspielen und zwar speziell das venetianische Drama ›Die Meeresbraut‹. Ich erkläre nunmehr hiermit laut und feierlich: Dieses Stück, mit Ausnahme einiger scenischer Einfälle, gehört mit Stumpf und Stiel, mit Haut und Haar, in Idee und Ausführung, ausschließlich; meinem todten Freunde Friedrich Leonhart. Sind die Herrn Neider und Nörgeler, diese Schurken, die den großen Dichter in jenen Anfall von Geistesstörung des Verfolgungswahns hineintrieben, – ist die Verschwörung von Schurken und Dummköpfen nun vielleicht endlich zufrieden?! Ich weiß recht wohl, daß in ihrer Wuth, sich so getäuscht zu sehn, die verbündeten, aber nicht vereidigten Makler nun über mich herfallen werden. Der Verstorbene hatte mein Wort, bis zu einer gewissen Frist den wahren Namen des Dichters zu verschweigen und den unverdienten Ruhm auf meine Achsel zu nehmen. Diese Frist ist jetzt erloschen. Auch hätte ich meines Wortes mich entbunden erachten können,nach jenem traurigen Ereigniß. Ich gestehe daher mit einem demüthigenden Gefühl der Scham, daß ich vor diesem notwendigen Schritt mich ängstete. So sehr hat auch das Beisammenleben mit den größenwahnsinnigen Erfolgjägern Berlins mein Gefühl für Pflicht und Ehre abgestumpft, daß es mir schwer ankam, auf solche unsauber erworbene Eitelkeitsmedaille zu verzichten.

Warum überhaupt diese Täuschung der Welt von mir und dem Verstorbenen versucht wurde, fragt wohl nur ein ganz naiver Bruchtheil des Publikums. Damit man es aber einmal Schwarz auf Weiß lese, so will ich es mit dürren Worten aussprechen. Nie wäre ein Drama meines verstorbenen Freundes, und wäre es noch zehnmal besser, je auf einer deutschen Streberbühne zur Aufführung gelangt, nie! Er konnte nicht dem Direktor ein Ordensbändchen verschaffen, der Frau des Regisseurs die Cour schneiden, mit dem Schauspielerpack Brüderschaft trinken. Ich aber, löbliche Redaction, heiße Graf Xaver Krastinik und bin daher befugt, selbst meinen greulichsten Schund an sämmtlichen Hofbühnen anzubringen. Da Leonhart tausend Feinde und keinen einflußreichen Freund (nicht mal dem Theater-Portier konnte er ein erhebliches Trinkgeld zu Füßen legen) besaß, so war ich also der unmaßgeblichen Meinung, daß er nur durch diese geschickte Vermummung zum Ziel gelangen könne. Im Einverständniß mit dem großen Dichter führte ich die Sache denn durch und der Erfolg bestätigte, wie gründlich wir Beide die Verlegenheit der Welt durchschaut hatten.

Ein Herr Nordau hat gegen ›Conventionelle Lügen der Culturmenschheit‹ gedonnert. Auch das ist aber nur eineLüge. ›Culturmenschheit‹, eine Humbugphrase wie so viele. Die ganze Welt ist nur eine einzige Lüge und bei dem Worte ›Idealismus‹ lachen die Auguren. Ein schöner Kellner hat mehr Aussicht auf Erfolg in der Welt als ein linkisches Genie, und nicht wer am besten dichtet, sondern wer am besten strebert oder dem Tagesbedürfniß schmeichelt, gilt heut als graußer Mann. Ein solcher Gewaltiger vor dem Herrn konnte Leonhart nimmer werden und so hatte er denn Recht, eine Welt zu verlassen, für die er allen Ernstes zu gut war.

Ich für mein Theil, nachdem ich diese letzte Pflicht erfüllt, nehme mit wehmüthigem Lächeln Abschied von der Poesie. Ich entsage für alle Zeiten der dichterischen Produktion. Meine litterarische Carrière war kurz genug, aber genügte mir, einen unauslöschlichen Ekel gegen dies Geschmeiß elender Federfuchser einzuflößen, das über seine verhungernden Kinder oder seine unbefriedigte Eitelkeit jammert, statt anständig zu Pflug und Spaten zu greifen, – das als litterarische Pennbrüder den Parnaß bebummelt, aber wie ein nichtsnutziges Knieholzgestrüpp dem aufwärtsschreitenden Bergsteiger die Füße umwickelt, so daß er strauchelnd zu Boden stürzt. Von ihren idealen Zwecken machen sie ein ebenso großes Geschrei wie von ihren materiellen Rechten. Wozu dient diese Kanaille, als den gesunden Sinn der Unbefangenen zu verwiren? Ihre ganze Existenzberechtigung ist ihre Eitelkeit, mit ihren idealen Zwecken finden ihr schönstes Recht in Niederduckung Sie des wahrhaft Großen. Und ihre materiellen Förderungen der Standesinteressen bestehen höchstens darin, daß sie dem Lebenswerthen möglichst den Weg zum allgemeinen Futtertrog versperren, um ihren werthlosenWindbauch vollzustopfen. – Kurz, wo immer eine geniale Natur sich erhebt, da folgt ihr instinktiv der Haß aller Feigen und Schlechten. Das ist der Schatten, den das Genie wirft, und gleichsam seine natürliche Beglaubigung.

Nach Erledigung dieser Erklärung, empfehle ich mich hiermit statt jeder besonderen Meldung meinen Berliner Freunden ›vom Geschäft‹, besonders den liebenswürdigen Schauspielern, die dem Drama Leonharts – pardon, Graf Krastiniks – eine so begeisterte Theilnahme entgegenbrachten, vor allem Herrn Direktor L'Arronge. Die Tantièmen der ›Meeresbraut‹, welche in Berlin nach Verabredung deponirt wurden, bestimme ich hiermit zu einem Grabdenkmal für meinen großen unglücklichen Freund. Einer löbl. Redaction ergebener

Graf Xaver Krastinik.«

Schon am andern Tage fielen die Berliner Zeitungen über ihn her. Krastinik las sie ruhig durch und trank als Magenstärkung einen Oranje-Bitter.

Den Menschen kann man nicht die Mäuler verbieten. So tadele denn Jeder nur getrost am Anderen, was er im eignen Busen wiederfindet! Die Frechheit, womit dies Volk über Ungewöhnliches urtheilt, entspricht nur der allgemeinen Ichsucht, deren krankhafte Kleinlichkeit sich berechtigt glaubt, alles zu kennen und zu beurtheilen, was grade in dem Bannkreis ihres eigenen winzigen Lebenskreises durch flüchtigen Zufall an ihnen vorüberhuschte. Und wäre es das Größte, sie ziehen es zu dem alltäglichen Nichts ihrer gleichgültigen Existenzen herab und beschimpfen keck, was zu hoch über ihnen steht, um sich vertheidigen zu dürfen. Souveraine duelliren sich nicht. Eins aber schien jetzt unbedingt nöthig: Daß er Ernst machte mit seiner Absage an das litterarische Geschwätz. Ja, gewiß war er ein echter Dichter, aber er mußte sich tödten, wie der Manne auf des Germanenherzogs Grab, auf der Leiche eines so unendlich größeren Dichters, von dessen Ruhm er unfreiwillig gezehrt.

Wie sonnenhell lag im Anfang seine neue Laufbahn vor ihm da!

Welch glückliche Zeit, wo er keine andere nagende Furcht kannte, als die, nicht früh und voll genug fertig zu werden, wo vor seinem Geiste endlose Bilder sich drängten, die er vergeblich alle zugleich zu beschwören hoffte und die sich in seinem schaffenden Gehirne stießen! Aber ach, die ganze Poesie, welche vor seinen trunkenen Blicken schwankte, löste sich auf und zersplitterte sich in endlose Fragmente, von denen Keines vollendet ward. Durfte er glauben, daß in jenen Kindheitstagen seiner litterarischen Anfängerschaft die echte Poesie, der echte Schöpferdrang in ihm thätig gewesen? Nein. Seine Jambentragödien waren historische Schulübungen, deren letzten Refrain doch immer das gegenseitige Schwertergeklirr abgab.

Und so ging er denn aus Heldenstück der Selbstüberwindung. Bei der Abreise von Berlin hatte er natürlich sein Theuerstes, seine Manuscripte, mit sich geführt. Nun öffnete er das bisher unberührte Fach seines Koffers und häufte seine Schätze vor sich auf.

Lange durchwühlte er diese Fragmente historischer Dramen, die er mit Leonhart einst durchgesprochen. Er wischte mit dem Finger über die Wimper, als müsse er dort eine Thräne zerdrücken. Doch sein Auge blickte kalt und starr.

Mit einem kräftigen Ruck raffte, er sich zusammen und packte die Manuscripte und warf sie in die helllodernden Flammen des Kamins. Rasch wandte er sich dann ab, wie um das Unheil nicht zu sehen. Erst als die Papiere schon halb verkohlt und zu Asche verbrannt, richtete er seinen Blick darauf. Und mit bebendem Herzen zwang sich ihm auf die Lippen das Lied:

Lebt wohl ihr Alle, die einst gelebt

In meiner Seele, die euch belauscht!

Ihr Heldenschmerzen, die mich durchbebt,

Ihr Völkerkunden, die mich berauscht!

Hinab hinab, versunkener Hort!

Die Welt soll nimmer Dich wiedersehn.

So mag das ewige Dichterwort

Mit all der anderen Spreu verwehn!

Aber kaum hatte er so in Erhabenheit geschwelgt, als eine innere Stimme ihm mahnend ans Ohr schlug: Hüte Dich, hüte Dich vor neuem Rückfall in das Laster der Andern, vor kindisch selbsttäuschendem Größenwahn! Das ewige Dichterwort? Meinst Du wirklich Dich selber? Wer gab Dir das Recht dazu, Deine hübschen Theatralika à la Heinrich v. Kleist gleich für etwas Besonderes zu halten, in einer Zeit, wo ein großer Dichter an Deiner Seite schritt?

Krastinik versank in tiefes Nachdenken über sich selbst und das allgemeine Problem einer geistigen Thätigkeit, die doch eigentlich direkt der rohen Realität zuwiderläuft.

Es ist unwahr, daß Physisches und Psychisches sich ergänzt. Der Eine wird mit überwiegend physischer Kraft geboren, welche sich als sogenannte Lebensfrische offenbart, – weswegen die realistische englische Sprache auch kräftige Lebhaftigkeit kaltblütig »animal spirits« (thierische Lebensgeister) nennt. Diese Anlage überwiegt vor allem bei den Frauen. Da aber das psychische Element in Jeder menschlichen Natur liegt, so hindert es fortwährend die freie Entfaltung des Physischen. Denn ist die geistige Fähigkeit eines solchen Individuums eine geringe, so sucht es durch Fleiß und Studium sich zu Höherem aufzuschwingen, verkümmert sich aber nur den physischen Genuß, ohne geistlge Resultate zu erreichen. Und sind die geistigen Fähigkeiten nicht unbeträchtlich, so erkennt ein solches Wesen bald die Nichtigkeit, des Thierischen, kritisirt an sich herum, fühlt die gähnende Lücke seines Innern, bewundert das Höhere, ohne sich zur geistigen Arbeit aufraffen zu können, weil eben das physische Element von Natur aus zu mächtig in ihm. Dies sind all die zerrissenen, zerfahrenen und in falschem Sinne romantischen Naturen. – Der Andre wird mit überwiegend psychischem Element geboren. Ihn hindert nun das schwache physische Element entweder durch Kränklichkeit im geistigen Schaffen, oder die sich stärkende physische Natur rebellirt gegen die übermäßige Psyche, indem sie auf dem Wege der Phantasie zu Ruhmsucht, Eitelkeit, Herrschsucht und Sinnlichkeit verführt.

Der Graf schauderte vor des Leere seines einsamen Innern.

Wer Gram und Zorn und Haß im Herzen hat, etwas hat er dann doch hinabzuspülen. Er taucht in Lethes Fluth ein volles Blatt, ein vollgeschriebenes Blatt – o er ist zu beneiden. Doch dies Gefühl des Erfrorenseins, des Abgestorbenseins, erfüllt das ganze Herz mit Nacht und Schatten.

Und als müsse er von der Muse einen ihrer würdigen Abschied in Versen nehmen, quälte er seine ganze Lebenserkenntniß in folgende Reim-Prosa hinein:

Glück, das ist Frieden, Frieden ist Ruhe,

Ruhe ist Größe und Freiheit nur groß.

Denke und fühle, schaffe und thue

Friedlos und rastlos, im Sturmesgetos.

Ruhe sinkt willig in unruhvolle Seele.

Wer Ruhe aber suchet, den quält ein innrer Dorn.

Bewegung lenkt das All, der Einzle auch sie wähle.

In Widerspruch und Wechsel nur quillt der Wahrheit Born.

Wenn für die Gegenwart Du nicht denkst und nicht handelst,

Dann naht der Vergangenheit dürres Gespenst.

Oder mögliche Zukunft ins Jetzt Du schon verwandelst,

Deren Leiden Dir sicher, deren Freuden Du nicht kennst.

Du rechnest, ob nicht etwa der Wechsel oder jener

Zu Deinen Gunsten nahn wird, doch nur das Unheil naht.

Wer frühres Glück betrachtet, zu übersehn nicht wähn' er

Manch unfruchtbaren Samen, manch Unkraut in der Saat.

Wenn eine von der andern auch verschlungen werde,

Doch nennen wir uns Wogen in der Brandung der Zeit.

Statt dessen sind wir Blasen und Schaum diese Erde

Und drunter rollt unheimlich das Meer der Ewigkeit.

Er überlas das Geschriebene. Dann lächelte er verächtlich und zerriß das Papier. Er ein Dichter? Ein tieffühlender und tiefdenkender Mensch war er, aber blieb ewig Didaktiker oder Theatraliker. Was verlor die Welt an seinem Dichterthum? Das konnte höchstens dazu dienen, größere Talente in bedrückten bürgerlichen Verhältnissen durch seine gräfliche Concurrenz zu schädigen.

Und hätte er noch geschwankt, ob er definitiv abdanken solle, dann hätte die Lectüre des Leonhartschen »Tagebuchs« ihn endgültig bestimmt, das jetzt auf seine telegraphische Bestellung umgehend eintraf, »soeben erschienen«.

IV.

Als Motto standen auf der Titelseite aus Händel-Miltons Oratorium »Samson Agonistes« die Verse: »Laß mich mit Thränen mein Loos beklagen, Ketten zu tragen das ist mein Geschick.« Ja, wahrlich, hier tobte ein geschorener geblendeter Simson in seinen Ketten – er, der so oft mit einem Eselskinnbacken die Philister erschlug.

Bei Lebzeiten des Dichters wäre eine Veröffentlichung dieses Tagebuchs ein unmögliches Vabanque-Spiel gewesen oder zum Staatsstreich geworden. Die unheimliche Menschenkenntniß, die hier intuitiv in allen Seelen las, ihr Schicksal mit einem Blick vor-und rückwärts erkundend, paarte sich einem unerbittlichen Zuhausesein im eignen zerwühlten Herzen. Dies schien ihm der Spiegel geworden, durch den er die Herzen der Andern sah.

Man blickte gleichsam über den Schreibtisch des Dichters, wie er verzweifelt nach Vollendung rang. Man sah ihn als halbflüggen Jüngling seinen unreifen Weltschmerz und seine unglückliche Liebe in wilden Liedern ausgrollen, aber nicht in rethorischer Formvirtuosität, nichtselnd, sondern an großen Stoffen sich die Zähne ausbeißend. Langsam und stetig gewann er Herrschaft über die Form, allerdings eine neue Form, von welcher der akademische Jargon der Poesie-Eunuchen und Hermaphroditen noch nichts ahnte. Mit durstigen Sinnen schaute er sein handlungbewegtes Leben an und angeschautes Leben trat in all seinen Schriften hervor. Ja, er eroberte sogar neue Stoffgebiete, welche der Poesie noch nie erschlossen waren. Unaufhaltsam rollte der Wagen dieses geistigen Imperators die Via Triumphalis hinan.

Dabei blieb er kameradschaftlich jovial, trotzdem das volle Bewußtsein seines Werthes ihn aufrecht erhielt im Sumpf der litterarischen Bohème. Aber grade in Folge seiner Bonhomie kam eine Vertraulichkeit seiner Schützlinge zum Vorschein, die dem verwöhnten und stolzen Manne nicht behagen konnte. Wunderknaben, die er gegen alle Welt geschirmt, vermaßen sich ihn zu fragen, wie einst der Dichterling Polidori seinen Gönner Byron: was er denn eigentlich mehr leiste als sie. Wer in seinem Schatten vegetirte, nahm später einen lehrhaften Ton gegen den allzu Gutmüthigen an. Wenn dann dem Ewigkeitsmenschen endlich die Geduld riß, rannten sie wie toll umher und klatschten Schauderdinge von seinem Hochmuth, während es gerade als sein Fehler erschien, daß er sich würdelos wegwarf. Im tiefsten Innern bescheiden allem Großen gegenüber, hingebend und übertrieben wohlwollend gegen alles leidlich Bedeutende, zweifelte er stets an seiner Unfehlbarkeit, unbeirrt durch das Hosianna seiner Bewunderer wie das Gekläff seiner Neider. War er nur der Christoph Marlowe eines neuen Shakespeare? War er der Riese Christoph, der das Jesuskind über die wilden Wasser trägt? Oder war er selbst dieser Messias der Poesie? Er wußte es nicht. Auch grübelte er nie darüber und fühlte sich stets bereit, das Knie zu beugen vor dem Dichter der Zeit, der da kommen sollte, wie die Zeichen künden. Fern dem neidischen Größenwahn wie der falschen Demuth, wie es der wahren Größe geziemt, brandmarkte er nur den Wahn der Windmacher. Denn in diesen prahlenden neidgrünen Schwächlingen erkannte er grade die echten Kinder unsrer reklamesüchtigen Aera, ob sie auch selbst über ihr Jahrhundert errötheten, wie ihr Jahrhundert über sie. All diesen Statisten, die statt »die Pferde sind gesattelt« sich selbst als Heldenspieler meldeten fürs erste Rollenfach, ertheilte er oft den wohlverdienten Fußtritt seines vernichtenden Sarkasmus.

Selten war die Lächerlichkeit, welche unbewußt aller Lüge und Gemeinheit anhaftet, mit so sicherer kühner Hand in derben Strichen conterfeit. Wie der Ritter mit der eisernen Hand, knackte dieser ins Moralische übersetzte Pietro Aretino abschreckende Kopfnüsse hinter den feuchten Ohren seiner Verfolger und verpuffte sterbend all seinen Grimm, wie Götz in beherztem Aufatmen aus voller Brust: »Freiheit, Freiheit, himmlische Luft!«

Man sah Schritt für Schritt den Morast der litterarischen Misère über dem Haupt des Unglücklichen zusammenbrechen. Man sah seine Dramen vergeblich an die Pforte aller Theater klopfen, wie seinerzeit die Opern Wagners. Infamie und kein Ende. Da schimpfte die »vornehme« Kritik über Theaterleiter und Publikum, welche allein der Fluch Apolls ob dem Untergang des Dramas treffe. Und die Presse etwa nicht? Man forscht umsonst begierig, was denn sie beitrage zur Förderung verkannter Dichter. Wer zu stolz ist und zu hoch steht, um jenen »vornehmen« Geistern schmeichelnd um den Bart zu gehn, wird von ihnen nach wie vor todtgeschwiegen. Man sah, wie der edle Dichter umsonst nach Jemandem suchte, der selbstlos für Andere eintrat. Nur Einer schien davon ausgenommen, der aber durfte mit Heine singen: »Schade, daß ich ihn nicht küssen kann, denn ich selbst bin dieser brave Mann.«

Jenes Gewirr von platter Bosheit, bübischer Dummheit und neidzerfressenem Größenwahn, das sich »litterarisches Leben« nennt, wurde hier einmal erschöpfend blosgelegt. Jeden Augenblick hörte man den Dichter heimlich die ironische Liebesbotschaft nach allen Richtungen der Windrose versenden: »Ich weiß alles.« Das genügt. – Da schwatzte dies Völkchen von »Größenwahn«, wenn tiefbeleidigtes Gerechtigkeitsgefühl sich gegen schnöde Verkennung und den eiteln Wahn der Modefexen empörte. Hier mochten die Worte der Schrift gelten: Sie haben Ohren, um zu hören, und hören nicht; sie haben Augen, um zu sehen, und sehen nicht.

Wer als Einer unter Myriaden stets die Sache und nie die Person im Auge behält, muß der Selbstübervortheilte bleiben, auf dessen Kosten sich alle Ohrwürmer mästen. Darum bildet den rechten Grundstein einer geregelten litterarischen »Carriére« die einfache Nützlichkeitslehre der Bismarckschen Diplomatie: »Do ut des«. Um die wahre Bedeutung und derlei Allotria mag sich die Nachwelt kümmern. Nachruhm! Leichen kann man nicht mehr füttern.

Die gefährlichste und verletzbarste Eitelkeit stellt nicht das eigene Selbstgefühl dar, sondern die Eitelkeit für einen Anderen z.B. der Mutter für ihren Sohn. Der wahre Dichter aber fühlt für seine Dichtung wie für ein Kind, das er gebar. Während der Dichterling immer nur sich selbst persönlich getroffen fühlt, wenn man seine Dichterei heruntersetzt, kränkt den Dichter ein ganz unpersönlicher unselbstischer Schmerz, wenn er sein Dichtungskind, dies von ihm losgelöste selbständige Wesen, von der kalten böswilligen Welt verstoßen und besudelt sieht.

An diesem Schmerz, der insofern komisch wirkt, als er sich Niemandem als unselbstisch begreiflich machen kann, ging der unglückliche Dichter langsam zu Grunde. Er faßte sich fortwährend gleichsam literarhistorisch auf und grübelte über seine Eigenart nach, als gelte es einen posthumen Essai für die Nachwelt zu schreiben. Andrerseits steigerte sich bei ihm die Unmöglichkeit, die tausend Theilsächelchen des Lebens zu berücksichtigen.

Wie oft werfen nicht beschränkte mittelmäßige Köpfe einem Kraftgeiste, der, von rastlosem Thatendrang dämonisch fortgerissen, immer nur das Ganze, nie die Theile bedenkt, haltlose Unruhe, unzeitigen Starrsinn, Widersprüche vor, während nur ihre eigene Mittelmäßigkeit sie auf der gewohnten Bahn des ebenmäßigen Vorwärtstappens erhält!

Schritt für Schritt sah man die tückische Nervenkrankheit hier vorrücken, welche den Unglücklichen in seiner Verbitterungs-Manie dem Wahnsinn und dem Selbstmord entgegentrieb. Er suchte gleichsam alle Abgründe auf und secirte sich und seine Nebenmenschen bei lebendigem Leibe. Der letzte Theil des Tagebuchs, in dem Monat vor seinem Tode geschrieben, enthüllte dies so recht.

Welch ein köstlicher Kerl ist doch College X.! Der sagt von Jedem, sei er auch der erwiesenste Schuft: »Alles was recht ist! Ein anständiger Mensch!« Nur nie Farbe bekennen, nur leise treten, nur ja mit Jedem sich gut halten!

Alle sind sie Macher, alle. Sie theilen sich nur in geschickte Mach er und in ungeschickte. Da liegt der ganze Unterschied. Mit ironischem Lächeln gehe ich stets auf ihre eigene Weltanschauung ein und hebe meine Sprüche an: »Wir sind ja unter uns, mit Wasser kochen wir ja alle.« Und die Kerls merken nicht einmal, daß ich mich über sie lustig mache.

Das sind noch die Ehrlichen. Nur wenn Einer von seinen »idealen Zielen« zu schwindeln anfängt, dann mache ich mich schleunig aus dem Staube oder halte meine Taschen zu. Gott, wie sie doch alle das Selbstbelügen verstehn! Und ich armer Hülfloser, der ich nie meine Gesinnung verstecken kann, nicht mal vor mir selber!

Ich freue mich immer, wenn ich mit Offizieren zusammentreffen. Hier herrscht wenigstens Disciplin, Unterordnung unter den höheren Rang, Aufgehen in das Ganze. Hier steckt eine greifbare Realität. Diese Kunst-Proletarier und Geist-Handwerker sind hohle Schemen, Blasebälge, Etiketten von leeren Flaschen. Diese Kerle würden ihren Vater todtschlagen und ihre Mutter verkaufen, wenn sie ihren nimmersatten Ehrgeiz damit stopfen könnten. Sie leiden an einer Art Auszehrung selbstverzehrenden Größenwahns. Sie zehren gleichsam von ihrem lieben Ich und nagen sich selbst das geistige Fleisch von den Knochen. Redet man von Dingen, die grade nicht ihr persönliches Interessetangiren, so gerathen sie in Geistesabwesenheit und pfeifen »Ach du lieber Augustin, alles ist weg.« Ein ewiges Fieber wahnsinniger Vordrängungs-Gier jagt sie hin und her. Diese Umwechsler geistiger Münzen spekuliren andauernd nach dem Courszettel der Erfolgbörse auf Hausse und Baisse. Viele dieser literarischen oder künstlerischen Börsianer müßten lebenslänglich Zuchthaus erhalten wegen geistiger Urkundenfälschung und wegen falschem Zeugniß, als besoldete Denuncianten und Meineidbeschwörer des kritischen Areopags, sei es nun als Alexandrinische Kunstgelehrte und Kultusministerialräthe oder als »Knüngel«-Verschwörer der akademischen Strebercliquen untereinander oder als »vornehme« Preßbanditen und Fälscher der öffentlichen Meinung oder als Hoftheaterintendanten-Excellenzen und Nicht-Excellenzen, und was des Gesindels mehr ist.

Aus ihrem Munde geht nichts als Lüge, wie jedes Wort aus des persischen Satans Eblis Rachen sich zu Pesthauch verwandelte. Phrasen, nichts als Phrasen. Humbug und kein Ende. Und ich selber? Bin ich denn besser? Ich Memme, der ich mich mit ihnen an einen Tisch setze, weil sie dann wenigstens nicht klatschen und schimpfen können, und mich dann regelmäßig ärgere über den vergeudeten Abend? Ja, ich selber tauge den Teufel nichts.

O dürft' ich rufen mit Coriolan, ein Selbstverbannter:

»Ihr Hundeseelen, deren Hauch ich hasse

Wie unbegrabener Männer todtes Aas,

Das mir die Luft verseucht – ich banne euch.«

O dürft' ich fliehen von den Ufern dieser Pauke, welche ein ewiger Regen in zahllose schmutzige Wasserringe zerschneidet, aus Gestade der Brenta! O dürfte, Tauben von San Marko, sich aufschwingen in eure Reihen meiner Seele fromme Taube und mit euch kosen in heiterm Spiele auf der Vorzeit Grabdenkmal, ihr Tauben von San Marko! – O Vorzeit, o vielverkanntes Mittelalter, das der jüdische Aufkläricht uns wegsudeln möchte! Ihr hattet kleine Mittel und große Ziele, wir haben große Mittel und kleine Ziele, Mittel schaffen noch keinen Zweck, aber der Zweck schafft sich selber Mittel.

Denkt man nur an die Kreuzzüge, wie ärmlich erscheinen alle heutigen Unternehmungen!

O Nibelungendichter, großer Unbekannter, der im Mysterium weltentäußernden Schweigens vornehm dem Erdkreis entschwand! Oft träumte ich Dich als Genossen Walters von der Vogelweide, in Palästina dem Hohenstanfischen Kaiserzuge folgend.

Rosen und Trauben wogen im Libanonthal wie ein Meer rothen Weines ineinander, verschwimmend in Farbenwellen. Doch die Wolke Sodoms durchfließt noch immer unheimlich die Luft, wo das Todte Meer faul wie ein Alligator seine bleiernen Fluthen sonnt mit glasig stierem Auge, das in sich selber zurückschreckt. Und des Himmels brennendes Auge löst nie in Thränen sein starres Lid. Wie ein bleicher Symar, ein Leichenhemd von gramverwesten Völkerleichen, dehnt sich die Wüstenei, am Morgem vom »Blutregen« bethaut, der nächtlich herniedertrieft. Und wie die rothen Kreuze, die der Aberglaube in den Infusorien dieses Blutregens sah, bedecken in Morgendämmerung Rothkreuze das Blachfeld, wo die rothbekreuzten Templer auf dem Kriegspfad vorüberschleichen.

Und der wilde Schwan, deß wir inne geworden,

In Lüften sich wiegend, vom Heiligen Orden

Ist es das stolze Banner Beauséant.

Laissez aller! Vorbei! En avant!

Wie Wüstenmirage ist alles zerronnen.

Wir aber reiten ruhig besonnen,

Anstimmend einen ernsten Leich

Von Gottesminne und Himmelreich.

Unsrer gelassenen Hiebe Schnitt

Keinen Seldschucken im Sattel litt.

Doch neben mir schwebt wie Kranichflug

Ein Geisterkarawanen-Zug.

Im Wüstenqualme, im Dach der Palme,

Wie einst im Goldmeer heimischer Halme,

Immer sehe ich noch die blonden

Enakssöhne, die reisigen Burgonden.

Und wo Herr Walter Vogelweid

Ein vaterländisch Lied voll Schneid

An der Nachhut Spitze sang nunmehr,

Da sah ich Volker in herrlichem Stat,

Am Schaft ein Banner von Goldbrokat.

Nie sah man kühneren Fiedelêr.

Da klangen die Saiten, die Wildniß erscholl,

Süßer und süßer das Lied entquoll,

Wie einst das Horn von Roncevall

Anrief mit lautem Wiederhall

Den Kaiser Karl, den greisen Herrn –

O Barbarossa, Du bist fern!

Da, jäh gepackt von Heimwehgraus,

Wir wider den Feind uns wandten,

Und klopften derb die Heiden aus,

Daß sie nach Hause raunten.

Dann seufzten wir alle bitterlich,

Uebern Kinn zum Bart die Thräne schlich.

– – Wohin hab ich mich verirrt! Mir war, als wär' ich selber der Nibelungendichter, als wäre sein Geist in mir und ich sein Enkel durch lange Seelenwanderung. Wer weiß! »Es giebt mehr Ding im Himmel und auf Erden« – leite bis zur Quelle Dein Ichbewußtsein zurück, so wird ein Gefühl Dir sagen, das keine Worte zu künden vermögen: Du bist nur eine neue Form von alten, ewig wiederkehrenden Gestalten.

Magisch zieht's mich zum Orient, wo Afrits und Gouls die verbotenen Schätze Istakars bewachen, wo Schätze verbotenen Wissens und verborgener Schönheit auf den Finder harren; wo die verzauberten Ruinen Tschilminars den Wanderer fragen: Werden wir jemals neu erstehn? Düstere Sykomoren rauschen, gleich den schwarzen Reichsstandarten des Kalifen. Grüne Triften dehnen sich, wie die grüne Glaubensfahne des Propheten, entlang der blauen Stromkrümmung, welche vergoldete Barken durchgleiten, wie auf Damascenerklingen goldne Koran-Devisen sich kreuzen. Dort möcht' ich schlürfen Kischmi's goldigen Wein und Sorbet aus dem Saft des Tamarindenmarkes. Und wie an Arabiens Vorgebirg Babelmandeb die Schiffer Kokusnüsse und Negacesara-Blüthen in die Brandung schleudern, um sie zu versöhnen, so sollten sanfte Lieder mein stürmisches Herz besänftigen. Wie die Morgenländerin auf die Fluthen des Ganges ihre Lampe setzt, nur zu erforschen ob ihr Liebster lebe, – so würde auf wirbelnder Lebensflut meine Hoffnung leuchten, daß ich lebe im Leben meines Gesanges.

Ja, so würde – – und wie ist es! O großer Ahnherr, durch dessen Seele die Riesenleiden des Nibelungenlieds geschritten, tausendfach glücklicher warest doch Du, denn ich.

