»Thale. Zweiter...«
»Letzter Wagen, mein Herr.«
Der ältere Herr, ein starker Fünfziger, an den sich dieser Bescheid gerichtet hatte, reichte seiner Dame den Arm und ging in langsamem Tempo, wie man eine Rekonvaleszentin führt, bis an das Ende des Zuges. Richtig, »Nach Thale« stand hier auf einer ausgehängten Tafel.
Es war einer von den neuen Waggons mit Treppenaufgang, und der mit besonderer
Adrettheit gekleidete Herr: blauer Überrock, helles Beinkleid und Korallentuchnadel,
wandte sich, als er das Waggontreppchen hinauf war, wieder um, um seiner Dame beim
Einsteigen behülflich zu sein. Die Compartiments waren noch leer, und so hatte man
denn die Wahl, aber freilich auch die Qual, und mehr als eine Minute verging, ehe die
schlanke, schwarzgekleidete Dame sich schlüssig gemacht und einen ihr zusagenden
Platz gefunden hatte. Von ähnlicher Unruhe war der sie begleitende Herr, dessen Auf-
und Abschreiten jedoch, allem Anscheine nach, mit der Platzfrage nichts zu schaffen
hatte, wenigstens sah er, das Fenster mehrfach öffnend und schließend, immer wieder
den Perron hinunter, wie wenn er jemand erwarte. Das war denn auch der Fall, und er
beruhigte sich erst, als ein in eine Halblivree gekleideter Diener ihm die
Fahrbillets samt Gepäckschein eingehändigt und sich bei dem »Herrn Obersten« (ein
Wort, das er beständig wiederholte) wegen seines langen Ausbleibens entschuldigt
hatte. »Schon gut«, sagte der so beharrlich als »Herr Oberst« Angeredete. »Schon gut.
Unsere Adresse weißt du. Halte mir die Pferde in Stand; jeden Tag eine Stunde, nicht
mehr. Aber nimm
Und nun setzte sich der Zug in Bewegung.
»Gott sei Dank, Cécile«, sagte der Oberst, dessen scharfer und beinah stechender Blick durch einen kleinen Fehler am linken Auge noch gesteigert wurde. »Gott sei Dank, wir sind allein.«
»Um es hoffentlich zu bleiben.«
Damit brach das Gespräch wieder ab.
Es hatte die Nacht vorher geregnet, und der am Fluß hin gelegene Stadtteil, den der Zug eben passierte, lag in einem dünnen Morgennebel, gerade dünn genug, um unseren Reisenden einen Einblick in die Rückfronten der Häuser und ihre meist offenstehenden Schlafstubenfenster zu gönnen. Merkwürdige Dinge wurden da sichtbar, am merkwürdigsten aber waren die hier und da zu Füßen der hohen Bahnbögen gelegenen Sommergärten und Vergnügungslokale. Zwischen rauchgeschwärzten Seitenflügeln erhoben sich etliche Kugelakazien, sechs oder acht, um die herum ebensoviel grüngestrichene Tische samt angelehnten Gartenstühlen standen. Ein Handwagen, mit eingeschirrtem Hund, hielt vor einem Kellerhals, und man sah deutlich, wie Körbe mit Flaschen hinein- und mit ebensoviel leeren Flaschen wieder hinausgetragen wurden. In einer Ecke stand ein Kellner und gähnte.
Bald aber war man aus dieser Straßenenge heraus, und statt ihrer erschienen weite Bassins und Plätze, hinter denen die Siegessäule halb gespenstisch aufragte. Die Dame wies kopfschüttelnd mit der Schirmspitze darauf hin und ließ dann an dem offenen Fenster, wenn auch freilich nur zur Hälfte, das Gardinchen herunter.
Ihr Begleiter begann inzwischen eine mit dicken Strichen gezeichnete Karte zu
studieren, die die Bahnlinien in der unmittelbaren Umgebung Berlins angab. Er kam
aber nicht weit mit seiner Orientierung, und erst als man die Lisière des
Zoologischen
»Ah«, sagte diese mit einem Versuch, Interesse zu zeigen, blieb aber zurückgelehnt in ihrem Eckplatz und richtete sich erst auf, als der Zug in Potsdam einfuhr. Viele Militärs schritten hier den Perron auf und ab, unter ihnen auch ein alter General, der, als er Céciles ansichtig wurde, mit besondrer Artigkeit in das Coupé hinein grüßte, dann aber sofort vermied, abermals in die Nähe desselben zu kommen. Es entging ihr nicht, ebensowenig dem Obersten.
Und nun wurde das Signal gegeben, und die Fahrt ging weiter über die Havelbrücken hin, erst über die Potsdamer, dann über die Werdersche. Niemand sprach, und nur die Gardine mit dem eingemusterten M. H. E. flatterte lustig im Winde. Cécile starrt' darauf hin, als ob sie den Tiefsinn dieser Zeichen erraten wolle, gewann aber nichts, als daß sich der Mattigkeitsausdruck ihrer Züge nur noch steigerte.
»Du solltest dir's bequem machen«, sagte der Oberst, »und dich ausstrecken, statt aufrecht in der Ecke zu sitzen.« Und als sie zustimmend nickte, nahm er Plaids und Decken und mühte sich um sie.
»Danke, Pierre. Danke. Nur noch das Kissen.«
Und nun zog sie die Reisedecke höher hinauf und schloß die Augen, während der Oberst in einem Reisehandbuch zu lesen begann und kleine Strichelchen an den Rand machte. Nur von Zeit zu Zeit sah er über das Buch fort und beobachtete die nur scheinbar Schlafende mit einem Ausdrucke von Aufmerksamkeit und Teilnahme, der unbedingt für ihn eingenommen haben würde, wenn sich nicht ein Zug von Herbheit, Trotz und Eigenwillen mit eingemischt und die freundliche Wirkung wieder gemindert hätte. Täuschte nicht alles, so lag eine »Geschichte« zurück, und die schöne Frau (worauf auch der Unterschied der Jahre hindeutete) war unter allerlei Kämpfen und Opfern errungen.
Es verging eine Weile, dann öffnete sie die Augen wieder und sah in die Landschaft
hinaus, die beständig wechselte: Saaten
»Du sprichst nicht, Cécile.«
»Nein.«
»Aber ich darf sprechen?«
»Gewiß. Sprich nur. Ich höre zu.«
»Sahst du Saldern?«
»Er grüßte mich mit besondrer Artigkeit.«
»Ja, mit besonderer. Und dann vermied er dich und mich. Wie wenig selbständig doch diese Herren sind.«
»Ich fürchte, daß du recht hast. Aber nichts davon; warum uns quälen und peinigen? Erzähle mir etwas Hübsches, etwas von Glück und Freude. Gibt es nicht eine Geschichte: Die Reise nach dem Glück? Oder ist es bloß ein Märchen?«
»Es wird wohl ein Märchen sein.«
Sie nickte schmerzlich bei diesem Wort, und als er nicht ohne aufrichtige, wenn auch freilich nur flüchtige Bewegung sah, daß ihr Auge sich trübte, nahm er ihre Hand und sagte: »Laß, Cécile. Vielleicht ist das Glück näher, als du denkst, und hängt im Harz an irgendeiner Klippe. Da hol ich es dir herunter, oder wir pflücken es gemeinschaftlich. Denke nur, das Hotel, in dem wir wohnen werden, heißt ›Hotel Zehnpfund‹. Klingt das nicht wie die gute Zeit? Ich sehe schon die Waage, drauf du gewogen wirst und dich mit jedem Tage mehr in die Gesundheit hineinwächst. Denn Zunehmen heißt Gesundwerden. Und dann kutschieren wir umher und zählen die Hirsche, die der Wernigeroder Graf in seinem Parke hat. Er wird doch hoffentlich nichts dagegen haben. Und überall, wo ein Echo ist, laß ich einen Böllerschuß dir zu Ehren abfeuern.«
Es schien, daß ihr die Worte wohltaten, im übrigen aber doch wenig bedeuteten, und so sagte sie: »Ich hoffe, daß wir viel allein sind.«
»Warum immer allein? Und gerade du. Du brauchst Menschen.«
»Gern. Aber ich denke, du wirst bald andren Sinnes werden.«
Und nun stockte das Gespräch wieder, und in immer rascherem Fluge ging es erst an Brandenburg und seiner Sankt-Godehards-Kirche, dann an Magdeburg und seinem Dome vorüber. In Oschersleben schloß sich der Leipziger Zug an, und mit etwas geringerer Geschwindigkeit, weil sich die Steigung fühlbar zu machen begann, fuhr man jetzt auf Quedlinburg zu, hinter dessen Abteikirche der Brocken bereits aufragte. Das Land, das man passierte, wurde mehr und mehr ein Gartenland, und wie sonst Kornstreifen sich über den Ackergrund ziehen, zogen sich hier Blumenbeete durch die weite Gemarkung.
»Sieh, Cécile«, sagte der Oberst. »Ein Teppich legt sich dir zu Füßen, und der Harz empfängt dich à la Princesse. Was willst du mehr?«
Und sie richtete sich auf und lächelte.
Wenige Minuten später hielt der Zug in Thale, wo sofort ein Schwarm von Kutschern und Hausdienern aller Art die Coupés umdrängte: »›Hubertusbad‹! ›Waldkater‹! ›Zehnpfund‹!«
»Zehnpfund«, wiederholte der Oberst, und einem dienstfertig zuspringenden Kommissionär den Gepäckschein einhändigend, bot er Cécile den Arm und schritt auf das unmittelbar am Bahnhof gelegene Hotel zu.
Der große Balkon von »Hotel Zehnpfund« war am andern Morgen kaum zur Hälfte besetzt,
und nur ein Dutzend Personen etwa sah auf das vor ihnen ausgebreitete
Landschaftsbild, das durch die Feueressen und Rauchsäulen einer benachbarten Fabrik
nicht allzuviel an seinem Reize verlor. Denn die Brise, die ging, kam von der Ebene
her und trieb den dicken Qualm am Gebirge hin. In die Stille, die herrschte, mischte
sich,
Der Anblick mußte jeden entzücken, und so hing denn auch das Auge der schönen Frau, die wir am Tage vorher auf ihrer Reise begleiteten, an dem ihr zu Füßen liegenden Bilde, freilich, im Gegensatze zu dem Obersten, ihrem Gemahl, mit nur geteiltem Interesse.
Der Tisch, an dem beide das Frühstück nahmen, stand im Schutz einer den Balkon nach dem Gebirge hin abschließenden Glaswand und fiel nicht nur durch ein besonders elegantes Service, sondern mehr noch durch ein großes und prächtiges Fliederbouquet auf, das man, vielleicht in Huldigung gegen die durch Rang und Erscheinung gleich distinguierte Dame, gerad auf diesen Tisch gestellt hatte. Cécile selbst brach einige von den Blütenzweigen ab und sah dann abwechselnd auf Berg und Wiese, ganz einer träumerischen Stimmung hingegeben, in der sie sich augenscheinlich ungern gestört fühlte, wenn der Oberst, in wohlmeinendem Erklärungseifer, den Cicerone machte.
»Vieles«, hob er an, »hat sich speziell an dieser Stelle geändert, seit ich in meinen Fähnrichstagen hier war. Aber ich finde mich doch noch zurecht. Das Plateau dort oben, mit dem großen würfelförmigen Gasthause, muß der Hexentanzplatz sein. Ich höre, man kann jetzt bequem hinauffahren.«
»O gewiß kann man«, sagte sie, während sie, sichtlich gleichgiltig gegen diese
Mitteilung, mit ihrem Auge den Balkon
»Hexentanzplatz«, nahm sie nach einer Weile das Gespräch wieder auf. »Wahrscheinlich ein Felsen mit einer Sage, nicht wahr? Wir hatten auch in Schlesien so viele; sie sind alle so kindisch. Immer Prinzessinnen und Riesenspielzeug. Ich dachte, der Felsen, den man hier sähe, hieße die Roßtrappe.«
»Gewiß, Cécile. Das ist der andre; gleich hier der nächste.«
»Müssen wir hinauf?«
»Nein, wir müssen nicht. Aber ich dachte, du würdest es wünschen. Der Blick ist schön, und man sieht meilenweit in die Ferne.«
»Bis Berlin? Aber nein, darin irr ich, das ist nicht möglich. Berlin muß weiter sein; fünfzehn Meilen oder noch mehr. Ah, sahst du die zwei Schwalben? Es war, als haschten sie sich und spielten miteinander. Vielleicht sind es Geschwister, oder vielleicht ein Pärchen.«
»Oder beides. Die Schwalben nehmen es nicht so genau. Sie sind nicht so diffizil in diesen Dingen.«
Es lag etwas Bittres in dem Ton. Aber diese Bitterkeit schien sich nicht gegen die Dame zu richten, denn ihr Auge blieb ruhig, und keine Röte stieg in ihr auf. Sie zog nur ein Chenilletuch, das sie bis zur Hüfte hatte fallen lassen, wieder in die Höhe und sagte: »Mich fröstelt, Pierre.«
»Weil du nicht Bewegung genug hast.«
»Und weil ich schlecht geschlafen habe. Komm, ich will mich niederlegen und eine halbe Stunde ruhn.«
Und bei diesen Worten erhob sie sich und ging unter leichtem Gruß, den die
Zunächstsitzenden ebenso leicht erwiderten, auf das Nebenzimmer und den Korridor zu.
Der Oberst folgte. Nur einer der Gäste, der, über seine Zeitung fort, von der andern
Seite das Balkons her das distinguierte Paar schon seit lange beobachtet hatte, stand
auf, legte die Zeitung aus der
Der junge Mann, der sich von seinem Platz erhoben und mit so besondrer Artigkeit gegrüßt hatte, rief jetzt den Kellner heran und sagte: »Kennen Sie die Herrschaften?«
»Ja, Herr von Gordon.«
»Nun?«
»Oberst a. D. von St. Arnaud und Frau. Sie kamen gestern mit dem Mittagszug und nahmen ein Diner à part. Die Dame scheint krank.«
»Und werden einige Tage bleiben?«
»Ich vermute.«
Der Kellner trat wieder zurück, und der als Herr von Gordon Angeredete wiederholte jetzt zwei-, dreimal den Namen, den er eben gehört hatte. »St. Arnaud... St. Arnaud!«
Endlich schien er es gefunden zu haben.
»Ja, jetzt entsinne ich mich. In St. Denis war Anno 70 viel von ihm die Rede. Kugel durch den Hals, zwischen Karotis und Luftröhre. Wahrer Wunderschuß. Und wunderbar auch die Heilung; in sechs Wochen wiederhergestellt. Witzleben hat mir ausführlich davon erzählt. Kein Zweifel, das ist er. Er war damals ältester Hauptmann in einem der Garderegimenter, bei Franz oder den ›Maikäfern‹, und wurde noch in Frankreich Major. Ich muß ihn im ›Cerf‹ gesehen haben. Aber warum außer Dienst?«
Der dies Selbstgespräch Führende nahm, als er sich, mit Hülfe seines Gedächtnisses,
auf diese Weise leidlich orientiert hatte, die Zeitung wieder zur Hand und überflog
den Leitartikel, der die letzten Fort schritte der Russen in Turkmenien behandelte,
zugleich aber, unter allerhand Namensverwechselungen,
»Das ist Baden-Baden«, sagte der vom Balkon aus sie Beobachtende. »Baden-Baden oder
Brighton oder Biarritz, aber nicht Harz und ›Hotel Zehnpfund‹.« Und so vor sich hin
sprechend, folgte sein Auge dem sich bald nähernden, bald entfernenden Paare mit
immer gesteigertem Interesse, während er zugleich in seinen Erinnerungen
weiterforschte. »St. Arnaud. Anno 70 war er noch unverheiratet, sie wäre damals auch
kaum achtzehn gewesen.« Und unter solchem Rechnen und Erwägen erging er sich in immer
neuen Mutmaßungen darüber, welche Bewandtnis es mit dieser etwas sonderbaren und
überraschenden Ehe haben möge. »Dahinter steckt ein Roman. Er ist über zwanzig Jahre
älter als sie. Nun, das ginge schließlich, das bedeutet unter Umständen nicht viel.
