Conrad : ELTeC ausgabe Spitteler, Carl (1845-1925) ELTeC conversion Leonard Konle 52176 156 COST Action "Distant Reading for European Literary History" (CA16204) Zenodo.org ELTeC ELTeC release 1.1.0 ELTeC-deu ELTeC-deu release 1.0.0 Conrad Spitteler, Carl Carl Spitteler: Gesammelte Werke. Herausgegeben von editorGottfried Bohnenblust, editorWilhelm Altweg und editorRobert Faesi. Mit einem Geleitwort von Bundesrat Philipp Etter, 9 Bände und 2 Geleitbände, Zürich: Artemis, 1945–1958. Erstdruck: Berlin (Vita) 1898.

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Vorbemerkung des Verfassers

Unter ›Darstellung‹ verstehe ich eine besondere Kunstform der Prosa-Erzählung mit eigentümlichem Ziel und mit besondern Stilgesetzen, welche diesem Ziel als Mittel dienen. Das Ziel heißt: denkbar innigstes Miterleben der Handlung. Die Mittel dazu lauten: Einheit der Person, Einheit der Perspektive, Stetigkeit des zeitlichen Fortschrittes. Also diejenigen Gesetze, unter welchen wir in der Wirklichkeit leben.

Mit erläuternden Worten: Die Hauptperson wird gleich mit dem ersten Satz eingeführt und hinfort nie mehr verlassen. Es wird ferner nur mitgeteilt, was jene wahrnimmt, und das so mitgeteilt, wie es sich in ihrer Wahrnehmung spiegelt. Endlich wird die Handlung lebensgetreu Stunde für Stunde begleitet, so daß der Erzähler sich nicht gestattet, irgendeinen Zeitabschnitt als angeblich unwichtig zu überspringen. Aus dem letzten Gesetz ergibt sich wiederum die Notwendigkeit, die Handlung binnen wenigen Stunden verlaufen zu lassen.

Selbstverständlich eignet sich nicht jeder Stoff zur ›Darstellung‹, im Gegenteil, von Fragmenten abgesehen und Irrtum vorbehalten, bloß eine einzige Gattung von Stoffen, nämlich die gedrängten und geschlossenen (›dramatischen‹). Ja sogar unter ihnen nur solche, die es erlauben, auf ungezwungene Weise sämtliche wichtigen Motive unmittelbar vor der Entscheidung vorzuführen. Der Faden wird dann kurz vor der Entscheidung angefaßt und nach dem Willen der Wahrheit gesponnen. Erweist sich bei dunklen (›tragischen‹) Stoffen mit großer Personenzahl nach dem Tode der Hauptperson noch ein abschließender Anhang als notwendig, um die Handlung von allen Seiten ausklingen zu lassen, so wird der abschließende Anhang aus der Perspektive einer überlebenden zweiten Hauptperson nach den nämlichen Gesetzen gearbeitet.

Conrad der Leutnant

Der junge Conrad Reber aus dem ›Pfauen‹ in Herrlisdorf, der Leutnant, strich durch den Stall, hinter den Gäulen vorbei, welche bei seiner Ankunft den Hals emporschleuderten und sich polternd zurechtstellten. Aber die rote Lissi, zuhinterst in der Ecke, schaute sich zutraulich um, hob den Schweif und spreizte die Schenkel.

»Was ist, Lissi?« machte der Leutnant. »Sags, was möchtest mir klagen? Gelt, möchtest auch lieber auf dem Frauenfelder Exerzierplatz galoppieren, morgens früh um fünf, wenn die Trompeten schmettern, und Fensterparade am Sonntag vormittag und am Abend schöne Fräulein, die dir die Mähne streicheln, dir ein Zückerchen und mir ein Küßchen, als daheim Mist auf den Acker fahren und Zank und Schelten und saure Gesichter den langen Tag! Kehr dich links, kehr dich rechts, bück dich, streck dich, geschimpft wird auf jeden Fall. Hört das Schimpfen auf, so fängt das Seufzen an. Allein was meinst, Lissi? meinst nicht auch selber: wenns zuviel ist, so ists zuviel, und wenns zu lange währt, so muß es ein Ende nehmen. So oder so, hinter sich oder für sich, in Güte oder in Krieg.« Hiermit klatschte er dem Rößlein mit der Flachhand aufs Kreuz, daß es vor Mut strampelte.

Und da eben der Scheck und der Bläß einander futterneidisch anfletschten, jauchzend vor Haß, raffte er die Geißel vom Fenster und zog ihnen ein paar sausende Streiche unter dem Bauch durch, daß sie aufjuckten wie die Forellen beim Gewitter.

»Friede in des heiligen Dreiteufels Namen!« herrschte er. »Muß denn in diesem zänkischen Hause sogar das vierfüßige Vieh hadern?«

Und nachdem er ihnen nachträglich noch ein paar feine Zwicker um die Knie verabreicht, zum Vorrat für später, verblieb er mit ausholendem Arm, bis die Aufregung sich gelegt hatte und ein gleichmäßiges Mampfen aus sämtlichen Krippen knusperte. Hierauf schob er sich mit unhörbaren Schritten nach der Fensternische und hängte die Geißel an den Nagel, behielt jedoch den Griff in der Hand, die er erst nach geraumer Zeit verstohlen an sich zog. Hernach verharrte er regungslos, an den Sims gelehnt.

Ein weißer Lichtstab zuckte in gebrochenen Winkeln durch die Stalltür, zwei Schwalben aufscheuchend, welche blitzschnell über die Türspalte flüchteten; und eine Hand nestelte schwächlich am Verschlußkettchen. »Conrad, bist dus?« heischte vertraulich eine Frauenstimme von draußen. Dann bat sie dringender: »Mach auf, Conrad, ich bins, Anna, die Schwester.«

»Die Stalltür bleibt zu«, versetzte er bestimmt. »Hingegen das Scheunenpförtchen ist offen.« Einige Sekunden später tastete, vom Stalldunkel geblendet, die Schwester behutsam zwischen Mauer und Gosse herbei, die Kleider zusammenfassend.

»Guten Tag, Anna«, grüßte er ihr entgegen, um ihr den Weg zu weisen.

»Was versteckst du dich den lieben langen Vormittag, daß dich kein Mensch findet?« schmälte sie mit freundschaftlichem Ton.

»Bin ja doch überall im Wege.«

»Gleichviel. An einem Maisonntag, wo jeder Bahnzug ein halbes Hundert Gäste bringen kann, gehört der Meister ins Haus und nicht in den Stall.«

»Wer? Der Meister? Ich der Meister? Als ob es vom Keller bis zum Estrich eine Seele gäbe, die weniger zu sagen hätte als ich! Der Sündenbock, das bin ich; die Zielscheibe für jedermanns üble Laune! Meister! Ich der Meister!«

Sie lehnte sich besänftigend an ihn. »Du solltest mit dem Vater ein bißchen mehr Geduld haben, Conrad«, schmeichelte sie.

Da brauste er auf: »Wenn ich nicht Geduld hätte, viel Geduld, sehr, sehr viel Geduld, meinst, ich wäre nicht längst schon dreingefahren? Und wie! Übrigens handelt es sich keineswegs bloß um Geduld oder nicht Geduld. Ich bin vierundzwanzigjährig, stimmfähig, Militär und sogar Offizier, außerdem Kommandant der Feuerwehr. Meine Kameraden haben ihre Freiheit, ihren Willen, ihre selbständige Tätigkeit, einige sogar Amt und Familie. Ich dagegen werde von meinem Alten wie ein Bube geschurigelt. Wer aber im eigenen Hause nichts gilt, der ist auch in der Gemeinde nichts wert. Das ists, was mich wurmt, das ists, was ich nicht verwinde.«

Sie schwieg ein Weilchen, die Augen niederschlagend, während sie zerstreut mit den Schellen eines Pferdekumts tändelte. Endlich, nach langem Zögern, warf sie halblaut hin:

»Wer weiß denn, wie lange er überhaupt noch lebt.«

Conrad schaute betroffen auf, wie damals, als er in der Rekrutenschule zum ersten Male den teuflischen Pfiff einer Pikrinrakete vernommen hatte. Dann runzelte er die Stirn: »Du, Anna, hör einmal, ob ich mich schon nicht aufs Vermitteln verstehe wie du, einen solchen ruchlosen Gedanken, weißt du, hätte ich mir doch nie erlaubt, nicht einmal im Traum.«

Sie senkte den Kopf und starrte durch das Fenstergitter über die ziegelroten Dorfdächer, dorthin, von wo aus unsichtbarer Waldeshöhe der Kuckuck sang, so laut und innig, als ob er den Himmel noch blauer singen wollte; dann plötzlich warf sie sich mit elendiglichem Schluchzen über den staubigen Sims, den Kopf zwischen den Armen verbergend, auf welche die Tränen niederströmten, überjährige, reife Geburtstagstränen, in stillen Nächten gesammelt und im verschwiegenen Herzen gezeitigt.

Und abermals erstaunte er, zwischen Mitleid und Andacht, als ob er, über ein gedecktes Brunnenloch schreitend, durch die Bretterfugen tief unten im finstern Wasser etwas Lebendiges sich regen sähe. Teilnehmend bückte er sich und liebkoste tröstend ihren Scheitel. »Anna«, beschwichtigte er.

»Meinst du denn, einzig nur du allein habest Schweres zu tragen?« stieß sie hervor.

»Was ist? Wollen sie dir deinen Doktor nicht geben?«

»Der Vater schon, hingegen die Mutter nicht.«

»Ich habe den Vater, und du hast die Mutter«, urteilte er finster.

Sie aber, da draußen Stimmen laut wurden, sprang hurtig auf und schüttelte den Jammer vom Herzen. »Sieht man mirs an?« fragte sie frisch, die Augen wischend und das Kleid glättend. Dann mahnte sie überlegen: »Komm also jetzt, es ist Essenszeit; wir speisen nämlich heute eine Stunde früher.« Und vertraulich raunte sie ihm zu: »Der Vater ißt besonders, ich habe ihm in der Wohnstube gedeckt. Auch die Mutter kommt wahrscheinlich nicht zu Tisch herunter.«

»Warum?« fragte er besorgt, »sie ist doch hoffentlich nicht krank?«

»Nein, bloß Migräne. Vor Aufregung und Angst.«

»Angst?«

»Nun ja. Vor allem, was es heute könnte zu tun geben. Du weißt ja.«

Erleichtert atmete er auf. »So kann man doch wenigstens einmal ausnahmsweise im Frieden zu Mittag essen.«

»Gewiß. – Das heißt, die Base ist zwar zur Aushilfe da.«

»Was für eine?« forschte er mißtrauisch.

Sie brachte die Antwort kaum zum Vorschein. »Beide«, gestand sie endlich kleinlaut, »die Rosinenbase und die Hexenbase.«

»Warum nicht gleich ein ganzer Hühnerhof voll?« höhnte er.

»Nur auf einen halben Tag«, entschuldigte sie. »Vor einer Stunde angekommen und am Abend wieder fort. Das wird, denk' ich, auszuhalten sein!« Und klugerweise, damit er den Bissen besser verdaue, goß sie drei Tröpfchen Humor nach: »Ich wollte, du hättest sie sehen können, wie sie miteinander anrückten, Arm in Arm, unter einem urweltlichen Regenschirm, wackelig wie die liebe alte Zeit und ausgelassen wie jährige Osterhäslein. Den Vater haben sie vor lauter Übermut an der Nase gezupft, stell dir das einmal vor! Gegenwärtig zanken sie sich weidlich in der Küche herum. In aller Wohlmeinenheit natürlich.«

Wirklich brachte sie ihn zum Lächeln. Nicht über den Humor des Bildes, da er als Willensmensch wenig Empfänglichkeit für Humor besaß, sondern über dessen Freundlichkeit. Denn sieben Kinderjahre grüßten ihn aus ihren Runzeln. »Wenn nur die Hexenbase nicht eine so scheußliche Zunge hätte«, wandte er nachgiebig ein, halbwegs umgestimmt. »Wenn ich sie reden höre, ist mir immer, als hätte sie allen Sprachunrat des Kantons von der Landstraße aufgelesen.«

»Sie meints ja seelengottengut. – Und kocht Nummer eins.«

»Ich sage nicht nein. Aber ein Maulkorb gehörte ihr von Rechts wegen, auf Beschluß des Regierungsrates, in feierlicher außerordentlicher Sitzung.«

Die Schwester erachtete Weiterungen für überflüssig, verzichtete auf Widerspruch, faßte die Röcke zusammen und trippelte auf den Zehen umsichtig davon. »Also du kommst jetzt zum Essen«, schloß sie bestimmt, ohne sich nur nach ihm umzusehen, und ließ das Scheunenpförtchen offen.

Sollte er wirklich? Mußte ers durchaus? Fort aus dem sichern Verlies in den Haß und Hader? Doch das offene Pförtchen mahnte ihn fortwährend, mit der Stimme der Schwester, und Appetit spürte er, ehrlich gestanden, auch. Zögernd, widerwillig folgte er. »Einmal Herr und Meister sein!« stöhnte er grimmig vor sich hin, »gebieten können, strafen und belohnen dürfen, Achtung erfahren, Frieden haben, keine ungerechten Vorwürfe einstecken müssen – und wäre es auch nur auf eine einzige Stunde – oder eine halbe!«

Draußen auf dem weiten Dorfplatze im grellen Vormittagssonnenschein unterhielten sich Gruppen steifgekleideter Sonntagsbauern, das Kirchengesangbuch in der Hand. Ohne sich zu rühren, glotzten sie ihn an. »Prächtiges Kirschenwetter heute«, rief Conrad im Vorübergehen leutselig. Antwort erhielt er keine. Da runzelte er die Stirn. »Mach dich gemein, laß dich herab, sei freundlich und zuvorkommend, sofort lassen sie dichs büßen.«

An der Hausecke des Pfauen, gegen die Terrasse, balgten sich unter wieherndem Gelächter der Portier und Benedikt, der Kutscher. Der Portier, die Mütze schief auf dem Hinterkopf, schlenkerte das Bein gegen Benedikt, das dieser zu packen trachtete. Beim Anblick des jungen Meisters trat der Kutscher grüßend zur Seite, der Portier dagegen, nachdem er erst unwillkürlich nach seiner Mütze gegriffen, besann sich anders, behielt sie auf dem Kopf und setzte das rohe Spiel fort.

Der Leutnant bedachte ihn mit einem scharfen Blick, dann schwenkte er nach dem Seitenpförtchen neben der Küche ins Haus.

Vor der Schwelle stockte er mit einem Ausruf der Entrüstung. Nämlich Taubenfedern lagen herum, und einige rote sternförmige Tropfen Blutes bedeckten die oberste Stufe.

»Hat da wieder einmal so ein armes unschuldiges Täubchen sein junges Leben lassen müssen, damit irgendein verwöhnter Lecker seinen schalen Gaumen mit dem magern Bissen kitzle!«

Ehe er eintrat, schöpfte er, rund um sich blickend, einen großen Atemzug freie Luft. »Mut!« murmelte er, während ihn Ekel durchschauderte.

Hernach schritt er leise über die Schwelle in den Hausgang, wo er argwöhnisch lauschte wie auf Feindesboden. Nichts Verdächtiges in der Nähe; Leere ringsum und Stille in den Räumen. Das Unheil schlief also irgendwo in einem entlegenen Versteck, unter einem Strohwisch. Nur von der Küche, aus verwinkelter Ferne drang der Zank der Basen an sein Ohr.

Aber wenn das einen ›wohlmeinenden‹ Zank bedeutete, wie lautete dann ein ›übelmeinender‹? Ein Duett, als ob zwei tropfnasse Katzen mit verknoteten Schwänzen durch einen Affenkäfig gepeitscht würden.

Belustigt, mit der Wonne des Gemaßregelten, wenn seine Zuchtmeister aneinander geraten, weidete er sich an dem Konzert. »Jetzt laßt sehen, wer wird Meister? die Hexenbase oder die Rosinenbase?«, und er ließ mit erhobenen Händen die Zeigefinger gegeneinander fechten, wie das Krokodil und der Teufel im Kasperletheater.

Darüber flog die Küchentür auf, und Flucht und Verfolgung tanzten in den Korridor. Den erläuternden Text gewährte die grölende Stimme der Hexenbase: »Pack dich! drück dich! hüpp! alehoppla, marsch!«

»Wart nur«, drohte es zurück, im greinenden Ton eines gesteinigten Propheten, »wart nur ganz ruhig, bis der Conrad einmal Meister wird. So jagt er dich aus dem Hause, wie du mich heute aus dem Hause jagst.«

»Amen, es geschehe!« betete Conrad und begab sich ins Speisezimmer.

Es war noch menschenleer. Ein Gemisch von kühlem Frühling und warmem Sonnenstrahlenbad – »frappierter Sommer«, dachte er – zog durch das saubere, wohnliche Gelaß aus und ein. Freundliche Reinheit um und um. Auf den gedeckten Tischen funkelten die Gläser und Wasserflaschen wie Nebensonnen. Ein kleiner Tisch für die Familie, ein langer, etwas getrennt davon, für das Gesinde der Aufwärterinnen. Beide mit Fliedersträußen geschmückt und das Besteck so regelrecht geordnet wie mit dem Zollstab abgemessen.

Da überkam ihn eine Pulswelle Lebenslust, daß er anfing, eine muntere Marschweise vor sich hin zu pfeifen. Wie er indessen an der Wohnstube vorübergeriet, zuckte er zusammen, verstummte und schlich sich verstohlen ans nächste Fenster hinüber. Er hatte durch die klaffende Lücke der nur zu Dreivierteln geschlossenen Tür die Gestalt des Vaters wahrgenommen, der drinnen in der Wohnstube im Lehnstuhl saß. Nur einen Augenblick, allein es hatte ihn wie ein Faustschlag getroffen. Und nun schwebte ihm das verhaßte Bild, von der Phantasie vergrößert, in ungeheuerlichen Umrissen nach, riesenhaft und schwarz. Dabei drehte sich etwas in ihm um, feindselige Gefühle an die Oberfläche fördernd; und mit klopfenden Pulsen, die Stirn an eine Fensterscheibe gedrückt, starrte er auf die Terrasse hinab.

Da, während er also ziellos hinbrütete, tauchte unversehens der frevelhafte Spruch seiner Schwester in seinem Gedächtnis auf. »Wer weiß denn, wie lange er überhaupt noch lebt!« Ob er das Wort noch so heftig verbannte, es kam wieder und hüpfte unablässig in seinem Ohr. Gewiß nicht als Wunsch und Hoffnung – pfui! – sondern einfach als eine Frage. Und schließlich, im Grunde, warum sollte er sie nicht beantworten? Eine unbezwingbare Neugierde wuchs in ihm heran, so daß er sich eine Schrittlänge seitwärts am Fenster zurückstahl, bis sein Blick durch die Türspalte den Vater streifend erreichte, die rechte Seite des Körpers und, je nachdem jener sich bewegte, auch den Kopf. Und nun begann er ihn verhaltenen Atems zu beobachten, wie er ihn noch nie beobachtet hatte, mit dem lauernden Blicke des Spions, welcher nach des Feindes Schwächen späht. Im einzelnen prüfte er ihn, von oben bis unten, um es schließlich zusammenzurechnen: das schreckliche Antlitz, glatt und bartlos, mit braunen Flecken schauerlich getigert, die fürchterlichen, rot unterlaufenen Doggenaugen, den gedunsenen Leib, der unter keuchenden Atemzügen seitwärts wogte, wie der Busen eines Weibes, die unförmlichen Klumpenbeine, welche trotz der sommerlichen Wärme in Pelzstulpen steckten. Und heimlich zählend, überflog er sein Alter: vierundsechzig im Herbst. Jedesmal, wenn zufällig sein Blick den des Vaters kreuzte, schnellte er den seinigen erblassend zurück, während der Vater geräuschvoll schnurfelnd ausspuckte.

»Männlein, was sinnst?« rannte ihm die Schwester ins Ohr.

Da fuhr er wie ein bleichsüchtiges Mädchen schreckhaft zusammen, daß ihm das Herz stille stand.

Sie aber beschrieb mit ihren seelenvollen Händen eine wischende Bewegung vor seiner Stirn, wie der Zauberkünstler, wenn er etwas verschwinden läßt. »Infernalibus«, flüsterte sie. Dann erhob sie drohend den Zeigefinger: »Männlein, sei lieb«, mahnte sie. »Wenn du lieb bist, aber sehr, sehr lieb, will ich dir etwas Schönes zeigen.« Das sagte sie in einem Ton, als ob sie ein Geschenk hinter dem Rücken verborgen hielte.

»Was?« fragte er zerstreut, noch vom Schreck verstört.

Sie wies neckisch nach der Landschaft, daß ihr Finger seine Nase streifte. »Zum Beispiel der rosarot gesprenkelte Apfelblust dort unten in der Matte, ist der etwa nicht schön?«

Hiernach huschte sie fröhlich nach dem Eßtisch hinüber, unterwegs die Wohnstubentür unauffällig schließend, und machte sich mit dem Besteck zu schaffen, indem sie nachträglich Kuchenmesser auflegte, sowohl für das Gesinde wie für die Herrschaft. Und während er nach wie vor in finsterer Verbohrtheit zum Fenster hinausstierte, sang sie hinter seinem Rücken über der Arbeit ein Liedchen, bald leise summend, bald mit nachdrücklicher Betonung, je nachdem der Wortlaut oder ihre Willkür es begehrte:

»Weißt, was der Kucker im Frühling singt? Kein Mensch weiß, was ihm der Sommer bringt. Der Sommer, der schläft hinterm Gitzlisberg. Gar vieles kommt anders und überzwerch, Doch manches wieder kommt plötzlich gut, Wenns niemand erwartet und hoffen tut. Januar und Februar: Gotts Segen ins Jahr. Im März und April Gibts Wetter, wies will. Im Maien der Schnee Tut der Apfelkammer weh. Brachmonat, August – Trag willig, was mußt. Im Herbst wächst die Nacht, Bis es Winter macht. Der Ofen tut not, Die Blümlein sind tot. Die Blümlein, die sind halt den Frost nicht gewohnt. Wenns nur meinen Liebsten, meinen Einzigen verschont.«

Statt ›Einzigen‹ aber setzte sie ›Conrad‹, indem sie jedesmal bei diesem Namen einen herzinnigen Blick dem Bruder zuschickte, glückzufrieden, unbekümmert, ob er es bemerke.

Jetzt bimmelte die Eßglocke, und nach einer kleinen Schicklichkeitspause rauschten die Kellnerinnen ins Zimmer, einzeln und gruppenweise. Beim Eintritt wünschte eine jede dem jungen Meister ein treuherziges ›Gutentag‹, nicht ehrfürchtig, vielmehr kameradschaftlich und vertraulich, wofür er jedesmal mit lauter Stimme dankte, übrigens ohne sich umzuwenden.

Ein anmutiges Summen flüsternder, schwatzender, trällernder Mädchenstimmen bewegte sich hinter ihm hin und her. Mit der Zeit schob sich in seine Hände, die er hinter dem Rücken verschränkt hielt, ein Blumenstengel. Weil aber ein Fensterflügel spiegelte, erkannte er die Täterinnen. »Josephine«, urteilte er, »das errät man an der Narretei.«

Dann kreiste ihm eine Hand übers Gesicht. »Solch eine vorsintflutliche Patsche hat einzig in der Welt Brigitte«, erklärte er.

»Betrug!« verkündete ein empörter Ausruf. »Er sieht uns im Fenster.« Und sofort zerstreute sich der Schwarm. Dagegen erschien jetzt seine Schwester neben ihm.

»Nun denn, was sagst du jetzt dazu?« forschte sie.

»Wozu?«

»So sperr doch endlich deine Guckaugen auf, Tolpatsch!«

Er drehte sich nachlässig um, und wie sein Blick über den Mädchenhaufen glitt, bunt und fröhlich wie ein Junimorgen im Garten, entdeckte er unter den Kellnerinnen eine neue: hochgewachsen, stattlich und bolzgerade aufrecht, in reichster Bernertracht, lötig Silber und Samt und Seide, steifgewölbtes Vorhemd, panzerhartes Mieder, gestickte Halbhandschuhe, alles genau bis ins einzelste, wie in einem Trachtenbilde für die Fremden hinter einem Schaufenster von Interlaken.

»Aus was für einer Spielschachtel hast du die bezogen?« bemerkte er beifällig, doch gleichgültig.

»Gelt?« lachte sie. »Oder habe ich dir denn nicht versprochen, etwas Schönes zu zeigen? – Aber nichts da von Spielschachtel, loses Menschenkind! Potztausend, damit wird nicht gespielt, hörst du? Nur zum Ansehen. Und sorgfältig mit umgehen, wohlgemerkt, denn das ist eine kostbare Präsidententochter, spröd und stolz. Übrigens für sie ist mir nicht bange, denn sie hat drei Reihen Nadeln auf der Zunge wie ein Hecht – um so mehr für dich – wehe deinem Herzen! armer Conrad!« Hiermit hüpfte sie triumphierend von ihm weg, singend in jauchzenden Oktaven.

Er aber behielt die Bernerin im Auge, und jählings von übermütigem Selbstgefühl gepackt, manövrierte er sich angriffslustig zu ihr hinüber.

»Also wahrscheinlich Bäbeli oder Marianneli«, machte er plötzlich, indem er unvermutet vor sie hintrat, so nahe, daß seine Stirn beinahe die ihrige berührte, damit sie ihm weiche.

Sie hielt ihm jedoch trotzig Stand, mit zusammengezogenen Brauen. »Weder Bäbeli noch Marianneli, sondern Cathri«, erwiderte sie barsch und wich ihm nicht um Zolles Breite.

»Von Langnau oder von Signau?« stocherte er weiter.

»Ich an Eurer Stelle«, rief sie hitzig, »wenn ich mich aufs Raten nicht besser verstände, ließe es bleiben. Von Melchdorf bin ich.«

»Melchdorf? Von Melchdorf? Wo ist doch Melchdorf? Übrigens wo von Melchdorf? Aus der Säge oder aus der Mühle? Nämlich Melchdorf, müßt Ihr wissen, Melchdorf ist groß.«

»Jetzt sagt Ihr eine Dummheit; denn Melchdorf ist klein. Besitzt auch überhaupt weder eine Säge noch eine Mühle. Übrigens, wenn Ihr denn so wundergierig seid, es ist kein Geheimnis, man darfs wissen: im Taubenhof bin ich daheim.«

»Im Taubenhof? Ach so, im Taubenhof. Im Taubenhof also. Keine fehlgeratenen Täubchen, fürwahr, in jenem Taubenhof.« Und indem er sie vom Kopf bis zu den Füßen musterte, auf und ab: »Hat er noch mehr dergleichen saubere, milchweiße Riesenvögelein, Euer Vater, der Präsident, in seinem Taubenschlag, von dieser Höhe?«

Freudiger Stolz erhellte ihr Antlitz: »Unser sechs Geschwister sind wir, immer eins bäumiger als das andere. Mag leicht sein, unser Ältester, der Hans, ist noch einen halben Kopf größer als Ihr.«

Conrad kniff zweifelnd ein Auge zu.

»Es steht jedem frei zu blinzeln, der blöde Augen hat«, bemerkte sie zornig. »Ich aber behaupte, was ich weiß und was Tatsache ist. Unser Hans schaut mir bequem über den Scheitel. Hiernach könnt Ihrs selber ausrechnen, wenn Ihr rechnen gelernt habt.«

»Oder abmessen?« meinte er.

»Meinetwegen.«

Und beide streckten sich herausfordernd auf den Zehen, halb im Spaß, halb im Ernst.

»Nicht so«, schalt Josephine, »sondern rechtschaffen, Rücken an Rücken, wie es Brauch ist.« Hiermit drehte sie keckerhand die beiden um, drängte sie an die Wand und stieß sie rücklings zusammen. »Einen Schemel, ein Lineal und einen Bleistift her!« befahl sie. »Schnell!«

Allein Anna unterbrach das Spiel. »Zur Suppe«, mahnte sie, mit einladender, singender Stimme, einen Blick mütterlicher Huld auf das Paar hinübersendend. »Zur Suppe«, wiederholten lustig die Mädchen, indem sie den ziehenden Ton in der Nachahmung überboten. Und hurtig schwärmte das junge Völklein nach dem Gesindetisch. Mit ihnen Cathri, worüber sich Conrad baß verwunderte, wie über etwas Ungebührliches.

Er überlegte. Sollte ers wagen, sie eigenmächtig an den Familientisch zu befördern?

Allein sie hatte schon gravitätisch die Serviette über den Schoß gebreitet und lachte ihm von weitem zu, belustigt über sein Erstaunen. »Ich sitze hier vortrefflich«, versicherte sie.

Während er zögernd seinem Platz zusteuerte, traf ihn ein Rippenstoß, und zwar ein recht knochiger. »Und mich«, belferte eine kurzatmige Stimme, »mich, gelt, mich grüßt man, versteht sich, nicht? unsereinen, natürlich, übersieht man? Freilich, kann dir leider nicht mit einem glatten Frätzchen aufwarten, bin halt nur die alte Ursula oder die ›Hexenbase‹, wie du mich getauft hast, vor Zeiten, weißt du noch? als du meintest, wenn ich dagewesen sei, gebe es nachher immer ein Unglück. Weil du per se jedesmal etwas Dummes angerichtet hattest und dafür die Rute bekamst; das eine Mal aufs Dach geklettert und die Ziegel verschimpfiert, das andere Mal dir das Gesicht verpülvert, das dritte Mal die Pferde in Heinis Garten gelassen und so weiter, was weiß ich. Aber so sind die Menschen. Wenn einer einen Unsinn gemacht hat und nachher löffeln muß, was er eingebrockt hat – –«

»Guten Tag, Base«, hemmte er den Erguß. »Übrigens hatte ich heute bereits das Vergnügen, wenn auch nur aus der Ferne. Alle Achtung, das muß man dir lassen: du bist eine tapfere Base, ein wahrer St. Georg. Nur so mir nichts, dir nichts aus dem Hause gejagt? eins, zwei, drei? die arme Rosinenbase? was?«

Sie schickte einen bösen Blick in die Luft, an die Adresse der Rosinenbase, und klappte die Kiefer zusammen, wie der Dachshund, wenn er eine Ratte verschluckt hat: »Es kann nur einer im Hause regieren, nicht zwei«, posaunte sie.

Er verbeugte sich förmlich. »Meinen untertänigsten Gehorsam der Alleinherrscherin im Hause.« Dann bot er ihr nachträglich die Hand zum Gruß.

Doch sie zog geziert beide Hände weg und hüpfte rückwärts. »Du mußt keineswegs, wenn du nicht magst. Zwingen will ich dich nicht.«

»Und ich dich ebenfalls nicht«, erwiderte er, ließ sie hüpfen und setzte sich. »Anna, kommt eigentlich die Mutter zum Essen?«

»Ich glaube ja; aber später. Sie zieht sich eben an.«

»Und du? issest du denn nicht mit?«

»Nein, ich bediene den Vater.«

»O weh!« stöhnte er.

Die dampfende Suppe wirkte Behagen und weckte die Gesprächslust.

»Woher kommen nur alle die herrlichen Lilasträuße?« fragte Conrad zu der Base gewandt, indem er eine Blume herausholte und an die Nase führte.

Keine Antwort.

»Eine Staatssuppe«, urteilte er nach einer Weile. »Alle Achtung vor dem, der sie gekocht hat.«

Die Base betrachtete ihn hämisch von der Seite und meckerte vor sich hin. Endlich versetzte sie: »Aber, gelt, nicht wahr, wenn du gewußt hättest, ich habe sie gekocht, so hättest du sie schlecht befunden?«

Nach einigem Abwarten versuchte ers zum drittenmal.

»Ein Prachtwetter heute, kein Wölklein am Himmel.«

»Ja, das Wetter wäre schon recht«, keifte die Base, »wenn nur auch die Menschen recht wären.«

Jetzt hatte er genug, tat sich Gewalt an und verdrückte die Redelust, indem er zugleich geflissentlich den Blick von der sauertöpfischen Base abzog. Hierbei bekam er zufällig die Kellnerinnen zu Gesicht.

Und siehe da, es war ein ergötzlicher Anblick. Nein, wirklich, im Ernst, sie sahen verdammt nett aus, in ihren neuen, leichten Sommerröckchen, deren Farben die unmöglichsten Sprünge verübten, ohne einander auf die Zehen zu treten. Man wußte wirklich nicht, welcher den Vorzug geben, ob der Bertha mit ihrem seidenweichen wenigen Kastanienhaar, angetan mit einem weiß und meergrün gestreiften Gewändchen – hatte er nun etwa nicht recht mit seiner Vorliebe für meergrün? – oder der durchsichtigen, gerstenblonden Helene, das weiße Kleid mit den rosafarbenen Schleifen aufgeputzt, wie ein Albumschäfchen, das ein Engel am Bande führt – oder der rotkrausen Josephine – ja aber trägt man denn Schwarz im Sommer? Nun, das muß Josephine besser wissen als er, item, es stand ihr abgefeimt gut. Bloß Brigitte, natürlich, versteht sich, das faule Mammut, mußte in einem plumpen, braunen Werktagsrock kommen. Dazwischen thronte Cathri steif und starr in ihrer majestätischen Vollkommenheit, in ihrer harten weiß und schwarzen Wappentracht, fast hätte er gesagt ›Uniform‹. Man brauchte ihr bloß statt Messer und Gabel einen Schild und Lanze zu reichen, so war sie die vollendetste Helvetia auf einem silbernen Fünffrankentaler oder eine geflügelte Allegorienfigur auf dem Reklamezettel einer Landesausstellung. Ackerbau und Volksfleiß, so etwas. Schaute man sich nicht unwillkürlich nach dem Alpenglühen um, wenn man sie sah?

So unterhielt er seine Blicke. Die Mädchen ihrerseits guckten zu ihm herüber, und so entwickelte sich ein munteres Augenspiel hin und her mit Blinkern und Zwinkern. Darüber juckte ihn die Zunge und kitzelte ihn der Übermut.

»Aufs Wohl, Brigitte«, begann er, das Glas erst hebend, »habt Ihr auch schon einmal nikotinfreien Wein versucht?«

Brigitte verwahrte sich entrüstet. »Äh, Wäh, Ch«, schnurrte sie verächtlich und wischte sich angeekelt die Lippen, »nikotinfreier Wein, das wäre ja wie zuckerfreier Honig.« Dabei schaute sie sich triumphierend um, ob man auch allseits das Salz ihres Witzes schmecke.

Und da jetzt ein Spottgelächter um sie herfiel, mit mühseligen Belehrungen – denn sie wollte schlechterdings nichts begreifen –, machte er sich an Josephine, welche auf Brigitte so eifrig einredete, als ob sie sie zum Islam bekehren wollte.

»Ihr, Josephine, da Ihr Euch doch gar so über die Maßen gescheit dünkt, könnt Ihr folgendes Rätsel lösen? Wer nimmt was womit?«

Josephine dachte aus Leibeskräften ... »Wer nimmt was womit?« wiederholte sie murmelnd, indem sie mit den Augen die Zimmerdecke absuchte. Plötzlich erklärte sie zuversichtlich: »Der Herr Reber nimmt nur eine mit viel Geld.«

»Sehr gut«, belobte Conrad, »schade, daß es nicht wahr ist. Sondern: Achtung. ›Es nimmt ein Ende mit Schrecken.‹«

Es erfolgte eine große Chor-Pantomime des Mitleids, welche mit ausdrucksvollem Gebärdenspiel den Hinscheid seines Geistes beklagte.

Aber Cathri hatte die Zunge geläufiger als die Gebärde: »Das ist einer vom Exerzierplatz«, urteilte sie wegwerfend.

»Wohl, dann will ich Euch mit Eurem Kanton Bern aufwarten. Ich fürchte nur eines: es könnte Euch ein wenig zu hoch sein, denn jetzt geht es die obersten Stufen der Bildungstreppe steil bergan. Also: Welche Rose gedeiht im Kanton Bern am besten?«

»Die Rose der Liebe«, flötete geschwind Helene.

»Der unumwundenen Offenheit und Lauterkeit«, verbesserte Cathri selbstgefällig, indem sie sich vor Rassebewußtsein ordentlich brüstete und blähte.

Conrad aber, von ihrem kantonalen Dünkel gereizt, übergoß sie mit einem Blick rückhaltlosen Hohnes. »Rose der unumwundenen Offenheit«, spottete er: »Unumwunden, also jedenfalls keine Schlingrose. ›Offenheit‹, mithin keine Knospe. – Nein, nicht ›Rose der‹ oder ›Rose des‹, sondern einfach Rose: die Phosphornekrose.«

Ein Beifallssturm billigte die kleine Bosheit, während die gedemütigte Cathri, puterrot vor Scham und Zorn, ihm einen wütenden Blick zujagte.

Allein Josephine erklärte sich mit dem Gespräch überhaupt nicht einverstanden. »Was ist denn nur heute mit unserm gestrengen Herrn und Meister«, schalt sie, »daß er uns hartnäckig Kirchhofrätsel auftischt. ›Ein Ende mit Schrecken‹, ›Nekrose, Nekrolog‹. Puh, man könnte wahrhaftig glauben, Ihr wolltet Euer Testament machen. – Sondern jetzt will ich Euch ein Rätsel spendieren – Achtung, stille, aufgepaßt! spitzt die Ohren: Was geht auf zwei Beinen und ist doch kein Huhn? und warum?«

»Benedikt, der Kutscher«, meinte Bertha aufgeräumt.

Josephine zog eine weise Schullehrermiene: »Bertha, du bist unlogisch. Denn erstens geht Benedikt nicht, sondern er stolpert; zweitens, wenn es kein Huhn ist, so kann es doch kein Mann sein, denn sonst wäre es ja kein Hahn; drittens könnte man bei Benedikt unmöglich fragen: ›Warum?‹ Man braucht ihn ja bloß anzusehen, um zu wissen, warum. Sondern Brigitte, weil sie eine Gans ist.«

Brigitte, um den Empfang zu bescheinigen, verübte eine Grimasse, zischte Josephine an, gab die Zunge aus dem Munde und blökte.

Jetzt aber ertrug die Base nicht mehr länger diese nichtsnutzigen Späße. Schon öfters hatte sie geräuschvolle Zeichen des Mißfallens kundgegeben, geknurrt, gebrummt, gehustet, mit den Füßen gescharrt, den Stuhl geschoben, die Löffel und Teller geschmissen; jetzt riß ihr die Geduld:

»Seit wann sitzt denn der Portier nicht mehr bei Tisch?« fuhr sie den gegenübersitzenden Conrad grob an, mit dröhnender Stimme wie aus einem zersprungenen Kochhafen. »Doch ich verstehe, der ist wohl dem Herrn Leutnant nicht mehr vornehm genug.«

»Es handelt sich nicht um vornehm oder nicht vornehm«, entgegnete Conrad ruhig, »sondern darum, daß der Portier ein frecher Flegel ist, mit welchem ich nächstens ein Wörtchen reden werde.«

»Ich weiß nicht«, fuhr sie seufzend fort, die Augen wie eine Märtyrerin verdrehend, »aber seit dem verwünschten Militärdienst bist du wie ein umgekehrter Handschuh.«

»Das wäre ja lauter Gewinn«, erwiderte er, »genoß doch der Handschuh niemals das Glück deines Beifalls.«

»Überhaupt«, knurrte sie, »wozu das dumme unnütze Soldäteln? Wenn die Völker Frieden halten wollten, wenn die Fürsten Europas in ihrem nimmersatten, ländergierigen Ehrgeiz –«

Conrad fiel ihr in die Phrase: »Jetzunder, ihr Völker und Fürsten Europas, beißt die Zähne zusammen, allerhöchst die Base Ursula von Hutzlisbühl liest euch den Text.«

Gelächter vom Kellnerinnentisch her unterstützte die Abfertigung, und nun hatte die Base ihrerseits den Verleider.

Stumm und verdrossen schlich nunmehr die Mahlzeit voran, mit heftigem Schlingen und endlosen, unausstehlichen Pausen. Draußen aber in der Wiese pfiff ein Vogel unaufhörlich einen nämlichen sägenden Doppelton des Jubels, tüitü, als könnte er des Maienglücks nicht genug erzählen.

Die Köchin, die alte treue Lisabeth, nachdem sie das Gemüse aufgetragen, blieb bei der Base hangen, zischelnd, mit gehässigen Blicken nach der Bernerin.

Die Base wulstete die Lippen. »Jedes Tierchen hat sein Pläsierchen«, grölte sie überlaut, indem sie nach Cathri schielte: »Es scheint, es gibt Gäste, die lieben das.«

»Was?« fragte Conrad drohend.