Nicht in der Wüste des gelobten Landes, in der Wüste dieser erbärmlichen Zeit, eingepfercht mit den Litteratenplebejern dieser Öffentlichen Meinung, verschmachte ich hier ohne Oase und Quelle. Ich, jeder Zoll ein Sänger – ein geistiger Kosmos, eingeschnürt in schwachen Leib und kleinliche Verhältnisse, wie ein Löwe in eine Hundehütte – – zu versinken in ekeln Morast, in die Schlangengrube hinabgeworfen zu niederm Gewürm, – ich, der Ritter und Fürst, geblendet und in Banden, erschlagen von niedrig geborenen Knechten – – o bitter, bitter, bitter!

Nicht mal hier waltet Gerechtigkeit. Die Gelehrtenschnüffeler construiren sich ein sogenanntes Volksepos zurecht und ahnen in ihrer blöden Blindheit nicht die einheitliche Kunstverständigkeit des größten Dichters! Das großartigste und vollendetste Kunstwerk aller Zeiten, der ewige Stolz deutscher Nation, wird von einem frechen Schulmeister in Ottave Rime übertragen, sintemal die herrliche Nibelungenstrophe, ungenießbar sei! Ein Mann, Namens Jordan, rhapsodet umher, soweit die deutsche Zunge klingt (sogar in Siebenbürgen trieb er sein Unwesen), mit einem Stabreim-Monstrum, worin er durch modern krankhafte Makarterei und Schopenhauersche Philosophie an der ungefügen Urmär dreiste Nothzucht verübte! Ein Anstreicher, dessen Maurerpinsel mit grellen Farben die keuschen Marmorstatuen erhabener Einfachheit besudelt! Es sei ja stofflich recht großartig, aber kindlichausgeführt, – schmunzelt dieser wohlgenährte Salonbarde in weißer Halsbinde und die unwissende Menge betet das gläubig nach!

In gelahrten Litteraturgeschichten wird die Gudrun, ein jütischer Dünen-Knick, mit dem Nibelungen-Montblanc verglichen!

O geschmacklose Thorheit, dein Name ist Mensch!

Grabbe grinst in seinem Satirspiel »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung«:

»Die Wörter ›genial, sinnig, gemüthlich, trefflich‹ werden so ungeheuer gemißbraucht, daß ich schon die Zeit sehe, wo man, um einen entsprungenen Zuchthauscandidaten zu infamiren, an den Galgen schlägt: N.N. ist gemüthlich, sinnig, trefflich und genial! – O stände doch endlich ein gewaltiger Genius auf, der, mit göttlicher Stärke von Haupt zu Fuß gepanzert, sich des deutschen Parnasses annähme und das Gesindel in die Sümpfe zurücktriebe, aus welchen es hervorgekrochen ist!«

Hat dieser Ausfall nicht noch heute Geltung? O viel mehr sogar! Wenn man die Reklamen der Buchhändler und der Blätter liest, wird einem übel. »Endlich einmal ein Meisterwerk!« annonciren sie das Produkt irgend eines Sudelmännleins. Und der Verleger-Größenwahn, welcher am liebsten eine ganze Rotte von Genies in seinem Verlag aus dem Boden stampfen möchte, läßt die Macher über sich selber Prospekte schreiben, worin sie ihre leidlich gelungenen Werkchen zu den »höchsten Darstellungen der Weltlitteratur« rechnen und zwar »unstreitig«. Da giebt es »Charaktere von wahrhaft Shakespearischer Tiefe«, »Effekte wie kaum in Schillers Dramen« – kurz und gut Kunststücke, neben denen »die besten andern Schilderungen prosaisch, ja alltäglich erscheinen«!! Ueberall, wo man hinhorcht, dasselbe Lied. »Bewunderungswürdige Kunst der Darstellung« »der geniale Verfasser« – derlei regnet nur so bei Besprechung der mäßigsten Sudeleien. Da werden, Goethe, Horaz, Pindar, Burns, Petöfi, Heine, Lenau, Flaubert in Unkosten gestürzt, um als Lob-Vergleiche mit jedem Nachahmer herzuhalten.

Aber was sehe ich! Seien wir nicht ungerecht! Stützt man den betrunkenen Bauern auf der einen Seite (wie der selige Luther sagt), fällt er auf der andern Seite wieder herunter. Denn um ein gerechtes Gleichgewicht zu erzeugen, legt man dafür an die Werke des wirklichen Genies unmögliche Maßstäbe an, nach welchen es ja ein Leichtes wäre, Shakespeare und Goethe unsterblich lächerlich zu machen. Da werden die frechsten Lügen nicht gescheut, um das ehrliche Verdienst zu schmälern, – falls man es nicht am liebsten ganz todtschweigt. Bravo, das ist ausgleichende Gerechtigkeit. Diese Leute haben gleichsam ein instinktives Gefühl dafür, wo bedrohliches Uebergewicht vorhanden. Wo man ein hübsches Zwergtalent erkennt, da mag dasselbe noch so größenwahnsinnig in lächerlichen Radau-Vorreden sich aufblähen, – man kommt ihm freundlich entgegen.

Aber wehe der wahren Größe, die ihrer selbst bewußt! Kreuziget, kreuziget! »Bist Du der Juden König?« »Du sagest es.« Er hat bekannt, was brauchen wir weiter Zeugniß! »Ich finde keine Schuld an diesem Menschen«, sprach Pontius Pilatus, das Forum der Vernunft. Aber da erhoben die Juden ein graußes Geschrei und Pilatus ist schwach. »Ich überantworte ihn euch.« Da führeten sieihn an eine Stätte, die heißet Golgatha. Daselbst schlugen sie ihm ihre Nägel durchs Fleisch.

Die armen Verleger! Wie ich sie bedaure! Wieviel Opfermuth und unausrottbare Zuversicht gegenüber der versteckten Gleichgültigkeit des Publikums!

»Und da kreuzigten sie neben ihm einen Räuber, der hieß Barrabas.« Der Verleger Murray prahlte seinen Freunden von einer Bibel vor, die ihm sein »großer Autor« Byron geschenkt. Aber diese Freunde, die mit im Complott, zeigten ihm jenen Bibelvers – da hatte der boshafte Dichter das Wort »Räuber« durchgestrichen und »Verleger« darübergeschrieben. – Nun, wenn man den Verleger Barrabas neben seinem Messias kreuzigt, so trifft ja ihn wohl das erlösende Wort: »Morgen wirst Du mit mir im Paradiese sein.«

Die Welt ist rund, mein Kind,

Und wir drehn uns mit.

Lauf nicht zu geschwind,

Sondern halte Schritt!

Der muß vor sich selber beben,

Wer sich selber Rechnung giebt.

Aber mir ist viel vergeben,

Denn ich habe viel geliebt.

Heut fand ich unter meinen Papieren ein vergilbtes Blatt, Verse in der Handschrift meines verstorbenen Freundes Gottlieb Ritter, jenes Esels, der sich wegeneiner Chansonneuse erschoß:

Ha, Deiner Wange Rosenlicht,Des Auges süß Vergißmeinnicht,Verzaubert mich, doch manchesmalBlickt's seitwärts auf mich kalt wie Stahl.Die Lippen scheinen sein und rein,Doch sehe ich die SchlängeleinUmzirkeln sie, die lieben altenBekannten, jene bösen Falten,In denen Heine gleich erkannteKußgierig liebe Wahlverwandte.Als Faust am Blocksberg, wo im EckSein Gretchen stand, mit Lilith scherzte,Sah er, indessen er sie herzte,Zu seinem nicht geringen Schreck Ein Mäuslein aus dem Munde hüpfen.So sehe ich ein Schlänglein schlüpfenAus Deinem Munde – eine Zote!Doch ob mir auch mein Gretchen drohte,Die Tugend und das Ideal –Anbete ich Dich doch nicht minder,Gleich wie die abergläubigen InderDie Abgottschlange ihrer Wahl.

Du lieber Gott! Ein gut Stück Verlogenheit spielte doch auch dabei mit. Allerdings, Gottliebchen war ein wirkliches Genie, keiner von den komischen Stürmern und Drängern Jüngstdeutschlands, welche mit Straßendirnen die sociale Frage lösen und Jeden von ihrem Genie-Bund ausschließen, der sich zufällig in anständigen bürgerlichen Verhältnissen bewegt und »zahm« genugbleibt, socialistisches Geschwefele für unreifes Zeug zu halten. Aber auch Gottlieb Ritter »erlöste« das »Volk«, ohne von diesem gepriesenen Pöbel das Geringste zu wissen. Armer Teufel! Was mögen die albernen Dirnen, mit denen er sich herumschlug, über seine Sentimentalität gelacht haben! Ein richtiger deutscher Lyriker.Ach und erst der verrückte Componist Ernst v. Bullrich, der angeblich wegen eines Biermensch im Duell gefallen sein soll! (Fritz Erdmann, der naturalistische Epiker, auf den Karl Schmoller immer so viel aus Concurenzneid schimpfte und der sich jetzo in Amerika herumtreibt, wollte nie recht mit der Sprache heraus.) Auch von ihm finde ich noch ein Verschen aus der Zeit, wo ich ab und zu die berühmte Kneipe besuchte, in der jene Sturm-und Dranggenies sich gegenseitig ihre Opera, omnia vorlasen. zu drollig!

»Ich will umschließen Dein starres Herz,Und wärest Du ganz vergletschert,Vulkan, aufgährt Dein Flammenschmerz,Wo meine Thräne plätschert.«

Na, plätschere man zu! – Welch ein Wahnsinn diese Liebe die sich mit Gewalt in ein andres Wesen auflösen möchte! Gott sei Dank, an solcher Schwäche leide ich nicht mehr. Auf Erden ein Ideales suchen ist schon Jugendeselei. Pah, besieht man sich die Helden und großen Geister bei Lichte, sind's ja auch nur Esel.

»O welch ein Künstler stirbt in mir!« ruf ich mit dem Größenwahn des sterbenden Cäsaren. Wenn ich da unten modere, dann werden sie schaufeln und schaufeln andem verschütteten Götterbild, bis es aufrecht steht wie ein Denkmal, von dem die Hülle fiel. Und kein Antlitz, das man kennt aus den Gebilden der Vergangenheit. Denn nie aus gleichem Marmor wird der Genius geschnitten. Wie sie grinsen würden, die Erbärmlichen, wenn sie diese Prophezeiung, ahnten! Und doch wird sie sich erfüllen, kaum daß ich die Augen schloß.Aber ich bin ja ein Schwächling, daß ich dem elenden Geschwätz dieser Akademiker überhaupt Rechnung trage. Mußte nicht schon der größte aller Dichter den Kampf gegen die Pseudo-Klassicität und ihren morschen Schulkram bestehn – ein Kampf, der ihn wohl so frühzeitig aufgerieben hat? Mußte er nicht dem Nörgeln des »Alterthumsfreundes« Ben Jonson seine Tragikomödie »Troilus und Cressida« entgegensetzen? Jener gelahrte Didaktiker hatte ihm gehörig zu Gemüthe geführt, daß er, der Komödiant ohne alle patentirte Bildung, sich erdreiste höchste Probleme zu lösen, während er sich doch nicht einmal dem Problem gewachsen zeigte, die Alten im Urtext zu lesen und in einer Vorlesung Bacon's über Logik und Psychologie gewiß achselzuckend eingeschlafen wäre. Da griff sich denn Meister William einmal die homerischen Helden auf und streifte ihnen Purpurchlamys und Kothurn so gründlich ab, daß sie nun wie nackte Gliederpuppen umherliefen. Die göttlichste Schindung des Marsyas, die je ein Apoll verübt. Schade nur, daß die nie aussterbende Rotte dieser Flötenbläser nicht immer einen Shakespeare findet, der ihr das Fell so elegant über die Eselsohren zieht! Ueber die Renaissance-Naturalisten urtheilte man damals wie über die heutigen. Während man den Barbaren vom Avon wie einen drolligen Kannibalen einbalsamirte,heroldeten ästhetische Quacksalber die schnödesten Parfümeure.Alles wie heut. Müffiger Pomp doktrinärer Verstocktheit, »unanfechtbare Kunstgesetze« des wüstesten Formalismus. Erst nach erbittertem Kampfe erkannte man das einzige ewige Kunstbedürfniß in den befreienden Naturlauten des Elementaren.»Erwache, du Licht in Ossians Seele!« Sich, da kamen sie alle, die Naturburschen der Litteratur – Ackersmann Burns, Weltbummler Byron, vom College relegirter Student Shelley, Laufbursche Dickens und Postillon Bret Harte! Die Götter Griechenlands kannten sie nur oberflächlich, wohl aber die Götter der eigenen Brust.Da faselt dies unwissende Professorengesindel, Shakespeares klobige, Naturalismen seien aus dem Geschmack seiner Zeit zu erklären. In ihrer gräßlichen Unwissenheit ahnen sie natürlich gar nicht, daß alle die großen Zeitgenossen des Größten wohl in Blut- und Wollustseenen sich berauschten und gewiß einen heroischen Realismus bekundeten, daß aber nur Shakespeare den Naturalismus vertritt. Warum scheute grade er vor keiner schlüpfrigen Zote, vor seiner rohen Unanständigkeit, vor keiner Banalität zurück? Warum roch er an Yoriks Schädel, während die frostigen Späße der branntweinfuseligen Todtengräber die jungfräuliche Lieblichkeit in feuchte Erde betten? Warum hörte er die Kärrner über ihr Ungeziefer fluchen und durchstöberte die schmutzigen Winkel der Bordells?Warum, ja Warum? Ich weiß es – ihr nicht, ihr gichtbrüchigen, lendenlahmen, wohlriechenden Würdepriester. Ihr könnt es auch nicht wissen.

Heut sandte ich ein neues Buch von mir an die »Privilegirte Fortschrittszeitung« und den hochconservativen »Botschafter«. Beide Mistblätter haben geschworen, meinen Dichternamen nie mehr zu erwähnen, weil ich mit den Herrn Redakteuren am Biertisch mehrfach Conflikte gehabt hätte!! Der Chef der »Privilegirten Fortschrittszeitung« will jedoch in weiser Schonung nie aus eigener Initiative etwas Bosartiges über mich bringen. Beileibe nicht aus Furcht, o nein! Sollte aber ein anderes Blatt über mich herfallen, so wolle er es eiligst abdrucken. (Aha!) So meldete, er einem »guten Freunde« neulich beim Skatspiel. Biedermann! 13 (schreibe: Dreizehn) Bücher von mir hat es nun todtgeschwiegen, dies Blatt von ehernem Schlage! Früher posaunte es mich allerdings mal als Zukunftsgenie aus. Nun, »andre Zeiten, andre Ansichten« – wie der Chef der »Berliner Tagesstimme« so schön zu sprüchwörteln pflegt. Bravo! Giftiger Unrath bezeichnet, ja die Spur des Faulthiers, o gieriger Vielfraß, den man Presse nennt!

Löbliche Hunde! Wollt ihr gütigst übenUm diesen Knochen des Skandals Gekläff?»Nicht doch! Todtschweigend beißt ihn in die Waden!«Knurrt der erfahrene Scheeren-Chef.Dies Büchlein ich gehorsamst dedicireDen hochgeschätzten Scheerenschleiferein.Da! Zum Todtschweigen reich' ich euch den BissenUnd einen Fußtritt obendrein.

Das Leben eitel ist und undankbar.Den Adler überkrächzt der Krähen Schaar.Gegängelt von bestochener Wichte Rath,Bestaunt der Pöbel, was die Ohnmacht that.Der Stümper bunte JahrmarktsschildereinSind blindem Unverstand ein Heiligenschrein.Der Tod jedoch gräbt aller Lüge GrabUnd alle Schminke reißt er jählings ab.Der Mensch und jede Fälscherkunst vergeht.Das Werk alleine und die Kunst besteht. Die Schlachtendonner habt Ihr wohl gehörtVon Königgrätz, von Sedan und von Wörth.Den Donner aber hören werd' ich nicht,Der Euren Größenwahn in Stücke bricht.

Diese Menschen machen alle aus mir, was sie wollen. Die Schufte sehen in mir einen Schuft wie sie selber, die Ideologen in mir einen Ideologen. – Sei nie deiner Brüder Tyrann, aber auch nie ihr Narr! Ich aber bin zugleich ihr Tyrann und ihr Sklave, und oft ihr Hausnarr. Seltsames Räthsel!

Kein Wörtchen wird heut so üppig mißbraucht wie das Epitheton »vornehm«. Man redet ja am liebsten von dem, was man nicht ist und hat.»Ein vornehmer Charakter!« »Wie vornehm diese Kritik gehalten ist!« Derlei übersetzt man aus dem Literarischen ins ehrliche Deutsch: »Ein geriebener Virtuose der Lebensklugheit!« »Ein schlaues Pröbchen händewaschender Interessenpolitik, die ihre Motive sorgfältig verschleiert!«

Wie ich von Herzen bedaure, daß ich in meinem berechtigten Grimm dem einzigen Wahlverwandten, den ich jemals fand, Karl Schmoller, so harte Dinge sagen mußte! Und waren sie denn wirklich ganz gerecht? Soll man sich wundern, daß ein so bedeutender Mensch in ewiger Wuth gegen alles Bestehende sich verzehrt? Drückt ihn nicht wirklich die Noth, die grause Noth des Lebens? Freilich merkt man ja nichts davon, denn er selber befindet sich äußerlich kreuzfidel. Doch wer kann ins Innere eines Menschen und hinter die Coulissen schauen! Und im Grunde – leidet er nicht einfach an derselben Krankheit, die auch mich vergiftet? Wenn mich meine höhere Bildung in Sphären erhebt, wo die Gemeinheit des Lebens mich nicht mehr erreichen kann, so wäre es unbillig, von ihm das Gleiche zu fordern. Er sieht sich nur als Urkrast in einen Knäuel niedriger und widriger Verhältnisse verstrickt, sieht um sich her die Büberei triumphiren und wird zerrieben im Kampf mit den schmutzigen Sorgen des Alltagslebens. Es ist wahr, über die Menschen hat er sich wahrlich nicht zu beklagen. Jeder suchte sich ihm dienstbereit zu zeigen, Jeder bewies ihm äußerste Geduld und nur seine empörende Brutalität verschuldete es, wenn man ihn fallen ließ. Seine Natur zwingt ihn förmlich, Jeden vor den Kopf zu stoßen und überall Unfrieden zu stiften. Er ist ein Sprengstoff, dessen Nähe man flieht. Doch wie erklärt sich alles das aus den Verhältnissen! Muß es diesen Menschen nicht rasend machen, wenn dummdreiste Unfähigkeit über ihn wegtrampelt, wenn man nur an den Schlacken seiner formellen Unbehülflichkeit haften bleibt, statt in den inneren Kern seiner wilden Genialität zu dringen? unglücklicher Mann, dessen düstern Groll ich mitempfinde, ob er auch wie ein rußiger Titane allein abseit steht und nie dem olympischen Donnerer sich beugt! Er verkörpert gleichsam das Elementare des Irdisch-Thierischen, wie ich das Elementare des Transcendental-Dämonischen. Die Andern alle sind Schein-Puppen. Und die Hauptsache, bleibt eben doch immer, daß man überhaupt elementar sei, das Element eines wirklichen Seins in sich trage.Und darum, ob ich ihn auch hassen sollte, wurzelt in mir eine unzerstörbare Sympathie für diesen einzigen Wahlverwandten, diesen Bastard-Halbbruder meiner Wesenheit. Wer weiß, ob nicht trotzalledem in ihm unbewußt ein gleiches Gefühl schlummert!Wohl erkenne ich, daß solche Naturen vulkanischem Granit vergleichbar sind: Das Feuer sprengt sie, aber schmelzt sie nicht. Mit all seinen Mängeln und Schwächen und Sünden kämpft er ja dennoch für sein gutes Recht. Das Recht des Werdens aus dem Recht des Seins. Man will, dieweil man muß, muß, weil man will. Ja, Recht, das Recht – du wunderbares Wort, so unergründlich wie die Ewigkeit! Dies das Gesetz, nach dem die Sterne in vorbestimmter Ordnung schweben, – das gleich mächtig in jedem Einzelwesen wirkt, – das, wo das Chaos in die Schöpfung mündet, zuerst den Keimtrieb in die Welt gepflanzt: Sein Recht zu suchen und das klug gefundene Recht auch zu behaupten, fest und unbedingt, im Wirbeltanz der ringenden Geschöpfe. Und so denn, unter eines Schicksals rechtloser Last zusammenbrechend, fühlt man im Innern noch den wuchtigen Takt der Waage, die uns zur Selbsterfüllung aufwärts reißt. Den Auserkorenen ward immer früh bewußt das eherne Gesetz in ihrem Busen: Das Recht des Wollens ist das Recht des Sollens.Ich kann ihn nicht verdammen, diesen Schmoller. Das Recht der finsteren Notwendigkeit, das uns unwiderstehlich übermannt und dämonisch fortschleift auf ungemessener Wünsche Irrfahrt, bis ein letztes Riff ihm ein Ende setzt, – das wird in ihm doch triumphiren müssen. Der Stärkere hat Recht. Wohl ist er nur ein eitler Sclav der Selbsucht, falsch ist sein Recht und nackte Eigensucht sein Rechtsgefühl. So sollte er zähneknirschend von hinnen fahren und dem geborenen König die Herrschaft lassen.Die Herrschaft – hahaha! Eine schöne Herrschaft, weiß Gott! Nein, bleiben wir beim Realen! So sollte es sein, so ist es nicht. Er ist stärker als ich, weil seine Roheit ihn knorrig erhält. Ich bin schwaches zartes Porzelan, ich zerspringe beim ersten Fall. Mit wehmüthiger Freude ahne ich, wie er das Gesindel noch zu Paaren treiben wird mit seiner Peitsche, wenn ich schon unter der Erde liege. Ich peitschte euch mit Ruthen, er aber wird euch mit Skorpionen züchtigen.Ich fühle es, lange geht's nicht mehr so fort mit mir, es geht zu Ende.Aber aus meinen Gebeinen wird erstehen ein Rächer.

V.

Seevögel umkreischten schrill ihre Nester, der Schaum klatschte an den stiebenden Sand, eine schwarze Ente schwang sich auf der glasigen Woge. Mit seiner Braut, der Erde, schien der Ozean zu schäkern. Er schmückte sie mit Muscheln. Bald ebbte er zurück, um ihren Reiz überschauend zu mustern, bald rollte er wieder zum Kusse heran.

Krastinik lag am Strande, das Buch war ihm entglitten. Und statt seiner las er vom weißen Blatt des Dünensandes, der unter dem glühenden Sonnenstrahl zu knistern schien, die Gedanken-Arabesken ab, welche wie Schatten seines Geistes darüberhin huschten.

Er schloß die Augen. Die Nacht der innern Stille umfing sein waches Hirn, jene Nacht, aus der allein sich Sterne empordrängen.

Lang und sorgsam dachte er über das Gelesene nach, um sich über die Zweifel Rechenschaft zu geben, die ihn bedrängten.

Wie ein Dom erhabener Stille, wölbten sich Meer und Aether ineinander. Wie das stille Murmeln altersgrauer Vergangenheit, wie das Zirpen von Heimchen in zerfallener Ruine, plätscherten sanft die Wogen. Aus dem Becher des Meergottes sprühte ihm ein gastlicher Willkommengruß schaumtropfend entgegen.

Dem nach innen Schauenden war es, als ob der Geist seines todten Idols, dessen treuer »Heroen-Anbeter« er gewesen, lautlos über den Wassern schwebe und wandele über Meer und Land. Und eine Stimme, wie das Geräusch vom Flügelschlag eines Engels oder das Säuseln in Karmels Klüften, wie das Murmeln der Muschel, die sich nach der Mutterwoge zurücksehnt, – eine geheimnißvolle Stimme sang den versöhnenden Psalm:

Wundersame Morgenfrühe,

Dehnst die Seele mir so weit.

All der Erde starre Mühe

Löst die holde Einsamkeit.

Sie umhüllt der Erde Schmerzen

Wie ein lichtes Schleiertuch.

Liebe wandelt still im Herzen

Und Vergebung sei mein Fluch.

Was vermag der Menschen Grollen,

Allgerechter, gegen Dich!

Deinem Licht, dem liebevollen,

Sonnengott, vertraue ich.

Meine Sünden, meine Fehle

Richten kannst Du nur allein.

Denn Du schaust in meine Seele,

In das Herz der Welt hinein.

Wohl, diese Stimme sang das Hohelied einer wahren Versöhnung, einer Erhebung des Menschen aus irdischer Wirrsal, aus tiefer Ich-Not aufschreiend zur All-Liebe. Aber diese Stimme – tönte sie wirklich aus dem Geist des Verblichenen, oder tönte sie vielleicht aus des Nachtrauernden eigener Brust? Zum ersten Mal begann dieses begeisterungsfähige Gemüth kritisch an sein Idol heranzutreten und sich objektiv darüber zu stellen. Warum schwang sich denn Leonhart zu solcher Versöhnung niemals auf?!

Wenn heut einem großen Dichter nun einmal keine andere Wahl gelassen scheint, nun, so besinne er sich nicht lange am Scheideweg des Herkules! Warum verzichtete er nicht gänzlich auf solche flüchtigen Werthungen der äußern Geltungseitelkeit? Warum schloß er sich nicht ab von der Welt und sank in majestätischem Schweigen, das Lächeln einer erhabenen Verachtung am den Lippen, ins Grab des Todtschweigens und der Verlästerung? War er doch von zu grobem Metall für solche goldklare Feinheit Gesinnung?

Schopenhauer sprach das große Wort gelassen aus: Was sei alles Genie gegen vollkommene Güte des Herzens, welche Andern gegenüber jene grenzenlose Nachsicht übt die man sonst nur gegen sich selbst anwendet. Von dieser Herzensgüte besaß Leonhart viel, aber noch lange nicht genug. Freilich, da sich die kindische Selbstsucht und Eitelkeit der Menschennatur nirgends so schamlos entpuppt, wie in der sogenannten Litteratur, so bleibt es hier am schwersten, jene höchste Bethätigung der Herzensgüte zu üben – nämlich Gerechtigkeit, die sich auf den Standpunkt des Andern zu setzen und jene großen Gesichtspunkte zu bewahren weiß, vor welchen persönliche Freundschaft und Feindschaft verschwinden. Auch ist es mit der »grenzenlosen Nachsicht«, die Schopenhauer als vollkommene Herzensgüte rühmt, immer ein eigen Ding, da durch sie ja nichts gebessert wird. In der Kunst wird eine gewisse Art von Nachsicht ganz einfach zum Verbrechen. Wer das Große und das Kleine, das Genie und Talent, das Talent und Nichttalent gleichmäßig »anerkennt«, versündigt sich am Besseren durch Gleichstellung desselben mit dem Guten. Kann man es also Leonhart verdanken, wenn er manchmal heftig und zufahrig draufschlug?

Jaja, die Herzensgüte! So rührend jene Phrase im Munde eines großen Mannes wirkt, dessen eigene Herzensgüte so mäßig entwickelt schien, so darf man dies Augenblicks-Aperçu doch wohl nicht ernst nehmen.

Wiegt Passive Herzensgüte im geistigen Haushalt der Menschheitsentwickelung nicht vielmehr federleicht gegen jede produktive Bethätigung wahren Talents? Auch wenn letzteres scheinbar zerstörend auftritt. Nun ja, das wohl. Aber Herzensgüte voll Nachsicht gegen fremde Gebrechen und voll Strenge gegen sich selbst – mag sie als seltenste Ausnahme nicht ab und zu vorkommen? Und wäre das nicht ein Ziel, aufs innigste zu wünschen? Steigt diese Güte wirklich bis zu einem hohen Grade, so tritt sie freilich stets produktiv auf, wie bei Christus und Buddha, da sie die Lüge und Gemeinheit der Welt zu reformiren trachtet.

Genie ist Initiative. Allerdings muß das Glück nachhelfen. Der bloße Mann der That ist ja bloß der Sklave der Außenwelt, aber der Denkerschöpfer ist darum noch lange nicht Herr der Außenwelt. Seine Studirstube mag ihm als der Archimedische Punkt erscheinen, von dem aus man die Welt aus den Angeln hebt. Doch die Außenwelt stört eben wie jener römische, Legionär die Kreise des Archimedes und schlägt ihm den Kopf ab. Ohne Glück und Erfolg erlahmt die Initiative des Genies.

Aber lag nicht auch in Leonharts Initiative eine selbstbetrachtende Absichtlichkeit? Wäre er naiv fürbaß, geschritten, so würde die Initiative auch frischer, und ursprünglicher herausgesprudelt sein. Der kommt am weitesten, welcher nicht weiß, wohin er geht – sagt Oliver Cromwell.

Gewiß lag etwas Zielbewußt-Heroisches in Leonharts Leben. Krastinik kannte es aus der umfassenden Darlegung seines Freundes genau, der freilich immer an sich unleugbare Thatsachen noch pessimistisch färbte. Seit frühster Kindheit war dieser Mensch von dem Bewußtsein seines Dichterberufes durchdrungen gewesen. Seit seinem dreizehnten Jahre durchkostete er eigentlich die gleiche Bitterniß, wie jetzt am Ende seiner kurzen überreichen Laufbahn. Als Knabe umgeben von kindischer Roheit und Dummheit, einfältige Holzköpfe als »Lehrer« über sich, ihr werthloses Kanderwälsch dem feurigen Adlergeiste aufpfropfend, dessen ironisches Lächeln diese Bildungs-Hauswurstiaden aus überlegener Höhe verhöhnte. Als Jüngling die geckenhafte Unreife halbwüchsiger Krafthuber um sich her, über sich die Weisheit wohlpatentirter Weltautoritäten, die seine hohe Ueberlegenheit ebenso durchschaute. Als Mann um sich her die Rotte der Streber und Aftertalente, über sich immer noch die hohlen Gesetze der bestehenden Gesellschaft, die er verachtete. Immer, wachsend mit den Jahren, weit voraus und weit über den momentanen Dingen, also stets entfernt von dem Verständniß der Mitwelt. Allerdings kam es ihm zu Statten, daß er stets und immer das Ziel fest vor Augen hielt, sich zum Dichter auszubilden. Mit beispielloser eiserner Zähigkeit, die in ihm den echtpreußischen Berliner kennzeichnete, ließ er nie auch nur einen Augenblick sein Arbeitsstreben los. Die grünen Jungen, die über ihn salbaderten, wären vielleicht mit staunender Ehrerbietung scheu bei Seite gewichen, hätten sie, je klar anschaulich dies bewunderungswürdige System vor Augen gehabt, wo Fuge in Fuge griff, wo sich die frühsten Anfänge der Knabenjahre mit fünfzehn späteren Arbeitsjahren innerlich verknüpften. Das Räthsel seiner »überreizten Fruchtbarkeit« löste sich freilich dann sehr klar. Ausgestattet mit einem erstaunlichen Gedächtniß, ohne Gleichen an Arbeitslust und vor allem an Ordnungssinn, einem Hauptattribut des Genies, thürmte er unablässig das schwindelnd hohe Gebäude seines umfassenden Geisteslebens Stein auf Stein. Eigentlich war und blieb er stets gleich groß. Seine Jugendgedichte und Jugenddramen in einem Alter, wo man sich höchstens für »Räuber und Indianer« und Coopers Lederstrumpf erwärmt, mußten geradezu unglaublich genannt werden. Die historischen Essais in seinem Schubfach gab er später zur Zeit seines Glanzes als neuste Beiträge heraus, ohne daß Jemand ahnte, der dreizehnjährige Leonhart rede zu ihm!