Aber den Abschied genommen, ein so brillanter und bewährter Offizier! Man sieht ihm
noch jetzt den Schneid an; Garde-Oberst comme il faut, jeder Zoll. Und doch außer
Dienst. Sollte vielleicht... Aber nein, sie coquettiert nicht, und auch sein Benehmen
gegen sie
Herr von Gordon war auf bestem Wege, seine Mutmaßungen noch weiter auszuspinnen, als er sich durch ein von rückwärts her laut werdendes, sehr ungeniertes Lachen unterbrochen und zwei neue Besucher auf den Balkon heraustreten sah, stattliche Herren von etwa dreißig, über deren spezielle Heimat, sowohl ihrem Auftreten wie besonders ihrer Sprechweise nach, kein Zweifel sein konnte. Sie trugen graubraune Sommeranzüge, deren Farbe sich nach oben hin bis in die kleinen Filzhüte fortsetzte, dazu Plaids und Reisetaschen. Alles paßte vorzüglich zusammen, mit Ausnahme zweier Ausrüstungsgegenstände, von denen der eine, mit Rücksicht auf eine Harzreise, des Guten zuwenig, der andere aber entschieden zuviel tat. Diese zwei nicht passenden Dinge waren: ein eleganter Promenadenstock mit Elfenbeingriff und andrerseits ein hypersolides Schuhzeug, das sich mit seinen Schnürösen und dicken Sohlen ausnahm, als ob es sich um eine Besteigung des Matterhorn, nicht aber der Roßtrappe gehandelt hätte.
»Wo kampieren wir?« fragte der ältere, von der Türschwelle her Umschau haltend. Im
selben Augenblick aber des geschützt stehenden Tisches mit dem großen Fliederstrauß
ansichtig werdend, an dem die St. Arnauds eben noch gesessen hatten, schritt er rasch
auf diese bevorzugte, weil windgeschützte, Stelle zu und sagte: »Wo das blüht, da laß
dich ruhig nieder, böse Menschen haben keinen Flieder.« Und im selben Augenblicke
sowohl Reisetasche wie Plaid über die Stuhllehne hängend,
»Befehlen?«
»Zuvörderst einen Mokka samt Zubehör, oder sagen wir kurz: ein Schweizer Frühstück. Jedem Mann ein Ei, dem tapfren Schweppermann aber zwei.«
Der Kellner lächelte schalkhaft vor sich hin und suchte, zu sichtlicher Freude der beiden neuen Ankömmlinge, durch eine humoristische Handbewegung auszudrücken, daß er nicht recht wisse, wer der zu Bevorzugende sein werde.
»Berliner?«
»Zu dienen.«
»Nun denn, Freund und Landsmann, Sie werden uns nicht verraten, wenn Sie hören, daß wir eigentlich beide Schweppermänner sind. Macht vier Eier. Und nun flink. Aber erst hier das alte Schlachtfeld abräumen. Und wie steht es mit Honig?«
»Sehr gut.«
»Nun denn auch Honig. Aber Wabenhonig. Alles frisch vom Faß. Echt, echt!«
Unter diesem Gespräche hatte der Kellner den Tisch klargemacht und ging nun, um das Frühstück herbeizuschaffen. Es folgte eine Pause, die das Berliner Paar, weil ihm nichts anderes übrigblieb, mit Naturbetrachtungen ausfüllte.
»Das also ist der Harz oder das Harzgebirge«, nahm der ältere zum zweiten Male das Wort, derselbe, der das kurze Gespräch mit dem Kellner gehabt hatte. »Merkwürdig ähnlich. Ein bißchen wie Tivoli, wenn die Kuhnheimsche Fabrik in Gang ist. Sieh nur, Hugo, wie das Ozon da drüben am Gebirge hinstreicht. In den Zeitungen heißt es in einer allwöchentlich wiederkehrenden Annonce: ›Thale, klimatischer Kurort‹. Und nun diese Schornsteine! Na, meinetwegen; Rauch konserviert, und wenn wir hier vierzehn Tage lang im Schmok hängen, so kommen wir als Dauerschinken wieder heraus. Ach, Berlin! Wenn ich nur wenigstens die Roßtrappe sehen könnte!«
»Du hast sie ja vor dir«, sagte der andre, während eben auf einem großen Tablett das
Frühstück gebracht wurde. »Nicht
»Nicht ganz, mein Herr. Die Roßtrappe liegt etwas weiter zurück. Das Haus, das Sie sehen, ist das ›Hotel zur Roßtrappe‹.«
»Na, das ist die Roßtrappe. Das Hotel entscheidet. Übrigens, Pilsener oder Kulmbacher?«
»Beides, meine Herren. Aber wir brauen auch selbst.«
»Wohl am Ende da drüben, wo der Rauch zieht?«
»Nein, hier mehr links. Die Schornsteine nach rechts hin sind die Blechhütte.«
»Was?«
»Die Blechhütte. Blech mit Emaille.«
»Wundervoll! Mit Emaille! Fehlt bloß noch das Zifferblatt. Und darf man das alles sehn?«
»O gewiß, gewiß. Wenn die Herren nur ihre Karten abgeben wollen...«
Und damit brach das Gespräch ab, und die beiden Touristen par excellence machten sich an ihr Frühstück mit Ei und Wabenhonig.
Eine halbe Stunde später erhoben sie sich und verließen den Balkon, wobei der jüngere
den Stock mit der Elfenbeinkrücke quer vor den Mund nahm, zugleich den Ton einer zum
Marsch blasenden Pickelflöte nachahmend. Alles, was noch auf dem Balkon verblieben
war, sah ihnen neugierig nach, auch Gordon, der ihren Weitermarsch bis ins Bodetal
hinein verfolgt haben würde, wenn nicht der eben mit neuen Ankömmlingen eingetroffene
Frühzug sein Interesse nach der entgegengesetzten Seite hin abgezogen hätte.
Sängervereine rückten vom Bahnhof heran und marschierten auf Treseburg zu, wo sie den
Tag zu verbringen und ihre Sängerwettkämpfe zu führen gedachten. Im Vorüberziehen an
dem Hotel schwenkten sie die Hüte, zahllose Hochs ausbringend, von denen niemand
recht wußte, wem sie galten. An ihre letzte Sektion aber schlossen sich alle
diejenigen an, die der Zug außerdem
Es waren ihrer zwei, beide lebhaft plaudernd, aber doch nur wie Personen, die sich eben erst kennengelernt haben. Der zur Linken Gehende, schwarz gekleidet in Stehkragenrock, dabei von freundlichen Zügen, war ein alter Emeritus, den Gordon schon von verschiedenen Ausflügen und namentlich von der Table d'hôte her kannte, während der andere durch eine große Häßlichkeit und beinah mehr noch durch die Sonderbarkeit seiner Kleidung auffiel. Er trug nämlich ziemlich defekte Gamaschen und eine Manchesterweste, deren Schöße länger waren als seine Joppe, dazu Strippenhaar, Klapphut und Hornbrille. Worauf deutete das alles hin? Seinem unteren Menschen nach hätte man ihn ohne weiteres für einen Trapper, seinem oberen nach ebenso zweifellos für einen Rabulisten und Winkeladvokaten halten müssen, wenn nicht sein letztes und vorzüglichstes Ausrüstungsstück: eine Botanisiertrommel, gewesen wäre, ja sogar eine Botanisiertrommel am gestickten Bande. Diese beständig hin und her schiebend, schritt er an der Seite des geistlichen Herrn, der übrigens bereits Miene zum Abschwenken machte, mit großen Schritten und unter beständigen Gestikulationen auf die Parkwiese zu.
»Botaniker«, sagte Gordon zu dem Wirte von »Hotel Zehnpfund«, der sich ihm mittlerweile gesellt hatte. »Sieht er nicht aus wie Knecht Ruprecht, der den Frühling in seinen Sack stecken will?«
Der joviale Hotelier jedoch, der, wie die meisten seines Standes, ein Menschenkenner war, wollte von der Gordonschen Diagnose nichts wissen und sagte: »Nein, Herr von Gordon, die grüne Trommel, die kenn ich: in neun Fällen von zehn ist sie Vorratskammer, am gestickten Bande aber ist sie's immer. Nichts von Botanik. Ich halte den Herrn für einen Urnenbuddler.«
»Archäologe?«
»So drum herum.«
Zehn Minuten vor eins läutete die Tischglocke durch alle Korridore hin, und wiewohl die Haute-Saison noch nicht begonnen hatte, versammelte sich doch eine stattliche Zahl von Gästen im großen Speisesaal. Auch die beiden Berliner in Graubraun fehlten nicht und hatten sofort am untern Ende der Tafel eine Korona teils bewundernder, teils lächelnder Zuhörer um sich her, zu welchen letztren auch der alte Herr im geistlichen Rock und der Langhaarige mit der Hornbrille zählte. Das im Gegensatze zu dem unterwegs von Cécile geäußerten Wunsche heut ebenfalls erschienene St. Arnaudsche Paar war vom Oberkellner gebeten worden, die Mittelplätze der Tafel einzunehmen, gegenüber von Herrn von Gordon, der im selben Augenblicke, wo die Herrschaften Platz genommen hatten, auch schon die mit allerhand rotem Blattwerk zwischen ihm und Cécile stehende Vase zu verwünschen begann. Selbstverständlich ließ er sich durch dies Hindernis nicht abhalten, sich vorzustellen, worauf der Oberst, vielleicht weil er einen adeligen Namen gehört hatte, mit bemerkenswerter Artigkeit erwiderte: »von St. Arnaud – meine Frau.« Es schien aber bei diesem Namensaustausch bleiben zu sollen, denn Minuten vergingen, ohne daß ein weiterer Annäherungsversuch von hüben oder drüben gemacht worden wäre. Gordon, trotzdem ihm die Tage preußischer Disziplin um mehrere Jahre zurücklagen, glaubte doch, mit Rücksicht auf den Rang des Obersten, diesem das erste Wort überlassen zu müssen. Auch Cécile schwieg und richtete nur dann und wann ein Wort an ihren Gemahl, während sie mechanisch an einem Türkisringe drehte.
Seit dem Ragoût fin en coquille, von dem sie zwei Bröckchen gekostet und zwei andere
auf der Gabelspitze gelassen hatte,
Alles lachte. Selbst der Oberst schien froh, aus der Tafel-Langweile heraus zu sein, und sagte jetzt, während er sich über den Tisch hin vorbeugte: »Nicht wahr, Herr von Gordon, Sie sind ein Sohn des Generals?«
»Nein, mein Herr Oberst, auch kaum verwandt, denn ich bin eigentlich ein Leslie. Der Name Gordon ist erst durch Adoption in unsere Familie gekommen.«
»Und stehen in welchem Regiment?«
»In keinem, Herr Oberst. Ich habe den Dienst quittiert.«
»Ah«, sagte der Oberst, und eine Pause folgte, die zum zweiten Male verhängnisvoll werden zu wollen schien. Aber die Gefahr ging glücklich vorüber, und St. Arnaud, der sonst wenig sprach, fuhr mit einem für seinen Charakter überraschend artigen Entgegenkommen fort: »Und Sie sind schon längere Zeit hier, Herr von Gordon? Und vielleicht zur Kur?«
»Seit einer Woche, mein Herr Oberst. Aber nicht eigentlich zur Kur. Ich will ausruhen und eine gute Luft atmen und nebenher auch Plätze wiedersehen, die mir aus meiner Kindheit her teuer sind. Ich war, eh ich in die Armee trat, oft im Harz und darf sagen, daß ich ihn kenne.«
»Da bitt ich, daß wir uns vorkommendenfalls an Ihren guten Rat und Ihre Hülfe wenden dürfen. Wir gedenken nämlich, sobald es das Befinden meiner Frau zuläßt, immer höher in die Berge hinaufzugehen und etwa mit Andreasberg abzuschließen. Es soll dort die beste Luft für Nervenkranke sein.«
In diesem Augenblicke präsentierte der Kellner ein Panaché, von dessen Vanillenseite Frau von St. Arnaud nahm und kostete. »Lieber Pierre«, sagte sie dann mit sich rasch belebender Stimme, »du bittest Herrn von Gordon um seinen Beistand und verscheuchst ihn im selben Augenblick aus unserer Nähe. Denn was ist lästiger als Rücksichten auf eine kranke Frau nehmen? Aber erschrecken Sie nicht, Herr von Gordon, wir werden Ihre Güte nicht mißbrauchen, wenigstens nicht ich. Sie sind zweifellos ein Bergsteiger, also enragiert für große Partien, während ich vorhabe, mir, noch auf Wochen hin, an unserem Balkon und der Parkwiese genügen zu lassen.«
Das Gespräch setzte sich fort und ward erst unterbrochen, als der an der unteren Tafel inzwischen erschienene Champagner mit allem Zeremoniell geöffnet wurde. Der Pfropfen flog in die Höh, und während der jüngere die Gläser füllte, musterte der ältere die Marke, selbstverständlich nur, um Gelegenheit zum Vortrage einiger Champagner-Anekdoten zu finden, die sämtlich, um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen, auf »Wirt und Hotel-Entlarvung auf dem Pfropfenwege« hinausliefen – alles übrigens in bester Laune, die sich nicht bloß seiner nächsten Umgebung, sondern so ziemlich der ganzen Tafel mitteilte.
Zehn Minuten danach erhob man sich und verließ in Gruppen den Eßsaal. Auch die Berliner gingen den Korridor hinunter, machten aber an einem Fenstertischchen halt, auf dem das Fremdenbuch aufgeschlagen lag, und begannen darin zu blättern.
»Gordon-Leslie!« wiederholte der andere. »Das ist ja der reine ›Wallensteins Tod‹!«
»Wahrhaftig, fehlt bloß noch Oberst Buttler.«
»Na, höre, der alte...«
»Meinst du?«
»Freilich, mein ich. Sieh dir 'n mal an. Wenn der erst anfängt... «
»Höre, das wär famos; da könnt man am Ende noch was erleben.«
Und damit gingen sie weiter und auf ihr Zimmer zu, »um sich hier«, wie sich der ältere ausdrückte, »inwendig ein bißchen zu besehn.«
Gleich nach Aufhebung der Tafel war zwischen den St. Arnauds und ihrem neuen Bekannten und Tisch-vis-à-vis ein Nachmittagsspaziergang auf die Roßtrappe hinauf verabredet worden, und um vier Uhr traf man sich unter der großen Parkplatane, wo Gordon dann sofort auch, aber doch erst, nachdem er seine Dispositionen gehorsamst unterbreitet hatte, die Führung übernahm. Die gnädige Frau, so waren seine Worte gewesen, möge nicht erschrecken, wenn er, statt des sehr steilen nächsten Weges, einen Umweg vorschlage, der sich nicht bloß durch das, was er habe (darunter die schönsten Durchblicke), sondern viel, viel mehr noch durch das, was er nicht habe, höchst vorteilhaft auszeichne. Die sonst üblichen Begleitstücke harzischer Promenadenwege: Hütten, Kinder und aufgehängte Wäsche, kämen nämlich in Wegfall.
Cécile gab in guter Laune die Versicherung, lange genug verheiratet zu sein, um auch in kleinen Dingen Gehorsam und Unterordnung zu kennen; am wenigsten aber werde sie sich gegen Herrn von Gordon auflehnen, der den Eindruck mache, wie zum Führer und Pfadfinder geboren zu sein.
Gordon war nicht angenehm von einem Scherze berührt, dessen Spott sich ebenso gegen ihn wie gegen Cécile richten konnte, verwand den Eindruck aber schnell und nahm das Shawltuch, das die schöne Frau bis dahin über dem Arm getragen hatte. Dann wies er auf einen einigermaßen schattigen, am Parkende gelegenen Steinweg hin und führte, diesen einschlagend, das St. Arnaudsche Paar, an Buden und Sommerhäusern vorüber, auf das benachbarte Hubertusbad zu, von dem aus er den Aufstieg auf die Roßtrappe bewerkstelligen wollte. Von beiden Seiten trat das Laubholz dicht heran, aber auch freiere Plätze kamen, auf deren einem eine von einem vergoldeten Drahtgitter eingefaßte, mit wildem Wein und Efeu dicht überwachsene Villa lag. Nichts regte sich in dem Hause, nur die Gardinen bauschten überall, wo die Fenster aufstanden, im Zugwind hin und her, und man hätte den Eindruck einer absolut unbewohnten Stätte gehabt, wenn nicht ein prächtiger Pfau gewesen wäre, der, von seiner hohen Stange herab, über den meist mit Rittersporn und Brennender Liebe bepflanzten Vorgarten hin, in übermütigem und herausforderndem Tone kreischte.
Cécile blieb betroffen stehen und wandte sich dann zu Gordon, der den ganzen Umweg vielleicht nur um dieser Stelle willen gemacht hatte.
»Wie zauberhaft«, sagte sie. »Das ist ja das ›ver wunschene Schloß‹ im Märchen. Und so still und lauschig. Wirkt es nicht, als wohne der Friede darin oder, was dasselbe sagt: das Glück.«
»Und doch haben beide keine Stätte hier gefunden, und ich gehe täglich an diesem Hause vorüber und hole mir eine Predigt.«
»Und welche?«
»Die, daß man darauf verzichten soll, ein Idyll oder gar ein Glück von außen her
aufbauen zu wollen. Der, der dies schuf, hatte dergleichen im Sinn. Aber er ist über
die bloße Kulisse nicht hinausgekommen, und was dahinter für ihn lauerte, war
Es war, als ob Gordon auf ein Wort der Zustimmung gewartet hätte. Dies Wort blieb aber aus, und Cécile zählte nur die Maschen des vor ihr ausgespannten Drahtgitters, während der Oberst sein Lorgnon nahm und die Fenster mit einer Art ruhiger Neugier musterte.