»Nun«, lautete die Antwort, »wenn eine Kellnerin sich herausdonnert wie ein Schaf zum Auskegeln und die bloßen Arme feilhält, daß einem davon übel wird, und die Augen unverschämt aussperrt wie eine Ich-weiß-nicht-was.«

Conrad suchte nach einer gepfefferten Zurechtweisung. Allein schon war Cathri leidenschaftlich aufgefahren und warf mit schneidender Stimme herüber:

»Die Tracht, die ich trage, ist eine ehrbare Landestracht. Und an bloßen Armen kann höchstens ein ausgeschämter, abgelebter Wüstling Anstoß nehmen oder aber eine neidische alte Vogelscheuche. Und wenn ich die Augen aufsperre, so geschieht das, weil ich nicht wüßte, weswegen und vor wem ich sie niederzuschlagen brauchte. Übrigens, falls ich etwa hier jemandem im Wege bin, so hat er sich bloß zu melden. Ich habe mich nicht aufgedrängt, sondern bin einzig deswegen hier, weil mich die Jungfer Anna Reber persönlich im Kurbad aufgesucht und mit Bitten und Beten zur Aushilfe gedungen hat.«

»Cathri«, sprach Conrad nachdrücklich, »wenn ihr von meiner Schwester gedungen seid, so gilt das genau so viel, als wäret Ihr von Vater und Mutter gedungen. Ich ersuche Euch daher in ihrem Namen höflich, zu bleiben und Euch durch keine Schnödigkeiten Unberufener irre machen zu lassen.«

Da setzte sie sich gelassen nieder. »Steht es so«, sagte sie, »dann steht es gut. Ihr seid der Meister, an Euer Wort halte ich mich. Was andere dagegen reden, das schätze ich weniger als das Klappern einer Mühle.«

Die Base jedoch vermochte ihre Niederlage nicht zu verwinden. Nach öfteren unartikulierten Anläufen platzte sie gegen Conrad los: »Du gehörst scheints auch zu den vielen, es braucht bloß ein paar ziegelrote Bäcklein, so verdrehen sie schon verliebt die Augen, wie das Huhn vor einem Mistkäfer. Nach dem innern Wert natürlich, nach der Tugend, darnach frägt keiner.«

Jetzt brauste Conrad auf. »Und du«, erwiderte er, »du gehörst auch zu den vielen, die da meinen, die Tugend einer Frau beweise sich durch einen Kropf.«

Die unbändige Lachsalve, die diesem Ausspruch folgte, und die feuchten Augen der Base belehrten ihn, daß er genauer getroffen, als er gezielt hatte, und gerne hätte er das grausame Wort zurückgeholt. Wirklich, er hatte es nicht bedacht, daß die Base selber einen dicken Hals hatte, und jetzt tat ihm sein Ausfall bitter leid. Eifrig suchte er nach einem Mittel, ihn wieder gutzumachen. Inzwischen hatte sie das Schnupftuch hervorgekrabbelt, und während sie sich die Augen wischte, stammelte sie: »Schweig nur, schweig, Conrad. Es gab eine Zeit, da war ich dir nicht zu häßlich, mitsamt meinem Kropf.«

»Die Zeit ist noch lange nicht vorüber«, beteuerte er herzlich, »du bist mir auch jetzt durchaus nicht zu häßlich.«

Doch ohne auf diese Brücke einzulenken, klagte sie opferleidig weiter: »Waren das schöne Zeiten, damals, als du noch ein kleines Büblein warst.«

»Liebste, beste Base, was kann denn ich dafür, daß ich kein kleines Büblein mehr bin? Übrigens in dieser Beziehung hältst du es genau wie meine Mutter. Beständig spielt man mirs wie einen Verrat ins Gesicht, daß ich nachgerade ein Mann geworden bin. Zum Teufel, ich kann doch nicht euch zu Gefallen zeitlebens mit einer Saugflasche umherwandeln; oder was verlangt ihr denn eigentlich von mir?«

Als hätte er nichts gesagt, spann sie ihren grauen Faden fort, mit beschuldigendem Seufzen: »Du lieber Gott, wie manches Mal bist du mir auf dem Schoß gesessen.«

Dieser unaufhaltsame Quark von Dummheit und Ungerechtigkeit reizte ihn wieder.

»Wenns nur daran fehlt«, erwiderte er ärgerlich, »dem wäre ja abzuhelfen, das heißt, wofern es wirklich im Ernst dein Wunsch ist, daß ich mich auf deinen Schoß setze.«

Diesmal blieb jedoch das Lachen der Mädchen aus, welche vielmehr ernst und verlegen vor sich niederschauten, und als er sich verwundert nach der Ursache umsah, erblickte er neben sich die Mutter am Tisch sitzend, krankenbleich und schwach, den Kopf in Tücher gehüllt.

Er erblaßte, darauf ermannte er sich. »Guten Tag, Mutter, wie geht es dir?« fragte er teilnehmend, mit kleinlauter Stimme.

Ein schmerzliches Zucken um ihre blutleeren Lippen und ein anklagender Blick waren die Antwort.

»Wie es dir gehe, habe ich dich gefragt«, wiederholte er empfindlich.

Kaum hörbar hauchte sie, das Gesicht wegwendend: »Es geht, wie es gehen kann.«

»Es kann verschiedentlich gehen«, entgegnete er. »Aber wie es gegenwärtig dir gehe, hätte ich gerne erfahren mögen.« Seine Stimme bebte, denn es empörte sich etwas in ihm, das er mühsam niederkämpfte.

Und abermals drückte Schweigen über der Mahlzeit, doch diesmal nicht mehr das Schweigen des Verdrusses, sondern der Bangigkeit. Bloß die Mutter und die Base tauschten ab und zu kurze Bemerkungen, mit Ausschluß der übrigen, als speisten sie allein.

»Wie die Grillen lärmen«, lispelte die Mutter, schmerzhaft die Stirnmuskeln runzelnd und die Tücher ängstlich übers Ohr ziehend mit ihren dünnen, bleichen Leidensfingern.

Die Base ergänzte zustimmend: »Die Amseln in Hutzlisbühl haben auch bereits schon um vier Uhr morgens wüst getan.«

Conrad biß sich auf die Lippen und starrte mit großen Augen nach der Zimmerdecke. »Die Amseln wüst getan«, wiederholte er mechanisch, »Amseln, die wüst getan haben. ›Amsel‹ – und wüst tun.« Plötzlich übermannte ihn ein unbändiges Gelächter, das seinen ganzen Körper schüttelte.

Da griff die Base wieder zum Schnupftuch, die Mutter aber maß ihren Sohn mit einem langen Blick des Kummers und der Verzweiflung.

Dieser Blick schlug sein Lachen nieder, statt dessen meldete sich in seinem Herzen ein finsterer Grimm.

Eine beträchtliche Weile hielt er noch an sich, endlich aber, wie sich immer und ewig kein Laut mehr hervorwagte, weder an diesem noch an jenem Tisch, überschäumte er.

»Man sollte meinen, man befände sich an einem Leichenschmaus«, knirschte er, Messer und Gabel wegwerfend.

»Nicht jedermann ist beständig zum Lachen und Gaukeln aufgelegt wie du«, bemerkte die Mutter strafend.

Ob diesem Vorwurf verlor er vollends die Selbstbeherrschung.

Mit schallender Stimme rief er durchs Zimmer, wie der Pfarrer durch die Kirche:

»Und ich meinesteils behaupte, es ist nicht recht, es ist nicht erlaubt, es ist eine unverzeihliche Frivolität, wenn das Unglück ein Haus verschont, wenn man nichts Wichtiges zu klagen hat, wenn einem nichts Ernstliches fehlt, wenn alle am Leben und soweit gesund sind, und keine Sorgen, und zu essen genug – und man gebärdet sich, als ob der Tod eingeschlagen hätte. Das ist nicht recht, das ist ein Undank, das heißt die Schonung, die einem das Schicksal gewährt, nicht verdienen!«

Da war Anna hinter ihm, er wußte nicht wie, und rüttelte ihm heftig den Arm. »Conrad«, schalt sie gedämpft, »bist du von Sinnen?«

»Nein, ich bin nicht von Sinnen«, rief er noch lauter, »sondern ich sage eine vernünftige ernste Wahrheit und sage sie noch einmal. Das Glück besitzen und die Maske des Unglücks vorlegen, aus eitler Jammersucht und Wehwichtigkeit, das ist nicht recht, das ist ein Frevel, das ist eine Vermessenheit, das heißt geradezu das Unglück herausfordern.«

Jetzt erhob sich die Mutter, die Hände auf den Tisch stützend, und wankte zur Tür hinaus.

Die Base aber meinte die Erbschaft ihres Kummers antreten zu sollen und übersetzte das in ihre griesgrämige Art, indem sie mit scheelen Blicken jede frohe Regung totschoß. Und da die Mädchen, allmählich entschüchtert, leise zu plaudern begannen: »Maul halten!« bellte sie. Und später, als Lisabeth einen gewaltigen Braten an den Gesindetisch hinübertrug, fuchtelte sie entsetzt mit den Händen: »Behüt uns Gott im Himmel«, begegnete sie sich, »was für ein unmenschlicher Kalbsbraten! Zu meiner Zeit, da war das Gesindevolk pudelnarrenfroh, wenn es ein mageres Stückchen Suppenfleisch gab.«

Als hätte eine Bombe eingeschlagen, schnellten die Aufwärterinnen von ihren Sitzen, die Teller: wegstoßend, krebsrot vor Zorn, pustend, pfupfend, aufbegehrend. »Wenns Euch reut«, plärrte Brigitte, »wenn Ihrs uns mißgönnt, so freßts selber, wir rühren nichts an.«

Bei diesem Anblick überlief der Base die Galle. »Abhocken«, grölte sie. Und dem Befehl gab sie durch das Beispiel Nachdruck, indem sie den Rumpf vom Stuhl erhob und hart niederfallen ließ. Gleichzeitig klopfte sie mit dem Messerheft wie mit einem Hammer auf den Tisch.

Unwillkürlich gehorchten die Mädchen, obschon zögernd und murrend. Den Braten jedoch berührten sie gleichwohl nicht, sondern steckten die Hände meuterisch unter die Schürze.

Da humpelte ihnen die Base entgegen, packte die Bratenschüssel und gab ihr einen schleudernden Ruck. »Fressen!« schnob sie, »nachdems doch einmal da ist! bevors kalt wird.«

Böse Blicke aus glühenden Gesichtern flammten ihr zurück. Josephine zischte Verwünschungen; Brigitte fletschte die Zähne; Helene und Bertha weinten vor Ärger. Keine rührte einen Finger. Außer Cathri, die überhaupt gemächlich sitzen geblieben war. »Was mich betrifft«, erklärte sie trocken, »ich esse ruhig.«

Der Base versagte der Witz. Schlagen, das sah sie immerhin ein, schlagen konnte sie die kräftig ausgewachsenen Jüngferchen nicht wohl, war es ja auch nicht gewohnt, ein lebendiges Geschöpf zu schlagen. Und doch schien ihr das der einzige richtige Trumpf. Einen anderen fand sie nicht. Ohnmächtig, ratlos stand sie da, und ihre boshaft schillernden Blicke trübte der Jammer; gleich einer ausgelebten Viper, die zum ersten Male ihr Gift wirkungslos sieht. Wie hatte sie vormalen Zucht im Pfauen geübt! Wenn eine Magd gedrillt werden sollte, wenn eine Köchin nicht parieren wollte, wenn man unbändige Gäste voraussah, flugs holte man die Base Ursula von Hutzlisbühl. – Und jetzt mußte sie sich von diesen Rotznasen offene Auflehnung bieten lassen! Die Bresten des Alters kannte sie längst und überwand sie heldenmütig, jetzt aber spürte sie zum ersten Male des Alters Elend.

Als sie schließlich wieder ihrem Platz entgegenhinkte, war es der Rückzug nach einer verlorenen Entscheidungsschlacht. Sie spürte: ihr Regiment war aus. Und da sie sich mit dieser Tatsache nicht vertragen konnte, strebte sie fort, fort nach Hause, je eher, desto lieber, zu ihren drei Katzen, zu ihrem Zichorienkaffee, zu ihrem gefügigen Waisenmädchen.

Conrad empfing sie mit einer wohlvorbereiteten Rüge, nicht zu scharf und nicht zu stumpf, kühl und gemessen:

»Du, Base«, sagte er, »unsere Verwandtschaft in Ehren und allen schuldigen Dank für deine uneigennützige Hilfe – aber daß du uns die bewährtesten, wägsten Kellnerinnen mir nichts, dir nichts vergelsterst, ohne den mindesten Grund und Anlaß, das ist wohl schwerlich die Meinung meiner Eltern!«

»So geh doch! geh nur!« kollerte sie, »geh, geh, nimm sie um den Hals und schmatze sie ab, deine lieben, lieben Kellnerinnen. Geh! worauf wartest du? Ich will dich nicht hindern. Ich räume das Feld. Bin doch ohnehin längst schon überflüssig, seit der gnädige Herr Leutnant, wie es scheint, jetzt hier im Hause kommandiert.«

»Ich verlange keineswegs, daß du das Feld räumest«, erklärte er, »im Gegenteil, wir sind dir dankbar, daß du uns mit deiner Erfahrung zur Hand gehst, und wissen deine wertvolle Unterstützung zu schätzen. Nur sehe ich die Notwendigkeit nicht ein, warum du uns deswegen die Kellnerinnen verunglimpfen müßtest.«

Doch sie steifte sich störrisch auf ihren Einfall. »Ich gehe ja, ich gehe. Brauchst dich nicht zu ereifern. Ich gehe ja bereits. Meine kleine Reisetasche ist bald gepackt.«

Wirklich, wahrhaftig, sie wackelte nach der Tür. Da ward ihm jählings angst, ihm, dem erwachsenen, starken Manne, dem selbstbewußten stimmfähigen Bürger und Soldaten, angst vor der kleinen, krummen, baufälligen Base, schrecklich, fürchterlich angst, wie einem armen Schulbuben, wenn sich der Lehrer aufmacht, um ihn bei den Eltern zu verzeigen.

Er stand auf und ging ihr verschüchtert nach: »Base«, bettelte er demütig.

»Ach was«, kläffte sie, »Entenhörner und Schneckenflügel! Der Ulihansjakob hat zum Sonntag gesagt: wo ist der Samstag?« Und unaufhaltsam zottelte sie aus dem Zimmer, mit überstürzter Hast, als ob sie verfolgt würde.

Die Mädchen aber erteilten ihr einen üblen Abschied: »Glück zur Abreise! komm niemals wieder!« – »Boshafte Hexe.« – »Erlöse uns von allem Bösen« und dergleichen mehr.

Doch Conrad verwies ihnen das mit einer kurzen Handbewegung. Er hatte sie halt trotz allem doch lieb, die Hexenbase, denn sie war vor Zeiten sehr, sehr gut gegen ihn gewesen.

Noch zitterte die Türklinke, und aller Augen hafteten an der Wand, hinter welcher die Base verschwunden war, da brach mit wuchtigem Elefantentritt die schreckliche Riesengestalt des alten Pfauenwirts herein, doch nicht aus der Wohnstube, sondern gegenüber, von der Terrasse. Mit einem fürchterlichen Blick die Kellnerinnen musternd, brüllte er sie an: »Fressen, saufen, zanken, liebeln, das verstehen sie. Hingegen die Gäste bedienen, daran denkt keine.«

Wie ein Hühnervolk, vom Hunde aufgescheucht, stoben die Mädchen in wilder Flucht vom Tisch, der nächsten Tür zu.

Aber der Alte vertrat ihnen den Weg. Dazu wollte er gewohnheitshalber mit der Ferse stampfen, zur nachdrücklichen Betonung seines Willens, indessen führte er das nur halbwegs aus, da ihn das Bein beim festen Auftritt schmerzte. »Diesmal bediene ich schon selber«, wehrte er, seinen Schmerz verbeißend, »nachdem ich einmal die Bestellung angenommen. Schaut zu, daß ihr künftig auf dem Posten seid.«

Da verzogen sie sich kleinlaut und mißmutig, indessen hinter ihrem Rücken ein leckerer Kuchen auf den verlassenen Tisch marschierte.

Cathri, nachdem sie sich erst mit den übrigen aufgemacht, besann sich anders, kehrte zurück und spazierte mit Storchenschritten im Zimmer auf und ab.

Der Alte drang auf sie ein: »Und Ihr«, knurrte er, »Ihr dünkt Euch offenbar zu vornehm, mit Euren hoffärtigen Kettelein und verwöhnten Fingerchen.«

Sie wies durchs Fenster. »Neun Kellnerinnen auf ein einziges schmächtiges, schäbiges Bäuerlein, das ist schon mehr als genug.« Und da er ihr einen entsetzlichen Blick zuschleuderte, schüttelte sie lachend die Hände vor seinen Augen.

»Herr Reber, ob Ihr schon ein Unflat seid, mir macht Ihr keineswegs bange. Nämlich ich habe zu Hause einen Vater, gegen den seid Ihr ein harmloses Kind.«

Er betrachtete sie eine geraume Weile, mehr und mehr besänftigt, brummte allerlei unverständliche Worte vor sich hin, grunzte schließlich beifällig und entfernte sich, eine Flasche Wein und ein Glas zwischen den Fingern, schwerfällig nach der Terrasse.

Conrad saß noch, wo er gesessen hatte. Abseits in einiger Entfernung ließ sich Cathri an einem Fenster nieder und trommelte mit den Fingern auf dem Sims.

Zu ihnen gesellte sich Anna. Leise, mit traurigem Ton, schmälte sie den Bruder.

»Conrad«, klagte sie wehmütig, »du böser, böser, böser Mensch, was hast du wieder angerichtet! Und zu allem sitzt noch die Base bei der Mutter und hetzt sie und will mit Gewalt heim. Du hättest sie fortgejagt, behauptet sie.«

»Behauptet sie fälschlich«, versetzte Conrad.

»Lügt sie«, bekräftigte Cathri.

»Und das arme Täubchen«, bedauerte Anna, »das die Mutter eigens für dich hat herrichten lassen.«

»Was für ein Täubchen? Für mich? Von der Mutter? Wo?«

Sie zeigte auf eine Platte vor ihm. »Ja, jetzt ist es zu spät, jetzt ist es kalt.«

»Ich hatte halt anderes zu tun bei der Mahlzeit, als aufs Essen acht zu geben«, versetzte er trübe. Darauf zog er das Täubchen an sich und begann es gewissenhaft zu verzehren, der Mutter zu Gefallen, ohne zu schmecken, was er schluckte.

Unterdessen wandelte Anna mit Cathri kameradschaftlich im Zimmer auf und ab, Hand in Hand und einen Arm um die Hüfte der andern geschlungen, wie die Kinder, wenn sie Offizierschritt spielen. So oft sie an Conrad vorbeikamen, tauschten sie verstohlene Blicke, flüsterten und kicherten ausgelassen. Endlich hielten sie an und küßten einander.

»Gelt, möchtest gerne mithalten?« neckte Anna, indem sie sich schelmisch die Lippen leckte. Dann machte sie sich an ihn heran, lehnte sich über seine Schulter und rannte ihm zu: »Spürst dus? Tuts weh? Schadet nichts, geschieht dir recht. Tust oft genug auch andern weh. – Aber wohlverstanden, nicht etwa zum Heiraten!«

»Daran denkt kein Mensch im Traum«, antwortete er laut. »Übrigens, gesetzt den Fall, weshalb nicht?«

Sie hielt ihm den Mund zu, beugte sich über seine andere Schulter und zischelte ihm ins Ohr: »Sie hat kein Herz.« Hiermit eilte sie davon.

Unter der Tür drehte sie sich um und rief. »Jetzt sollte ich in der Küche sein, im Keller sein, den Vater gaumen, die Base besänftigen, die Mutter versöhnen und habe doch nur zwei Beine, zwei Augen und einen Mund. Wenn nur jemand wenigstens der Mutter ein gutes Wort gönnte!«

Somit blieben Conrad und Cathri abermals allein, dieses Mal stumm und verlegen, ohne zu wissen, was mit sich und dem andern anzufangen. Doch nur einen kurzen Augenblick. Denn schon kehrte der Alte mit der leeren Weinflasche zurück, die er auf den Schaft stellte. Nachher drehte er sich um und betrachtete den Sohn. »Du bist, wie mir scheint, heute an den Tisch angewachsen. Es würde dir wohl auch nicht schaden, den Tanzsaal ausräumen zu helfen, statt in alle Ewigkeit wie angenagelt beim Essen zu sitzen.«

»Den Tanzsaal ausräumen? Wie kann ich denn wissen, daß heute getanzt wird, wenn niemand sich die Mühe nimmt, mirs mitzuteilen?«

»Sollte man etwa zuvor den gnädigen Herrn Leutnant untertänig um Erlaubnis angehen? Selbstverständlich wird heute getanzt, wie jedes Jahr. Oder hast du vielleicht etwas dagegen einzuwenden?«

»Das würde ich mir niemals getrauen.«

Der Vater rückte ihm näher. »Niemals getrauen? Getrau dich, es frißt dich niemand auf.«

Cathri verließ unauffällig das Zimmer.

»Sags doch«, heischte der Alte dringender, »sags nur, wenn du etwas Vernünftiges zu sagen hast.«

»Man muß wissen, was man will. Entweder man will eine Bauernwirtschaft oder man will einen Gasthof.«

Jetzt nahm der Vater den Ton höher und kräftiger: »Es ist bisher immer so gehalten worden, und ich bin nicht gesonnen, es deinetwegen anders zu halten. Später, wenn ich einmal unter dem Boden liege und dir dann meine Bauernwirtschaft nicht mehr vornehm genug ist, magst dus halten, wie es dir beliebt. Einstweilen aber bin ich noch Herr und Meister.«

Hiermit dachte er ihn abgefertigt zu haben. Allein Conrad, nach einem flüchtigen Blick nach dem Himmel, bemerkte: »Wer wird denn überhaupt bei dem schönen Wetter tanzen!?«

»Dafür ist bereits gesorgt. Wenn wir uns schon nicht so viel einbilden wie die jungen Naseweise, verstehen wir immerhin noch unser Geschäft. Die Wagginger haben bereits zugesagt, und zwar schriftlich, nur damit dus weißt. Und noch dazu beide Wagginger, die oberen und die unteren.«

Da erhob Conrad großen Auges den Kopf. »Die Oberwagginger und die Niederwagginger zusammen? Am selben Tag? Im nämlichen Tanzsaal? Acht Tage nach den Wahlen?« fragte er bedenklich und ließ das Messer spielend auf dem Tisch tanzen.

»Es ist durchaus kein Anlaß, solch eine überlegene Miene aufzusetzen«, drohte der Pfauenwirt. »So gescheit sind wir natürlich auch noch, um zu wissen, daß Oberwagginger und Niederwagginger nicht zusammen passen, daß die einen konservativ sind und die andern liberal. Und daß es niemand eingefallen ist, sie gleichzeitig einzuladen, soviel Hirnschmalz könntest du mir immerhin auch noch zutrauen, ob ich schon nicht Leutnant bin, sondern bloß Wachtmeister. Zuerst hat man natürlich bei den Oberwaggingern angefragt, die haben abgesagt, dann haben die Niederwagginger zugesagt und gestern die Oberwagginger nachträglich ebenfalls. So ists gegangen.«

Conrad erwiderte nichts, sondern spielte, nach der Zimmerdecke starrend, mit dem Messer.

»Es scheint, das zu begreifen ist eine schwierige Aufgabe für deinen Verstand, daß du kein Wort darauf zu sagen weißt.«

»O nein«, erwiderte Conrad, »ich begreife nur zu gut: das gibt eine mordsmäßige Keilerei.«

»Sie werden einander nicht den Kopf abbeißen!«

»Schlacht ist Schlacht, ob nun mit Säbeln und Bajonetten oder mit Knütteln und Fäusten. Womit aber eine Schlacht endet, kann niemand voraussagen. Denn der Haß hat kein Bedenken und die Waffe kein Gewissen. – Übrigens, ganz abgesehen hiervon, ob eine Bauernprügelei im Tanzsaal nach dem Geschmacke deiner Gäste sein möchte, zumal der Gäste aus der Stadt, darunter Frauen und Kinder, das möchte ich sehr bezweifeln.«

»Ich bin auch noch da«, rief der Alte ungeduldig. »Habe ich bisher verstanden, Ordnung zu schaffen, so werde ichs wohl heute auch noch verstehen. Oder hältst du mich schon für vollends invalid? Einstweilen besitze ich gottlob noch meine ganzen Glieder, um meine Autorität zu wahren, und zwar sowohl nach innen wie nach außen.«

»Bis du einen Hieb abbekommst.«

»Ich bin schon mit stärkeren Leuten fertig geworden als mit den Waggingern.«

»Zugegeben. Allein die Wagginger sind schlimmer als stark, nämlich feige, das heißt tückisch. Gränzer Falschlenzer.«

Jetzt verlor aber der Pfauenwirt die Geduld.

»Stehe ich denn eigentlich vor dem Staatsanwalt«, schäumte er, »daß ich mich von dir verhören lassen muß wie ein Angeklagter? Kurz, ich habe beschlossen, daß getanzt wird, und darum wird getanzt, mit oder ohne deine Erlaubnis. Das scheint mir klar und einfach. Oder hast dus etwa noch nicht begriffen?«

»Ich habe es vollkommen begriffen.«

»Gut, so schweig und halts Maul!«

»Du brauchst mir das nicht so brutal zu sagen, nachdem du mich doch selber zum Reden aufgefordert hast.«

»Ich werde hoffentlich noch kein Komplimentierbuch nötig haben, um mit dem Herrn Leutnant zu sprechen. Bist du jetzt endlich einmal fertig, oder hast du vielleicht noch etwas zu bemerken?«

Nun rührte sich auch bei ihm der Ärger. »Wohl«, versetzte er, »da wir doch einmal daran sind, ja. Ja, allerdings habe ich noch etwas zu bemerken. Ich habe nämlich zu bemerken, daß es mir lieber wäre, du würdest in Gegenwart anderer manierlicher mit mir sprechen. Das habe ich zu bemerken.«

»In Gegenwart anderer? Ist es etwa mein Fehler, wenn man dein benedeites Antlitz jeweilen nur da zu erblicken das Glück hat, wo irgendeine Schürze in der Nähe ist?«

»Vater«, brauste er auf, mit wilder Stimme. »Vater! sich dich vor! Beschimpfen, beschimpfen lasse ich mich nicht!«

»Beschimpfen? Ist es etwa nicht die buchstäbliche Wahrheit? Habe ich dich denn nicht soeben mit der Bernerin getroffen, allein in einem Zimmer?«

»Was der Bock weiß, traut er der Geiß«, entschlüpfte es Conrad halblaut.

»Was war das? Was meinst du? Sags laut, wenn dus wagst! Gelt, du wagst es nicht?«

»Doch, ich wags. Ich meine: ›allein in einem Zimmer‹, es kommt alles darauf an, wie und wann, und wo mit wem.« Dabei schaute er dem Vater bedeutsam ins Auge.

»Wie meinst du das?« keuchte dieser mit erstickter Stimme, indem sein Gesicht sich schwarzrot verfärbte.

»Ich meine«, entgegnete der Junge, »mit mir darf jedes Mädchen ohne Furcht allein in einem Zimmer weilen.«

Jetzt wankte der Pfauenwirt mit schwerem Tritt, daß der Boden bebte, an den Tisch, der die beiden trennte.

»Aber mit wem etwa nicht?« heischte er. »Drücke dich deutlicher aus.«

»Deutlicher ausgedrückt: dem Anschein nach zu urteilen wärest du vielleicht lieber selber mit Cathri allein in einem Zimmer geblieben.«

Der Vater holte einen tiefen Atemzug, dann brach er los, mit donnernder Stimme und rollenden Augäpfeln: »Es gibt in Thun ein Gäßchen – verstehst du? mit den Fenstern nach der Aare – verstehst du? und in jenem Gäßchen steht ein Häuschen – verstehst du? und zu dem Häuschen steigen drei Stapfeln. – Battet das? oder muß ich dirs noch genauer bezeichnen?«

Conrad schnellte vom Stuhl: »Und in Bern gibt es ein Brücklein, verstehst du? und hinter dem Brücklein ein Inselein, verstehst du? Und in dem Inselein an einem Fenster ist mit dem Messer ein Datum eingekratzt und neben dem Datum der Name eines Dragonerwachtmeisters, verstehst du? Und der Name fängt mit einem R an und hört mit einem r auf. Genügt das? oder begehrst du Einläßlicheres?«

Sie schleuderten das einander ins Gesicht, über den Tisch gebeugt, bebend vor Wut. Und die feindliche Rede ergänzten haßerfüllte Blicke. Aber als nun von draußen aus dem Gange lebhaftes Händeklatschen laut ward und unterdrücktes Beifallrufen weiblicher Stimmen Conrads Sieg markierte, schwenkte der Alte unversehens in die Wohnstube, ohne ein abschließendes Drohwort, mit unheimlichem Schweigen.

Conrad aber, augenblicklich ernüchtert, blieb tief erschrocken stehen. Was hatte er nur getan! Er, der, soweit seine Erinnerung reichte, niemals gewagt hatte, seinem Vater zu widersprechen, geschweige denn sich gegen seinen Willen aufzulehnen, hatte ihm jetzt getrotzt, Mann gegen Mann und Feind gegen Feind, und ihm dabei seinen angesammelten Abscheu verraten, mit Blicken und Tönen, die man einem nie mehr verzeiht. Beabsichtigt hatte er es nicht, es war ihm nur so entwischt, in der Hitze der Empörung. Allein geschehen war es nun doch. Und mit zagendem Geiste sah er eine furchtbare Woge Unheil sich heranwälzen, wogegen der bisherige Zustand, der ihm unleidlich geschienen, sich nun wie die schöne alte Zeit ausnahm, so daß er sich gar nicht mit der Vorstellung daranwagte. Da, in der Not, tat er einen verzweifelten Gedankensprung in die Zukunft. Er sah den Alten, vom Schlage gerührt, auf dem Todbette röcheln und sich daneben stehen, erschüttert, trauernd und vergebend. Und dieses Bild erweckte nun nicht mehr seinen Abscheu, sondern er sehnte es andächtig herbei, nicht aus Haß, sondern aus hoffnungsloser Bedrängnis des Herzens, als den einzigen Weg der Versöhnung, als einen tröstlichen Schutzgeist, zur Verhütung von Schlimmerem.

»Kommt Ihr nicht auch lieber ein bißchen ins Freie, Herr Reber? statt im dumpfen Zimmer zu bleiben?« mahnte Cathri, auf der Schwelle erscheinend.

»Warum nicht?« antwortete er zerstreut und schickte sich an, ihr zu folgen. Doch unterwegs änderte er den Sinn. »Geht nur voran«, rief er, »ich komme später«, kehrte um und machte sich in der entgegengesetzten Richtung auf, den oberen Stock hinan, nach der Schlafstube der Mutter. Er gedachte ihr ein gutes Wort zu bieten, eingedenk der Mahnung seiner Schwester.

Im Treppenhaus trat eben der Vater zufällig aus der Wohnstube. Sie prallten vor einander weg, wie zwei Bären, die sich unvermutet im Zwinger begegnen. Der Vater schoß in die Stube zurück, der Sohn zog still fürbaß, die Treppe hinan.

Die Schlafstube der Mutter war stockfinster, weil dicht mit Vorhängen verhüllt.

»Seht, da ist es ihn ja selber«, empfing ihn eine grölende Stimme aus dem Dunkel, die Stimme der Base. Und den Satz begleitete ein häßliches Lachen, das ihm höhnisch klang. Wie er mit tastenden Armen dem Bett entgegentappte, fiel er strauchelnd über einen Sessel, der im Wege stand. Und im Fall schlug er sich empfindlich an die Bettlade, während irgend etwas Tönernes mit vielfältigem, nicht endenwollendem Lärm auf dem Boden zerschellte.

»Kann er denn immer bloß Schaden und Unheil stiften, der Ungeratene«, stöhnte die Stimme der Mutter.

Da drehte er sich heftig um, verließ die Stube und stieg wieder die Treppe hinab. »Das habe ich nicht verdient!« knirschte er. »›Ungeraten‹; man ist nicht ›ungeraten‹, wenn man ehrlich und fleißig und unbescholten ist! Obschon man auch seine Fehler haben mag wie jeder andere.« Und immer wieder klaubte er an dem Wörtchen »ungeraten« wie an einem Widerhaken im Fleische. »Wer eine Rettungsmedaille in der Schublade liegen hat, wer von seinem Obersten vor versammelter Front als das Muster eines Offiziers zum Vorbild hingestellt worden ist, der ist kein Ungeratener. Die Ungeratenen, die sitzen in der Kneipe oder je nach Umständen im Zuchthaus.«

Unterhalb der Treppe hinter dem Granatbusch hielt er an und blickte durchs Fenster. Auf der Terrasse räumte das Gesinde den Tanzsaal; daneben saß Cathri giltstmirgleich auf einem Tisch im Schatten eines Oleanders und pendelte mit den Füßen. Doch er war nicht bei seinen Augen; er war bei seinem Zorn, so daß er hin und wieder die Faust ballte. »Artillerieleutnant, das kann man noch nicht ungeraten nennen«, murrte er finster. Und nach einer Weile: »Wer weiß, es wäre wohl manch eine Mutter froh, ihr Sohn wäre, was ich bin und wie ich bin.« Hierüber blieb er am Fenster kleben, nicht weil er hier bleiben wollte, sondern weil er doch irgendwo sein mußte und anderswohin nicht eher gehörte als hierhin.

Während dessen stapfte die Base die Treppe herunter, in Hut und Schal, eine Ledertasche in der Hand.

»So, jetzt gehe ich denn«, krähte sie, als sie ihn gewahrte. »Bist du nun zufrieden?«

Er überwand sich. »Nein, ich bin nicht zufrieden. Im Gegenteil, es würde mich freuen, wenn du bliebest. Ich hatte es nicht böse gemeint.«

»Ei was, Schneegänse im Sommer«, belferte sie. »Verstell dich nur nicht, es ist heute nicht Fastnacht. Hast ja doch einzig nur noch Augen für deinen Zaupf.«

»Zaupf? Was heißt das auf deutsch?«

»Oder meinetwegen Gof oder wie dus am liebsten nennen magst. Ich verstehe mich halt leider nicht so gebildet auszudrücken wie der Herr Leutnant. Übrigens, für die hergelaufene Truschel wird die Bezeichnung wohl noch ehrerbietig genug sein.«

»Wen nennst du eine hergelaufene Truschel?«

»Nun, wen sonst? Diejenige, die einzig noch für dich auf der Welt zu sein scheint, diejenige, nach der du dir die Augen ausguckst, die hochmütige, pompatzige Bernerin, mit einem Wort. Siehst du, wie du strahlst, wie du schmunzelst, wenn man bloß ihren Namen ausspricht. Mach doch nicht Augen, als ob du mich verschlucken wolltest wie der Wolf das Rotkäppchen. Nur ruhig, ich gehe ja, ich laufe, ich springe, ich fürchte mich. Nichts für ungut, daß ich gewagt habe, ihren erlauchten Namen in meinen alten zahnlosen Mund zu nehmen. Leb wohl! Kannst ja viel ungestörter um sie herumschwänzeln, nachdem ich fort bin. Sei doch nicht so grausam, laß sie doch nicht so lange auf dich warten. Sie verzappelt ja vor Ungeduld. Also leb wohl denn, leb wohl! nichts für ungut. Und hoffentlich gibts dasmal kein Unglück, weil die Hexenbase da war. Verdient hättest dus zwar. Also leb wohl denn, du siehst mich wahrscheinlich im Leben zum letztenmal.«

Da ließ er sie ziehen.

Aber nach einigen Schritten drehte sie sich um: »Ich hatte dir eigentlich auch ein Krämlein mitgebracht; es liegt bei der Mutter, sie soll dirs morgen geben, wenn du wieder artiger bist. – Übrigens, du magst mir zuleid tun, soviel du willst, ich bleibe doch immer deine alte häßliche Hexenbase, die dich vorzeiten auf dem Schoß geschaukelt hat, weißt du noch? Leb wohl, Conrad. Leb dennoch wohl!«

Hiermit trollte sie sich.

Er aber begab sich zu Cathri auf die Terrasse.

»Ihr habt also gleichfalls einen bösen Vater?« begann er trübselig.

»Euer Vater ist von Holz, meiner von Stein.«

»Ich begreife nur nicht«, bemerkte er, »wie jemand das Bedürfnis verspüren kann, seinem Nächsten das Leben zu versauern.«

Sie zuckte die Schultern. »Wer weiß, wie wir uns dereinst aufführen werden, wenn wir einmal alt sind. Ihr zum Beispiel scheint mir ebenfalls nicht einer von den Gelindesten.«

»Wieso? Glaubt Ihr denn, das hange mit dem Alter zusammen?«

»Eine einfältige Frage. Mit dem Alter oder mit der Bresthaftigkeit, es kommt auf eins heraus. Oder meint Ihr etwa, Euer Vater wäre zeitlebens so gewesen? Er hätte niemals Maien auf den Hut gesteckt und Jauchzer losgelassen? Ich kann mirs nicht anders zurechtlegen, als es sitzt den Alten ein Skorpion in der Leber, der sie beständig zwackt, so daß sie gallig werden und keinem Menschen mehr ein gutes Wort geben können, ob sies noch so gerne möchten.«

Conrad verfiel ins Nachsinnen. »Sonderbar, das ist mir nie eingefallen. Überhaupt, mir ist, wenn Ihr immer bei mir wäret, ich würde manches leichter ertragen.« Und da sie ob diesem Wort ein wenig rot wurde, berichtigte er angelegentlich: »Verzeiht, ich hatte es nicht so gemeint.« Nachträglich indessen errötete er mehr als sie.

»Und ich habe es auch durchaus nicht so aufgefaßt«, beruhigte sie.

Darauf stockte die Unterhaltung.

Anna nahte. »Die Schlüssel zum Stall verlangt der Benedikt«, sagte sie gleichgültig, die Hand ausstreckend. Nachdem sie die Schlüssel behändigt hatte, warf sie wie beiläufig die Bemerkung hin: »Ihr solltet doch besser vermeiden, so lange beisammenzustehen. Es könnte auffallen.«

»Und wenn?« entgegnete Conrad. »Das heißt, vorausgesetzt, daß es Cathri nicht verdrießt.«

»Mich?« lachte diese verächtlich. »Ich, wofern ich nichts Böses tue, so ficht mich nicht soviel an, aber auch nicht soviel, was die Leute schwatzen mögen.«

»Ach so?« erwiderte Anna spitzig, »seid Ihr schon so weit miteinander gediehen? In diesem Falle maße ich mir freilich nicht an, mich einzumischen.« Und sie verließ mit empfindlicher Miene das Paar, als wäre ihr ein Unrecht widerfahren.

Conrad aber suchte dem Gespräch wieder auf die Beine zu helfen. »Ihr habt Euchs doch nicht etwa zu Herzen genommen, hoffentlich?« begann er auf Geratewohl, »die Schnödigkeiten der Base?«

Cathri lachte. »Warum nicht gar? Dergleichen dringt mir nicht einmal durch die Haut, geschweige denn ins Herz. Du lieber Himmel, da habe ich schon andere Dinge geschluckt, daheim, vom Vater. Überhaupt, wehe tun einem ja nur die Eigenen. Ein ganzer Suppenlöffel voll Gift von fremden Leuten brennt weniger als ein Tropfen daheim. Darum bin ich draus, aus und davon, aus dem Feuer. Und seit ich fort bin, ist mir wohl, ob es schon nicht lauter Rosen sind, was mir die Menschen streuen, wenn man das Geld selber verdienen muß, Fränklein um Fränklein, während man daheim im Dorf die reiche Cathri hieß und die Erste war und des Präsidenten Tochter.«

Sie hatte das mehr für sich gesprochen, in sich hineinschauend; doch Conrad fühlte es mit, so daß er andächtig schwieg, nachdem sie geendigt hatte. Dafür gönnte sie ihm nun ihrerseits etwas Teilnahme, und zum ersten Male klang ihre Stimme nicht völlig frostig, sondern beinahe freundlich, als sie jetzt das Wort an ihn richtete:

»Ihr solltet auch ein wenig fort, Herr Reber«, riet sie gnädig. »Und wäre es meinetwegen nur auf einen Tag oder einen halben. Das beständige Daheimkleben ist für einen jungen Mann nicht natürlich, das macht Euch böses Blut, darum seid Ihr so gereizt und unwirsch. Den Hut auf den Kopf, den Stock in die Hand und hinaus in die reine Frühlingsluft.«

Conrad schaute gierig in die Weite. »Zum Beispiel mit dem Offiziersverein auf die Hochburg? mit dem Zweiuhrzwanzig-Zug?« entfuhr es ihm mit einem tiefen Seufzer. Hiermit zog er die Uhr aus der Tasche und schaute eine lange Weile, sich vergessend, auf das Zifferblatt.