Alles war hier anders als bei den Durchschnittstalenten. Ein solches, wie etwa der überfruchtbare Paul Heyse, spielert wohl als Primaner reizend geleckte Nippsächelchen und Märchen zurecht, um sich darob als junger Goethe bestaunen zu lassen. Aber gerade das, womit man der albernen Welt sofort imponirt, die gefällige Form, mangelte diesem wahren Genie, wie jedem Großbeanlagten, anfänglich vollkommen. Wenn er sich quälte, lyrische Liedchen nach bekanntem Muster zu pfeifen, mißlangen sie gänzlich. Von der Großartigkeit seiner gedanklichen. Conception verstand natürlich ein zum Urteil herangezogener Kunsthandwerker ebensowenig, wie von der unabgeklärten, aber genialen Gestaltungskraft seiner Charakteristik. Es wäre ein Glück für ihn gewesen, wenn er wie so mancher Dilettant, auf eigene Kosten seine Jugendsachen wenigstens mit sechszehn Jahren hätte publizieren können. Denn in diesen stak wenigstens der wirkliche ganze Leonhart, der halbflügge Genius, so daß alles Philistergenörgele immerhin hätte zugestehen müssen, für einen Knaben seien diese Versuche einfach unerhört. Aber so gut wurde es ihm nicht. Niemand verstand das Bahnbrechende in diesen seltsam bizarren Sachen und so überwand er sich denn endlich, etwas »Liebliches« zu fabriziren, um einen Verleger zu finden.

Mit der Publikation dieses minniglichen Opus (er zählte mittlerweile achtzehn Jahre) begann nun die endlose Aergerkette seiner öffentlichen Laufbahn. Die Einzelheiten, welche er als besondere Tabelle gebucht hatte, wirkten allerdings vernichtend für die gänzliche Unfähigkeit der »Kritik«, das Ungewöhnliche zu begreifen, und der stumpf apathischen Welt, Perlen statt ihrer Trog-Kartoffeln zu verdauen.

Immer und immer wieder sah er in sich das Sein im Bettlergewand, um sich her den Schein im Galakleid. Wohl mochte er rufen mit dem größten aller Dichter: »Müd alles Dessen schrie ich nach ruhevollem Tode. Zu sehn, wie wahre Kraft von hinkender Schwäche entwaffnet, wie der Kunst die Zunge gefesselt von falscher Autorität, wie Narrheit als Doktor die Weisheit curirt.«

Nun ja, das alles mochte wohl als wahr gelten, vom Standpunkt der äußeren Gerechtigkeit. Aber liegt nur hierin die immanente Gerechtigkeit der Dinge, von der Gambetta sprach? Bleibt nicht der Werth und das Ideale in sich selbst Sieger?

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An einsam moosigem Gestein verträumte der Müde den Abend. Wie die Sonne wild verblutete! Ueberm Meer ein Flammenmeer. Ein Scharlachbaldachin auf goldnen Strahlenschnüren schien langsam droben hinzuschweben. Dann wieder schien eine Stadt aus Purpurwolken den Rand des Horizontes zu schmücken.

Leichte feuchte Wassernebel kräuselten sich, emporsteigend. Roth überhaucht wie gefrorenes Blut schien sich die ruhige Fluth zu dehnen, ruhig wie das Todte Meer, das wie Eisenöfen raucht, wo ihren Saft die Palme gerinnen fühlt. Das Todte Meer mit seinem giftigen Qualm – ja, dem gleicht das Leben der großen Welt und der großen Stadt. Und das Rothe Meer – ja, durchs Rothe Meer muß man hindurch, wenn man zum gelobten Lande will. Aber die Feuersäule des Genies, die den Weg weist – wo lodert sie? ......

Die Lectüre dieses Tagebuches wirkte niederdrückend. Das Herz krampfte sich zusammen vor diesem Aufwühlen aller geheimen Schreckensmächte, die unser Dasein unterhöhlen.

Gewiß kann solch ein Grimm als ehrwürdig, als ein heiliger Zorn erscheinen. Von ihm werden die großen Männer zu welterschütternden Thaten hingerissen. Man liebt einen guten Hasser. Es ist der Haß gegen die Feigheit und Falschheit der Welt.

Die Hindus beten die Brillenschlange, die Hagin den Tiger an. Die Chinesen opfern im Sturm dem Drachen der Tiefe, statt ihr Schiff zu lenken, und lassen sich als Gefangene lieber pfählen, statt tapfer zu fechten. Ewig verehrt die stumpfe Herde Fetische. Aber der vom göttlichen Hauch Beseelte wird wieder und immer wieder seinen Wormser Protest aus der Klause von Ermenonville, aus dem Erker der Wartburg, von der Insel Ufenau treu bis zum Tod den unfehlbaren Päpsten dieser Welt entgegenschleudern: »Ich hab's gewagt! – Ich kann, nicht anders, Amen.«

War Leonhart ein solcher Geist, war es ein heiliger Zorn, der ihn beseelte? Wohl darf man fürchten, nein.

Und schlägt dieser Wahrheitsdrang des »Entrüstungs-Pessimismus« nicht manchmal ins Manierirte, Krampfhafte um? Schneidet er nicht Grimassen scheuer Lüsternheit, wirft er nicht Togafalten des Weltschmerzes?

Ibsen ist ja so verlogen, daß er die Verlogenheit der Menschen stets noch ins Unwahre übertreibt Etwas davon stak auch in Leonhart's griesgrämiger Skepsis. Während dieselbe die naturentstellenden Schönpflästerchen hinwegzuschwemmen suchte, fehlte es ihr selbst nicht ganz an Schminke. Echtes Gefühl und falsche Empfindelei zu unterscheiden, fiel manchmal schwer. Gleichwohl suchte man ja hier umsonst nach der Zwiebel, welche die schönen Zähren entlockt, wie bei moschusduftigen Flennern. Ueber diese harten bizaren Züge, welche ein wahrer Schmerz verzerrt, rannen wirkliche Thränen. Aber verwischten sich nicht vor dem absichtlich kurzsichtigen Mikroskopauge des Dichters hier allmählich die Unterschiede von Vernunft und Narrheit?

Und wenn er auch elementare Naturlaute lallte, warum fand er niemals Noten auf dem Instrument seines umfassenden Geistes für morgenfrische Glücksbegeisterung? Freilich, wo sollte die auch herkommen in einer Zeit, die nur feiles Gesindel heranzüchtete?

Ja, es blieb wahr, wie man es drehen und wenden mochte, dieser Grimm war an sich gerecht. Die Verzweiflung hatte ihn geboren. Der Ekel an seiner jämmerlichen Umgebung, dem »Collegen«-Gesindel, in das ihn sein vermaledeiter Beruf verstrickte, mußte sich einmal Luft machen. Und was er an Klagen und Anklagen vorgebracht war ja an sich gerecht.

Allein, seiner grausamen Ironie fehlte gänzlich das Wohlwollen. Und somit erhob er sich nur wenig über den allgemeinen Menschenhaß eines Schmoller. Gewiß gehörten sie Beide, Löwe Leonhart und Tiger Schmoller zu der adeligsten Rasse, der Rasse der Naubthiere. Aber wie sah es denn mit dem Charakter dieses unerbittlichen Zuchtmeisters selber aus, der so lieblos seine Geißel schwang über Gerechte und Ungerechte?

Ueberall spürte man mit Trauer, aber nicht immer mit Mitleid, wie der Schatten des Wahnsinns diesem grellen Irrlichteln näher rückt. Er wüthete endlich auch gegen sich selbst und prophezeite mit heiserem Gelächter seine Anlage zur Geistesstörung.

Eine alte Erfahrung lehrt, daß die Welt nur als ein Spiegel dient: Was herein schaut, schaut heraus. Das Ich selbst giebt allein die Auffassung des All. Ein guter Mensch entdeckt überall gutmüthige Züge, ein schlechter überall nur bewußte oder unbewußte Schlechtigkeit. War nicht Leonharts und Schmollers wüthende Misanthropie gerechtfertigt, da sie von sich selbst aus urtheilen mußten? Eine Gesellschaft, die aus lauter solchen Naturen bestände, möchte sich wohl bald genug untereinander zerreißen. Erreichen diese Gallenergießungen nicht manchmal einen Grad, der bereits anfängt, dem albernen Lallen des Irrsinns zu ähneln? Pathologisch gesprochen, rumort der Wahnsinn in dieser Menschenverachtung, die in letzter Instanz unbändigem Größenwahn entspringt. Indem ein solcher Halbgott die Menschen wie aufzuspießende Insekten angrinst, wird er selber ein Halbthier.

Schnellt der grauenhafte Wuthschrei einer aus Rand und Band gerathenen Weltverzweiflung nicht auf ihn selber zurück? Hört man in diesem gräßlichen Gelächter nicht den Widerhall des eigenen bosheitgetränkten Gemüthes?

Unablässig geheizt von dem Brand eines grenzenlosen Hasses und dennoch von gleichmäßiger kaltblütiger Härte, arbeitete diese Denkmaschine rastlos fort. Doch glich ja die in Leonhart kochende Bitterkeit gar wenig dem kannibalischen Gebelfer eines Schmoller, dessen wuthschäumender Biß vergiftete wie der eines tollen Hundes Fauchte Jener wie ein schwarzer Panther, dies häßlichste unzähmbarste aller Raubthiere, dessen gelbe Schwefelaugen man aus der Finsterniß der Käfigecke in nimmersatter Mordlust funkeln steht, – so brüllte Leonhart wie ein Löwe. Aber auch ihm fehlte des Löwen Majestät, des Leoparden Grazie. Gepeinigt von jenem Magenkrampf galleüberfüllter Bestien, letzte er seine stachlige Zunge im Blut der Opfer. Ergriff ihn die rasende Wuth seiner Weltverzweiflung, so zerriß er die ganze Heerde und soff Blut, bis er berauscht niedertaumelte. Er wollte Blut sehen, das Zerreißen selbst war seine Lust. Und sein Tatzenhieb vergiftete zugleich die Wunden, die er schlug, wie des Tigers Klaue ein Gift verbergen soll.

Lag nicht in dem ewigen Gejammer und Weltanspucken Leonharts eine unmännliche Schwäche verborgen?

Das Leben ist ja kein Liebeslied, sondern ein Schlachtgesang.

Das Genie findet fortwährend das Ei des Columbus. Warum nicht hier! Hätte er doch lieber alles Unedle deterministisch aus Abstammung, Erziehung und Umständen erklären sollen!

Faßte er nicht alles gleich von der schlimmsten Seite auf und nahm stets die schlechtesten Motive an, welche vielleicht ja unbewußt mitspielten, aber noch nicht als wirkliche bewußte Infamie aufgefaßt werden brauchten?

Krastinik überlas nochmals das Urtheil des Tagebuchs über Schmoller. Er lächelte. Nie hatte er Leonharts Vorliebe für diesen Mann bis zu solchem Grade begreifen können. Der aristokratische Instinkt lebte noch zu mächtig in ihm. Er sah in Jenem nur den echten Litteraturvertreter des Socialismus. So wie der freche Maurergeselle sich alleine »Arbeiter« nennt, als ob andre Leute vom Müßiggang lebten, und den Begriff der geistigen Arbeit nicht zu fassen vermag, dabei aber von Gleichheit und Menschenrechten schnapsfaselt, – so blickte dieser Arbeiterdichter im Dünkel seiner Bornirtheit auf alles herab, was nicht mit dem Modethema des Tages, der sogenannten socialen Frage, zusammenhing. Der Größenwahn des Socialismus ins Litterarische übersetzt. So hatte der Graf stets geurtheilt, obschon er dem großen Talent Schmollers Gerechtigkeit widerfahren ließ.

Doch mochte nun Leonharts mildere Auffassung die richtige sein, – warum wandte er sie denn nur Schmoller gegenüber an? Warum sah er nicht die Gebrechen der dii minorum gentium mit gleich verzeihendem Auge? Gewiß ein zugleich ekelhaftes und komisches Schauspiel, diese Krämpfe der Ohnmacht, die sich ihres Nichts nicht bewußt werden will und alles besser könnte, wenn sie nur Zeit hätte. Oder diese idealen Pumpiers, die jeden »Collegen«, der nicht grade verhungert, als reichen Filz verschreien, wenn er ihnen nicht die Mittel zum faulen Schlampampen bieten will. Und doch – von »Lumpen« zu reden ist leicht. Aber wieviel bittre Scham, wieviel Erröthen vor sich selbst, wieviel Qual gekränkten Stolzes, welche Reue um gefallene Ehre mag heimlich solch ein Lump- und Pumpleben begleiten! Und wie natürlich erscheint der verzehrende Neid gegen den, der nicht nur größer, sondern auch in glücklicheren Verhältnissen! Recht wohl kann die Raserei herostratischer Neidwuth sich mit der tiefen und reinen Läuterung weihevollen Schmerzes in anderer Hinsicht verbinden. Denn widerspruchsvoll ist der Menschengeist. Drum will auch alles Menschliche so verstanden und entschuldigt werden. Warum empfand Leonhart nicht selbst das harte Loos nach, das Loos der Edelmann und Haubitz? Nachdem man sich von Kindesbeinen an als geheimer Agent Apollos weihepriesterlich gespreizt, nun plötzlich zu entdecken (– denn, ohne es zu gestehen, besitzt der Neid ja Argusaugen für das Größere –), daß ein Anderer von dem trügerischen Apollo noch viel bedeutendere Vicekönigs-Vollmachten erhielt! Das scheint gleichsam ein Betrug des Schicksals, ein Verrath der Muse, und sich dafür zu rächen, blieb als letztes Labsal dem Ex-Minister des Parnaß!

Warum entbehrte denn Leonhart dieses humoristischen Mitleids? Allerdings darf man sich nicht verhehlen, daß Jeder sich selbst der Nächste ist. Steuert man daher nicht den zügellosen Orgien neidgelben Größenwahns, so verzögert sich die Erkenntniß der Wahrheit, an der man sich somit durch lässiges Zusehen versündigt. Und hier handelte es sich freilich nicht um die Person des Dichters, sondern in ihm um die Zukunft der Poesie. Man konnte Leonhart gewiß nicht verwehren, daß er sich deren erwehrte, die seinem Dichterthum ans Leben wollten. Aber er hätte denn doch – das Recht ihm zugestanden, daß er selbst lebe – den Satz der Humanität mehr beherzigen sollen: »Die Andern wollen auch leben.« Die sprüchwörtliche Antwort darauf »Je ne vois pas la nécessité« ziemt sich für einen Weltmann, aber nicht für einen Prediger des Idealen.

Wohl kennt die Welt keinen andern Prüfstein des Werthes, als den Erfolg. Wer früher über einen Alvers spöttelte, gehörte jetzt gewiß zu seinen lautesten Schmeichlern. Was manche »Unabhängige« an Leonhart benörgelten, das beräucherten sie ja jetzt schon nach seinem Tode. Denn die Menschen sind zwar sehr beschränkt und sehr boshaft, doch nicht so sehr, daß sie nicht zu Sinnen kämen, wenn ihnen das Flammenschwert der Wahrheit direkt ins Auge fuchtelt. Gewiß, der Mannesstolz vor Fürstenthronen wird immer verdächtig, wenn er sich an Könige- ohne -Land richtet. Trotzalledem brauchte Leonhart wahrlich nicht in eine solche Rage zu gerathen, wenn seine »Judasse«, wie er das charakteristisch im Vertrauen Krastinik gegenüber nannte, ihm als sauertöpfische »Aufrichtigkeit« angebliche Wahrheiten ins Gesicht warfen, die er als hohl und wesenlos erkannte.

Kurz, wohin der Graf auch blicken, wie auch immer er sich das Bild seines todten Idols vergegenwärtigen mochte, überall fand er jetzt Kleinliches und Schwächliches. Alles in der Welt hat zwei Seiten; es kommt darauf, von welcher Seite man es sieht. Erhabener Stolz – Eitelkeit unbefriedigter Ruhmsucht – wie nahe hängt das zusammen! Nein, Leonharts geistige Größe hatte zu moralischer Größe sich nie emporgeschwungen. Das höchste, das moralische Genie blieb ihm versagt. Wohl war's der Größenwahn des Genies, aber selbstüberhebender Größenwahn lallte auch hier.

Die Krankheit des Jahrhunderts hatte auch ihn verzehrt, in ihm ihre herrlichste Beute gefunden. Sein Ich über alle menschlichen Schranken hinaus dem Schöpfer entgegenspreizen – das ist nicht Größe, das ist Großmannssucht. Die wahre Größe und die wahre Weisheit ist demüthig, weil sie es sein muß, ehrfürchtig dem Unerforschlichen sich beugend. Den Kampf an Jaboks Furth, Gott wider Mensch, besteht auch der stärkste Ringer nur mit verrenkter Hüfte. Wer Gott nur als Tyrannen anerkennt, der vom Gewaltthron niederglotzt auf den Freien, den er foltert, – der wird den Verborgenen nimmer schauen, der in Allem sich offenbarte, wird nie in inniger Gottverschmelzung den Weltumlauf vollbringen, wird nie sich freudig verbluten im heiligen Feuer der Lebensgemeinschaft mit Gott.

Krastiniks Idol lag in Stücken. Das war kein Messias, das war ein schwacher sündiger Mensch wie alle, nur mit dem Zufall einer abnorm feinen Gehirnstruktur, vielleicht auch mit doppeltem Hirngewicht, wie sich bei Byron's phänomenal kleinem Schädel bei der Leichenobduction ergab. Das war alles. Höchstens seine innere Wahrhaftigkeit vor sich selbst, wie sie ja auch theilweise den verschwiegenen Blättern dieses Tagebuchs anvertraut, die unbestechliche Selbsterkenntniß erhob ihn über die Menge. Aber die rechte Selbsterkenntniß war es doch nicht. Denn die hätte ihn über sich selbst erhoben. Sich erkennen heißt Gott erkennen, aus dem menschlichen Nichts sich zum Ewigen hinüberretten in Demuth und Entsagung.

Das alles wurde dem einsamen Denker nur halbbewußt und instinktiv klar. Er empfand es wie den Gnadenstoß, wie den Todesstreich seiner Geistesentwickelung. In dem Todten hatte er einen Uebermenschen und Heros gesehen, dessen Cultus er auch nach dem Tode mit der Pietät eines Jüngers bewahren durfte. Und nun lag dies Idol vor einer höheren Erkenntniß in Stücke gebrochen. Wo war hier der Kampf für eine große Sache? Nur der Kampf für die kleine Sache des eigenen großen Ichs, das Durchsetzen seines Herrscherrechts, nur souverainer Egoismus, wenn auch erhabener Art, hatte dies dämonische Leben ausgefüllt. Und so hatte es denn an sich selbst die Strafe vollstreckt, die gerechte Strafe.

Hänge Dein Herz nicht an Menschen! Alles Vergängliche ist nur ein Gleichniß. – Krastinik barg sein Haupt in seine Hände und weinte bitterlich.

Da – – wie, ein Telegramm aus Siebenbürgen, direkt »Bad Scheveningen« adressirt? Was mochte das bedeuten? – –

Im Leben selbst überstürzen sich die Ereignisse so, daß man das Seltsam-Absichtliche des Zufalls kaum gewahrt. Aber dies war mehr als Zufall, das war Schicksalsfügung, wie so manches Frühere.

Sein Bruder auf der Jagd mit dem Pferde gestürzt. Gefährliche Verletzung. Das sofortige Erscheinen Xavers wurde dringend erbeten. – –

Was sollte er auch noch länger hier treiben! Der Geistesarbeit hatte er ja Valet gesagt. Ja, die Phrenologie hatte gelogen, wie alles Andere auch. Auch sie ist Phrase und Humbug. Nur fort, fort von diesem Meere, dem Sinnbild der Ewigkeit, das ihn medusenäugig anstarrte.

Und doch wie schwer, von ihm zu scheiden! Wie schwer sich loszureißen, wenn man das Ewige angeschaut und den letzten Fragen ins Auge sah! – –

Das Meer hielt seine Siesta. Rings schillerten zahllose Sonnenpünktchen wie Myriaden goldener Mücken über der Tiefe. Freilich, so friedlich der glatte Spiegel, drunten in der Tiefe ist's fürchterlich. Da tobt der Kampf der Lebewesen, Einer frißt den Andern. Ein Bild der menschlichen Gesellschaft, die ja auch nur ein Abbild des Thierreiches.

Die Felsblöcke, träge in der Brandung badend, glichen versteinerten Robben. Einer trug eine Wallroßftirn, ein Anderer eine Alligatorschnauze. Auf einem Steine, der von Wellen fast ganz umspült, stritten Sonne und Meer um die Herrschaft. Bald wurde der trockene Flecken in der Mitte der Steinspitze überschäumt, bald vergrößerte er sich sogar durch die jede Nässe verzehrende Leuchtkraft der Sonne. So kämpft in einer Seele, die von den Wogen des Lebens überschüttet, warme Lebenslust mit naßkalter Erstarrung.

In der Ferne hüpften die Sprungwellen unablässig an einer Sandbank empor und über sie hin schwammen die Butterflecke der Sonne, wie Fettaugen auf einem Suppenteller. Der eigenthümliche Geruch des Seetangs (wie ein erotisches Excrement des selbstverliebten Meeres) mischte sich dem Salz-Ozon.

Ein enteilender Dampfer ließ über die spiegelglatte Fläche das nachschleppende Silberband seiner Furche hingleiten. Ueber dem Ufer-Wald stand ein Regenbogen und eine Möve flitzte wie ein weißer Pfeil darunter hin.

Die Segel der grünen Boote hoben sich goldgelb von der hellblauen Fläche ab, die wie in einer Waschschüssel teich-ruhig lag. Grüne Wasserstreifen zeichneten sich langgezogen in die windstille Fluth. Die Wolken bekamen einen matten Ton, goldgelb flimmerten die Dünenhügel, wie mit einer Bernsteinlasur überhaucht von der sinkenden Sonne.

Es dunkelte. Laubumkränzte Kähne kehrten heim mit Musik und Lampions von einer Ruderwettfahrt. Feuerwerk stieg auf, Meerleuchten verklärte die dämmernde Ferne. Ein Dampfer draußen auf dem offenen Meer spritzte sein elektrisches Licht in trichterförmigem Strahl weithin, als bespritzte eine Gießkanne weite Rasenflächen.

Ernstes feierliches Meer! Wie du in Mondscheinnächten die Erde umwallst, so wallt ums weite All mit Fluth und Ebbe das große Weltgeschick.

Wie mit Schlüsseln von lauterem Gold schien der Mond das Geheimniß der Tiefe zu erschließen. Wollustweich wie Brüste flossen die wölbigen Wellen.

Drunten klagen Osterglocken, wo eine bunte Welt versunken ruht. Doch nur der vernimmt die Glocken, wer auf Erden heimwehkrank. Blast, Winde, blast und, Fluthen rollt! Die Meerfei drunten im krystallenen Schloß lispelt verführend: Wie so süß ist der Tod!

Wolkenrappen spannten sich an den Wagen des Sturms, der langsam heraufzog. Dies allgewaltige Meer alleine böte Raum, um die Unermeßlichkeit einer unirdischen Sehnsucht zu betten. Grenzenlos wie eines Genius Gedanken schäumen die heiligen Wogen. Was tobst du, Sturm, was brüllt ihr hinauf zu den Sternen o Wogen? Was seid ihr gegen den Sturm in eines Menschen Brust! Ihr kommt und geht, eine verschlingt die andere, in ewigem Auferstehen ringt ihr zu nie gefundenem Ziel. Warum, wozu? Warum immer neue Zeiten und neue Wesen, lärmend und brandend, bis daß sie in Schaum zergehen?

Der wechselnde Strom des Lebens braust hinab in die ewige Leere und wir versinken mit unsrer Zeit in dem einen, dem ewigen Grab.

VI.

Der Rheindampfer (einer der letzten der Saison) fuhr rheinaufwärts. Die Wandeldekoration der Burgen und Kirchen glitt vorüber. Schon wurde Lorch passirt.

Krastinik mußte bald einsam am Stern promeniren, da er die naiven Sonntagsreisenden des Dampfers nicht vertragen konnte.

Einen Vielgereisten peinigt manchmal das Geschwätz von Neulingen, wie prahlende Unwissenheit. Fahren Berliner nach Heringsdorf oder Misdroy übers Haff, so glauben sie eine ansehnliche Seereise zu machen und vergleichen dabei die Ostseedampfer mit den Dampfern auf dem Vierwaldstätter See, um durch diesen unmöglichen Vergleich ihre Vielgereistheit darzuthun. Aehnlicher Austausch ungeheurer Erfahrungen schwirrte auch hier hin und her, so daß der finstre Weltbummler es wie eine Beleidigung empfand, die glückliche Unschuld der harmlosen Reisenden neben seinen (doch auch noch recht jungfräulichen) Reisekenntnissen dulden zu müssen. Denn es bleibt doch immer wahr: Wer am meisten erlebte, schweigt.

Die Sonne ging zur Rüste. Alle Ferngläser richteten sich nach der Seite des Niederwalds, wo die Bildsäule der Germania den Rheingau bewacht. Eine kleine Musikbande, die an Bord gekommen war, spielte die Wacht am Rhein. Patriotische Gespräche wurden laut, man erwog den nahenden europäischen Krieg und seine Chancen. Jemand zog eine Zeitung vom gestrigen Tage aus der Brusttasche, woselbst unser großer nationaler Sänger, Regierungsrath Adalbert von Alvers, seinen Gefühlen in einigen kurzen Strophen »Rheinfahrt« Luft gemacht:

Die ehernen Waffen blitzen

In scheidender Sonnenglut

Und über der Berge Spitzen

Rieselt es hin wie Blut.

Die Burgen starren wie Drachen

Wildzackig in die Flut,

Als wollten sie bewachen

Niflung's versunkenes Gut.

Hei, Gold der Nibelungen,

Dich hob der Enkel Stahl.

Der Tiefe ward entrungen

Der alten Krone Strahl.

Doch Hunnenstürme brausen

Von Ost und West zumal.

Noch muß der Balmung sausen

Durch Feinde ohne Zahl.

Während er schweigsam, die Hände auf dem Rücken, unter den Reisenden stand und ihre Gefühle theilte, ergriff den Grafen plötzlich die Einsicht, daß er ja gar nicht unter sie gehöre! Er hatte sich im letzten Jahre so gänzlich prussificirt, in Deutschthum eingelebt, daß ihm seine Nicht-Zugehörigkeit gar nicht mehr in Erinnerung lag. Jetzt aber mußte er ja seine Entfremdung fühlen, jetzt wo er auf der Heimreise zum fernsten Ende des »Globus von Ungarn« eilte. Also auch dies Idol wurde ihm entrissen; sein Adoptiv-Vaterland, in das er sich eingelebt, wie in sein eigenes, wandte ihm langsam den Rücken.

Glückliche große Nation! Durch nichts vom Glück begünstigt, nur durch eigene Kraft zur Größe gelangt! Und als Symbol an ihrer Spitze den auferstandenen Barbarossa, den kaiserlichen Greis, der alle Geschicke Deutschlands von 1806-70 in sich durchkämpft. Und je älter er wurde und je schwerer seine Bürde, um so milder und gütiger wurde sein väterliches Gemüth. Wohl war er davon durchdrungen, daß er seine Krone direkt von Gottes Gnaden trage, mehr, als einem Sohne der Aufklärungszeit gestattet sein mochte. Aber dies Bewußtsein, daß er ein Gotterkorener, unterschied sich wenig von dem Bewußtsein jedes Heroen, daß ihm eine würdevolle Mission beschieden sei. Denn nicht zu vererben noch gähnend abgelehnten Rechten schien ihm die Krone, sondern neu zu erwerben und zu verdienen durch treue Pflichterfüllung des Thronberufes. Demüthig fühlte er sich nur als ein Gefäß der göttlichen Gnade und jeder persönliche Größenwahn lag hinter ihm in wesenlosem Scheine. Würdig und züchtig, ein Kriegsmann des Allerhöchsten, in makelloser Vornehmheit stand er auf seines Thrones Stufen, die Hand wohlwollend ausgestreckt zum Schirm des Schwachen. Das kleine durchdringende Auge unter der hochgewölbten breitknochigen Stirn und die langgedehnte Nase erinnerten an das größte und weiseste der Thiere, welches die indischen Arier als Gottkönig des Thierreichs verehrten: den Elephanten.

Dem Grafen traten wahrhaftig Thränen in die Augen, als er zu dieser stillen Majestät echten Manneswerthes, der sich aus den Schlacken und Beschränktheiten seiner Jugend zu immer höherer Reinheit und Größe der Gesinnung emporrang, mit kindlicher Ehrfurcht aufsah. Welch ein Beispiel für fieberhaft tobenden Größenwahn! Hier war einmal ein Mensch, selbstgewiß und selbstbewußt, aber nie in Selbstvergötterung verstrickt, unentwegt voll gläubiger Demuth, voll frommer dankbarer Verehrung der unbekannten Mächte, die ihn und die Seinen so weise geführt.

Es dunkelte. Wie fackeltragende Gnomen tanzten Lichter an beiden Ufern umher. Krastinik saß allein, neben sich als einzige Genossin eine Flasche Aßmannshäuser. So heftig er jeden Rückfall in Dichterei verschworen, unwiderstehlich quoll ihm von beben den Lippen das Lied:

Ich bin so allein, so ganz allein

Auf der weiten Welt.

Gleichgültig rauscht vorüber der Rhein,

Gleichgültig gleißt der Sternenschein

Vom Himmelszelt.

Ich bin so allein, so ganz allein

Und mein Herz ist voll.

Verkannt und unverstanden sein,

O nagende plagende Seelenpein,

O bittrer Groll!

Ich bin so allein, so ganz allein,

In die schweigende Flut

Ueber Bord verschütt' ich den letzten Wein

Und schütt' in Gedanken hinterdrein

Mein letztes Blut.

Leiden sollst Du, Menschensohn, leiden, bis die Pulse stocken. Und doch will man nicht leiden. Wozu dies Alles, wozu sich immer erneuen in der Erscheinungen Flucht? Denn ahnen wir nicht, daß wir einst gewesen, daß wir schon lange begraben sind? Unfaßbare Erinnerung einer Seelenwandrung.

Ein lüsterner Falter, gaukeln wir alle unsterblich im flüchtigen Schein. Sind wir das Ewige, das immer neu von Hülle zu Hülle flattert?

In der uferlosen Fluth des Seins untergehn und wei terwogen – mit allen Welten ruhen im Schooße des Alls – mit Vergangenheit und Zukunft lichtgewobene Brücken schmieden – das allein heißt Unsterblichkeit.

Nach dem unsagbar Einen mag Dich die Sehnsucht umsonst berücken, doch ruhe in Dir selbst! Wie lange dauert's und Todesruhe drückt ihr bleiches Siegel auf Deine fiebernde Stirn.

Schein ist alles Wesen und stumm verlacht uns das Schicksal. Drum trage auch Du in starrem Schweigen das ewige Einerlei. Schweig und stirb! Halte den Mund und arbeite! »Fähnrich, wenn Er stirbt, so sterbe Er ruhig!«

Wenn Du also denkst, dann werden alle Winde, alle Wellen Dich grüßen, die Dich einst als Jüngling mit frommem Schauer durchwogt, und brüderliche Sterne erhellen Dir das alte Märchenland der Sehnsucht.

Unser Leben ist selbst nur ein Sinnbild des Welträthsels, das sich langsam aus chaotischem Urschlamm der Sinneserregungen zum hellen Bewußtsein aufringt. Drum, Dichterherold, streue Deine Verse wie Samenkörner, die der Wind in weite ungeahnte Fernen führt! Die Ernte feiern wir drüben, wenn nicht hier. Drum dresche weiter!

Und siehst Du auch keinen Spiegel Deiner Strahlen, entzünde stets aufs neu der Weisheit Lampe! So lange ein Acker bleibt, ziehe breit und fest des Fortschritts Furche mit brennender Pflugschar!

– – Aber wenn man nun kein Dichter ist, kein Denker, kein Seher, und dennoch dasselbe Gefühl des Ewigen in sich trägt, ohne ihm artikulirte Laute zu leihen, was dann? Verfehltes Leben!

Das Schwanken des Lebensschiffes endet nie und die Seekrankheit des Pessimismus hebt immer von neuem an. Nur der sturmgehärtete Seemann schwingt sich furchtlos in den gefährlichen Raaen. Nur eine eigenthümliche Hoheit der Willenskraft, nämlich ideale Kampflust, macht furchtlos und fest, wie die feiende Feder des Simurgh den Rustem vor jeder Fährniß schützt.