Dann, ohne daß weiter ein Wort gesprochen worden wäre, schritt man dem Schlängelwege zu, der auf die Roßtrappe hinaufführte.
Die Bahnhofsuhr unten in Thale schlug eben fünf, als das St. Arnaudsche Paar und Gordon bis auf wenige Schritt an den Felsenvorsprung mit dem ›Hotel zur Roßtrappe‹ heran waren und im selben Augenblicke wahrnahmen, daß viele der Gäste, mit denen sie die Table d'hôte geteilt hatten, ebenfalls hier oben erschienen waren, um an diesem bevorzugten Aussichtspunkte ihren Kaffee zu nehmen. Einige, darunter auch die beiden Herren in Graubraun (und an einem Nachbartische der Emeritus und der Langhaarige), saßen, paar- und gruppenweis, unter einem von Pfeifenkraut überwachsenen Zeltschuppen und sahen in die reiche Landschaft hinein, aus der, in nächster Nähe, die pittoresken Gebilde der Teufelsmauer und weiter zurück die Quedlinburger und Halberstädter Turmspitzen aufragten. Alles, was unter dem Zeltschuppen und zum Teil auch in Front desselben saß, war heiter und guter Dinge, voran die beiden Berliner, deren Diner-Stimmung sich, unter dem Einfluß einiger Kaffee-Cognacs, eher gesteigert als gemindert hatte.
»Da sind sie wieder«, sagte der ältere, während er auf das St. Arnaudsche Paar und
den unmittelbar folgenden Gordon
Seine Neigung, in diesem Gesprächstone fortzufahren, war unverkennbar; er brach aber ab, weil die, denen diese Bemerkungen galten, mittlerweile ganz in ihrer Nähe Platz genommen hatten, und zwar an einem unmittelbar am Abhange stehenden Tische, neben dem auch ein Teleskop für das schaulustige Publikum aufgestellt war. Eine junge, freilich nicht allzu junge, mit Skizzierung der Landschaft beschäftigte Dame saß schon vorher an dieser Stelle, was den Obersten, als er seinen Stuhl heranschob, zu den Worten veranlaßte: »Pardon, wenn wir lästig fallen. Aber alle Tische sind besetzt, mein gnädiges Fräulein, und der Ihrige genießt außerdem des Vorzugs, der landschaftlich anziehendste zu sein.«
»Das ist er«, sagte die Dame rasch und mit ungewöhnlicher Unbefangenheit, während sie das Blatt, an dem sie bis dahin gezeichnet, in die Mappe schob. »Ich ziehe diese Stelle jeder andern vor, auch der eigentlichen Roßtrappe. Dort ist alles Kessel, Eingeschlossenheit und Enge, hier ist alles Weitblick. Und Weitblicke machen einem die Seele weit und sind recht eigentlich meine Passion in Natur und Kunst.«
Der Oberst, den das frank und freie Wesen der jungen Dame sichtlich anmutete, beeilte sich, sich und seine Begleitung vorzustellen, und fuhr dann fort: »Ich hoffe, meine Gnädigste, daß wir nicht zu sehr als eine Störung empfunden werden. Sie schoben das Blatt in die Mappe...«
»Nur weil es beendet war, nicht um es Ihren Augen zu entziehen. Ich mißbillige diese
Kunstprüderie, die doch meistens nur Hochmut ist. Die Kunst soll die Menschen
erfreuen, immer da sein, wo sie gerufen wird, aber sich nicht wie die Schnecke
furchtsam oder gar vornehm in ihr Haus zurückziehen. Am schrecklichsten sind die
Klaviervirtuosen, die zwölf Stunden lang spielen, wenn man sie nicht hören will, und
nie spielen, wenn man sie hören will. Das Verlangen nach einem Walzer ist ihnen die
tödlichste der Beleidigungen, und doch ist ein Walzer
Ein herantretender und nach den Befehlen der neuen Gäste fragender Kellner unterbrach hier auf Augenblicke das Gespräch, aber es wurde rasch wieder aufgenommen und führte, nach einer kleinen Weile schon, zur Durchsicht der bereits die verschiedensten Blätter enthaltenden Mappe. Cécile war entzückt, verklagte sich ihrer argen Talentlosigkeit halber, unter der sie zeitlebens gelitten, und tat freundliche, wohlgemeinte Fragen, die reizend gewesen wären, wenn sich nicht, bei mancher überraschenden Kenntnis im einzelnen, im ganzen genommen eine noch verwunderlichere Summe von Nicht-Wissen darin ausgesprochen hätte. Sie selber schien aber kein Gewicht darauf zu legen und übersah ein nervöses Zucken, das bei der einen oder anderen dieser Fragen um den Mund ihres Gatten spielte.
Gordon, selber ein guter Zeichner und speziell von einem für landschaftliche Dinge geübten Auge, hatte hier und da Bedenken und gab ihnen, wenn auch unter den artigsten Entschuldigungen, Ausdruck.
»Oh, nur das nicht«, sagte die junge Dame. »Nur keine Entschuldigungen. Nichts schrecklicher als totes Lob; ein verständiger und liebevoller Tadel ist das Beste, was ein Künstlerohr vernehmen kann. Aber sehen Sie das hier; das ist besser.« Und sie zog unter den Blättern eines hervor, das eine Wiese mit Brunnentrog und an dem Trog ein paar Kühe zeigte.
»Das ist schön«, sagte Gordon, während die beständig auf Ähnlichkeiten ausgehende Cécile durchaus eine Wiese, die man vorher passiert hatte, darin wiedererkennen wollte.
Die junge Malerin überhörte diese Bemerkungen aber und fuhr, während sie Gordon ein zweites Blatt zuschob, in immer lebhafterem Tone fort: »Und hier sehen Sie, was ich kann und nicht kann. Ich bin nämlich, um es rundheraus zu sagen, eine Tiermalerin.«
»Ah, das ist ja reizend«, sagte Cécile.
»Doch nicht, meine gnädigste Frau, wenigstens nicht so bedingungslos,
»Und warum das?« fragte Cécile.
»Weil mich, auf diesen Namen hin, die Neidteufelei der Kollegen in Gegensatz bringt zu meiner berühmten Namensschwester. Und so nennen sie mich denn Rosa Malheur.«
Cécile verstand nicht. Gordon aber erheiterte sich und sagte: »Das ist allerliebst, und ich müßte mich ganz in Ihnen irren, wenn Sie diese Namensgebung auch nur einen Augenblick ernstlich verdrösse.«
»Tut es auch nicht«, lachte jetzt das Fräulein, das eigentlich stolz auf den Spitznamen war, den man ihr gegeben hatte. »Man kommt darüber hin. Und Spielverderberei gehört ohnehin nicht zu meinen Tugenden.«
In diesem Augenblick erschien der Kellner mit einem tassenklirrenden Tablett, und während er die Serviette zu legen und den Tisch zu arrangieren begann, hörte man, bei der eingetretenen Gesprächspause, beinah jedes Wort, das unter dem Zeltschuppen, und zwar an dem zunächststehenden Tische, gesprochen wurde.
»Darin«, sagte der Langhaarige, dessen Botanisiertrommel trophäenartig an einem
Balkenhaken hing, »darin, mein sehr verehrter Herr Emeritus, muß ich Ihnen durchaus
widersprechen. Es ist ein Irrtum, alles in unserer Geschichte von den Hohenzollern
herleiten zu wollen. Die Hohenzollern haben das Werk nur weitergeführt, die Begründer
aber sind die halb vergessenen und eines dankbaren Gedächtnisses doch so würdigen
Askanier. Ein oberflächlicher Geschichtsunterricht, der beiläufig die Hauptschuld an
dem pietäts-und vaterlandslosen Nihilismus
An einer lebhaften Bewegung seiner Lippen ließ sich erkennen, daß der Emeritus emsig dabei war, dem Manne des historischen Essays mit gleicher Münze heimzuzahlen, da seine Pensionierung aber, auf Antrag seiner ihn sonst verehrenden Gemeinde, vor zehn Jahren schon, und zwar »um Mümmelns willen«, erfolgt war, so war an ein Verstehen dessen, was er sagte, gar nicht zu denken, während das, was in eben diesem Augenblick an dem berlinischen Nachbartisch gesprochen wurde, desto deutlicher herüberschallte.
»Sieh nur«, sagte der ältere. »Die beiden Türme da. Der nächste, das muß der Quedlinburger sein, das ist klar, das kann 'ne alte Frau mit 'm Stock fühlen. Aber der dahinter, der sich so retiré hält! Ob es der Halberstädter ist? Es muß der Halberstädter sein. Was meinst du, wollen wir 'n mal ein bißchen ranholen?«
»Gewiß. Aber womit?«
»Na, mit 's Perspektiv. Sieh doch den Opernkucker da.«
»Wahrhaftig. Und auf 'ner Lafette. Komm.«
»Berliner«, flüsterte Rosa leise zu Gordon hinüber und rückte mehr seitwärts.
Aber sie gewann wenig durch diese Retraite, denn die Stimmen der jetzt abwechselnd in das Glas hineinschauenden beiden Freunde waren von solcher Berliner Schärfe, daß kein Wort von ihrer Unterhaltung verlorenging.
»Nu? hast du 'n?«
»Ja. Haben hab ich ihn. Und er kommt auch immer näher. Aber er wackelt so.«
»Denkt nicht dran. Weißt du, wer wackelt? Du.«
»Noch nich.«
»Aber bald.«
Und damit traten sie von dem Teleskop wieder unter die Halle zurück, wo sie sich nunmehr rasch zum Weitermarsch auf die eigentliche Roßtrappe hin fertigmachten.
Als sie fort waren, sagte Rosa: »Gott sei Dank. Ich ängstige mich immer so.«
»Warum?«
»Weil meine lieben Landsleute so sonderbar sind.«
»Ja sonderbar sind sie«, lachte Gordon. »Aber nie schlimm. Oder sie müßten sich in den letzten zehn Jahren sehr verändert haben.«
So plaudernd, wurde das Durchblättern der Mappe fortgesetzt, freilich unter sehr
verschiedener Anteilnahme. Der Oberst, ohne recht hinzublicken, beschränkte sich auf
einige wenige, bei solcher Gelegenheit immer wiederkehrende Bewunderungslaute,
während Cécile zwar hinsah, aber doch vorwiegend mit einem schönen Neufundländer
spielte, der, von ›Hotel Zehnpfund‹ her, der schönen Frau gefolgt war und, seinen
Kopf in ihren Schoß legend, mit unerschüttertem und beinah zärtlichem
Vertrauensausdruck auf die Zuckerstücke wartete, die sie ihm zuwarf. Nur Gordon war
bei der Sache, machte Bemerkungen, die zwischen Ernst und Scherz die Mitte
Rosa lachte. »Sie haben die Bilder von Wereschagin gesehen?«
»Freilich. Aber nur die Skizzen.«
»In Paris?«
»Nein, in Samarkand. Und dann später eine größere Zahl in Plewna.«
»Sie scherzen. Plewna, das möchte gehn, das glaub ich Ihnen. Aber Samarkand! Ich bitte Sie, Samarkand ist doch eigentlich bloß Märchen.«
»Oder schreckliche Wirklichkeit«, erwiderte Gordon. »Entsinnen Sie sich der samarkandischen Tempeltüren?«
»O gewiß. Eine Perle.«
»Zugestanden. Aber haben Sie nebenher auch die Tempelwächter mit Pfeil und Bogen in Erinnerung, die, der seltsam kriegerischsten Beschäftigung hingegeben (da, wo sich Krieg und Jagd berühren), in Front dieser berühmten Tempeltüren hockten? Ach, meine Gnädigste, glauben Sie mir, die Vorzüge jener Gegenden sind überaus zweifelhafter Natur, und ich bin alles in allem entschieden für Berlin mit einer ›Lohengrin‹- Aufführung und einem Souper bei Hiller. ›Lohengrin‹ ist phantastischer und Hiller appetitlicher. Und auch das letztere bedeutet viel, sehr viel. Namentlich auf die Dauer.«
Der Oberst nickte zustimmend, die Malerin aber wollte sich nicht gleich und jedenfalls nicht in allen Stücken gefangengeben und fuhr deshalb fort: »Es mag sein. Aber eines bleibt, die großartige Tierwelt: der Steppenwolf, der Steppengeier.«
»Im ganzen werden Sie die Bekanntschaft dieser liebenswürdigen Geschöpfe Gottes im
Berliner Zoologischen sichrer und kopierbarer machen als an Ort und Stelle. Die
Wahrheit zu gestehen, ich habe, während meines Trienniums in der Steppe, keinen
einzigen Steppengeier gesehen und sicherlich keinen, der
Und er wies auf einen Habicht, der sich, am Eingange der Schlucht, hoch in Lüften wiegte.
Rosa sah dem Fluge nach und bemerkte dann: »Er fliegt offenbar nach dem Hexentanzplatz hin.«
»Gewiß«, sagte Cécile, von Herzen froh, daß endlich ein Wort gefallen war, das sie der unheilvollen Mappe samt daran anknüpfenden kunstästhetischen oder gar erdbeschreiblichen Betrachtungen entzog. »Nach dem Hexentanzplatz! Ich höre das Wort immer wieder und wieder; heute schon zum dritten Male.«
»Was einer Mahnung, ihn zu besuchen, gleichkommt, meine gnädigste Frau. Wirklich, wir werden ihn über kurz oder lang sehen müssen, das schulden wir einem Harzaufenthalte. Denn allerorten, wo man sich aufhält, hat man eine Art Pflicht, das Charakteristische der Gegend kennenzulernen, in Samarkand« (und er verbeugte sich gegen Rosa) »die Tempeltüren und ihre Wächter, in der Wüste den Wüstenkönig und im Harze die Hexen. Die Hexen sind hier nämlich Landesprodukt und wachsen wie der rote Fingerhut überall auf den Bergen umher. Auf Schritt und Tritt begegnet man ihnen, und wenn man fertig zu sein glaubt, fängt es erst recht eigentlich an. Zuletzt kommt nämlich der Brocken, der in seinem Namen zwar alle hexlichen Beziehungen verschweigt, aber doch immer der eigentlichste Hexentanzplatz bleibt. Da sind sie zu Haus, das ist ihr Ur- und Quellgebiet. Allen Ernstes, die Landschaft ist hier so gesättigt mit derlei Stoff, daß die Sache schließlich eine reelle Gewalt über uns gewinnt, und was mich persönlich angeht, nun, so darf ich nicht verschweigen: als ich neulich, die Mondsichel am Himmel, das im Schatten liegende Bodetal passierte, war mir's, als ob hinter jedem Erlenstamm eine Hexe hervorsähe.«
»Hübsch oder häßlich?« fragte Rosa. »Nehmen Sie sich in acht, Herr von Gordon. In Ihrem Hexenspuk spukt etwas vor. Das sind die inneren Stimmen.«
»Oh, Sie wollen mir bange machen. Aber Sie vergessen,
»Ich kann Ihr Beispiel nicht gelten lassen«, lachte Rosa. »Zum mindesten beweist es ein gut Teil weniger, als Sie glauben. Es macht eben einen Unterschied, ob ein gefährlicher Ritter eine schöne Prinzessin oder ob umgekehrt eine gefährlich-schöne Prinzessin...«
»Was dem einen recht ist, ist dem andern billig.«
»Oh, nicht doch, Herr von Gordon, nicht doch. Einem armen Mädchen, Prinzessin oder nicht, wird immer geholfen, da tut der Himmel seine Wunder, interveniert in Gnaden und trägt das Roß, als ob es ein Flügelroß wäre, glücklich über das Bodetal hin. Aber wenn ein Ritter und Kavalier von einer gefährlich-schönen Prinzessin oder auch nur von einer gefährlich-schönen Hexe, was mitunter zusammenfällt, verfolgt wird, da tut der Himmel gar nichts und ruft nur sein aide toi même herunter. Und hat auch recht. Denn die Kavaliere gehören zum starken Geschlecht und haben die Pflicht, sich selber zu helfen.«
St. Arnaud applaudierte der Malerin, und selbst Cécile, die, beim Beginn des
Wortgefechts, ein leises Unbehagen nicht unterdrücken konnte, hatte sich, als ihr das
harmlos Unbeabsichtigte dieser kleinen Pikanterien zur Gewißheit geworden
»Die Roßtrappen-Prinzessin«, sagte der Oberst, »wenn sie sich nach dem Sprunge hat restaurieren wollen, hat es hoffentlich besser getroffen als wir. Aber« (und er verneigte sich bei diesen Worten gegen Rosa) »wir haben dafür etwas anderes vor ihr voraus, eine liebenswürdige Bekanntschaft, die wir anknüpfen durften.«
»Und die sich hoffentlich fortsetzt«, fügte Cécile mit großer Freundlichkeit hinzu. »Dürfen wir hoffen, Sie morgen an der Table d'hôte zu treffen?«
»Ich habe vor, meine gnädigste Frau, mich morgen in Quedlinburg umzutun, und möchte mein Reiseprogramm gern innehalten. Aber es würde mich glücklich machen, mich Ihnen für diesen Nachmittag anschließen zu dürfen und dann später vielleicht auf dem Heimwege.«
Dieser Heimweg wurde denn auch bald danach beschlossen, und zwar über die sogenannte »Schurre« hin, bei welcher Gelegenheit man den eigentlichen Roßtrappe-Felsen, also die Hauptsehenswürdigkeit der Gegend, mit in Augenschein nehmen wollte.