»Ja, oder einfach ein Stündchen ins nächste beste Dorf. Nur damit Ihr neue Gesichter seht und frische Eindrücke empfangt.«

Wieder blickte er sehnsüchtig in die Runde, dann ließ er den Kopf hangen und steckte die Uhr in die Tasche. »Ich kann nicht, ich darf nicht«, murmelte er niedergeschlagen, »heute am allerwenigsten.«

»Warum nicht?«

Er wurde ärgerlich: »Warum nicht? Ihr seid doch sonst nicht so schwerfällig von Begriffen. Warum nicht? Darum nicht, weil heute Sonntag ist, weil wir am Nachmittag das Haus voll Gäste haben werden, weil am Abend getanzt wird, kurz, weil ich nicht kann. Oder meint Ihr, wir hätten umsonst ein halbes Dutzend Kellnerinnen mehr aufgeboten?«

»Ja, ist es denn besser, Ihr zankt Euch mit dem Vater und der Mutter und der Base und womit weiß ich noch herum? Es tut heute nicht geheuer im Pfauen von Herrlisdorf. Es sitzt ein Teufel auf dem Dach. Glaubt mirs, Herr Reber, ich verstehe mich auf derlei Zeichen, ich habe das von klein auf studiert.«

»Seid Ihr etwa abergläubisch?« spöttelte er.

Sie ließ sichs nicht anfechten. »Das weiß ich nicht«, antwortete sie fest. »Übrigens ist wohl jeder mehr oder minder abergläubisch, der einmal die rote Hahnenfeder des Todes in der Nähe gesehen hat oder die schwarze Schnauze des Unglücks. Oder, was meint Ihr, wenn man den eigenen Bruder am Morgen gesund und frisch hat in den Wald ziehen sehen, und zum Mittagessen bringen sie ihn auf der Bahre, und er einem beim Weggehen zugejauchzt: ›Cathri, so glücklich wie heute war ich meiner Lebtag nicht, ich meine, ich sei im Himmel‹, und der Vater ihm nachgerufen: ›Daß du mir vor elf nach Hause kommst, du Aas, oder nie mehr‹, was meint Ihr, könnte man da abergläubisch werden oder nicht? Er kam freilich vor elf nach Hause, der arme Baschi, genau vier Minuten vor elf, aber tot; nicht als Aas, aber als Leichnam. Doch um darauf zurückzukommen, abergläubisch oder nicht abergläubisch, Ihr mögts nun auslegen, wie Ihr wollt, es tut heute nicht geheuer im Pfauen, es droht ein Wetter, es ist Krieg in der Luft.«

»O, was das betrifft«, versetzte er bitter, »Krieg ist bei uns immer in der Luft.«

»Schon recht«, entgegnete sie, »aber es ist nicht bloß das. Es ist wie verschworen, wie mit einer Salbe angestrichen. Jeder von euch sagt etwas anderes, als er möchte; keines von allen meint es mit dem andern bös, und jedes treibt dem andern spitzige Nägel ins Herz. Das beweist doch, daß der Teufel oder etwas Ähnliches auf dem Dach sitzt? oder nicht?«

Erst spielte noch ein Lächeln um seine Lippen, dann ward ihm allmählich ernst und schwer. Lange Zeit blickte er sinnend auf seine Füße, während er mit der Schuhspitze im Kies wühlte. »Was denn tun?« fragte er gedämpft, ohne den Kopf zu erheben.

»Fort!« antwortete sie. »Dem Teufel aus dem Kreis.«

Plötzlich schaute er sie an: »Kämt Ihr mit?« fragte er einladend.

»Herr Reber, jetzt schwatzt Ihr Unsinn«, rief sie ärgerlich und protzte von dannen.

Wiederholte Male während dieser Unterredung hatte Conrad beiseite treten müssen, um nicht von den Tischen gestoßen zu werden, welche das Gesinde aus dem Tanzsaal beförderte, ausgelassen schäkernd, unachtsam und rücksichtslos. »Platz für sieben Mann, es kommt ein halber«, pflegten sie lachend zu befehlen, und jedermann ohne Unterschied mußte weichen. Daran hatte er zwar zunächst kein Ärgernis genommen, da das Gespräch seine Aufmerksamkeit abzog, aber jetzt stieß es ihm nachträglich auf. Und als er vollends den Portier gewahr wurde, wie er Brigitte mit Kies bewarf, nahm er den aufs Korn.

»Portier«, befahl er schroff, »tragt diesen Stuhl da ins Eßzimmer.« Und da ihm weder Gehorsam noch Antwort zuteil wurde, verstärkte er den Ton: »Habt Ihr mich verstanden oder nicht?«

»Es wird wohl nicht so gewaltig pressieren«, maulte der Portier, indem er neuerdings eine Handvoll vom Boden raffte.

Da wetterte ihm Conrad wie der Sturmwind entgegen: »Wenn ich etwas befehle, so pressiert es immer«, erklärte er. Damit packte er ihn mit grausamen Fingern am Ohrläppchen wie mit einer Zange und zerrte ihn schonungslos an den Stuhl, daß ihm die prahlerische Mütze vom Kopfe taumelte. »Meinst, ich werde dich pressieren lehren? meinst, ich bringe es zustande?«

Jetzt gehorchte der Portier greinend. Doch unter der Haustüre angelangt, warf er den Stuhl von sich, fing an zu plärren und drehte sich mit einer rachedrohenden Grimasse nach dem Meister um, ehe er verschwand.

»Recht so«, rief Cathri, vergnügt mit den Händen klatschend, »genau wie unser Hans.« Die Kellnerinnen indessen starrten Conrad scheu an, als sähen sie ihn zum ersten Male. Eine Weile standen sie wie festgebannt, dann flüchteten sie jählings auseinander, bis sie allmählich neugierig zurückkehrten, um sich heuchlerisch etwas zu schaffen zu machen, wobei sie bald ängstlich nach dem Hause lauerten, bald verstohlen den Blick zu Conrad erhoben. So oft eine bei ihm vorbei mußte, wich sie ihm in einem großen Bogen aus.

»Jetzt aber beißt die Zähne zusammen, Herr Reber«, warnte Cathri aufgeräumt, »Ihr könnt Euch auf ein Donnerwetter gefaßt machen.«

Zuerst hatte es nicht den Anschein, als ob sich die Weissagung erfüllen sollte, so daß die Kellnerinnen nach und nach Mut schöpften und, ihre Furcht abstreitend, das Erlebnis ins Komische kehrten.

»Es hat ihm gehört, dem pressierts ein andermal schneller.«

Josephine hob die Portiermütze vom Boden, schlug sie vom Staub rein, stülpte sie sich als Siegeszeichen auf den Kopf und parodierte damit herum.

Da klappte das Wohnstubenfenster auf, und der Kopf des Vaters erschien darin, nach Conrad gerichtet. »Es scheint, du verlangst, daß man dir noch die Rute verabfolge wie einem kleinen Kinde«, schrie er.

Conrad schnellte auf den Absätzen herum. »Es soll das ein einziger Mensch auf der ganzen Welt versuchen«, schrie er zurück, mit einer Stimme, die über die Dächer schallte.

Siehe, da bewegten sich in der Schlafstube der Mutter die Vorhänge. Das wirkte auf ihn wie ein Mirakel, so daß er sich augenblicklich bezwang. Der Vater seinerseits, nachdem er umsonst auf eine Herausforderung gewartet hatte, zog endlich langsam den Kopf wieder einwärts. Das Klappfenster schloß sich geräuschvoll, dann ward alles wieder stumm.

Cathri aber machte sich an Conrad heran. »Im Ernst, Herr Reber«, redete sie ihm zu, »ich wiederhole es zum drittenmal: flieht!«

»Jetzt nicht mehr«, knirschte er. »Jetzt erst recht nicht. Fliehen? Nein, fliehen, das ist nicht meine Art.«

Helene warf ihm im Vorübergehen heimlich das Wort zu: »Herr Reber, der Kutscher läßt Euch melden, ob Ihr auch wüßtet, daß er die Lissi für den Herrn Regierungsrat Lauterbach anspannen müsse? Aber Ihr möchtet ihn doch ja um Gottes willen nicht verraten, daß ers Euch verraten hat.«

»Was? Die Lissi?« brauste er auf. »Ich glaube, Ihr redet im Fieber. Es hat bisher noch niemand gewagt, über die Lissi ohne meine ausdrückliche Einwilligung zu verfügen.«

»So schaut selber nach«, erwiderte sie gedämpft. »Sie steht vor dem Haus, schüttelt den Kopf und scharrt mit den Füßen.«

»Das möchte ich denn doch erst mit meinen eigenen Augen bewahrheiten, ehe ich es glaube«, rief er mit rollenden Augen und machte sich eilends auf, trotzig und entschlossen.

Richtig, da stand sein Rößlein leibhaftig zwischen den Landern, vor dem Einspänner, munter und wohlgemut, mit den Füßen scharrend und die Gebißstange kauend, daß der Schaum spritzte, und glotzte ihn unverschämt an, die treulose, als wäre alles richtig und in Ordnung.

»Benedikt«, forschte er strenge, »wer hat Euch geheißen, die Lissi anspannen?«

»Euer Vater, der Pfauenwirt selber.«

»Gut. So spannt das Rößlein wieder aus und sattelt es. Ich will ausreiten.«

»Euer Vater ist mein Meister, und Ihr seid ebenfalls mein Meister. Ich habe nichts als einfach zu gehorchen. Befiehlt man mir anzuspannen, so spanne ich an, befiehlt man mir wieder auszuspannen, so spanne ich wieder aus. Aber wohlverstanden: die Verantwortung übernehme ich nicht, ich berufe mich auf Euch.«

»Selbstverständlich. Also ich gehe jetzt die Sporen und Reithosen anziehen. Ihr sorgt dafür, daß gesattelt ist, wenn ich zurückkomme.«

»Das wird bald richtig sein – vorausgesetzt, daß kein Hindernis dazwischentritt.«

Conrad faßte ihn scharf ins Auge: »Wenn ich etwas befohlen habe«, bedeutete er nachdrücklich, »so tritt kein Hindernis dazwischen. Die Lissi ist mein. Ich habe sie gekauft, aus meinen langjährigen Ersparnissen; deshalb habe ich über sie zu verfügen und niemand anders.« Dann liebkoste er einen Augenblick seinen Gaul, gewohnheitshalber, ihm die Nase klemmend. Hierauf begab er sich ins Haus.

Im Hausgang versperrte ihm der Vater den Weg mit seinem massigen Körper, der zu beiden Seiten beinahe die Wand berührte.

»Verzeih, Vater«, heischte Conrad höflich, doch bestimmt, »sei so gut und laß mich durch.« Damit drückte er sich behutsam an ihm vorüber.

»Wohin?« schnob ihn der Alte an, als er vorbei war.

»Ausreiten!«

»Du reitest nicht aus!« brüllte er ihm nach.

»Ich reite aus.« Und eilte die Treppe hinauf nach dem zweiten Stock in seine Mansardenkammer, verriegelte die Tür und zog sich gemächlich um, ohne sich im mindesten zu sputen. Knappe Lederhosen, gespornte Wadenstiefel, Samtwams und eine dunkelblaue Halsbinde, die er kunstgerecht zu einer losen Schleife schürzte. Hierauf prüfte er sich oberflächlich im Spiegel, ob er bestehe, ob nichts mangle und nichts gebreche, ringelte sein kleines Schnäuzchen, damit es keck in die Welt schaue, und stolzierte dann mit schallendem Gesang über die Schwelle. Denn der flotte, saubere Reiterstaat hatte ihm Leibesmut und Lebenslust aufgefrischt.

Vor der Mansardentür empfing ihn seine Schwester mit Schmeicheln und Bitten. »Conrad«, flehte sie, »treibs nicht zum Äußersten. Tus mir zuliebe. Was verschlägt es dir, ob du heute ausreitest oder ein anderes Mal?«

»Mich wunderts im Gegenteil«, entgegnete er hitzig, »daß ichs von jemand anderen als von dir erfahren muß, wenn man mir heimtückisch die Lissi entzieht. Oder hältst dus vielleicht jetzt auch schon mit dem Vater?« Und während er sprach, schob er sie mit schonender Hand hurtig beiseite.

»Und der Herr Regierungsrat, der auf die Lissi wartet und dem man sie versprochen hat!« wandte sie vorwurfsvoll ein.

»Versprochen? Es kommt darauf an, wer. Ich nicht. Übrigens tut der Bläß oder der Scheck oder der Kohli genau denselben Dienst. Man braucht nicht aus lauter Bosheit, eigens mir zuleide, gerade die Lissi zu wählen.«

»Gelt!« versetzte sie beleidigt, »wenn dich Cathri darum gebeten hätte, du hättest gleich nachgegeben!«

»Und die Handschuhe!« rief sie ihm nach, »die Handschuhe! Du wirst doch nicht ohne Handschuhe ausreiten wollen!«

Im mittleren Stock zitterte die Mutter unter der Schlafstubentür: »Willst du mich vollends unter die Erde bringen?« hauchte sie.

»O nein«, erwiderte er kalt, indem er vorüberschritt, »bloß selber ein bißchen leben, nachdem ich doch einmal auf der Welt bin, und nicht durch meine Schuld. Das heißt, vorausgesetzt, daß man das überhaupt noch ein Leben nennen kann, wenn man einem jede Lebenslust verleidet, jede Freude verdirbt, jedes Lachen, jede freie Bewegung, jedes harmlose Wort zum Verbrechen stempelt.«

Auf dem Weg nach dem Telephonstübchen, wo er die Reitpeitsche hangen hatte, hörte er den Vater in der Wohnstube toben. »Ich bring' ihn um. Ich schlage ihn tot wie einen tollen Hund.«

»Das gäbe eine Beschäftigung für den Staatsanwalt«, rief Conrad.

Ob er schon wußte, daß der Vater das Wort nicht vernehmen konnte, gewährte es ihm doch Genugtuung, es laut zu rufen.

Wie er nach Behändigung der Reitpeitsche sporenklirrend auf den Platz trat, der Lissi entgegen, welche, vom Kutscher gehalten, gesattelt und gezäumt bereitstand, folgten ihm unbeholfene, schlurfende Schritte, ein Schatten überholte ihn, er hörte einen mühseligen Atem röcheln, und mit einem schnellen Seitenblick erkannte er den Vater, mit einer Geißel bewaffnet, aber verkehrt, den Griff nach oben, die Faust um die Mitte des Stockes geklammert.

Da musterte er mit absichtlicher Umständlichkeit Zügel und Bügel, untersuchte das Gebiß und prüfte mit untergeschobener Flachhand den Sattelgurt, beobachtete jedoch bei alledem jede Bewegung des Vaters. »Den Sattelriemen eine Nummer fester schnallen, Benedikt; er schlottert.«

Und während der Kutscher dem Gebot nachkam, sprach er der Lissi freundschaftlich zu, welche aufmerksam die Ohren spitzte und sie hierauf eines nach dem andern zurücklegte.

Einiges Volk hatte sich auf dem Platz gesammelt, um das zierliche, schmuck aufgezäumte Tierchen zu begaffen. Vom Hause her aber drang unterdrücktes Flehen jammernder Frauenstimmen.

»Vater, versündige dich nicht! Denk an Gott und den Heiland!«

»Conrad, wie kannst du das vor uns und deinem Gewissen verantworten!«

Ratlose Gestalten, in sinnloser Angst die Hände verwerfend, huschten unentschlossen vorwärts und rückwärts, mit dem schüchternen Bestreben, sich zwischen Vater und Sohn einzuschieben. Darob wurde jedoch die Lissi unruhig, begann zu tanzen und machte Miene, zu steigen und auszuschlagen.

»Weg von dem Rößlein, in des Teufels Namen, mit dem verfluchten Weibervolk«, schnauzte der Kutscher in seiner Not, da er das Tierchen kaum mehr bemeisterte.

In dem Augenblick, als Conrad sich anschickte, dem Kutscher die Zügel abzunehmen, stellte sich der Alte mit gespreizten Beinen fester, holte mit weitem Arm aus und hob den Geißelstock. Halb erstickte Schreckensschreie ertönten, das Pferdchen entsetzte sich mit jähem Sprung im Halbbogen um seine Achse; der Kutscher, die Füße stemmend, fluchte den ganzen Kalender herunter, Conrad aber bohrte dem Vater einen feindseligen Blick in die wutentzündeten Augen.

Da trat Cathri ruhig mit langen Schritten vor und legte die Hand auf den Arm des Pfauenwirts. »Herr Reber«, sprach sie gelassen, mit lautem, nachdrücklichem Ton, »der Gaul verträgt die Peitsche nicht. Der ist ohnehin feurig genug. Gebt die Geißel lieber mir.« Und nahm ihm den Geißelstock sanft aus der Hand, einfach und zuversichtlich, als verstände sich das von selber.

Der Alte aber war so verblüfft, daß es geschehen war, ehe er mit sich eins geworden, ob er es dulde oder wehre.

Unterdessen hatte sich Conrad behend und leicht in den Sattel geschwungen, trotz seiner Größe, und ritt nun, Cathri einen militärischen Gruß mit verbindlichem Lächeln bietend, in förderndem Schritt von dannen.

Hinter sich aber vernahm er den empörten Ruf seiner Schwester: »Es sieht nachgerade schon völlig danach aus, als ob Cathri im Pfauen regierte.«

Er lenkte zum Dorf hinaus, planlos dem Weg folgend, den Rain hinab durch die Kirschenallee nach der Eisenbahn, wo er den Schienenübergang gesperrt fand. »Ihr mögt noch bequem hinüber, Herr Reber«, knurrte freundlich der Bahnwärter und hob die Schranken. Jenseits des Geleises aber kam ihm Conrad zuvor, indem er mit dem Pferde schlank über den Balken setzte, in zwiefältigem Ruck, jäh in die Höhe, zurückhaltend hinab.

Dann strebte er weiter, zwischen Station und Stations-Pintenwirtschaft hindurch. Von rechts her warf ihm der Stationsvorsteher einen launigen Gruß nach, den er im selben Stil erwiderte: »Glückliche Reise, Herr Batteriekommandant.« »Viel Vergnügen, Herr Betriebsdirektor.«

Gegenüber, zur Linken, vor der Pinte, stand die Neuberin, die Schankwirtin, ein Büblein auf dem Arm, das ihn mit übermäßigen Augen bewundernd anstarrte.

»Hast dus gesehen?« lachte sie dem Kinde in die Augen, das sie wie ein Spreuerkissen schüttelte, um seinen Geist aufzurütteln: »Hast dus gesehen, das Rößlein, wie er mit ihm über den Balken sprang, der Herr Pfauenwirt?«

»Hü! hü!« lallte das Büblein, aufjuckend, dann ließ es ein widerspenstiges Geschrei los, denn die Neuberin fraß ihm vor Wonne das Gesicht. Hinter dem Gartenhag aber, unter dem blühenden Kastanienbaum, lungerte die Jucunde, die sogenannte Nichte der Neuberin, mit ihrem unsinnigen Strubel, endlos, weglos und verirrlich wie ein Urwald. Sie machte Augen wie Pflugrädlein, rührte sich jedoch nicht, außer daß sie an den Fingernägeln kaute. Einen brandzündigroten Rock trug sie heute zur Schau, aber natürlich wie immer ohne Gestalt noch Gürtel, sondern bauschig wie ein Schlafrock. Es fehlten zur Hauderin nur die bloßen Füße.

Er vermied geflissentlich, die eine oder die andere zu grüßen, sondern trieb abgewandten Blickes vorüber. Endlich vorn auf der Landstraße angekommen, in welche sein Weg mündete, schlug er einen Trab an, in der Richtung nach dem Kurbad. Bald indessen verkürzte er die Zügel. Denn seine Gedanken waren daheim geblieben, und die holten ihn nun wie mit langen Hacken ein. Wozu auch vorwärts trotten? Irgendwohin begehrte er nicht; und nachdem er bewiesen, daß über die Lissi er allein zu verfügen habe, war sein Zweck erfüllt. Die Hauptsache aber war: die Gefahr, die seiner zu Hause wartete, zog ihn an. Er spürte: was ein rechter Mann ist, schiebt die Schwierigkeiten nicht in die Zukunft und weicht dem Kampf nicht aus, sondern stellt ihn. Er kehrte also um, den zurückgelegten Weg eilends wieder auflesend, so daß er in wenigen Minuten abermals den Bahnübergang erreichte. Diesmal war soeben ein Zug eingefahren, ein zweiter von unübersehbarer Länge hielt auf der Talseite vor der Signalstange, auf das Zeichen zur Einfahrt harrend. Da schöpfte er einen ansehnlichen Vorrat Geduld, verlängerte die Zügel und wartete vor dem Schlagbaum, wobei die Lissi mit schmunzelnden Nüstern neugierig nach dem Wagenfenster schnupperte, als wollte sie sagen: ›Kann mir vielleicht einer von euch ein Schnupftuch leihen?‹ Es war ein Wagen zweiter Klasse. Gelangweilte Gesichter stierten ihm daraus entgegen, stumm und mürrisch, als ob sie nächstens bellen wollten. Nein, ganz unparteiisch, die Lissi hatte entschieden ein menschlicheres Gesicht. Nebenan aus der dritten Klasse lärmte Fußstampfen, Gejohl und Blechmusik. Köpfe bockten durch die Fenster aus und ein, mit heftigen, überschüssigen, unzweckmäßigen Bewegungen; verdutzte Rudel schossen die Treppe auf und nieder, wobei sich Zusammenstöße ergaben. Allmählich aber hefteten sich alle Blicke auf ihn, den einsam ragenden Reiter, um die zehntausendjährige Neuigkeit zu bestaunen, daß ein Zweibein auf einem Vierbein sitzt. Da er jedoch nicht aufgelegt war, sich von dem müßigen Reisevolk wie ein Jahrmarktswunder anglotzen zu lassen, drehte er sein Pferd um, das Hinterteil dem Wagen zugekehrt.

»Conrad«, rief ihn eine bekannte Stimme aus einem der hintersten Wagen an: »Bist du heute abend gegen sechs Uhr daheim?«

Es war Leutolf, der Leutnant der Waldishofer Feuerwehr. Sein silberner Helm mit dem purpurroten Haarbusch glitzerte weithin; neben ihm kamen messingene Helme in großer Zahl zum Vorschein.

»Warum?« fragte Conrad zurück.

»Wir machen nämlich einen Ausflug nach Rubisthal, zu Ehren der Spritzenmusterung, und denken auf dem Rückweg im Pfauen einzukehren.«

»Ja«, beschied er nach einigem Zögern, da er keinen vernünftigen Grund hatte, nein zu sagen. Auch mochte er die Waldishofer als wackere, pflichttreue Leute besonders wohl leiden.

Aus der vorderen Hälfte des Zuges, nahe der Lokomotive, winkte unablässig ein Taschentuch, bis ihm endlich die Ahnung aufdämmerte, das flatternde Fähnchen könnte möglicherweise ihm gelten. Wie er dann Front danach machte, erkannte er die Base.

»Leb wohl, Conrad!« schrie sie ihm zu, mit überschnappender Stimme. »Mach dich lustig! Und bessere dich! – Du nimmst dich gut aus auf deinem Rößlein. – Ja, reiten und soldäteln und dergleichen brotlose Künste, das muß man dir lassen, die verstehst du aus dem ff. Hingegen mit dem Pflug zu Acker fahren, gelt, das ist dir zu gemein, zu schmutzig?«

So von weitem erschien ihm jetzt die Base lieblich und traut, so daß ihm ganz heimatlich ums Herz ward. Und da sich eben der Zug mühsam in Bewegung setzte, rief er zurück, mit der Hand winkend:

»Komm bald wieder. Ich zähle darauf«

»Zählen macht Kopfweh!« grölte sie.

Der Zug geriet inzwischen ins Laufen. »Also du kommst?« schloß er ab: »Du hast mirs versprochen?«

»Wir wollen dann sehen, wenns finster ist«, gackerte sie aus Leibeskräften. Und mit äußerster Anstrengung, den Oberkörper aus dem Fenster biegend, schrie sie:

»Paß jetzt nur auf, daß es diesmal nicht wieder ein Unglück gibt.«

Dann reichten ihre Stimmen nicht mehr. Nun winkten sie sich zu, solange sie einander zu unterscheiden vermochten, sogar noch ein Weilchen länger, ledig der Richtung nach. Allmählich verschwand die Base mit dem enteilenden Zug in den verschwimmenden Wagen, einen freundlichen Schimmer zurücklassend, wie ein Sternchen, dessen Namen man kennt.

Allein nun auch den andern Zug geduldig abzuwarten, der jetzt umständlich herbeischlich, mit einer Miene, als wollte er sich auf ewig vor der Station niederlassen, nein, soweit reichte seine Langmut nicht. Er begab sich daher einige Pferdelängen von dem Bahngeleise weg, um die Zeit durch Bewegung zu betrügen.

Plötzlich, wie er neben dem Pintengärtchen anlangte, beim Anblick der roten Kastaniensträuße über der bräunlichen Thujahecke, beizte ihm die großäugige Jucunde, die er hier geschaut hatte, wie gewürzter Speisebrodem in die Vorstellung. Zwar, man mied sonst die Stationswirtschaft, der Jucunde wegen; und er nicht minder als jeder andere, ebenfalls der Jucunde wegen. Doch heute beherrschte ihn einmal der Trotz, so daß er, was sich ihm als verboten aufspielte, um so nachdrücklicher tun mußte.

Er schwenkte also vor die Schenke mit dem bestimmten Vorsatz, jeden, der ihm das später aufmutzen wollte, derb abzufertigen, sprang ab und übergab das Pferd dem beflissen herbeistoffelnden Knecht: »Führt das Tierchen in den Stall«, gebot er; »und daß Ihrs keinem andern Menschen ausliefert, wer es auch sei. Verstanden?«

Schmunzelnd trippelte die Neuberin herbei, mit überschwenglichen Freudenbezeugungen ihn bewillkommnend, ein breitspuriges Gerede von unverhoffter Ehre anhebend.

»Und so weiter, trallala!« unterbrach er sie.

»Jucunde!« belferte sie freudig in den Hausgang, »Jucunde, rate einmal, wer uns die Ehre schenkt! – Die wird die Augen aufsperren! Wenn Ihr nur wüßtet, wie sie Euch nachschaut im geheimen, jedesmal, wenn Ihr vorbereitet! Das einfältige Affending, als ob das jemals zusammenpaßte, der stolze Herrensohn aus dem Pfauen und die verachtete Jucunde von der Station! Jucunde! Jucunde! Wo hast du nur deine Ohren?!« Einstweilen nahm sie das Büblein vom Boden auf, das ihr an der Schürze hing. »Siehst du, das ist jetzt der schöne Herr, der mit dem Rößlein über den Balken sprang. Betrachte ihn genau, denn wer weiß, wie lange es währt, bis du wieder einmal das Glück hast, ihn von so nahem zu sehen. – Er heißt auch Conrad, wie Ihr«, fügte sie zu seiner Empfehlung hinzu.

»Ein hübsches Büblein«, geruhte er leutselig. »Und was für prächtige Samtaugen es hat! Wem gehört es? Es gleicht fast ein wenig der Jucunde.

Die Wirtin verzog ein Schalksgesicht, verlegen, pfiffig und belustigt. »Es gleicht ihr leider nur allzusehr«, platzte sie endlich lachend heraus.

Inzwischen bequemte sich Jucunde selber heran, weich und schwer, mit berufsmäßiger Wohldienermiene. Sobald sie aber den Pfauenwirtssohn erkannte, blieb sie mit sperroffenem Munde stehen, und zwei große Tränen rollten ihr über die Backen.

»So sei doch manierlich, du alberne Wachtel«, schalt die Neuberin. »So grüß doch den Herrn Reber, so führ ihn ins Gärtchen und zeig ihm den Weg.«

Jetzt strahlte Jucunde mit der ganzen Breite ihres gutmütigen Gesichts und schritt voraus ins Gärtchen, beständig sich umschauend, ob er auch wirklich leibhaft folge. Und da ihr immer neue Tränen nachrieselten, wischte sie lachend den Arm über Mund und Nase.

»Ihr müßt nichts für ungut nehmen, Herr Reber«, entschuldigte sie sich, »ich bin halt ein gar unglaublich einfältiges Geschöpf. Wollt Ihr im Hüttchen Platz nehmen? oder in der Laube? oder vielleicht dort in der Ecke unter dem Kastanienbaum?« Dabei scheuchte sie händeklatschend ein Huhn weg, das auf einem der Tische lustwandelte.

Er wählte die freie Mitte, wo der Kastanienbaum noch knapp mit seinem Schatten reichte und wo er zugleich den Pfauen im Auge hatte, der vom Hügel herunterschaute wie eine Burg von einer Schanze.

»Roten oder Weißen?« fragte Jucunde glückselig. »Roten wahrscheinlich.«

Und da er gleichgültig nickte, eilte sie dienstfertig von hinnen.

Er aber dehnte die Glieder und führte die Augen spazieren:

Etliche Gäste, Stück sieben oder acht ungefähr, kauerten gelangweilt im Gärtchen. Neue sickerten herbei, teils vom Gartenpförtchen, teils vom Hausgang. Das Bahngeleise war geräumt. Demnach mußte der zweite Zug mittlerweile gleichfalls ausgefahren sein. Von der Station wallte in dichten Scharen Stadtvolk und Landvolk ameisengleich den Rain hinauf, dem Pfauen entgegen, offenbar den beiden Zügen entstiegen. Die Mehrzahl steuerte zur Linken die Kirschenallee hinan, andere quer durch die Wiese, auf dem Fußpfad, vereinzelte wenige auch rechts auf dem Karrenweg längs dem Rebberg. Eine Musikbande war darunter, die Instrumente, sorgsam in grüne Zeugfutterale gehüllt, unter dem Arm.

Wirklich, eine vorteilhaftere Aussicht auf den Pfauen ließ sich nicht denken. Wie auf einem Teller lag er vor ihm, majestätisch auf vorragender Höhe, stattlich in seiner weitläufigen Breite: links der Gasthof, in der Mitte die gemauerte Terrasse mit den kugelrunden Akazienbäumchen in Reih und Glied, die freilich um diese Jahreszeit noch gar dürftig belaubt waren, hinter der Terrasse der Tanzsaal, endlich zur Rechten, wo die Terrassenmauer auslief, der Holzschuppen und die Kegelbahn. Den luftigen Zwischenraum kreuzten Schwalben, steigend und fallend wie Steinwürfe, hoch oben in der Himmelskrone schwammen leichte Flockenwölklein.

Allein das alles sah er nur so beiläufig, weil er es schlechterdings nicht übersehen konnte. Etwas anderes suchte sein Blick dort oben, jemand, nach welchem sein Haß begehrte, und da der Blick nicht reichte – denn der Abstand war zu weit –, erreichten ihn seine Gedanken.

Also wirklich schlagen, mit dem Peitschenstock über den Kopf schlagen hatte er ihn wollen, der Unhold!

Bei dieser Erinnerung stieß seine Faust den Tisch heftig von sich, daß er torkelte. Beschämt rückte er ihn wieder zur Stelle. Nein, verbesserte er sich, vergriffen, an dem Vater vergriffen hätte er sich doch nicht; trotz allem; soweit kannte er sich immerhin noch selber. – Freilich, zur Notwehr, im Jähzorn, wenn der Schimpf brannte und die Wunde biß! – Und wofür? Bitte wofür? Was hatte er denn verbrochen? Es sollte doch ein einziger Mensch kommen und ihm sagen, was er Unrechtes getan hatte!

Seine Augen rollten, und seine Finger krampften sich, während er einen Falkenblick nach dem Gasthof schickte. Mit gekniffenen Brauen brütete er dann eine Weile geistesabwesend vor sich hin. »Mörder!« knirschte er unversehens. Und wie berauscht von dem blutigen Klang wiederholte er das Wort immer von neuem, zuerst in längern, dann in kürzeren Pausen. Endlich, beim sechsten Male, sprangen alle Fesseln der Gedanken. Unbedenklich stieß er jetzt mit glühendem Wunsche den Vater in die Grube wie mit einem Dolche. – Darauf seufzte er erleichtert. Welche Erlösung! Kein Zank, kein Verdruß mehr. Herr in Haus und Hof und Feld, geachtet und geehrt, geschätzt und gefürchtet. Niemand, der sich fortan unterstehen wird, ihm einen Verweis zu erteilen. Was ihm belieben wird, wird er befehlen, und was er befehlen wird, wird geschehen!

Und gierig ergriffen nun seine Blicke Besitz von dem väterlichen Eigentum, Stück um Stück, Acker für Acker, Baum für Baum, jubelnd und grimmig, wie der Habicht, der die Faust um die Lerche krallt.

Aber von dem Anschauen des farbenstrotzenden Hügels geriet er allmählich ins Sinnen und vom Sinnen ins Träumen. Ein Bild stieg vor ihm auf. Eine Festhütte unten am Hügel in der Au, worin er die gesamte Mannschaft seiner Batterie freihielt, Offiziere und Gemeine, und zwar großartig, mit einem ausgesuchten Essen, wie man noch keines im Lande erlebte, mit der Konstanzer Musik dazu und Überraschungen für die Offiziere beim Nachtisch und Geschenken für die Soldaten, daß es für jeden einzelnen zeitlebens eine Erinnerung bleiben sollte.

Das Bild bestand längere Zeit, deutlich und klar. Dann begann es zu schwanken, und ein anderes trat hervor:

An der Stelle, wo gegenwärtig der alte häßliche Tanzsaal sich breitmachte, baute er ein Häuschen, nur ganz bescheiden in Riegelfachwerk, kein ›Stil‹ und Balkone und Badezimmer und Zentralheizung, aber freundlich und wohnlich, mit frohmütigen Zimmern, mindestens drei Meter hoch, und einer geräumigen taghellen Küche, und Wandschränken, soviel nur angingen, und einer breiten, bequemen Laube, damit man im Freien essen kann. Maurer standen auf den Gerüsten, anstellige Welsche aus dem untern Tessin, singend wie die Lerchen, vom Morgen bis zum Abend. Unten hantierten die Maler an den grünen Fensterläden, Wasserdeutsche aus dem Norden in Jägersamt und Schlapphüten, – er meinte, er röche die Farbe. Anna guckte ihm über die linke Schulter, der Doktor über die rechte. ›Was in aller Welt baust du denn eigentlich da?‹ knurrte der Doktor in seiner überlegenen Besserwisserei. Denn, seine Wissenschaft in Ehren, und durchaus nicht das mindeste gegen den zukünftigen Schwager, aber sonderlich begabt war er nun einmal nicht, der Doktor, das hätte er selber zugestehen müssen, wenn er nicht ein bißchen zu beschränkt dazu gewesen wäre. Und die Schwester antwortete aus ihren schönen klugen Augen: ›Jedenfalls etwas Unpraktisches.‹ Man ist ja immer ›unpraktisch‹, im Urteil der Weiber. Er aber zog gelassen eine Urkunde aus der Tasche und reichte sie den beiden hin. Da rieselten der Schwester die Freudentränen in den offenen Mund, so daß sie ihm nicht einmal gleich zu danken vermochte. Und der Doktor drückte ihm unaufhörlich die Hand: ›Aber Conrad, Conrad, was denkst du auch? Das können wir ja unmöglich annehmen.‹

Ein Maikäfer purzelte kopfüber auf den Tisch, zappelnd, um sich aufzurichten. Nachdem er ihn gewissenshalber, wiewohl widerstrebend, vernichtet, knüpften seine Gedanken wieder vorne an. Eigentlich, grübelte er, in gewisser Hinsicht war es beinahe schade, daß Cathri einsprang. Er hätte doch erfahren mögen, ob der Alte den Hieb übers Gewissen brachte. Zwar, an sich betrachtet, eine Staatsleistung war es, so ruhig und einfach, mit dieser überlegenen Sicherheit, dem wahnsinnigen Wüterich gegenüber, der zu allem fähig war, während Schwester und Mutter mit ohnmächtigem Flennen tatenlos zuschauten. Und der Ton, mit dem sie das gesagt hatte! Überhaupt ihre Stimme! Zwar nicht eigentlich, was man eine sympathische Stimme nennt, obschon ja der Ton dem Ohr äußerst wohlgefällig klang: hart und kalt, als ob man einen Degen aus einer Samtscheide zückte. Indessen, eine Stimme, die einem Rettung in der Not gebracht, die hat halt einen besondern Kern! Ihm ward zumute, als hätte er in jenem Augenblick mit Cathri eine Verwandtschaft eingegangen, und zwar eine innige. Oder nein, nicht Verwandtschaft, denn was sind Verwandte? Menschen, die einem das Leben verbittern, mit dem Anspruch, das als einen Beweis der Liebe zu verdanken. Freundschaft vielmehr. Beim Kuckuck, warum auch sollte man nicht mit jemand, der einem zusagt und der einem Gutes getan, plötzlich Freundschaft schließen? Freundschaft ist doch kein Mostapfel, daß sie nur allmählich reifte! Plötzlich lächelte er vor sich hin, als ob er in etwas Leckeres gebissen hätte. Es war ihm nämlich eingefallen, daß Cathri eine ledige Jungfrau war und er ein heiratsfähiger Bursch, woraus sich verlockende Möglichkeitsbilder entwickelten, denen er träumerisch nachhing.

Jucunde erschien mit dem Wein, in einem Atem sich lästerlich anklagend und angelegentlich entschuldigend wegen der sträflichen Vernachlässigung, während sie ihm übereifrig einschenkte. Ehe sie wieder davoneilte, wand sie ihm hastig den Arm ums Gesicht, wie ein Naschwerk, um ihn zu vertrösten.

Er aber stieß angeekelt das fremde Fleisch beiseite und fuhr unbehindert in seinen lieblichen Träumereien fort, denn er hatte sich durch die Störung nur oberflächlich wecken lassen. Freilich, gesetzt den Fall, zum Beispiel, er möchte und sie willigte ein, so würde er natürlich Feuer und Flamme dagegen speien, der alte Drache, daran war nicht der mindeste Zweifel. Nun, um so besser, dann gerade erst recht! Hiermit war er wieder da angelangt, wohin er stets im Kreis zurückkehrte: bei ihm, dem Unvermeidlichen, dem Unausstehlichen, dem Feind seiner Beschaffenheit und Eigentümlichkeit, Feind seiner Wünsche, Pläne und Hoffnungen, Feind in allem und jedem, überall und immer.

Neuerdings packte ihn der Groll und krampfte sich seine Hand, aber diesmal um das Weinglas, das er mit einem einzigen Zuge leerte, trotz dem sauren gepanschten Krätzer. Darob wandelte sich der Groll in Zorn, und der Zorn stiftete ihn wieder zum Trinken an. Bald verwirrte sich sein Geist. Ein Taumel betäubte ihn, durch welchen er bloß noch das Hämmern des Blutes gegen die Schläfen spürte, verbunden mit dem leidenschaftlichen Gelüsten, irgend etwas Gewaltsames zu vollführen, und zwar lieber früher als später, am liebsten auf der Stelle.

Ein roher Lärm tobte durch den Hausgang, untermischt mit festlichen Jauchzern, und gleich einem Feuerläufer kam der Knecht aufgeregt um die Ecke gesprungen: »Die Niederwagginger sind da«, meldete er mit wichtiger Miene.

»Jucunde, schnell! Flaschen und Gläser, soviel da sind!« gellte die Neuberin, hüpfend vor Freuden.

Zu spät. Schon ward das Gärtchen von einer Rotte ungeschlachten Volkes erobert, das sich stürmisch auf die Stühle warf, im Nu jedes Plätzchen besetzend. Der Rest wirbelte hin und her, nach Bedienung lärmend und Wein begehrend. Sessel wurden als Beute aus den Zimmern herbeigeschleppt, hoch über die Köpfe erhoben, Weinflaschen reihenweise nach Dachdeckerart von Hand zu Hand vermittelt, alles so tumultuarisch wie möglich, aber in Frieden und Eintracht. »Heute gehts den Oberwaggingern an den Kragen!« triumphierte eine Stimme. »Der Tanz im Pfauen wird wohl heute schwerlich bis Mitternacht währen«, höhnte ein anderer. Beifallsgelächter erscholl, Fäuste wurden prahlerisch geballt, gespannte Muskeln vorgewiesen, Stöcke geschwungen. Hinter den Burschen aber erschien nachträglich ein verschämter Weibertrupp, das Getümmel vermehrend, festlich geputzte Jüngferchen, Feldblumensträuße vor dem flachen Busen. Schüchtern schoben sie sich in die Lücken des aufgeregten Mannsvolkes, glückselig inmitten der Püffe und Tritte. Keine Bedienung vermochte das menschliche Dickicht zu durchdringen. Wo immer die Neuberin oder Jucunde sich hervorwagten, ward ihnen mit handgreiflicher Zärtlichkeit dermaßen zugesetzt, daß sie schleunigst die Flucht ergriffen. Dabei hieben sie weidlich mit den Fäusten drein, die eine wie die andere, unter entrüstetem Quietschen und Belfern, übrigens mit dem vergnügtesten Gesichte der Welt. Sie genasen augenscheinlich in dem Höllenbreugel.