Gewann er denn nicht lange schon die Einsicht, daß künstlerische Thätigkeit für Höherdenkende ein entehrender Humbug und nur für technische Kunsthandwerker erfreulich sei? Im Wirken solcher Art Befriedigung suchen, das lag ja heut lange hinter ihm. Ihm däuchte, sein kurzes Herumplätschern im litterarischen Sumpf sei wohl nur ein wüster Traum gewesen. Was für ein Gackern und Schnattern und Truthahn-Kollern, mein Gott!

Auch gegen Leonhart wurde er jetzt ungerecht durch natürliche Reaction, während »dem großen Todten« immer noch Weihrauchdämpfe aus den Spalten aller bedruckten öffentlichen Meinung nachqualmten. Es giebt eine stürmische Vergötterungsmanie selbstsüchtiger Jüngerschaft, die an Petrus' Zweifelzorn darüber erinnert, daß Christus sich nicht der Kanaille mit Donner und Blitz enthülle! Solche Jünger und Jüngerinnen transfiguriren sich ihren Meister so zurecht, bis sie vor lauter selbstloser Bewunderung recht selbstsüchtig raisonniren, sobald der Meister mal nicht den Anforderungen ihrer schrankenlosen Begeisterung genügt. Dem Bedürfniß der Jünger gehorsam, muß er immer auf dem Quivive stehn, um beliebige Messiasthaten zu verrichten. »Und der König absolut, wenn er uns den Willen thut.« Gott schütze ihn vor seinen Freunden, mit seinen Feinden wird er schon selber fertig.

Drum sah jetzt Krastinik, nachdem ihm die Schuppen von den Augen gefallen und er sein umgekehrtes Damaskus gefunden, nur einen genialen Charlatan und krankhaften Bramarbaseur, wo er einen verzerrten großen Mann bedauern sollte. Mochte ihm Leonharts ewige Selbstbetrachtung widerlich geworden sein, er vergaß darüber dessen Umgebung, das scheußliche Ungeziefer des modernen Kunstproletariats. Entweder Parnassauer, die es für ihr heiliges Recht halten, auf Kosten der ehrlichen Arbeit faul zu schlampampen und ihre Unfähigkeit fortzumästen – oder Macher, die ihr kleines Dichtergeschäft in hellen und dunkelen Stoffen wie die Goldne Hundertzehn annonciren. Krastinik wußte ja, wie nur verzweifelte Nothwehr den Unglücklichen dazu trieb, seine Schöpferruhe zu opfern, um mit der Peitsche die Zöllner und Wucherer aus dem Tempel zu jagen. Wozu also jetzt sein posthumer Groll über die Selbst-Herabschraubung seines Idols, das im Tagesgetümmel sich herumraufte, sich mit Koth bespritzen ließ und selbst mit Kothballen um sich warf? »Graf« Leonhart hätte das ja gewiß nicht nöthig gehabt und seine hehre Mission ohne Furcht und Tadel erfüllt. Seine Fehler waren die Früchte seines niedergedrückten Lebens und seiner berechtigten Menschenverachtung, seine Tugenden waren sein eigen.

Doch diese Reaction eines neuen Standpunktes diente als heilsame Krisis. Das Stadium der persönlichen Hero-Worship war hiermit endgültig überwunden.

VII.

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Seit acht Tagen saß Graf Xaver Krastinik, der neugebackene Vormund des unmündigen Majoratsherrn, auf dem Schloß seiner Väter. Die gänzliche Umwandlung seiner Lebensverhältnisse überraschte ihn kaum mehr. So märchenhaft reich an Schicksalsschlägen war sein früher so eintönig ruhiges Leben in den letzten zwei Jahren verflossen, daß die Nachricht, welche ihn in Siebenbürgen empfing, ihn kaum befremdete. So eilig er dem Heimruf gefolgt, war er zu spät gekommen. Sein Bruder hatte bei dem Sturz mit dem Pferde so schwere innere Verletzungen davongetragen, daß er drei Tage darauf starb, ein kraftstrotzender Mann in der Blüthe seiner Jahre. Da er seit Jahren Wittwer, setzte sein Testament naturgemäß seinen Bruder zum Vormund der beiden hinterlassenen Kinder Graf Koloman und Comtesse Julie ein. So überkam Xaver die Verantwortung und Pflicht, den ausgedehnten Familienbesitz noch neun Jahre als Vormund zu verwalten.

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Neun Jahre hier verbauern! Es fiel ihm unendlich schwer, sich an diese Aussicht zu gewöhnen und sich auch nur für's erste behaglich einzurichten.

Das Gefühl der Behaglichkeit läßt sich nicht erzwingen: Es ist einfach da oder nicht. Ein ganz gesunder Mensch fühlt die Existenz selbst als Genuß.

Durch andrer Warnung wurde noch nie ein Mensch gebessert. Man muß sich selbst erziehn, indem man aus eigner Erfahrung für alle Dinge bezeichnende Formeln findet.

Die Strafe der widerwärtigen Abhängigkeit von Außendingen bleibt niemals aus. Nur das Innere bleibt fehlerlos, während die Außenwelt unaufhörliche Fehler birgt. Geistige Arbeit scheint einzige Rettung, indem sie ganz über die Außendinge hinweghilft.

Aber wo entsprechende geistige Arbeit finden! Denn diejenige des ästhetischen Dilettantismus entwürdigt einen männlichen Geist.

Krastinik warf sich schon seit geraumer Zeit auf Naturwissenschaften, wozu die alte wurmstichige Bibliothek seines Schlosses ihm ausreichende Mittel zu gewähren schien. Allein, nur unter dem bildungsdurstigen Geschlecht Ende des vorigen, Anfang dieses Jahrhunderts, hatte man dieselbe bereichert und so fand er denn hauptsächlich französische und englische Werke dieses Genres aus der Blüthezeit der ersten Periode des modernen Materialismus, während die spätere Metaphysik der Deutschen durch Abwesenheit glänzte.

Er studirte die Encyclopädisten, das berühmte »System der Natur« Holbachs und »Ueber den Geist« von Helvetius.

Gedanken? Eine Fähigkeit, Eindrücke zu empfangen und sich derselben hinterher zu erinnern, welche wir mit jedem thierischen Lebewesen gemein haben. Das Gedächtniß, vielleicht die wichtigste Grundlage höheren Geisteslebens, muß als ein bloßes Organ Physischer Empfindung und das Urtheil auch nur als Empfindung betrachtet werden. »Juger n'est proprement que sentir.« Was sind also Pflicht, Tugend und all diese schönen Worte? Man prüfe ihr Verhältniß zu den Sinnen, inwieweit sie physische Lust erregen. Laster und Tugend sind also nur das Ergebniß unsrer Leidenschaften und diese richten sich nach der physischen Reizbarkeit für Schmerz und Lust. Nur so entstand der Sinn für Gerechtigkeit, indem aus Schmerz und Lust das Gefühl des allgemeinen Interesses erwuchs, welches man schützen wollte. Freundschaft erklärt sich nur aus dem Interesse, unsre Lust zu vermehren oder unsern Schmerz durch Theilnahme zu mindern. Den Ruhm erstrebt man lediglich wegen seines Vergnügens, respektive wegen anderer Vergnügungen, die man aus seinem Besitz erhofft. Das Gute um des Guten willen zu lieben ist eine Chimäre, das Böse um des Bösen willen zu wollen ist unmöglich. Was wir sind, dazu macht uns nur die Außenwelt.

Aehnlich die Analyse der menschlichen Fähigkeiten, welche Condillac in seiner Abhandlung »Ueber die Empfindungen« versucht. Empfindung sei nichts als Eindruck äußerer Einwirkungen. Reflexion sei nur Sensation, ein Kanal der Vorstellungen, welche aus den Sinnen allein sich herleiten. Unsere Aufmerksamkeit auf irgend einen Gegenstand ist nur die Empfindung, die uns dieser Gegenstand erregt. Und Vergleich zweier Gegenstände ist nur doppelte Aufmerksamkeit, nicht etwa eine Folge der Aufmerksamkeit, also ist das Urtheilen, was bereits im Prozeß des Vergleichens liegt, auch nur das Aufmerken einer Empfindung. So entsteht das Gedächtniß als ein ungeformter sinnlicher Eindruck und Einbildungskraft leitet sich wieder vom Gedächtniß her, indem erstere das Abwesende als gegenwärtig empfindet. Daraus folgt dann der überraschende Schluß: Die Eindrücke der Außenwelt auf uns verursachen nicht die Geistesthätigkeit, sondern die Eindrücke selber sind diese Geistesthätigkeit.

Dies sind die Lehren, welche einerseits zur Befreiung der Menschheit von verrotteten Mißbräuchen, andrerseits zur rohen Entfesselung der Materie trieben. Die völlige Unterordnung der sogenannten Innenwelt unter die Außenwelt drängte zur ausschließlichen Vergötterung der Natur, also zum Studium und zur alleinigen Herrschaft der Naturwissenschaften. Nicht das Wahre, Gute und Schöne suchte man zu erforschen, sondern Wärme, Licht und Electricität. Diese heilige Dreieinigkeit erschien als der neue Gott begriff, zu dem man betete. Die Gesetze der Strahlung, der Wärmeleitung, der doppelten Brechung, der Polarität des Lichtes, die Undulationstheorie, wurden gefunden. Diese Entdeckungen über unsichtbare Theile der Natur blieben freilich bis heute in gewissem Sinne unvollkommen. Denn das Geheimniß scheint schwer zu lösen, ob dieselben eine materielle Existenz haben oder ob sie bloß Zustände andrer Körper sind. Die Verbindung von Kraft und Materie, welche anfangs der dynamischen Theorie von Leibnitz im Weg zu stehen schien, schließt an sich die Existenz einer Materie ohne kräftegebende Eigenschaften aus. Hier zeigt sich allerdings die Unmöglichkeit, daß die Struktur des menschlichen Gehirnorganismus ausreicht, um solche immateriellen Begriffe zu begreifen. Hier steht er gleichsam einer Innenwelt der Außenwelt gegenüber. Unerschrocken warf sich daher der französische Geist nunmehr auf die greifbaren Theile der Natur. Die Chemie experimentirte sich neue Gesetze zurecht, welche die Eigenschaften der Natur beherrschen, durch das Studium der molecularen Zusammensetzung der Atome.

Auch über diesen wichtigsten Zweig moderner Wissenschaft suchte sich Krastinik zu belehren, wo er über Lavoisier, den Gründer der wahren Chemie, Aufschlüsse fand – betreffs der Oxydation der Körper und ihrer Verbrennung, sowie der Function der Nahrungsmittel –, welche ihn zu dem heutigen Stand der Chemie – betreffs der Verbindung chemischer und elektrischer Gesetze – hinüberleiteten.

Damals gewann auch die Geologie ihren ungeheuren Aufschwung, die Wissenschaft der örtlichen Gesetze, der terrestrischen Einrichtung der Massen. Buffon entnahm aus Anregungen von Leibnitz und Descartes die Vorstellung von der Centralhitze, welche schon die Pythagoräer und Zoroaster geehrt. Dann kamen eine Reihe von Geologen, welche den Begriff des allgemeinen Wechsels auf der Erdoberfläche darthaten, jenen ewigen Fluß der Dinge, von welchem schon Herakleitos der Dunkle sprach. Jetzt begann man die organischen Ueberbleibsel zu studiren. Man erkannte den Zusammenhang der Existenz der fossilen Thiere mit den Medien, in welchen sie gefunden wurden. Der große Cuvier verband die Forschung über die unorganischen Veränderungen der Erdoberfläche mit derjenigen über die organische Veränderung der Thiere, die auf dieser Oberfläche gelebt. Die Deutschen hatten die primären (Gneis), die Engländer die secundären Formationen untersucht, die Franzosen entdeckten die tertiären Strata, in welchen man bereits Säugethiere, die dem gegenwärtigen Zustande ähnlich, fand. Die angeblichen Patriarchenknochen und Hünengebeine wurden als Reste fossiler Thiere dem Studium der Anatomie unterworfen. Und jetzt verbreitete sich die allgemeine Verehrung Darwins, die Lehre von der unbeirrten regelmäßigen Entwickelung.

Hier erschloß sich dem Geiste des einsamen Gottsuchers ein so unendlicher Horizont, daß er erschauernd und gleichsam athemlos innehielt. Erst allmählich begann er jetzt, an der leitenden Hand neuster Forscher, die. ganze Größe dieser Wahrheiten zu erfassen. Die Astronomie ist längst im Stande, wichtige planetarische Ereignisse viele Jahre vorherzusagen. Und werden nicht einst unsre Vorhersagungen in andern Dingen ebenso genau eintreffen, sobald die gesammte Wissenschaft ähnlich fortschritt? Gleichförmige Regelmäßigkeit in allen Naturbewegungen – welch ein unergründliches Gebiet der Spekulation! Lange ehe Menschen waren, lange ehe dieser Planet sich geformt, herrschte die gleiche unerfaßliche Ordnung.

Nun drang auch die Zoologie durch vergleichende Anatomie in das Zellengewebe des menschlichen Organismus ein und gründete erst die eigentliche Physiologie, wozu nunmehr auch die Botanik beitrug. Man erkannte das Doppelleben des Menschen, das organische und das animalische. Ersteres, welches er mit der Pflanze gemein hat, bedingt Erschaffung und Zerstörung, nämlich: Verdauung, Circulation, Ernährung – Ausathmung, Ausdünstung, Verbrennung. Von dem Thierleben aber leitet er Bewegung, Gefühl und Urtheil her, d.h. Bewußtsein. Die Organe dieses thierischen Lebens sind absolut symmetrisch und sämmtlich doppelt, die des pflanzlichen Lebens hingegen außerordentlich verschieden und an sich einzeln. Das Pflanzenleben schläft nie in uns. Die doppelten animalischen Organe aber gestatten uns zu ruhen und abzuwechseln, und gerade hierdurch verbessern und entwickeln sich allmählich die Functionen, vom ersten Naturschrei des Kindes bis zur ausgebildeten Gedankensprache.

Selbst die Mineralogie drang jetzt zu den glänzendsten Resultaten vor, indem sie sich mit der Geometrie verknüpfte und alle Abweichungen der Symmetrie der mathematischen Berechnung unterwarf. Die wunderlichsten Formen erschienen von jetztab als natürliche Entwickelungsfolgen. So giebt es also in keinem Reich der Natur die Möglichkeit einer Unordnung und alles, was geschieht, steht unter festen Gesetzen. Und dies Prinzip mußte man nun wohl oder übel auch auf das Geistige an wenden. Die Abweichungen des menschlichen Geistes, z.B. der Wahnsinn und das Genie, werden von eben so unfehlbaren Gesetzen bestimmt, als der Zustand der todten Materie. Unter gewissen Bedingungen tritt das Phänomen des Genies oder des Wahnsinns unausbleiblich ein.

So wird man das Materielle und Immaterielle im zwanzigsten Jahrhundert im Studium zu verknüpfen lernen, wovon wir heute noch entfernt sind. Der Zusammenhang dieser naturwissenschaftlichen Forschungen mit der socialen Empörung, welche man die Große Revolution nennt, lag aber klar vor Augen in der allgemeinen Sehnsucht nach Verbesserung und Unzufriedenheit mit der früheren Stagnation. Wie und zeigen sich nicht genau die gleichen Symptome heut am Ende des neunzehnten Jahrhunderts?

Wenn im siebzehnten Jahrhundert Baco, Descartes und Newton die wechselnden Erscheinungen auf bestimmte Prinzipen von Ordnung zurückführten und das achtzehnte Jahrhundert diese gefundenen Prinzipien auf das materielle Universum im Ganzen anwendete, so versuchten die großen deutschen Denker diese Prinzipien auf die Geschichte des menschlichen Geistes auszudehnen und zu vollständigen Allgemeinbegriffen über den Fortschritt des Menschengeschlechts zu gelangen. Allein, dies gelang ihnen nur unvollkommen oder gar nicht, weil sie die Anregung in Herder's »Philosophie der Geschichte«, historische Drehungsgesetze zu entdecken, oberflächlich vernachlässigten. Sie wandten sich völlig der rein metaphysischen Spekulation zu und verließen das neubegründete philosophische Geschichtsstudium, welches sie zu pragmatischer Spezialgeschichtsschreibung und nüchterner Quellenforschung herabdrückten.

Und doch sollte es der Endzweck jeder Forschung sein, aus Vergangenem die Zukunft vorherzusagen. Große Ereignisse entspringen keineswegs aus kleinen Ursachen, wenn auch vielleicht aus kleinen Bedingungen. Ereignisse der Menschengeschichte unterwerfen sich denselben Bedingungen wie Chemie und Geologie. Jede Erscheinung muß verursacht werden durch etwas, was in ihr vorgeht oder was außer ihr vorgeht. Ersteres muß sich durch ihre Zusammensetzung, letzteres durch ihre Lage erklären lassen. Selbst die geheimnißvollen großen Lichtkräfte, welchen in der Menschengeschichte wohl gewisse immanente Ideen entsprechen, wird man so analysiren können.

Wenn der englische Denker Locke noch die abgesonderte Existenz einer Reflexionskraft behauptete, durch welche die Sinneseindrücke benutzt würden, so gingen die schottischen Denker, welche jene denkwürdigste Epoche des Menschengeistes zeitigte, schon so weit, eine sittliche Anlage jedes Menschen als ursprüngliches Prinzip anzunehmen. Schon bald wurden diese deductiven Transcendentalisten verdrängt durch die Gründung der politischen Oekonomie. Adam Smith stellte den Satz auf, daß die Gesetze, nach welchen wir unser Betragen richten, nur durch Beobachtung des Betragens anderer erlangt werden. Wenn wir einsam lebten, könnten wir weder Verdienst noch Recht von seinem Gegentheil unterscheiden. Wir unterrichten uns hierüber, indem wir uns an die Stelle der Andern versetzen. Aus dieser allgemeinen Vorstellung entstammt die allgemeine Sympathie. Diesem Mitgefühl entspringen nun sämmtliche Handlungen, gute und böse. Und im Mitgefühl, obschon es ein ideelles Vergnügen bereite, läge dennoch kein Gran von Selbstsucht. Als Ergänzung aber dieser »Theorie der sittlichen Gefühle« sprang Smith auf das gerade Gegentheil über, indem er nunmehr in seinem grandiosen Werke vom »Nationalreichthum« nur die Selbstsucht als Motor annimmt. Jeder folge nur seinem eignen Interesse und fördere hierdurch, ohne es zu wollen, das Interesse andrer. Der persönliche Wunsch, den jeder Einzelne fühlt, seine Lage zu verbessern, bringt die Gesellschaft im Ganzen vorwärts. Jetzt wurde die große Idee der Nothwendigkeit auf das sociale Leben angewandt. Man erkannte Arbeitslöhne als unvermeidliche Folge der Verhältnisse gegen welche die Wünsche aller Einzelnen oder des ganzen vierten Standes ohnmächtig, das spätere »eiserne Lohngesetz« nach Angebot und Nachfrage. Man ahnte die Theorie der Pacht, wie Malthus und Ricardo sie später ausbauten. Dann kamen Hume's Theorien von der Ideenassoziation und vom Causalnexus und von der Nützlichkeit als einzigem Grundpfeiler der Moral. Diese genialen Geister verachteten jedoch die bloß compilatorische nüchterne Thatsachenanhäufung als Grundlage, sie mißtrauten der Statistik und hielten die Ideen für so viel wichtiger als Thatsachen, daß erst Ideen vorangehen müßten, ehe man überhaupt die Thatsachen beobachte. Reid und Black wandelten fort auf ähnlichen Gleisen, wie denn später Watt die Dampfmaschine nicht aus Thatsachen-Experimenten, sondern aus der Spekulation über Black's Gesetz von der latenten Wärme, angewandt auf die Verbindung von Luft und Wasser, also aus einer Idee heraus erfand.

Graf Xaver Krastinik, dies Enfant terrible seiner umliegenden Dörfer und Standesgenossen, schloß sich völlig von der Welt ab und studirte ununterbrochen. Muthig hieb er sich lichte Bahn durch das Dickicht seiner Unwissenheit.

So drang er denn allmählich in das ganze Geheimniß der inductiven Methode ein, welche auch das Kunstprinzip des Realismus leitet.

Hier lernte er jene Deklamationen einer deductiven Weltanschauung verachten, von welcher im Grunde alles äußerliche Scheintreiben der Menschheit bestimmt wird. Angenommene Voraussetzungen als höchste Prinzipien aufstellen und dialektisch verfechten – darin besteht das wahre System des hohlen gedankenlosen Weltgetriebes. Ob der Metaphysiker oder der Zeitungsjournalist, der Pfaffe oder der Soldat, – jeder wählt sich ein beliebiges traditionell überkommenes Prinzip und argumentirt daraufhin sein Lebenlang, ohne dessen Gehalt zu prüfen. Der theologische Gott, Staat, Autorität, Ehre, Freiheit, – alle solche Begriffe werden zu unnützen Kinderklappern, mit denen die thörichte Menge ihr Gehirn betäubt.

Indem er mit verzweifelter Kraftanstrengung sich der Lectüre philosophischer Naturwissenschaften ergab, durch Chemie, allgemeine Physik und Physiologie langsam zu den Ergebnissen der neusten Epoche unter Liebig, Darwin, Helmholtz, Dubois-Reymond vorrückte, begann sein spekulativer Geist, der nie dichterisch-gestaltend, sondern didaktisch seine Anschauungen vollzog, allgemeine Schlüsse aus nüchternen Thatsachen zu ziehen. Die Theorie des Kraftwechsels und die zunehmende Darlegung der Thatsache, daß überhaupt nichts unregelmäßig, gestört oder dem Naturgesetz zuwider sei, beruhigte ihn über die scheinbare Wirrung und unlogische Ungerechtigkeit menschlicher Schicksale. Die Theorie des großen Pathologen Hunter, betreffend die innere Balance des Mitgefühls zur Thätigkeit, eröffnete dem einsamen Wahrheitsucher seltsame Schlüsse, worunter der vornehmste: daß Passivität weder der Menschennatur entspreche noch zur Tugend werden könne, da nur Thätigkeit das Mitgefühl fördert.

Damit fiel sein Wunsch, sich einsam »einzubuddeln« über den Haufen. Selbst das heilige Licht, das uns Lebensbedingung, ist ja Bewegung. Wärme ist Licht in Ruhe, Licht ist Wärme in reißender Bewegung. So ist Genie vielleicht nur eine Metamorphose der stillen vorbereiteten Wärme seiner Zeitumgebung.

Ob nun die deutschen Geologen wie Buch und Humboldt sich an Werner's Wassertheorie oder die Briten sich an Hutton's Feuertheorie über Entstehung und Veränderung der Erde anschlossen, überall wurde den großen Urkräften der Natur sorgsam nachgestellt. Nur die neptunischen und plutonischen Urkräfte, die im Geistesleben der Natur, also der Menschheitsgeschichte wirken, blieben verhüllt wie zuvor. Man vermochte die vulkanischen Kräfte der französischen Revolution noch immer nicht nach ihrer Gattungsart und ihrer inneren geologischen Lage genau in ihre Bestandtheile aufzulösen.

Und doch lehrt jene große Auffassung, welche die Unzerstörbarkeit der Kraft und die Unzerstörbarkeit der Materie zugleich erfaßt, welche die geringste Bewegung des kleinsten Körpers in weitester Ferne als Ursache ewiger Folgen erkennt, wunderbare Schlüsse auch über die Menschenentwickelung. Ja, die Erhaltung oder Beharrlichkeit der Materie-Kraft, wie sie Herbert Spencer in seinen »First principles« bereits in die abstracte Philosophie einführte, scheint gewiß nur ein größeres allgemeines Vorbild der Geistkraft-Erhaltung, so daß nichts im Haushalt des Menschendaseins umsonst geschieht und kein Körnchen von der großen Gesammtheit getrennt werden kann, ohne den ganzen Bau zu stören. Hierdurch wird das Gejammer über jegliches persönliches Leid zur Narrheit, da es ja zur Gesammtordnung mitgehört, zugleich aber auch die Ueberhebung jeder Größe ein eitler Wahn, da alles Existirende in gleichem Maße dem großen Endzweck dient.

Der Baum der Erkenntniß ist nicht der des Lebens, wohl wahr, wenn man das thörichte Sinnenleben im Kampf ums Dasein meint. Wohl aber pflückt man von diesem Baume eine süße Frucht, welche gottähnlich macht und doch gerade durch diese gottähnliche Milde jeden Größenwahn für immer zerstört.

Denn das eigentliche innere Wesen des Größenwahns ist die Selbstsucht, eine tollgewordene Selbstsucht, die mit einer Art Farbenblindheit nichts sieht als sich selbst und mit neidischem Haß alles verfolgt, was außer ihr selber existirt. Diese Neidwuth zähmt sie nur dann, falls irgend ein augenblicklicher Vortheil von dem andern Object zu erwarten scheint. Ein Größenwahn, der für Verdienste außer ihm überhaupt noch ein Auge hat, verliert schon seinen eigentlichen Charakter. Selbstbewußtsein und Größenwahn, sind gar verschiedene Dinge.

In den Augen der modernsten Wissenschaft bleibt vom Menschenthum nur übrig – ein boshafter Affe. Das ist falsch. Es giebt viele schlechte Kerle, deren Lebensgenuß im Bösen besteht, wäre es auch nur im bösen Maul, das jedes Edle und Große zu ihrem eigenen Niveau herabzerrt. Allein, es mangelt auch nicht an gutartigen Naturen, deren Egoismus, diese natürliche Spiralfeder aller Dinge, sich liebevoll sänftigt und allem Lebenden freundlich gegenüber tritt. Traurig genug, daß die klare Erkenntniß, nur Selbstlosigkeit bedinge das wahre Glück, den dämonischen Trieb zur Selbstsucht auch beim Weisesten und Besten nicht zu brechen vermag.

Häufig kann die gemüthloseste Streberei und wüthendste Eitelkeit entschuldigt werden durch die unglücklichen Verhältnisse eines von der Natur stiefmütterlich Behandelten oder von den Menschen Mißhandelten, dessen Energie sich an Natur und Menschen zu rächen sucht. Dies gelingt freilich um so leichter, als die Menschen, soweit es ihre eigene Selbstsucht erlaubt, selten der Bonhomie entbehren und gern einem fleißig Ringenden Raum gönnen, – ohne die Misanthropie eines solchen nervösen Irren durch dies Entgegenkommen zu ändern.

Allein, wenn die Menschen auch keineswegs der guten Instinkte entbehren, so mangelt ihnen dafür gänzlich der ideale Instinkt. Man kann ein guter Mensch sein und doch unheilbar in alles Materielle verstrickt bleiben, wodurch denn zuguterletzt auch nur selbstsüchtige Motive entstehen. Man kann ein böser despotischer Mensch sein und doch sich zum Idealen erheben, wodurch denn trotzalledem eine allgemeine Immaterialität, also Selbstlosigkeit, sich erzeugt. Aus diesem Grunde verwirft der bärbeißige Carlyle alle sogenannte Philantropie. Der finstre Dante, als er einsam die Divina Comedia für die Menschheit schrieb, habe eine viel wichtigere Philantropie geübt.

Aber gerade diesen Standpunkt wird die Alltagsherde nie verstehen und nie begreifen, daß ein dem Idealen geweihtes Wesen, dazu bestimmt, dem unirdischen Reich des Ewigen zahllose neue Jünger zu gewinnen, gänzlich außerhalb der gewöhnlichen Alltagsgesetze steht. Denn das wahre Sittengesetz wird es ja ohnehin nie verletzen. Weil etwa Leute sich einer sogenannten Wohlthätigkeit befleißigen, was denn auch auf ihr sonstiges Interessen-Kerbholz von der gläubigen Welt angekreidet wird, bewiesen sie noch keineswegs ihr Freisein von der Knechtschaft des starren Ich. Aber ein Mensch, dessen Geist sich unmateriellen Sphären völlig ergab und sein ganzes Sein auf idealen Zielen aufbaute, muß innerlich frei sein von allen Schranken der Sinnenwelt, bleibt daher jeder wahren Ichsucht fern, selbst wenn er seine Mitmenschen als bloße Zahlen behandelt oder gleichgültig ihre verächtlichen Leiden und Freuden flieht.

Mit überwachtem überarbeitetem Gehirn wanderte der Graf eines Morgens bei Tagesanbruch hinaus, weit hinaus über Feld, dem nächsten Bergwalde zu.

Die Sonne tauchte hinter den smaragdgrünen Baumwipfeln hervor. Eine schmeichelnde Wärme rieselte wollüstig durch alle Poren der Lebewesen. Von leisem Windhauch geläutet, schwangen sich die Blüthenglöckchen der Zweige hin und her und überschütteten die Vorübergehenden mit feinem silbernem Sprühregen.

Wie ein Lämmlein mit Rosaband und Glöckchen, sprang hier der rosenbestandene Bach dahin, kletterte über Felsenkniee, wälzte sich in der Blumenau und ließ seine glockenhelle Melodie ertönen. Aber die Rosen waren jetzt verwelkt und welke Blätter raschelten umher, Vorboten der weißen Schneebienen des Winters. Wie ein Adler, der noch auf höchster Firne rastet, ehe er ins Reich der Wolken strebt, – schien die Sonne noch mit dem ersten Glühen ihrer Schwingen auf den Giebeln der Felsburgen zu rasten.

Die Landleute begannen eben ihre Arbeit.

Heiliger nährender Opferdienst der Erde! Der alten vergessenen Natur rettendes Sinnbild bist du, o Pflug, der willige Aecker durchfurcht! Zufrieden, wenn man die Frucht eurer Mühen euch mit kargem Lohne zahlt, verachtet ihr den hohlen Prunk der Städte, ihr Pflüger mit schwieliger Faust und sonnerbrannter Stirn!

Droben in der lichten Bläue und über den Feldern tirilirte es. Wie eine klanggewobene Jakobsleiter stieg vielstimmiger Vogelsang himmelan und himmelherab. Unbewußt sang seine Seele mit in rhythmischen Lauten:

Lerche, aus Wolken schwang sich an mein Ohr dein Sang! Liebe beseelt ihn und hat ihn gelehrt! Gießt wie ein Sonnenstrahl Licht über Berg und Thal! Dein Lied lebt im Himmel, dein Lieb auf der Erd! Hoch über Wald und Moor, Wiese und Dorf empor, über der Morgensonne Erglühn, über der Wolke Rand, des Regenbogens Band, Herold des Tages, hinflatterst du kühn!

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Er warf sich ins Gras und lauschte dem schrillen Zirpen der Grasmücken und dem Vogelzwitschern in den Fichtenzweigen. Ein Paroxismus knabenhafter Sehnsucht, eine mystische Brunst, befiel seine Künstlernatur. Er zerriß die keuschen Gräser mit den Zähnen, und schlürfte den Thau vom jungen Kleeblatt, wie trunken von corybantischer Attis-Begier. Er hätte, ein neuer Pygmalion, den Fels umarmen mögen, aber der blieb kalt, todt, steinern. Unwillkürlich umschlang er den Baum, unter dem er lag, aber dessen Rinde blieb trocken und starr und die Tropfen des Fichtenherzes, die aus den dürren Spalten quollen, waren kein warmes Blut, keine Thränen der Gegenliebe. Die Weltkraft, die alles durchdringt und besiegt, hätte er leibhaftig ans Herz reißen und mit ihr ringen mögen, Herr werdend durch der Liebe Riesenwollust.

Tief unten im Grunde dufteten die Blüthen. Geister des Friedens entstiegen den Kelchen. Aus Felsenspalt entströmte leise, wehmüthig lispelnd, des Wildbachs Helle. Ach, brach nicht, wälzend die Welle der Thränen, aus seinem Herzen der Bach Erinnerung?

So weit sein Auge gen Himmel starrte, unendliche Wälder, felsenbeschattet. Erschauernd sank er ins Riedgras nieder, über ihn rollten die weichen Wogen. Rings abgeschlossen! Kein Pfad der Hülfe! Da – fern vom Gipfel winkte ein – Kreuz.