»Werden auch deine Nerven ausreichen?« fragte der Oberst, »oder nehmen wir lieber einen Tragstuhl? Der Weg bis zur Roßtrappe mag gehen. Aber hinterher die Schurre? Der Abstieg ist etwas steil und fährt in Kreuz und Rücken, oder um mich wissenschaftlicher auszudrücken, in die Vertebrallinie.«
Der schönen Frau blasses Gesicht wurde rot, und Gordon sah deutlich, daß es sie
peinlich berührte, den Schwächezustand ihres Körpers mit solchem Lokaldetail
behandelt zu sehen. Sie begriff St. Arnaud nicht, er war sonst so diskret.
So brach man denn auf und erreichte zunächst die Roßtrappe, die berühmte Felsenpartie, wo ganze Gruppen von Personen, aber auch einzelne, vor einer Erfrischungsbude standen und unter Lachen und Plaudern das Echo weckten – die meisten ein Seidel, andere, die dem Selbstbräu mißtrauten, einen Cognac in der Hand. Unter diesen waren auch unsere Berliner, die sich, als sich ihnen erst St. Arnaud mit der Malerin und dann Gordon mit der gnädigen Frau von der Seite her genähert hatten, anscheinend respektvoll zurückzogen, aber nur um gleich danach ihrem Herzen in desto ungenierterer Weise Luft zu machen.
»Sieh die Große«, sagte der ältere. »Pompöse Figur.«
»Ja; bißchen zu sehr Caroline Plättbrett.«
»Tut mir nichts.«
»Mir aber. Übrigens darum keine Feindschaft nich. Chacun à son goût. Und nun sage mir, wen lassen wir leben, den Stöpsel oder die Stricknadel?«
»Ich denke Berlin.«
»Das is recht.«
Und erfreut über das Aufsehen, das sie durch ihre vorgeschrittene Heiterkeit machten, stießen sie mit den Cognacgläschen zusammen.
Gordon bot Cécile den Arm und führte sie so geschickt bergab, daß die gefürchtete »Schurre« nicht nur ohne Beschwerde, sondern sogar unter Scherz und Lachen passiert wurde, wobei die schöne Frau mehr als einmal durch einen Anflug kleinen Übermuts überraschte.
Und wirklich, ehe noch das Hotel erreicht war, war auch schon eine von St. Arnaud gutgeheißene Verabredung getroffen, die Malerin am folgenden Tage nach Quedlinburg begleiten zu wollen. Cécile selbst hatte den Vorschlag dazu gemacht.
Ja, die nervenkranke Frau, die von ihrer Krankheit, und vor allem von einer Spezialisierung derselben, deren St. Arnaud sich schuldig gemacht hatte, nicht hören wollte, hatte sich tapfer gehalten; nichtsdestoweniger rächte sich, als sie wieder auf ihrem Zimmer war, das Maß von Überanstrengung, und ihren Hut beiseite werfend, streckte sie sich auf eine Chaiselongue, nicht schlaf-, aber ruhebedürftig.
Als sie sich wieder erhob, fragte St. Arnaud »ob man das Souper auf dem großen Balkon nehmen wolle?« Cécile war aber dagegen und sprach den Wunsch aus, daß man allein bleibe. Der Kellner brachte denn auch eine Viertelstunde später das Teezeug und schob den Tisch an das offene Fenster, vor dem, weit drüben und zu Häupten der Berge, die Mondsichel leuchtete.
Hier saßen sie schweigend eine Weile. Dann sagte Cécile: »Was war das mit dem Spottnamen, dessen das Fräulein heute nachmittag erwähnte?«
»Du hast nie von Rosa Bonheur gehört?«
»Nein.«
St. Arnaud lächelte vor sich hin.
»Ist es etwas, das man wissen muß?«
»Je nachdem. Meinem persönlichen Geschmacke nach brauchen Damen überhaupt nichts zu wissen. Und jedenfalls lieber zuwenig als zuviel. Aber die Welt ist nun mal, wie sie ist, auch in diesem Stück, und verlangt, daß man dies und jenes wenigstens dem Namen nach kenne.«
»Du weißt...«
»Ich lese viel.«
»Aber nicht das Rechte. Da hab ich neulich einen Blick auf deinen Bücherschrank geworfen und war halb erschrocken über das, was ich da vorfand. Erst ein gelber französischer Roman. Nun, das möchte gehen. Aber daneben lag: ›Ehrenström, ein Lebensbild, oder die separatistische Bewegung in der Uckermark‹. Was soll das? Es ist zum Lachen und bare Traktätchenliteratur. Die bringt dich nicht weiter. Ob deine Seele Fortschritte dabei macht, weiß ich nicht; nehmen wir an ›ja‹, so fraglich es mir ist. Aber was hast du gesellschaftlich von Ehrenström? Ehrenström mag ein ausgezeichneter Mann gewesen sein, ich glaub es sogar aufrichtig und gönn ihm seinen Platz in Abrahams Schoß, aber für die Kreise, darin wir leben oder doch wenigstens leben sollten, für die Kreise bedeutet Ehrenström nichts, Rosa Bonheur aber sehr viel.«
Sie nickte zustimmend und abgespannt, wie fast immer, wenn irgend etwas, das nicht direkt mit ihrer Person oder ihren Neigungen zusammenhing, eingehender besprochen wurde. Sie wechselte deshalb rasch den Gesprächsgegenstand und sagte: »Gewiß, gewiß, es wird so sein. Fräulein Rosa scheint übrigens ein gutes Kind und dabei heiter. Vielleicht ein wenig mit Absicht. Denn die Männer lieben Heiterkeit, und Herr von Gordon wird alles, nur keine Ausnahme sein. Es schien mir vielmehr, als ob er sich für das plauderhafte Fräulein interessiere.«
»Nein, es schien mir umgekehrt, als ob er sich für die Dame interessiere, die wenig sprach und viel schwieg, wenigstens solange wir oben auf der Roßtrappe waren. Und ich kenne wen, dem es auch so schien und der es noch besser weiß als ich.«
»Freilich. Wir kamen ja durch das Bodetal. Alles Wasser hier herum ist die Bode.«
»Wohl, ich entsinne mich. Und wie klar die Sichel da vor uns steht. Das bedeutet schönes Wetter für unsre Partie. Herr von Gordon ist ein vorzüglicher Reisemarschall. Er spricht nur zuviel über Dinge, die nicht jeden interessieren, über Steppenwolf und Steppengeier und, was noch schlimmer ist, über Bilder von unbekannten Meistern. Ich kann Bildergespräche nicht leiden.«
»Ah, Cécile«, lachte St. Arnaud, »wie du dich verrätst! Ich glaube gar, du verlangst, er soll, als ob er noch in Indien wäre, den Säulenheiligen spielen und zehn Jahre lang nichts als deinen Namen sprechen. Es erheitert mich. Eifersüchtig. Und eifersüchtig auf wen?«
Und nun kam der andre Tag.
Es war eine Früh- oder doch Vormittagspartie, darauf hatte Gordon bestanden, und ehe noch der nach Quedlinburg abdampfende Zug über die letzten Dorf-Villen und die schöne Blutbuche des am andern Flußufer gelegenen Baron Bucheschen Parkes hinaus war, sagte Cécile, während sie die kleinen Füße gegen den Rücksitz stemmte: »Jetzt aber das Programm, Herr von Gordon. Versteht sich, nicht zu lang, nicht zu viel! Nicht wahr, Fräulein Rosa?«
Diese stimmte zu, freilich mehr aus Artigkeit als aus Überzeugung, weil sie, nach Art aller Berlinerinnen, am Lerntrieb litt und nie genug hören oder sehen konnte. Gordon gab übrigens die Versichrung, es gnädig machen zu wollen. Es seien vier Dinge da, darum sich's lediglich handeln könne: das Rathaus, die Kirche, dann das Schloß und endlich der Brühl.
»Aber nicht in Quedlinburg, meine Gnädigste. Der Quedlinburger Brühl gibt sich ästhetischer und ist ein Tiergarten oder ein Bois de Boulogne mit schönen Bäumen und allerlei Bild- und Bauwerken. Carl Ritter, der berühmte Geograph, hat ein gußeisernes Denkmal darin und Klopstock ein Tempelchen mit Büste. Beide waren nämlich geborne Quedlinburger.«
»Also nach dem Brühl«, seufzte Cécile, die nicht den geringsten Sinn für Tempelchen und gußeiserne Monumente hatte. »Nach dem Brühl. Ist es weit von der Stadt?«
»Nein, meine gnädigste Frau, nicht weit. Aber weit oder nicht, wir können ihn fallenlassen, ich meine den Brühl, und auch das Rathaus, trotz seines steinernen Rolands und seines aus Brettern zusammengeschlagenen großen Kastens mit Vorlegeschloß, darin der Regensteiner, natürlich ein Buschklepper oder dergleichen, eine hübsche Weile gefangensaß.«
»Mit Vorlegeschloß«, wiederholte Cécile neugierig, die sich für den Regensteiner augenscheinlich mehr als für Klopstock interessierte. »Mit Vorlegeschloß. War es ein großer Kasten, darin man ihn einsperrte?«
»Nicht viel größer als eine Apfelkiste, weshalb mir auch, bei seinem Anblick, diese bevorzugten Versteckplätze meiner Jugend wieder in Erinnerung kamen, mit ihrem Glück und ihrem Grusel. Besonders mit ihrem Grusel. Denn wenn die Krampe zufiel und eingriff, so saß ich allemal voll Todesangst in dem stickigen Kasten, um kein Haarbreit besser als der Regensteiner. Aber der wirkliche Regensteiner (der übrigens kein Asthmatikus gewesen sein kann) ließ sich's, trotz Stickigkeit und Enge, nicht anfechten und steckte zwanzig Monate lang in dem Loch, ohne mehr Luft als die, die durch die spärlichen Ritzen eindrang. Und nur dann und wann kamen die Quedlinburger und wohl auch die Quedlinburgerinnen und sahen hinein und grinsten ihn an.«
»Und pikten ihn mit ihren Sonnenschirmen.«
»Ganz unzweifelhaft, meine gnädigste Frau. Zum mindesten
St. Arnaud, dem jedes Wort aus der Seele gesprochen war, nickte beifällig und wollte den ihm sympathischen Gegenstand eben mit einigen Bemerkungen seinerseits begleiten, als der Zug hielt und ein paar Coupétüren geöffnet wurden.
»Ist dies Quedlinburg?« fragte Cécile.
»Nein, meine gnädigste Frau, dies ist Neinstedt, eine kleine Zwischenstation. Hier ist der Lindenhof, und was dasselbe sagen will, hier wohnen die Nathusiusse.«
»Die Nathusiusse? Wer sind die?« fragten a tempo beide Damen.
»Eine Frage«, lachte Gordon, »die die betreffende Familie sehr übel vermerken würde. Die gnädige Frau, deren Protestantismus mir, Pardon, einigen kleinen Anzeichen nach einigermaßen zweifelhaft erscheint, hat Absolution. Aber Fräulein Rosa, Berlinerin, ah, ah...«
»Keine Reprimande, keine Spöttereien. Einfach Antwort: wer sind die Nathusiusse?«
»Nun denn, die Nathusiusse sind viel und vielerlei; sie sind, ohne die Frage damit
erschöpfen zu wollen, fromme Leute, literarische Leute, landwirtschaftliche Leute,
politische Leute. Bücher, Kreuz-Zeitung, Rambouillet-Zucht, alles kommt in der
Familie vor, und selbst die Geschichte von der aufgenommenen Stecknadel, die dann
schließlich den Aufnehmer zum Millionär umschuf, ist dem Ahnherrn der Nathusiusse
nicht erspart geblieben. Aber das bedeutet nichts, das ist eine alte Geschichte, denn
in wenigstens sechs großen Städten, in denen ich gelebt
Rosa wollte davon nichts wissen und stritt hartnäckig hin und her, bis das abermalige Halten des Zuges allem Streiten ein Ende machte.
»Quedlinburg, Quedlinburg!«
Und unsre Reisenden entstiegen ihrem Waggon und sahen dem Zuge nach, der sich, eine Minute später, rasch wieder in Bewegung setzte.
Die Sonne brannte heiß auf den Perron nieder, und Cécile, die, nach Art aller Nervösen, sehr empfindlich gegen extreme Temperaturverhältnisse war, suchte nach einer schattigen Stelle, bis Gordon endlich vorschlug, in die große Flurhalle des Bahnhofgebäudes eintreten und hier in aller Ruhe den in der Schwebe gebliebenen Schlachtplan feststellen zu wollen. Das geschah denn auch, und nachdem man, ebenso wie den Brühl, auch noch das Rathaus ohne lange Bedenken gestrichen hatte, kam man überein, sich an Schloß und Kirche genügen zu lassen. Beide, so versicherte Gordon, lägen dicht nebeneinander, und der Weg dahin, wenn man am Außenrande der Stadt bleibe, werde der gnädigen Frau nicht allzu beschwerlich fallen.
All das war rasch akzeptiert worden, die Damen nahmen noch ein Himbeerwasser, und
eine Minute später schritt man bereits, nach Passierung eines von einer wahren
Tropensonne beschienenen Vorplatzes, an der die Stadt in einem Halbbogen umfließenden
und an beiden Ufern von prächtig alten Bäumen überschatteten Bode hin. Das Wasser
plätscherte neben ihnen, die Lichter hüpften und tanzten um sie her, und mit Hülfe
kleiner
»Ei, das freut mich. Zucker-Millionäre! Wie hübsch das klingt.« Und dabei blieb sie stehen und sah, durch ein goldbronziertes Gitter, einen der breiten Gartenstege hinauf. »Das lila Beet da, das sind Levkojen, nicht wahr?«
»Und das rote«, fragte Rosa, »was ist das?«
»Das ist ›Brennende Liebe‹.«
»Mein Gott, so viel.«
»Und doch immer noch unter der Nachfrage. Muß ich Ihnen sagen, meine Gnädigste, wie stark der Konsum ist?«
»Ah«, sagte Cécile mit etwas plötzlich Aufleuchtendem in ihrem Auge, das dem sie scharf beobachtenden Gordon nicht entging und ihn, mehr als all seine bisherigen Wahrnehmungen, über ihre ganz auf Huldigung und Pikanterie gestellte Natur aufklärte. Der Eindruck, den er von diesem fein-sinnlichen Wesen hatte, war aber ein angenehmer, ihm überaus sympathischer, und eine lebhafte Teilnahme, darin sich etwas von Wehmut mischte, regte sich plötzlich in seinem Herzen.
Von der Stelle, wo man stand, bis zu dem hochgelegenen Stadtteile, der mit Schloß und
Kirche das ihm zu Füßen liegende Quedlinburg beherrscht, war nur noch ein kurzer Weg,
und ehe man hundert Schritte gemacht hatte, begann bereits die
»Das ist das Klopstock-Haus«, sagte Gordon und zeigte, seine Führerrolle wieder aufnehmend, auf ein etwas zur Seite gelegenes und beinah grasgrün getünchtes Haus mit Säulenvorbau.