Conrad hatte keine Zeit gefunden, sich vor dem ungestümen Menschenschwall zurückzuziehen; infolgedessen sah er sich auf seinem Platz festgepreßt, so daß ihm nichts übrig blieb, als sich so schmal wie möglich zu zwängen. Das ertrug er zwar ergeben, wie man ein Naturereignis erträgt, allein in der übelsten Laune. Plötzlich juckte er auf und sträußte die Ohren. Nämlich die Worte ›Pfauen‹, ›Kellnerinnen‹, ›karessieren‹ hatten ihn getroffen. Und wie er den Kopf danach wandte, gewahrte er einen langen Lümmel mit einem schiefen Karpfenmaul und abstehenden Ohren, schlüpfrig wie ein Regenwurm, dem ers etwa zutraute. In der Tat, der verdrehte zischelnd die lüsternen Augen. Schon wollte er sich angewidert abwenden, da glaubte er zu hören: ›die schöne Anna vom Pfauen‹. Nein wahrhaftig, da sagte ers noch einmal, ganz deutlich, der Wicht: ›die schöne Anna vom Pfauen‹.

»Ihr dort! Nehmt den Namen meiner Schwester nicht in Euer schmutziges Maul«, herrschte Conrad hochfahrend, so rauh und beleidigend, daß er selbst davor erstaunte; ein Ton wie eine Ohrfeige.

Der Regenwurm kehrte sich zögernd herum, nicht einmal sonderlich verwundert, betrachtete den Gegner geraume Weile mit lauerndem Blick, dann erwiderte er mit flauer Stimme: »Man sagt ja durchaus nichts Schlimmes von Euerer Schwester, nicht im mindesten, im Gegenteil.«

Hiermit wähnte Conrad den Fall erledigt. Indessen der andere ließ ihn mit seinem tückischen Blicke nicht mehr los:

»Es darf ja einer sogar den Namen Gottes aussprechen«, munkelte er, »da wird der Name der Jungfer Reber wohl auch noch erlaubt sein. Schließlich ist sie ja doch nur ein Mensch wie wir. Oder was denn sonst?«

Und immer von neuem setzte er verbissen an, während Conrad sich verächtlich abkehrte, aber doch heimlich hinhorchte, wie ein Tiger, der gereizt wird und sich einstweilen noch beherrscht.

»Ein Maul braucht deshalb noch lange nicht schmutzig zu sein, weil es Schwarzbrot ißt statt Weißbrot. Es gibt Mäuler, die Hühnchen fressen und sind doch schmutzig.« Und ferner: »Wenn einer schon reich ist und ein Rößlein im Stall hat und eine Uniform im Schrank, so hat er deswegen nicht nötig, solch einen hochmütigen Ton mit dem Volke anzuschlagen wie mit einem unsinnigen Stück Vieh.« Dann wieder nach einer Weile: »Er kommandiert auch nicht immer so laut, der Herr Leutnant. Daheim im Pfauen, dem Vater gegenüber, redet er einen sanfteren Violinschlüssel, vorausgesetzt, daß er überhaupt zu reden wagt.«

Ein höllischer Pfiff durch die Finger schrillte Alarm. »die Oberwagginger!« scholl es wie Kriegsruf.

»Wo?« brüllten Dutzende von weinheisern Kehlen.

»Haraus!« krächzten andere, und wie ein Rudel Hirsche brach die vollzählige Dorfmacht durch den Hag, um des Feindes ansichtig zu werden. Was im Wege stand, wurde rücksichtslos zu Boden gerannt, Tische mitsamt dem Geräte, Stühle zugleich mit den daraufsitzenden Zechern, einerlei wer oder was.

Solange Conrad nur zufällig Stöße mit abbekam, hielt er an sich. Höchstens, wenn sie ihm über die Füße stampften, warf er die nächsten kurzerhand über den Haufen, verteidigungshalber, was diese auch keineswegs wichtig krumm nahmen, sondern sich gleichmütig wieder auflasen, als wären sie über einen Schemel gestrauchelt. Höchstens daß ihm einer oder der andere flüchtig die Faust wies. Einer entschuldigte sich sogar:

»Ja so! Uha! Nichts für ungut, Herr«, stammelte er verträglich, mit linkischem Gruß.

Ein Hieb jedoch traf ihn so spitzig, so ausdrucksvoll, so beredt in den Rücken, daß er Absichtlichkeit witterte, und wie er sich blitzschnell herumwarf, überraschte er hinter sich den Regenwurm, der keine Frist mehr hatte, eine harmlose Miene zurechtzulegen, sondern, sich ertappt fühlend, die Flucht ergriff, im Gewühl untertauchend, die Arme zum Schutz über den Kopf gekreuzt wie ein Schulbube. Er flugs ihm nach, mitten durch den Haufen, den er gewaltsam teilte. Am Gartenpförtchen hatte er ihn, packte ihn am Kragen und schmiß ihn mit einem Fußtritt auf die Straße. Es war sonst nicht seine Gewohnheit, der Fußtritt. Allein diesmal überkam es ihn wie eine Offenbarung; diesem mußte er einen Fußtritt verabfolgen, seiner Schwester zu Ehren und dem schiefen Maul zuliebe. Nachher spürte er sofort eine wohltuende Zufriedenheit, so daß er ruhig den Aufmarsch der feindlichen Bauernheere besichtigen mochte, als Zuschauer.

Die Niederwagginger waren bereits sämtlich draußen auf der Straße, gefolgt von dem Weibertrupp, der teils abmahnend, teils mit neugieriger Abenteuerlust sich anhängte, alle ohne Ausnahme mit erhöhtem Respekt vor den gewalttätigen Knaben. Erst hielten diese Kriegsrat. »Punkt sechs schlagen wir los, nicht früher und nicht später«, lief es durch die Reihen. Dann nahmen sie die Jungfern in die Mitte und schlossen die Glieder; hierauf drückten sie die Hüte tief über die Stirn und schritten mit geducktem Kopf scheinheilig fürbaß, dem Dorfe entgegen. Vor ihnen her in geraumer Entfernung, seitwärts im Kornfeld zur Linken der Kirschenallee, zog die Oberwagginger Dorfschaft mit ihren Weibern, ebenfalls in scheinfrommer Verfassung. Beide Haufen beobachteten einander, sorgsam darüber wachend, daß der Abstand zwischen ihnen sich weder erweitere noch verkürze. Von Zeit zu Zeit schnellte ein Kopf aus der Nachhut empor, wie ein Hahn, der krähen will, schickte rasch dem Feind ein fistelndes »Haraus« entgegen und versteckte sich hurtig wieder im Knäuel. So rückten die beiden Truppen allgemach vor, den Rain hinan, dem Pfauen entgegen.

Conrad triumphierte; nämlich die Nuß enthielt für ihn einen süßen Kern. Hatte er denn nicht dem Vater wohlmeinend vom Tanz abgeraten? Und was für einen Lohn hatte er für seinen guten Rat geerntet? Wohl denn, so möge ers haben. Und ein dämonischer Wunsch nistete sich in sein Herz, der Wunsch, daß Blut fließen möge, der Wunsch des mißhandelten Propheten.

Wie er durch das verwüstete und vereinsamte Gärtchen, wo Bruch und Brocken umherlagen, nach seinem Platze zurücksteuerte, seufzte ihm Jucunde entgegen und warf sich erschöpft neben ihn auf einen Stuhl. Wie sie aussah! Zerzaust und zerrissen, mit Wein übergossen, die Lippen hängend, das Auge glanzlos, und der Schweiß troff ihr von der Stirne.

Das war nun also die verführerische Jucunde, welche das Gerücht wie die leibhaftige Todsünde ausmalte! Eine klägliche Todsünde! Das wenigste, was man von einer Todsünde verlangen kann – nicht wahr? – ist doch, daß sie zum mindesten appetitlich sei. Pfui, wie sie sich von jedes Waggingers knotigen Armen hatte herumzerren lassen! Freilich, man wußte ja ohnehin, daß sie keine Mutter Gottes war, allein wissen und mit eigenen Augen wahrnehmen ist mitunter zweierlei. Entschieden, hier war kein Aufenthalt für ihn. Was für ein Bock hatte ihn nur gestoßen, sich freiwillig in diese Spelunke zu begeben?

Er sah nach seinem Hut. Siehe, der war zerdrückt, zerknittert, überstäubt. »Eine Bürste«, befahl er hochfahrend.

Bestürzt schaute ihn Jucunde an, schlich kleinmütig ins Haus und brachte die Bürste.

Er säuberte Hut und Kleid, ohne daß sie wagte, ihm das Geschäft abzunehmen, so strenge gebärdete er sich. Endlich stammelte sie mit demütiger Stimme:

»Oh, seid doch nicht ungehalten, Herr Reber! oh, seid mir nicht böse! Ich bitte Euch tausendmal um Verzeihung. Aber warum mußtet Ihr auch gerade einen Sonntag wählen? Gibt es doch Tage in der Woche genug, ach Gott, wo wir stundenlang hätten zusammensitzen können, ohne gestört zu werden. – Was muß ich nur tun, damit Ihr mir nicht mehr gram seid?«

»Was bin ich schuldig?« heischte er kalt und wollte sich erheben.

Da fiel sie laut aufjammernd über ihn her und drückte ihn nieder: »Nein, nein, nein«, wehklagte sie erbärmlich, indem sie ihn verzweifelt umklammerte, »nein, jetzt geht Ihr nicht schon wieder fort. Jetzt, wo wir endlich allein sind, jetzt, wo ich Euch zum ersten Mal in meinem Leben habe.«

Es schrie so viel wahrhaftige Herzensnot aus ihrer Stimme, aus ihren Augen, aus ihren Mienen, daß es ihn erweichte. Schließlich, nach Hause kam er immer noch reichlich früh genug für das, was ihn Liebliches dort erwartete.

Er lehnte sich also wieder zur Ruhe.

Da leuchteten zwei Sternchen der Dankbarkeit aus ihren guten Augen; sie setzte sich neben ihn, schlug jedoch mißtrauisch die Hand über seinen Arm, als ob sie besorgte, er könnte ihr unversehens entschlüpfen, wie ein frisch zugelaufener Jagdhund, der noch nicht vertraut ist. Und um ihm die Abschiedsgedanken zu vertören, überschwemmte sie ihn mit Geschwätz. Zunächst mit vorrätigen Redensarten, dann allmählich, als sie inne ward, daß keine Hinterlist in ihm sei, mit echtem Geplauder aus dem eigenen Seelengrunde.

»Es macht schönes Wetter heute«, warf sie ihm als ersten Brocken hin. »Und wüchsiges. Das Gras steht so hoch und saftig wie selten im Maien. Und den Kirschen hat die letzte Woche ebenfalls gutgetan; wenn nur nicht wieder der Regen alles verdirbt. – Wie es grumselt von allen Seiten, schwarz von Volk, dem Pfauen zu! Ja, Ihr seid reich, Ihr seid glücklich, Euch winkt das Leben. Wie kommt es übrigens, daß Ihr an einem solchen Tage nicht daheim seid? Habt Ihr vielleicht wieder einen kleinen Verdruß gehabt mit dem Vater? Es heißt, er sei böse gegen Euch. Ich kann nicht begreifen, wie es jemand übers Herz bringen kann, böse gegen Euch zu sein. Nun, es kommt mir zugute; ich hätte nie zu hoffen gewagt, daß Ihr jemals zu uns kämet, so ein stolzer Herr zu so geringem Volk.« Mit einem Male jedoch trübte sich ihr Auge, und sie sah ihn vorwurfsvoll an, als ob er ihr etwas gestohlen hätte. »Das ist wohl eine Freundin Eurer Schwester, die Bernerin, die heute zur Aushilfe gekommen ist? Schön ist sie, das ist wahr, sehr schön sogar; so Schöne gibt es hierzulande keine außer höchstens Eure Schwester. Und einen prächtigen Staat hat sie ebenfalls. Ist sie denn reich? Aber wenn sie reich ist, warum dient sie denn? Man sagt, sie sei sonst für den Sommer im Kurbad, als Büfettdame. Ich kann es begreifen. So ein Paradiesvogel zieht natürlich alle Männer an. Es heißt, sie lasse sich vom Badewirt selber den Hof machen. Freilich, er ist ja seit zwei Jahren Witwer. Aber den wird sie doch hoffentlich nicht nehmen! So viele Körbe, wie der schon erhalten hat, trotz all seinem Vermögen. Puh, der Greuel. Übrigens, so schön sie ist, wenn ich ein Mann wäre und die Wahl hätte: ich fände Euere Schwester doch noch schöner. Es kommt ja nicht einzig alles auf die Regelmäßigkeit an, sondern auch ein wenig auf den ›Ausdruck‹, wie man bei uns daheim sagt. Sie hat so etwas Liebliches um die Augen und den Mund; ich muß immer an Euch denken, wenn ich sie sehe. Nun, dafür ist sie ja auch Euere Schwester.«

Sie hielt an und schwieg. Nach einer Weile fuhr sie fort, mit einem kleinen Seufzer:

»Ich kanns begreifen, daß Ihr nur ein rechtschaffnes Mädchen nehmen wollt. Und daß Euch keine absagt, davor seid Ihr sicher. – Es würde noch manche andere gerne in den Pfauen hineinsitzen, in das fürstliche Heimwesen!«

Empfindlich kehrte sie sich von ihm ab und blickte mit verschränkten Armen düster zu Boden. Einsmals aber schaute sie ihn wieder freundlich an: »Übrigens will ich dankbar sein, daß Ihr überhaupt gekommen seid. Wenn Ihr wüßtet, wie wohl mir das tut, wie wohl; ich kann Euch gar nicht sagen, wie wohl. – Aber schämt Ihr Euch denn nicht, am hellen Tage neben der Jucunde zu sitzen, so offen vor aller Welt?«

Er errötete. In der Tat, sie saßen wie in einem Schaufenster. Allein Furcht vor den Leuten war nicht seine Schwäche. Nach kurzem Bedenken rückte er vielmehr noch etwas näher an sie heran. Da strahlte sie wie ein Sommermorgen.

»Wie mich das freut«, hauchte sie, »in die innerste Seele hinein freut, daß Ihr Euch meiner nicht schämt.« Und jeder Vorübergehende frischte ihren Blick auf.

Hierauf sagte sie nichts mehr, sondern stemmte beide Ellenbogen auf den Tisch, legte den Kopf in die Hände und schaute ihm mit ihren übergroßen Rehaugen unverwandt ins Gesicht, um seine Gegenwart gründlich auszukosten.

Auch er begann sich an seinem Plätzchen anzuheimeln. Seine Glieder, noch etwas vom Wein beschwert, gerieten in höckrige Stimmung, sein Wille entschlummerte, und das einfältige Geschöpf an seiner Seite, aus dessen treuem Herzen ihn Liebe in warmen Strömen wie Märzensonnenschein überflutete, tat ihm trotz allem auch wohl, sehr wohl sogar, offen gestanden. Mein Gott, sie sahen ihn anders an, zu Hause, der Vater und die Mutter. Und um seine ursprüngliche Härte wettzumachen, reichte er ihr gütig die Hand hin.

Gierig ergriff sie dieselbe und liebkoste sie unaufhörlich mit schmeichelnden Wangen, glückselig, ihn berühren zu dürfen, wie ein Hund sich an seinem Herrn zu reiben liebt.

Also beharrten sie hinfort voreinander, schweigsam und zufrieden, vergessend und genesend. Sie in seinem Anblick schwelgend, er vor dem Bilde Cathris feiernd, das unbehindert von Jucundens Gegenwart ruhig und deutlich in seinem Gedächtnis leuchtete.

Die Natur tat das Ihrige, um Unruhe zu stillen und Unrast zu bannen. Die Kunst des Lenzes, zu prangen, ohne zu blenden, entfaltete sich nach der langen Regenzeit mit besonderer Kraft. Allüberall strotzte verhaltene Fülle, aus welcher Glut und Schatten gleicherweise Düfte lockten, nur andere. Man roch es wachsen. Eine hochschwebende, schneeweiße Schönwetterwolke schwamm herbei, um gleich einer Insel die Sonne wegzutragen, die Scheibe verhüllend, bloß an den Rändern einen blitzenden Strahlenkranz erlaubend. Darunter saßen sie nun wie unter einem Baldachin oder einem mit farbigen Gazen gedämpften Kronleuchter, kurz, unter etwas Großem, Hohem und Holdem, das sie vereinte und segnete. Sie urteilte offenbar nicht so strenge über die Jucunde wie die Menschen, die Sonne.

Ein paar Dutzend große silberne Tropfen sprühten aus der Wolke herab in weiten Zwischenständen wie durch ein Sieb. Obgleich sie augenblicklich verdunsteten, so daß sie kaum die Erde erreichten, wurden sie doch von sämtlichen Amseln des Tales mit einer verzückten Symphonie empfangen. Mit Wohlgefallen schaute sich Jucunde um: »Jetzt kann man bald mähen.«

»Herr Reber, Ihr verliert ja Euere Sporen!« belehrte der Knecht, der in Gemeinschaft mit der Neuberin aufräumte.

Das erwies sich als richtig. Der rechte Sporn war weg, vermutlich von den Bauern abgetreten; der linke, schiefgedrückt und über die Hälfte eingerissen, hing schlaff über den Absatz. Conrad bückte sich, um ihn vollends abzuknappen. Doch Jucunde kam ihm zuvor, indem sie wie ein Wiesel glittlings unter den Tisch schlüpfte. Oder vielmehr wie ein Murmeltier, denn für ein Wiesel war sie zu fett.

»Halt, das ist meine Sache«, wehrte sie unter dem Tisch hervor, »dazu bin ich auf der Welt, Euch zu bedienen.«

Mit einem einzigen Ruck hatte sie den Sporn los, aber in ihrem Handballen klaffte eine häßliche Rißwunde, aus welcher Blut quoll. Erschrocken fuhr er auf und griff nach ihrem Arm. Sie aber entwand sich ihm lachend:

»Oh, das ist gar nichts, das heilt in zwei Tagen«, scherzte sie, »wenn man nur gesundes Blut hat!« Und da er immer noch bedenklich auf die Wunde starrte, deutete sie auf seinen Stuhl, daß er sich niedersetze. Er gehorchte, wenn auch zögernd. Hernach war alles wieder beim alten, außer daß sie von Zeit zu Zeit mit innigem Entzücken die verletzte Hand betrachtete, als wollte sie rufen: »Das hab' ich von Euch, als Geschenk, zum Andenken, wenn Ihr nicht mehr da seid«, und daß er mitunter einen bedauernden Blick zu ihr hinübersandte, wobei sie jedesmal von erneutem Glück aufleuchtete, heiter und lustig.

Benedikt, der Kutscher von daheim aus dem »Pfauen«, guckte über den Hag, sich räuspernd.

»Was gibts schon wieder?« fragte Conrad unwillig.

Benedikt hüstelte: »Ich soll Euch ersuchen«, munkelte er, »ob Ihr nicht vielleicht so gut wäret, die Lissi dem Herrn Regierungsrat abzulassen, ausnahmsweise für heute, aus Gefälligkeit. Er hätte schon dreimal am Telephon danach gefragt. Man habe es ihm halt doch eigentlich sozusagen versprochen, wenn auch vielleicht mit Unrecht.«

»Wenn man in anständigem Ton mit mir redet, wenn man mich anfrägt, wenn man mich manierlich darum ersucht, so ist das anderlei«, erklärte Conrad. »Wer hat Euch geschickt?«

»Euere Schwester, die Jungfer Reber.«

»So nimm das Rößlein, es steht im Stall. Aber er soll gemach fahren, der Regierungsrat, damit er die Lissi nicht in Schweiß jagt.«

»Ich fahre selber.«

»Dann ists gut.«

Doch Benedikt rührte sich nicht. »Und noch eins läßt Euch Eure Schwester sagen«, meldete er, mit dem Lachen kämpfend. »Ob es nämlich durchaus nötig wäre, daß Ihr mit der Jucunde auf dem Sperrsitz säßet, damit Euch ja die ganze Welt bewundere, oder ob Ihr Euch nicht lieber in eine Galerie zurückziehen möchtet.«

»Durchaus nötig ists nicht«, erwiderte er trocken, »aber angenehm. Übrigens hat der Platz den Vorteil, daß er jeden Vorwand nimmt, auszustreuen, wir täten etwas Heimliches im Verborgenen. Sagt das meiner Schwester und einen freundlichen Gruß dazu. – Wie stehts im Pfauen? Viele Gäste auf der Terrasse, wie es scheint?«

»Es wimmelt! Man vermißt Euch schmerzlich an allen Ecken. Ja, und daß ich es nicht vergesse, Euer Vater hat darum herumgeredet, es würde Euch wahrscheinlich auch nicht das Leben kosten, wenn Ihr heimkämet und ein bißchen bei der Aufsicht behilflich wäret. Er habe bis dato keinen Menschen aufgefressen und hätte es auch heute nicht im Sinne. Es wäre ja Platz genug vorhanden für zwei.«

»Das hat er gesagt? Der Vater? Zu Euch? Das klingt ja beinahe glimpflich, das heißt, ich meine verhältnismäßig, an ihm selber gemessen.«

»Zu mir, so wie ich dastehe. Die Neue, die Bernerin, die Cathri oder wie sie heißt, hat ihn herumgebracht. Eine Viertelstunde lang hat sie ihm zugesetzt und ihm alle Schimpf und Schande ins Gesicht gesagt, daß unsereiner vor Angst sich hätte verkriechen mögen. Aber er hat alles geduldig über sich ergehen lassen wie ein Schulkind, das der Lehrer abkanzelt. Nur so vor sich hin gemökt dann und wann, wenn es allzu grob hagelte. Bis er sich zuletzt zu dem Versprechen herbeiließ, Euch ein gutes Wort zu geben.«

»Und das soll nun vermutlich das gute Wort vorstellen, die Versicherung, mich nicht auffressen zu wollen?«

Benedikt lachte mit breitem Maul. »Ja, er spendiert sie nicht mit dem Scheffelmaß, Euer Vater, die guten Worte! Er ringts mühsamer zum Vorschein, ein gutes Wort, als der Armenverein einen Dublonen. Man sollte fast meinen, es erstickt ihn.«

Conrad schwieg nachdenklich. Ihm war, als wäre er die längste Zeit von Hause fort und es müßte inzwischen in seiner Abwesenheit eine Unmenge der wichtigsten Dinge vorgefallen sein, von denen er Nachricht wünschte. »Wißt Ihr zufällig etwas von der Mutter, wie es ihr geht? Ist sie immer noch oben, in der Schlafstube?«

»Man hat sie ins Dorf zur Großmutter getan, damit sie aus dem Geschäft herauskomme, wo sie sich doch nur unnütz selber aufregt und andern Leuten hinderlich ist. Die Bernerin, die Cathri, hat darauf gedrungen.«

»Ein gescheiter Einfall das, der von der Cathri. Wenn etwas Vernünftiges geschieht, so hat doch gewiß sie es angeraten.«

Der Kutscher lachte beifällig. »Ja, das ist eine Resolute. An der ist ein Mannsbild verlorengegangen. Soll ich auch sagen, was sie mir aufgetragen hat? Ich übernehme keine Verantwortlichkeit dafür, ich melde einfach, was ein jeder mir aufträgt. Der eine sagt blau, der andere grün. Ihr sollt Euch lustig machen, läßt sie Euch sagen, und nicht zu früh heimkehren. Es gehe geradesogut ohne Euch und sogar noch viel besser. Jetzt müßt Ihr selber wissen, was Ihr zu tun habt. Mich geht das nichts an, ich mische mich nicht hin ein. Also wie steht es jetzt eigentlich? was muß ich daheim ausrichten? kommt Ihr oder kommt Ihr nicht?«

»Ich komme, wenns Zeit ist«, erklärte Conrad ausweichend.

»Und ich gehe denn jetzt also und nehme das Rößlein. Ist es recht so?«

»Es ist recht.« – »Nicht zu früh heimkommen«, wiederholte er verstimmt bei sich, nachdem der Kutscher abgetreten war. »Ja, ist ihr persönlich denn gar nichts daran gelegen, ob und wann ich heimkehre?« Und verletzt biß er sich auf die Lippen.

Als er wieder ausschaute, begegnete er den mutlosen Blicken der Jucunde. »Und jetzt geht Ihr also wieder heim?« murmelte sie niedergeschlagen.

Er erstaunte. Wer hatte denn von Heimgehen gesprochen? Sie tat ihm leid. »Nein, ich bleibe noch ein wenig«, tröstete er.

Sie aber schüttelte traurig den Kopf. »Ihr geht jetzt heim«, wiederholte sie trübsinnig. »Ich spüre es. Und kommt dann nie, nie mehr zu mir. Das ist das erste und letztemal gewesen.«

»Niemand kann voraus wissen, ob etwas das letztemal gewesen ist.«

»Doch, das kann man voraus wissen. Ich weiß, es ist das erste und letztemal gewesen. Sonst wäret Ihr nicht aus bloßem Versehen zu mir gekommen, aus eitel Trotz und Widerspruchsgeist, weil es zufällig daheim Verdruß gegeben hatte. Das weiß ich jetzt, denn ich habe es gehört.«

Dann plötzlich wurde sie wieder weich. »Nehmt mirs nicht übel«, bat sie flehentlich, »daß es mir weh tut, wenn Ihr mich verlaßt! Ich danke Euch gleichwohl. – Also, Ihr bleibt noch ein klein, klein wenig?«

Conrad blieb, aber nur noch mit dem Körper. Sie hatte recht. Es wollte ihn etwas heim. Irgend etwas Mannigfaches ließ ihm keine Ruhe mehr. Die Neugierde, was daheim geschehe, das bewegte Leben auf der Terrasse vor seinen Augen, das Bedürfnis mitzutun und mitzuhelfen, das Gelüsten, wieder mit Cathri zu verkehren. Das und noch manches Derartige, was ihm nicht völlig ins Bewußtsein trat, regte sich in ihm, während Jucunde ängstlich jede seiner Mienen bewachte.

Horch, jetzt ging oben im Pfauen am hellen Nachmittag der erste Tanz los, eine aufgeregte Polka, aber noch ohne Überzeugung, schwächlich und freudlos im leeren Saale hallend. Sofort begann Jucunde mit näselnder Stimme mitzuträllern, automatisch, aus Schlappheit, nach Art hirnloser Dirnen, so daß er ihre Dummheit, von welcher er bisher bloß reden gehört, selber ermessen konnte.

Im Gärtchen hatte sich mittlerweilen wieder eine Anzahl Leute eingefunden, deren Blicke beim ersten Geigenbogenstrich sich sämtlich nach den Fenstern richteten, von woher der Schall kam. Dadurch stockten die Gespräche, und nur abgebrochene Sätze wurden laut, gedämpften Tones, als fürchteten sie, die Musik zu beeinträchtigen. Bis allmählich, bei längerer Weile und Wiederholung des Rhythmus, die Unterhaltung wieder aufwachte. Aber die Gedanken blieben an den musikalischen Tanzboden gebunden, so daß sich jede Rede an langer Leine um den Pfauen drehte wie ein Pferd in der Reitschule.

Eine bedächtige Bauernstimme sagte in lehrhaftem Ton: »Wenn man überdenkt, wenn man vergleicht, was der Pfauen vor zwanzig, dreißig Jahren war, ehe ihn der alte Reber übernahm, und was er jetzt ist! Und alles ganz aus sich selber, ohne Unterstützung, ohne Geld, nichts als zwei fleißige Hände, ein aufgeweckter Kopf und eine ehrliche Leber. Acker für Acker einzeln erworben, heuer ein Feld und übers Jahr eine Wiese, aus den Ersparnissen, je nachdem das Geschäft günstig war, und die Wirtschaft allmählich vergrößert.«

»Gehört die Matte unterhalb der Terrasse auch dazu?«

»Alles von oben bis unten, von der Terrasse bis an die Bahnlinie, der Rain und der Anger und noch ein Stück vom Rebberg dazu.«

»Was ist denn eigentlich mit der Pfauenwirtin? War sie immer so?«

»Die Pfauenwirtin? Die Frau Reber? Die Pfauenwirtin von Herrlisdorf? Ich sag' Euch, das war zu meiner Zeit die jovialste, lebenslustigste Frau im ganzen Kanton. Immer freundlich, munter und wohlauf. Und fleißig und tätig! Ja, der hat der Alte viel zu verdanken.«

»Lebenslustig? Wer? Die Pfauenwirtin Reber? Lebenslustig? Was ist denn da gegangen?«

»Ach, sie ist schwermütig geworden, seit dem Kindbett ihres Sohnes, Conrad, glaube ich, heißt er. Zuerst hat man sie in einer Anstalt versorgt, hernach, wie es etwas besser ging, hat man sie ein paar Jahr lang in den Bädern herumgeschleppt. Jetzt lebt sie, soviel ich weiß, seit Jahr und Tag daheim im Hause. Aber mit der Schwermut ist es immer noch beim alten, seufzt den ganzen Tag, schafft sich Sorgen über jede Kleinigkeit, macht sich und der Umgebung das Leben zur Qual und redet beständig von nichts als vom Sterben. Gütiger Himmel, wenn man einem das vorausgesagt hätte, vor dreißig Jahren! So kann sich der Mensch ändern! Ein Glück, daß der Alte so geduldig mit ihr ist, so ein Wüterich, als er sonst sein mag. Es ist geradezu rührend, wie sanft er mit ihr umgeht, alt und krank, wie er selber ist.«

Conrad erbleichte, in ernste Gedanken versunken, indem er sich vornüber lehnte, um kein Wort zu verlieren. Das weckte Jucundens Eifersucht. »Wollen wir nicht lieber einen andern Platz aufsuchen, wo man ungestört ist?« schlug sie übellaunig vor.

Er gebot ihr ärgerlich mit der Hand Stillschweigen. Die zweite Stimme setzte wieder an: »Und der Junge? der Sohn? Was hört man von dem? Ist etwas hinter ihm?«

»Man weiß noch nicht recht, wo es mit dem hinaus will. Zwar von seinem Militärdienst verlautet nur Gutes, es hat ihn alles gerne, seine Vorgesetzten wie seine Untergebenen. Dagegen daheim –«

Jetzt verlor Jucunde die Fassung: »Schweigt doch, ihr albernen Menschen«, platzte sie mit ungezügeltem Ärger heraus. »Seht ihr denn nicht, daß er selber dasitzt?«

Da ward eine gewaltsame Stille der Verlegenheit im Gärtchen.

»So, jetzt kann man doch wenigstens wieder sein eigenes Wort verstehen«, murrte Jucunde.

Allein Conrad hörte sie nicht mehr; eine peinliche Ungeduld, heimzukehren und vor allem loszukommen, hatte sich seiner bemeistert.

»Ich werde nun auch aufbrechen müssen«, sagte er schonend, indem er gleichzeitig aufstand. »Also denn, Jucunde, was ist meine Schuldigkeit?«

Sie verzog den Mund und warf feindselige Blicke auf die Geldbörse, die er hervorkramte.

»Ich habe Euch noch etwas Wichtiges mitzuteilen«, entgegnete sie ernst, mit rätselhaftem Ton, »aber Ihr müßt Euch erst setzen.«

Hierauf, nachdem er sich widerstrebend niedergelassen, wandte sie ihm plötzlich ihr Gesicht zu, mit riesengroßen Augen, die ihn drohend anstarrten, wie die Mündung eines gewaltigen Doppelgeschützes, in dessen Innerem Feuer und Schwefel wohnt. Und während er betroffen herumriet, was das bedeute, schob sich hinterlistig ein Bein über das seinige. »Bleibt diesen Abend bei mir«, flüsterte sie.

Sein Blut geriet in Aufruhr. Doch tat er sich Gewalt an, blickte weg und nickte ein verneinendes Zeichen.

»Ich will aber, daß Ihr bleibt. Ich will es einfach«, zischelte sie dringender und schmiegte sich ihm noch enger an. Nun begann er zu kämpfen. Und seine eigenen Sinne wollten ihn in dem Kampfe verraten. Da gedachte er des Jawortes, das er der Feuerwehrmannschaft gegeben, und blitzschnell warf er sie mit beiden Armen brutal von sich, denn er wußte sich ihrer nicht anders zu erwehren.

Jetzt änderte sie handkehrum ihre Haltung, erhob sich ruhig, setzte eine harmlose Miene auf, als wäre nichts gewesen, und geschäftsmäßig, mit einem verblüffenden Sprung über all die Verwirrung weg, die sie angestiftet, verkündete sie kühl:

»Ein Fränklein und vierzig Rappen.«

Er beglich das und tat ein angemessenes Trinkgeld hinzu, für welches sie bescheiden dankte. Dann schritten sie miteinander davon, ziemlich eilig, denn ihm war schwül, und er lechzte nach Erlösung. Entschieden, hätte er ahnen können, wessen er sich von Jucunde zu versehen hatte, er wäre nie in der Station eingekehrt. Beim Hause angelangt, überfiel sie ihn nochmals, unbekümmert um die Anwesenden. »Kommt einmal des Abends, wenns dunkel ist, zwischen zehn und elf Uhr, nach dem letzten Zug. Zum Beispiel morgen.«

Aber wieder schüttelte er verneinend den Kopf.

Nun gab sie alle Hoffnung endgültig auf und fügte sich: »So nützt denn alles, alles nichts?« schmollte sie verzweifelt. »So muß ich Euch denn wirklich ziehen lassen? Immerhin, es hat mich innig, innig gefreut. Daran werde ich nun noch lange, lange zehren, wochenlang, monatelang, vielleicht noch länger.« Hiermit ergriff sie mit beiden Händen seine Rechte und drückte sie zärtlich, aber fest an ihr Herz, ließ sie auch nicht mehr los.

So zogen sie durch den Hausgang, unbequem, weil eines des andern Schritte hemmte, bis vor die Haustür.

»Leb wohl, Jucunde«, grüßte er. Sie erteilte ihm keine Antwort, gab ihn auch nicht frei.

»Leb wohl«, wiederholte er bittend und etwas gereizt.

»Laß mich los, sonst muß ich dir weh tun, denk an deine Wunde.«

Allein es war, als hätte er gegen ein unvernünftiges Tier hingeredet, so daß sich schließlich ein förmlicher Kampf entwickelte, zwischen ihm, der seine Hand schonend aus ihrer Umklammerung zu befreien trachtete, und ihr, die ihn mit verzweifelter Anstrengung halten wollte. Als er sich endlich durch einen unvorhergesehenen Ruck befreit hatte, schwenkte sie beleidigt ab und verschwand im Hausgang; kam auch nicht wieder zum Vorschein, ob er schon ihr zu Gefallen noch ein wenig vor der Schenke verharrte.

So entfernte er sich denn, aufgeregt und betroffen. Es lag ihm etwas nicht recht. Einesteils war er ja froh, diesen wollust-peinlichen Anfechtungen glücklich entronnen zu sein, aber andrerseits tat es ihm doch auch leid, von dem wunderlichen Geschöpf mit dem treuen Herzen unter den abgefeimten Buhlkünsten so ohne Gruß und Abschied davongezogen zu sein, flüchtlings, beinahe im Streit. Sie mochte sein, was sie wollte, sie hatte ihn halt doch lieb, auf ihre Art. Und der weite, reine Frühling um ihn her kam ihm jetzt, wie soll ich sagen, nüchtern, gewissermaßen herzlos vor, so daß ihn beinahe sein Sieg gereuen wollte.

In der Tat zauderte er, vor der Eisenbahnlinie angekommen, indem er nach hinten schielte, ob sie nicht vielleicht nachträglich unter der Haustür stände.

Sie stand nicht dort. Und wie gesagt, er hatte ja den Waldishofern sein Wort verpfändet.

Da raffte er sich auf und schlich niedergeschlagen über das Geleise, als ob er einen wertvollen Gegenstand verloren hätte.

Jenseits der Schienen tauchte Jucunde in die Vergangenheit, und der Pfauen rückte aus der Zukunft in die Gegenwart.

Einen Gewinn aber trug er doch aus der Pinte mit heim: den Entschluß, nun seinerseits dem Vater ein freundliches Wort zu gönnen, dafür, was er an der Mutter Gutes getan hatte und etwa noch tun würde.

Er wählte den Pfad durch die Matte, um abzukürzen, dann auf halbem Wege verlangsamte er den Schritt, um später einzutreffen. Denn man sollte nicht etwa meinen, er hätte Eile, sich auf Befehl einzustellen.

»Hier muß mir eine Hecke hin«, murmelte er stirnrunzelnd, als er das Gras neben dem Weg zertreten sah.

Schließlich langte er trotz allem Zögern doch an, beinahe gegen seinen Willen.

Ein paar abenteuerlich geschniegelte Radler, von Cathri bedient, hatten sich unterhalb der Mauerbrüstung in die Wiese vorgeschoben, von wo sie eine schallende Fröhlichkeit von sich gaben, um die Aufmerksamkeit an sich zu ziehen.

Sonderbar, fast ungehörig mutete es ihn an, daß er von allen Menschen gerade Cathri zuerst wieder sah. Er hatte, einfältigerweise, angenommen, sie würde zuletzt erscheinen wie die Hauptspielerin im Theaterstück. Mit leichtem Kopfnicken schritt er, an der Gruppe vorüber, seines Weges weiter nach dem Ende der Mauer hinan. Dabei widerfuhr ihm aber, daß er dem Vater ins Gesicht blickte, der, kaum zehn Meter in der Luftlinie entfernt, zufällig von der Mauerbrüstung herunterschaute. Der Alte schloß mit bösem Seitenblicke die Augen wie eine Eule am Mittag. Da verspürte er wieder den gewohnten feindseligen Schlag, eine Art Rückstoß, wie von einem schweren Geschütz. Weg war mit einem Mal sein löblicher Vorsatz. Es ging nicht; es ging einfach nicht.

Also kehrte er um und schlug sich in die Nähe der Radler, ständlings und ohne sich anzulehnen, unter einen mächtigen Birnbaum. Dort winkte er der Bernerin ein Zeichen mit dem Kinn.

Diensteifrig eilte sie herbei:

»Ihr habt Euch keine langen Ferien gegönnt, Herr Reber«, grüßte sie ihm entgegen.

Er ging auf diese Bemerkung nicht ein. »Cathri, wir sind Euch alle zu großem Dank verpflichtet«, begann er feierlich und ein wenig befangen.

»Wofür?«

»Nun, heute morgen. Ihr wißt ja. – Zwischen mir und dem Vater. – Tut doch nicht, als ob Ihr nichts wüßtet! – Mit dem Peitschenstock. – Ihr habt uns möglicherweise vor einem schweren Unglück bewahrt.«

»Ach so? Das?« lachte sie gleichgültig. »Ein Idyll aus der ›Schweizerfamilie‹ war es freilich nicht.«

»Wirklich, ich habe Euren Mut bewundert.«

Sie lachte wieder. »Man muß es halt mit den Männern halten wie mit den bissigen Hunden: nur ja keine Furcht vor ihnen zeigen.«

Er aber blieb ernst. »Ihr mögt Euere Tat verkleinern«, versetzte er, »ich aber betrachte Euch von jenem Augenblick an als meinen guten Geist.«

»Geist hat mir bisher noch niemand nachgesagt«, scherzte sie ausweichend. Aber sein Spruch schien sie doch zu freuen.

Helene schwebte heran. »Cathri, die Jungfer Reber läßt Euch sagen, Ihr müßtet in den Tanzsaal; Josephine bediene von nun an in der Wiese.«

Die beiden sahen befremdet auf

»Warum?« fragten sie fast gleichzeitig, wie zwei Kutschenpferdchen, wo eins höchstens um Zollbreite dem andern voraus ist.

Helene zuckte die Achseln. »So ist mir halt befohlen worden; mehr weiß ich nicht.« Aber ihre schwärmerischen Augen schillerten schadenfroh.

Da schauten Cathri und Conrad einander verständnisvoll an, mit einem ausdrucksvollen Doppelblick, welcher sagte: ›Ich begreife, und du?‹ – ›Ich ebenfalls.‹ – ›Es soll ihr aber doch nicht gelingen, uns zu entzweien, gelt?‹ – ›Im Gegenteil, jetzt halten wir um so fester zusammen.‹ So vereinigte sie der Trennungsbefehl enger, als wenn sie einen langen Winter sämtliche Hochzeiten des Kantons miteinander durchgetanzt hätten. Hierauf begab sich Cathri vergnügt nach dem Tanzsaal.