Ein Kreuz – wiederum durchzuckte es den einsamen Mann. Memento mori! Sollte er nicht Ernst machen mit der Entsagung des Lebens?

Wieder tönten Leonharts Worte in ihm wieder, daß nur im Kloster das Glück wohne.

Aber für wen? Doch für den Gläubigen? War er denn gläubig? O nein, wie lange entwich ihm der kindliche Glaube der Väter! Nicht ihm blieb jene Erlösungssehnsucht, die aus den Wunden Christi mit mystischer Brunst die Gewißheit ewigen Lebens schlürft.

Er erinnerte sich jenes Gespräches über Semiten-und Christenthum, das sie einst geführt. Einen semitischen Cultus hatte Leonhart den Katholicismus genannt, ohne aber eine Begründung zu geben, indem er zu der These absprang, daß in seiner ersten Gestalt das Christenthum rein arisch gewesen sei. Jetzt glaubte Krastinik jene Andeutung zu verstehn. Die indisch-baktrischen und griechischen Elemente der christlichen Kirche hatten sich im Orient erhalten, als byzantinische Kirche ausartend, als Arianismus sich reiner ausbildend, indem die Menschlichkeit Christi festgehalten wurde. Gerade auf den römischen Bischof aber hatten sich die jüdischen Zusatzmischungen übertragen und fortgemodelt: Ein selbstsüchtig ausschließender Jehova-Cultus, eine Intoleranz pharisäischer Selbstgerechtigkeit. So entfernte sich die christliche Kirche unter der Hohepriester-Hierarchie Roms immer weiter von ihrer demokratischen Form communistischer Gemeinden und bildete sich zu einer groß artigen Staatskirche aus, welche alles geistige Leben mit unentrinnbarem Netz umstrickte und in ihren Dienst zwang. So mußte roher Gesetzesglaube und selbstgerechte Werkheiligkeit das echt jüdische Wesen dieser neuen katholischen Religion bestimmen. Nur eins blieb demokratisch in diesem blinden Staatscultus starrer Autorität: Die Gegenüberstellung der Geisteskraft wider das rohe Ritterthum und die physische Allmacht des Feudalsystems, hier wo jeder Bauer es bis zum Papste, zum Oberhirten der Christenheit, bringen konnte, gleich dem Zertrümmerer der irdischen Staatsgewalt, dem großen Gregor.

Aber diese Zeiten sind lange dahin. Dies unsterbliche historische Verdienst der römischen Kirche, neben welcher der Protestantismus als ein zwerghafter Parvenü erscheint, liegt seit Jahrhunderten in andern Händen – denen eines neuen Kirchenordens, dessen Werkzeug die Feder, dessen Wunderbeglaubigung das Wissen.

Kirche, Religion! Was für leere Worte heut, Gespenster längst entschwundener Wesenheiten!

Wir glauben all an einen Gott – an das Gold und das Ich.

»Ich« heißt der Dämon, welcher heut die Welt zu einer großen Irrenanstalt verengt. Dieser Geist der All-Verneinung und Ich-Vergötzung ist der Geist des Widerspruchs und der Lästerung, dessen jammervollem Wahnsinn man schweigend wie dem Größenwahn eines Irren nachgeben muß. Und dieser Götzendienst empfängt seinen stärksten Giftstoff aus der Kirche, dieser Brutstätte der Selbstheiligkeit.

Unfehlbarkeitsdogma! Dies sündhafte Vermessen einer sclavischen Selbstanbetung, der Größenwahn eines Ich-Sclaven (und welch ein sündiges Ich gerade dieses!), um den Größenwahn der sclavischen Thorenmenge wider die »Ketzerei« höherer Gesittung noch mehr zu stacheln! Ja, das Unfehlbarkeitsdogma fehlte gerade noch, um den unheilbaren Größenwahn dieser Fortschritt-Epoche zu brandmarken. – –

Nein, das »Kreuz« konnte einen Mann wie diesen nicht mehr erretten, nicht das Kreuz der Kirche. Doch vielleicht ein anderes? Das Kreuz, welches wir alle tragen? –

Er sann und sann – – –

Ist der Tod nur ein Durchgang, ein Isthmus zweier Ewigkeiten, so wäre der Tod, vor dem wir schaudern, minder schreckhaft als dies Dasein, das wie ein Wolkenschatten dahingleitet im unermeßlichen Raum. Aefft uns der Tod wie das Leben, dies Marionettenspiel? Und das All um uns her – ist das fest? Schwanken nicht seine Grundpfeiler, verschwimmt nicht alles ineinander, ist es am Ende auch nur eine Vision der getäuschten Sinne, eine Wüstenmirage geblendeter Augen, eine Wahnvorstellung?

Wenn aber das Dasein und die Natur unwirklich, – was bin denn ich als Ich und was ist Gott? In ihm leben, weben und sind wir. Auch nur eine Vorstellung? Ist er doch überall. Mein Ich und Gott – verschwimmt das auch ineinander?

Oder sind Natur und Gott ein Gegensatz? Entstand die Welt, indem Gott sich selbst verlor? Und wenn so Göttliches von Gott abfiel, soll es zu ihm zurückkehren? Oder stieg aus dunkeln Urtiefen der Gotteskeim selber empor, so daß Gott nichts ist, als die Spitze und Frucht der Natur?

Und wie stehen wir selbst zu diesen großen Gewalten? Hängen wir mit Gott zusammen, so dienen wir nur als niederes Gefäß seiner Gnade. Das heißt dann Christenthum. Wie, ich Mensch, der ich nichts der göttlichen Gnade verdanke? dessen Gedanke nichts ist, als der Sohn meiner eigenen Arbeit?

Und der Pantheismus löscht mich vollends aus. Da bin ich nur ein ärmlich Mittel des Naturzwecks. Wie, ich, in meiner stolzen Naturbeherrschung?

Wohl lehrt mich Darwin, daß ich nur ein Naturprodukt meiner Ahnen. Gleichviel. Ich bilde fremde Samenkeime mit meinem freien Willen zur neuen selbstständigen Pflanze aus. Und wäre selbst die Seelenwanderung des Welträthsels Lösung, so bliebe es doch nur immer dasselbe untheilbare Ingenium, das sich rastlos im Kreis der Dinge eine Heimstätte sucht.

So sind wir denn selbst die Ewigkeit? Selbst die göttliche Idee? Der Gott der Welt ist der menschliche Wille.

Und wenn es nun ein böser Wille? Das Geheimniß der Prinzipien von Gut und Bös besteht in ihrer Zusammengehörigkeit. Alles ist Instinkt, Selbstaufopferung so gut wie krassester Egoismus. Böse ist nur die Nichterfüllung des eigenen Willens. Der menschliche Genius, der im Kampf mit zahllosen Schwierigkeiten seine fortzeugenden Werke leistet, scheint an sich viel größer, als die einmalige Naturschöpfung der allmächtigen Centralkraft.

Ja, so mag des Menschen berechtigter Größenwahn wohl urtheilen. Nichts erbärmlicher und nichts bewunderungswürdiger, als der Mensch. So dachte gewiß auch Kain, der erste Haderer wider Jehova. Als er nun aber den Tod in die Welt gebracht, da sagte ihm dröhnend die innere Stimme: Das ist ein Riß durch die Natur, das ist Schuld.

Er wußte bisher nur, daß er war, jetzt erfuhr er, daß er etwas solle – denn er fühlte, was er nicht solle. Woher? Von wannen kam ihm diese Wissenschaft? Aus dem Innern? Wer schrieb's dort ein? Er sich selber? Seit wann denn? Erst seit heute, wo er schuldig geworden? Nein, es mußte ihm schon eingeboren gewesen sein. Es giebt also eine höhere moralische Ordnung außer uns und über uns.

Hör' auf, dein starres Ich zu behaupten, Niemandem unterthan, in dich selber ein wärts deinen Pfad zu bohren!

Tödte den Willen ab! Selbst ein idealer Wille verstrickt dich in Schuld. »Soll ich denn meines Bruders Hüter sein?« Heuchlerische Frage! Du fühlst ja, daß du es sollst.

In der Friedlosigkeit des Schuldbewußtseins fühle du den Frieden der Erlösungssehnsucht! In dem Schmerze der Schuld wird die Last der Verantwortlichkeit von dir genommen, die den souverainen Willen bedrückt. Nicht länger fühlst du dich verpflichtet, als höchste Erscheinungsform der göttlichen Idee zu gelten. Die Demuth deiner Schuld beugt dich freudig unter die Erkenntniß einer über den Dingen stehenden Centralkraft, der sich auch der Größte willenlos zu unterwerfen hat.

Jeder ist schuldig, auch du trage dein Kainsmal, denn auch du hast deinen Bruder gehaßt und dich selbst geliebt. Aber trage es ruhig und stolz, ohne Trotz, ohne unnütze Reue! Gehe hin und sündige nicht mehr!

Wie so anders erscheint das Räthsel des Lebens dem Manne, der liebte und lernte und litt! Eine grause Gabe ist das Teleskop der Wahrheit, das alle Erscheinungen verwischt und nur Schein sieht, wo die frische Hoffnung einst im Sein geschwelgt. Die Gedanken und Gefühle des Menschen bilden für sich ein Epos vom heiligen Gral.

Wie frohgemuth sitzen sie erst beieinander, gleich König Artus' Tafelrunde. Die Welt ist ihnen ein Bilderbuch voll Farben und Ideen und aus den Hieroglyphen der Weltgeschichte liest sie den klarsten Sinn. Lancelot vom See, die kühne Abenteurerlust, erfaßt die Natur mit ungebrochener Jugendlust. Tristan und Isolde finden sich in sinnlicher Leidenschaft, begehrungssüchtig und subjectiv, Parzival's Venuswunden heilen von selbst in sentimentaler Schwärmerei. Wohl tritt dann die wirkliche Leidenschaft verderblich in den Kreis, wie Ginevra, die königlich stolze, aber auch sie zerrinnt in resignirte Wehmuth. Da naht Merlin, die philosophische Auffassung der Welt, und wühlende Reflexion vernichtet die Schaffensfreude. Fey Maglore von der schwarzen Klippe, die Feindin Ginevras, lockt in ihren Bann und abgegohrene Liebessymptome verlieren sich allmählich in blasirte cynische Selbstverspottung. Kay der Seneschall regelt mit kalt kritischer Ironie die Dinge. Nach den Enttäuschungen der scheinbaren äußerlichen Erfahrung entsagt der Geist dem Behagen am fabulirenden Bilderreichthum der Wirklichkeit in erlogener Ruhe. Aus realistischem Arbeitstrieb keimt der Hochmuth eines gleichgültigen Materialismus. Doch der ungestillte Trieb nach idealer Erlösung und festerem Lebenshalt ringt nach Befreiung, der wunde Titurel harrt auf das erlösende Wort des Grals.

Wer aber Avillion finden will, das Eiland der Seligen, der muß wählen Frieden durch den Kampf, Ruhe im Sturm. Da klärt sich des rüthselvollen Menschenlebens letzter Schluß, daß nur liebevolle Versenkung ins Allgemeine aus liebloser Einsamkeit erlöst. Nur Liebe für die Idee, nur Streben nach einem Ideal, nur dies macht theilhaftig des heiligen Gral, begräbt den Titurel des ringenden Ichs und krönt Parzival's Irren und Leiden.

Die Seele, welche gelernt auf sich selbst allein zu bauen, in sich selbst ihre Stärke zu suchen – die Sporen des Hasses, der Verzweiflung, der Menschenverachtung hetzen und zerfleischen sie nicht mehr. Menschenverachtung sollte immer bei sich selbst anfangen. Menschenverachtung, die ja doch die Menschen braucht – allerdings nur als Sclaven und Beifallskatscher, aber doch immer braucht.

Nicht länger beneidet die genesene Seele den Flitterkram äußerlicher Lüste. Durch den feurigen Ofen hindurchgegangen, abschmelzend die Schlacken gemeinerer Selbstsucht, wurde sie kalter biegsamer Stahl. Jetzt ist sie zum Ritter geschlagen d.h. zum freien Manne. Wer die Menschen nicht bedarf, trägt auch nicht ihre Ketten. Nur wer sie nicht braucht, liebt die Menschen aus selbstbeglückender Sympathie, aus erhabenem Mitleid Aller für Alle. Nur das ist der wahre »Weg zur Freiheit.«

Aber nur die alte Erzeugerin und Erhalterin der Weltgesetze, Eros und Anteros die großen Gewalten, nur die Liebe erlöst. Und Liebe ist, langmüthig, sie hadert nicht, sie beugt ihren Willen unter den der andern, unter den höheren Willen des Ideals, wie es eingeschrieben in des Menschen Gewissen. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach; Liebe allein macht stark, indem sie das schwache Ich demüthig dem starken Allsein vermählt.

Vom Ganges her rauscht aus Palmen und Lotoskelchen des Büßers Braminenlied: Wer störungsfrei, begehrungsfrei zum andern Ufer hingelangt, wer nichts zu eigen haben will, der nenne Buddha's Jünger sich.

Aber ist Freisein von Leidenschaften nicht ein widernatürliches Unding? Nur für das entnervende Klima Indiens könnte das passen. Nicht die Verneinung, sondern die Verstärkung des Willens hat den rastlosen Vorwärtsdrang unsrer Civilisation ermöglicht. Den Willen brechen heißt eine Tugend empfehlen, die keine Tugend ist. Es gilt vielmehr, die Leidenschaft auf geistige Ziele mit der gleichen dämonischen Stärke hinzulenken, mit welcher der gewöhnliche Mensch sinnliche Ziele erstrebt. Haß gegen das Schlechte ist eine glückbringende Leidenschaft.

Aber durch Erkenntniß unsrer eignen Unvollkommenheit sollte Mitleid mit fremder Unvollkommenheit in uns erwachen. Dies Mitleid hat jenem Todten gefehlt. Wohl berechtigte ihn sein Geistesstolz zu einem Gefühl überlegener Selbstabsonderung. Aber nie schmolz seine Härte in der weisen Demuth, welche die Untheilbarkeit alles Seins erkennt. Verrichtete nicht darum der Heiland an seinen Jüngern niedere Dienste? »So nun Ich, euer Herr und Meister, euch die Füße wusch, so sollt ihr auch euch untereinander die Füße waschen.« Und sprach Er nicht die abgrundtiefen Worte – – hier, hier stehts: Ev. Joh. 14, 12 –: »Wer an mich glaubt, der wird ebenso große Werke thun wie ich, ja wird größere thun als ich.« Besagt doch diese Ablehnung persönlicher Alleingeltung klar genug, daß nicht die Person des Gottmenschen, sondern sein Prinzip das ewig Zeugende vorstellt, dessen Wirkung sich in stetiger Evolution vererbt. Nach ihm werden noch Zahllose gekreuzigt und zahllose Wunder geschehn. Der eine Opfertod eines sündenlosen Menschen ist die Quelle alles Lebens in Ewigkeit. Denn er stellt das einzig Feste, Unvergängliche dar, an das sich der Glaube zu klammern vermag. Und nur der Glaube an das Ideale hat erlösende Kraft.

Noch höher aber als den Glauben stellt das Christenthum die Güte des Unbewußten, die freie ursprüngliche selbstgeringachtende Liebe, ohne welche dem Apostel alles »klingendes Erz und tönende Schelle« erscheint. Ja, unter den Pharisäern befanden sich gewiß viele hochmoralische Werktagsheilige. Aber ein Gedanke wahrhafter Reue wiegt vor dem Richterstuhl der ewigen Liebe alle Sünden auf, während die eitle lieblose Gewohnheitstugend sich niemals selbst erlöst und ewig schmachtet in den Fesseln des kleinlichen Ich.

Dies Mitleid, diese Demuth, dieser Glaube und diese Liebe bleiben nie passiv, nie Stagnation des Willens, sondern schöpfen ihre Kraft aus werkthätiger Begeisterung, wie da geschrieben steht: »Nun ist des Menschen Sohn verklärt und Gott ist verklärt in ihm.« Der Begriff von der Einheit alles Seins, des Irdischen und Ueberirdischen, welcher dämmernd im menschlichen Gemüthe schlummert, ist hier Wahrheit und Klarheit geworden – »mit der Klarheit, die ich bei Gott hatte, ehe denn die Welt war.« (Ev. Joh. 17, 5.)

So besiegt das Christenthum den Pessimismus durch den Pessimismus. So wird sich ewig der Mensch selbst erlösen müssen im Kampfe mit der Welt. Wer sich an den Abgründen des Lebens scheu vorüberdrückt, wird nie die wahre Bestimmung des Menschen erkennen. Der wirkliche Idealist wird jeden Pessimismus abweisen, eingedenk der Worte: »So euch die Welt hasset, so wisset, daß sie Mich vor euch gehasset hat.« Dem erlösten Geiste kommt »die Gemeinschaft der Heiligen«, die Verbindung, mit allen großen und guten Geistern der Vergangenheit und der Mitgenuß all ihres geistigen Schaffens. Das ist eine Erhebung der Seele, welche jeden irdischen Schmerz unter die Füße tritt. Das ist der Tröster, von dem der Erlöser kündet: »Ich will euch einen andern Tröster geben, daß er bei euch bleibe ewiglich: Den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht kann empfangen, denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht. Ihr aber kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein.«

Wohl fühlte der große Todte in sich jene Geistesstimme, von der es heißt in den Römerbriefen Pauli: »Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, daß ihr euch fürchten müßtet. Derselbe Geist giebt Zeugniß unserm Geist, daß wir Gottes Kinder sind.«

Doch weil Leonharts Herz, ursprünglich reich an Güte und Wohlwollen, sich aus Verbitterung in starre Selbstsucht krampfhaft zusammenzog, hörte er nicht die Erlöserstimme: »Wer immer mich liebt, den werde ich lieben und mich ihm offenbaren.« Ihm aber, der zum erstenmal seit Kindertagen wieder die Bibel las, dem weltfremden Gottsucher offenbarte sich Gott.

Alles was in der Welt eintrifft, hat sein Zeichen, das ihm vorhergeht. Die zahllosen verschiedenen Ideen, die verworren durcheinander murren, sind Vorzeichen einer ungeheuren Bewegung.

Er dachte an Lamennais' »Worte des Glaubens« (Leonhart hatte ihm einst dies Buch geschenkt): »Junger Soldat, wohin gehst Du? Gehe streiten, daß alle einen Gott auf Erden und im Himmel haben.«

Alle einen Gott, alle, die so verschiedenen Stammes? Ja, nur die Masse, das Allgemeine vermag zu siegen. Wer würde das Stimmchen der vielen armen unmerkbaren Geschöpfe hören, wenn im Frühling ein Summen den Wiesen entsteigt? Unzählbare Laute sind es, die sich hier vereinen – einzeln würde keins von ihnen gehört werden – doch, alle vereint, machen sie sich vernehmlich weithin über die Erde, als unartikulirte Allstimme der Lebenskraft.

Was vermag der Einzelne heut? Weniger denn je! Wer darf aber gar über Leiden klagen, ohne daß seine Tugenden ihm ein Recht dazu geben? Schon in der Uebergangsepoche der Childe Harold-Wertherzeit mahnt Chataubriand seinen René: »Wer Kräfte empfing, soll sie dem Dienst der Menschheit weihen.«

Der sogenannte Weltschmerz kann nur enden mit Selbstüberwindung in vornehmkalter Abgeschlossenheit und prometheischem Selbstgenügen. Aber edler als die wollüstige Todessehnsucht des Pantheismus ist die freudige Lebensertragung, welche das quälende Ich abschüttelt und durch allumfassende Liebe ins Unendliche erweitert. Die rauschendste Melodie auf der Aeolsharfe der Empfindung wird stets das vaterländische, das Stammgefühl entlocken. Aus dem zerfahrenen Kosmopolitismus der ästhetischen und pessimistischen Weltanschauung erhebt sich der Geist, von der Naturbetrachtung sich der Geschichtsbetrachtung zuwendend, zu der Erkenntniß des Nationalbewußtseins. Da gewinnt die rauhe Wirklichkeit einen gesunderen Reiz, als Schönheitskultus ihn bieten kann; da wandelt sich der Schauder vor der ehernen Nothwendigkeit in ein stolzes Wohlgefühl: Getragen zu werden von dem ewigen Wirbel des Weltenrades, das Jeden als Atom des Allgemeinen zu seiner Bestimmung fortreißt.

Das trotzige unselige Ich, das auf sich allein gestellt die Welt umfassen möchte und von der Last dieser selbstaufgelegten Mission erdrückt ward, erkennt sich jetzt freudig als unterthan höheren Gesetzen. Die Ideen »Volk« und »Vaterland« bieten den wahren Schlüssel zum Verständniß des Einzellebens. Die Eitelkeit des Persönlichen zerrinnt so in den Stolz des Patriotismus, die Selbstsucht des Einzelnen überwindet sich leicht zu Nutzen und Ruhm der Rassenselbstsucht. Diese Weltanschauung schreitet zu wahrer Selbsterfüllung vor, sie bildet den verengten innersten Kreis nach all den weitausgreifenden Wirbeln des jugendlichen Idealismus.

VIII.

Und Krastinik schaute umher von dem Schloß seiner Väter über das Bergland zu seinen Füßen.

»In dem Burzenland ist's immer schön,« singt ein Volkslied über das Waldland, das sich um Kronstadt erstreckt. Das wußte ja schon der deutsche Orden, der bei seiner Übersiedelung nach Europa zuerst im Siebenbürgener Burzenlande seine Zelte aufschlug. Die von ihm gegründeten sieben Burgen sollen dem Lande Transsylvanien seinen neuen Namen gegeben haben. Noch jetzt ragen sieben solcher Burgen des Deutschthums im Lande: Hermannstadt, Kronstadt, Schäßburg, Mediasch, Bistritz, Reps und Broos. Von den alten Burgen des Ordens aber stehen noch gar viele im Burzenlande. Die Heldenburg, die Zeidener, die Tartlauer, die Rosenauer, die Törzburg, die Marienburg. Wer denkt hier nicht an die Residenz des Ordensstaates in Preußen, wohin die kühnen Kämpen von hier aus zogen? So schlingt sich denn ein geheimnißvolles Band um die Errichtung zugleich Preußens und Siebenbürgens, der nordöstlichen und südöstlichen Mark des deutschen Imperiums.

»Ins Ostland wollen wir reiten,« klingt das alte sächsische Auswandererlied aus dem 12. Jahrhundert herüber. Dieser Zug gen Osten gewann dem Deutschthum nacheinander die Elbgrenze, die Donau, die Oder, die Weichsel. Diesem Zug gen Osten verdankte das alte Deutsche Reich seine Weltherrschaft und ihn muß es wieder aufnehmen, will es die alte Obmacht wieder erneuen. Nicht ohne tiefste Bedeutung besingt das deutsche Nationalepos den Ritt ins Hunnenland. Die Hunnen dehnen sich weithin von Donau und Theiß zu Don und Wolga und die einst geladenen Nibelungengäste, die deutschen Kolonieen, drohte, wie abgerissene schwache Reiser der großen Walsereiche, die wüste hunnische Sintfluth zu verschlingen.

Wer kennt nicht jenen hehren Gesang, wo in der Seele des deutschen Mannesideals Rüdiger von Bechlaren der Conflikt widerstreitender Pflichten tobt? Die Deutschen sind seine Freunde und Blutsverwandten, an den Hunnenkönig bindet ihn der Treueid seiner Loyalität Wird Rüdiger noch immer der Deutschenfeindin Krimhild, der Zarin aus deutschem Blut, zu Willen bleiben? Heut ist wohl der Markgraf ein klügerer Mann.

Überwältigend stieg die geistige Weltherrschaft der deutschen Raçe vor der Betrachtung des ungarischen Grafen empor. Wo wäre nicht deutsche Erde? Wie der Römer allüberall auf deutschem Boden stand, so tritt der Deutsche, wo es auch sei, nur einen Boden, den er mit seinem Blut getauft und mit seiner Cultur gedüngt hat.

Die Krastinik's stammten ursprünglich aus Mähren, wie ihr slavischer Name verrieth. Erst im 18. Jahrhundert waren sie durch eine Erbheirath siebenbürgische Magnaten geworden und so allmählich ganz ins Ungarische übergegangen. Dagegen kreuzte sich dies slavisch-magyarische Blut fortwährend mit deutschen, da die Hälfte der Stammmütter dem deutsch-österreichischen Adel angehörte. Auch Xaver's Mutter war eine Deutsche gewesen. Jetzt erst verstand er, daß in seiner ganzen schwerflüssigen Art das deutsche Element überwog. Daher auch sein rasches Einleben in deutsches Wesen. Darum auch vor allem jetzt der mächtige Trieb einer Stammeszugehörigkeit, der in ihm durch Bewunderung deutscher Kraft erwachte. Dies Deutsche Reich – schien es nicht der einzige feste Punkt in der Erscheinungen Flucht? Alles wankte und splitterte. Im Westen in Frankreich und England, Anarchie. Im Osten Panslavismus und Nihilismus. In Deutschland allein das Positive allem Negativen trotzend.

Ja, die große Sündfluth an allen Enden. Der Panslavismus will sein Ziel erreichen um jeden Preis, entweder mit dem Zaren oder ohne ihn. Und siegt er, so springt der Zarismus doch. Denn alles arbeitet im Westen wie im Osten nur einem Ziel entgegen: der Auflösung aller bestehenden Gesellschaftsformen. Alle Anzeichen sind dieselben wie vor der Großen Revolution. Barbarei lauert aller Enden, den morschen Culturbestand zu vernichten.

Um Deutschland muß sich zusammenschließen, was noch auf eine glückliche organische Entwicklung hofft. Nur Deutschland besitzt die unverbrauchte Kraft, sich aus eigener Initiative innerlich aus den Schäden der gegenwärtigen Gesellschaftsbildungen emporzuläutern und aus der häßlichen Puppe dieses Uebergangsstadiums den beschwingten Schmetterling eines neuen Freiheitsbegriffs loszulösen.

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Jetzt hatte er ein unpersönliches Ideal gefunden, das eine wesenhafte Realität vorstellte. In der freudigen Erleuchtung dieser seelischen Entdeckung aber erkannte er zugleich, wie die Uebertreibung seiner berechtigten Auflehnung gegen sein früheres persönliches Ideal ihn wiederum in Ungerechtigkeit verstrickte. Die krankhafte Reizbarkeit, schwächliche Verbitterung und selbstische Ich-Begeisterung Leonharts wurde vollauf erklärt durch die chemische Zusammensetzung seiner Natur und durch die geologische Lage seiner äußeren Lebensverhältnisse, beide unter die Einwirkung der Elektricität einer geistigen galvanischen Strömung gebracht.

Wie gewöhnlich bot sich auch jetzt ein unerquicklichstes Schauspiel, das jeden ernsten Diener der Wahrheit, der bedächtig ein gerechtes Urtheil zu schöpfen sich müht, am tiefsten verletzt. Nur von persönlich gehässigem oder Parteistandpunkt aus wurde nunmehr, nachdem endlich über die »Affaire Leonhart« genug Lügengras gewachsen und der in den Tod Gejagte nach beliebter Taktik gegen seine überlebenden Rivalen als »Klassiker« ausgespielt war, das gegnerische Urtheil laut. Da hatte bald Der bald Jener irgend eine Mordsgeschichte aufzutischen. Theodosius Drollinguère (er hatte seinen Namen nun glücklich gallificirt, auf daß seine französischen Freunde ihn besser aussprechen lernten) brachte einen Artikel in seinem Wochenblättchen »Die Wahrheit über F. Leonhart«, worin er Denselben der ostentativen bewußten Verrücktheit zieh. Doch war er zu feige, sein »D.« darunterzusetzen und verschanzte sich hinter ein »B.«, das Zeichen seines Substituts. Dieser Mann hieß Bullerich. Ein schöner Name.

Mit polypenhafter Geschmeidigkeit umkrallte hier der bedächtige Drollinguère sein Opfer. Da derselbe sich nicht mehr wehren konnte und keine Angehörigen hinterließ, welche etwa Strafantrag stellen durften, so gestattete sich Theodosius sogar den Luxus persönlicher Verdächtigung. Leonhart sei ein gesinnungsloser Mensch gewesen, mal liberal, mal conservativ, je nachdem seine Geschäfte es verlangten.

Krastinik kannte die Verhältnisse genau und wußte, daß der Dichter nie in irgend einer politischen Beziehung zu irgend einer Partei und irgend einem Blatte gestanden. Mit unwiderstehlicher Komik verlangen jedoch die jüdisch-liberalen Blätter, daß man, falls sie Honorar für Feuilletons oder Novellen zahlen, auch als liberaler Philosemit fungire; und bei den Conservativen steht die Sache gradeso. Leonhart hatte nie nur um Haaresbreite seine tiefen politischen Ueberzeugungen geändert und sich stets zum demokratischen Cäsarismus bekannt. Auch seine pangermanistischen Ziele hielt er unbeirrt im Auge, seine Verachtung der deutschen Kleinlichkeit und Philisterei verleugnete er nie. Demokratisch in seinen Anschauungen, verehrte er das Hohenzollernhaus aus historischer Erkenntniß und dankbarer patriotischer Pietät als glänzendsten Zeugen der Darwinischen Evolutionstheorie, als berufenstes, Talent und Charakter von Generation zu Generation vererbendes Herrschergeschlecht.

Die trostlose Unreife und Dummheit der Eintagsparteien vermag natürlich den inneren festen Zusammenhang solcher Auschauung nicht zu erfassen. Ein in der Wolle gefärbter Demokrat hat auf die Juden und das Plapperment und die liberale Presse zu schwören. Und was ein richtiger Conservativer ist, stimmt fröhlich durch Dick und Dünn mit Gott für König und Vaterland – für Vermehrung der stehenden Heere, Schutzpatent des Militairdünkels und des Kastengeistes, Muckerchristenthum, Feudalrechte und allerunterthänigsten Servilismus. Darum warnte ein christlich socialer Bonze vor diesem »verkappten rothen Revolutionär« und Dr. Bergmann von der »Tagesstimme« vor diesem »opportunistischen Streber«, der naiv genug gewesen, »Majestätsbeleidigungen gegen Schiller und Die dulde Ich nicht« zu äußern und den antisemitischen Dichter Dr. Adler zu loben, während er Feuilleton-Honorare von der freiheitsdurstigen »Tagesstimme« bezog!!

»The consequence is: beign of no party, I shall offend all parties«, citirte Leonhart achselzuckend aus Byron, wenn auf solch angebliche Widersprüche die Rede kam.

Aehnlich verhielt es sich mit den Vorwürfen gegen seinen grellen Hohn und sein »boshaftes Schimpfen«. Krastinik hatte ihn über jeden einzelnen Fall interpellirt und wußte aus vorgelegten Dokumenten am besten, daß Leonhart stets der zuerst Angegriffene gewesen war. Schon sein wohlwollendes Gemüth verbot ihm, Andere zu schädigen. Reizte man ihn freilich, dann vergrößerte sich die momentane Entrüstung durch das verbitternde Bewußtsein seiner allgemeinen schiefen Lage und den allgemeinen Ekel gegen das rechtlose Weltgetriebe. Dann schlug er allerdings seine Krallen so furchtbar ein, daß man an der Klaue den Löwen erkannte. Wofür war er sonst ein Leu? Der Leon bleibt ein Leon, man kann ihn tödten, aber nicht ändern. Immer und immer wieder löste sich das Räthsel seiner plötzlichen Anfeindung der Menschen dadurch, daß die Anmaßung der Andern nie zu begreifen vermochte, daß er nicht wie ein andrer Gemeiner in Reih und Glied zu marschiren habe. Viel zu gutmüthig, um jemals Andere zu »drücken«, verletzte er doch jede windige Eitelkeit ohne es zu ahnen, gleich wie der sagenhafte Speer Ithuriels überall die Lüge und Schlechtigkeit aufdeckt. Man haßte ihn instinktiv. Er war so groß und dabei so cordial liebenswürdig, daß man ihn doppelt haßte. Später erst wurde er herb und schroff. Er, dem die Thränen in die Augen traten bei der Betrachtung jeder edeln Handlung, verhärtete sich zusehends und zwang sich gleichsam zu eisigem Egoismus.