»Das Klopstock-Haus?« wiederholte Cécile. »Sagten Sie nicht, es stände... Wie hieß es doch?«
»Im Brühl. Ja, meine gnädigste Frau. Aber da läuft eine kleine Verwechslung mit unter. Was im Brühl steht, das ist das Klopstock-Tempelchen mit der Klopstock-Büste. Dies hier ist das eigentliche Klopstock-Haus, das Haus, darin er geboren wurde. Wie gefällt es Ihnen?«
»Es ist so grün.«
Rosa lachte lauter und herzlicher, als die Schicklichkeit gestattete, sofort aber wahrnehmend, daß Cécile sich verfärbte, lenkte sie wieder ein und sagte: »Pardon, aber Sie haben mir so ganz aus der Seele gesprochen, meine gnädigste Frau. Wirklich, es ist zu grün. Und nun excelsior! Immer höher hinauf. Sind es noch viele Stufen?«
Unter solchem Gespräch erstiegen alle das noch verbleibende Stück Weges, eine gepflasterte Treppe, deren Seitenwände dicht genug standen, um gegen die Sonne Schutz zu geben.
Und nun war man oben und freute sich, aufatmend, der Brise, die ging. Der Platz, den
man erreicht hatte, war ein mäßig breiter, Schloß und Abteikirche voneinander
scheidender Hof, der, außer den auf ihm lagernden Schatten und Lichtern, nichts als
zwei Männer zeigte, die, wie Besuch erwartende Gastwirte, vor ihren zwei Lokalen
standen. Wirklich, es waren
Besichtigung von Schloß und Kirche, so lautete das Programm, das stand fest, und daran war nicht zu rütteln. Aber was noch schwebte, war die Prioritätsfrage. Gordon und St. Arnaud sahen sich also fragend an. Endlich entschied der Oberst mit einem Anfluge von Ironie dahin, daß Herrendienst vor Gottesdienst gehe, welchem Entscheide Gordon in gleichem Tone hinzusetzte: »Preußen-Moral! Aber wir sind ja Preußen.«
Und so wandte man sich denn rasch entschlossen dem Kastellan zu, freilich nicht ohne sein Vis-à-vis, den nach links hin stehenden Küster, mit einem hoffnunggebenden Gruße gestreift zu haben. Er verneigte sich denn auch in Erwiderung darauf verbindlich lächelnd und schien alles in allem nicht unzufrieden über diesen Gang der Dinge. Denn unten in der Stadtkirche läuteten eben die Mittagsglocken, und etwas Bratwurstartiges, das von der Küche her durch die Luft zog, ließ das »In die zweite Linie gestellt werden« fast als einen Vorzug erscheinen.
Unter diesen Vorgängen, die nur von Rosa scharf beobachtet und mit Künstlerauge
gewürdigt worden waren, waren alle vier in den Schloßflur eingetreten, an dem
respektvoll die Honneurs machenden Kastellan vorüber. Dieser, ein freundlicher und
angenehmer Mann, nahm durch seine Freundlichkeit sofort für sich ein, fiel aber
andererseits durch ein unsichres und fast ein schlechtes Gewissen verratendes
Auftreten einigermaßen auf, ganz wie jemand, der Lotterielose feilbietet, von denen
er weiß, daß es Nieten sind. Und wirklich, sein Schloß konnte, durch alle Räume hin,
als eine wahre Musterniete gelten. Was es vordem an Kostbarkeiten besessen hatte, war
längst fort, und so lag ihm, dem Hüter ehemaliger Herrlichkeit, nur ob, über Dinge zu
sprechen, die nicht mehr da waren. Eine nicht leichte Pflicht. Er unterzog sich
derselben aber mit vielem Geschick,
Rosa, deren Wißbegier auf ganze Säle voll Rubens' und Snyders', voll Wouvermans und Potters rechnete, hielt sich selbstverständlich unausgesetzt in der Nähe des Kastellans und mühte sich, durch allerlei klug gestellte Fragen seine besondre Teilnahme zu wecken.
»Und in diesen Räumen also haben die Quedlinburger Äbtissinnen residiert?« begann sie mit erheucheltem Interesse, denn es lag ihr ungleich mehr an Bärenhatz und Sechzehnendern als an Porträts mit Pompadourfrisuren. »In diesen Räumen also...«
»Ja, meine gnädigste Frau«, antwortete der Kastellan, der unsre Freundin um ihres muntern Wesens und vielleicht auch um ihres Embonpoints willen für eine glücklich verheiratete Dame nahm. »Ja, meine gnädigste Frau, wirklich residiert, das heißt mit Hofstaat und Krone. Denn die Quedlinburger Äbtissinnen waren nicht gewöhnliche Kloster-Äbtissinnen, sondern Fürst-Abbatissinnen und saßen von Mechtildis, Schwester Ottos des Großen, an bei den Reichsversammlungen auf der Fürstenbank. Und hier im Schlosse war auch der Thronsaal. Es ist der Saal nebenan, in welchem ich die gnädige Frau vorweg bitten möchte, die roten Damasttapeten beachten zu wollen. Es ist Damast von Arras.«
Und damit traten alle, von einem kleinen, bis dahin besichtigten Vorzimmer her, in den großen Thronsaal ein, in welchem, neben der so ruhmvoll erwähnten Damasttapete, nur noch der getäfelte Fußboden an die frühere Herrlichkeit erinnerte.
Rosa sah sich verlegen um, was dem Führer nicht entging, weshalb er seinen Vortrag
rasch wieder auf nahm, um durch Erzählungskunst den absoluten Mangel an
Sehenswürdigkeiten
»Ah«, sagte Rosa, »mit zwei Kelchen und einem Pokal... Sehr interessant.«
»Und hier«, fuhr der Kastellan, während er auf einen großen, aber leeren Goldrahmen zeigte, mit einer immer volltönender und beinah feierlich werdenden Stimme fort, »hier in diesem Goldrahmen befand sich die Hauptsehenswürdigkeit des Schlosses: der Spiegel aus Bergkristall. Der Spiegel aus Bergkristall, sag ich, der sich zurzeit in den skandinavischen Reichen, und zwar in dem Königreiche Schweden, befindet.«
»In Schweden?« wiederholte St. Arnaud. »Aber wie kam er dahin?«
»Auf Umwegen und durch allerlei seltsame Schicksale«, nahm der Kastellan seinen historischen Vortrag wieder auf. »Unsre letzte Fürst-Abbatissin war nämlich eine Prinzessin von Schweden, Josephine Albertine, Tochter der Königin Ulrike, Schwester Friedrichs des Großen. Über zwanzig Jahre hatte Josephine Albertine hier glänzend und segensreich residiert und sich an dem Kristallspiegel, der ihr Stolz und ihr Lieblingsstück war, erfreut, als diese Gegenden eines Tages westfälisch wurden und unter König Jerome kamen. Da mußte sie sich trennen von ihrem Schloß, samt allem, was darinnen war, und natürlich auch von ihrem Spiegel. Denn es ward ihr kaum Zeit gelassen zum Notwendigsten, geschweige zum Einpacken und Mitnehmen dessen, was das Nebensächliche, wenn auch freilich für sie das Liebste war.«
»Und was wurde?«
»Nun, König Jerome, der, wegen dem ewigen ›Morgen wieder lustik sein‹, sehr viel Geld
brauchte, stand alsbald vor der Notwendigkeit, das ganze Schloßinventar unter den
Hammer zu bringen, und eines Tages hieß es in allen Zeitungen, deutschen
»Allerliebst«, sagte St. Arnaud. »Im ganzen genommen ist mir die Geschichte lieber als der Spiegel«, eine Meinung, die von Gordon und Rosa vollkommen, keineswegs aber von Cécile geteilt wurde. Diese hätte sich gern in dem Kristallspiegel gesehen und war während der zweiten Hälfte der ihr viel zu weit ausgesponnenen Erzählung an ein offenstehendes Balkonfenster getreten, das nicht nur einen Blick auf das Gebirge, sondern auch auf die weiten Gartenanlagen hatte, die sich, im Halbkreis, um die Schloßfundamente herumzogen. In diesen Gartenanlagen wechselten Strauchwerk und Blumenterrassen; was aber das Auge Céciles bald ausschließlich in Anspruch nahm, war ein Sandsteinobelisk von mäßiger Höhe, der, halb in dem Schloßunterbau drinsteckend, hautreliefartig aus einer alten Mauerwand vorsprang. Der Sockel war mit Girlanden ornamentiert und schien auch eine Inschrift zu haben.
»Was ist das?« fragte Cécile.
»Ein Grabstein.«
»Von einer Äbtissin?«
»Nein, von einem Schoßhündchen, das Anna Sophie, Pfalzgräfin von bei Rhein und vorletzte Fürst-Abbatissin, an dieser Stelle beisetzen ließ.«
»Sonderbar. Und mit einer Inschrift?«
»Zu dienen«, antwortete der Kastellan.
Gordon lachte herzlich. »Denkmal für Hundetreue! Brillant. Wie sähe die Welt aus, wenn jedem treuen Hunde ein Obelisk errichtet würde. Ganz im Stil einer Barockprinzessin.«
Rosa stimmte zu, während Cécile verwirrt vom Fenster zurücktrat und mechanisch und ohne zu wissen, was sie tat, an die Wandstelle klopfte, wo der Kristallspiegel seinen Platz gehabt hatte.
»Was haben wir noch zu gewärtigen?« fragte Gordon.
»Die Zimmer Friedrich Wilhelms IV.«
»Friedrich Wilhelms IV.? Wie kam der hierher?«
»In den ersten Jahren seiner Regierung erschien er jeden Herbst, um von hier aus die großen Harzjagden abzuhalten. Als aber Anno 48 die Jagdfreiheit aufkam und Stadt und Bürgerschaft ihm die Jagd verweigerten, wurd er so verstimmt, daß er nicht wiederkam.«
»Was ich nur in der Ordnung finde. Bourgeoismanieren. Aber nun die Zimmer.«
Und damit traten sie, vom Thronsaal her, in ein paar niedrige, mit kleinen Mahagonimöbeln ausgestattete Räume, deren Spießbürgerlichkeit nur noch von ihrer Langweil übertroffen wurde.
Rosa sah ihre Hoffnung auf große Tierstücke mehr und mehr hinschwinden, hielt aber eine darauf gerichtete Frage immer noch für zulässig.
Freilich erfolglos.
»Tierstücke«, antwortete der Kastellan in einem Tone, darin unsere Künstlerin eine
kleine Spitze zu hören glaubte, »Tierstücke haben wir in diesem Schlosse nicht. Wir
haben nur Fürst-Abbatissinnen. Aber diese haben wir auch vollständig. Und außerdem
die Quedlinburger Geistlichen lutherischer Konfession (ebenfalls beinah vollständig),
deren einer, altem Herkommen
Dabei wies er auf das Bild einer mittelalterlichen Dame mit großer Kurfürsten-Nase, Stirnlöckchen und Agraffenturban, aus deren ganz ungewöhnlicher Stattlichkeit sich die vom Kastellan nur leis angedeuteten Anfechtungen ihres Seelsorgers unschwer erklären ließen.
Einige der Bilder kehrten mehrfach wieder, was die Zahl der Äbtissinnen größer erscheinen ließ, als sie tatsächlich war. Rosa drang darauf, die Namen zu hören, aber es waren tote Namen, einen ausgenommen, den der Gräfin Aurora von Königsmark.
Und vor das Porträt dieser traten jetzt alle mit ganz ersichtlicher Neugier, ja, Cécile – die, vor kaum Jahresfrist, einen historischen Roman, dessen Heldin die Gräfin war, mit besonderer Teilnahme gelesen hatte – war so hingenommen von dem Bilde, daß sie von der Unechtheit desselben nichts hören und alle dafür beigebrachten Beweisführungen nicht gelten lassen wollte.
Gordon, als er sah, daß er nicht durchdränge, wandte sich um Sukkurs an Rosa. »Helfen Sie mir. Die gnädigste Frau will sich nicht überzeugen lassen.«
Rosa lachte. »Kennen Sie die Frauen so wenig? welche...«
»Wohl, Sie haben recht. Und am Ende, wer will an Bildern Echtheit oder Unechtheit beweisen? Aber zweierlei gilt auch ohne Beweis.«
»Und das wäre?«
»Nun, zunächst das, daß es nichts Toteres gibt als solche Galerie beturbanter alter Prinzessinnen.«
»Und dann zweitens?«
»Ei, wie tugendhaft Sie sind«, lachte Rosa. »Doch Sie täuschen mich nicht, Herr von Gordon. Es ist ein alter Satz, je mehr Don Juan, je mehr Torquemada.«
Cécile schwieg und ließ sich, wie gelähmt, in einen in einer tiefen Fensternische stehenden Sessel nieder. St. Arnaud, der wohl wußte, was in ihr vorging, öffnete den einen der beiden Flügel und sagte, während die frische Luft einströmte »Du bist angegriffen, Cécile. Ruh dich.«
Und sie nahm seine Hand und drückte sie wie dankbar, während es vor Erregung um ihre Lippen zuckte.
Cécile erholte sich rascher als erwartet von dieser Anwandlung, und die weitere Besichtigung des Schlosses und bald danach auch der Abteikirche verlief zu allseitiger Zufriedenheit, ganz besonders auch zur Freude Céciles. Ja, sie war durch den Besuch der prächtig kühlen Kirche so gekräftigt und erfrischt worden, daß man auf ihren Vorschlag das Programm überschritt und guten Mutes die schon aufgegebene Partie nach dem Rathause machte, wo man erst den Roland und gleich danach das Gefängnis des Regensteiners bewunderte. Daran schloß sich dann unmittelbar ein ziemlich mittägliches Frühstück an Ort und Stelle. Kulmbacher Bier, wofür das Rathaus ein Renommee hatte, wurde bestellt, und Cécile war entzückt, als der Wirt die schäumenden und frisch beschlagenen Seidel brachte. »Wieviel schöner doch als eine Table d'hôte«, sagte sie. »Pierre, votre santé... Fräulein Rosa, wohl bekomm's... Herr von Gordon, Ihr Wohl.« Und während sie so plauderte, stieß sie mit ihrem Seidel an, sprach von dem Regensteiner, der es achtzehn Monate lang nicht voll so gut gehabt habe, und war überhaupt wie ein Kind. Nur als die Malerin auf die Bilder der Äbtissinnen zurückkam und bei der Gelegenheit bemerkte, daß auch noch im Rathaussaale (wie der Herr Wirt ihr eben verraten) ein Bild der schönen Aurora sei, »besser und jedenfalls echter als das im Schloß«, brach Cécile rasch ab und sagte verstimmt und in beinahe heftigem Tone: »Bilder und immer wieder Bilder. Wozu? Wir hatten mehr als genug davon.«
Gegen fünf Uhr war man in Thale zurück, und Cécile, die sich nach Ruhe sehnte, verabschiedete sich für den Rest des Tages. »Bis auf morgen, Fräulein Rosa; bis auf morgen, Herr von Gordon.«
Und dieser Morgen war nun da.
Gordon, der am Abend vorher noch einem Konzert auf dem Hubertusbade beigewohnt und
bei dieser Gelegenheit eine halbe Stunde lang mit der Malerin über Samarkand und
Wereschagin,
»Clothilde muß von ihr wissen«, sprach er vor sich hin. »Und wenn sie nichts weiß, so
doch von ihr hören können. Liegnitz ist just der Ort dazu, nicht zu groß und nicht zu
klein, und was das Regiment nicht weiß, das weiß die Ritter-Akademie.
Und bei diesem Selbstgespräche die Havanna aus der Hand legend, nahm er ein Couvert und adressierte mit großer Handschrift: »Dem Fräulein Clothilde von Gordon-Leslie, Liegnitz, Am Haag 3 a.« Dann schob er das Couvert wieder zurück, legte sich zwei kleine Bogen mit ›Hexentanzplatz‹ und ›Roßtrappe‹ zurecht und schrieb:
»Meine liebe Clotho. Genau vier Wochen heute, daß ich mich von Dir und Elsy verabschiedete. Vier Wochen fort aus Eurem traulichen Heim, aber erst seit einer Woche hier, weil ich, als ich von Liegnitz nach Berlin zurückkehrte, Briefe vorfand, die mich in geschäftlichen Angelegenheiten erst nach Hamburg und dann nach Bremen führten. Um Euch wenigstens eine Andeutung zu machen, es handelt sich abermals um Legung eines Kabels. Von Bremen dann hierher, nach Thale, Thale am Harz, und nicht zu verwechseln mit einem gleichnamigen Kurort in Thüringen.