Helene jedoch zauderte, als ob ihr nachträglich etwas einfiele: »War das vielleicht Euere Braut, Herr Reber?« heuchelte sie, »die Jungfrau, mit welcher Ihr im Stationsgärtchen zusammensaßet?«

Allein er war vorbereitet. »Was jene ist, geht Euch nichts an. Hingegen, was Ihr seid, das will ich Euch sagen! Eine recht mittelmäßige Kellnerin seid Ihr. Ja, guckt mich nur an, das seid Ihr. Eine gute Kellnerin erkennt man daran, daß sie sechs Augen und vier Ohren hat. Dort ruft man nach Senf, und keine zwei Schritte von uns winkt Euch einer verzweifelte Zeichen, wie ein Ertrinkender, und Ihr merkt von alledem nichts.«

»Das geht mich nichts an«, erwiderte sie ungehalten, »ich bediene oben, nicht hier.«

»Ihr könnt von Glück sagen, daß nicht ich im Pfauen regiere, sondern einstweilen noch der Vater. Denn wenn ich einmal Meister bin und eine Kellnerin entschuldigt sich damit, daß sie an einem andern Platz bediene, so gebe ich ihr den Lohn.«

Verblüfft schlich sie von dannen.

»Das war Nummer eins«, zählte er.

Nun trippelte Josephine herbei, schnippisch und fürwitzig. Die Äuglein glänzend vor schelmischer Spitzbüberei. Allein, wie sie die abgetakelte Miene Helenens gewahrte, erachtete sie den Boden nicht für geheuer, rüstete schleunigst ab und drückte sich neben Conrad vorbei an ihren Arbeitsposten, ohne ihre kleine Weiberbosheit abzuschießen.

»Wo bleibt Nummer zwei?« dachte er und wartete. Allein er wartete vergeblich; wenigstens einstweilen.

Über ihm, jenseits der Mauerkrone der Terrasse, ging es zu wie in einer Volksszene auf dem Theater. Eine grüne Bühne voll Menschen und kein Leben. Eine Menge von Köpfen, behutete und barhäuptige, bärtige und glatte, männliche und weibliche, lugten über die Rampe, wie abgeschnitten und zum Verkauf ausgestellt. Und alle, ohne Unterschied, Stadtvolk wie Landvolk, schnitten wichtige Gesichter, um für bedeutend zu gelten. Es fehlte zur vollendeten Stumpfheit bloß noch ein Jägerchor. Obgleich sie sämtlich zu schweigen schienen, erhob sich doch aus ihrer Mitte ein Getöse wie von hundert schwatzenden Stimmen. Dazwischen schossen die Kellnerinnen unwirsch kreuz und quer, verfolgt von den grimmigen Blicken des Alten, der ihnen, wenn er ihnen nahekam, was freilich bei seiner Schwerfälligkeit nur durch Wegelagerei gelang, verstohlen einen schimpflichen Ausputzer zuraunte, zwischen zwei süßlichen Lächeln an die Gäste. Die einen von ihnen wischten sich hastig die Augen, ehe sie ihre Ballettänzerfreundlichkeit wieder gewannen, andere maulten wütend vor sich hin. Helene drückte jedesmal beim Vorbeigehen einen neidischen Blick wegen der Radler gegen Josephine ab. Anna, welche im Gewühl besonnen der Ordnung wartete, sah oft zu ihm herunter, tat aber, als ob sie ihn nicht erkennte. Neben ihr auf einer Bank kauerte ihr Doktor in blauer Militäruniform, der sie unverwandt anstarrte. – Sooft die Tanzmusik anhob, mit quiekenden Klarinetten, kreischend und hustend, hefteten sich sofort alle Blicke an die Fenster des Tanzsaales, ausdruckslos und träge. Beim Schmettern der Trompete verhielten sich die Stadtfrauen die Ohren.

Ob sie nicht ebenfalls lieber in die Matte herunterkommen wollten, riefen die Radler ihren Bekannten zu, mit übermäßigen Gebärden. Es sitze sich hier im saftigen Grase angenehmer und man werde weniger von dem Tanz-Gedudel belästigt.

Jene gehorchten geräuschvoll der Einladung, und als ob das ein maßgebendes Beispiel gewesen wäre, brach allsofort ein weiteres Häufchen von der Terrasse auf, um sich unten niederzulassen. Andere folgten wieder ihrem Vorbild, so daß der Umzug allmählich in eine förmliche Auswanderung ausartete. Ein Tisch nach dem anderen mit Dutzenden von Stühlen mußte in die Matte geschleppt, eine zweite, hierauf eine dritte Kellnerin Josephine zur Aushilfe beigeordnet werden.

Die Durchbrechung der hergebrachten Platzregel aber, mit ihrer Unordnung, mit ihren Zwischenfällen, wie sie Unvorhergesehenheit und Ratlosigkeit im Gefolge zu haben pflegen, bewirkte eine knabenhafte Ferienstimmung, so daß die Gesellschaft ihre lästige Leichenfeierlichkeit verabschiedete und sich freier Fröhlichkeit hingab. Während das Landvolk diese hauptsächlich durch steiferen Trunk betätigte, hielten sich die stubenmüden Städter mehr an die Geschenke der Natur. Vor allem die unscheinbare Quelle, die aus der Matte rieselte, beschäftigte die kleinen und großen Stadtkinder. Als ob das ein Jungbrunnen wäre, umstanden sie sehnsüchtig das flüssige Wunder, sinnend und träumend. Von den vielen Luftgebilden, die da von Herz und Hoffnung in den Frühling gebaut wurden, entstand eine ganze Phantasiestadt.

So geriet Conrad ohne sein Zutun an die Spitze einer Geschäftsherrschaft. Es bildeten sich zwei Lager, ein oberes, wo der Vater schaltete, und ein niederes, dem Sohn untertan. Dort ließ sich vorwiegend das behäbigere Alter nieder, hier die laute Jugend. Da aber die frischen Ankömmlinge mit Vorliebe nach der Wiese abschwenkten, teils der Abwechslung und Ausnahme wegen, teils weil dort bewegteres Leben winkte, schwoll das untere Lager stetig an, während das obere schwand. »Wie ein Vorzeichen«, dachte Conrad.

Mißgünstig beobachtete der Alte den Zuwachs des gegnerischen Regiments, und bei jedem neuen Platztausch rollten seine Augen: »Man sollte fast meinen, es verzapfe einer unten bessern Wein als oben«, brüllte er, »und stammt doch aus dem nämlichen Faß.« »Es angelt ja niemand nach ihnen«, rief Conrad zurück, »und mit Gewalt kann ich sie doch nicht zurücktreiben.«

Bei alledem machte jedoch keiner dem andern sein Volk abspenstig; dazu waren sie beide zu geschult und zu klug. Im Gegenteil, sie halfen sich aus und spielten sich in die Hände. Mit der Zeit, als der Raum unten allmählich anfing knapp zu werden, füllte sichs auch oben wieder, so daß schließlich ein ebenmäßiger Ausgleich stattfand.

Wie sie nun so gemeinschaftlich einheitlicher Arbeit pflogen, jeder auf seinem Posten, rückte der innere Herzensgegensatz bis auf weiteres in den Hintergrund. Eine Art Achtung voreinander gewann die Oberhand. Mitunter, nachdem der Alte einen prüfenden Blick in die Matte geschickt hatte, grunzte er unverständliche Worte vor sich hin, was bei ihm Zufriedenheit besagen wollte. Conrad seinerseits mußte zugeben, daß des Vaters fürchterliche Blicke musterhafte Ordnung hielten.

Hierüber regte sich sein Gewissen. »Josephine«, befahl er, »Josephine, seid so gut und geht zum Vater. Ich ließe ihm sagen, es setze heut abend Streit im Tanzsaal, ich wisse es ganz bestimmt.«

Josephine ging und kam zurück.

»Was hat er geantwortet?«

»Nichts, nur so geschnarcht.«

»So geht noch einmal; ich lasse ihn eindringlich ersuchen, meine Warnung nicht auf die leichte Achsel zu nehmen. Es sei eine abgekartete Sache; ich hätte es von den Waggingern selber gehört.«

Abermals ging und kam Josephine.

»Es sei gut«, berichtete sie, »er habe es bereits das erstemal begriffen. Man brauche ihm etwas nicht zweimal zu sagen, da er gottlob weder taub noch töricht wäre.«

»Dann basta! Fertig! Zum drittenmal sage ich ihms nicht.«

Doch nach einer Weile beunruhigte ihn seine Verantwortlichkeit gleichwohl wieder: »Josephine«, bat er, »sagt dem Vater, es tue mir aufrichtig leid, zum drittenmal darauf zurückzukommen; allein es lasse mir in Gottes Namen keine Ruhe. Um sechs Uhr gehe es los. Nach meiner Meinung müßte man für ein paar Dutzend handfester Burschen sorgen.«

Diesmal kehrte Josephine laut schluchzend zurück. »Euer Vater ist ein Ungeheuer. So lasse ich mich nicht behandeln!«

»Was hat er gesagt?«

»Ein ausgeschämtes, niederträchtiges Mensch hat er mich genannt!«

»Das habt Ihr allerdings nicht verdient, Ihr am allerwenigsten. Nehmt meine Entschuldigung statt der seinigen. Es tut mir also leid. Aber ich meine, was er Euch für einen Bescheid für mich mitgegeben hat?«

Heftig platzte sie heraus:

»Ihr brauchtet Euch nicht um umgelegte Eier zu kümmern. Er wisse schon selber, was ihm zu tun obliege, und brauche keinen Lehrmeister. Übrigens, wenn Ihr denn so ein Hasenfuß wäret, so könntet Ihr Euch ja unter Jucundens Unterrock verstecken.«

»Oho!« knirschte Conrad, vom Boden aufjuckend und die Fäuste ballend. Darauf stampfte er zornig auf und ab. »Tod und Teufel sollen mich holen«, schwur er, »wenn ich heute abend einen Finger rühre.« Dieser Schwur schaffte ihm zunächst wieder Frieden, aber einen finstern Höllenfrieden.

Derweilen schnurrte oben Cathri zu Anna heran, rot wie eine Klatschrose. »Im Tanzsaal bediene ich länger nicht«, rief sie, die Arme schmeißend.

»Warum?« schien Anna zu fragen, denn hören konnte man ihre leise Frage von unten nicht.

»Darum!« wetterte Cathri. Hernach entfuhr es ihr: »Weil es Schweine sind!«

Der Pfauenwirt, der dabeistand, lüpfte verächtlich die Schultern, Helene, in der Nähe wirtschaftend, rümpfte spöttisch den Mund, und Anna maß die Bernerin mißtrauisch von oben bis unten. »Es wird wohl noch ein anderer Grund dabei sein«, entgegnete sie anzüglich, mit erhobener, langsamer Stimme, damit es der Bruder höre: »Ihr bedientet wohl lieber an einem andern Ort.« Damit blinzelte sie zu ihm herunter.

»Zwingen kannst du sie nicht«, vermittelte Conrad, an die Mauer tretend.

»Wie soll ich dann einer andern zumuten, was sie verweigert«, rief sie gereizt zurück. »So übernimm doch du das Servieren im Tanzsaal!«

Nun ward er unwillig.

»Im Tanzsaal serviere ich höchstens mit dem Stock oder mit der Reitpeitsche«, rief er.

Bei diesem unbedachten Spruch rückte der Alte herbei, hart an die Mauer, zornbeladen, mit blutunterlaufenen Augen.

Die Kellnerinnen ihrerseits hatten sich in die Nähe gezogen, um die Verhandlung aufzufangen, die sie alle anging. Darüber wurden die Gäste aufmerksam, von denen die nächsten sich gierig erhoben, damit sie keine kostbare Silbe des Wortwechsels verlören. Es drohte ein Auflauf, ja, falls der Alte den Mund erschloß, Schimpf und Schande. Denn an seinen Augen konnte man ablesen, was ihm ungefähr unter der Zunge kochte. Gleichzeitig lärmte vom Tanzsaal ein Aufruhr wegen der mangelnden Bedienung. Kurz, es entzündete sich.

»Wozu ist denn die Brigitte auf der Welt, daß keiner an sie denkt?« schmälte Josephine ablehnend. »Die nimmt es doch, wenns sein muß, mit dem heiligen Antonius in Person auf, mitsamt seinem Schwein.«

Kaum vernahm Brigitte die trauten Töne ihres Namens, so begriff sie sofort, daß sie damit gemeint sei, denn sie verstand ihren Namen und ihre Person geschickt aufeinander zu beziehen.

»Was!« plärrte sie aufgebracht. Es dauerte eine Weile, bis man ihr beigestoßen, worum es sich handle. Dann zuckte sie überlegen die Schultern:

»Die Wagginger sind so gut Menschen wie andere Leute«, erklärte sie entrüstet, mit einem anzüglichen Blick auf Cathri. »Deswegen sind sie noch lange keine Schweine, weil sie zufällig zwei Beine haben, statt vier, wie mancher andere.« Und ohne weiteres stürmte sie mit unternehmender Gebärde die vier Stufen des Treppchens hinan in den Tanzsaal.

So löste sich die Verwicklung und verteilte sich die Entzündung, indem jedes friedlich auf seinen Platz zurückkehrte, ein bißchen ungern, denn wenn man einmal den Hahn gespannt hat, ist es mühsamer, ihn wieder abzuspannen als ihn loszuschnappen.

Cathri aber stattete Conrad von ferne eine scherzhafte Verbeugung ab zum Dank für seine Unterstützung. Und sooft ihre Arbeit sie längs der Mauer vorbeiführte, erteilte sie ihm ein unauffälliges Zeichen des Einverständnisses mit Blick oder Gebärde, oder auch einfach durch Räuspern, das sie mittels der vorschützenden Hand in ein kleines, schüchternes, verstohlenes Kußhändchen auszumünden wußte.

»Anna!« begehrte Conrad, »wir bedürfen noch einer vierten.«

Da rief Anna mit scharfer Stimme nach hinten: »Cathri, mein Bruder verlangt sehnsüchtig nach Euch.«

Cathri erschien mit einem leuchtenden Gesicht des Wiedersehns. Ihr auf dem Fuß, doch mit verschiedenem Takt und Schritt, folgte die Schwester.

Verdrossen machte sich diese zu ihrem Bruder heran, mit abgewandtem Blick:

»Man geht nicht in die Pinte«, verwies sie strenge, »man sitzt nicht neben der Jucunde.«

Conrad fuhr auf. »Du«, erwiderte er, »du tätest auch besser, auf dich selber zu achten, als meinen Pestalozzi zu spielen. Der blaue Doktor verschlingt dich ja mit den Augen, daß sogar ein Blinder es bemerken muß. Solange ihr noch nicht öffentlich verlobt seid, solltet ihr soviel Takt besitzen, euch weniger auffällig zu benehmen. Nimm mirs nicht übel.«

Anna schluckte und verstummte.

»Bah«, warf Cathri nachlässig hin, »einem jungen, unverheirateten Burschen ist alles erlaubt.«

Anna drehte sich nach ihr um wie von einer Wespe gestochen:

»Nette Grundsätze das, fürwahr, bei Euch zu Hause«, höhnte sie.

Cathri warf den Kopf in den Nacken, flink und schlagfertig:

»Wir werden wohl bei uns zu Hause genau soviel taugen wie ihr hierzulande, nicht mehr und nicht weniger.«

Anna würgte nach einem niederschmetternden Gegenhieb, fand aber keinen. Da rümpfte sie die Nase, wie wenn sie etwas Ekelhaftes röche, und räumte leidenschaftlich das Feld, eine Wolke von Erbitterung in jeder Bewegung verbreitend.

»Wohl«, murmelte Conrad, »jetzt fängt das Weibervolk ebenfalls an!«

Sich einzumischen fiel ihm nicht von ferne ein, denn vom Weiberstreit hält ein kluger Mann den Finger, das hatte er von Jugend auf als oberste Weisheit gelernt, worin alles Volk ohne Unterschied des Standes und der Partei übereinstimmte.

Aber als nun Cathri im Siegestriumph sich ihm traulich nähern wollte, trat er zurück und erteilte ihr einen Verweis.

»Ihr solltet immerhin meiner Schwester in höflicherem Tone begegnen«, rügte er.

Da schoß sie zornschnaubend von dannen wie ein angeschweißter Eber. Er aber rief sie gebieterisch zurück, zu dreien Malen, und jedesmal drohender, bis sie sich endlich herbeifügte.

»Ihr habt Euch für heute bei uns in Dienst verpflichtet«, erklärte er, »folglich seid Ihr uns nicht bloß Gehorsam, sondern auch Untergebenheit und Bescheidenheit schuldig, mir und meiner Schwester. Morgen könnt Ihr dann wieder grob sein, wenn Ihr wollt.«

Und da sie vor Zorn ungeduldig zappelte, als ob der Boden unter ihr brennte, stellte er sie geflissentlich noch länger:

»Beiläufig«, hub er an, »was ich Euch fragen wollte: Ihr habt also oben im Tanzsaal aufgewartet. Was erhieltet Ihr dort für einen Eindruck?«

»Daß es Schweine sind.«

»Unbestritten«, antwortete er, und konnte das Lachen kaum verbeißen. »Doch das haben wir bereits vernommen. Ich meine, ob Ihr nicht etwas wie – wie soll ich sagen? – wie feindselige Veranstaltungen bemerkt habt?«

»Gott gebe, daß sie sich gegenseitig auffressen!«

»Ein Menschenfressergebet!«

Sie sah ihn patzig an und blickte scharf und gescheit: »Ihr werdet wohl auch manchmal eine Bitte zum Himmel gesandt haben, die nicht im Vaterunser steht.«

Da errötete er heiß und ward ernst und nachdenklich.

»Ihr könnt jetzt gehen«, erlaubte er zerstreut. Sie ging, er aber war nicht mit dem Erfolg zufrieden. Er hatte sie mit den Türmen mattsetzen wollen, und jetzt war er rams. Seine geheime Rechnung war: beuge sie, übertrumpfe sie, so wird sie dich lieb haben. Statt dessen war nun sie ungebeugt, er aber, da er ihr jetzt trotz ihrer Störrigkeit mit Wohlgefallen nachsah, spürte, daß er sie lieb hatte. Gewiß, ein bißchen weniger gesalzen – das war sicher – dürfte sie ohne Schaden sein, bedeutend weniger gesalzen sogar. Und die harten blaßblauen Gläslein, die ihr als Augen dienten, hätte er ebenfalls anders gewünscht, wenns einmal ans Wünschen ginge. Zwei Augen, so kalt und nüchtern, als ob man durch lauteres Quellwasser den hölzernen Brunnentrog sähe.

Aber sie war nun einmal wie ein Stück von ihm, seit heute morgen. Und wenn sie frostig war, ein Grund nicht, ihr ein Büschel Strahlen aus seinem Herzen hinüberzusenden, um sie zu wärmen. Übrigens: Mängel, Fehler, was schadet das? Seine eigenen Fehler darf man doch lieb haben, nicht wahr? Warum also nicht auch die Fehler derer, die zu einem gehören?

Übrigens hatte er Gesellschaft bei seinem Wohlgefallen. Wohin Cathri trat, erregte sie Aufsehen. Die Unterhaltung verstummte, der Bissen zum Munde blieb unterwegs, man starrte ihr sprachlos nach. Die Formvollkommenheit ihrer Gestalt und ihres Antlitzes war ihm nicht so außerordentlich aufgefallen heute vormittags zu Hause unter den Frauenzimmern, sie hatte ihn einfach befriedigt, jetzt aber lieh ihm die Höhe und Allgemeinheit der Bewunderung das Maß.

Selbstbewußte, gewichtige Männer, wie der Gasdirektor Wyniger, erröteten, wenn ihr Arm im Vorbeieilen sie streifte, eingebildete Manschettengecken, wie der junge Vonderheiden, der Grasaff, welcher mit höhnischem Grinsen die Menschheit anödete, die Beine unter dem Stuhl des Nachbars, schlugen vor ihrem Blick befangen die Augen nieder und setzten sich hastig zurecht. Entglitt ihren Händen ein Gegenstand, so bückte man sich rundum im Wettstreit wie vor einer vornehmen Dame.

Herrschaft! Würde das eine Pfauenwirtin abgeben! Und was für ein gesegnetes Nest rotbackiger Sprößlinge! Rauflustige Kletterbuben, welche ein halbes Dutzend zu Boden schlügen, oder dralle Dirnchen, bolzgerade aufrecht, mit Zöpfen bis in die Kniekehle, jedes zwei Grübchen im Gesicht, eins im Kinn und eins in der rechten Wange, oder noch besser, beiderlei Nachkommenschaft zusammen.

Und tüchtig, weiß Gott, war sie auch. Wie sie bediente! In dieser Beziehung hätte ihr selbst die grämliche Hexenbase die Anerkennung nicht versagen können. Ruhig und selbstbewußt in der heftigsten Bedrängnis wie ein geschulter Soldat im Feuer. Nichts von dem kopflosen Umherstürmen der andern, jammernd und scheltend, als ob man ihnen die Jungen geraubt hätte. Und was er ganz besonders schätzte: sie bediente vollkommen unparteiisch. Nicht wie die empfindsame Josephine, welche bei jedem fleischprotzigen Turner hangen blieb, oder wie die ideale Helene, welche Hören und Sehen vergaß, wenn ein Männerchor anstimmte, mit säuselnden Bässen und himmelnden Tenören, oder wie die läppische Brigitte, welche auf den Tod die Alten nicht ausstehen konnte, so daß sie den ehrwürdigsten Nationalrat verdrießlich aufsuchte, als besorgte sie einen Heiratsantrag von ihm. Cathri bediente jedermann gleich, sei er alt oder jung, hübsch oder häßlich, vornehm oder gering, verzog auch nicht schnippisch den Mund, wenn einer bloß Zuckerwasser bestellte; Auftrag und Ausführung galten ihr alles, die Menschen waren ihr gleichgültig. Zu gleichgültig sogar. Denn sie benahm sich gegen die Gäste stolz, hochfahrend, um nicht zu sagen beleidigend. Nein, eigentlich beleidigend war es nicht; denn wenn nun einer sich über sie beklagte und Rede stehen sollte, so wußte er nichts Bestimmtes anzuführen. Aber, wie soll ich sagen? abweisend, feindselig. Ja, feindselig.

Die Bestellung empfing sie mit einem Gesicht wie ein Erzengel, der von einem sündenbeschmutzten niedern Menschenkind eine Bitte anhört; Trank und Speise setzte sie herablassend wie eine unverdiente Gnade vor. Und wehe dem, der sich die mindeste Hofmacherei erdreistete, sei es nun in Worten oder Mienen! Den behandelte sie fortan mit unverhohlenem Abscheu, wie einen übelriechenden Käfer, war auch schlechterdings nicht mehr zu versöhnen, weder durch süße Reden noch durch Trinkgelder. Nur das beschimpfende Wort, das ihr auf der Zunge schwebte, verbiß sie, solange sie bediente, mit unfehlbarer Selbstüberwindung.

Offen gestanden, ihre maßlose Sprödigkeit mißfiel ihm nicht durchaus. Es kehrte ein Geist ehrerbietigster Zurückhaltung ein, der ihre jeweilige Umgebung vornehm stempelte.

Während er so seinen Betrachtungen nachhing, stupfte ein fremder Ellenbogen den seinigen. »Herr Reber, schlaft Ihr? oder studiert Ihr über einen Feldzugsplan?« Und wie er nachschaute, war es Cathri selber gewesen, die lachend enteilte.

»Die verflixten Weiber!« murmelte er belustigt, »ist es nicht, als ob sie einem alle Gedanken an der Stirne abläsen?«

Der Portier torkelte im Zickzack heran, wie ein erratischer Block, unterwegs die Gäste anrempelnd, ohne sich zu entschuldigen, nicht absichtlich, sondern aus naturwüchsiger Ruppigkeit. »Herr Reber, Euer Vater läßt Euch sagen, der Oberst Allegri von Mendrisio habe schon dreimal nach Euch gefragt. Ihr möchtet endlich Euer benedeites Antlitz blicken lassen, meint der Vater, oder ob Ihr Euch etwa einbildet, der Herr Oberst müsse Euch nachlaufen, mit heraushängender Zunge wie ein Jagdhund.«

Er zauderte und zweifelte; der unglimpflichen Aufforderung des Alten hätte er selbstverständlich zuwidergehandelt, dem Obersten Allegri jedoch, der ihm stets väterliche Gewogenheit bewiesen, mochte er unbedingt seine Ehrerbietung abstatten.

»Ist der Vater dabei?« fragte er.

»Ja«, lautete die Antwort.

»Ich komme«, brummte er finster und machte sich auf.

»Haltet Euch gut«, rief ihm Cathri nach, spottend, aber doch in ernsthafter Meinung. »Nehmt Euch zusammen, daß Ihr nicht wieder die Erbsen verschüttet, denn ich komme nicht zum zweiten Mal am hellen Tage das ›gute Gespenst‹ spielen.«

»Haltet mir den Daumen«, spaßte er mit verzweifeltem Humor.

Auf der Terrasse angelangt, sah er unter dem Volk einen Tisch voll Uniformen glänzen. Bei diesem Anblick ward ihm wohl ums Herz, innig und dankbar wohl, als ob ihn jemand aus einem tiefen Nebelsumpf, in dem er bis zum Halse steckte, in trockenen Sonnenschein gehoben hätte. Ehre, Ansehen und Freundschaft grüßten ihn aus den goldenen Knöpfen, aus den blinkenden Säbeln, und darüber wölbte sich wie ein verklärter Himmel ein großer, schwungvoller Gedankenbogen, der von Genf bis Schaffhausen und von Basel bis Chiasso reichte.

Während er so mit leuchtenden Augen frei und stramm auf den Offizierstisch zusteuerte, stiefelte ihm der Oberst lebhaft entgegen, ein mächtiges Freudenhallo anstimmend, umarmte ihn und tappte ihm auf die Schultern. Da er die übrigen Offiziere nicht kannte, erfolgte eine förmliche Vorstellung. Man tauschte militärische Grüße, hierauf einen biedern Handschlag, und auf das ausdrückliche Geheiß des Obersten nahm Conrad an seiner Seite Platz.

Der Pfauenwirt hatte sich inzwischen beiseite gedrückt, doch der Oberst forderte ihn mit kordialem Spektakel zur Stelle. »Heda, alter Brummbär«, lachte er, »was soll denn das bedeuten, daß Ihr auskneift wie ein pulverscheuer Rekrutengaul? Seid Ihr vielleicht zu stolz, um mit unserer Gesellschaft vorlieb zu nehmen? Freilich, wenn einer solch einen Prachtkerl zum Sohn hat, darf er schon stolz sein! Geht doch mir selber das Herz auf, wenn ich ihn sehe.« Hiermit patschte er Conrad auf die Knie wie ein verliebter Onkel.

Der Alte, beschämt durch die begeisterte Belobung des verworfenen Sohnes, schnupfte und knurrte, schließlich schleppte er sich gleichwohl zögernd herbei.

»Was glotzt ihr denn einander an wie zwei Dächse um einen Knochen? Auf!« befahl der Oberst. »Vorwärts! stellt euch beide nebeneinander.«

Da half nichts. Sie mußten friedlich nebeneinander stehen, den Abscheu niederzwängend und die Stirn glättend. Kaum, daß sie vermieden, sich zu berühren. Aber den Blick richteten sie nach verschiedenen Seiten.

Der Oberst verglich die beiden, vergnügt und beifällig. »Nun, was meint ihr, Kinder?« wandte er sich zu den Kameraden, »wenn wir lauter Mannschaften von diesem Schlage hätten? Donnerwetter, das gäbe eine Truppe! Hm? Was meint ihr? Da lernt mans glauben, daß sie die Pferde mitsamt den Reitern kopfüber schmissen, die alten Eidgenossen!«

Hierauf nahm er den Alten besonders vor. »Ja, ja, mein Teuerster, die Söhne, die Söhne, die Söhne! Das ist unsere Zukunft, das sind unsere Totengräber.«

Bei diesen Worten nahm er die goldberänderte Mütze vom Kopf und strich fröhlich mit der Hand über seinen weißen Schädel.

Der Pfauenwirt, ob dieser Todesmahnung, wechselte die Farbe, vom Blau bis zum Violett, Conrad aber, er konnte nicht anders, spürte Mitleid mit dem Vater.

»Mit dem Begraben, Herr Oberst«, wandte er ein, »hat es noch gute Weile, sowohl mit Ihnen wie mit meinem Vater.«

»Ta, ta, ta!« machte der Oberst. »Patati, patata! In unserm Alter, mein Lieber, muß jeder stündlich darauf gefaßt sein, das Gewehr abzugeben! Nicht wahr, Herr Pfauenwirt? – Nun, die Hauptsache ist, daß man wenigstens jemand auf der Welt hat, der einem die Augen zudrückt, der einem ein wohlwollendes Andenken bewahrt, der einem die Altersbresten mit dankbarer Liebe und Anhänglichkeit verwinden hilft.«

Nun war die Reihe, sich zu schämen, an dem Sohne. Er errötete, senkte den Kopf und schwieg.

Jetzt aber sprang ihm der Vater bei:

»Es gibt ja freilich mitunter kleine Mißverständnisse«, brummte er ausweichend.

So suchten sie beide nach außen den Schein des Friedens zu retten, der Ehre und dem Ansehen der Familie zuliebe. Allein auf die Länge war die Stellung nicht haltbar. Auf der einen Seite der Oberst, der sie in seiner Einfalt zusammenschweißte, auf der andern ihre krampfhaften Bemühungen, sich weder zu berühren noch anzublicken, und herum die beobachtenden Offiziere. Deshalb spähten sie bänglich nach einem erlösenden Zwischenfall.

Conrad entdeckte ihn: »Verzeihen Sie, Herr Oberst«, ersuchte er höflich, »ich sehe die Feuerwehr von Waldishofen anrücken, zwanzig Mann hoch, und ich als der Herrlisdörfer Feuerhauptmann –«

»Versteht sich, versteht sich, mein Lieber«, erlaubte der Oberst. »Ohnehin müssen wir ja unsererseits ebenfalls auf den Heimweg bedacht sein. Die Pferde sind längst gesattelt, wir haben einzig Ihretwegen noch ein wenig verzogen. – Und diese Messe stammt auch nicht von Cherubini«, fügte er lachend hinzu, nach dem Tanzsaal deutend, wo eben ein infernales Gejohl anging.

Es folgte ein kurzer Abschied, mit Sporenklirren und Absatzzusammenklappen; die Offiziere brachen auf, der Vater verzog sich, und Conrad schickte sich an, seine Feuermänner zu empfangen, welche schon, vom Anblick der stattlichen Cathri angelockt, nach der Matte abbogen.

Unterwegs jedoch holte ihn Anna eifrig ein, mit geschäftiger Eile und geheimnisvoller Miene. Redselig meldete sie:

»Ein wunderhübsches Fräulein steht im Hausgang mit ihrer Mama und frägt nach dir. Sie haben deine Bekanntschaft in Frauenfeld gemacht, an einem Ball. Sie hätten sich leider auf ihrem Ausflug verspätet und müßten auf den Zug, sonst würden sie dich nicht so unhöflich in den Hausgang bestellen; aber so, ohne wenigstens einen flüchtigen Gruß am Pfauen vorbeizugehen, hätten sie doch nicht übers Herz gebracht, und sie hofften, du werdest sie entschuldigen.«

Über Conrads Gesicht flog ein Strahl der Freude. »Ah, ich weiß!« rief er lebhaft und wollte mit der Schwester aufbrechen, die Damen zu begrüßen.

Da gewahrte er Cathri jenseits des Mäuerleins, kaum drei Meter entfernt, steif wie eine Säule und die funkelnden Augen drohend auf ihn gerichtet. Ohne Zweifel hatte sie den Bericht der Schwester mitangehört und erriet, was auf dem Spiele stand.

»Ich glaube fast, sie zählen ein wenig darauf, daß du sie an den Bahnhof begleitest«, fuhr Anna fort, im Begriff, ihn mitzunehmen.

Allein er war stehen geblieben. Eigentlich wäre er zwar gerne zu den Damen gegangen und mit ihnen an den Bahnhof – denn liebliche Erinnerungen wachten mit klaren, schönen Morgenaugen auf –, allein Cathris strenge Miene sprach zu ihm: ›Jetzt wird sichs erweisen; jetzt hast dus in der Hand. Je nachdem du entschließest, werde ich beschließen.‹

Während er noch zweifelte, zwischen Furcht und Gelüsten, teufelte drinnen im Tanzsaal ein Charivari wie am Jahrmarkt, wenn eine Menagerie brennt.

Da gesellte sich zur Furcht die Scham. Wie stand er nun da, vor dem wählerischen Geschmack seiner feinfühligen Tänzerin, die ihn als schmucken Offizier kennengelernt hatte! Einfach als Bauernwirt, ja klipp und klar Bauernwirt, sonst nichts. Das andere, der ritterliche Soldatenrock, nahm sich dagegen wie eine zeitweilige Verkleidung aus. Eine heiße, peinliche Röte überlief ihn.

Nein, in den Pfauen von Herrlisdorf führt man kein zartsinniges, wohlerzogenes Stadtfräulein heim, dazu war sie ihm zu gut, zu wert. Und da eben jetzt auch die Offiziere sich entfernten, deutete seine Entmutigung das wie eine Bestätigung seiner Erniedrigung. Ein Bauer war er, ein Bauer blieb er, dieser Wahrheit galt es sich zu fügen. Und rasch entschlossen wie immer traf er die Wahl: »Es tut mir leid«, entschied er, »allein ich muß durchaus meine Waldishofer in Empfang nehmen.«

»Jedenfalls wirst du ihnen wenigstens schnell einen guten Abend wünschen, selbstverständlich«, warf die Schwester hitzig ein, mit erhobener Stimme.

Er schüttelte verneinend den Kopf und entfernte sich mit beschleunigtem Schritt, als besorge er, es möchte ihn gereuen. Und unwillkürlich nahm er dabei einen nachlässigeren Gang an als gewöhnlich.

»Aber das ist ja geradezu eine Unhöflichkeit, eine Beleidigung«, rief sie ihm empört nach. Doch er verschloß die Ohren.

Cathri erwartete ihn an der Mauerecke. Ihr Auge schillerte falsch und noch etwas feindselig, im Nachklang der ausgestandenen Eifersucht. »Warum seid Ihr denn nicht gegangen, das feine Stadtfräulein zu begrüßen?« tadelte sie verdreht, mit heuchlerischem Vorwurf.

»Des Menschen Seele ist doch ein verwickeltes Ding«, dachte er. Nämlich auf der Oberfläche fand er Unbefangenheit genug, um sich über diese kleine weibliche Verlogenheit in Cathris Mund zu wundern, denn er hatte gemeint, Grobheit wäre eine Bürgschaft für Wahrhaftigkeit; während er gleichzeitig inwendig die Brust voll Wärme spürte, ohne Vorbehalt noch Abzug. »Weil ich vorziehe, mich mit meinem guten Geiste zu unterhalten«, antwortete er, mit bebendem Tone, denn die Notwendigkeit der Wahl hatte ihn ergriffen.

Da schenkte sie ihm einen sonnigen Freundschaftsblick: »Ich danke«, bemerkte sie schlicht. Sie blieb noch ein Weilchen nachdenklich vor ihm stehen, hin und wieder zu ihm emporschauend, halb prüfend, halb liebend. Und als sie ihn verließ, berührte sie verstohlen seine Hand.

Kaum war sie fort, so schlenderte eben das Fräulein mit ihrer Mama dicht hinter ihm vorüber, dem Rebberg zu, begleitet von Anna. Obschon er ihr zufällig den Rücken kehrte, hatte ihn doch der unbestimmte Schein ihrer geschmeidigen Gestalt und ihres leichten Schrittes flüchtig getroffen, zugleich mit dem farbigen Eindruck ihrer Kleidung, hell und fröhlich, aber weich und gedämpft wie ein Mollakkord.

Das übrige ergänzte seine aufgeregte Erinnerung. Gewaltsam beharrte er auf dem Fleck und hütete sich, daß er sich nicht rührte, damit er sie nicht sehe. Erst nachdem er vollkommen sicher war, daß sie sich weit entfernt hatte, atmete er auf, mit dem erhebenden Gefühl, auf etwas verzichtet zu haben, worauf er sich keinen Anspruch erlauben sollte und durfte.

Endlich, als er Anna einsam zurückkommen sah, nahte er erleichtert seinen Waldishofern.

Sie empfingen ihn mit ehrerbietiger Vertraulichkeit, zwar sich erhebend, aber zugleich die Hand vorstreckend und das Glas zum Willkomm darbietend. Er tat manchem Bescheid und drückte jedem die Hand, sorgsam darauf bedacht, daß er auch nicht einen einzigen übergehe. Als aber die Reihe an den Wachtmeister gelangte, war es mit seiner Freiheit vorbei. Denn der nahm ihn mit seiner gewalttätigen Herzlichkeit für sich allein in Beschlag und gab ihn nicht mehr los, umarmte ihn, preßte ihn an die Brust, paukte ihn auf den Rücken und fiel ihn unersättlich von neuem an, während er ihm seinen pechschwarzen Zimmermannsbart, der ihm von den Wangen bis ans Zwerchfell reichte, um das Gesicht rieb. »Conrad«, gurgelte er unaufhörlich, indem er die wilden Augäpfel verdrehte wie ein schmachtender Grislybär.

Leutolf, der Feuerleutnant, erlöste ihn endlich, nicht ohne Mühe, von dem Freundschaftswüterich. »Was für ein geheimes Liebchen hattest du denn eigentlich heute nachmittag im Zuge sitzen, daß du Hören und Sehen vergaßest? Wir riefen uns im Vorbeifahren beinahe die Lunge nach dir aus, allein du hattest Augen und Aufmerksamkeit offenbar an einen wichtigeren Gegenstand zu vergeben.«

»Das geheime Liebchen hat weiße Haare und ist zweiundsiebzigjährig«, belehrte Conrad, und ein gutes Lächeln schlich ihm über Herz und Mund, als er der Hexenbase gedachte.

Leutolf hatte sich inzwischen in seinen Arm gehängt und drehte ihn jetzt mit sich in halber Wendung um:

»Was für eine unmenschliche Masse Volkes wieder einmal bei euch im Pfauen ist!« rief er bewundernd, mit Augenzwinkern.

»Und was für ein wundervoller Abend«, ergänzte Conrad ablenkend.

»Glückspilz!« fuhr Leutolf fort, Conrads Arm schüttelnd, »wenns bei dir einmal ans Erben geht!« Dabei pfiff er mit den Lippen.

»Pfui!« wehrte Conrad, aufrichtig beleidigt.

»Erben ist keine Sünde«, versetzte der Feuerleutnant unbeirrt. »Und dem Anschein nach spinnt er keinen langen Faden mehr, dein Alter. – Hast du denn aber auch für ein appetitliches Frauchen gesorgt?« Und da eben Cathri vorübereilte, mit Flaschen und Gläsern beladen, stupfte er den Freund mit der Schulter:

»Ist das etwa diejenige, welche?« munkelte er.

Conrad überlegte; die Frage schien ihm ungehörig, die Antwort schwierig. »Ich bin selber noch unschlüssig«, erklärte er endlich mißmutig.

»Verdammt schön ist sie, unverantwortlich schön, unmöglich schön sogar«, meinte der Waldishofer. »Aber hat sie denn auch Bildung?«

»Ich habe ja ebenfalls keine.«

»Du und keine Bildung? Artillerieoffizier und ehemaliger Industrieschüler und immer mit den ersten Preisen! Faxen! – Also ist es diejenige, welche, da du dich bereits über solch einen Hauptmangel hinwegsetzest. – Ich hatte erst einen Augenblick eine andere im Verdacht, eine, die besser zu dir paßte und die sich auffallend nach dir umsah. Aber, da du ihr so beharrlich den Rücken kehrtest, fällt meine Vermutung dahin.« Dann nach dem wüsten Gejohl im Tanzsaal horchend: »Was hast du denn da für einen absonderlichen Harmonieverein aufgelesen? Soll das etwa den Furienchor aus dem ›Orpheus‹ vorstellen? Die singen ja wie kastrierte Lämmergeier.«

»Oder wie mondsüchtige Seehunde«, meinte der Wachtmeister. Und indem jeder, des Beifalls zum voraus sicher, einen neuen Vergleich aus dem zoologischen Garten zum besten gab, lauschten sie belustigt dem schauerlichen Geheul.