Und fühlte Krastinik nicht, wie auch ihn mehr und mehr eine dumpfe Wuth gegen Lüge und Gemeinheit zu verzehren begann?

Mit voller Billigung dachte er jetzt an die höhnischen Glossen Leonharts über den heutigen Adel, welche er früher bestritten hatte. Mit verächtlichem Lächeln hielt er Umschau unter den edeln Standesgenossen des Nachbaradels, wo bereits über den »verrückten Sonderling« nicht wenig medisirt wurde.

Eher geht ein Kameel durch ein Nadelöhr, ehe daß ein Junker oder ein Jude sich bescheiden lernt. Die Katze läßt das Mausen nicht und die Abkömmlinge von Strauchdieben oder fürstlichen Maitressen nicht den Wahn des blauen Blutes.

Mag dieser elende »Adel« noch so sehr auf die Juden schimpfen, obschon bei manchem näselnden Gardelieutnant die mütterliche Abkunft schon gar nicht mehr verkannt werden kann, – unter dem Tisch waschen sich Juden und Junker allezeit die Hände. Daher sagt Disraeli sehr richtig im »Coningsby«: Die Juden seien wesentlich Torys. Denn der Semit dürstet nach »Vornehmheit« d.h. nach der äußeren Geltung derselben. Er beruhigt sich nur in seiner unersättlichen Eitelkeit, wenn er die übrige Welt zu seinen Füßen sieht. Daher zeigt er sich im Verkehr entweder selbstüberhebend dreist oder kriechend gegen den Mächtigeren, den er durch List besiegen möchte.

Diese dem Judenthume eingeborenen Fehler müssen nun mal aus seiner früheren Abhängigkeit entschuldigt werden. Haftet doch im Grunde den meisten Menschen das Snobthum an. Auch besitzen die Juden eine Menge vortrefflicher Eigenschaften, welche für ihre weltkluge Streberei entschädigen, und dies zersetzende Element übt sogar einen wohlthätigen Einfluß aus auf die deutsche Michelei. Daß die unduldsame Eitelkeit dieses auserwählten Volkes natürlich jedes freie Wort in dieser Sache verpönen möchte, scheint halt auch nur eine verzeihliche Empfindlichkeit historischer Rückerinnerung. Gegen die Juden an sich hat man nur einen berechtigten Vorwurf: daß sie geschickter im Kampf ums Dasein zu strebern wissen und wie alle Orientalen kaltblütiger (trotz scheinbarer aufgeregter Zappelei) ihr Ziel im Auge halten, als der sanguinisch nervöse Germane.

Aber wenn man an den Juden ihr protziges Snobthum tadeln möchte, so kann man dem sogenannten Adel oft nur uneingeschränkteste Verachtung widmen. Die Bauern auf dem Lande wissen ein Lied davon zu singen. Diese Junker unterstützen förmlich den Wucherer, auf daß er den produktiven Stand beraube. Sie verbinden sich mit Geschäftsleuten, ob Christen oder Juden, zu den schmutzigsten Gründungen und theilen den Raub mit ihnen; sie decken ihnen den Rücken, falls sie in Verlegenheit kommen.

Der selige Stroußberg, ein genialer Schwindler, nahm sich entschieden am auständigsten aus unter seinen hochvornehmen Compagnons, die er manchmal im Vorzimmer stundenlang bei Champagner warten ließ, weil er selbst ja diese schmutzigen Mit-Geldschinder der armen Leute als Müßiggänger verachtete. – Auf dem Lande haben die vielgeschmähten Juden immer versteckte Hintermänner, wenn es gilt, den Bauernstand zu untergraben. Dringt die Feudalaristokratie erst massenhaft in den Reichstag ein, so wird sie in geheimer Verbindung mit dem Jobberthum das Volk vollends zu Grunde richten. So werden die Produktivstände immer mehr ausgesogen und gedrückt, daher auch immer verbitterter. Während in den Städten die Socialdemokratie langsam und sicher vordringt, brütet auf dem Lande ein dumpfer Haß gegen diese conservativen Wappenschänder, die in den Plappermenten »verdammt schneidig, äh« ihre elenden Phrasen für Gott, König und Vaterland ableiern und daheim im Stillen ihre Procentchen berechnen. Die bodenlos gemeine Interessenpolitik der Parteien ruinirt systematisch, durch Concentrirung des Großkapitals in »Ringe«, das Bürger- und Bauernthum. Und dann wundern sich diese Blinden, wenn eines Tages ihnen das Haus überm Kopfe zusammenbirst, nachdem sie selbst seine unteren Grundpfeiler durchsägt. Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht. –

Der Adel nützt die Parvenü-Sehnsucht der Juden nach adligem Umgang natürlich nach Kräften auch in »idealen« Gebieten aus. Auch der edle vornehme Graf Fridolin v. Scheckwitz bewirthete auf seiner Villa am Tegernsee den zufällig dort zur Sommerfrische weilenden Chefredacteur der »Berliner Tagesstimme« nebst vier Adjutanten desselben, und fraternisirte mit denselben auf Du und Du, um einigen Reklamerecensionen in der »Berliner Tagesstimme« einzuheimsen. Eine davon schrieb sogar Scheckwitzens eigener Sekretär. Es geschah dies mit unzweifelhaft idealer Absicht, damit doch ja die Intentionen des Dichters richtig gewürdigt würden, und wer könnte dieselben wohl besser verstehen, als des Dichters eigener Famulus! – Wenn nun aber Scheckwitz, der jedem Adligen nachläuft und nur nach Umgang mit »Standesgenossen« giert und in gemeinstem Servilismus vor jeder Fürstlichkeit katzbuckelt, obschon er ultra-radikale Modeansichten in seinen Werken vertritt, und sogar unter durchsichtiger Maske seinen hochseligen Herrn satirisirte, um sich bei dessen Nachfolger einzuschmeicheln, – wenn nun aber Scheckwitz wegen seines intimen Villeggiatura-Verkehrs mit Doktor Bergmann von seinen »Standesgenossen« entsetzt interpellirt wurde: »Herr Gott, ich biett' Sie, Graf! Ein Mensch, der wegen Beleidigung des Fürsten Bismarck gesessen hat und sogar früher ausgewiesen wurde!« – dann warf er naiv hin: »Aber, liebste Comtesse, ich brauche diese Juden! Die Leute müssen halt über mich schreiben!« So spielte er sich den »Standesgenossen« gegenüber als »Dichter« und den Litteraten gegenüber als »Kammerherr Graf Scheckwitz« auf. – Die am wenigst vornehmen Naturen findet man in der sogenannten Aristokratie. Krastinik spie verächtlich aus in der Erinnerung an so manchen pöbelhaften Kriecher oder Stallknecht mit ellenlangem Stammbaum. Solche Burschen verkaufen ihren »Namen« an die Tochter eines Geldfürsten, hauen die verheirathete Jüdin aus germanischer Ritterlichkeit, bringen ihr ganzes Vermögen durch und lassen die etwaigen Söhne ihre Mutter »das Portemonnaie« nennen. So handelt man wahrhaft standesgemäß, wie es sich für einen solchen Stand frecher Nichtsthuer im Größenwahn ihres Nichts am besten schickt.

Die Juden, dies älteste Junkerthum Europas als geschlossene Kaste, sind eigentlich ideologisch-revolutionär angelegt. Darum nennt Renan die hebräischen Propheten mit Recht als Stammväter des Socialismus und Nihilismus. Die Juden stehen den Griechen ebenbürtig zur Seite. Bald siegt der Rationalismus des Hellenenthums, bald der düstre Pessimismus des Judenthums, das sich theilweise in Christi Lehre fortsetzt, In den Juden, einem kräftigen, unterdrückten Volke, lebt ein heißer Sinn für soziale Gerechtigkeit. Sie schufen sich einen eifrigen strengen Gott. Fiat justitia, pereat mundus! Besser, die Welt geht zu Grunde, als das sie ohne Gerechtigkeit fortbesteht. Heut freilich hat der alles zersetzende Zeitgeist auch die Juden so depravirt, daß sie sogar den eigenthümlichen Größenwahn ihrer Race, immerhin ein Zeichen von Kraft, einbüßten. Sie schämen sich ihrer Väter und verachten den jüdischen Namen. Ihr finstrer Trotz ist gebrochen durch erschlaffenden Mammondienst, und gleichgültig platter Lebensgenuß blieb ihnen übrig als einziges Ziel.

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Aber grade, indem dieser wahre Aristokrat mit vornehmem Abscheu all solchen Schmutz erwog, gewann er dem Problem Leonhart, dem Untergang des letzten Idealisten und des letzten genialen Dämons in der nivellirenden Uniformzeit, eine neue Seite ab. Auf immer höhere überschauende Gesichtspunkte erhob ihn die neue Weltanschauung, welche seine naturwissenschaftlichen Studien in ihm reisen ließen.

Sind die Menschen an sich wirklich so schlecht, wie Leonhart's Verbitterung sie auffaßte? War der große Egoist Napoleon etwa gerecht, als er gestand: »Ich habe die Menschen stets verachtet und sie stets behandelt wie sie es verdienen«? Mit Nichten. Die Menschen sind im Ganzen weit besser als ihr Ruf, sind von Natur hülfsbereit und gutartig. Nur soll man nicht ihre Eitelkeit und Selbstsucht verletzen. Thut man dies aber, so sei man wenigstens consequent und wappne sich mit starrem brutalem Egoismus. Auch das muß man Leonhart als Schuld gegen sich selber anrechnen, daß er mit schwächlicher Gutmüthigkeit den Leuten die Wunden verband, die er gerechterweise schlug.

Welch ein unreifes Unterfangen, die Welt und die Menschen anzuklagen! Man bessere oder belehre sie, sei es indem man sie überzeugt, sei es indem man mit Gewaltmitteln sie bekehrt. Aber verlangen, daß Andere ihre berechtigte Selbstsucht auch nur einen Augenblick hintansetzen, um eine fremde Größe aus objectivem Wohlwollen zu fördern, ist lächerlich. Das ganze Naturleben erwächst aus dem Kampf Aller gegen Alle und jedes Wesen in seiner Art dient mit zu dem Gesammtgebäude.

Daß eine Geistespotenz wie Leonhart untergehen mußte, bedeutet freilich einen unersetzlichen Verlust für die Gesammtheit. Aber die Welt dafür verantwortlich zu machen wäre widersinnig.

Warum schlüpfte dieser Heros, ursprünglich zur That und nicht zum Gedanken veranlagt, in eine so gebrechliche physische Hülle? Warum versetzte ihn der Zufall in sonstige Umstände und Zeitverhältnisses die ihm jede Möglichkeit versperrten, seine Individualität frei zu entfalten? Warum sah er nicht klar vor Augen, daß all sein Ringen nach Entwickelung seiner wahren Bestimmung ja doch von vornherein aussichtslos und die Schlacht schon vor Beginn verloren war, und verzichtete darum nicht in stiller selbstüberwindender Ruhe? Warum haschte und jagte er nach Befriedigung seines Ehrgeizes, statt sich mannhaft zu resignieren?

Die Welt trug in keinem Falle die Schuld. Denn von ihr erwarten, daß sie in einem unscheinbaren Federfuchser den Helden und Herrscher erkenne oder mit ihrem halbblinden Maulwurfsblick das Genie begreife – das heißt alle innere Organisation des Weltgebäudes stören und verrücken. Und warum widmete er überhaupt seinen Geist dem Undankbarsten und Unzeitgemäßesten, dem Berufe, den in einer Zeit wilder realer Kämpfe kein Mensch begehrt und nöthig erachtet, dem Berufe des Dichters? Hätte er sich auf die Wissenschaft geworfen, so konnte er hier vielleicht eine Waffe finden, um auf die Zeit zu wirken.

Es war ein Schicksal, es mußte nun so sein. Aber das persönlich individuelle Unglück, zu spät oder zu früh geboren zu werden, berechtigt noch zu keinem Vorwurf gegen den Weltlauf. Ein Unglück und eine Schuld, für die man ihm nicht zürnen darf, – das war Leonhart's Lebensentwickelung. Aber eine Verschuldung bleibt es immer, wenn ein Genie nicht auf seine Mitwelt zu wirken vermag und utopisch an die Nachwelt appellirt. Eine Schwäche und ein Mangel liegt stets darin, wenn ein Mensch sich selbst die Lebensader unterbindet. So ging er denn logisch unter kraft der Verschuldung seiner Charakterschwäche.

Warum gerieth er über jede Gemeinheit und Lüge in Harnisch? warum faßte er, trotz seiner boshaften Menschenkenntniß nicht eben alles persönlich auf? Mundus vult decipi. Mit Wasser wird Alles gekocht und heut stellen die Leute ihren Kochtopf voll schmutzigem Wasser mit cynischem Applomb ganz öffentlich auf den Tisch.

Auch in der Weltgeschichte herrscht einzig die Lüge und die »immanente Gerechtigkeit der Dinge«, von welcher Gambetta schwärmte, wirkt nur in den unterirdischen Wellenbewegungen selbst mit, nicht auf der Oberfläche. Denn alle schlechten Leidenschaften müssen mit den guten zusammenwirken, um Großes und Heilsames zu vollbringen. Allein gelingt dies weder dem guten noch dem schlechten Prinzip.

Die Eroberung Indiens durch die Engländer begleiteten nothwendig unerhörte Greuel. Aber die Thatsache selbst förderte den Fortschritt der Menschheit und ihre Ausführung gereicht jenen energischen Schurken zum Lobe.

Warren Hastings, der Henker Indiens, durfte nicht verurtheilt werden, weil er sich einer so löblichen conservativen Gesinnung befliß. Scheert nur ja nicht den Kamm diesem reinen Opferlamm! Und so saß er denn bald ruhig und wohlgemuth auf seinem Landschloß, das ihm der schuldige Tribut seiner Hindostaner Sclaven zum Dank für seine unvergeßlichen Wohlthaten erbaut. Wenigstens blieb er beständig: auch jetzt noch folterte er eigenhändig, wie früher mit dem Bambus, nunmehr mit der Feder die Seinen. Denn er dichtete als behäbiger Dilettant eine Ode nach der andern: »An die Empfindsamkeit«, »An das Mitleid«, vor allem »An die Tugend«. Seine Hymnen an diese Gottheit waren gefürchtet bei all seinen Gästen, denen er dergleichen salbungsvoll versetzte. Ein herrliches Symbol. Seine Gräuel als Tugend-Dichterling beenden, ziemt dem wahren Lebenskenner, der sich auf der Höhe der Situation erhält. Alle Männer der That und alle Weltmächte, sei es nun das alte Rom oder später das päpstliche Rom, lügen und heucheln aus Prinzip.

Als Bonaparte den heiligen Wallfahrtsort Loretto in seinen Schutz nahm, nachdem er grade an den Papst ein demüthiges Schreiben gerichtet, reinigte er sofort das Marienbild von Perlen und Edelsteinen, unwürdig irdischem Tand. Wer beschreibt aber seinen erhabenen Unwillen, als diese schnöden und überflüssigen Zierrathe sich als Glas und böhmische Steine entpuppten! So waren die Priester in ihrem eiteln weltlichen Sinne ihm lange zuvorgekommen. Sein Schmerz war tief und aufrichtig. O diese Pfaffen, diese Banditen! – Nichts köstlicher, als wenn zwei Diebe einander selbst bestehlen, der Eine im Namen der Freiheit, der Andere im Namen der Gottheit. Und das Volk, das dumme Heiligenbild, läßt alles wehrlos über sich ergehn.

Selbst die Symbole wechseln wie die Ideenbegriffe. Das schöne Wort »Freiheit« kann als »Liberalismus« den krassen Materialismus vertreten und das Königthum umgekehrt als letzter Hort des Idealismus erscheinen. Nur ein Begriff wechselt nie, nur ein Symbol bleibt ewig veränderlich: das Vaterland.

Ein Mastbaum hob sich siegreich als Schlachtpanier über dem Streitwagen der Lombarden als Symbol des Vaterlandes. Und ein Mastbaum diente als Sinnbild der geschlachteten Freiheit, als auf Nelson's Admiralschiff die besten Männer Neapels wie gemeine Verbrecher am Galgen seiner Raae hingen. Aber dieserselbe rohe Henker, Sclave zweier Trybaden, dies rumbegossene Beafsteak, verwandelte sich bei der ersten Breitseiten-Lage von Trafalgar in einen würdevollen Heros. »England erwartet, daß männiglich seine Schuldigkeit thue.« Und er fiel im Sieg: »Ich habe meine Schuldigkeit gethan.« Vaterlandsgefühl hebt Tröpfe über sich selbst empor und steigert unter der Wucht der immanenten Idee die Kraft des Einzelmenschen.

Die natürlichen Bedingungen, die aus der inneren Organisation erwachsen, sind im Menschenleben so unveränderlich wie im Naturreich. Die Weltgeschichte folgt bestimmten Drehungsgesetzen, die man bisher nicht zu ergründen den Scharfblick besaß. Wenn Buckle den Verfall Spaniens lediglich aus seinem fanatischen Religionskultus herleitet und diesen wieder aus der Bodenbeschaffenheit, welche Spanien also für immer zur unculturellen Stagnation verdamme, so ist das eine oberflächliche Einseitigkeit, nämlich eine bloß geologische Betrachtung. Sobald aber die psychische Chemie angewandt wird, ergeben sich ganz andre Resultate im Lande der Calderon und Cortez. Dann erklären sich die Erbfehler als Erbtugenden und umgekehrt. Der starre Jehovacultus dieses auserwählten Volkes, worin schon arabische Mischung erkennbar wird, befähigte es zur Welteroberung. Weil aber die geologische Lage Spaniens widerspracht so verwirrte sich die chemische Zusammensetzung und Spanien konnte seine unnatürliche Weltmacht nicht behaupten.

Man wähnt die französische Politik irgendwie durch äußere Einflüsse und Zeitverhältnisse umwandeln zu können. Und doch lehrt die Geschichte, daß die Grundlagen der französischen Politik stets die gleichen blieben.

Wie Chlodwig die französische Monarchie auf den Stützpfeiler des katholischen Klerus gegründet, so später der »allerchristlichste« Louis Quatorze. Wie die Könige des Mittelalters die Centralisation der Staatsgewalt angestrebt, so kämpften Richelieu-Mazarin den Geist der Fronde nieder. Wie jene lüstern nach Lothringens und Flanderns Besitz geangelt, so »reunirre« man später wirklich diese Länder und grade die Revolution vollendete dies Werk gallischer Völkerbeglückung. Der »Freiheitsbaum«, den diese Republikaner aufpflanzten, wurde ein Upasbaum der Tyrannei, die Prokonsuln und Volkstribune glichen auf ein Haar den späteren Marschällen und Intendanten, Pichegru plünderte Holland, so daß dem Napoleonischen Satrapen Oudinot später kaum etwas übrig blieb. Gaston de Foix, Guébriant, Turenne, Mélac, Louvois lebten weiter unter der Revolution und dem Kaiserreich und wirtschafteten später in Spanien, wo sie sich austoben durften, im Stil des dreißigjährigen Krieges. Das Rheinbundsystem fand schon sein Vorbild in den sogenannten Schwesterrepubliken, welche die erobernde Revolution gründete. Ja, der demokratische Cäsarismus Napoleons I. wie Napoleons III. griff ebenfalls auf Chlodwig zurück und verbündete sich mit Rom. Und die neufranzösische Republik sollte anders handeln? Ihr blieb in ihrer Partei-Zerklüftung das alte Ziel: Centralisation, Anschluß an Rom und Lothringen vom Rhein bis zur Schelde.

– – Sobald man aber die Abhängigkeit aller Volksgenossenschaften von unverrückbaren Gesetzen der politischen Chemie und Geologie (zwei noch unentdeckten Wissenschaften) erkannt, widerlegen sich auch die Vorwürfe, mit welchen die Nationen sich gegenseitig die Wahrung berechtigter Interessen bestreiten. Im Leben der Völker spielt der Neid dieselbe wichtige Rolle, wie im Leben der Einzelnen, und begünstigt das Vorwärtsdrängen. Das chauvinistische Anfeinden alles Fremden beruht im Grunde auf einem tiefen gesunden Gesetz. Denn der Neid, dieser blasse scheue Schleicher, tritt manchmal auch als stattlicher mannhafter Widersacher in die Fehde ein.

Der Neid ist eine Leidenschaft, die man nicht einmal sich selbst einzugestehen wagt. Der richtige Herostrat in seinem wüthenden Ingrimm gegen überlegenes Verdienst spiegelt sich selber vor, daß seine Wahrheitsentstellungen die Wahrheit enthielten. Nun giebt es aber auch Gefühle, die man zwanglos auf den Begriff des Neides zurückführen kann und die dennoch den Charakter des Neides verlieren. So z.B. wenn ein »Heros« in Carlyles Sinne an leitender Stelle, die ihm gebührte werthlose oder doch untergeordnete Leute sieht. Oder wenn ein großer Künstler es mit ansehn, muß, wie Unwerth durch selbstsüchtige Interessenpolitik oder Unverstand zu einem Scheinwerth aufgeblasen wird, während Werke mit einem Ewigkeitsgepräge von seichter Oberflächlichkeit lächerlich gemacht und mißdeutet werden. Der erfolglose Werth fühlt Zweifellos Neid gegen den erfolgreichen Unwerth, aber ist dieser Neid eine unedle Leidenschaft? Entspringt er nicht vielmehr dem Gerechtigkeitsgefühl und zugleich dem unpersönlichen idealen Zorn über die Schädigung des allgemeinen idealen Interesses durch die falsche Werthung des Verdienstes?

So wird man, abstrakt betrachtet, den Chauvinismus aus einem Neid und Hochmuth ableiten können, den man trotzdem ehrenhaft nennen muß.

Wozu in allen Tugenden verkappte Laster suchen, wie der edle Sieur de Larochefoucauld, und selbstsüchtige Berechnung in jeder guten Handlung ausklügeln! Es giebt einen logischen Syllogismus stahlscharfer Argumentation, mit welchem der gesunde Menschenverstand alle Finten und Paraden jener dialektischen Floretfechter durchhaut. Wenn nämlich z.B. Dankbarkeit auch nur eine selbstsüchtige Absicht verbirgt und man beim Erweisen von Wohlthaten auch nur den Dank berechnet, – warum ist dann Undank der Welt Lohn und warum giebt es dann so wenige Wohlthätige und Hülfsbereite? Der Undank mag ja vielleicht eine Dummheit sein, aber er entspricht doch offenbar dem Instinkt der Selbstsucht. Und wenn unser Wesen derartig von Selbstsucht durchtränkt wird, welche Selbstüberwindung müßte dazu gehören, gewissermaßen Wechsel auf Undank zu unterschreiben! Wer Wohlthaten erweist, klügelt aber gar nicht darüber noch lügt er sich zur Deckung fremder Schlechtigkeit die schwindelnd hohe Moral an, daß man auf Dank überhaupt verzichten müsse. Sondern er folgt einfach seiner wohlwollenden Naturanlage. Freilich folgt auch die Schlange ihrer Naturanlage, wenn sie hinterrücks sticht. Den Teufel auch! Man schlägt sie nieder – da folgt man denn auch seiner Naturanlage. Selbstsüchtig ist Beides, ja das versteht sich.

Allein, wenn alles das, was wir als Tugend und Selbstlosigkeit bewundern, auch nur von der gleichen Selbstsucht dictirt wird, so müßte ja die Neigung zur Tugend als zu einem Selbstgenuß bei uns Selbstlingen allgemein verbreitet sein! All die schönen Sprüchlein einer nörgelnden Skepsis zerstieben vor der derben trockenen Thatsache, daß man doch noch egoistischer ist als jene angeblich egoistischen Motive und daher lieber ohne diese heuchlerischen Tugendmotive wie ein brutaler Selbstling handelt. Mag die sogenannte Tugend nur verfeinerte Selbstsucht sein, mindestens ist sie doch ein höherer Grad und das unvollkommene sprachliche Begriffsvermögen unterscheidet sie von der gang und gäben gemeinen Wald-und Wiesenselbstsucht eben durch den nichtssagenden Titel – »Tugend«!

Wo Mitgefühl und passive Selbstsucht collidiren, siegt allemal das Mitgefühl, sobald die sonstige Geistesstruktur eine normal gesunde. Hingegen siegt die Selbstsucht meist dann, wenn sie nicht passiv, sondern activ bei der Collision mit dem Mitgefühl betheiligt ist, wenn das geforderte Mitgefühl sie direkt schädigt. Daher ist es allemal leichter, Jemanden zu sich heraufzuziehen und neben sich anzuerkennen, als ihn über sich zu stellen. Daß aber dennoch im Allgemeinen das Mitgefühl stärker ist als die Selbstsucht, geht aus der Begeisterung hervor, mit welcher normale Menschen für eine große Idee oder für einen Heros ihr eignes Ich in die Schanze schlagen. Man möchte nun natürlich den Gran selbstsüchtiger Eitelkeit herausdestilliren, welcher in der Begeisterung liegt. Dies wird jedoch durch die Thatsache der Vaterlandsliebe widerlegt, welche in besonderen Fällen eine ganze Nation zu selbstloser Hingebung anfeuert. Denn da dieselbe als bloße allgemeine Pflicht aufgefaßt wird, so vermag sie die Eitelkeit in keiner Weise zu befriedigen und weder Lohn noch besonderer Ruhm sind davon zu erwarten. Natürlich scheint ja der Stolz aufs Vaterland zuguterletzt auch egoistisch, aber mit solcher Haarspalterei kommt man nur der Neigung unsrer krittelnden grämlichen Epoche entgegen, alle Unterschiede von Streberei und strebendem Heldenthum, Größenwahn und Größe zu verwischen.

Immer klarer drängte sich bei dieser Analyse der Einzelgefühle dem einsamen Grübler die Gewißheit auf, daß man sich in der wankenden Verwirrung unsrer Umsturzepoche den Stolz auf ein großes Staatswesen wie ein Panzerhemd zurechtschmieden müsse. Jetzt erst verstand er auch »die lächerlichen pangermanistischen Schrullen« seines großen Freundes, die man so oft verspottet hatte – er begriff die Sehergabe dichterischer Intuition.

Amerika mußte entdeckt werden, denn man glaubte an eine Existenz. Ein fester Glaube aber ist allemal ein ahnendes Wissen. »Cogito, ergo sum.« So läßt sich die Theorie vom Gedanken nach Descartes weiterführen.

Im Anfang war das Wort, der Logos, die Vernunft. Aber der blinde Autoritätsglaube, die träge Gedankenlosigkeit, das Unvernünftig-Chaotische setzt seine schwerfällig unfruchtbare Masse stets der lichten Schöpferkraft entgegen. Das Chaos betrachtet sich als die wahre göttliche Ordnung, die neue Welt als eine frevelhafte Revolution. Columbus hieß ein Tollhäusler, Luther ein Zerstörer. Ja freilich muß man stören und zerstören – stören die stumpfe Indifferenz der ideallosen Gesellschaft, zerstören die Drachen, welche der conservative Urschlamm des Bestehenden ausbrütet. Darum dachten sich auch alle Völker den Gott des Lichtes als den Python, den Drachentödter.

Die Prophetengabe ist die natürliche Intuition der Logik, welche die Gegenwart aus der Vergangenheit ableitet und die Zukunft als Konsequenz der Gegenwart voraussieht. Darum sind die großen Dichter alle prophetische Staatsmänner in der Theorie; darum erschaute z.B. Schiller divinatorisch in Wallenstein, dem bestverleumdeten, den Embryo-Bismarck, wie ihn heutige Forschungen endgültig feststellen.

Er gedachte an Leonhart's tiefsinnige Combinationen über die deutsche Weltherrschaft des Mittelalters.

Die Hohenstaufen gleichen den Napoleoniden. Sie führten dieselbe großartige Welttäuschung durch, in der Entfesselung der eigenen Selbstsucht eine Weltbefreiung vorzuschützen. Der eigentliche Napoleon des Waiblingergeschlechts hinterließ einen neugeschaffenen Marschallsstand, den er ganz in des Corsen Manier nach Eroberungen und Waffenthaten betitelt hatte. (Diephold Fürst Rocca d'Arce – von der berühmten Verteidigung jener Felsenburg so genannt.)

So wurden auch gleichmäßige Entwickelungsgesetze der einzelnen Völkergeschichten offenbar.

Die schicksalbestimmenden Genien der Weltgeschichte sind nichts als instinktive Herolde ihrer Zeitströmung.

So folgte auch die Reformation einem unwiderstehlichen mechanischen Gesetz, das sich vollziehen mußte. Aber ihre verschiedenen Formationen, gemäß den chemisch-geologischen Lebensbedingungen in den verschiedenen Ländern, predigen nur wiederum die große physiologische Lehre von der Unzerstörbarkeit und Erhaltung der Kraft. Aus der verfrühten und daher paralysierten Reformation in Italien ging die sinnliche Religion der Renaissance, die Kunst, her vor. Ebenso mußte grade dem Inquisitionsspanien die Entdeckung Amerikas zufallen, ebenso wie später Nordamerika grade von den harten Puritanern colonisirt werden mußte. Denn nur dieser bornirte Fanatismus konnte die uralten Kulturen Amerikas mit so barbarischer Respektlosigkeit vernichten, und dies war eben unbedingt nöthig, um Amerika zu einem jungen Lande zu machen. Nichts gedeihlicher ferner für den Fortschritt Europas, als der hartnäckige Kampf Philipp's II. gegen die Reformation. Denn durch die Reaction gegen dies absolutistische Spinnensystem, das die Welt nur erobern wollte, um sie katholisch zu machen, verschärfte sich die persönliche Initiative, welche in den Oraniern und Cromwell ihre glänzendste Verkörperung fand.

Die ungesunde Großmannssucht Schwedens setzt die Wikingzüge der alten Normannen, aus denen wiederum die Kreuzzüge der französischen Normannen hervorgingen, fort.

»Eine Reformation an Haupt und Gliedern«, nicht eine theoretische Professoren- und Pfaffenästhetik – das war's, was man in Deutschland bezweckte. Aber statt den Wahlspruch Huttens »Durch Freiheit zur Wahrheit, durch Wahrheit zur Wahrheit« zu verwirklichen, richtete die Reformation Deutschland zu Grunde. Jedes Volk straft seine eigenen Erbfehler durch die seiner Helden. Luther war ein Autoritätler. – Als abgezehrtes Gerippe ging das Reich aus dem westphälischen Frieden hervor. Nur die Reformation der Fürsten hatte ihren Zweck erreicht – sie zersplitterten Deutschland in eine Reihe souverainer Duodeztyrannenthümer.

Und doch trotz alledem und alledem erkennt man auch hier die tiefe Weisheit des Weltgesetzes. Denn das Beispiel Frankreichs beweist, daß es auf die Dauer wohlthätiger wirkt, der Idee auf Kosten der weltlichen Macht zum Siege zu verhelfen, als die Staatsgewalt auf Kosten der inneren geistigen Entwickelung zu stärken. Hätten die republikanischen Hugenotten gesiegt, so konnte die zentralistische Einheitsmonarchie nicht durch den Bund mit der Kirche ihre »Gloire« gründen; wohl wahr. Aber diese Niederlage der Idee wurde die Grundursache aller Korruptionen und Revolutionen, an denen Frankreich krankte.

Heut wuchs Deutschland, das siegreiche Land der Ideen, zur politischen Reife empor. Doch schon die Bauern-Constitution Wendelin Hipplers proklamirte gegen die kapitalistische Bourgeoisie den demokratischen Cäsarismus, die auf demokratische Grundlagen gestützte absolute Monarchie. Das protestantische Kaiserreich, von dem Hutten und Sikkingen geträumt, ging in Erfüllung, wie alle vernünftigen Ideen. Sonst würden sie gar nicht in der inneren Offenbarung der Denker auftauchen.