Es gereut mich nicht, diesen entzückenden Platz mit seiner erfrischenden und
stärkenden Luft gewählt zu haben, denn Luft ist kein leerer Wahn, was der am besten
weiß, der ihre mannigfachen Arten an sich selber erprobt hat. Wir gehen einer totalen
Reform der Medizin oder doch zum mindesten der Heilmittellehre entgegen, und die
Rezepte der Zukunft werden lauten: drei Wochen Lofoten, sechs Wochen Engadin, drei
Monate Wüste Sahara. Ja, selbst Malaria-Gegenden werden in kleinen Dosen verordnet
werden, etwa wie man jetzt Arsenik gibt. Die große Wirkung der Luftheilmethode liegt
in
Ein gut Teil dieser Heilmethode hab ich auch hier, und so fühl ich denn mehr und mehr die Verstimmung von mir abfallen, die mich, ohne rechten Grund, seit lange quälte. Nur bei Euch war ich frei davon. Die Partien und Ausflüge liegen hier wie vor der Tür, und so sieht man sich in der angenehmen Lage, Naturschönheit ohne jede Müh und Anstrengung genießen zu können. Daß es eine Schönheit kleineren Stils ist, schadet wenig. Ich bin oft genug bis 20 000 Fuß hoch umhergeklettert, um jetzt mit 2 000 vollkommen zufrieden, ja sogar eigens dankbar dafür zu sein. Ich liebe Weltreisen und möchte sie, wiewohl ich fühle, daß die Passion nachläßt, auch für die Zukunft nicht missen, aber ich bin andererseits kein Freund von Strapazen als solchen, und je bequemer ich den Kongo hinauf- oder hinunterkomme, desto besser. Ökonomie der Kräfte.
Doch was Kongo! Vorläufig heißt meine Welt noch Thale, ›Hotel Zehnpfund‹, ein wundervoller Hotelname, bei dem man sich, wie auf dem Bilde ›Wo speisen Sie?‹, förmlich arrondieren fühlt und der sofort die Vorstellung weckt: hier ist es gut sein.
Und diese Vorstellung täuscht auch nicht. Es ist hier in der Tat gut sein,
appetitlich und unterhaltlich, letzteres besonders seit drei Tagen, wo sich, durch
Eintreffen neuer Gäste, die Table d'hôte belebt hat. Unter diesen Gästen ist ein
alter Emeritus, mit dem ich mich gleich anfänglich anfreundete, seit Dienstag aber
hat er vor einer neuen Bekanntschaft einigermaßen zurücktreten müssen: Oberst St.
Arnaud und Frau. Er, trotzdem er ›a. D.‹ ist (nicht bloß ›zur Disposition‹),
Gardeoffizier from top to toe, sie, trotz eines languissanten Zuges, oder vielleicht
auch um desselben willen, eine Schönheit ersten Ranges. Wundervoll geschnittenes
Profil, Gemmenkopf. Ihre Augen stehen scharf nach innen, wie wenn sie sich suchten
und lieber sich selbst als die Außenwelt sähen – eine Besonderheit, die, von
Splitterrichtern, sehr wahrscheinlich ihrer Schönheit zum Nachteil angerechnet und
mit einem ziemlich prosaischen
Vor allem jedoch, wer ist Cécile? Dies ist nämlich ihr Name. Woher stammt sie? Brüssel, Aachen, Sacré cœur, so schoß es mir durch den Kopf, als ich sie zum ersten Male sah, aber dies alles war ein Irrtum. Ich finde, sie schlesiert ein wenig, und so wird es Dir, wenn ich darin recht habe, nur um so leichter sein, meine Neugier zu befriedigen.
Meine Neugier? Ich würde Dir von einem tieferen Interesse sprechen, wenn ich nicht fürchten müßte, diesen Ausdruck mißverstanden zu sehen. Sie hat offenbar viel erfahren, Leid und Freud, und ist nicht glücklich in ihrer Ehe, trotzdem sie dem Obersten, ihrem Gemahl, in einzelnen Momenten etwas wie Dank oder selbst wie Hingebung und Herzlichkeit zeigt. Aber es sind immer nur Momente, wo sie nach einem Halt sucht und diesen Halt in ihm zu finden glaubt. Also, wenn Du willst, eine Neigung mehr aus Schutzbedürfnis als aus Liebe. Mitunter auch aus bloßer Caprice.
Ja, sie hat Capricen, was an einer schönen Frau nicht sonderlich
Und nun tue das Deine. Deiner Antwort sehe ich noch hier entgegen, und zwar binnen einer Woche. Wird es später, so nach Berlin poste restante. Zu ›postlagernd‹ hab ich mich noch nicht bekehren können. Und nun Dir und meiner teuren Elsy Gruß und Kuß. Wie immer Dein Dich herzlich liebender
Robert v. G. L.«
Gordon überflog den Brief noch einmal und war mit seiner Charakteristik Céciles zufrieden, aber nicht so mit dem, was er über St. Arnaud geschrieben hatte. Der war offenbar zu kurz gekommen, was ihn bestimmte, noch ein paar Worte hinzuzufügen.
»Eben, meine liebe Clotho« (so kritzelte er an den Rand), »hab ich mein langes
Skriptum noch einmal durchgelesen und finde, daß St. Arnauds Bild der Retouche
bedarf. Es wird dadurch freilich mehr an Richtigkeit als an Liebenswürdigkeit
Dein Roby.«
Und nun schob er den Brief ins Couvert und ging in das Lesezimmer, um sich in die »Times« zu vertiefen, die zu lesen ihm, seit seinen indisch-persischen Tagen, ein Bedürfnis war.
Um dieselbe Stunde, wo Gordon den Brief schrieb, machte das St. Arnaudsche Paar, wie täglich nach dem Frühstück, seinen Morgenspaziergang. Als sie die große Parkwiese zweimal umschritten hatten, war Cécile müde geworden und nahm auf einer von Flieder und Goldregen überwachsenen Bank Platz, die zum großen Teil im Schatten lag. Es war eine lauschige Stelle, vormittags die schönste der ganzen Anlage, von der aus man nicht bloß die vorgelegene bewaldete Gebirgswand, sondern auch den Hexentanzplatz und die Roßkappe mit ihren in der Sonne blitzenden Hotels übersehen konnte. Die Luft stand, und nur dann und wann fuhr ein Windstoß durch die Stille.
Cécile, die den schattigsten Platz hatte, zog den Sonnenschirm ein und sagte: »Gewiß,
ich finde das Fräulein sehr unterhaltlich, aber doch etwas emanzipiert oder, wenn
dies
»Wohl ihr.«
»Ja«, beharrte Cécile. »Wohl ihr. Wenn nur nicht das Gerede der Leute wäre.«
»Das Gerede der Leute«, wiederholte St. Arnaud spöttisch das ihn allemal nervös machende Wort. Aber Cécile, die sonst ein scharfes Ohr für diesen Ton hatte, hörte heute darüber hin, und mit ihrem Sonnenschirm auf einen Hausgiebel zeigend, der in geringer Entfernung aus einer Baumgruppe hervorragte, sagte sie: »Das ist das Hubertusbad, nicht wahr? Wie verlief eigentlich das gestrige Konzert? Ich hatte das Fenster auf und hörte noch die Schlußpiece ›Komm in mein Schloß mit mir‹. Wenn ich mir Rosa als Zerline denke.«
»Und Cécile als Donna Elvira.«
Sie lachte herzlich, denn der Ton, in dem St. Arnaud dies sagte, klang durchaus liebenswürdig und jedenfalls ebenso frei von Gereiztheit wie Tadel. »Donna Elvira«, wiederholte sie. »Die Rolle der Verschmähten! Wirklich, es wäre die letzte meiner Passionen, und wenn ich mich da hineindenke, so muß ich dir offen gestehen, es gibt doch allerlei Dinge...«
»Die noch schwerer zu tragen sind als die, die wir tragen müssen. Ja, Cécile, sprich es nur aus. Und du solltest dich jeden Tag daran erinnern. Freilich ist es leichter, die Wahrheit zu predigen, als danach zu handeln. Aber wir sollten es wenigstens versuchen.«
Jedes dieser Worte tat ihr wohl, und in einem flüchtigen Zärtlichkeitsanfluge sich an ihn lehnend, sagte sie: »Wie du nur sprichst. Als ob ich eine Neigung hätte, den Kopf hängen zu lassen. Und du weißt doch das Gegenteil. Ach, Pierre, wir hätten uns statt der großen Stadt einen stillen Platz suchen sollen, da wär uns manch Bitteres erspart geblieben. Einen stillen Platz oder lieber gleich ein paar, um mit ihnen wechseln zu können. Wie leicht und gefällig macht sich hier das Leben. Und warum?
»Und doch hat das ›Leben aus dem Koffer‹ auch seine schweren Bedenken. Man findet nicht jeden Tag einen perfekten Kavalier, der die Tugenden unsrer militärischen Erziehung mit weltmännischem Blick vereinigt. Du weißt, wen ich meine. Welche Fülle von Wissen, und dabei absolut unrenommistisch. Er hat einen entzückenden Ton; es klingt immer, als ob er sich geniere, viel erlebt zu haben.«
Sie nickte zustimmend und fuhr dann ihrerseits fort: »Du hast gestern, als ihr gemeinschaftlich das Fräulein vom Konzert her bis an das Hotel zurückführtet, noch ein Gespräch mit Herrn von Gordon gehabt. Ich stand am Fenster und sah euch den Kiesweg auf und ab promenieren. Erzähle. Du weißt, ich bin eigentlich nicht neugierig, aber wenn ich es bin...«
»Dann?«
»Dann de tout mon cour. Also was ist es mit ihm? Warum ging er in die weite Welt? Ein Mann von so guter Erscheinung und Familie, denn die Schotten sind alle von guter Familie. Wir hatten unter den Kavalieren am Hofe... Daher meine Kenntnis. Mir liegt sonst die Prätension fern, über schottische Familien unterrichtet zu sein. Also warum trat er aus der Armee?«
St. Arnaud lachte. »Meine liebe Cécile, du gehst einer grausamen Enttäuschung entgegen. Er schied aus der Armee...«
»Nun?«
»Einfach Schulden halber. In diesem Punkte beginnt seine Laufbahn als chevalier
errant so trivial wie möglich. Er stand erst bei den Pionieren in Magdeburg, dann bei
dem Eisenhahn-Bataillon unter Golz, einer Truppe, die sonst viel zu klug und zu
gescheit ist, um sich durch Schuldenmachen auszuzeichnen. Aber jede Regel hat ihre
Ausnahme. Kurzum, er konnte sich nicht halten und übersiedelte, wenn sich in solcher
Lage von Übersiedlung sprechen läßt, nach England, woselbst er seine
»Nur weiter.«
»Etwas später trat er in persischen und, nach Beendigung einer unter seiner Oberleitung hergestellten Telegraphenverbindung zwischen den zwei Hauptstädten des Landes, in russischen Dienst. Es war gerade die Zeit, als Skobeleff, dessen du dich von Warschau her erinnern wirst, vor Samarkand seine Triumphe feierte. Später, als der Kriegsschauplatz wechselte, war er mit demselben General vor Plewna. Der wachsende Haß der Russen aber gegen alles Deutsche hat ihm schließlich den Dienst verleidet; er nahm den Abschied und hat das Glück gehabt, alte Beziehungen wieder anknüpfen zu können. Er ist in diesem Augenblicke Bevollmächtigter derselben englischen Firma, in deren Dienst er seine Laufbahn begann, und gerade jetzt mit einer geplanten neuen Kabellegung in der Nordsee beschäftigt. Hat aber den lebhaften Wunsch, in preußischen Dienst zurückzutreten, was ihm, bei Protektion an hoher Stelle, deren er sich erfreut, ganz zweifellos gelingen wird.«
»Und das ist alles?«
»Aber Cécile...«
»Du hast recht«, lachte sie. »Buntes Leben genug. Und doch find ich wirklich, daß einen Draht oder ein Kabel an einer mir unbekannten Küste zu legen (und welche Küste wäre mir nicht unbekannt) schließlich ebenso trivial ist wie Schuldenmachen.«
»Da bin ich doch neugierig, zu hören, was du geneigt sein möchtest, nicht trivial zu finden.«
»Nun beispielsweise den Regensteiner. Der ist doch um vieles romantischer. Und wenn es der Regensteiner nicht sein kann, nun denn, Abenteuer, Tigerjagd, Wüste. Verirrungen...«
»Beide.«
»Nun, wer weiß, was er davon noch in petto hat. Er konnte mich doch nicht gleich in seine letzten Intimitäten einweihen. Aber sieh nur...«
Und ein Windstoß, der eben in das große, mit Zentifolien dicht besetzte Rondel gefahren war, trieb eine Wolke von Rosenblättern auf Cécile zu.
»Sieh nur«, wiederholte der Oberst, und im selben Augenblicke sanken die herangewehten Blätter, denen das Fliedergebüsch den Durchgang wehrte, zu Füßen der schönen Frau nieder.
»Ah, wie schön«, sagte Cécile. »Das ist mir eine gute Vorbedeutung.«
Und sie bückte sich nach einem der Blätter, um es auf ihre Lippen zu legen. Dann aber erhob sie sich und schritt, in guter Laune St. Arnauds Arm nehmend, auf das Hotel zu.
Es war noch eine gute Weile bis Mittag. St. Arnaud, der die Kartenpassion hatte, beabsichtigte, sich in eine Harz-Karte zu vertiefen, Cécile dagegen wollte ruhen und zog, als sie sich auf die Chaiselongue gestreckt hatte, den über ihre Füße gebreiteten Shawl höher hinauf und sagte: »Wecke mich, Pierre. Nicht länger als zehn Minuten.« Und gleich danach schlief sie, die linke Hand unter dem schönen Kopf, während ihre Rechte noch das Tuch hielt. –
Zwei Stunden später erschien man an der Table d'hôte, wo der die Neigungen und
Wünsche seiner Gäste beständig scharf im Auge habende Wirt eine Neuplacierung hatte
stattfinden lassen. Die St. Arnauds saßen an alter Stelle, Gordon aber, statt
gegenüber von Cécile, war links neben diese gesetzt worden, während der Emeritus den
erledigten Vis-à-vis-Platz und der in seiner Erscheinung etwas aufgebesserte
Privatgelehrte
»Aber ich schwatze soviel«, unterbrach er sich plötzlich selbst, »und versäume
darüber die Hauptsache, die, mich nach dem Befinden der gnädigen Frau zu erkundigen,
das mir, auf der Rückfahrt, in der Tat ernstlich gefährdet erschien, denn ich
entsinne mich nicht, etwas Ähnliches von Zug erlebt zu haben, nicht einmal auf
amerikanischen Bahnen, die bekanntlich in ›frischer Luft‹ ein Äußerstes tun. Oh, wie
haß ich diese großen Salonwagen, wo jede Vorsicht, auch die sorglichste, scheitert,
weil einem das eine geschlossene Fenster, auf das man einen reglementsmäßigen
Anspruch hat, zu rein gar nichts hilft – man bleibt eben immer noch im Kreuzfeuer von
sechs anderen, die sich der Kontrolle durch allerhand Zwischenbauten entziehen,
»Und doch weiß ich nicht«, sagte St. Arnaud, »ob sein Antagonist, der Ventilations-Hasser, nicht vielleicht noch schlimmer ist als der Ventilations-Enthusiast.«
»Aufs letzte hin angesehen, also Extrem gegen Extrem, ganz unbedingt. Zuviel Luft ist immer besser als zuwenig. Aber sehen wir von solch äußersten Fällen ab, so geb ich dem Ventilationsfeinde den Vorzug. Er mag ebenso lästig sein wie sein Gegner, ebenso gesundheitsgefährlich oder meinetwegen auch noch mehr; aber er ist nicht so beleidigend. Der Ventila tions-Enthusiast brüstet sich nämlich beständig mit einem Gefühl unbedingter Superiorität, weil er, seiner Meinung nach, nicht bloß das Gesundheitliche, sondern auch das Sittliche vertritt. Das Sittliche, das Reine. Der, der sämtliche Fenster aufreißt, ist allemal frei, tapfer, heldisch, der, der sie schließt, allemal ein Schwächling, ein Feigling, un lâche. Und das weiß der unglückliche Fensterschließer auch, und weil er es weiß, geht er ängstlich und heimlich vor, so heimlich, daß er mit Vorliebe den Moment abwartet, wo sein Widerpart zu schlafen scheint. Aber dieser Widerpart schläft nicht, und mit jenem nie versagenden Mut, den eben nur die höhere Sittlichkeit gibt, springt er auf, läßt seine Zornader anschwellen und schleudert das Fenster wieder nieder, genauso wie der dicke kleine Herr gestern. Sie können zehn gegen eins wetten, der Antagonist von Zug und Wind ist immer voll Timidität, der Enthusiast aber (und das ist schlimmer) voll Effronterie.«
»Sehr gut«, stimmte der Emeritus ein.