»Den heisern Fistelstimmen nach zu urteilen, sollte man fast glauben, es wären die Wagginger«, riet eine Stimme.

Und da Conrad nickte, erhob sich die Frage: »Die Oberwagginger oder die Niederwagginger?«

»Beide«, gestand Conrad verstimmt. Der Feuerleutnant schaute ihn bedenklich an:

»Die Ober- und Niederwagginger zusammen? Acht Tage nach den Wahlen? Das könnte schief ablaufen.«

»Wohl möglich«, bestätigte Conrad.

Der Wachtmeister aber klemmte ihm den Arm: »Nun, wenns etwa dazu kommen sollte, gesetzt den Fall«, erläuterte er, »so weißt du, daß du auf uns zählen kannst.« Und um dem Versprechen Nachdruck zu erteilen, ließ er einige Püffe in die Nieren folgen.

»Selbstverständlich!« bekräftigte die Schar.

In diesem Augenblick klapperte feines Hufgetrampel, und als er sich nach dem Geräusch umsah, gewahrte er seine Offiziere, den Obersten Allegri an der Spitze, wie sie zuhauf das Kirschensträßchen hinabzogen, zu drei und drei hintereinander im tänzelnden Trabschritt, leicht und lebhaft. Mit Kennerblicken schaute er ihnen wohlgefällig nach. Die Pferde bogen, meisterhaft hinter den Zügeln versammelt, den Hals und das Kreuz in anmutigen Wellenlinien, die Reiter saßen knapp und stramm. Ein Baumpaar nach dem andern legten sie zurück im pochenden Takt der Hufe, welche die trockene Bahn mit melodischem Holzton hämmerten, während ab und zu ein Säbel, vom flachen Abendsonnenstrahl getroffen, jäh aufleuchtend wie ein Blendspiegel Flammenbündel entsandte.

Eine treue Seele, Papa Allegri, dachte Conrad. Harmlos wie ein Kind. War das ein gehörnter Einfall, ihn und den Vater zusammenzuflechten, ohne die entfernteste Ahnung, wie schlimm es zwischen ihnen stand! Welch eine unmögliche Lage! Er bemühte sich, dieselbe nachträglich possierlich zu finden, doch tief innen bewegte ihn Rührung. Eine geraume Weile friedlich neben dem Vater gestanden zu haben, ohne etwas Böses von ihm zu erleiden, sich gegenseitig unterstützt, einander entschuldigt, vor den Fremden gedeckt zu haben, – ein unerhörtes Vorkommnis. Gewiß, es war ja bloß im Zwange der Not geschehen, nach außen hin, der Leute wegen. Gleichviel, es ergriff ihn dennoch. Beinahe hätte er seinen Vater darum liebhaben können. Und wie wenig, wie wenig brauchte es doch, damit er es wirklich vermochte! Ein halbwegs freundliches Benehmen, ein Ton, der ihn nicht durch seine Roheit reizte, eine Anrede, die ihn nicht beleidigte. Mehr nicht. Und sollte denn das so unendlich schwierig sein?

Er seufzte tief, und sein Gesicht verfinsterte sich. Immerhin sah er nun wieder einen blassen, winzigen Hoffnungsschimmer. Es dünkte ihn hinfort nicht mehr so gänzlich unmöglich, daß sich alles noch leidlich fügen könnte, auch ohne die entsetzliche Mithilfe des Todes, einfach durch die Macht der Vernunft, mit Zusatz von einem magern, mikroskopischen Rest von Güte.

»Was ist Euch nur über die Leber gekrochen, Herr Reber?« erkundigte sich Cathri, von seinem rätselhaften Ernst beunruhigt. »Ihr seid ja auf einmal ganz traurig.«

Conrad schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht traurig«, entgegnete er schwermütig, »nur glücklich.«

»He, was ist mit dir, Conrad, ich glaube fast gar, du dichtest?« spottete der Feuerleutnant. Da schämte er sich und gesellte sich zu seinen Kameraden.

Bei der Wendung aber sah er unten im Tal die Offiziere ehrerbietig vor jemand aufgestellt in respektvoller Entfernung, die Hand an der Mütze, wie zur Manöverkritik. Und in dem jemand erkannte er sein Fräulein, seine Tänzerin, mit ihrer Mama.

Der Anschein traf ihn wie ein Wespenstachel in die Augen, so daß er sich geschwind abkehrte, den Schmerz verbeißend.

Das weinselige Geheul im Saal hatte sich mittlerweile von den Pausen in die Tänze hinübergeschleppt, die Musik lähmend und bald auch stillestellend, nicht durch die Macht der Stimmen, sondern durch die Zähigkeit des Mißklangs, die allmählich jeden Rhythmus entmutigte. Statt der wackelnden Paare taumelten jetzt krakeelende Häuflein über die Bildfläche, welche, um ihre träge flackernde Kühnheit anzumachen, die Fäuste durch die Fenster wiesen oder das Publikum hänselten oder mit heiserem ›Haraus‹ die Welt in die Schranken forderten. Nachdem der Umzug sich eine Weile vergnügt hatte, beliebte eine Abwechslung: die lebenden Bilder verschwanden, dafür kamen aus dem unsichtbaren Innern Speisebrocken geflogen: Käserinden, Schinkenfett, Wurstzipfel, zuerst spärlich, gleichsam zur Andeutung, später aber als üppiger Mannaregen, endlich mitsamt den Tellern, welche unten klirrend zerschellten.

Mißbilligende Rufe, klägliche wie entrüstete, protestierten gegen solchen schmutzigen Proviant, man flüchtete insgemein aus dem Bereich der klebrigen Geschosse; worauf der Alte, zornig die Hände verwerfend, nach dem Saal emporeiferte, jedoch ohne Frucht und Nutzen.

Unvermutet stockte das Gejohle. Über einem babylonischen Wirrwarr schnatternder Stimmen ward ein Redegefecht laut, gemischt mit bellenden Flüchen, dann folgte ein Getöse stampfender Tritte. Durch eines der Fenster gewahrte man einen schwankenden Klumpen von Körpern, in einer Dunstwolke von Atem und Schweiß. Faustbewehrte Arme fuchtelten in der Luft, wurden vom Ziel abgedrängt, strebten hartnäckig zurück, bis sie endlich den begehrten Feindeskopf erreichten, welchen sie dann überzeugt droschen, übrigens, dem Anscheine nach, ohne sonderliche Wirkung. Schier verwunderlich aber dünkte es Conrad, an welchem Merkmal der einzelne in dem Gewimmel einen liberalen Schädel von einem konservativen auseinanderzulesen vermochte. – Der Klumpen kam und ging und kehrte wieder, verweilte, häufte und türmte sich. Gleichzeitig klaffte die Tür, den schwarzen Schlund öffnend, aus welchem kreischende Jungfern flüchteten, mit den Händen in der Luft kletternd und Helfio zeternd. Doch kaum draußen, zwängten sie sich wieder hinein, mit ihrem Gellen den Lärm vermehrend.

»Da hast du die Bescherung!« höhnte Conrad dem Vater zu.

»Bemühe nur du dich keineswegs«, fauchte dieser, außer sich vor Ärger, daß die Wahrheit sich unterfing, ihm unrecht zu geben. »Laß du dich nicht im mindesten bei deiner Jucunde stören.«

Da steckte Conrad wohlgemut die Hände in die Hosen, zum Zeichen seiner Teilnahmlosigkeit.

»Hier täte eine Feuerspritze gut«, spaßte der Wachtmeister. »Mit dem vollen Strahl mitten hinein«, und lachte schallend ob dem ergötzlichen Gedankenbild.

»Ich danke für die Überschwemmung«, entgegnete Conrad. »Feuerwehr auf dem Damm, im Balken der Schwamm.«

»Dein Alter ist der Lage nicht gewachsen«, bemerkte Leutolf, »er verliert ja vollständig den Kopf. Mag er noch so hirnwütig von einem Fenster zum andern tanzen, das kümmert die keinen Flohstich.«

Conrad nickte. »Mir kanns nur recht sein, wenn sein maßloser Allmachtsdünkel einmal ein tüchtiges Loch bekommt.«

»Da wird halt nichts anderes übrigbleiben, als du mußt auf den Posten.«

»Erst muß er mich darum bitten: diese Genugtuung ist er mir schuldig.«

»Wie du meinst. Nur daß dus weißt, wir sind bei der Hand. Also wenns Zeit ist, so gib uns einen Merks. – Den Helm ab! den Rock aus! und die Hemdärmel herauf!« befahl er vertraulich seiner Mannschaft. Bei diesem Anblick eilten von da und dort kampfesmutige Burschen herbei, die Feuerwehr zu verstärken, junge Bauern aus dem Dorf, auch von den Gästen dieser und jener, so daß sich Conrad an der Spitze eines erlesenen Gewalthaufens sah, der sich zwar einstweilen enthielt, aber die Ungeduld einzugreifen nur mühsam zügelte.

Links und rechts hatten die Neugierigsten sich auf die Tische gepflanzt, um über das Mäuerlein hinweg besser zu sehen. Sie genossen das Schauspiel schweigend, außer Cathri, welche gleich einem Kampfrichter ihr Urteil öffentlich kundgab. »Gott du meine Güte«, klagte sie verächtlich, »was für eine gefehlte Bauersame! Weder Stimme noch Mark noch Muskel! Und auch nicht ein einziger rundum im Dorf, der sich erbarmt und herzhaft dazwischenfährt. Gott du meine Liebe! wenn unser Hans da wäre! Wie der den Saal ausfegte!« Dabei lachte sie hellauf vor Vergnügen.

»Maul zu!« schnauzte Conrad. Und nach einer Pause fügte er stirnrunzelnd, mit Nachdruck, bei:

»Es gibt hierzulande Leute, die taugen so viel wie Euer Hans und vielleicht mehr!«

Auch auf der Terrasse verfolgte das Volk gespannt den Verlauf des Streites, indessen wegen der bedrohlicheren Nähe vorsichtig nach beiden Seiten sich zurückziehend, so daß die Mitte leer blieb. Was sie hauptsächlich auf den gefährlichen Platz bannte, war die geheime Hoffnung auf eine kleine Dosis Schadenfreude, nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel. Allein wie nun der wüste Lärm ohne sichtbare Entscheidung gleichmäßig fortlief, meldete sich bald der Überdruß und mit dem Überdruß die Entrüstung: »Zahlen!« heischte ein Familienvater, umringt von nasenrümpfenden Frauenzimmern. Und wie ein Lauffeuer ertönte es nun von allen Seiten: »Zahlen, zahlen!«

»Sitzen bleiben! Wozu habt ihr sonst das Gesäß?« donnerte der Alte, außer sich über den drohenden Verlust, und während die Kellnerinnen wie von Sinnen umherrannten, um die Ausreißenden zum Bleiben zu beschwören, machte er Miene, das Treppchen zum Tanzsaal zu erklimmen, woran er jedoch von Anna und dem Doktor gehindert wurde, teils durch Zureden, teils mit sanfter Gewalt.

In der Tat hatte die Mehrzahl der Gäste sich erweichen lassen; sie standen zwar, den Hut auf dem Kopf, zum endgültigen Abzug bereit, beglichen auch vorläufig die Zeche, räumten jedoch nicht die Terrasse. Nur wenn der Tanzboden unheimlicher knackte, wenn die wankenden Wände sich gar zu unnatürlich bogen, krebsten sie hurtig ein paar Ellen weiter.

Plötzlich entleerte sich der Tanzsaal des gesamten Weibervolkes, welches atemlos vor Angst von dannen hastete, als folgte ihnen der Wolf auf den Fersen. Unmittelbar hinter ihnen brach eine ungeheuere Sturzwelle von Kämpfern mit krachendem Gepolter das Treppchen hinunter, sich überwälzend und augenblicklich in stürmischem Schwalle die weite Terrasse überflutend. Hiervon zerstob alles Volk in jäher Flucht, die Nächsten stumm vor Schreck, die Entfernteren mit kurzen Ausrufen der Bedrängnis; die meisten in der Richtung nach dem Dorfe, der Rest über das Mäuerlein. Die Vögel aber allzumal in den Bäumen, Finken und Meisen, den Lärm mißdeutend, sangen einen jauchzenden Wettstreit, daß ihnen fast die Kehle sprang.

Eins, zwei, drei war alles weithin zersprengt wie eine Schachtel Nähnadeln, so daß, als die Besinnung wiederkehrte, jeder sich an einer andern Stelle befand, als er vermutete. Man las sich zusammen, orientierte sich, man entdeckte sich neue Nachbarn. Hierauf erfolgte eine Sichtung: der zimperliche Teil der Gäste, darunter die Mehrzahl des Stadtvolkes und fast sämtliche Frauenzimmer, zogen ab, friedlicheren Wohnstätten zu, die übrigen, die standhielten, nahmen hinfort gemütlichen Anteil, als ob sie zur Sippe des Pfauen gehörten.

Bloß die unten in der Wiese hatten nicht gewankt. Doch jetzt schnellte Conrad mit weit geöffneten Armen vor. Nämlich Anna, vom Trieb der Selbstbewahrung überrascht, hatte ihren Vater kopflos preisgegeben und kam nun von der Mauer herab auf einen Tisch gesprungen, auf welchem sie flink wie ein Eichhörnchen bis zum Ende huschte, mit zusammengerafften Kleidern, übrigens ohne ein Gerät umzustoßen, dank ihren kleinen Füßen und feinen Augen. An der jenseitigen Kante des Tisches von des Bruders Armen aufgefangen, sah sie sich um und lachte nervös. Von oben schaute ihr der Doktor besorgt nach, ob sie nicht Schaden genommen.

Der Alte, nunmehr der Hindernisse ledig, gedachte seine Freiheit zu nützen, um mit seiner oft bewährten Leibeskraft sein Ansehen und seine Herrschaft herzustellen. Doch kaum hatte er sich in das Getümmel gestürzt, so rollte er schon, vom zufälligen Widerprall geworfen, schwerfällig auf den Boden, richtete sich unbeholfen wieder auf, verschwand abermals im Gewühl und kollerte zum zweiten Mal dahin.

»Jesus, der Vater! Helft dem Vater!« kreischte Anna, und schon hatte sie die Mauer übersetzt mit Schwung und Sprung, man sah nicht, wie.

»Meine Flinte!« hörte man den Alten in ohnmächtiger Wut keuchen. »Portier, die Jagdflinte, daß ich sie zusammenknalle wie Kramsvögel.«

Jetzt musterte Conrad seine Gesellen:

»Gilts?« fragte er, und seine Augen flammten.

»Los!« brauste die Antwort, und mutig stürmte die junge Schar um die Mauer, in Reih und Rotte wie beim Turnlauf. Conrad, den Seinigen voraus, warf ihnen im Lauf Ermahnungen und Verhaltungsmaßregeln zu:

»Immer mehrere zugleich einen einzelnen besonders aufs Korn nehmen, abtrennen und aus dem Haufen fördern, nicht wildlings jeder auf eigene Faust. Wir kommen ja nicht als Feinde, sondern als überlegene Friedensstifter, und dazu brauchen wir Ordnung und Besonnenheit. Was am Boden liegt, nicht anrühren! und vor allem keinen Streich, der nicht unbedingt nötig ist.«

Wie sie am Holzschopfe vorbeikamen, griff der Wachtmeister heimlich nach einem Sparren. Doch Cathri überholte ihn in fieberhafter Hast:

»Nichts da«, wehrte sie, sich an seinen Arm hängend, mit der Autorität der Vernunft: »Holz im Stolz, der Teufel wollts.«

Conrad wandte sich um:

»Keine Knüttel«, verbot er strafend, »bist du verrückt?«

»Keine Knüttel«, scholl die Losung.

Dann, am Ziel angelangt: »Erst heim mit dem Vater«, mahnte Conrad. »Fort, aus dem Krieg mit ihm, ins Haus, die Türe verrammelt!«

Und während die Hauptmacht ungesäumt in den Streit schwenkte, jagte er mit der Vorhut dem Alten entgegen.

Ihm warf sich Anna in den Weg, mit schützenden Armen, wie Schultheiß Wengi, denn sie mißdeutete den hitzigen Ansturm.

»Ei, ei!« machte Conrad, »solche Satansabsichten leihst du mir?«

Da gab sie demütig Raum, beschämt und zerknirscht.

Conrad bemächtigte sich indessen des Alten, schonend, aber fest: »Komm heim, Vater«, mahnte er begütigend, »solcherlei Hantierung taugt nichts mehr für dich«, und suchte ihn wegzuschieben. Allein der Alte, wie er die gewaltsame Hand spürte, sträubte sich und widerstemmte, als ob er zur Hinrichtung geschleppt würde. »Also geht man mit mir um!« stöhnte er. »Könnt ihr denn nicht warten, bis ich vollends auf dem Schragen liege? Wollt ihr mich bei lebendigem Leibe begraben?«

»Auf die Schultern!« verfügte Conrad. Da hoben sie ihn auf und trugen ihn geschwind in den Hausgang. »Anna, hüt ihn, daß er keinen Unfug stiftet«, rief er, »schaff die Flinte weg; laß ihn nicht durchs Fenster.« Hiermit schupfte er die Schwester nach, schmetterte die Türe zu und schickte sich an, sie zu verriegeln. Allein die Türe schloß von innen. Da pflanzte er zwei Mann als Wachen davor, zu denen der Doktor eilte. »Ich könnte nötig werden«, murmelte er kopfschüttelnd. »Außen oder innen; niemand weiß, wo und wem.«

Als Conrad sich nach seinen Kameraden umblickte, hatte sich die Szene verwandelt. Wo eben noch eine hitzige Faustschlacht gewütet hatte, herrschte jetzt ein ungefährliches Zungengefecht; statt einer gärenden Gesamtmasse brodelten viele vereinzelte Grüppchen, von denen jedes mit keifenden oder abwehrenden Jüngferchen umringt war, die sich um den Frieden abmühten wie die Engel um eine arme Seele. Reservemannschaft, die sich weiß Gott wie und woher eingefunden, stand ihnen werktätig bei, die Unbändigen überwältigend, die Zurückstrebenden abhaltend, die Zweifelnden aus dem Feld stoßend. Die Feuerleute waren verschwunden. Wohin? Ohne Zweifel in den Saal, denn dort tobte der Kampf wie der Teufel im Weihwasser.

Richtig, da kamen schon die Wagginger, von unsichtbaren Händen geschleudert, das Treppchen herabgeflogen, einer um den andern, in rascher Folge wie Päckchen auf der Frachtpostniederlage. Die drei ersten purzelten und standen wieder auf, der vierte kugelte kopfüber, ohne Schaden zu nehmen, der fünfte aber blieb ächzend liegen, so daß der Doktor mit langen Sprüngen zur Stelle eilte.

Da übermannte Conrad der Zorn, der gerechte Zorn der Entrüstung über die unnötige Roheit, und nachdem er blitzschnell den Platz gekreuzt, stemmte er mit grimmiger Kraft seinen Leib als Mauer entgegen, die Überwältigten im Sturz aufhaltend und als Sturmböcke gegen die Sieger zurückrammend. Dadurch stockte zunächst die Bewegung, indem die Bauern, von drinnen geworfen und draußen an Conrad brandend, zwischen zwei Kräften litten, so daß sie von dem Hin-und Widerprall wie von einem Hebel gehoben wurden; aber sobald es Conrad gelungen war, den rechten Türpfosten zu fassen, gewann sein Widerstand stetig die Obermacht, und wie er den linken Pfosten ebenfalls hatte, wälzte er mit plötzlichem Ruck und Druck die Menschenlawine vor sich hin, einwärts in den Saal zurück.

Der Wachtmeister war der erste, den er erhaschte. Den packte er an der Gurgel und schüttelte ihn, um ihn Gesittung zu lehren. Jener ließ das lammsfromm geschehen, die Augen in verliebter Freundschaft rollend und das bärtige Gesicht in stummer Dulderklage gegen den Hauptmann kehrend.

Darauf jedoch, als Conrad eben die Hand ausstreckte, um einen zweiten Wüterich zu fassen, traf ihn der Anblick der fremden Horde, die in dem schmucken Tanzsaal randalierte, wie Hornvieh im Stall, achtlos die Möbel umstürzend, Scheiben und Spiegel zerschmeißend. Jählings machte der Unwille über den Übergriff des Freundes der Erbitterung gegen den Eindringling Platz, der Erbitterung des Eigentümers über den frechen Hausfriedensbruch. Denn hier zwischen den heimatlichen Wänden fühlte er sich als Stellvertreter seines Vaters, mit edler Hintansetzung ihres sonstigen Zerwürfnisses.

»Ruhe!« befahl er mit angestrengter Lungenkraft in den Lärm hinein. »Der Pfauen von Herrlisdorf ist keine Kneipe; hier wird nicht gerauft!« Und da die Schlacht unentwegt weiter wirbelte, als hätte irgendein verschüchtertes Gemeindenachtwächterlein gemökt und nicht er, der Pfauenwirtssohn selber, Ruhe befohlen, ergriff ihn eine wilde Wut, wobei ihm ein unartikulierter Schrei entfuhr, welcher in dem Lärm ungehört unterging. Der Lärm aber war so bestialisch, dermaßen ohr- und vernunftbeleidigend, daß seine Wut in Raserei ausartete. Wie ein wildes Tier brüllte er zunächst den wüsten Schlachthaufen an, teils um ihn zu überschreien, teils um nicht zu ersticken.

In diesem Augenblick klingelte der Kronleuchter, getroffen, zersplittert von klobigen Holzwaffen, der neue, kostbare Kronleuchter, den der Vater im Dezember um schweres Geld angeschafft, zu Ehren des Offiziersvereinsballes, – der klare Glaston durchzuckte seine Nerven wie die Zündnadel die Granate, und der entfesselte Haß schnellte seine Gelenke zum federnden Angriff; sprang dem Kronleuchter zu, rücksichtslos mitten durch das Gemengsel, Freund und Feind gleicherweise überrennend. Den ersten, den er ein Stuhlbein schwingen sah, unterlief er mit geducktem Nacken, und indem er ihm beim Überfall gleichzeitig die gespreizte Hand übers Gesicht schlug, den Daumen in den Mund und die Finger in die Augenhöhlen, wie er das vorzeiten seinem Vater abgesehen hatte, schmetterte er ihn durch die Wucht des jähen Anpralls nieder, daß jener im Sturz wie eine gefällte Tanne seine Hintermänner mit zu Boden riß. Hierauf, ohne sich weiter um diesen zu kümmern, schoß er sofort gegen einen andern, welcher mit einem zerbrochenen Musikpult fuchtelnd eben wieder einen Regen von Glassplittern vom Leuchter hieb. Diesem umschnürte er den Leib, hob ihn vom Boden, drückte ihn, mit der einen Hand die Brust und mit der andern den Hosenbund packend, gestreckten Arms in die Luft, wo er ihn mit radförmiger Bewegung windschief über dem Kopf schwenkte. Hierbei überraschte das blaue Himmelslicht, das aus dem offenen Fenster hereinflutete, sein Auge, und mit plötzlicher Eingebung beförderte er seinen Gegner kopfüber ins Freie samt dem Rahmen, an welchen jener sich gekrampft hatte.

»Röcke, Decken und Kissen herbei!« gellte draußen eine Stimme, die Stimme Cathris.

Einmal im Zuge, schickte Conrad einen zweiten durch die nämliche Öffnung, und später, von Leutolf und dem Wachtmeister unterstützt, einen dritten, vierten und fünften. Hernach aber geriet der Sieg ins Stocken, und es entbrannte ein erbitterter Strauß. Denn die Wagginger, von der Überraschung sich erholend, vom Anblick der Waldishofer ernüchtert und von der Gefahr der verwegenen Würfe geschreckt, sperrten sich verzweifelt, Front gegen den gemeinsamen Gegner. Keine unnützen Verwünschungen mehr; nichts als das Keuchen der Lungen, das Strampeln der Füße, das Klopfen der Fäuste.

Plötzlich juckte Leutolf, während er eben Conrad gegen einen Seitenhieb deckte, heftig rückwärts und befühlte seine Wange. Unmittelbar darauf krachten zwei Revolverschüsse, donnerten einzeln durch den Saal und rollten gemeinsam längs den brüllenden Wänden dahin, bis sie endlich in den Winkeln verhallten.

Da war es wie eine abgestellte Mühle, und bleiches Entsetzen vereinte Freund und Feind.

»Wer schießt da?« kam es endlich zaghaft aus dem Bauernheer.

»Ich«, bekannte wutgrinsend der Wachtmeister, worauf ihm Leutolf gebieterisch den Revolver entrang.

»Man schießt nicht auf das Volk wie auf Rebhühner«, protestierten die Wagginger.

»Man sticht nicht mit dem Messer«, schäumte der Wachtmeister.

»Wir haben nicht gestochen.«

»Freilich habt ihr gestochen«, versicherte der Wachtmeister und deutete auf Leutolfs Wange, die von einer haarscharfen roten Linie vom Auge bis zum Kinn gezeichnet war und reichlich blutete.

»Es ist nichts«, beruhigte Leutolf lachend, als Conrad erschrocken nach dem Blute sah; »bloß die Haut geritzt. Aber am bösen Willen hats nicht gefehlt! Und zwar auf dich wars gemünzt.«

Von draußen aber schrillte anhaltendes Angstgeschrei in den höchsten Tönen:

»Wer ist getroffen? Ist jemand tot?«

»Wer ist getroffen?« wiederholten mehrere gleich zeitig im Saale.

Aller Blicke wanderten fragend im Kreise und begegneten allerorten andern fragenden Blicken.

»Niemand«, versuchte schließlich ein schüchterner Ruf. »Niemand«, bestätigte man von allen Seiten.

»Niemand«, lautete die bestimmte Antwort nach außen. Da verstummte das Angstgeschrei, und ein frohlockendes Echo vertrieb die tröstliche Botschaft in die Ferne. Aber mancherlei Köpfe tauchten jetzt an den Fenstern auf, um den weitern Verlauf den Untenstehenden zu berichten.

Eine Weile verharrte noch die Menge im Saale betäubt. Endlich rückte der Oberwagginger Fürsprech in die Mitte, rundlich und süß, mit populärem Schmunzeln. Nachdem er sich verlegen die Hände gerieben, begann er salbungsvoll:

»Da uns hiermit Gottes barmherziger Finger ersichtlich vor einem unabsehbaren Unglück bewahrt hat, sollte das nicht ein Wink sein, Frieden zu schließen? Ohnehin haben wir ja nicht den mindesten Span mit dem ehrenwerten Herrn Reber. Alles, was wir begehren, ist, daß man uns ruhig abziehen läßt, wie wir gekommen sind.«

»Und das Messer?« knirschte der Wachtmeister.

»Die Gesamtheit für die beklagenswerte Tat eines einzelnen haftbar machen zu wollen, wäre doch entschieden ein unbilliges Ansinnen.«

»So liefert uns den Messerstecher aus, nachher lassen wir euch laufen.«

»Da könnten wir mit ebensoviel Recht den Revolverschützen von euch verlangen.«

Die Waldishofer lachten spöttisch.

»Versuchts!« rief einer. Ein anderer: »Das ist anderlei, der Schuß war bloß die Antwort auf den Stich.«

Doch Conrad gebot Stille. »Es soll ihm kein Leid geschehen«, beteuerte er, »vorausgesetzt, daß er sich freiwillig meldet.«

Der Fürsprech sah sich fragend um, doch keiner muckte.

»Die Taschen untersuchen«, meinte ein Feuerwehrmann. Kaum hatte er das ausgesprochen, so glitten zahlreiche Stellmesser auf den Boden.

Hohnlachend schnellte Conrad empor.

»Da seht sie, die scheinheiligen Heuchler«, schäumte er, auf die glitzernden Klingen deutend. »Auf denn! Waffen gegen Waffen! Behändige jeder, was er findet. Und dann drauf, diesmal ohne Erbarmen.«

Ein tumultuarisches Scharren unzähliger Tritte erfolgte, indem die beiden Heere sich hastig zur Sammlung zurückzogen, die Bauern, um den Angriff geschlossen zu erwarten, denn sie fühlten sich als die Schwächern, ob auch an Zahl ungefähr gleich, die Waldishofer, um sich zu bewehren und um einen überrennenden Ansturm zu gewinnen.

Da tönte von draußen die weiche, seelenvolle Stimme Annas.

»Conrad, denke an unsere Mutter! Vergieße kein Blut und schone das deinige.«

Der Ton drang in den Aufruhr wie Orgelklang in eine zerrissene Seele.

»Conrad, sei gut«, mahnte wiederum die Schwester.

Conrad war erschüttert. »Leutolf, entscheide du«, sagte er dumpf, »du bist der Verwundete.«

Doch Leutolf schob ihm die Entscheidung zurück.

»Dir galt der Stich, dir gebührt das Urteil.«

Conrad überlegte.

»Wohlan«, verkündete er, »ich entbiete Frieden, unter der Bedingung, daß jeder einzelne klar und vernehmbar den Spruch hersagt: ›Wer mit dem Messer sticht, ist ein feiger Schurke.‹ Jetzt könnt ihrs nehmen oder lassen.«

Die Wagginger murrten, wußten jedoch keine triftige Einrede. Und da die Furcht ihnen überzeugend zusprach, nahmen sie endlich stillschweigend den schimpflichen Vertrag an.

»Es darf sich ja jeder, der sich unschuldig weiß, herzhaft zu dem Spruch bekennen«, ermutigte der Fürsprech.

Die Waldishofer bildeten nun eine Gasse nach der Türe wie zum Spießrutenlaufen, durch welche die Wagginger einzeln dem Ausgang zuzogen, den verlangten Spruch stammelnd, mit erhobenen Händen auf ausdrückliches Geheiß. Wer sich übereilte, ward angehalten, wer unverständlich munkelte, mußte die unliebsamen Worte wiederholen. Sie maulten, als gingen sie unter dem Joch, während die Waldishofer sich mehr und mehr zu übermütigem Spott hinreißen ließen.

Plötzlich erscholl ein fröhliches Gelächter. Brigitte, von Amor betört, erschien hinter einem jungen bäurischen Schönbold, den sie am Rockschoß festhielt, um ihn ja nicht zu verlieren.

»Ei, seht die Verräterin!« drohte Conrad belustigt. Sie aber streckte fuchswütend die Zunge heraus, so ziemlich die einzige Art, sich ihrer zu bedienen, die ihr zu Gebote stand.

Als der Regenwurm sich vorbeidrückte, der letzten einer, las Conrad in seinen auskneifenden Blicken die Schuld.

»Sieh mir ins Auge, du Wicht, wenn dus wagst«, befahl er verächtlich. Als jedoch der andere, ohne auszuschauen, den schleichenden Schritt beschleunigte, ließ er ihn gleichwohl ziehen. Jetzt aber fuhr der Wachtmeister dem Regenwurm an die Gurgel:

»Soll mich der Teufel holen«, schrie er, »oder der Messerhalunke, den ich aufs Korn nahm, bist du!«

Allein Conrad wehrte energisch ab. »Habe ich allen Frieden entboten, so habe ich auch jedem einzelnen die Sicherheit verbürgt.« Und vereint mit Leutolf riß er den Wachtmeister zurück. Da war der Regenwurm gerettet, ob auch ein Igel von Fäusten ihn umstarrte, so daß er nur langsam tappend vorwärts gelangte und bei jeder Bewegung an einen harten Knöchel stieß; den Spruch der Selbstverdammung mußte er freilich zur Buße immer von neuem bekennen und sich daneben unrühmliche Titel, Personalschilderungen sowie Anleihen aus seinem Lebenslauf gefallen lassen.

»Es ist der Matthiesen-Michel von Niederwaggingen, mehr braucht man nicht zu sagen, damit jedermann sofort weiß, es ist von allen schlechten Hunden der schlechteste Hund.«

»Er hat bereits ein Menschenleben auf dem Gewissen; wäre er damals nicht zu jung gewesen, er säße jetzt auf Lebenszeit im Zuchthaus.«

»Das ist noch nicht einmal das Schlimmste! Das Geld, das er seiner Mutter mit dem Messer abzwang!«

»Das Erbteilchen, um das er seine hilflose, blödsinnige Schwester betrogen hat!«

»Genug!« schloß Conrad und geleitete den Matthiesen-Michel an die Türe, indem er den Schlotternden unter dem Arm faßte und mit seinem Körper deckte.

Hernach wurde den wenigen übrigen der Spruch erlassen.

»Hält sich etwa noch einer verborgen?« meinte Conrad, im Saal umherspähend.

Da krabbelte der kleine Oberwagginger Schullehrer unter der Bühne hervor und setzte, ein klägliches Notgeschrei anstimmend, recta über den Fenstersims.

»Und wir?« fragten die Musikanten mit säuerlichem Humor. »Müssen wir ebenfalls beichten?« Conrad lächelte, worauf sie mit ihren Instrumenten hurtig abzottelten, wumselnd wie die Heinzelmännchen.

»Nach!« mahnte Leutolf. »Sprengt sie ins Tal!« Und frohlockend schoß das Rudel der Sieger ins Freie.

Conrad aber blieb zurück, um die Verwüstung zu prüfen, wie er sich weismachte, in Wahrheit deshalb, weil er das eroberte Schlachtfeld noch nicht verlassen mochte. Hier hatte er endlich geherrscht, hier zum ersten Male seines Lebens die häusliche Gewalt ausgeübt. Nun war leider sein Reich zu Ende. Schade! so früh! ehe es nur recht begonnen.

Überhaupt, er war noch nicht satt, der Hauptschlag fehlte, der Kampf war in den Frieden gekrochen wie der Rhein in den Sand. Freilich, sie hatte es ja herzlich gut gemeint, seine Schwester, und vernünftiger war es jedenfalls; nein, ganz gewiß. Und richtiger auch. Wo nicht, so befleckte ihn vielleicht gegenwärtig die Schuld und zerfleischte ihn die Reue. – Immerhin, es hätte ihm gut getan, nochmals gründlicher drauf. Das tapfere Handwerk löste ihm den Zorn, wusch ihm die Galle.

Himmel, wie sah es um ihn aus! Die Bühne zertrümmert, die Bänke geborsten, der Kronleuchter in Stücken, sogar den Ofen hatten sie geschändet! Wie die Wildschweine hatten sie gehaust! Gut, hatte er das nicht früher gesehen! Wer weiß, ob er ihnen so leicht Gnade gewährte!

Sehnsucht und Hoffnung lockten ihn ans Fenster, ob vielleicht noch ein Nachsatz anzubringen wäre. Doch Flucht und Verfolgung wälzten sich bereits tief den Rain hinab, unten in einen harmlosen Wettlauf ausartend. Nebenher im Gefilde ein dünner Schwarm Abgesprengter und töricht Umherrennender; oben am Rain unter einem Birnbaum ein verstecktes Nest, nach geriebener Hasenschlauheit die Verfolgung von hinten genießend – jenseits bei den Reben der Wagginger Fürsprech, harmlos dahinschreitend und leutselig grüßend, als ginge ihn die Geschichte nichts an, dann plötzlich mit riesigen Sekundanten-Sprüngen im Weinberg verschwindend – im Grase den steilsten Hang hinab das Lehrerlein, flink wie ein Gummiball, die Ellbogen gleich Schwingen rührend und mörderlich trompetend vor Freuden über sein neugewonnenes, junges, grünes Leben. Da war nichts mehr zu holen.

Während er also im Saal verzog, aufgewühlt und unbefriedigt, gleich der Dogge, der man die Schüssel vorzeitig weggenommen, traf das lamentierende Spektakeln des Vaters sein Ohr, fern, doch unverkennbar. Als ob eine Mine unter ihm geplatzt wäre, fuhr er in die Höhe. Und bei jedem neuen Laut der väterlichen Stimme, der zu ihm drang, juckte er empor.

»Jetzt entweder oder«, knirschte er, »jetzt muß sichs entscheiden«, und leidenschaftlich die Arme verwerfend, jagte er mit Gewaltsätzen ins Freie.

Ein rotgoldener Lichtjubel blendete sein Auge, jauchzendes Beifallrufen sein Ohr. Aber haarscharf, wie in Metall gebosselt, ragte aus dem Glanze Cathris Büste, als stände sie unmittelbar vor ihm. Er tat einen Seitensprung und schüttelte die Arme:

»Heran nun mit Eurem Hans, wenn er es wagt!«

Diesmal entfloh sie, die Augen voll Schrecken, obgleich eine mehrfache Menschenwand sie vor ihm schützte. Doch das war nur so nebenbei. Auf das Haus jagte er nun zu, die Lippen geöffnet und die Sprache entfesselt, denn keine Überlegung drückte mehr auf den Kehldeckel.

»Und nun, Vater, habe ich mit dir ein Wörtchen zu reden. Lange genug habe ich geschwiegen, jetzt aber muß es heraus, und zwar so, daß es alle Welt vernimmt. Das Leben, sag' ich dir, das Leben, wie ich es bisher ausgestanden, hat von heute an ein Ende. Ich will nicht länger den unmündigen Buben vorstellen, den man schilt, zankt, abkanzelt, den mißhandelten Knecht, an dem man seine üblen Launen ausläßt; ich begehre eine Stellung im Hause, wie sie dem Sohne gebührt, einen Winkel im Heimwesen, wo ich frei nach eigenem Ermessen schalte, wo mir niemand dazwischenredet, wo ich keinem Menschen Rechenschaft schuldig bin, kurz, wo ich befehle.«

»Befiehl, befiehl«, eiferte der Alte, »du bist ja jetzt der Herr, wie es scheint, ich bin längst abgesetzt.«

»Entweder du behältst das Geschäft und ich baure, oder ich übernehme die Wirtschaft und du das Land.«

»Nimms doch, nimms«, flennte der Alte, »wenn du doch meinen Tod nicht abwarten kannst. Nimms alles.«

»Ich verlange keineswegs alles, ich will bloß meinen billigen Teil, damit man mir mit Achtung begegne, damit ich Frieden habe, damit ich meines Lebens froh sein und lachen kann, damit ich nicht meine Mahlzeit mit Ärger hinunterwürgen muß. Entweder du ziehst mit der Mutter in den oberen Stock und ich wohne unten, oder umgekehrt, du unten und ich oben.«

»Ich kann ja meinetwegen mit der Mutter im Stall bei den Pferden wohnen, das kommt dich billiger zu stehen. Ohnehin brauchen wir ja nichts weiter mehr als ein Bündel Stroh zum Sterben.«

»Mit solchen schändlichen, lästerlichen Redensarten ist mir nicht gedient. Ich heische einen vernünftigen, verpflichtenden Bescheid. Und zwar einen sofortigen. Willst du, oder willst du nicht?«

Ein beistimmendes Gemurmel der Menge unterstützte seine Forderung, so daß der Alte sich einer einhelligen öffentlichen Meinung gegenüber sah. Er jagte einen giftigen Blick unter das Volk, fletschte knurrend die violetten Lippen, spuckte mehrmals aus und verzog sich dann ohne Antwort ins Innere der Stube.

Da verrückte dem Jungen wahnsinnige Leidenschaft den Verstand. »Gut denn«, schleuderte er dem Vater nach, »so geh' ich fort von heim, und niemand erblickt mich wieder. Und zwar augenblicklich, nur daß ich keine Stunde länger in diesem ungerechten, lieblosen Hause verbleiben muß.«

Ein empörter Aufruhr mißbilligte den Bescheid. Einige suchten ihn zu begütigen, andere traten ins Haus, um dem Vater zuzureden. Anna, welche der bedrohliche Auftritt herbeigezogen hatte, fiel dem Bruder weinend an die Brust. »Conrad!« flehte sie.

Er riß sich los. »Leb wohl, Vater«, rief er dröhnend, »du siehst mich nie mehr. Grüß mir die Mutter.«

Wieder brauste die Entrüstung. Wohin er sich auch wandte, ward er freundschaftlich gehemmt, umringt, zurückgedrängt.

Da, unversehens, stürzte der Vater wie ein wildes Tier ans Fenster. »Ja, ja, ja, ja denn!« brüllte er, mit Gebärden, als ob er etwas hinschmisse.

Wie Erlösung seufzte es aufatmend durch die Reihen, denn die aufregenden Ereignisse hatten alle Anwesenden der Familie angegliedert.

Nun näherte sich Conrad festen Schrittes dem Vater: »So ists also dein wahrer, ernsthafter Wille?«

»Ja, ja, ja«, wiederholte der Alte gereizt, den Nacken schüttelnd.

»Reicht euch die Hände«, rief es aus dem Volke.

»Es sei«, genehmigte Conrad, »gib mir die Hand darauf«, und reichte die seinige dar. Der Alte sperrte sich, als ob er in ein Schlangennest greifen sollte. Endlich gewann er sichs doch ab, mit einem heftigen Ruck, der die dargebotene Rechte wegstieß, nachdem er sie kaum gepackt hatte.