Schon einmal ballte sich das Germanenthum zur Weltmonarchie zusammen, unter Karl dem Großen. Dort spielten die sogenannten Romanen, mit Germanen gemischt, dieselbe Rolle, wie früher die Griechen im römischen Reich. Schon damals gab es in Wahrheit nur zwei Racenmächte: Pangermanismus und Panhunnismus. Der arabische Islam, die Angriffe des assyrisch-ägyptisch-carthagischen Semitismus auf das indogermanische Staatensystem wiederholend, verschwindet wie seine Vorläufer, die Parther, um den mongolischen Osmanen Bahn zu brechen. Die Sarmaten, Wenden und Magyaren Attilas stürzen sich gen Westen, wie später die Mongolen Dschingiskhans, welchen der russische mongolisch-slavische Koloß nachdrängte. So bildet heut der Panslavismus den rechten Flügel und das Centrum, das Magyaren- und Türkenthum den linken Flügel jenes Panhunnismus, der von der Schlacht auf den Catalaunischen Feldern bis auf die Schlacht auf dem Lechfeld, von Lepanto bis Zorndorf, von Borodino bis Navarino unablässig mit der westlichen Kultur um die Hegemonie rang.

Der österreichische Dualismus, die scheinbare Vermittelung dieser Gegensätze, bildet eine Brücke zwischen der inneren Unversöhnlichkeit der Racen.

Dem Oströmischen Reich, obwohl in allen Fugen gelockert, wurde ein langes Bestehen gefristet und Byzanz hielt sich durch Leute wie Belisar und Narses, wie die Habsburger Monarchie durch die Metternich, Prinz Eugen und Radetzky. Diese äußeren Eindrücke wären jedoch ohne Erfolg geblieben, wenn nicht diese Ostreiche ein Bedürfniß der politischen Oekonomie befriedigt hätten. Sie dienten dazu, das Eingreifen des Panhunnismus in die europäischen Wirren abzuhalten. Wie früher das Reich Burgund die Scheidewand zwischen Deutschland und Frankreich bildete, um später als neutraler Mittelstaat Holland-Belgien wieder aufzuleben, und in der österreichisch-spanischen Weltmacht das Bindeglied bildete, so dient heut als Bindeglied Deutschlands und Österreichs und als Scheidewand zwischen Pangermanismus und Panhunnismus – das Ungarreich.

Kann dieses sich halten in der umbrandenden slawischen Sintflut? Kann es seinen Traum eines großen Ungarreiches bis zum Schwarzen Meer ausführen, das einst schon durch die päpstliche Bulle, welche den Johannitern die Wallachei und dem Deutschen Orden Siebenbürgen vergabte, einen Vorläufer erhalten sollte?

Krastinik legte sich mit Ernst diese Frage vor, die ihn als magyarischen Magnaten wie keine andere beschäftigen mußte. Dem nationalen Staate gehört überall die Zukunft. Drum muß man für die Berechtigung der Magyarisierung eintreten, da dies den slavischen Völkerschaften gegenüber einen culturellen Fortschritt und selbst nur eine Etappe der Germanisirung bedeutet. Dem Deutschen aber gebührt ein leitender Antheil an der Führung Ungarns, das er früher allein civilisirte. Ob das Deutsche Reich je an die Leitha rückt oder nicht, ein befreundeter Deutsch-magyarischer Staat wird an ihm seinen sichersten Halt finden.

Deutschland muß ans adriatische Meer vordringen, muß durch Holland und die Ostseeprovinzen sich die Beherrschung der Nord- und Ostsee endgültig sichern, auf daß dies angestammte Herrschgebiet der Hansa eine neue Seeherrschaft fördere. Die Kämpfe, welche die Beschlagnahme dieser Länder begleiten, sind Ergebnisse der geologischen Weltlage und der chemischen Mischung der Rasse-Grenzen, und demnach unvermeidlich. Nach völliger Arrondirung der Nationalitäten drängt die neuere Geschichte hin. Nicht eher kann Deutschland ruhen, als bis die Centralisation der germanischen Rasse in ihm vollendet, bis der deutsche Rhein deutsch vom Quell bis zur Mündung, bis alles von der Donau und Weichsel bespülte Gebiet sich zur Klientel des Reiches rechnet. Keinen Zollbreit fremder Erde soll das Reich sich einverleiben, sondern nur einheimsen, was sein. Aber die Farce des europäischen Gleichgewichts hat ausgespielt. Nicht mehr durch das Mikroskop intriguirender Cabinette schauen wir die großen Weltinteressen. Aus gemischten Rassen zusammengemengselte Staatsgebilde – ungesunde Ueberreste der verflossenen Cabinetspolitik – hören ihre Stunde schlagen. Die Existenzberechtigung der kleinen Staaten hat aufgehört.

Die civilisatorische Mission der deutschen Völkerwanderung, welche die lateinische Welt regenirte und den ihr folgenden slavischen Nachschub wieder in seine Steppen zurückwarf, wird ein Nachspiel finden. Der Zug der alten Nibelungen ins Ostland zu den Hunnen kann auch heut symbolisch worden. »Kolonien« heißt das Feldgeschrei. Hofft man auf die Fiebertropen, die schon jetzt für England und Holland mehr verschlingen als einbringen? Wir brauchen keine Strafkolonien. Die Bedeutung Amerikas für die deutsche Uebervölkerung hat hoffentlich bald ihr Ende erreicht. Nicht in Paraguay haben die Antisemiten ihr lächerliches Neu-Germanien zu suchen, sondern im Hunnenland.

Frankreich aber wird stets ein bestimmender Faktor Europas bleiben, und erlitte es noch zermalmendere Niederlagen. Denn die Logik der Naturverhältnisse läßt sich nicht umstoßen. Die beiden Theile des alten Frankenreiches, das deutsche Mutterland und Francien, die Mittelländer Europas werden immer beide die Weltlage bestimmen. Das »Reich«, gesättigt in Kraftbewußtsein, sollte ein starkes Frankreich mit Wohlwollen betrachten. Gebe man Frankreich, was Frankreichs ist! Deutschland ist Hellas und Rom in eins. Es hat die reichste Bildung und straffste Verwaltung. Und es wird herrschen wie Hellas und nicht wie Rom.

Die heimkehrenden Bauern blickten scheu ihrem seltsamen neuen Gutsherrn nach, der so spät nach Sonnenuntergang in die Berglandschaft hinausritt. Der schäumende Burzen wirbelte, vom Piatra Mare fegte ein leichter Windstoß herüber. – Xaver trabte weiter und weiter. Rothgelockte Hyazinten schwankten noch wildblühend am Wege hin. An einer Waldspitze sproßte aus Hecken ein Haideröslein. Aber immer öder starb die Pflanzenwelt ab.

Sabbathglocken und das Schellen-Läuten der Heerden weckten noch, sich mischend, ein schwermuthsüßes Echo. Dann verhallte auch dies. Gelassen schlenderte der Hengst durchs feuchte Farrenkraut, Im Klee raschelte es einmal auf, als ein Eichhörnchen, das dort Eichelnüsse auflas, beim Nahen des Reiters wieder den Baum hinanturnte. Wie ein Kobold lugte das rothe Hänschen durch die Zweige dem Reiter nach. Gleich einer Welle, bog sich die Straße auf und nieder. Und auf und nieder ging seines Herzens Wellenschlag. In der dämmerblauen Ferne hob sich Berg an Berg, wie immer höher sich Gedanken herausgipfeln aus dem Dunstflor der Zukunft.

Hellgrün, gelbbesprenkelt wallten die Felder hin. Vom Tannicht schlichen spukhaft bleiche Schatten thalab. Alles totenstarr und lautlos in dunkler Einsamkeit, nur die Schneekette der rumänischen Grenze flimmerte traumhaft herüber. Grenzenlose Stille lastete über der Gebirgshalde. Ja, das waren die alten Berge, die er als Knabe durchschweift. Und ein Gruß von Geisterhänden schien leise seine Wangen zu streifen. Traulich raunte diese schweigende Natur geheimen Zauber und es rauschte der Strom: Willkommen! Kennst Du die alten Spuren wieder?

Diese Bilder bunte Fülle floh einst an Dir vorüber, da Dein Sinn noch jugendfrisch wie die schlanke Edeltanne wuchs. Doch Blitze verkohlten Dir das saftiggrüne Holz, und der Gottgedanke, welcher die Welt verknüpft und nach welchem Dein Pilgerstab gesucht, Du hast ihn erst heute gefunden in der einstigen Heimath.

Ja, er hatte sie endgültig überwunden, diese chronische Krankheit des Jahrhunderts, den selbstbefangenen kindlichen Größenwahn, wo Keiner gehorchen und Jeder commandiren möchte. Auf der erklommenen Zinne einer höheren naturwissenschaftlichen Anschauung konnte er auch den Schicksalsglauben eines Welt-Messias wie Napoleon an seinen Stern nur als lächerliche Selbsttäuschung bedauern. Wohl lag eine dumpfe Ahnung höherer Gesetze in dem Fatalismus eines solchen Menschen:

»Ich fühle mich zu einem Ziele hingetrieben, das ich nicht kenne; habe ich's erreicht und nütze ich nicht mehr dazu, genügt ein Atom mich zu vernichten.« Aber wenn der Welterschütterer fortfuhr: »Bis dahin vermögen alle menschlichen Kräfte nichts wider mich«, so mußte ihn diese Ueberzeugung nothwendig zu jenem Delirium des Größenwahns führen, das sich in Worten austobt wie: »Es beweist die Schwäche des menschlichen Geistes, daß man zu glauben wagt, man könne gegen Mich ankämpfen.«

Nein, sondern es beweist grade »die Schwäche des menschlichen Geistes, wenn man glaubt, ankämpfen zu können« gegen das ewige Weltgesetz. Zwei mal Zwei macht Vier und nicht Fünf. Wer das vergißt und den Sinn für die Realität verlor, den stürzt allerdings »ein Atom«, aber dies Atom suche er in sich selber! Wohl ruhen im menschlichen Geist dicht nebeneinander Größe und Größenwahn. Schwer ist's, jene innere Ruhe zu bewahren, welche die wahre Größe verbürgt, und das eigene Können stets nach richtigem Maß zu schätzen. Vornehmlich schwer, wenn die thörichte Blindheit der Welt mit ihren falschen Maßen mißt und daher verkannte Größe naturgemäß zu übertriebenem Selbstgefühle treibt.

Wohl würde die selbstbeschauliche Vorwegnahme seiner künftigen Größe in den prahlenden Aeußerungen des obscuren Kapitäns Bonaparte lächerlich wirken, wenn er auch nur um die Hälfte weniger groß gewesen und später durch unberechenbares Erfolgsübermaß sein Größenwahn nicht gleichsam gerechtfertigt worden wäre. Aber eine solche Gemüthsanlage mußte endlich doch zum Verderben umschlagen. Größenwahn im gewöhnlichen Sinne konnte ihn zwar nicht bezwingen, weil er ja wirklich so groß, aber dafür reifte denn in ihm der Cäsarenwahnsinn. So wird selbst die Größe denselben Gesetzen unterthan, wie die eitle Selbstsucht der Durchschnittsmenge, und auch sie richtet sich zu Grunde durch Uebermaß des Wollens.

Und da sollen die Menschen dann Schuld sein! »Wenn der Empereur die Menschen verachtete, so wird man jetzt wohl zugestehn, daß er seine Gründe dazu hatte!« So endet der krasse Egoismus überspannter Größe mit einer Anklage gegen den Egoismus der Kleineren!

Das Alles ist Thorheit. Die Menschen klagt nur Derjenige an, der sie nöthig hat. Der inneren Größe aber können die Cothurne der Pöbelwelt nicht einen Zoll hinzufügen noch hinwegnehmen. Wozu das Jammern und Schimpfen über eine Welt, die sich nach unabänderlichen Gesetzen dreht! Sie wird schon ihre Vorwärtsdränger selber finden. Du bist solch ein Held? Glaube es nicht! Denn wenn du es bist, so wird sich die Stunde schon finden, wo das Welt-Naturgesetz dich zu seinen Zwecken verbraucht. Jeder, der »eine Kraft« (une force) ist, wie der naturwissenschaftliche Zola dies nennt, wird auf den Punkt magnetisch hingezogen, wo er seine elektrischen Schläge austheilen kann. Und wem eine solche fruchtbare geologische Lage für seine chemische Kraftmischung sich nicht von selber unterschiebt, Der ist auch keine Kraft.

Scheitert jeder Versuch, den Strom der latenten Kraft frei zu machen, so bescheide man sich in stiller Gelassenheit, statt in nutzlosem Größenwahn den Rest seiner Kraft zu vergeuden. Für die Welt ist ja der Schade gering. Für jeden Untergehenden tauchen zehn Neue auf. Aber wohl bleibt es von unberechenbarsten Folgen und verzögert die Entwickelung der Menschheit, daß die geologischen Lagen absichtlich verschoben und die chemischen Zusammensetzungen hierdurch verwirrt werden, indem sie so ihre wahren logischen Lebensbedingungen verlieren. Diesen Einklang der geologischen Materie, der naturgemäßen Außenverhältnisse, zu der lebendigen wirkenden Kraft herzustellen, erscheint als die Triebfeder aller Revolutionen. Eine gewaltige »Kraft« wie Leonhart konnte zwar durch keine niederwuchtende Dumpfheit der Materie gehindert werden, sich ununterbrochen in elektrischen Schlägen zu entladen und sich rastlos durch Thaten kundzuthun. Daß aber den Sinn und die Bedeutung dieser Geistesemanationen nur so Wenige begriffen, lag theils in der zu schwächlichen Struktur seiner Materie-Hülle, welche die innere chemische Mischung oft dem rauhen Einfluß der Außenwelt preis gab, theils aber auch in der unnatürlichen Lage seiner geologischen Lebensbedingungen. Nicht in ihm steckte Unnatur, sondern grade er war ein logischer einfacher Naturbegriff, eine schlichte geschlossene Naturkraft. Unnatur beherrschte nur die Weltmaterie, in einen unorganischen Brei durcheinandergequirlt. Größenwahn eines mönchisch Cäsarenwahnsinnigen in seinem Alpenschloß; Größenwahn eines Zitterers an der Newa; Größenwahn des Gottesgnadendünkels allerorts, der taub und blind wähnt, das monarchische Prinzip auf den alten vermorschten Grundlagen retten zu können; unglaubliches Phosphoresziren verfaulten Adelsgerümpels überall – und dagegen der scheußliche Größenwahn der Anarchie, des Nihilismus, der Socialdemokratie, welche in ihren Dynamitbomben und Knüppeln die alleinseligmachende Panazee für den kranken Staatshaushalt gefunden glauben. Tobt euch nur aus, ihr Ich-Sucher, und macht aus Nichts ein Etwas! Das Ende trägt die Last. Ob sich der Geist des Bösen auf Erden nun als Fürst oder als Pfaffe vermummt, oder ob er als schnödes Pöbelregiment im Namen der Freiheit Verbrechen begeht, stets muß er gebändigt werden. Was Republik, was Monarchie! Das Schlechte muß zu Grunde gehen. Nie währt das Reich der Dummheit und nur das Vernünftige bleibt bestehen. Wenn der Einzelne seiner Kraft und Ueberzeugung gemäß gegen Dummheit und Unrecht eintritt, so erfüllt er eben löblich sein Menschenthum. Aber sobald er ungeberdig jammert, weil dieser Kampf erfolglos, schädigt er nur sich selber. Das Weltgesetz, der Logos, hilft sich schon selber durch und schleudert alle Metternichtigkeiten mit einem Fußtritt bei Seite. Dazu bedarf es keiner Menschen. Am weisesten also, wer sich gelassen von der Woge treiben läßt. –

Krastinik mußte unwillkührlich lächeln, als grade zu diesen Gedanken sich eine seltsame Illustration bot. Sein Rößlein nämlich, ein schmucker Walachischer Bergklepper fand bei einem Engpaß, den man soeben passiren mußte, den von Regengüssen aufgeweichten Boden in der Paß-Mitte zu undelikat für seine vornehmen Beine und kletterte daher plötzlich ohne weiteres seitwärts über die Felsen weg. Sein überraschter Reiter ließ ihm den Willen, auf die Gefahr hin den Hals zu brechen. Doch überwand der rüstige Klepper alle Hindernisse; nur nahm er keine Rücksicht darauf, daß ein Dornstrauch seinen Reiter quer durchs Gesicht schrammte. Als sie unten angelangt, ließ der störrige Missethäter ein triumphirendes Wiehern vernehmen.

Krastinik lachte laut auf. Jaja, so muß Jeder seinen Willen haben, jeder rücksichtslos halsbrechende Felsparthieen hinanstürmen, um nur seinen Eigendünkel zu befriedigen. Zugleich aber erkannte er jetzt, daß auch der Größenwahn nur ein naturnothwendiges Requisit unsrer ganzen Zeitrichtung, indem er das allgemeine Streben verräth, sich hervorzuthun. Vor einigen Tagen war ihm aus Berlin ein Brief nachgesandt, dessen Schreiber ihn noch dort im Zenith litterarischen Ansehens vermuthete und daher seine Vermittelung in Anspruch nahm. Ein Dreiviertelsnarr, den man frei herumlaufen ließ, ein entfernter Cousin Krastiniks in Russisch-Polen versetzte ihm Folgendes:

»Ich, Fürst Lubartschinsky, wohne jetzt in Kowno, Festung gegen Preußen gebaute. Cher Cousin! Anbei mein Photographie mit all meine Orden. Mitglied bin ich von alle gelehrte Körperschaften der Welt, Correspondent mit alle gelehrte Gesellschaften.« (Dies war richtig: er correspondirte, aber einseitig. Die Photographie bot einen ungeheuerlichen Anblick: Förscht Lubartschinsky mit sämmtlichen Sternen, Kreuzen, Mitgliedszeichen, Schützenfestbändchen, Cotillonorden seines Erdenwallens und mit dem dazu gehörigen Ruhm bedeckt! Man staunte baß, wo er all diesen Flitterkram auftreiben konnte. Half nichts andres mehr, so hatte der Ruhmesdurstige die Litzen und Borten seines Dolmans vom Schneider so zuschneiden lassen, daß sie Sternen und Kreuzen ähnlich sahen. So stand er nun da wie ein Götze unter der Last seiner Ehren und grinste vertrauensselig).»Cher Cousin! Vous voyez auf mein Photogramm, daß ich bin wie Wenige gestempelt.« (»Stempeln« nannte Lubartschinsky alles Menschenmögliche. Wo ihm irgend Begriffe fehlten, da stellte dies Wort zur rechten Zeit sich ein.) »Eh bien, enfin, mon ami, das Akademie der Wissenschaften in Berlin hat noch nicht gestempelt mein distinguirtes Person. Mag ich detestiren auch Preußenvolk, von Gott verfluchtes, muß es doch stempeln mich. Nun habe gehört, daß Sie, bien-aimé, sind geworden ein großer Mann in Berlin. Pour l'amour du Jesus-Christ, lassen Sie mich flehen auf Knieen, zu bemühen sich für Ihr armes Vetter Lubartschinsky, wohnhaft in Kowno, Festung gegen Preußen gebaute. Sind Sie geworden gestempelt, so kann man auch stempeln le prince de Lubartschinsky. Adieu, mon ami, je vous adore. Schicke nächstens 100 Rubel für Auslagen. Stempeln, stempeln, stempeln Sie!

P.S. Dieser Brief sein genügend gestempelt, n'est- ce pas?«

..Krastinik lachte laut auf bei der Erinnerung an diesen Ukas des unschädlich Verrückten. So wollen sie heut alle »gestempelt« sein – verrückt, aber nicht unschädlich. Wenn ihnen kein anderer Orden blüht, so wollen sie mindestens mit einem Tugendpreis »gestempelt« werden.

..Welche Stille ringsum auf der Haide! Es war, als läge die ganze Welt erstorben hinter ihm. Die Briefe »guter Freunde«, die jetzt auf den neugebackenen Majoratsherrn herabzuschauern begannen, tönten wie ein fernes mattes Echo bewegter Vergangenheit. Kann der Mensch sie wirklich ertragen, eine so tiefe Einsamkeit? Ruhe und Bewegung müssen wechseln, soll der Geist sein Gleichgewicht bewahren. Fern vom Contakt mit der Menge, sieht man die Dinge zu schwarz oder zu rosig, sieht Teufel und Engel, wo doch nur armselige schwache Menschenkinder ihren kindlichen Unfug treiben.

Jaja, Abwechselung muß sein. Hier allein von seiner Erhabenheit zehren und verbauern ging nicht an. Das fühlte er jetzt deutlich genug. Erst an Menschenauffassung kann sich eine feste Weltanschauung erproben. Sich absondern von der Menge, verräth wenig Muth. Man soll die Welt nicht bessern wollen, man soll sie verstehen. Und immer klarer und ruhiger durchschaute er das Problem des Heerden-Mechanis mus der Gesellschaft.

Alle Regeln sind falsch, weil sie lauter Ausnahmen zulassen. Dieses bekannte Paradoxon enthält eine Tiefe der Lebenserfahrung, welche nur Wenige ahnen. Alles gilt nur von Fall zu Fall. Das Wesen der Genialität besteht daher in der Sicherheit, für jeden einzelnen Fall die entsprechende Regel zu finden.

Lebensregeln, Moralregeln, Kunstregeln? Es giebt keine. Jede Kraft ist sich selbst Gesetz, nur die conventionellen Schein-Puppen schwatzen von unumstößlichen Gesetzen. Darum sollte auch andrerseits das Genie seine apodiktischen Lehren unterlassen, da es das psychologische Moment nie berücksichtigt und stets von sich selbst aus schließt. So stellt z.B. Napoleon Grundsätze der Kriegskunst auf, als wären dies unerschütterliche Normen, obschon dieselben jede mittlere Feldherrnbegabung sicher ruiniren würden. Gewiß siegt meist der Angreifer, obschon der gesunde Menschenverstand das Gegentheil annimmt, weil die eigene Initiative den Gegner fesselt. Allein, wer falsch angreift, wird grade so gut geschlagen. Auch das Umgehen des Feindes mit der ganzen Masse, statt mit einzelnen Corps, losmarschirend auf des Feindes Rückzugslinie und die eigene preisgebend, mag als eine strategische Idee gelten, die in ihrer Einfachheit die seltenste Großartigkeit entfaltet, aber einen minder entschlossenen Feldherrn in unabwendbares Verderben verstricken würde. – In Masse vorbrechen, statt sich zu zersplittern, ist ein herrlicher Grundsatz. Aber wenn die geologische Lage dies nicht zuläßt, so soll man es auch nicht versuchen.

Leonhart fröhnte diesem Prinzip des Masse-Bildens: weil aber die geologischen und atmosphärischen Verhältnisse des deutschen Geisteslebens in Gestalt der gedruckten Litteratur dem zuwider lagen, so kam er so nur ins Gedränge und deployirte nicht sachgemäß. Daher seine äußeren Niederlagen, trotz der genialen Anlage seiner Pläne. – Er wechselte oft seine Operationsbasis, an sich ein geniales Verfahren, verlor sie aber mehrmals dadurch. Und während er den Feind abschnitt, wurde er selbst abgeschnitten von der ungeheuren Uebermacht.

So handeln die Männer der Zukunft, deren Schlachten auch nach ihrem Tode gewonnen werden. Anders aber erscheinen die Männer der Gegenwart, die den Erfolg der Realität erzielen. Dies sind die wahren Realisten, weswegen sie auch stets den Idealismus unnützlich im Munde führen. Denn Solches entzückt ja die geschmeichelte Lüge, »Welt« genannt. Genie macht anrüchig, »vornehmes« Weihepriestern macht ehrwürdig, ein Wohlgefallen vor Gott und den Menschen.

Der rechte Weltmann und Sinnenmensch zeigt sich zwar äußerst schwach bei sclavischer Befriedigung seiner kleinen Leidenschaften, aber äußerst stark, wenn es ein imponirendes Auftreten gilt. Und dazu gesellt sich das sittliche Pathos, diese logische Folge gänzlicher Verlogenheit. Was man so Sonntagskinder nennt, das sind gewöhnliche Burschen mit lebhafter geistiger Beweglichkeit. Dann pflege man vor allem den stattlichen Corpus, auf daß man den lieben Frauen gefalle. Wer einen eleganten Bückling zu produciren versteht, besitzt den Schlüssel der wahren Lebenskunst.

Nun ja, das alles ist wahr. Aber wozu die Dinge so schwer nehmen! Was einmal nicht zu ändern, das liegt also in der Natur bedingt und also ist es vernunftgemäß. Man soll nur verlangen, was die Natur gewährt. Maulesel, Ziehochsen, springende Ziegenböcke kommen spät oder früh zu ihrem Weideplatz und schleppen ihre Fracht. Lahme Klepper und zierliche Damenzelter thun halt, was sie können. Und wenn der trainirte Vollblutrenner sie um zwanzig Pferdelängen schlägt, so soll man nicht murren, weil er kein Flügelroß ist. Pegasusflügel wachsen nicht oft, auf welchem Gebiet auch immer, und der Phönix steigt in jeder Generation nur einmal aus Flammen empor. Wenn die kneiferblinde Menge das Flügelroß nicht erkennen kann, was schadet das! Jedes nach seiner Art. Die Erfahrung lehrt, daß ein Schwarm Spatzen einen Adler mürbe zupft. Aber darum foll man doch nicht mit Kanonenkugeln gegen Spatzen schießen, denn damit trifft man sie am schlechtesten. Gegen die Spatzen-Verschwörungen der Welt hilft keinerlei Waffe. Sie zersausen sich schon untereinander ums liebe Futter; so lösen sie sich selbst in Wohlgefallen auf.

Bei dieser Spatzen-Theorie flogen ihm unwillkührlich all die Spatzenschwärme vorüber, die im Leben herumpiepen. Da sind die magern Spatzen mit geblähtem aristokratischem Kropf, die dem sogenannten »Staate« ihre Dienste weihen. Jeder dieser Wichte hält sich für ein hochwichtiges Rad des Regierungswagens und alles, was außerhalb dieser Sphäre liegt, für untergeordnetes Unterthanengesindel. Jeder muß kriechen vor Jedem über ihm – der Hauptmann vorm Obersten, der General vorm Commandirenden, der Regierungsrath vorm Geheimrath, der Geheimrath vorm Minister, und alle miteinander kriechen bäuchlings vor jedem gräflichen Hofschranzen und Titularlakeien, um endlich vor »höchsten und allerhöchsten Herrschaften« einen Veitstanz des Byzantinismus aufzuführen. Der Adelspöbel vollendet dies größenwahntolle Strebergepiepe als Massenchorus. Jeder dieser Leute hält sich für hochanständig und bieder, weil er keine silbernen Löffel stiehlt, die bürgerliche Moral intus hat, und dem Nebenmanne nur indirekt das Futter vor der Nase wegstiehlt. Von Interesse für höhere Dinge keine Spur; die Begriffe der höheren Moral nie auch nur geahnt. Alles eingezäunt in den engsten Kreis hochtrabender Berufspflichten, die höchstens ein fleißiges Biberthum oder eine Fuchsschläue ausbilden können. Zu dieser »Gesellschaft« par excellence gesellt sich nun noch das fette Protzenthum, sei es als Finanzparvenü und Waarenfeilscher jeder Sorte, sei es als Juristen-Rechtsverfälschung, sei es als Gelehrtendünkel Maulwurfshügel für Alpen ansehn, darin beruht der eigentliche Scharfsinn der lieben Welt. Unter den sogenannten »Wissenschaften« stellt lediglich die Chirurgie und die exakte Naturwissenschaft noch etwas Reales vor, schlägt aber ins Urkomische um, wenn sie aus ihrer Seichtigkeit eine Weltanschauung zurechtzimmern will und in kindlichem Unfehlbarkeitsdusel über höhere Gebiete aburtheilt, wie Dubois-Reymond einmal über Goethes »Faust«. Und neben diesen werthlosen Wust und Krimskrams setzt endlich auch noch das Allererbärmlichste, die »Aesthetik«, ihr Häufchen windiger Spreu. Da wimmelt es von Shakespeare-Jahrbüchern und Goethe-Jahrbüchern daß Einem Hören und Sehen vergeht. Von einem Verständniß der Meister natürlich keine Ahnung, statt dessen geistlose Compilationen über jeden Hosenknopf, den man irgendwo in einem Kehricht entdeckte – steht weit abseit, ihr Profanen! Da entdeckt Einer einen Dritten Theil des »Faust« und beweist, daß der erste Theil ursprünglich in Prosa geschrieben. Darauf aber wird die Urschrift entdeckt, natürlich in Versen – welterschütternde Großthat! So wird Einer dieser Goethepfaffen stets vom Andern abgethan. »Was ist das für ein Gewäsch über den Faust! Gebt mir 3000 Thaler jährlich und ich schreibe euch einen Faust, daß ihr die Schwerenoth kriegt!« rief der titanische Grabbe. In reklame-berühmten Litteraturgeschichten wird daher auch »der thörichte Grabbe« mit einem Fußtritt bei Seite geschleudert. Andre »christliche« Litteraturgeschichten erfrechen sich, den »frivolen Juden Heine« als eine dreiste Null abzuthun. So etwas nennt sich in Deutschland ästhetische Wissenschaft.

O Tollheit, o unergründliche Dummheit der Menschen! Dieses Corps der Rache rümpft die Nase über »moderne Litteraten« und schwindelt einen seichten Reklamegötzen in die Akademie der Wissenschaften hinein: Denn man finde in unsrer traurigen Zeit der Decadence keinen »Litteraten«, sondern nur einen germanistischen Litterarhistoriker würdig, in so illustrer Genossenschaft zu thronen!

Ja, so wird man »groß« in dieser Welt des Humbugs. Man schmiert eine von gröbstem Cretinismus strotzende Litteraturgeschichte, in der man mit oberfauler »Gelehrsamkeit« die scheußliche Lachmannsche Theorie über das Nibelungenlied wiederkäut und über Goethe in heuchlerische Verzückungen geräth, um die »Epigonen« herzlos mit blödem Unverständniß abschlachten zu dürfen. Dann verschafft man sich vor allem einen Nachschub von liebedienerischen Scholaren und schmuggelt dieselben auf alle leer werdenden Lehrstühle ein. Stirbt man dann, so hat man sich solch einen Famulus als Nachfolger herangezüchtet, der eiligst den vakanten Papststuhl des verehrten Vorbilds einnimmt und in seinem Stile weiterackert. So hat man sogar noch seinen Nachruhm sorglich vorweg »versichert.«

In den bildenden Künsten derselbe Lügenmechanismus. Gottsträfliche Intriguanten, die als Künstler nichts als geschickte Macher, erobern sich das höchste Ansehn, indem sie die Feigheit der Schwächeren terrorisiren. Denn nicht das künstlerische Können entscheidet. Wer versteht heut etwas davon, heut, wo der Eine bloß die Sujets beäugelt und die schlechtesten Historienbilder für Heldenthaten ansieht, der Andre bloß die Handwerksmätzchen bestaunt und ein raffinirtes Virtuosenportrait für den Gipfel der Kunst hält! Und als Untergrund dieser ganzen gleißenden Firniß-Gesellschaft die großen Massen, die als Atlas auf ihren nimmer müden Armen diesen Olympos tragen. Bei ihnen regiert wenigstens nur der Kampf ums Dasein in der rohen äußerlichen Form, und man schachert bei ihnen nicht mit den heiligsten Gütern der Menschheit, mit Wahrheit und Kunst. Sie fürchten Gott und das Kriminalgericht, nähren sich schlecht und recht, und schwören im Uebrigen auf ihre Zeitung. Denn was man Schwarz auf Weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen.