»Aber«, fuhr Gordon fort, »da kommen Forellen, meine gnädigste Frau. Das ist denn
doch wichtig genug, um unsre Streitfrage wenigstens momentan ruhen zu lassen. Darf
ich
»Was ich mich zuzugestehen gedrungen fühle«, sagte der Langhaarige mit stark wissenschaftlicher Betonung. »Aber, so Sie gestatten, zugleich unter Konstatierung gelegentlicher Ausnahmen. Das deutsche Märchen, über dessen Abstammung zu sprechen uns hier zu weit führen würde... Darf ich mich Ihnen vorstellen? Eginhard Aus dem Grunde... das deutsche Märchen kennt von ältester Zeit her ein ideales Pfefferkuchenhaus, ein Pfefferkuchenhaus nur in der Idee. Dies steht fest. Ist es nun eine konditorliche Geschmackssünde, so wird sich die Sache vielleicht präzisieren lassen, das leibhaftig vor uns hinzustellen, was bis dahin nur in unserer Vorstellung lebte? Die Beantwortung dieser Frage will mir keineswegs leicht erscheinen, am wenigsten aber unanfechtbar, ob sie nun auf ›nein‹ oder ›ja‹ lauten möge. Was mich persönlich angeht, so bekenn ich offen, daß ich mich in der Weihnachtszeit jedesmal herzlich freue, bei Degebrodt in der Leipziger Straße (dessen Spezialität diese Dinge zu sein scheinen) dem bis vor wenig Jahren nur in der Idee bestehenden Pfefferkuchenhause greifbar zu begegnen. Es unterstützt dergleichen die Phantasie, statt sie zu lähmen. Der unsre Zeit und unsre Kunst entstellende Realismus hat seine Gefahren, aber, wie mir scheinen will, auch sein Recht und seine Vorzüge.«
»Gewiß, gewiß«, sagte Gordon. »Ich revoziere. Wenn man Fisch ißt, darf man ohnehin nicht streiten. Ich habe einen Professor gekannt, der an einer Fischgräte gestorben ist.«
»Die Forelle hat keine Gräten.«
»Aber Flossen. Und doch jedenfalls die Mittelgräte. Nehmen Sie sich in acht, Herr Professor.«
»Sie legen mir einen Titel zu...«
»Pardon. Ich war der Meinung... Übrigens find ich diese
»Forellen sind Forellen.«
»Doch nur etwa so, wie Menschen Menschen sind. Weiße, Schwarze, Privatgelehrte haben einen verschiedenen Geschmack, auch vom anthropophagischen Standpunkt aus, und die Forellen desgleichen. Sie schmecken wirklich verschieden. Ich darf es sagen. Denn wenn ich die Rechnung mache, so hab ich wohl ein Dutzend Arten durchgekostet.«
»Und die schönsten waren?«
»In Deutschland, meine gnädigste Frau, die Felchen im Bodensee (man muß Markgräfler dazu trinken), und in Italien die Maränen aus dem Lago di Bolsena... Die bedingungslos schönsten aber hab ich erst ganz vor kurzem in meiner Heimat, will sagen in der schottischen Heimat meiner Familie, kennengelernt.«
»Und das waren?«
»Lachsforellen aus dem Kinross-See. Maria Stuart saß da gefangen, in einem alten Douglas-Schlosse mitten im See, und wenn sie während dieser Gefangenschaftstage, neben der Liebe von Willy Douglas, eines beiläufig illegitimen, also doppelt verführerischen Sohnes des Hauses, irgend etwas getröstet haben kann, so müssen es die Lachsforellen gewesen sein.«
»Und doch«, unterbrach hier der Emeritus, »wag ich die Behauptung, daß das, was unser Harz und speziell unsre Bode bietet, Ihre Lachsforellen im...«
»Kinross-See.«
»Im Kinross-See also, um ein beträchtliches überbietet. Nicht auf dem Gebiete der Lachsforelle, nicht Forelle gegen Forelle, wohl aber...«
»Nun?«
»Wohl aber Schmerle gegen Forelle.«
»Schmerle?« wiederholte Cécile. »Was ist das? Kennen Sie Schmerlen, Herr von Gordon?«
»O gewiß. Ich entsinne mich ihrer aus meinen Kindertagen her, und bei meiner Anlage
zur Gourmandise könnt ich mich
»Nur wenige Stunden.«
»Und nennt sich?«
»Altenbrak; ein großes Dorf an der Bode. Wenn Sie die Partie machen wollen, so haben Sie die Wahl zwischen einem Talweg unten und einem Hochweg oben. Am meisten aber empfiehlt sich's wie gewöhnlich, das eine zu tun und das andre nicht zu lassen oder, mit andren Worten, über die Berge hin den Hinweg und an der Bode hin den Rückweg zu machen. Der eine Weg würde Sie bei Jagdschloß Todtenrode, der andre bei Treseburg vorüberführen. Eine sehr empfehlenswerte Partie.«
»Der Sie sich vielleicht anschließen, mein Herr Emeritus, um uns Führer und Berater zu sein.«
»Mit vielem Vergnügen«, fuhr dieser fort. »Und um so lieber, als mir dadurch Gelegenheit wird, einen Mann wiederzusehen, der aufs glücklichste Humor mit Charakter und Naivität mit Lebensklugheit verbindet.«
»Und wer ist dieser Glückliche?«
»Der Altenbraker Präzeptor.«
»Und das bedeutet?«
»Zunächst nichts weiter, als was es besagt, einen Lehrer also. Doch ist nicht jeder Lehrer ein Präzeptor. Die Nomination des meinigen (er ist bereits ein hoher Siebziger) stammt noch aus einer Zeit her, wo man den Dorfschulmeistern, wenn im Dorfe der Pfarrer fehlte, den Extratitel eines Präzeptors beilegte. Wenigstens in unsrer Braunschweiger Gegend. Damit war dann angedeutet, daß der Betreffende von einer gewissen höheren Ordnung und sowohl berechtigt wie verpflichtet sei, Sonntag für Sonntag der Gemeinde das Evangelium oder auch eine Predigt aus einem Predigtbuche vorzulesen.«
Cécile, die bis dahin mit der Redseligkeit des über Schmerlen und
Schulmeister-Originale sich verbreitenden alten Emeritus nur wenig einverstanden
gewesen war, wurde jetzt plötzlich aufmerksam, denn ein in ihrer Natur liegender
mystisch-religiöser
»Ja, meine gnädigste Frau. Nur ist zu bedauern, daß der ehemalige Präzeptor nicht mehr Präzeptor ist, vielmehr sein Amt niedergelegt hat. Noch dazu gegen den Wunsch seiner kirchlichen Behörde.«
»So waren es seine hohen Jahre, was den Ausschlag gab?«
»Auch das nicht, meine gnädigste Frau. Das, was den Ausschlag gab, war sein Gewissen.«
»Aber aus einem Manne, wie Sie den Alten geschildert, kann doch kein böses Gewissen gesprochen haben?«
»In gewissem Sinne doch.«
»O da bin ich neugierig. Ist es eine Sache, die sich erzählen läßt?«
»Unbedingt. Und ich erzähle sie doppelt gern, weil sie meinen Altenbraker Freund in einem schönen Lichte zeigt. Ich sprach von seinem bösen Gewissen, und mit Recht. Denn das, was wir ein böses Gewissen nennen, ist ja immer ein gutes Gewissen. Es ist das Gute, was sich in uns erhebt und uns bei uns selber verklagt.«
Cécile sah ihn groß an. Aber sie gewahrte bald, daß es absichtslos gesprochen war, und so nickte sie nur freundlich und sagte: »Nun denn.«
»Nun denn, in meinem alten Präzeptor regte sich also plötzlich sein gutes
Böses-Gewissen. Und das machte sich so. Predigten- und Evangeliumlesen war ihm
vorgeschrieben. Als er aber an die Siebzig kam und die Buchstaben in seinem
Predigtbuche, trotz angeschaffter starker Brille, vor seinem Auge zu tanzen und zu
verschwimmen anfingen, ließ er sich in dem, was
»Und was geschah nun?« unterbrach hier St. Arnaud. »Ich fürchte, das Hohe Konsistorium, man kennt dergleichen, wird gerade so klein gewesen sein, wie der Alte groß war.«
»Nein, mein Herr Oberst, es kam doch erfreulicher, und wenn eine Geschichte zwei Helden haben darf, so hat sie die meinige, denn neben meinen Präzeptor stellt sich ebenbürtig mein Konsistorialrat. Der wußte lange schon von dem Übergriff. Aber er wußte zugleich auch, daß die Altenbraker nie so kirchgängerische Leute gewesen waren als von dem Tag an, wo der Präzeptor zum ersten Male den Übergriff gewagt und mit dem unerlaubten Predigen begonnen hatte. Und so stand er denn von seinem Lehnstuhl auf und sagte: ›Mein lieber Rodenstein‹ (das ist nämlich der Name meines Präzeptors), ›mein lieber Rodenstein, Ihre Klage wird gar nicht angenommen. Gehen Sie ruhig wieder nach Altenbrak und machen Sie's gradso, wie Sie's bisher gemacht haben. Und damit Gott befohlen.‹ Und wirklich, der Präzeptor ging auch. Aber wiewohl er sich für soviel Nachsicht und Güte respektvollst bedankt hatte, blieb er im stillen doch fest bei seiner Meinung und gab, als er wieder daheim war, seinen Abschied schriftlich ein, der ihm denn auch schließlich in Gnaden erteilt wurde. Seitdem sitzt er, wenn nicht Gäste kommen, einsam auf seiner Burg Rodenstein.«
»Auf seiner Burg Rodenstein?«
»Und da müssen wir hin«, sagte Gordon, und Cécile klatschte zustimmend in die Hände. »Da müssen wir hin, um die Streitfrage zwischen Forellen und Schmerlen ein für allemal entscheiden zu können.«
»Und der Herr Emeritus übernimmt die Führung. Er hat bereits zugestimmt. Und auch Herr Eginhard... Oh, Pardon...«
»Aus dem Grunde.«
»Und auch Herr Eginhard Aus dem Grunde«, wiederholte Gordon, während er sich gegen den Privatgelehrten verneigte, »wird uns begleiten. Nicht wahr?«
Die Partie nach Altenbrak war für den andern Morgen verabredet, aber bis dahin war noch eine lange Zeit, und als man aus dem Saal in den Korridor trat, wurde mehrfach die Frage laut, was bei der schwebenden Hitze mit dem »angebrochenen« Nachmittage zu machen sei. Der Privatgelehrte schlug eine Promenade durch das Bodetal vor, drang aber nicht durch.
»Nur nicht Bodetal«, sagte Gordon. »Oder gar dieser ewige Waldkater! Das reine Landhaus an der Heerstraße mit einer Mischluft von Küchenabguß und Pferdeställen. Überall Menschen und Butterpapiere, Krüppel und Ziehharmonika. Nein, nein, ich proponiere Lindenberg.«
»Lindenberg«, entschied St. Arnaud, und Cécile zeigte sich bereit, die Promenade sofort zu beginnen.
Aber die schöne Frau, die regelmäßig andern Sinnes war, wenn St. Arnaud auf ihr Ruhebedürfnis oder gar auf ihre Schwächezustände hinwies, widersprach auch diesmal und versicherte, während sie sich gegen den Privatgelehrten, um dessen Begleitung sie schon vorher gebeten hatte, verneigte: »bei gutem Gespräche noch niemals müde geworden zu sein.«
Ein Verklärungsschimmer ging über Eginhard, der, bei seinem Hange zu generalisieren, sofort auch Betrachtungen über die Superiorität aristokratischer Lebens- und Bildungsformen anstellte. Zugleich war er fest entschlossen, sich eines so schmeichelhaft in ihn gesetzten Vertrauens würdig zu zeigen, war aber nicht glücklich damit, wie sich gleich bei seinem ersten Versuche herausstellen sollte.
»Miquelscher Privatbesitz, meine Gnädigste«, hob er an, während er auf eine noch innerhalb der Dorfstraße gelegene, von einem herrschaftlichen Garten umgebene Villa zeigte.
»Wessen?« fragte Cécile.
»Doktor Miquels. Ehedem Bürgermeister von Osnabrück, jetzt Oberbürgermeister zu Frankfurt.«
»An der Oder?«
»Nein; am Main.«
»Aber was konnte diesen Herrn veranlassen, von so landschaftlich bevorzugter Stelle her, gerade hier sich anzukaufen und in diesem einfachen Harzdorfe seine Sommerfrische zu nehmen?«
»Eine wohl aufzuwerfende Frage, deren einzig mögliche Beantwortung mir in der Deutschkaiserlichkeit des Doktor Miquel zu liegen scheint, ein Wort, das, trotz seiner sprachlichen Anfechtbarkeit, den Gedanken genau wiedergibt, den ich Ihnen, meine gnädigste Frau, des ausführlicheren unterbreiten möchte. Darf ich es?«
»Ich bitte recht sehr darum.«
»Nun denn, es darf als historische Tatsache gelten, daß wir Männer besaßen und noch
besitzen, in denen das Kaisertum
»Und zu diesen zählen Sie...«
»Vor allem auch Doktor Miquel von Frankfurt. In der Tat, er war unter denen, in deren Brust der Kaisergedanke von Jugend auf nach Verwirklichung rang. Aber wo war diesem Gedanken am besten eine Verwirklichung zu geben? Wo durft er am ehesten Nahrung finden und Förderung erwarten? Und auf diese Fragen, meine gnädigste Frau, gibt es nur eine Antwort: hier. Denn hier, an dieser gesegneten Harzstelle, predigt alles Kaisertum und Kaiserherrlichkeit. Ich spreche nicht von dem ewigen Kyffhäuser, der ohnehin schon halb thüringisch ist, aber speziell hier, am harzischen Nordrande, gibt jeder Fußbreit Erde wenigstens einen Kaiser heraus. In der Quedlinburger Abteikirche, die Sie, wie mir zu meiner Freude bekannt geworden, durch Ihren Besuch beehrt haben, ruht der erste große Sachsenkaiser, im Magdeburger Dome der noch größere zweite. Sie mit Namen zu behelligen, meine gnädigste Frau, kann mir nicht einfallen. Aber ich bitte Tatsachen geben zu dürfen. In Harzburg, auf der Burgberg-Höhe (deren Besteigung ich Ihnen empfehlen möchte; Sie finden Esel am Fuße des Berges) stand die Lieblingsburg des zu Canossa gedemütigten Heinrich, und zu Goslar, in verhältnismäßiger Nähe jener Burgberg-Höhe, haben wir bis diese Stunde die große Kaiserpfalz, die die mächtigsten Herrschergeschlechter, die Träger des ghibellinischen Gedankens in schon vorghibellinischer Zeit, in ihrer Mitte sah. Also Kaiser-Erinnerungen auf Schritt und Tritt. Und hierin, meine gnädigste Frau, seh ich den Grund, der Doktor Miquel, den Mann des Kaisergedankens, in speziell diese Gegenden zog.«
»Unzweifelhaft. Und Sie sprechen das alles mit solcher Wärme.«
Der Privatgelehrte verneigte sich.
»Mit solcher Wärme, daß ich annehmen möchte, Sie selber seien mit unter den Propheten
und Täufern gewesen und Ihre
»Gewiß, meine gnädigste Frau, wennschon ich Ihnen offen bekenne, daß der Gang unserer Geschichte nicht der war, der er hätte sein sollen.«
»Und was ist es, woran Sie Anstoß nehmen?«
»Das, daß sich der Schwerpunkt verschob. Ein Fehler, der erst in unseren Tagen seine Korrektur er fahren hat. Als die Sachsenkaiser, die wir mit mindestens gleichem Recht auch die Harzkaiser nennen dürften, seitens der deutschen Stämme gekürt wurden, waren wir auf der rechten Spur und hätten, bei dem endlichen, aber nur allzu frühen Erlöschen des Geschlechts, den Schwerpunkt deutscher Nation nach Nordosten hin verlegen müssen.«
»Bis an die russische Grenze?«
»Nein, meine Gnädigste, nicht so weit; nach dem Lande zwischen Oder und Elbe.«
»Mit den Hohenzollern an der Spitze?«
»Doch nicht. Nicht damals. Wohl aber, statt ihrer, ein anderes großes Fürstengeschlecht an der Spitze, das in bereits vorhohenzollerscher Zeit das Land zwischen Oder und Elbe beherrschte, seitdem aber in unbegreiflich undankbarer Weise vergessen oder doch beiseite gestellt wurde: das Geschlecht der Askanier. Haben wir doch als einziges Denkmal und Erinnerungszeichen an diese ruhmreiche Familie nichts als den Askanischen Platz, eine mittelmäßige Lokalität, die täglich viele Tausende passieren, ohne mit dem Namen derselben auch nur die geringste historische Vorstellung zu verknüpfen.«
Cécile war selbst unter diesen. Aber in Kreisen großgezogen, in denen aller
historischer Notizenkram einen höchst geringen Rang behauptete, bekannte sie sich
lachend zu dieser ihrer Unkenntnis und sagte: »Sie müssen es leichtnehmen, mein
teurer Herr Professor, Pardon, daß ich bei diesem Titel verbleibe; Sie müssen es
leichtnehmen. Es ist nicht jedermanns Sache, gründlich zu sein. Und nun gar erst wir
Frauen. Sie wissen, daß
Wieviel daran Ernst war, war ungewiß, aber als desto gewisser konnte das eine gelten, daß Cécile nicht in der Laune war, den ersten erweiterten Unterricht über Askaniertum auf der Stelle nehmen zu wollen. Sie sah sich vielmehr, als ob sich's um eine Hülfstruppe gehandelt hätte, ziemlich ängstlich nach St. Arnaud und Gordon um, die denn auch, den Emeritus in der Mitte, in einiger Entfernung folgten.