»Die Landwirtschaft oder das Geschäft?«

Der Alte keuchte; schließlich, mit einer letzten krampfhaften Überwindung, warf er die Hände über den Kopf.

»Alles!« preßte er polternd hervor und verschwand erschöpft.

»Ihr habts vernommen, ihr seid Zeugen«, sprach Conrad, nach dem Volke gewandt. Hierauf lehnte er sich mit beiden Armen auf den Sims und sprach in das Zimmer hinein: »Vater«, sagte er feierlich, »Ihr sollt es nicht bereuen; das gelobe ich Euch mit heiligem Schwur. Ihr sollt von nun an einen treuen, dankbaren Sohn an mir haben, der es Euch und der Mutter an nichts wird fehlen lassen. Und so Gott will, wird fortan Friede und Frohsinn im Pfauen walten.«

Jetzt spürte er sich von seiner Schwester innig umarmt, die er tiefbewegt küßte.

Hernach blieb sein Geist gelähmt. Der nachträgliche Schreck über seine Vermessenheit ließ das Bewußtsein seines Erfolges noch nicht aufkommen. Auch die Umstehenden verharrten betäubt. Verlegenheit herrschte um und um, die Verlegenheit der Gedankenunzulänglichkeit angesichts einer plötzlichen folgenreichen Schicksalswendung. Gewohnheitshalber räumte das Gesinde den Erdboden vom überflüssigen Zeug, Matratzen, Kissen, Kleiderfetzen, Hüte und Scherben und was sonst noch nicht da her Gehörendes umherlag, in zweckmäßiger, doch unbewußter Arbeit. Unterwürfig, Dank und Glückwunsch im Auge, näherten sich die Musikanten, ließen jedoch, was sie sagen wollten, unausgesprochen. Die Waldishofer, die eben jetzt geräuschvoll von der Verfolgung zurückmarschierten, singend und prahlend, verstummten vor dem geheimnisvollen Schweigen.

»Conrad, was ist gegangen?« flüsterte Leutolf. Conrad gab keine Antwort, und da er den Doktor mit der abgespannten Miene eines von der Arbeit Ausruhenden um die Ecke biegen sah, eilte er diesem eifrig entgegen.

»Wie stehts?« erkundigte er sich besorgt. »Doch hoffentlich keine ernsten Verletzungen?«

Der Doktor kniff ein Auge zu und blinzelte mit dem andern herüber, ehe er geruhte, sich zu äußern. »Du kannst Gott danken, daß es so abgelaufen ist, oder vielmehr der Bernerin, daß sie Decken herbeibefahl. Es wäre sonst möglicherweise nicht so gnädig abgelaufen. Denen, die zum Fenster herauszogen, hats keinem etwas getan, es gibt zum Glück manchmal solche Wunder; dagegen von den ersten, welche das Treppchen herabkamen, liegt einer in Behandlung.«

Dann verschluckte er die Stimme: »Ein gutartiger Oberschenkelbruch«, munkelte er undeutlich mit geiziger Betonung.

Conrad war nicht im reinen, ob er sich nun über die ›Gutartigkeit‹ Glück wünschen oder über den Oberschenkelbruch härmen solle.

»Wo liegt er?« fragte er einstweilen.

»Wir haben ihn vorläufig in der Scheune verbunden.«

»Wer pflegt ihn?«

»Die Lisabeth und die Brigitte.« Hiermit entfernte sich der Doktor, der Haustüre zu.

Danach ward es wieder stille, so stille, daß der Stundenschlag der Kirchturmsglocke, der jetzt zufällig tönte, wie ein wichtiges Ereignis wirkte. Automatisch zählte ein jeder nach: Eins – zwei – – »sieben Uhr«, lautete der Schluß. »Wie? schon sieben Uhr?« lief es erstaunt durch die Menge, obschon niemand wußte, warum er erstaunte.

Jedermann empfand, es müsse noch etwas dazu geschehen, sei es nun, um das Ergebnis zu ergänzen, sei es, um es wieder umzustoßen.

Da polterte des Pfauenwirts Stimme scheltend aus dem Innern der Stube: »Was steht ihr da und guckt die Backen hinab wie die Schafböcke! So laß doch wenigstens deinen Leuten einen Trunk aufwarten. Sie habens wahrlich verdient.«

Conrad atmete auf. »Von welchem Wein?« fragte er in gehorsamem Ton.

»Was fragst du mich, Dilldapp? Du hast ja jetzt zu verfügen.« Und ein Bund Schlüssel flog Conrad vor die Füße.

Hiermit war der Bann gehoben und die Spannung gelöst.

Alles drängte sich zu Conrad heran, um ihm zu der erlangten Herrschaft Glück zu wünschen.

»Also, von nun an Pfauenwirt! Ich wünsche Euch Gesundheit und langes Leben, und daß es Euch wohl ergehe.« »Und ich eine brave Frau ins Haus.« »Und ich erlaube mir denn doch auch, Ihnen von Herzen zu gratulieren.« Eine Unzahl Hände schob sich vor, Hände von jeder Größe und Beschaffenheit, er wußte gar nicht, wohin zunächst greifen. Die eine schüttelte, die andere drückte und quetschte seine Rechte, einige zerrten ihm vor Freude beinahe die Schulter aus dem Gelenke, manche wieder legten nur schüchtern die Finger auf, die Gewährung des Grußes von ihm erwartend. Der Wachtmeister aber prügelte ihn vor Begeisterung.

»Meister«, lächelten die Kellnerinnen, halb furchtsam, halb vertraulich, und ihr Auge bat um Verzeihung für Vergangenes, um Nachsicht für Zukünftiges.

Was tat Conrad? Er umarmte eine jede. Wahrhaftig, er umarmte sie. Und schämte sich nicht und es reute ihn nicht.

Josephine aber, im Begriff, ihm die Hand zu reichen, strahlend und lächelnd, warf sich plötzlich auf einen Stuhl und weinte wie ein Bächlein. »Ich mags Euch halt so von Herzen gönnen«, klagte sie und war gar nicht zu trösten.

Von allen Seiten jubelte in endloser Wiederholung, wie das Halleluja am kantonalen Gesangfest, sein Name; jenes Eigenwort, das von allen Wörtern der Sprache dem Menschen am süßesten klingt, wenn es aus dem Munde der Freundschaft tönt. Und sie waren ihm wirklich Freund, alle, ohne Unterschied, die ihn jetzt umzingelten, Bekannte wie Unbekannte; das las er am guten Klang, am warmen Blick. Woher kam ihm, dem gestern noch so Vereinsamten, nun plötzlich die viele Gunst? Wie ein glitzernder Komet mit einem leuchtenden Schweife flimmerte ihm die Ahnung auf, daß der Erfolg Ansehen schafft und daß der Ruhm Freunde hinter jedem Haselbusch zeugt.

Bewegt erwiderte er jede einzelne Huldigung, ohne Unterschied des Standes oder der Person.

Er war glücklich, was man so sagt, glücklich. Unwillkürlich strotzten seine Muskeln kräftiger. Ein Hochgefühl von überquellender Jugend und Gesundheit beseligte ihn, nicht anders, als ob die gestrenge Natur in Person ihn liebkoste. Wenn aber einer mit der Natur im Einklange steht, so steht es gut mit ihm. Er hätte in diesem Augenblick Tod und Teufel herausfordern mögen.

»Anna«, raunte er der Schwester zu, ihr den Schlüsselbund überreichend, »laß vom allerbesten bringen, Chianti, du weißt. Und zwar für alle den nämlichen. Und ja nicht damit geizen!«

»Herr und Meister«, murmelte er, um sich schauend, um sich der Wirklichkeit zu versichern. Mehr vermochte er einstweilen nicht mit dem Geiste zu begreifen; denn die Bewegung war zu stark; außen tanzte die Welt, und inwendig hüpfte seine Seele.

Als Anna zurückkehrte, mit einem Gefolge von Kellnerinnen, welche Fäßchen und Flaschen schleppten, zog er sie vertraulich beiseite. »Ich lasse den Vater aufs höflichste ersuchen, ob er uns die Ehre antun wolle, mit uns anzustoßen.«

Anna willfahrte mit zweifelnder Miene. In der Tat lautete der Bescheid abschlägig, wenn schon nicht unfreundlich. Der Vater lasse danken, meldete sie, allein er sei für heut zu müde und angegriffen. »In diesem Zustande jedoch darfst du dich nicht länger blicken lassen«, fügte sie eifrig bei. »Schnell geh und wasch dich und kleide dich um.«

»Bah!« machte er gleichgültig. »Kriegszustand ist auch ein Zustand. Ich sehe genau so aus wie meine Kameraden. Keiner hat Anlaß, sich vor den andern zu schämen.«

»Mit Verlaub«, entgegnete sie, »so sehen sie denn doch nicht aus, deine Kameraden«, und zeigte auf seinen rechten Ärmel, der nur noch an einem Fetzen baumelte.

Er lachte: »So bring mir meinetwegen einen alten Waffenrock, der deckt alle Mängel. – Was macht die Mutter? Ist sie noch nicht heim? Weiß sie etwas? Was wird sie wohl dazu sagen? Trachte, daß du es bist, die es ihr zuerst mitteilt; du verstehst ja, es so vorzubringen, daß es nicht falsch aufgefaßt wird. Sag ihr, sie brauche sich nicht zu betrüben. Sie solle es bei mir gut haben, sowohl sie wie der Vater, so gut wie der König und die Königin am Schluß eines Märchens, inwendig und auswendig. Sag ihr das.«

Bald klangen die Becher und rauschte das Bankett. Gläser wurden angestoßen, Gesundheiten ausgerufen, Späße zum besten gegeben und, um den ruhmreichen Sieg wieder zu kosten, einzelne Vorfälle aus dem Tanzsaal geschildert, welche, durch den Festjubel geschaut, sämtlich komisch wirkten. Conrad schritt still von einem zum andern, nippte aus manchem Glas, pochte auf manche Schulter, drückte jedem seiner Waldishofer nochmals die Hand, diesmal von sich aus, außer Leutolf und dem Wachtmeister, die ohnehin zu ihm gehörten wie sein eigener Leib. »Heda, ihr Musikanten, setzt euch zu uns! Wer heute nicht mit mir hält, beleidigt mich.«

»Sie sollen uns doch etwas aufspielen«, meinte Josephine keck. Ihr Einfall fand allgemeine Unterstützung, worauf die Musikanten umständlich ihre Kratzwaffen hervorkramten, bei deren bloßem Anblick schon die Feststimmung um eine Oktave höher stieg, im Vorgefühl des zu erwartenden Taktlärms.

»Nun, Cathri, wo ist denn der Teufel hingekommen, der auf dem Dache saß?« hatte Conrad auf der Zunge und wandte sich nach ihr um. Sie war nirgends in seiner Umgebung. Da erst fiel ihm auf, daß sie ihm schon seit geraumer Stunde abhanden gekommen war, ja sogar beim Glückwunsch gefehlt hatte. Verwundert suchte sie sein Blick, in beständig weiteren Kreisen. Endlich entdeckte er sie unter der Halle der Kegelbahn, regungslos mit angelehntem Rücken auf einer Bank sitzend, wie zum Photographieren, die Hände im Schoß und die Augen fest auf ihn gerichtet, wie ein Schuß aufs Ziel. Als er sie ansah, flüchtete sie schnell den Blick zur Seite, aber wie er wieder hinsah, hatte sie ihn von neuem angestarrt. Etwas Mildes, das ihrer bisherigen steinernen Härte widersprach, durchgeistigte ihre Gestalt, und er begriff, daß das Milde ihm gelte, ihm besonders, ihm ganz allein. Wie eine Rakete schoß es ihm da vom Herzen in den Kopf. Erst jagte er ein Glas Wein durch die Kehle, dann steuerte er stracks zu ihr hinüber.

Mancherlei Anreden luden ihn unterwegs ein; er ließ sich nicht aufhalten.

Doch der Portier hängte sich zudringlich an seine Fersen, katzbucklig, die Mütze zwischen den Fingern: »Herr Pfauenwirt«, zischelte er, »sie sammeln sich wieder, unten im Rebberg.«

»Wer?«

»Die Wagginger.«

Conrad zuckte wegwerfend die Achseln und schritt fürbaß. Aber der Portier klebte: »Herr Leutnant, sie haben Frieden geschlossen und sich vereinigt, die Oberwagginger mit den Niederwaggingern. Sie wollen Euch überrumpeln.«

»Es ist noch Tag, und unsichtbar sind sie schwerlich.«

»Nichts für ungut, Herr Meister; sie lesen Steine im Rebberg zusammen, sie haben Euch Rache geschworen, Euch ganz besonders. Ich darf gar nicht wiederholen, was sie Euch angedroht haben –«

»Ja, wenns auf den bösen Willen allein ankäme, so hätten sie mich längst aus der Welt geschafft. Aber wenns mir gilt, so bin ich auch dabei. Genug davon.«

»Also muß ich denn jetzt wahrscheinlich meinen Platz im Pfauen verlieren, nachdem Ihr der Herr seid? Oder wolltet Ihrs vielleicht noch ein Wöchlein mit mir versuchen? Ich würde mir alle erdenkliche Mühe geben.«

»Davon ist morgen noch Zeit zu reden«, antwortete Conrad und winkte ihm ab.

Cathri verharrte wie eine Bildsäule, während er ihr unternehmend entgegeneilte. »Nun also, Cathri«, scherzte er, »wo ist der Teufel hingekommen, der heute morgen auf dem Dache saß? Der ist wahrscheinlich durch den Blitzableiter in die Hölle gefahren, wohin er auch gehört. Mut und Mann, seht Ihr, das ist immer die beste Arzenei gegen den Teufel. Um ihm jedoch auf ewig die Wiederkehr zu verleiden, will ich jetzt einen guten Geist ins Haus führen, einen guten Geist; wißt Ihr, wen ich damit meine?« Und da ihr Atem flatterte wie eine Möwe über dem stürmischen See, streckte er ihr bieder die Rechte dar.

»Topp, Cathri, heute ist aller guten Dinge Hochzeit! Wollen wirs gleich binden und siegeln?«

Errötend wand und krümmte sie sich. »Was würde Eure Schwester und Eure Mutter von mir denken?« stammelte sie ausweichend, indem sie sich erhob und mühsam abwendete.

»Was sie mögen!« entgegnete er lachend. »Bin ich doch jetzt selbständig und keinem Menschen mehr Rechenschaft schuldig.« Und mit schnellem Sprung ihren Arm ergreifend:

»Ein guter Gedanke: Kommt, was meint Ihr, Cathri, ich stelle Euch ohne weiteres dem versammelten Volk als meine Braut vor?«

Ein Glücksschauer durchzuckte sie, daß sie verwirrt den Kopf senkte, dann widerstrebte sie unsicher: »Nicht so, nicht jetzt, am ersten Tag, daß wir uns kennen. Was denkt Ihr auch? Später vielleicht. Nur nicht heute. Ihr seid zu aufgeregt. Ihr spürt den Wein. Ihr wißt nicht, was Ihr tut. Es könnte Euch morgen wieder gereuen.«

»Gereuen? Mich? Morgen? Ich wüßte nicht, was ich tue? Wohlan, so will ich es Euch morgen noch einmal förmlicher sagen. Morgen vormittag zwischen zehn und elf Uhr im Kurbad. Stimmt die Zeit? Oder soll ich lieber später kommen?« Und da sie wortlos seufzte, fuhr er fort:

»Also bleibts dabei. Morgen um halb elf Uhr spätestens komme ich mit der Lissi ins Kurbad. Bis dahin auf Wiedersehen.« Sprachs und warf ihr einen Blick voll neckischer Freundschaft hin, drehte sich auf dem Absatz und entfernte sich, flott und keck. Die Sache war im Blei.

Da erschien sie an seiner Seite und stupfte seine Hand. »Habt Ihr mich denn ein wenig lieb?« schmollte sie, die Augen voll Sonnenschein.

»Die Antwort will ich Euch morgen offenbaren«, scherzte er, »heute ist das noch ein strenges Geheimnis«, und zog sie an der Hand näher an sich, so daß ihre Körper sich beim Gehen behinderten.

Die Strecke von der Kegelbahn bis zur Terrasse maß höchstens dreißig Schritt, doch kam sie ihm jetzt so unendlich überschwenglich und reich vor wie damals der Raum vor der Front bis zum Brigadestab, als ihn der Oberst Allegri mit Namen hervorrief, um ihn vor der versammelten Truppe zu beloben.

»Cathri«, sagte er lächelnd, mit den Wimpern nach dem First des Gasthofes blinzelnd, »rate einmal, wer sitzt jetzt auf dem Dach? Es ist einer mit weißen Fittichen und einem goldenen Gürtel und hält einen Palmenzweig in der Hand. Mir ist, ich spürs, wie er mit den Flügeln wedelt. Spürst du nichts? Ich spürs.«

Da schnappte sie einigemal ungestüm nach seinem Schnurrbärtchen, was, wie er mutmaßte, in ihrer heftigen Art einen Kuß bedeuten mochte. Plötzlich aber hielt sie ihn an und sah ihm drohend ins Auge.

»Hingegen, wohlverstanden«, sprach sie nachdrucksvoll, »Treue verlange ich von nun an. Treue ohne Gnade und Ausnahme. Ich bin nämlich wie ein Hummer, wenn ich einmal jemand in mein Herz eingelassen habe, so halte ich ihn wie mit Zangen fest. Dafür muß er aber auch an mir festhalten. Siehst du, wenn ich die Wahl hätte, entweder erfahren zu müssen, daß du jemals eine andere lieber hättest, und wäre es auch nur deine Schwester oder Mutter, oder dich tot zu wissen, tausendmal lieber wüßte ich dich tot. So bin ich. Ich sage dirs offen und unverhohlen.«

»Brr«, machte er lachend und schauderte zum Scherz. Eigentlich befremdete es ihn doch ein wenig, daß sie so leichthin seinen Tod in die Waagschale warf. Er hatte sich Frauenliebe umgekehrt gedacht, alles andere eher, sogar das Opfer seiner selbst, als den Tod dessen, den man lieb hat. Doch das war nur so ein flüchtiger Gedankenschatten, welcher, kaum daß er ihn gestreift hatte, auch schon vorüber war. Cathri aber, indem sie den unterbrochenen Wandel wieder aufnahm, setzte zur Theorie das Exempel: »Ich habe es sogar dem Hans auch nie verziehen, daß er seine Braut vor mir bevorzugte.« Damit erachtete sie ihren Standpunkt für bewiesen und schloß die Verwarnung mit einem huldvollen Lächeln.

Wie sie auf der Terrasse anlangten, brach eben die Musik an, verstärkt von hundertstimmigem, dröhnendem Gesange. Sie kannten des Liedes Worte und Weise, und da der Text zufällig ihr eigenes Gefühl nicht übel auslegte, fielen sie frisch und frei mit Mund und Fuß in den Takt: »Wenn Kraft und Mut in tapfern Seelen flammen.« Zugleich schlenkerten sie die verschlungenen Hände zum Schwung wie die Sennen beim Tanz. Dabei schaute Conrad seiner Gefährtin ins Antlitz, Cathri dagegen blickte vor sich hin, gänzlich im Singen befangen.

Daß ihre Bahn sie mitten durchs Volk führte, kümmerte sie nicht, denn sie wußten sämtliche Gegenwärtigen durch gemeinsames Empfinden auf die hohe Note der Güte gestimmt; auch steuerten sie der roten Sonnenscheibe entgegen, so daß sie vor Glut und Glanz keinen Körper unterschieden.

Als sie aber unversehens auf Anna stießen, die mit dem Waffenrock auf den Bruder harrte, prallten sie auseinander wie zwei auf einem Ehebruch Betroffene.

Anna sah eins um das andere mit einem nämlichen Blick unsäglichen Leidens an, dann hielt sie stumm und ergeben dem Bruder den Waffenrock dar, während dieser sich des zerfetzten Wamses entledigte. Da sie jedoch aus Unaufmerksamkeit den linken Ärmel des Waffenrockes zur Erde hangen ließ, ergriff den jetzt Cathri hinterlistig, als ob sie der Jungfer Reber behilflich sein wollte.

»Ja, wer bedient jetzt eigentlich meinen Bruder? ich oder jemand anders?« fragte Anna tonlos und biß sich auf die Lippen.

»Herr Reber, wählt, wer soll Euch bedienen?« nahm Cathri die Frage mit fröhlichem Lachen auf, als ob es sich um einen belanglosen Scherzstreit handelte.

Aber beider Frauen Blicke, die sich wie giftige Dolche kreuzten, verrieten ihm ihren Haß, so daß er sich wohlweislich in einem großen Bogen um die begehrte Entscheidung drückte. »Beide«, antwortete er, sich zum Schmunzeln zwingend, und dünkte sich wunder was für einen Salomo. Doch wie er nun arglos den linken Arm in den Rockärmel schob, ließ Anna beleidigt den rechten Ärmel fahren und trat zurück, der Gegnerin den Platz räumend.

Sie hatte auch eine Halsbinde und einen Hut mitgebracht, die sie jetzt mechanisch zur Hand nahm. Beides holte ihr nun Cathri mit unglaublicher Dreistigkeit aus den Händen, nicht anders, als ob Cathri die Herrin und Anna ihre aufwartende Magd gewesen wäre. Anna ließ zwar alles widerstandslos geschehen, schaute auch ergeben zu, wie die Fremde sich vielweserig um den Bruder zu schaffen machte. Aber so erniedrigt, so trübselig sah sie drein, so völlig des Mutes und der Hoffnung bar, als ob sie sich in die nächste Waldhöhle verkriechen möchte, um dort zu verenden. Endlich, als Cathri mit vernichtender Siegermiene von dannen geschritten war, die Stirne sprühend von bräutlichem Stolz, die Schultern gehoben vom Vorgefühl der nahen häuslichen Allmacht im »Pfauen«, und gravitätisch den Nacken hintenüberwerfend, als ob sie einen Herrschermantel nachschleppte, öffnete Anna die bleichen Lippen, die ein krampfhaftes Zittern umzuckte, ehe sie das Wort zu gestalten vermochten:

»Und ich?« sagte sie mit entfärbtem Klang, »ich bin nun abgesetzt?«

»Du hast ja deinen Doktor«, tröstete er zwischen Scherz und Ernst.

Und da sie ihm traurig und vorwurfsvoll in die Augen schaute wie ein frierender Bettler, dem ein Geiziger statt eines warmen Kittels einen kupfernen Batzen gespendet hat, umschlang er sie zärtlich: »Sei kein Kindskopf«, schmälte er. Er hatte ihr eigentlich etwas ganz besonders Liebreiches zugedacht, etwas, das ihrem kranken Herzen Balsam wäre, denn sie beelendete ihn wie damals die sterbende Johanna vom Schulmeister, als sie ihm die magern Knöchlein um den Hals wand und flüsterte: »Weißt du noch, Conrad, damals vor zehn Jahren?« – Allein er fand das gewünschte Wort nicht, und je länger er suchte, desto weiter floh es ihn. Zum Ersatz dafür preßte er sie an seine Brust. Sie ließ einige Augenblicke schweigend den Trost seiner Umarmung auf sich wirken, wobei sie ein klein wenig auflebte; hernach sagte sie etwas gefaßter: »Ich habe denn also nach der Mutter geschickt; sie werde gleich kommen.«

»Hat sie schon etwas erfahren?«

Sie antwortete nicht, wich ihm auch mit den Augen aus. Da wurde er ernst, schwieg und sann:

»Wußtest du eigentlich«, fragte er, »daß die Mutter vor Zeiten schwermütig war?«

»Ja; warum?«

»Nichts, es schoß mir nur so durch den Kopf.«

Das Gespräch stockte.

»Ich muß nun wieder hinauf in die Schlafstube, um nach dem Vater zu sehen«, ermahnte sie sich. Dabei seufzte sie, indem sie eine Meldung unterdrückte, die ohne ihre Erlaubnis über die Zunge gleiten wollte. Endlich nach mehrfachem Wechsel zwischen Seufzen und Verstummen überquoll ihr die Stimme. »Er macht mir Sorge«, klagte sie.

»Sorge? wieso?« fragte er erstaunt.

Sie zauderte mit der Antwort. Doch nachdem sie einmal einen Zipfel der Wahrheit abgedeckt, mußte sie sie auch hervorziehen.

»Es ist nicht recht mit ihm«, gestand sie. »Es reut ihn wieder zur Hälfte. Er beschwert sich über dich, er nimmt dirs nachträglich übel, was er dir versprochen hat. Du habest ihn an die Wand gedrückt und ihm das Messer an die Gurgel gesetzt.«

»Das ist nicht wahr«, rief er hitzig, doch sofort sich mäßigend: »Nun, er wird bald selber einsehen, daß es für alle und auch für ihn das Beste gewesen ist«, sagte er zu seiner eigenen Beruhigung.

»Wir wollens hoffen«, bemerkte Anna und wandte sich zum Gehen. Doch plötzlich kehrte sie um und stürzte ihm, bitterlich weinend, an die Brust: »Verzeih, daß ich heute nichts tue als dir vorweinen; es ist ja sonst wahrhaftig nicht meine Art, aber ich weiß nicht mehr, wo aus und wo ein. Ich fange fast an zu fürchten, es könne nie mehr gut werden.«

»Aber es ist ja gut, liebes Närrchen.«

Sie schüttelte den Kopf »O nein, o nein, es ist nicht gut, es ist schlimm, entsetzlich schlimm, schlimmer als je«, und weinte noch bitterlicher.

Während er umsonst herumriet, was sie wohl so betrüben könnte, ward sein Augenmerk von einem absonderlichen Getöse angezogen, das aus der Schlafstube herunterdrang, dem übermütigen Bankett zum Trotze. Von einer unsichtbaren Faust eingestoßen, klirrten die Fensterscheiben vom mittleren Stockwerk auf die Erde, eine um die andere, einen Regen von scharfen Splittern durch die Luft sendend. Aus dem Innern der Stube aber drangen tierische Töne, bald kläglich, wie das Blöken eines Kalbes, bald zornig, wie das jauchzende Brüllen des Stieres, wenn er die Hörner senkt.

»Was ist das?« fragte Conrad stirnrunzelnd, mit rollenden Augen, die aus den Höhlen strebten.

»Er verflucht dich«, jammerte Anna in wildem Schmerz, der Überlegung verlustig.

Conrad erbleichte und bebte. »Wenn er mich verflucht«, preßte er mit eisiger Stimme hervor, »so verfluche ich ihn auch. Ich will doch sehen, ob der gerechte Fluch eines gemarterten Sohnes durch die Gewölbe der Hölle nicht lauter donnert als der ungerechte Fluch eines grausamen Vaters.«

»Nein, nein«, flehte Anna, die Finger um seine Schulter krampfend, »nein, das wirst du nicht tun, du wirst bedenken, daß er ein alter, kranker Mann ist, der nicht weiß, was er tut, du wirst nicht vergessen, daß er trotz allem halt dein Vater bleibt und meiner.«

Ein Kampf schüttelte ihn. »Du hast recht«, schloß er mit dunkler Stimme, »ich will ihm doch nicht fluchen.«

»Bau auf mich«, versetzte sie dankbar, »ich besänftige ihn; gewiß, ich besänftige ihn«, und eilte, so geschwind sie vermochte, ins Haus.

Er aber begab sich zu den Zechern, die, befangen in selbsteigener Lustigkeit, betäubt vom Lärm, den sie verübten, und betört vom Wein, von dem Kampf der guten und bösen Geister hinter ihrem Rücken nichts vernommen hatten. Doch ob er sich auch in die dichteste Gruppe mischte, er kam sich nunmehr vor wie eine einsame, finstere Stückkugel in einem Blumengärtchen. Er hörte nicht, was man sprach, sah nicht, was seine Augen erblickten, nur eins schaute er, dieses aber beständig: einen unförmlichen, schwarzen Fleck, der vor ihm in der Luft schwebte, unten in der Nähe seiner Füße. Und wohin er sich auch wandte, tanzte der Fleck ihm nach.

Bald fiel sein Benehmen auf.

»Conrad, was ist denn mit dir«, rief Leutolf, »du bist ja wie geistesabwesend?«

»Er spürt den Wein«, verlautete eine Stimme mit dem feinen Ton des Verständnisses. »Der Chianti ist ein starker Mann.«

»Oder denkt an seine schöne Bernerin«, meinte Bertha.

Indessen, Beobachtung und Seelenkunde entsprachen nicht dem Bedürfnis der Stunde. Man umjauchzte, umschrie ihn, zerrte ihn von einem Tisch zum andern, überhäufte ihn mit gewaltsamen Ehren- und Freundschaftsbeteuerungen.

»Du bist der Held, dir gehört der Helm«, sprach Leutolf, nahm ihm den Hut ab und pflanzte ihm seinen Helm auf den Kopf; der Wachtmeister staffierte ihn mit einer Schärpe aus, die Kellnerinnen spickten seinen Rock mit Schleifen und Blumen als Ordenszeichen. »Ritter des blauen Pfauen«, nannte ihn Josephine, indem sie ein Vergißmeinnicht anbrachte; »nein, des weißen Sternes«, verbesserte Bertha, mit einem Sträußchen Waldmeister anrückend. In Kürze sah er aus wie ein geschmücktes Opferlamm.

Geduldig ließ er alles mit sich geschehen, denn er war zu traurig, um irgendeinen Spaß übelzunehmen. Dagegen, als Cathri mit Blicken geheimen Einverständnisses ihn an den Fingern zupfte, wandte er sich unwillig ab, er wußte selber nicht, weshalb.

Unversehens prasselte ein Steinhagel in die Obstbäume, Blätter und Blüten rasierend, Zweige knickend und das Holzgerippe schändend.

»Feiglinge! Heimtückische!« schnob der Aufruhr, und flink wie die Alpenjäger stieß ein kleines Hundert rachedurstiger Männer ab, den Überfall zu ahnden. Ihnen kamen die Herrlisdorfer Bauern zuvor, welche abseits vom Bankett und näher dem Talgrund auf der Straße als Zuschauer sich aufgepflanzt hatten und nun begierig die Gelegenheit aufgriffen, nachzuholen, was sie im Tanzsaal versäumt hatten.

Wie aus der Kanone geschossen, rasten sie die Halde hinab, den Feind zu züchtigen, der jedoch in toller Flucht sich über die Felder ergoß. Kaum daß sie ein halbes Dutzend Nachzügler erhaschten, die sie mit wuchtigen Hieben zu Boden streckten. Eins, zwei, drei war alles erledigt. Hierauf kehrten sie in ruhigem Marsch zurück, nachdem sie erst, soldatisch geschult, wie sie waren, eine Handvoll Wachtposten um die Wurzel des Hügels gestreut.

Ein schallendes Bravo der Waldishofer belohnte die prompte Leistung. »Glatte Arbeit«, rühmte Leutolf. Man lud die Herrlishofer herbei und empfing sie mit erhobenem Glase unter kordialen Lobpreisungen. »Musik!« heischte der Wachtmeister, »aber etwas, das Feuer und Pulver hat, nicht solch eine erbärmliche, lahme, kopfhängerische Jeremiade!« Da setzte ein lustiger Galopp ein, Leib und Seele elektrisierend, so daß die Lebenslust aus allen Poren prickelte.

Conrad hatte sich verspätet aus den fernen Abgründen seiner düstern Gedanken zurückgeholt. Als sein Geist wieder in der Wirklichkeit eintraf, fand er sich untätig dastehend, die Sache erledigt. Dagegen gewahrte er jetzt die Verwüstung und überschlug ingrimmig den Schaden. Ein nicht eben beträchtlicher, aber unverschmerzlicher Teil der Obsternte war dahin, einige Prachtbäume zu Krüppeln verunstaltet, ein edler Pfirsichsprößling unheilbar verwundet. Nicht der rechnungsmäßige Sachverlust war es, was ihn am meisten wurmte, sondern die Beeinträchtigung des wonnigen Anblicks, die Verletzung der vielen, zarten, feinfühligen Pflanzengefüge, die böswillige Vernichtung des Segens, den die Natur einem zum Lohne für geduldige, sorgsame Pflege zugedacht hatte.

Während sein Zorn Stufe für Stufe emporstieg, ohne noch völlig den Höhengleichwert des verübten Frevels erreicht zu haben, kam nachträglich noch ein Stein geflogen, hierauf nach einer Pause ein zweiter und später ein dritter. Jeder zeichnete ungefähr die nämliche Flugbahn, so daß augenscheinlich ein einzelner Schütze irgendwoher aus einem entlegenen Versteck zielte, wo er sich für geborgen hielt.

Und er selber, Conrad, schien das Ziel vorzustellen, der gesondert am Rande der Mauer sich bewegte, denn wohin er auch treten mochte, so hatte er immer die Fluglinie in derselben Verkürzung vor sich, obschon das Geschoß bedeutend unterhalb seines Standortes in den Rasen aufschlug: offenbar mangelte dem Schützen jegliche Kraft, aus dem unsicheren Pendeln der Kiesel zu schließen.

Geraume Zeit wollte ihm nicht gelingen, den Urheber zu erspüren, hauptsächlich weil der glänzende Abendschein sein Auge blendete. Überhaupt, man meinte, es wäre noch Tag, und es war doch nicht mehr das ganze Licht. Die Niederung hatte sich schon getrübt; die Gruppen der Dinge vereinigten sich zur Masse, welche einen gemeinschaftlichen scharfen Linienriß zeichnete; um die Dächer wisperte eine verfrühte Fledermaus.

Endlich hatte er ihn doch, und zwar nicht unter sich, sondern seitwärts, hinter der Kirschenallee, bei des Schreiners Hansjörgens Scheune, unter den Nußbäumen. Wenn man ihn fassen wollte, so war die einzige Möglichkeit, ihn von hinten zu nehmen, vom Ackerfeld her, um ihm die Fluchtlinie abzuschneiden. Allein lohnte sichs überhaupt? Eigentlich ja schon; lohnt es sich doch immer, einen Übeltäter abzustrafen; aber seine Glieder waren, offen gestanden, ein wenig tatenmüde, und seine Seele zog ihn nach einer anderen Richtung, nach einem Krieg, der ihm näherging und von wo ihm ärgeres Unheil drohte als Sachschaden.

Da wollte es der Zufall, daß ein erneuter Wurf, noch schwächlicher als die früheren, in die Quelle geriet. Der Stein im seichten Wasser klatschte beleidigend wie eine Maulschelle. Oder war es die Verunreinigung des klaren, trinkbaren Wassers oder die Verunehrung des segensprechenden Bergmundes, was ihn aufbrachte? Kurz, der Petsch bestimmte seinen Willen. Jetzt mochte er ihn züchtigen.

Möglichst unauffällig, die Hände hinter dem Rücken gefaltet, als ob er spazierenshalber sich erginge, schlenderte er zum Hause hinüber und drückte sich hart an der Mauer entlang, wie der Jäger, der ein Wild beschleicht.

Die Steinwürfe folgten noch der ursprünglichen Richtung, sein Verschwinden war demnach dem Feinde unbemerkt geblieben.

Anna guckte aus dem Speisezimmer.

»Was schlägts?« fragte er nachlässig, nur um etwas zu sagen, als eben die Kirchenglocke schlug.

»Acht Uhr«, erwiderte sie.

»Rüste mir etwas zu essen.« Hiermit war er bei ihr angelangt. Sie blickte getroster.

»Er ist jetzt wieder vernünftiger«, raunte sie ihm zu, indem sie zum ersten Male seit langen Stunden wieder lächelte. »ich habe ihn bei mir unten in der Wohnstube zusammen mit dem Doktor.«

Da, eben, als er vorbeischreiten wollte, hörte er durch das Eßzimmer hindurch aus der Wohnstube den Vater greinen wie ein von Chirurgen gemartertes Kind. Nun hielt er den Fuß und den Atem an, und seine Seele verfinsterte sich. Was sollte nun das wieder bedeuten? Galt das etwa ebenfalls ihm? Und wieso denn?

Zunächst vermochte er keine Worte zu unterscheiden, denn der Doktor redete gleichzeitig auf den Alten ein, so daß die Silben beider, einander deckend, sich in seinem Ohr verwirrten. Endlich lamentierte der Alte einen Augenblick allein. »Den Todesstoß versetzt«, vernahm er. Nichts als diesen Brocken eines Satzes; doch wie ein Blitzstrahl erleuchtete und vernichtete ihn dieses Bruchstück.

Also, so war es von nun an gemeint? Märtyrermienen und anklagende Seufzer, Blicke, Gebärden, Anspielungen bis ans Ende der Tage? Hernach ein Grabstein, auf dem mit ewiger, unauslöschlicher Schrift geschrieben stand: ›Du, mein eigener Sohn, du bist mein Mörder!‹ Und wie sollte er dem begegnen? Mißhandlungen kann man dulden oder sich dagegen auflehnen, Reden widersprechen, aber vor stummen Vorwürfen gibt es keine Rettung. Er schauderte, und schwarze Verzweiflung umnachtete seinen Geist. »Ich verfluche ihn doch«, schrie es in ihm, und seine Hände griffen wild umher, erschlafften aber sofort und sanken mutlos längs dem Körper dahin. Er wußte nicht mehr, was er tat und was er vorhatte. Aber der Wille, der ihn dahergetrieben, stieß ihn auf der vorbestimmten Bahn fort wie eine Maschine auf dem Geleise.

»Conrad, laß es gut sein, du hast für heute genug getan«, rief ihm die Schwester nach, die aus seinem schleichenden Gehaben seine ursprüngliche Absicht erraten hatte, während ihr seine Umstimmung verhohlen blieb, weil ihr sein Gesicht entging. Doch Cathri widerhielt ihr:

»Der Herr Reber wird schon selbst am besten wissen, was er zu tun hat«, entgegnete sie mit impertinentem Tone.

Also zog er seines krummen Weges und verschwand um die Hausecke.

Mittlerweile waren die Feuermänner, welche Conrad vermißten, von Cathri über den mutmaßlichen Grund seines Verschwindens verständigt worden, so daß sie die Köpfe streckten, um sich an der Abstrafung zu weiden; leichtsinnig gespannt, wie wer einem ergötzlichen Schauspiel entgegensieht. Da der Abend schon merklich düsterte, benutzte Leutolf den Feldstecher, um besser zu beobachten. Um aber den Vorteil seiner bevorzugten Gesichtsbedingungen nicht plumperweise allein zu genießen, teilte er das Ergebnis seiner Beobachtungen mit: »Dort, hinter dem Nußbaum bei der Scheune steckt er – er hat den Arm voll Kieslinge. Aber er ist unsicher, er sucht das Ziel. – Ein langer, schlottriger Schlingel, hat eine Schnauze wie eine Schnecke und Ohren wie ein Elefant. Ich müßte mich sehr täuschen, oder es ist der nämliche Halunke.« – »Der Messerstecher?« »Der Matthiesen-Michel?« fragten empörte Stimmen.

»Zeig, gib her«, heischte der Wachtmeister und nahm ihm den Feldstecher weg. »Das ist ja genau der nämliche glatte, schlüpfrige, bartlose Schuft!« schäumte er, mit den Füßen stampfend. Und zornig das Fernglas wegwerfend, fuhr er Leutolf aufgebracht an: »Da habt Ihrs jetzt mit Eurer diplomatischen Mäßigung. Was habt Ihr nun davon? Hätte man mich machen lassen – er stände jetzt nicht unter dem Nußbaum mit Kieselsteinen, er läge irgendwo, und es fehlte ihm etwas an den Knochen, daß ihn der Doktor wieder zusammenlöten müßte.«

»Er verliert nichts mit dem Warten«, entgegnete Leutolf gelassen, »der Reber Conrad wird ihm schon verabfolgen, was er ihm schuldig ist; er zahlt ihms jetzt gleich alles miteinander.«

Der Wachtmeister verwarf ärgerlich die Arme. »Ach was!« schalt er, »der Conrad ist nicht, was er sein könnte und wie ich ihn haben möchte. Muskeln wie ein Leu, Nerven wie Sprengpulver und ein Herz wie ein Jüngferchen. Im ersten Augenblick meint man, er wolle die ganze Welt windelweich schlagen, und kaum daß er die Obmacht hat, läßt er sie laufen. Solch eine heimtückische, boshafte Hyäne verdient keine Gnade; da ist Großmut nichts als Schwäche.«

Damit wandte er sich mißmutig um und verließ grollend die Kameraden, um abseits einsam hin und her zu stiefeln, mit unwilligem Maulen.