Allerdings steht ja dem so beschaffenen Kasernen-Organismus einer bureaukratisch-kaufmännischen Gesellschaft der Originalmensch und gar das Genie wehrlos gegenüber, und muß nothwendig untergehn. Wie darf es sich unterstehn, die Preise zu drücken, den Markt durch seine Ueberproduction zu stören! Allein, das ist weise das ist naturgemäß. Was sollte aus einer Welt werden wohin würde die Entwickelung gerathen, wenn man statt des hohlen Scheins das Sein anbeten, wenn man die wahren Könige der Menschheit nicht verborgen im Dunkel stehen und die Nichtse auf dem Markte sich spreizen ließe! Denn die ungeheure Majorität der Menschen kann nur durch schlechte Leidenschaften zur Arbeit gestachelt werden, durch gute nie. Daher ist nur eine solche Welt geeignet, als bequeme Behausung der Menschenmassen zu dienen, und auf die Massen kommt es ja an. Ein Genie zählt auch nur als einzelner Mensch und darf beileibe keinen breiteren Platz beanspruchen, als jeder beliebige Tropf mit platter Stirn und strammer Lende. Dies ist die wahre Demokratie, die Demokratie der Mittelmäßigkeit, der prudente médiocrité, von welcher Welttyrann Napoleon schwärmte.

Darum weihe sich Jeder in stillbeseligter Erbauung dem wahren Ideal: einem normalen Verdauungsprozeß und den schönen blanken Zwanzig-Mark. Vor Geistesthaten präsentirt ja kein Gardist das Gewehr. Ein gutgebratenes Wiener Schnitzel schmeckt besser, als der überflüssige Schönheitsquark, und wer nur als Schnecke am eignen Schleim emporkriecht, erklimmt das erhabenste Ziel eines guten Bürgers: einen hübschen Titelrang.

So rollt die wohleingeölte Maschine der sittlichen Weltordnung munter fort. Die Damen plaudern auf dem goldnen Deck der Staatsgaleere, frißt auch drunten geheimes Leck. Aber die Parze des kommenden Jahrhunderts schreitet langsam durch die Nächte dahin in dunkeln Träumen. Die Fackel für den Weltenbrand beleuchtet ihre hungerbleichen Züge, ihr unumwölktes Hirn zerschneidet den Phrasendunst der Zeit. Wer vergebens sich klammert an veraltete Banner, fühlt sich hülflos fortgerissen auf den Bahnen eiserner Nothwendigkeit. Die Wellen kommen, Wellen gehen, und die Planken lockern sich nach und nach. Der Sclave im Rumpf des Schiffes entfesselt sich jauchzend, wenn er droben mit Stiel und Stumpf das Deck zerbersten hört. Und immer näher branden die donnernden Fluthen. Aber ihr hört sie nicht.

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Schon geraume Zeit vorher hatte Krastinik das letzte Walachen-Dorf der Grenze durchritten. Jetzt bei einbrechender Nacht sah er sich angesichts der rumänischen Grenze in einem schmalen Bergthal. Wo übernachten? Einige Hütten lagen umher; ein Hirt im Bärenpelz, ohne Hemd darunter, die nackte Brust offen dem Winde bietend, trieb gerade eine Pferdekoppel von der Weide ein. Der Graf trat ins nächste Gehöft und grüßte. Kaum hätte er sich verständlich machen können, aber ein Zufall begünstigte ihn. Am Tisch neben den walachischen Bauern saß ein stattlicher Mann in braungelbem Jägerrock mit grünen Aufschlägen, Hirschfänger an der Seite. Er erhob sich und grüßte freundlich. Der Graf erkannte den Forstmeister des Comitats, einen Sachsen. Sobald man dem erst finsterblickenden Bauern auseinandergesetzt, daß dies der große Graf des nächsten Bezirks sei, schwenkte er ihm mit der natürlichen vornehmen Grandezza des Romanen sein Glas Landwein entgegen:»Sanitate bona!« Er habe gehört, wie der Forstmeister verdolmetschte, daß der Domnule (Herr) gut gegen seine Leute sei. Dann schenkte er ihm ein und bot den ungeheuren Schafkäse an, der auf dem rohgehobelten Tische stand. Seine Frau, (in der eigenthümlichen Tracht der Berg-Walachinnen, statt eines Rocks nur zwei rothgestreifte Schürzen vorn und hinten umgebunden) bereitete dem erlauchten Gast mit gastfreundlichem Grinsen ein Lager in der Wohnstube.

Noch lange saßen der Forstmann, eine germanische Barbarossagestalt mit langwallenden Barte, und der Graf zusammen. Ersterer war hierher verschlagen worden, um den Grenzstreit zweier walachischer Horden über ein Thalflüßchen zu schlichten. Eigentlich, vertraute er flüsternd an, befände man sich hier unter lauter Räubern und Schmugglern. Aber der Gastfreund sei natürlich sicher wie in Abrahams Schoß.

Als man in tieferes Gespräch gekommen und Krastinik seine deutschfreundlichen Sympathien erschlossen hatte, thaute der Andre auf. Es zeigte sich, daß seine Vergangenheit eine bewegte gewesen war. Als Forst-Eleve in Tharand bei Dresden ausgebildet, hatte er sich wie die meisten Siebenbürger Sachsen ganz als Deutscher gefühlt und die Einheitsbestrebungen der deutschen Turnvereine in sich aufgenommen. Als daher der Freiheitskampf der Schleswig-Holsteiner losbrach, hielt es ihn nicht in der äußersten Südmark deutscher Gesittung (der sächsischen Coloniae Imperii Germanici, deren Kirchengemälde neben dem ungarischen Wappen den deutschen Reichsadler führten) und er eilte hinauf zur äußersten Nordmark. Dort an der Eider focht und blutete er für die deutschen Brüder unter dem Befehl des Generals v.d. Tann. Dieser war ihm zeitlebens sein Heldenideal geblieben, obschon er nach der Schlacht von Fridericia für immer in die ungarische Heimath zurückgekehrt. Der heldenhafte und doch vornehm milde Sinn des bayrischen Freiherrn leuchtete ihm noch heute vor als Sinnbild deutscher Männlichkeit und sein Herz schlug höher, als er später von den Thaten des Corps v.d. Tann in Frankreich vernahm.

Beide sprachen hierüber. Welch ein Leben, welch ein typisches Sinnbild für die Entwickelung der neuen deutschen Größe! 1848 als Freischärler mit deutschen Milizen der Kriegsmacht des Inselreichs trotzend. 1866 als süddeutscher Heerführer mit unerschütterlichem Muth dem Höllenfeuer der Preußen Stand haltend, um die Waffenehre zu retten, aber innerlich jauchzend über jeden Sieg der norddeutschen Großmacht, die auserwählt, um den Traum aller großdeutschen Patrioten zu verwirklichen. Und nun 1870, glücklich und stolz als deutscher Häuptling dem Aufgebot des gemeinsamen Herzogs zu folgen, greift er mit einem Hochmuth kriegerischer Ueberlegenheit die französischen Heere an, als sei er ein altfränzösischer Maréchal de l'Empire.

1848-1888, nur vierzig Jahre, für Deutschland vier Jahrhunderte. Welch erschütternder Beweis für die Allmacht der geheimen Drehungsgesetze, das binnen vier Jahren (64-70) die Entscheidung fiel über des ununterbrochene Ringen und Streben dieser großen zerrissenen Nation, seit 1648, dem Westfälischen Frieden! Ein Volk aber, das solche Leiden verwand und in rastloser Arbeit seinem letzten Ziele entgegentrieb durch alle Ränke des neidischen Europa hindurch – ein Volk, das sich urplötzlich in seiner ganzen Löwenkraft erhob und seine waffenstarrende Mähne schüttelt, – ein solches Volk ist berufen, das letzte Wort zu sprechen und das Größte zu vollbringen, das Reich freier Gesittung zu erobern nach Niederwerfung aller inneren und äußeren Unkultur. In der Hohenzollernschen Weltmonarchie liegt der Schlüssel der Zukunft. Schneeweiß angethan in Majestät, wacht zu Häupten ihres Herrscherstuhls der Väter alter Ruhm, das wohlerworbene Herrscherrecht der Besten. Herrschen, ja was heißt Herrschen? Es ist ein weiter Weg von dem geflochtenen Bart eines chaldäischen Priesterkönigs bis zur Allongeperücke des Roi-Soleil und von da zum Krückstock Friedrichs des Großen.

Stets wiederholen sich dieselben Arten.

Die Tugendtyrannen (Brutus mit dem Dolch, Lykurg, und die schwarzen Suppen) tyrannisiren sich selbst ins Grab und kein Mensch dankt es ihnen. Die »liebenswürdigen« Landesväter bewirthen ihre Unterthanen großartig mit deren eignem Ruin, pumpen den Staat ohne Schuldschein an, nehmen den Zehnten, aber küssen dafür leutselig die Töchter des Landes. Wenn ein paar naseweise Harmodiusse ihnen das Handwerk legen, so setzt man diesen Ideologen zwar Bildsäulen, aber erst schlägt man sie sorgfältig todt. Der Perserkönig vollends, der jährlich ein paar Tausend Menschen »verbraucht« und dem Weltmeer hundert Hiebe auf die Sohlen geben läßt, wenn er Bauchgrimmen hat, ist ein Vater des Vaterlands – und zwar in mehr als einer Beziehung.

Bis an die Grenzscheide der großen Revolution kannte man nur diese Gattungsarten des Herrschermetiers. Aber auch der »aufgeklärte Despotismus« hat seine Stunde gehabt und der demokratische Cäsarismus als Säbelregiment wird aussterben mit den Napoleoniden.

Aufleben aber soll und wird jenes altgermanische Prinzip des »Herzogs«, erbaut auf gegenseitiger Mannentreue des Herrschers und seiner Mannen, wo jede Individualität frei bewahrt bleibt und nur freiwillige loyale Unterordnung unter den Vertreter der Staatsgewalt regiert. Dies germanische Prinzip vererbte Karl der Große, dieser »erste Diener seines Staates«, den sächsischen Kaisern, und weil die Salier und Hohenstaufen unter wälschem Einfluß, sich demselben entfremdeten, mußte das Kaiserthum zu Grunde gehn. Aber in den Hohenzollern lebte es um so herrlicher wieder auf.

Diese Mon-archie wird sich stabiliren auf einem rocher de bronce. Nicht auf dem »constitutionellen« Unfug der Plappermente, wo Geldsäcke und rabulistische Advokaten (ja sogar eine besonders auf den Parlamentssport trainirte Sorte von bezahlten oratorischen Blasebälgen, die über jeden beliebigen Gegenstand den Wind einer spitzfindigen Debatte auspusten) die Nation vertreten Sondern auf der Aristo-kratia der Weisesten und Besten der Begabtesten und der Charakterstärksten, wird dereinst diese Weltmonarchie sich gründen, wie die Kirche auf dem Felsen Petri – dereinst, wenn das geschichtliche Naturgesetz eine umwälzende Drehung vollführt, überraschend den Myriaden Blinden, vorherberechnet und prophezeit von wenigen Sehern.

IX.

Sich zurückziehn vom Gewühl des Marktes, weil die aristokratischen Fingerlein sich dort beschmutzen? Hier in vornehmer Exclusivität behäbig auf seinem Schlosse horsten und das Leben der Pöbelwelt von oben herab belächeln?

Einst in London hatte er, kurze Zeit in einem Boarding-House lebend, jene Klasse von Rentiers beobachten können, die man fast nur in England und Frankreich, nicht im arbeitsamen Deutschland kennt. Zurückgezogen von den Geschäften, von ihren Zinsen lebend, dreht sich das Leben solcher Leute um den Morgenspaziergang über Constitution Hill, das Verdauen der »Times« zum Frühstück und das feierliche Vorschneiden des Beaf am Mittag. Zieht sich dann Einer noch nach dem Thee und Whist mit seiner Whiskyflasche ins Schlafzimmer zurück und säuft sich fromm in gesunden Schlaf hinüber, so hat er sein Tagewerk würdevoll verbracht. – –

Also der Krieg, der so lange drohende, der Krieg, der all die mächtigen Fragen zur Lösung bringen sollte, stand binnen kürzester Frist bevor? Alle Zeitungen tönten es wieder. Und bei dieser Weltentscheidung sollte er hier hocken bleiben, vielleicht die Landesvertheidigung seines Distrikts als Landsturmcommandeur leiten, höchstens das Deutschthum schirmen gegen etwaige Revolten im Innern? Nein. Die Erziehung seiner Mündel konnte warten, hier galt es wahrlich seine eigene Erziehung. Mit fester Hand schrieb Graf Xaver Krastinik umgehend an den Commandeur seines alten Regiments sowie an eine höhere Behörde in Budapest: daß er bitte, seine selbsterbetene Entlassung aus dem Dienste zu annulliren, daß er sofort wieder eintreten wolle. Er wußte, daß man mit Freuden sein Gesuch bewilligen würde. Zurück konnte er nicht mehr. Der Würfel war gefallen.

Ja, eingereiht aufs neu in die Liste der gewöhnlichen Kämpfer. Keine falsche Erhabenheit mehr, kein eigenwilliges Abschließen in eigenem passivem Werthe. Wie jeder Andere unterworfen der strammen Zucht eines geordneten Berufes, wo jedes eigene Vordrängen unmöglich und jeder nur als Glied des Ganzen gilt.

... Ja, Jeder nur ein Glied des Ganzen. Wer das erkannt, bedarf keines Arztes mehr, um ihm Chinin zu verschreiben für das Fieber der Existenz. Das geschichtliche Gravitationsgesetz dreht das Leben jedes großen Mannes nach dem Wendepunkte hin, wo er aufhört, sich als Werkzeug zu fühlen und sich selbst zum Gotte träumt. Mag der eitle Kiesel die Größe des Montblanc nicht sehen, vergesse doch auch die Alpe nicht, daß auch sie nur das Produkt zahlloser Steingenerationen.

Das sollte vor allem der Adel bedenken. Wenn die Genußsucht bei Sekt und Austern schlampampt, so sehnt man sich nach der fröhlichen, seligen Feudalromantik. Da genoß man das adlige Vergnügen, die »Pfeffersäcke« auf offener Straße zu »werfen«. Auch das Jus primae noctis entbehrte nicht des Reizes. So ärgert sich denn unser heutiger Junkertypus im Geheimen schmählich, daß er sich nicht erzgepanzert als Letzter der Barone durchs irdische Jammerthal raubrittern darf.

Aber während dieser verkappte Größenwahn zugleich an unheilbarem Verfolgungswahn leidet, da der Adel stets seine angeblichen Rechte gefährdet glaubt, macht sich bereits eine neue Raubritterkaste breit, welche die Preß-Feder im Wappen und mit den Societären der Unsterblichkeits-Assekuranzen die magern Kühe Pharaos auf die fette Weide führt. Die gravitätische Grandezza der litterarischen Börsenjobber sieht bereits alle menschlichen Dinge nur vom Standpunkt des bedruckten Zeitungspapiers der »Oeffentlichen Meinung« (soll heißen: des Privatinteresses elender Skribenten) und entscheidet über Krieg und Frieden, als ob die Regierungen gar kein Wörtchen mehr mitzureden hätten.

Als des Grafen logische Betrachtungen wieder bis zu diesem Punkte gediehen, erinnerte er sich plötzlich eines Briefes, den er einst von Leonhart empfing. In seinem Briefpult stöberte er denn auch wirklich die vergilbten Blätter auf.

» ... Es giebt in der Gesellschaft vier große Motoren. Zwei stabile: Schwert und Geld, zwei revolutionäre: Geist und Knüppel. Unter diesen Kräften ist die äußerlich schwächste, der Geist, die innerlich stärkste. Dann folgt das Schwert, die Staatsgewalt. Dann der Knüppel, die Masse. Am schwächsten ist der scheinbar stärkste Motor, das Geld. Weder mit Geist noch mit Schwert könnte man eigentlich Krieg führen ohne Geld. Und doch führen bankerotte Staaten lustig Krieg und bankerotte Geistesstreiter ebenso. Denn das Geld bildet nur eine todte festliegende Masse und fällt blindlings den andern Kräften zur Beute, wenn sie sich darauf stürzen.

Verbinden sich nun Geist und Schwert, wie beim demokratischen Cäsarismus, so führt dies zur Weltunterwerfung. Verbinden sich Geist und Knüppel, so führt dies zur Revolution. Jedes für sich allein unterliegt, zwei vereinte Kräfte aber siegen über die andern. 1 und 2 (Geist und Schwert) bilden absolutes Uebergewicht, aber auch 1 und 3 (Geist und Knüppel) sind naturgemäß stärker als 2 und 4.

Die Geschichte vollzieht sich seit Anbeginn nach gleichen Gesetzen. Allein die neueste Zeit glich einem plötzlichen Sturzfall, wo der Strom all seine Kräfte zusammenstaut. Daher enthüllt sich das Weltgeheimniß klarer denn je in den Jahren 1792–1815.

Es tritt immer eine Epoche ein, wo die Staatsgewalt und das Feudalsystem (Schwert) übermächtig drückt undso sein eignes Basisfundament zerquetscht. Dann wenden sich alle drei andern Motoren dagegen. Unter diesem gemeinsamen Druck wird zuerst die Bourgeoisie (Geld) hoch gehoben. Aera des constitutionellen Liberalismus. Das Volk der physischen Arbeit aber (Knüppel), nachdem das Schwert zerbrochen, drängt nun heimlich gegen den Geldsack an. Diesen Augenblick benutzt das intellectuelle Proletariat (Geist), sich an die Spitze der Masse zu stellen und mit Hülfe des Knüppels jetzt Schwert und Geld bei Seite zu schleudern. Wie durch geöffnete Schleusen, bricht aber bald die vom Geist entfesselte Masse vor. Durch den früheren Kampf für das Volk gegen Staat und Bourgeoisie erschöpft, wird plötzlich auch der Geist überwältigt. Anarchie überschwemmt alle Ufer der Cultur, nachdem die Revolution den Unrath weggespült. Aber der Geist ist nur zu betäuben, nie zu überwinden. Plötzlich rafft er sich auf und erblickt das zerbrochene weggeworfene Schwert. Er ergreift es, er schmiedet es neu. Zugleich richtet er den umgestürzten Geldsack wieder auf, mit Schwert und Geldsack schlägt er den Uebermuth des Knüppels nieder, bis auch dieser wieder seinem Gebot gehorcht.

Der Geist kann nur durch sich selbst überwunden werden. Seine Schöpferphantasie verliert den Maßstab für das materielle Bleigewicht der drei andern Kräfte, die er mit sich schleppt. Die Spitze des Schwertes, nie ruhend in seiner Hand, stumpft sich endlich ab, biegt sich – man entwindet es ihm wieder und die alten Träger des Schwertes herrschen aufs neue. So kehrt äußerlich Alles zum Alten zurück, weil dies als dauernder Zustand naturgemäß, aber die innere Umformung der Weltbedingungen durch die kurzeHerrschaft des Geistes wirkt auf Jahrhunderte fort. Und wiederum wiederholt sich dann später dasselbe Spiel.

Die Feder mißvergnügter Litteraten aber ist es, die in alle Eiterbeulen hineinsticht und heilendes Arsenik spritzt in die allgemeine Fäulniß des Bestehenden. Auf die Heldenfeder der Luther, Milton, Voltaire, Rousseau folgt die Agitatorfeder der Hutten, Swift und Mirabeau und auf diese die Blutsauger- und Revolverpresse der Marat, Desmoulins, Chaumette. Mit der verhundertfachten Macht der Presse steigt natürlich ihre zersetzende Aggressivkraft. Wie aber könnte die Publizistik diese hohe Aufgabe erfüllen, wenn Gerechtigkeit und Humanität sie schwächten? Erst in der hohen Schule der rohen Interessenpolitik, der Charakterlosigkeit, der Bosheit und vor allem des Neides (dieser Spiralfeder der gesellschaftlichen Entwicklung) wird sie dem Zweck gerecht: Unter dem Druck der Luftpumpe einer stabilen mechanischen Gesellschaftsordnung für die menschlichen Leidenschaften ein Sicherheitsventil zu öffnen.

Denn zwischen der Welt als Ganzes und dem Menschen im Einzelnen besteht ein wunderbarer, ob auch weise berechneter, Gegensatz. Die Menschen sind nicht schlecht, wie Misanthropen lügen, sondern bei der Mehrheit überwiegt das Gute. Die menschliche ›Gesellschaft‹ hingegen ist schlecht durch und durch, weil sie auf den menschlichen Leidenschaften erbaut. Die gewöhnlichen Durchschnittsgefühle der Menschen sind gut, jeder Ueberschwang des Gefühls aber als Leidenschaft wirkt böse und entpuppt nur die selbstsüchtige Seite der Menschennatur. Die Durchschnittsgefühle aber sind sämtlich passiv, die Leidenschaften activ und nur die letzteren setzen sich daher herrisch durch. Auf eine edle Leidenschaft kommen hundert schlechte. Dies der Grund, warum in dieser besten aller Welten die Dummheit und die Ungerechtigkeit regiert, obschon die Menschen selbst meist gutartig. Dies der Grund, warum jeder Ungewöhnliche nur durch wüsten erbitterten Kampf die Anerkennung seines Herrscherrechts erzwingt, warum der Geist stets über den Buchstaben purzelt, warum alle Schaffenskraft auf Erden systematisch eingeengt.

Dies aber soll sein, da nur so der ringende Geist sich stählt. Ränge er nicht mit der Welt, so würde ihm der unablässige Ringkampf an Jakobs Furth die Hüfte verrenken. Früher gab es die Geistestyrannei des Clerus, des Feudalsystems, des Sultanismus. Dies alles schwand und schwindet mehr und mehr. Wo also soll der Geist jene stabile Masse finden, an deren erdrückendem Bleigewicht er seine Freiheit erproben soll? Es giebt nur eine: Die Presse.

Sie aber, Liebster, beflecken Sie nicht Ihre reine Hand mit diesem Marterwerkzeug! Schmeißen Sie Ihre Feder in den nächsten Kamin! Das räth Ihnen Ihr wahrer Freund

Leonhart.«

Auch dieser Brief selbst wanderte in den Kamin, wohin ihm ja die Feder Krastiniks vorangeeilt. Der Graf sammelte alle Briefe des Todten, die er bewahrt, und verbrannte sie sorgfältig. Ein symbolisches Verbrennen aller Schiffe hinter sich, einer traumhaften Vergangenheit. Hart und wesenhaft stand die Zukunft vor ihm da. Und statt der Feder schreibe jetzt das Schwert.

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Er trat auf den Altan und blickte hinaus in die untergehende Sonne. Welche Schlachtfelder wird sie beleuchten, bald, wie bald! Ob auch ein Pultawa?

Der alte Dichterinstinkt regte sich; nur versuchte er nicht mehr, mit Worten das innen Geschaute herauszukünsteln,. sondern begnügte sich mit dem Schauen selber. Ihm war, als sähe er ein anderes Feld vor sich bei untergehender Sonne, und darüber wandelnd einen einsamen Mann: Als sähe er auf der Ebene von Lützen, ehe jener zu neuem Kriege nach Rußland eilte, den schwedischen Pyrrhus, Karl XII. Und ihm war, als höre er die stummen Gedanken des Helden: – –

»Wie sie dort niedertaucht, die müde Sonne! Sie, die im Diadem des eignen Glanzes gethront auf angeglühter Wolken Sitz, sie, deren Leuchtkraft die Gestirne nährte – und nun so matt, so todesmatt versinkend! Ihr letzter Blick haucht Weihe ringsumher, verklärt im Scheiden noch die bleiche Erde.

So wirst du enden, stolzer Erderschüttrer, in deiner Siege Purpur! Sei es drum! Mag ich erlöschen und mein Purpur bleichen, wenn ich geleuchtet einen Sommertag.

Wie friedlich diese Ebenen entschlafen! Und dennoch mahnen sie, ein Grabmahl, mich, an meinen Ahnen, dessen Blut sie tranken.

Wie ruhig diese Erde! Also schlief sie, schlief, da sie seinen Todesschrei gehört. Wer weiß, ob nicht der Landmann seinen Pflug unwissend über jene Stelle führt, wo Gustav Adolf sank. So geht die Welt weg mit der Pflugschar der Vergessenheit zermalmend über unser morsch Gebein.

Doch kein Zurück auf dessen Wege giebt's, den tief im Innersten unwiderstehlich ein Vorwärts treibt, an Ueberthatkraft krankend. Ob auch prophetisch mahnt des Ahnen Loos, die Kugel rollt, und rollt sie abgrundwärts, so lief sie doch des Rechtes schroffe Bahn.

Nicht dulden kann ich, der Germanenfürst, daß uns ins Lied der Staaten frech hinein der Russe grunzt, der ungeschlachte Eber. Und ob ein Lützen droht, ich bin bereit.«

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Immer noch stand der Graf Xaver auf dem Altan seines Schlosses und starrte wie ins Unendliche hinaus in die Dunkelheit.

Die Sterne glitzerten hoch am Firmament, zum Schlafe ladend mit geheimem Zauber. Er aber wachte. Der trüben Menschlichkeit Erfordernisse – ihm war, als seien sie abgefallen von seinem Ich, seit er einsam mit der Wahrheit zu Nacht gespeist.

Die Vorahnung gewaltiger Dinge stählte jeden Nerv seines Mannesthums, das er zum Ritter geschlagen fühlte durch siegreichen Kampf. An unendlichem Horizont zogen ihm Erkenntnißbilder der Geschichte vorüber.

Als die Todesfeuer des Hannibalvolkes verglommen, da stieg eine Rauchwolke drohend empor, als wäre es Dido's Rechte, die nordwärts zum Kapitole gewendet. Und Scipio zerwühlte erschauernd seinen blutigen Purpur. – Anderthalb Jahrhunderte seit dem Falle der Meerstadt verflossen, Asche lag und bannendes Salz auf der Stätte. Da saß ein grauer Mann am grauen Meere, in dessen Stirn der Kriegsgott seine Narben schrieb. Marius auf dem Felde des Todes. Und auch er blickte nordwärts. Und er rächte Carthago in Roma's Flammen.

Jugurtha, (wie Philipp von Macedonien mit einem goldbepackten Esel jede Festung zu erstürmen schwor) bepackte römische Consulare mit lybischem Gold; auch er fiel und mußte fallen. Aber er vermachte seine Rache seinem Besieger: Falsch und kalt wie sein alter Freund der Wüstenkönig, zapfte Sulla der Riesenspinne Roms, geschwollen vom Blute ausgesogener Völker, aufs neue Blut in Strömen ab. Wohl schmiedete Rom das All an seinen Siegeswagen. Die Brut der Wölfin schlang die Welt lebendig ein in ihren blutigen Schlund. Aber die Welt lag unverdaut im Magen und Rom würgte sie wieder aus, erstickend an seiner Gier. So wirkt fernhintreffend der Fluch vernichteter Feinde.

Wohl fluthet der Wüstensand um fallende Obelisken und endlos tönt die Klage der Memnonssäule. Aegypten, Carthago, Numidien, Zion, Babylon, alle Reiche Sem's riß der Sturmschritt der arischen Race zu Boden. Aber wie bald zertrat die Gräber der Scipionen der neue Emporkömmling, der Germane! In ewigem Kreislauf auf und ab rollen die Völkergeschicke und jeder Ungebühr ersteht ein Rächer.

Heut also stehn wir aufs neu an einem Wendepunkt der ewig rollenden Kugel. Das Slaventhum, mit dem überwundenen Römerthum verbündet, will die germanische Völkerwanderung wiederholen und wider das Reich deutscher Nation den Alarich und Odoaker spielen. Gleich getheilt liegen die Chancen der äußeren materiellen Kräfte, falls Oesterreich zu Deutschland steht: Menschliche Berechnung vermag nicht dem Spiel der Kräfte vorzugreifen noch zu ergründen, auf wessen Seite die Waage sich neigt Entscheiden kann hier nur das innere Naturgesetz der geschichtlichen Drehung, das hoch über menschlichen Wollens und Könnens prahlendem Größenwahn seine Bahnen zieht, sicher und unbeirrt. Wer aber nachgespürt den inneren Ursachen der großen Außenwirkung, der ahnt freudig, wem der Sieg endlich beschieden sei.

Eichenfestes Volk im Herzen Europas, seit deinen frühsten Wurzeln hast du ringen müssen mit den verderbendrohenden Stürmen, ringen um deine Existenz, ringen um deine schlichte Größe mit dem Größenwahn hadernder Neider! –

Ihm war, als sähe er Hermann den Cherusker, den symbolischen Altvater deutscher Einheit und Siegeskraft, – als höre er den Genius Deutschlands beten zu seinen Göttern, wie beim Morgengrauen jener ersten Entscheidungsschlacht der germanischen Race:

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»Schon sprengt Wuotan mit dem Rabenpaar, auf seinem Sleipnir, dem achthufig bunten, den Siegesspeer des Morgensterns hochschwingend, hin über seines Regenbogens Brücke. Es stieben seines Rosses goldige Hufen und goldige Funken sprühen an den Himmel. Schon streut auch Freya auf des Gatten Grab die Rosen hin und zarte Götterthränen benetzen ihrer Trauer holde Zeichen. Denn sieh, dort glüht es schon am Wolkenrande wie einer Jungfrau wechselndes Erröthen, und Morgenthau glänzt Erd und Himmel an.

Du großer Geist, der auf des Sturmes Mantel durch greise Eichen fährt! Du, der da lispelt im reifen Korn, das deine Tritte segnen, fahr jetzt hernieder im Gewittergrollen! Mit deiner Blitze rothem Flammenschwert schmettre der Feinde stolzen Helmbusch nieder! Stoß in dein Horn, dein Donnerhorn, o Herr, daß der Legionen frechen Tubaruf die Furcht erstickt! Dann spende milden Regen, daß die zertretnen Früchte freien Wirkens aufs neu entsprießen deinem Segensthau!

Schon stampft auch meines Rosses Huf, o Herr, auf des Geschickes schwanker Himmelsbrücke. Beseel' mich deines Sleipnir Festigkeit, daß ich hinüberfliege unversehrt und hinter mir der Erzfeind niedertaumelt, der listig nachsetzt Deutschlands freiem Roß.

Hier steh ich, Wodan. Schon zu meinen Füßen schlummert der Drache, dem mein Zauberlied die wachen Sinne schlafbedürftig machte. Nun, Drache Rom, weckt dich das Gjallarhorn, Verderben dröhnend von Walhalla nieder.

An jenem Tempel, den ich bauen will auf aller deutschen Stämme Säulen hier, durch Opferblut gekittet Stein an Stein, mag ich als Grundstein selber fallend dienen. Mag ich, vergessen bald und unbeweint, des Meisters Hammer einem Andern reichen und der dem Nächsten – was bekümmert's mich? Nie schnallt die Gattin mir den Panzer ab, mein Bett soll sein von mir befreite Erde, und Undank meines Lebens Pfühl. Doch nimmer wird Hermann sterben, ewig lebt er fort in deutschem Blut für alle Folgezeit, und schwebt siegkündend um die deutschen Banner.

O Weser, du des Varus Styx heut Nacht! Durchs grüne Rohr wie eine Sense blitzend, wenn sie geschwungen niederfährt! O Erde, nie fürder sollen fremder Rosse Hufen dein Grünen niederstampfen!

Und o Himmel, gerüstet stehe ich vor deinem Auge? und hebe meine Rechte auf zu dir: Ich will befreien Donar, schlage uns der Lanzen Eisenspitze scharf dein Hammer!

Ha, was vernimmt mein Ohr? Schon nahen sie! Schon lenkt Freya den goldborstigen Eber, golden strahlt die Sonne, ihr Brustgeschmeide. Schon schirrt Donar an die flammenden Böcke, um die Lenden den Stärkegürtel schnürt er, Krafthandschuhe wappnen seine Fäuste. Lodernd rollt sein Auge, die Zähne knirschen, laut laut bläset sein gewaltiger Odem, daß Blitzfunken stieben vom brennenden Barte. Der Mondweg dröhnt, aufheulen die Klüfte der Hela, der Hammer fliegt, die wälschen Adler fallen! Har! Sie fallen!«

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Er blickte gen Himmel, erhobenen Hauptes und mit leuchtenden Augen. Noch lag eine Zukunft vor ihm: die That. Mannesthat in welterschütterndem Kampfe. Unser Wissen ist Stückwerk und und unser Weissagen ist Stückwerk. Haltet euch bereit, denn die Zeiten nahen. In Bereitschaft sein ist Alles.