Inzwischen machte der Feldstecher die Runde; einzig Cathri lehnte ihn hochmütig ab. Sie brauche keine Augenkrücken, behauptete sie geringschätzig, sie sähe ohnehin in der Welt mehr, als ihr lieb wäre. Plötzlich frohlockte sie wie über ein fröhliches Wiedersehen:

»Dem hab ich im Tanzsaal zweimal die Hand ums Maul geschlagen«, prahlte sie mit Genugtuung. »Es reut mich nur die Seife; hätte ichs vorausgesehen, ich hätte Handschuhe dazu angezogen.«

»Hurra! da kommt er, der Conrad«,jubelte eine Stimme, »seht ihn, im Saatfeld, wie er um die Scheune schleicht.«

»Er will ihn von hinten fassen.« – »Bravo, Conrad!« – »Jetzt kann er ihm nicht mehr aus den Händen.« – »Stille doch! ruhig! zum Teufel! Absitzen! Von den Tischen herunter! Ihr verratet ja sonst den Braten!« – »Jetzt, jetzt, Conrad, drauf, pack ihn an der Gurgel!« – »Worauf wartet er nur?« »Er hält an – es ist unbegreiflich.« »Er fuchtelt mit den Armen, als ob er mit jemandem disputierte, und ist doch allein. Hat er denn plötzlich den Verstand verloren?« »Er war schon hier so wunderlich.« – »Es muß ihm jemand Mißgünstiger etwas Dummes ins Ohr geschwatzt haben, das an ihm frißt«, urteilte Cathri mit hartem Ton, stirnrunzelnd und einen feindseligen Blick nach der Eßstube sendend.

»Ja, natürlich, jetzt ist es zu spät! Jetzt hat ihn der andere entdeckt. – Er läßt den Stein fahren. Es ist zum Rasendwerden.« »Warum steckt ihr aber auch alle die Köpfe zusammen wie eine Schafherde?« »Gleichviel! Entrinnen kann er ihm doch nicht.« »Endlich, endlich, Gott sei Dank! Hurra! Er hat ihn.« »Hau ihn! streck ihn zu Boden!« »Halt, was ist das? Er verliert den Helm.« »Aber der andere purzelt auf den Boden.« »Ja, aber er steht wieder auf« »Warum läßt er ihn denn wieder aufstehn?« »Wahrhaftig, nein, es ist nicht zum Ansehn! Weiß Gott, er läßt ihn laufen!« »Punktum! Fertig! eine gefehlte Geschichte.«

»Was hab' ich gesagt?« polterte der Wachtmeister. »Hab' ich jetzt recht gehabt oder nicht?«

Und ärgerlich, als ob sie übervorteilt worden wären, setzten sie sich wieder zum Trunke, geräuschvoll anstoßend, um zu vergessen und zu verwinden.

Cathri aber blieb aufmerksam beobachtend auf dem Flecke stehen. Nach einer Weile bemerkte sie: »Es gefällt mir etwas nicht.«

»Warum? Wieso? Er kommt ja zurück! Er ist ja bereits auf der Straße.«

»Ja, aber, er hält sich so sonderbar.«

»Ihr habt ja selbst gesagt, es plage ihn etwas inwendig?«

»Es ist nicht das. Wenn er nur nicht am Ende einen bösen Hieb oder etwas dergleichen abbekommen hat!«

»Warum nicht gar! Dazu hätte er im Tanzsaal bessere Gelegenheit gehabt! Der starke Conrad Reber, und einen bösen Hieb! von einem einzigen! und noch dazu von was für einem! Übrigens, das wird er uns alles gleich selber am besten erklären, seht, da ist er ja schon an der Hausecke.«

»Jesus, Gott und Vater«, schrie Cathri, »wo habt ihr eure Augen? Er ist ja bleich wie ein Leintuch!« Und die Vorstehenden gewaltsam beiseite stoßend, hastete sie ihm mit Riesensprüngen entgegen.

In diesem Augenblick schaute Anna aus dem Eßzimmer, warf einen Blick auf Cathri, einen zweiten nach dem Bruder, erblaßte und schwang sich mit einem einzigen Sprung auf die Erde:

»Conrad, was fehlt dir?« jammerte sie, ihn angstvoll umklammernd. »Sags, sags mir, der Schwester.« Zugleich stieß sie die herbeieilende Bernerin beiseite.

Conrads Lippen zitterten: »Ich bin gestochen«, flüsterte er. Da entfuhr ihr ein markerschütternder Schrei, der alles Volk aufschreckte. Nur die Musik dudelte weiter.

Er fuhr fort: »Ich habe den Helm verloren. Er liegt unter dem Nußbaum. Er gehört dem Leutolf. Ich mag jetzt doch nicht essen, ich habe keinen Appetit mehr. Wo bleibt denn nur die Mutter? Ich wußte ja nicht, daß sie gemütskrank war. Sag ihr das. Der Vater ist ein Ungeheuer, ein herzloses, wildes Tier, ja, das ist er. So holt doch den Helm, er ist ja nicht mein, er gehört dem Leutolf. Ich konnte ihn leider nicht selber aufheben.«

»Herr Reber«, grüßte Cathri weinerlich.

Er wandte den Kopf nach ihr, aber sein verstörter Blick irrte über ihr Gesicht wie über einen leblosen, fremden Gegenstand. Und abermals von Anna weggestoßen, trat sie beiseite, an die Mauer, beschämt, gekränkt, beleidigt.

Indessen war eine entsetzte Menschenmenge herbeigesprungen, unter ihnen, außer Atem, der Doktor: »Wo?« fragte er, indem er mit tastenden Händen über Conrads Körper reiste. Und sich zurückbiegend: »Musik aufhören!« zürnte er. »Musik aufhören!« tönte ein vielstufiges Echo.

»Weshalb aufhören?« beklagte sich Conrad leise. »Warum sind überhaupt so viele Menschen da? – Warum starren sie mir alle ins Gesicht? – Was will man denn eigentlich von mir? Der Doktor soll doch weg, er tut mir weh. Anna, komm, wir wollen zusammen ins Haus, ich möchte allein sein.«

Kaum hatte er das gesagt, so wurde er erdfahl und brach in sich zusammen, unter des Doktors Händen weg, wie ein Holzstoß über dem Feuer, erst in den Gelenken, dann platt auf den Boden.

Anna warf sich über ihn, unaufhörlich seinen Namen rufend, in den süßesten Schmelzlauten, flötend, lallend, gurrend, auf und ab, durch alle Tonlagen der Kehle und aus allen Kammern des Herzens.

Andächtig verstummte das Volk vor dem schauerlichen Wohlgesang.

Der Doktor aber fiel auf die Knie, riß sein Besteck aus der Tasche, das er auf die Erde breitete, prüfte dann aufmerksam den Puls, erst am Handgelenk, hierauf, Anna wegschiebend, auch am Herzen. Allmählich zog er eine bedenkliche Miene. Endlich stand er, seine Instrumente einsteckend, langsam auf. Und während alle Augen an seinem Munde hingen, murmelte er gedämpft, als ob er für sich allein spräche: »Hier wird wohl wenig mehr zu operieren sein.«

Anna hatte das Wort vernommen und verstanden. Ihr Gesicht ward schlaff, und lautlos sank sie hin. Doch ehe noch jemand sie zu stützen vermochte, war sie wieder aufgesprungen, die geisterhaften Augen nach dem Hause emporgerichtet.

»Habt Ihr jetzt, was Ihr wollt? Seid Ihr nun zufrieden?« gellte sie, als hätte sies durch die Mauer schreien mögen. »Jetzt bereitet er Euch keinen Kummer mehr! jetzt gibt er niemand mehr den mindesten Anlaß zur Klage! jetzt ist er nicht mehr zu vornehm! jetzt will er nicht mehr alles besser wissen, jetzt lacht er nie mehr zur Unzeit, Euer vielgeschmähter Conrad, der arme, arme Conrad!« Und wieder fiel sie über den Leichnam, diesmal mit wildem Röcheln, wie ein junger Jaguar.

Eine einzige Silbe wandelte feierlich durch das Volk: »Tot.« Flüsternd in den vorderen Reihen, gedämpft im Hintergrund, jenseits mit empörten Protestrufen des Unglaubens.

»Was?« »Wo?« »Wer?« »Der Pfauenwirt?« »Nicht der Alte, sondern der Junge, der Conrad, der Leutnant.« »Warum nicht gar!« »Das ist nicht möglich; das kann ja nicht sein.« »Das hat ja keinen Sinn.«

Und von atemlos herbeirennenden Leuten füllte sich die Terrasse bis ins Dorf. Die Kellnerinnen standen leise weinend im vordersten Kreise, die gefalteten Hände vor dem Gesicht, als ob sie die Augen schützen wollten, damit sie die schreckliche Wahrheit nicht sähen. »Was das nicht ist!« »Ists auch möglich?« »Wenn ich nur das nie hätte erleben müssen!« »Der arme Meister! Und so gut! So herzensgut! Jesus, Jesus!« »Und wenn jetzt der Vater und die Mutter das sehen!«

Cathri, abseits an der Mauer, starrte geistesabwesend ins Leere, mit gerötetem Gesicht und bebenden Lippen.

»Oh, der Elende, der Schurke! – Der beste, bravste, gutmütigste Tropf auf Gottes Erdboden! – Und von solch einem elenden Wicht!«

Während sie sprach, stupfte sie unablässig mit dem Fuß an die Mauer, immer heftiger, in steigender Empörung. Und ihre Finger nestelten krampfhaft am Schürzenband, bis es entzweiriß.

In ihrer Nähe, ebenfalls an der Mauer, und von dem übrigen Volk gesondert, standen die Waldishofer gruppiert, in deren Mitte der Wachtmeister gedämpften Tones eifrig redete. Sooft Zuzügler sich herbei machten, wurde ihnen etwas zugeflüstert, dann tauschten sie finstere Blicke und einen kräftigen Handschlag wie zu einem Eide.

Offenbar bildete sich hier eine Verschwörung.

Eine Bewegung entstand, eine Gasse tat sich auf. Von bedauernden, mahnenden, zusprechenden Menschen gehemmt, die sich ihm in den Weg stellten, ihn hinderten, zurückhielten, wankte der alte Pfauenwirt ruckweise daher, wie eine von Ameisen überfallene Raupe, welche die Last ihrer Peiniger mit sich schleppt.

»Laßt mich«, keuchte er, »laßt mich zu meinem Sohn! ich will zu meinem Sohn.«

Dazwischen lärmte er gegen den Tod, wie gegen ein Obergerichtsurteil, seine gerechte Sache bekräftigend, seine versöhnliche Gemütsart beteuernd.

»Ich begehre ja nichts mehr für mich! Er hat ja jetzt alles, was er will!« Als er aber durch die Menschengasse seiner Tochter über dem Leichnam ansichtig wurde, schüttelte er den Kopf wie ein Stier. »Muß er mir denn ewig und ewig nichts als Kummer verursachen!« brüllte er.

Da wandte ihm Anna langsam ihr Schmerzensantlitz zu, das welt- und toddurchdringende Liebestreue mit überirdischer Schönheit verklärte:

»Sieh, Vater, das ist jetzt unser Conrad«, sang sie mit sanftem Dulderton, während ihr Mund fürchterlich zuckte.

Jetzt zerrte er sich gewaltsam los und humpelte dem Leichnam zu. Er wollte sich niederwerfen; allein seine geschwollenen Gelenke versagten dem Willen. Nun tanzte er auf seinen dicken Klumpenbeinen vor dem Leichnam auf und ab wie ein angeschossener Elefant. Plötzlich stieß er den Doktor wütend vor die Brust. »Lebendig machen! Wieder lebendig machen!« grölte er.

Der Doktor hielt ihm eine priesterliche Miene entgegen. »Lebendig machen«, sprach er feierlich, »das steht leider nicht in unserer Macht.«

Von der Mauer aber warf Cathri in schneidendem Ton herüber: »Ja, lebendig machen, das ist jetzt zu spät! Hättet Ihrs benutzt, als es Zeit war!«

Anna schnellte auf und zuckte gegen Cathri einen Blick, scharf wie eine Lanze.

Während man sich umsonst bemühte, den Alten von hinnen zu schaffen, wandelte sich sein Toben jählings zum wehklagenden Wimmern. Er hatte seine Frau, die Pfauenwirtin, bemerkt, die von der Dorfseite um die Hausecke mit geknickten Knien mehr rutschend als gehend sich an der Wand entlang tastete. »Ists denn wirklich wahr?« flehte die Angst aus ihren erloschenen Augen.

Hierauf, wie ihr das unzweideutige Bild: die Ansammlung des Volkes um eine nämliche unsichtbare böse Stelle, der Schatten des Unheils, der von dorther jedes Antlitz verdüsterte, die entsetzliche Wahrheit bestätigte, krampfte sie die Finger in das Gestein, um nicht zu fallen.

Anna flog ihr entgegen, ihr nach bewegte sich schwerfällig der Alte, überholt von mitleidigem Gesinde und Nachbarvolk.

Sie fiel, aber in befreundete Arme. »Conrad«, winselte sie, »warum hast du mir das angetan?«

Betroffen tauschten die Herumstehenden Blicke. Und Bertha wandte sich zu Cathri um: »Es ist, als ob sie glaubte, er habe sich selber ein Leid zugefügt«, flüsterte sie.

»Das böse Gewissen«, versetzte Cathri bitter.

Und das sagte sie in ihrer rückhaltslosen Weise mit lauter Stimme. Abermals drückte Anna einen Blick gegen sie ab, diesmal einen drohenden.

Der Alte aber entschuldigte sich ehrfurchtsam vor dem mütterlichen Schmerze.

»Ich hatte ihm ja alles gewährt, was er nur verlangte. Ich kann nicht begreifen. Er hatte durchaus nicht die mindeste Ursache. Es muß ihn im Streithandel ein Stich getroffen haben, wie man erzählt.«

Der Doktor, der Feuerleutnant, nebst andern, welche Freundschaft oder Gemüt oder auch der Zufall der Nähe dazu berief, nahmen die Pfauenwirtin auf und förderten sie halb schiebend, halb tragend an dem Leichnam des Sohnes vorbei, den sie angelegentlich mit ihren Leibern verdeckten, der Haustüre entgegen. Der Vater hinkte greifend nach, Anna wachte zur Seite über beide. Es war wie ein Leichenzug.

»Ich muß doch Abschied von ihm nehmen; ich muß ihn doch um Verzeihung bitten«, jammerte die Pfauenwirtin.

»Ja, jetzt hat sie Grund zum Jammern und Seufzen«, rief Cathri unwillkürlich, im Drange der Wahrheit.

Nun aber riß sich Anna los und stürzte ihr entgegen:

»Mensch ohne Gemüt, Weib ohne Herz!« schrie sie ihr ins Gesicht. »Egoistin! härter als Stein und Eisen! Ihr, Ihr, und niemand anders, habt ihn auf dem Gewissen! Statt ihn zurückzuhalten, habt Ihr ihn noch angestachelt!«

Cathri maß die Gegnerin kaltblütig mit haßerfülltem Blick.

»Immer noch besser«, entgegnete sie, »ein Unglück im Hause als ein Verbrechen.«

»Wie meint Ihr das?« kreischte Anna außer sich.

»Ich meine«, erwiderte Cathri fest, »wenn es doch einmal geschehen mußte, immer noch besser von fremder Hand als ...« Hier stockte sie.

»Als?« verlangte Anna. »Als?« Dann plötzlich, ohne die Ergänzung abzuwarten:

»Fort von hier! Heuchlerin! Intrigantin! Mannsschleicherin! Fort! Fort noch in dieser Stunde! Ich, als Tochter des Hauses, befehle Euch, Euch, der Dienerin: Fort aus dem Pfauen, und zwar augenblicklich!«

Cathri richtete sich hoch auf: »Ich verwahre mich ausdrücklich dagegen«, sprach sie, »daß man mich Knall und Fall von hinnen jagt, wie eine ungetreue Magd, mit Schimpf und Schande, als ob ich gestohlen hätte. Es ist nicht wahr, daß ich irgendwelche eigennützige Absicht hierher trug. Und vor dem letzten Zuge mich zu entlassen, dazu hat niemand das Recht, nachdem man mich bis zum letzten Zuge gedungen hat. Übrigens, meinetwegen, ich habe nichts dagegen, jawohl, ich gehe. Aber nicht etwa, weil Ihr mirs befehlt, denn Ihr habt kein Recht dazu, sondern freiwillig, weil mir vor diesem gottverlassenen Hause des Hasses und des Haders ekelt, weil ich lieber bei bettelarmen Leuten in der geringsten Strohhütte dienen möchte, wo der Friede wohnt, als hier unter dem protzigen Ziegeldach im Unfrieden. Verzehrt Euch in Reue! Schiebt einander gegenseitig die Verantwortlichkeit zu! Ich ziehe meiner Wege. Das aber sag' ich: Eure Schuld ists, Eure Schuld und einzig Eure Schuld, nicht meine. Hätte ihm nicht jemand Gift eingegeben, daß er inwendig zu tun hatte, niemand hätte ihm das mindeste anhaben können. Übrigens, es ist gekommen, wie es kommen mußte. Geschah es heute nicht, so wäre es morgen oder übermorgen geschehen, wenn nicht auf diese Art, auf jene und möglicherweise noch schlimmere.«

Damit warf sie trotzig den Kopf in den Nacken und stolzierte ins Haus nach dem Portierstübchen, schleuderte dort das Geldtäschchen weg, setzte den Strohhut auf, rückte ihn vor dem Spiegel zurecht und wandte sich abzuziehen.

Allein die Köchin, die alte treue Lisabeth, vertrat ihr den Weg.

»Euer Lohn«, mahnte sie mit eisiger Stimme, indem sie ihr so beleidigend als möglich ein Goldstück entgegenhielt.

Cathri brauste in heller Empörung auf, bereit, die Hand wegzustoßen. Doch sofort besann sie sich: »Ich habe den Lohn redlich mit fleißiger Arbeit verdient«, sprach sie, »ich brauche mich seiner nicht zu schämen. Es ist kein Geschenk, was ich annehme.« Sie nahm also das Goldstück und steckte es ein. Hernach schritt sie in aufrechter Haltung zur Türe hinaus auf die Terrasse.

Vor dem Volke angelangt, verkündete sie mit lauter Stimme: »Ich rufe Gott und mein Gewissen zu Zeugen an, daß man mir unrecht tut, daß ich diese schmähliche Behandlung nicht verdient habe.«

In diesem Augenblick trugen sie Conrads Leichnam ins Haus, an ihrer Seite vorbei. Zwar den Rumpf verdeckten die Träger; auch wandte sie sich unwillkürlich ab, von Schmerz und Schauder überwältigt; nichtsdestoweniger streifte ihr widerwilliger Blick den Stiefel des linken Beins, dessen herabhängendes Ende auf dem Boden schleifte, und jählings trat ihr bei diesem Anblick das Bild ihres Baschi vor Augen, wie sie ihn auf der Bahre heimbrachten. Also von doppeltem Leid gleichzeitig überfallen, zersprang ihre starke Fassung, so daß ihr das übermäßige Elend in heulendem Tonschwall aus dem Herzen stürzte. Und also heulend schritt sie mitten durch die Menge, in der Richtung nach dem Rebberg, wo der Verkehr am spärlichsten war, stolz und bolzaufrecht wie immer, und ohne jemandem einen Blick oder Gruß zu verabfolgen.

Erschüttert machte das Volk ihr Platz, mit gemischten Gefühlen, zugleich bewundernd und grausend, teilnehmend und verdammend. Es war anzuschauen wie ein Strafgericht und doch wieder wie jemand, der in überlegener Unschuld, unberührt von dem Urteil der Menschen, geraden Weges einherwandelt.

Josephine und Bertha eilten ihr nach. »Ihr müßt das nicht so wörtlich auffassen«, tröstete Josephine, »es ist nicht so buchstäblich gemeint.«

»Ihr dürft nicht einen so strengen Maßstab anlegen«, mahnte Bertha, »Ihr müßt dem Schmerze der Schwester auch etwas zugute halten.«

Die übrigen Kellnerinnen schauten kühl und fremd.

Cathri strebte unaufhaltsam vorwärts. Beim Holzschuppen trat sie in die Einsamkeit. Sie war kalt, die Einsamkeit, trostlos kalt; und weit, endlos weit; und leer, zum Verzweifeln leer, als hätte sie sich irgendwo in der Ewigkeit verloren.

Bei der Kegelbahn begegneten ihr zwei schwebende Gestalten, vereint zum Paar, die Hände verschlungen, die traumschönen Häupter strahlend vor Glück und Hoffnung: sie und Conrad. Vor diesem Bilde schmolz ihre Seele, daß sie meinte, das überquellende, ungebärdige Weh wolle sie zu Boden werfen, auf das geweihte Fleckchen Erde, wo sie vor einer kurzen Stunde zusammen einen Bundesbaum gepflanzt, mit lustigen Wimpeln und Fähnchen. Wie mit hundert starken Armen der Natur zog es sie nieder, damit sie dort auf der heiligen Stelle ihr Leid ausweine, demütig, sehnsüchtig und inbrünstig. Aber der Stolz hielt sie aufrecht, und der Trotz stieß sie von hinnen. Sie verbarg das Gesicht in den Arm und weinte in den Ellbogen.

»Und gerade in einem solchen Augenblick«, schluchzte sie, »wo man meint – wo man glaubt, – wo man das Glück –«

Dann tauchte sie in die Dämmerung, längs dem Rebberg hinab in gleichmäßigem Geschwindschritte, den Abend mit dem tiefen, sonoren Wohlklang ihres Trauergeheuls erfüllend. Bald aber entstieg dem Schmerze der Zorn. »Warum kommt man denn«, meuterte sie, »und sucht mich auf und bittet und bettelt himmelhoch, daß ich die Gefälligkeit haben möchte? Ich war ja im Kurbad vortrefflich aufgehoben. Dort ehrt man mich und weiß mich zu schätzen. Ja, wenn ich wollte, wenn ich nur im mindesten ein Zeichen gäbe!« – »›Intrigantin!‹ – ›Mannsschleicherin!‹ Wer? Ich? Ich bin nicht darauf angewiesen, Herrschaft zu erschleichen; ich könnte sie auf dem Teller haben und noch dazu eine vornehmere als den Pfauen – und habe auch nicht nötig, einen Mann zu erschnappen; sie bieten sich mir ja alle an! Aber ist denn das meine Schuld? Ich bin wahrlich nicht diejenige, die ihnen entgegenkommt. Ich begehre nur einen einzigen, den ich gern habe und den ich achten kann; und dazu habe ich das heilige Recht, so gut wie jede andere. – Es ist wahr, sie hat die Vollmacht, sie hat die gesetzliche Befugnis und Berechtigung, sie kann mir das Haus verbieten, obschon, obschon – es kostete mich ja bloß ein Wörtchen, und er stellte mich öffentlich als seine Braut vor, er hatte ja die Absicht! Ich hätte dann sehen mögen, wer mir meinen gebührenden Platz an der Leiche meines Bräutigams verwehrt hätte! Ihn nicht einmal mehr sehen und anrühren zu dürfen! nicht einmal einen Kuß auf seine bleichen Lippen zu drücken! – den ersten und letzten! – Doch verlobt oder nicht verlobt, gleichviel, es gibt eine Wahrheit und eine Treue. Ein Wort ist ein Wort, ob nun öffentlich gesprochen oder unter vier Augen. Und wenn einmal zwei Worte sich gekreuzt haben, unter rechtschaffenen Menschen, so gilt es, auch ohne Ring und Zeugen oder Pfarrer und Zivilpfarrer. Mir hat er das Versprechen gegeben, das heißt, auf ehrlich, er gehört mir, mir allein, in alle Ewigkeit, tot oder lebendig, und keiner anderen, mag sie noch so sehr einen lächerlichen Abgott aus ihm machen! Daß er mich zuletzt nicht wiedererkannte, das beweist nichts, gar nichts, nicht das mindeste, denn das begreift sich doch: wer mit dem Tode zu kämpfen hat, der hat genug zu tun, er kann nicht den Geist auswärts beschäftigen.«

Dann kam ein neuer Schub von Jammer, so daß sie laut aufstöhnte; in das Stöhnen aber mischte der Zorn bellende Laute. Plötzlich hielt sie an und drehte sich um, das Gesicht nach dem Pfauen emporgerichtet.

»Übrigens, ist sie denn verlobt?« Sie schloß gewaltsam die Lippen und zerdrückte ein böses Wort zweimal und dreimal. Endlich konnte sie sichs doch nicht versagen:

»Wenn eine Gewisse wüßte«, entfuhr es ihr, »was ein gewisser Doktor mir für Augen gemacht hat.« – Hernach reiste sie weiter. – »Ich gehe einfach wieder ins Kurbad«, schloß sie ab.

Unten im Rank, wo die Herrlisdörferreben sich nach den Rubisthaler Flühen zurückziehen, folgte ihr ein kicherndes Hohngelächter aus dem Weinberg.

Kein Zweifel, es waren die Wagginger, denn nur der Feind triumphiert über ein Weh. Flugs machte sie Front und wetterte mit mähenden Armen wie der Pfarrer in der Kirche eine Buß- und Karfreitagspredigt in den Weinberg:

»Fluch und Schande über euch gottvergessene Mordbuben! Möge jedem von euch dereinst in der Sterbestunde das Gewissen in die Gurgel steigen, daß euch die Hölle, der ihr sicher nicht entrinnt, schon auf dieser Welt den Borst sengt und brenselt. Ich bete nicht, der Donner des Himmels möge euch erschlagen, denn unseres Herrgotts gesunder, reinlicher Blitz ist viel zu sauber für schmutzige Wiedehopfe eurer Gattung. Er würde ja zeitlebens stinken, der Blitz, wenn er euch anrührte! – Männer will das vorstellen? Männer, dieses krumme, mißgeborene Bastardgezücht, diese siechen Hämlinge ohne Mut, ohne Kraft, ohne Muskel, ohne Stimme? Aber getrost. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, wie er ihn gestochen hat und wer ihn gestochen hat, und mit mir hundert andere. Man kennt ihn, und man kann ihn nennen. Der Matthiesen-Michel von Niederwaggingen ists und niemand sonst. Ich habe ihm im Tanzsaal die Hand übers Maul geschlagen, ich werde ihm im Gerichtssaal den Zeigefinger in die Augen stecken und sagen: ›Du bists‹, und ich mache mich anheischig, es eidlich zu beschwören. Und wenn – gesetzt der Fall – die eigene Familie nicht klagen will, so klage ich und gehe zum Staatsanwalt und lasse nicht nach und verlange Recht und Sühne. Und wenn er nicht will, so zwinge ich ihn mit seiner Pflicht und seinem Beruf und mit dem Regierungsrat und mit der Zeitung, bis er muß.«

Und als jetzt zur Warnung ein Kieselsteinchen an ihr vorbeitänzelte, ersprang sie über zwei Stapfeln das Mäuerlein, riß einen Stecken von den Reben und wies ihn drohend vor, wie man einem Hunde droht. »Eia, ich bin nur eine schwache Jungfrau«, rief sie, »aber mit einem halben Dutzend eures Gelichters wollt' ich mirs im Notfall noch getrauen aufzunehmen.« Dann, nachdem sie eine Weile in der herausfordernden Stellung verharrt, schleuderte sie mit verächtlicher Gebärde den Stecken fort und zog ihres Weges, der Eisenbahnböschung entlang, dem Bahnhof zu.

Schlurpende Schritte hasteten ihr nach, und jemand tippte ihr auf die Schulter. Trotz der Dunkelheit erkannte sie den Oberwagginger Fürsprech.

»Ihr, Cathri, oder wie Ihr heißt, seid Ihr Euch denn aber auch der Verantwortlichkeit bewußt, was das sagen will, sein Gewissen mit einem Eide belasten?« munkelte er.

»Jawohl«, antwortete sie höhnisch, ohne den Schritt zu verkürzen. Der Fürsprech zupfte sie am Rock.

»Ihr habt ja doch auch ein fühlendes Herz; Ihr werdet gewiß nicht unnötigerweise einen Menschen ins Unglück bringen wollen, der vielleicht mehr aus jugendlichem Übermut« – zugleich ließ er ein großes weißes Fünffrankenstück schimmern. Da versetzte sie ihm mit dem Ellenbogen einen Stoß in den Magen, daß das Geldstück auf dem Weggestein klimperte, wonach der Fürsprech schimpfend zurückblieb, um seinen Fünfliber zu fischen.

Beim Stationsübergang überstieg sie schlankweg die geschlossene Barriere. »Heda, he! halt, halt!« wehrte aufgebracht der Wächter, »es kommt ein Zug.« »Meinetwegen«, erwiderte sie kurz und war schon über dem Geleise.

Eine ziemliche Menge Volkes war vor der Station versammelt, in feierlicher Haltung, wie zu einem Begräbnis, gedämpft sprechend, ereignisschaudernd und neuigkeitslüstern. Obschon der Pfauen von hier aus nur stückweise sichtbar war und das sichtbare Stück überdies in der Dämmerung versank, schaute doch alle Welt nach dem Gasthof empor, auf der äußersten Kante der Wartehalle stehend, Belehrungen über die Ortsverhältnisse, wo sich das Ereignis begeben hatte, austauschend. Cathris Ankunft weckte ein Flüstern, und während aller Augen sich nach ihr richteten, machte man ihr ehrerbietig Platz.

Der Vorstand nahm höflich grüßend die Mütze ab. »Ist es denn wirklich wahr?« wagte er schonend.

Cathri erhob die Stimme:

»Wahr ist«, rief sie, »daß auf dieser Welt die Besten unterliegen und die Schlechtesten obenauf sind.«

Die Neuberin, die Pintenwirtin, ergriff sachte ihren Arm. »Wolltet Ihr nicht lieber ein bißchen aus dem Gedränge, bis Euer Zug kommt? Es dauert noch reichlich eine Viertelstunde.«

»Der Zug Nummer zwölf hat überdies zweiundzwanzig Minuten Verspätung«, ergänzte der Vorstand verbindlich.

»Kommt«, drängte die Neuberin. »Sitzt ein wenig ab, Ihr habt Ruhe nötig.«

Da ließ sie sich wegführen, über die Straße ins Gärtchen, ins Läubchen. »Hier seid Ihr vollkommen ungestört«, tröstete die Neuberin einladend; »Ihr müßt freilich sehr, sehr vorlieb nehmen«, entschuldigte sie, »es ist halt alles gar entsetzlich einfach bei uns, im Vergleich mit Euch im vornehmen Kurbad.«

Aber Cathri stutzte und rümpfte die Nase. Ein unordentliches Weibsbild in schlampigem Rock mit ungekämmten Haaren lag drinnen auf den Knien, die Arme auf die Bank gelegt, den Strubelkopf zwischen den Armen verborgen, und schluchzte, als hätte sie die ewige Seligkeit verwirkt. Die Neuberin puffte, rüttelte, schüttelte die Daliegende hin und her, stupfte auch nachhelfend mit dem Fuß. »Jucunde, so steh doch endlich auf«, belferte sie ärgerlich, »du machst ihn ja doch nicht wieder lebendig mit deinem unsinnigen Gebaren.«

Jucunde ließ sich schütteln, daß ihr Rumpf hin und her wackelte, gab jedoch kein anderes Lebenszeichen, als daß ihr Schluchzen in Wehgeschrei überging.

Die Neuberin, ihre Ohnmacht einsehend, gab weitere Versuche auf.

»Ihr müßt Euch nicht daran kehren«, bat sie seufzend, »es ist halt in Gottes Namen die Jucunde. Ein unvernünftiges Tier hat mehr Verstand.«

Da ließ sich Cathri auf das äußerste Ende der Bank nieder, einen mißtrauischen Blick nach Jucunde werfend, als fürchtete sie, ihre Augen mit dem Anblick zu verunreinigen.

»Darf ich Euch vielleicht ein Gläschen Wein aufwarten?« schmeichelte die Neuberin.

»Nein, ich danke.«

»Oder etwa eine Kerze? Es nachtet zusehends.«

Cathri verneinte.

Die Neuberin aber beharrte mit verschränkten Armen auf dem Platze, schweigend, nur ab und zu einen Seufzer entladend.

»Das ist ein böser Sonntag«, ächzte sie. »Von dem wird man wohl noch jahrelang reden, und nicht nur in Herrlisdorf, sondern im ganzen Bezirke.«

Dann hub sie an zu förscheln: »Wie ist es denn eigentlich gekommen?« wagte sie gedämpft und vertraulich.

»Das wird sich vor Gericht erweisen!« erwiderte Cathri barsch, den Fragemut vorabschneidend.

Die Neuberin kratzte sich, um Zeit zu gewinnen. Darauf setzte sie wieder an: »Was wohl der Vater, der alte Pfauenwirt, dazu gesagt haben mag? Und erst die Pfauenwirtin! die ohnehin schon alles schwarz sieht?! Und die Schwester, die schöne Anna, die nicht höher geschworen hat als auf ihren Conrad! – Das wird jetzt wohl auch im weiten Feld sein, das mit dem Doktor Inderwyler, die Verlobung –«

Da indessen Cathri auf keine dieser Angeln anbiß, wandte sie sich ein wenig um, als ob sie sich entfernen wollte. Allein sie brachte es doch nicht übers Herz, den Auskunftsposten zu verlassen. Und als der kleine Conrad, das Büblein, auf unsichern Beinchen durch das Gärtchen pendelte, lud sie ihn auf den Arm und zeigte gegen den Pfauen: »Denk, Büblein«, bedauerte sie, »der schöne Reiter, der heute mittag über den Balken sprang – weißt du noch? – der ist jetzt tot.«

Bei diesen Worten schrie Jucunde in den höchsten Tönen, wie ein Ferkel, das von der Köchin abgestochen wird, während ihr Cathri einen feindseligen Blick in den Nacken bohrte. Das Büblein aber juckte auf dem Arm: »Hü, hü«, lallte es.

Endlich verzog sich die Neuberin doch, obschon ungerne. »Ich komme Euch dann mahnen, wenn Euer Zug einfährt.«

Kaum spürte sich Jucunde mit Cathri allein, so reckte sie, ohne den Kopf zu erheben, ihre Hand mit gespreizten Fingern aus, Cathris Arm suchend, den sie krampfhaft drückte. So wie Verwandte an der Leiche eines Angehörigen zu tun pflegen, um die Gemeinsamkeit des Schmerzes zu bekunden, wenn die Worte versagen. Allein Jucundens Finger waren naß von Schleim und Tränen. Cathri riß sich unwillig los, stand auf, und indem sie mit dem Taschentuch angelegentlich die Stellen wischte, wo Jucundens Finger sie beschmutzt hatten: »Ich verbitte mir dergleichen!« erklärte sie empört.

Hierauf setzte sie sich wiederum, indessen noch weiter am äußersten Rand der Bank, so daß sie nur auf dem linken Schenkel ruhte. Um aber ähnlichen Vertraulichkeiten vorzubeugen, bemerkte sie strenge mit nachdrücklicher Betonung: »Ich liebe nicht Zudringlichkeiten von fremden Personen.«

Jucunde verübelte ihr die kränkende Abfertigung nicht, sondern demütig ihr nasses Antlitz erhebend: »Euch also hat er lieb gehabt«, bewunderte sie mit dem Ton ehrerbietigster Unterwürfigkeit.

»Das geht Euch nichts an!« herrschte Cathri.

Jucunde ließ ihren Kopf wieder auf den Arm sinken.

»Dort an jenem Tisch, an jenem Tisch, dort ist er gesessen«, erzählte sie zwischen herzbrechendem Weinen. Hernach wies sie ihre wunde Hand vor, war aber vor Tränen nicht imstande, die Erklärung hinzuzufügen.

»Oh, hätte ich ihn doch nicht ziehen lassen!« schluchzte sie. »Warum war ich nur so kalt! So keusch! So zurückhaltend! Warum lief ich ihm nicht nach und holte ihn ein und warf mich ihm in den Weg und hielt ihn an den Knien fest! Er säße jetzt hier im Garten, gesund und lebendig. – Und ohne Abschied, ohne Gruß! Oh!« – Sie schlug den Kopf auf die Arme. »Und er schaute sich noch nach mir um, und ich zeigte mich nicht! Oh!« Sie raufte sich die Haare und tat wie wahnsinnig.

Von nun an sprach sie nichts mehr, sondern weinte beständig. Es schien unmöglich, daß ein Geschöpf erbärmlicher weinen könnte. Und doch, wenn sie von Zeit zu Zeit den verstörten Blick nach dem Pfauen richtete, dessen weiße Mauern noch durch die Spätdämmerung schimmerten, so barsten immer wieder frische Schleusen ihres Leides, daß die Tränen und Schluchzer sich jählings verdoppelten. Und unwillkürlich strebten immer von neuem ihre breiten, plumpen Finger nach Cathris Arm, wie ein verstümmeltes Tierchen, das den Stummel vorstreckt, aber ängstlich wieder zurückzieht, weil es erfahren hat, daß es dort außen wehtut.

Die Neuberin wuselte wichtig heran:

»Habt Ihrs gehört?« meldete sie außer Atem. »Sie sind noch einmal aneinander geraten, die Wagginger und die Waldishofer, hinter den Reben in den Rubisthaler Flühen. Die Waldishofer seien durch den Wald und hätten ihnen den Weg abgeschnitten. Sie sollen ganz unvernünftig gehaust haben, die Waldishofer, wie die wilden Tiere, nicht wie Menschen, besonders der Christian, der Wachtmeister. Das ist doch wahrhaftig auch nicht recht. Es sind ja schließlich doch auch Menschen, die Wagginger; wenn auch vielleicht ein bißchen lustig und übermütig. Sie sind halt jung. Wir wenigstens, so oft sie bei uns einkehrten, haben uns niemals über sie zu beklagen gehabt. – Es seien ein paar im Rebberg liegengeblieben; den Fürsprech von Oberwaggingen haben sie auf dem Fuhrwerk heimgetan, und den Matthiesen-Michel hat man nach Herrlisdorf tragen müssen; er werde schwerlich mehr aufkommen.«

»Das ist recht, das freut mich«, bemerkte Cathri.

Da zitterte die Luft und bebte die Erde, elektrische Signale tingelten, durch die Finsternis rollte unter Zischen und Brausen eine unförmliche, schwarze Masse mit roten Augen daher, jählings ins Riesenhafte wachsend, wie aus dem Boden steigend.

»So, das ist jetzt Euer Zug«, mahnte die Neuberin. Cathri machte sich hastig auf, einen kurzen Dank zurückwerfend.

»So wollt also Ihr mich auch verlassen!« jammerte Jucunde, »so habe ich denn niemand auf der ganzen Welt mehr, der mich ein klein wenig versteht und mich ein bißchen tröstet!«

In dem Augenblick, da Cathri über die Straße eilte, fuhr ein Chaisechen flink auf leisen Rädern heran, mit klingenden Schellen und trippelndem Rößlein.

»Ist der Conrad noch in der Pinte, oder ist er wieder daheim?« rief ihr Benedikt wohlgemut entgegen.

Sie hielt sich indessen nicht mit einer Antwort auf, sondern gewann die Station, wo eben der Zug bremste.

Noch hatten die Räder sich nicht vollends beruhigt, so flogen bereits aufgeregte Rufe hin und her.

»Wißt ihrs schon?« »Was?« »Wo?« »Wann?« »Nicht möglich!«

Allein der Vorstand wetterte:

»Wir haben jetzt keine Zeit zu vermischten Nachrichten. Der Zug hat mehr als eine halbe Stunde Verspätung. Heraus, wer heraus will, und hinein, was hinein gehört!« Dazu strapazierte er wie besessen die Stationsglocke.

Es folgte eine kopflose Verwirrung von kreuz- und querstürmenden Menschen.

»Dritte Klasse«, heischte Cathri.

»Dritte Klasse hinten einsteigen«, verwies der Schaffner grob. »Aber schneller ein wenig!«

»Dritte Klasse«, wiederholte sie, als sie aufgeregten Atems hinten anlangte. Der Schaffner fuhr sie wütend an:

»Dritte Klasse vorn einsteigen«, brüllte er.

»In einem Schweinestall herrscht mehr Ordnung und Manier«, rief Cathri aufgebracht.

Darob entspann sich ein Schimpfgefecht zwischen den beiden Schaffnern, während Cathri gebieterisch nach dem Zugführer verlangte.

Außer sich über die Verzögerung, eilte der Vorstand herbei. Sowie er Cathri erkannte, grüßte er verbindlich und geleitete sie persönlich in eine Abteilung erster Klasse.

»Fertig, fort!« schnarrte er.

»Wijüh!« bestätigte die Pfeife des Zugführers.

Und mit mächtigem Stampfen setzte sich der schwere Zug in Bewegung, begleitet von Grillengezirp und Sternengeflimmer, hart an der Lissi vorbei, die ihre heimatgierigen Nüstern ungeduldig über den Hemmbalken vorschob, und an der Pinte vorüber, wo Jucundens trostloses Wehklagen weithin durch die schwarze Nacht zitterte, – dem Kurbade entgegen.