»Ich bin«, empfing sie die Herankommenden, »ein gut Teil schneller gegangen als gewöhnlich, und lehrreiche Gespräche haben mir den Weg gekürzt.«
Aber während sie diese Worte sprach, hielt sie sich an einer Banklehne, und St. Arnaud sah deutlich, daß sie todmüde war, gleichviel ob vom Weg oder von der Unterhaltung. Er kam ihr deshalb zu Hülfe und sagte, während er den Privatgelehrten lächelnd musterte: »Dein alter Fehler, Cécile! Wenn dich etwas lebhaft interessiert, Gespräch oder Person, überspannst du deine Kräfte... Die Herren werden verzeihen, wenn wir uns, während Sie den Berg ersteigen, diese Bank hier zunutze machen und auf Ihre Rückkehr warten.«
Gordon und der Emeritus, beide wahrnehmend, wie's stand, beeilten sich, ihre
Zustimmung auszudrücken, und nur Eginhard, der auf eine Zuhörerin von soviel »feinem
Verständnis« nicht gern verzichten wollte, sprach noch allerlei von dem Belebenden
des Doppel-Oxygen, das erfahrungsmäßig in dem Zusammenwirken von Nadel- und Laubholz
läge, von denen das Nadelholz auf der Lindenberg-Höhe sowohl durch Larix tenuifolia
wie sibirica, das Laubholz aber durch Quercus robur in wahren Prachtexemplaren
vertreten sei. Noch weitere Namen sollten folgen. Gordon indes coupierte die Rede
ziemlich brüsk und schritt, des Emeritus Arm nehmend, unter einem
griechisch-lateinischen Kauderwelsch, in dem Ausdrücke wie Douglasia, Therapeutik,
Autopsie wild durcheinander wiederkehrten,
Der Privatgelehrte seinerseits machte gute Miene zum bösen Spiel und folgte.
St. Arnaud und Cécile hatten sich's mittlerweile bequem gemacht. Die Bank war ziemlich primitiv und bestand aus zwei Steinpfeilern und zwei Brettern, von denen eins als Sitz, das andere als Lehne diente. Heidekraut und Epilobium wuchsen umher, und weit vorhängende Tannenzweige bildeten ein Schutzdach gegen die Sonne. Boncœur, der schöne Neufundländer, der sich vom Hotel her auch heute wieder angeschlossen hatte, hatte sich neben einem der Steinpfeiler ins Heidekraut gelegt.
»Wie schön«, sagte Cécile, während ihr Auge die vor ihr ausgebreitete Landschaft überflog.
Und wirklich, es war ein Bild voll eigenen Reizes.
Der Abhang, an dem sie saßen, lief, in allmählicher Schrägung, bis an die durch Wärterbuden und Schlagbäume markierte Bahn, an deren anderer Seite die roten Dächer des Dorfes auftauchten, nur hier und da von hohen Pappeln überragt. Aber noch anmutiger war das, was diesseits lag: eine Doppelreihe blühender Hagerosenbüsche, die zwischen einem unmittelbar vor ihnen sich ausdehnenden Kleefeld und zwei nach links und rechts hin gelegenen Kornbreiten die Grenze zogen. Von dem Treiben in der Dorfgasse sah man nichts, aber die Brise trug jeden Ton herüber, und so hörte man denn abwechselnd die Wagen, die die Bodebrücke passierten, und dann wieder das Stampfen einer benachbarten Schneidemühle. Boncœur hatte den Kopf zwischen die Vorderfüße gelegt, und nur dann und wann sah er zu seiner selbstgewählten Herrin auf, als ob er sich wegen seiner Saumseligkeit entschuldigen wolle.
Plötzlich aber sprang er nicht nur auf, sondern mit ein paar großen Sätzen bis in das
Kleefeld hinein, freilich nur, um sich hier sofort wieder auf die Hinterfüße zu
setzen und ein paar
»Was ist es?« fragte Cécile, während St. Arnaud, nach rechts hin, auf einen in Büchsenschußentfernung über den Weg kommenden und im selben Augenblick auch wieder im Unterholz am Bergabhange verschwindenden Hasen zeigte. Boncœur aber, mit seinem Behange hin und her schlagend, sah dem flüchtigen Lampe noch eine Weile nach und nahm dann seinen Platz neben der Bank wieder ein.
»Schlechter Hund«, sagte Cécile, mit ihrer Schuhspitze seinen Kopf krauend.
»Guter Hund«, erwiderte St. Arnaud. »Er zieht einfach deine Liebkosungen einer fruchtlosen Hasenjagd vor. Er ist ritterlich und verständig zugleich, was nicht immer zusammenfällt.«
Cécile lächelte. Solche Huldigungsworte taten ihr wohl, auch wenn sie von St. Arnaud kamen. Dann schwiegen beide wieder und hingen ihren Gedanken nach. Helles, sonnendurchleuchtetes Gewölk zog drüben im Blauen an ihnen vorüber, und ein Volk weißer Tauben schwebte daran hin oder stieg abwechselnd auf und nieder. Unmittelbar am Abhang aber standen Libellen in der Luft, und kleine graue Heuschrecken, die sich in der Morgenkühle von Feld und Wiese her bis an den Waldrand gewagt haben mochten, sprangen jetzt, bei sich steigernder Tagesglut, in die kühlere Kleewiese zurück.
Der Oberst nahm Céciles Hand, und die schöne Frau lehnte sich müd und auf Augenblicke wie glücklich an seine Schulter.
In solchem Träumen blieb sie, bis plötzlich an der Bahn entlang die Signale gezogen wurden und von Thale her das scharfe Läuten der Abfahrtsglocke herüberklang. Und siehe da, keine Minute mehr, so vernahm man auch schon den Pfiff der Lokomotive, gleich danach ein Keuchen und Prusten, und nun dampfte der Zug auf wenig hundert Schritt an dem Lindenberge vorüber.
»Er geht nach Berlin«, sagte St. Arnaud. »Willst du mit?«
»Nein, nein.«
Und nun sahen beide wieder der Wagenreihe nach und horchten
Endlich schwieg es, und die frühere Stille lag wieder über der Landschaft. Nur die Brise, von Dorf und Fluß her, wuchs, und die Kornfelder neigten sich und mit ihnen der rote Mohn, der in ganzen Büscheln zwischen den Halmen stand.
Unwillkürlich machte Cécile die schwankende Bewegung mit, bis sie plötzlich auf ein Bild wies, das der Aufmerksamkeit beider wohl wert war. Von jenseit der Bahn her kamen gelbe Schmetterlinge, massenhaft, zu Hunderten und Tausenden herangeschwebt und ließen sich auf dem Kleefeld nieder oder umflogen es von allen Seiten. Einige schwärmten am Waldrand hin und kamen der Bank so nahe, daß sie fast mit der Hand zu fassen waren.
»Ah, Pierre«, sagte Cécile. »Sieh nur, das bedeutet etwas.«
»O gewiß«, lachte St. Arnaud. »Es bedeutet, daß dir alles huldigen möchte, gestern die Rosenblätter und heute die Schmetterlinge, Boncœurs und Gordons ganz zu geschweigen. Oder glaubst du, daß sie meinetwegen kommen?«
Alles freute sich auf Altenbrak, und selbst Cécile war schon um acht auf dem großen Balkon, trotzdem der Aufbruch erst um zehn und zehneinhalb erfolgen sollte.
Dieser Aufbruch zu verschiedenen Zeitpunkten hatte darin seinen Grund, daß Cécile,
sosehr sie sich erholt hatte, für eine Fußpartie doch nicht ausreichend gekräftigt
war, während St. Arnaud, ein leidenschaftlicher Steiger, auf eine Wanderung über die
Berge hin nicht gern verzichten wollte. So war man denn übereingekommen, den Marsch
in zwei Kolonnen zu machen, von denen die Fußkolonne: St. Arnaud, der Emeritus und
der Privatgelehrte, um zehn Uhr vorausmarschieren, die Reiterkolonne: Gordon und
Cécile, um zehneinhalb Uhr nachfolgen
»Im Gegenteil, meine gnädigste Frau, man sitzt besser und gemütlicher, und das gefürchtete ›Vom Pferd auf den Esel kommen‹, was bildlich sein Mißliches haben mag, ist mir in natura nie schrecklich gewesen.«
Ein Blick, von dem schwer zu sagen war, ob mehr schmeichelhafte Huld oder naive Kinderfreude darin vorherrschte, belohnte Gordon für seine Bereitwilligkeit, und wenige Minuten später saßen beide bereits plaudernd im Sattel und trotteten, über einen Brückensteg hin, auf eine mit vorjährigem Eichenlaub gefüllte Schlucht zu, die, jenseits der Bode, zu der auf dem Bergrücken entlanglaufenden Blankenburger Chaussee hinaufführte. Neben ihnen her ging der Eseljunge, den Esel, auf dem Cécile saß, dann und wann zu beschleunigterer Gangart antreibend. Es war ein bildhübscher, zugleich hartgewöhnter Junge, der abwechselnd ging und lief und dem Gespräche, das Gordon und Cécile führten, mit klugem Auge folgte.
Das Laub raschelte, die Sonne spielte durch das Gezweig, und aus dem Walde her vernahm man den Specht und dann und wann auch den Kuckuck. Aber nur langsam und spärlich, und als Gordon zu zählen anfing, rief er nur ein einzig Mal noch.
»Ist euer Harzkuckuck immer so faul?«
»Versteht sich.«
»Wieviel Jahre noch?«
Und nun antwortete der Kuckuck, und sein Rufen wollte kein Ende nehmen.
Das schuf eine kleine Verstimmung, denn jeder ist abergläubisch, und um die Verstimmung wieder loszuwerden, sagte jetzt Gordon, das Thema wechselnd: »Eselreiten und Ponyfahren! Sie sprachen so glückstrahlend davon, meine gnädigste Frau. Sind es Kindererinnerungen? Das Ponyfahren läßt es fast vermuten. Aber, Pardon, wenn ich in meiner Neugier vielleicht indiskrete Fragen tue.«
»Nicht indiskret. Überhaupt, was ist Diskretion? Wer ihr à tout prix leben will, muß in den Kartäuserorden treten.«
»Der, Gott sei Dank, für Frauen nicht gestiftet wurde.«
»Mutmaßlich, weil seine Begründer klug und weise genug waren, das Unmögliche nicht anzustreben. Aber, Sie fragten mich, ob Kindererinnerungen. Nein, leider nein. Meine Kindertage vergingen ohne das. Aber dann kamen andre Tage, freilich auch halbe Kindertage noch, in denen ich aus der kleinen oberschlesischen Stadt, darin ich geboren und großgezogen war, zum ersten Mal in die Welt sah. Und in welche Welt! Jeden Morgen, wenn ich ans Fenster trat, sah ich die ›Jungfrau‹ vor mir und daneben den ›Mönch‹ und den ›Eiger‹. Und am Abend dann das Alpenglühn. Ich vergesse sonst Namen, aber diese nicht, diese sind mir in der Seele geblieben wie die Tage selbst. Schöne, himmlische, glückliche Tage, Tage voll ungetrübter Erinnerungen. Und unter diesen ungetrübten Erinnerungen auch Eselritt und Ponyfahren. Ach, es sind so kleine Dinge, aber die kleinen Dingen gehen über die großen... Und von woher stammt Ihre Passion für derlei Kavalkaden?«
»Aus dem Himalaja.«
Bei diesem Worte waren sie aus der Schlucht heraus, und Gordon wollte just abbrechen,
um, oben angelangt, des freien Umblicks vom Plateau her voll zu genießen, im selben
Moment aber wahrnehmend, daß der Eseljunge, ganz wie benommen,
»Mount-Everest... 27 000 Fuß.«
»Wo hast du das her?«
»Nu, das lernen wir.«
»A la bonne heure«, lachte Gordon. »Ja, der preußische Schulmeister... Zu welch erstaunlichen Siegen wird uns der noch verhelfen! Und was sagen Sie dazu, meine Gnädigste?«
»Nun zunächst nur das eine, daß der Junge mehr weiß als ich.«
»Lassen Sie's ihm. Preußischer Drill und Gedächtnisballast. Je weniger man davon schleppt, desto besser.«
»Das sagt St. Arnaud auch, wenn er gut gelaunt ist. Aber au fond glaubt er's nicht und empfindet ein beständiges Crèvecour über all das, was die Herren Präzeptoren, zu deren einem wir jetzt wallfahrten, an mir versäumt haben. St. Arnaud, sag ich, glaubt es nicht, und Sie glauben es auch nicht, Herr von Gordon. Ich hab es wohl bemerkt. Alle Preußen sind so konventionell in Bildungssachen, alle sind ein klein wenig wie der Herr Privatgelehrte...«
»Ja«, stimmte Gordon zu, »das sind sie. Sie heißen nicht sämtlich Eginhard, aber alle sind mehr oder weniger ›Aus dem Grunde‹.«
Danach brach das Gespräch ab, und erst nach einer Weile nahm es Cécile wieder auf. »Ob wir die Herren noch einholen?« fragte sie. »Die Chaussee läuft hier wie mit dem Lineal gezogen, und doch seh ich niemand.«
In der Tat, Cécile sah niemanden und konnte niemand sehen, aber es lag nicht an einer
allzu großen Entfernung zwischen ihr und der Avantgarde, sondern einfach daran, daß
die drei Herren, denen der Aufstieg doch saurer geworden war, als sie vermutet
hatten, Schattens halber in einen wundervollen Waldpfad eingebogen waren, der erst
später wieder auf den Hauptweg mündete. St. Arnaud hatte die Mitte zwischen seinen
beiden Begleitern genommen und rechnete darauf, die Fehde zwischen
»Irr ich, wenn ich annehme, mein hochverehrter Herr ›Aus dem Grunde‹, daß Sie rheinischen oder schweizerischen Ursprungs sind und ähnlich wie die ›Vom Rat‹, ›Aus dem Winkel‹ und ›Auf der Mauer‹ entweder der Kölner Gegend oder aber den Urkantonen entstammen?«
»Doch nicht, mein Herr Oberst. Mein Urgroßvater kam glaubenshalber aus Polen und hieß ursprünglich Genserowsky, noch bis vor kurzem befanden sich in der Berliner Hasenheide Träger dieses alten Namens. Einer der Söhne, mein Großvater, war homo literatus, zugleich Verfasser einer griechischen Grammatik, und um ganz mit den polnischen Erinnerungen zu brechen oder vielleicht auch wegen eines dem deutschen Ohre nicht unbedenklichen Namensanklanges, ließ er den Genserowsky fallen und nannte sich ›Aus dem Grunde‹. Das einigermaßen Anspruchsvolle darin verkenn ich nicht, aber der Name ist mir überkommen, und so kann es mir persönlich nur obliegen, ihm, nach dem bescheidenen Maße meiner Fähigkeiten, Ehre zu machen.«
»Ein Streben, zu dem ich Sie beglückwünsche.«
»Der Herr Oberst beschämen mich durch soviel Güte. Das aber darf ich heute schon
aussprechen, daß ich mich jederzeit vor Zersplitterung und einer damit
zusammenhängenden Oberflächlichkeit gehütet habe. Zersplitterung ist der Fluch unsrer
modernen Bildung. Ich befleißige mich der Konzentration und halte zu dem guten alten
Satze ›multum non multa‹. Mein Stolz ist der, ein Spezialissimus zu sein, ein
Spott-und zugleich Ehrenname, den mir beizulegen dem Chor meiner Gegner beliebte. Der
Herr Oberst wissen, welchem Gegenstande meine Studien gelten, und es sind denn auch
eben diese, die mich neuerdings wieder hierher in den Harz und in der letzten
Woche
»Demselben mutmaßlich, der dreißig Wendenfürsten zu Tische lud, um sie dann zwischen Braten und Dessert abschlachten zu lassen?«
»Von eben demselben, mein Herr Oberst. Aus welchem Zwischenfall ich übrigens bitten möchte nicht allzu nachteilige Schlüsse ziehen zu wollen. Markgraf Gero war ein Kind seiner Zeit, genauso wie Karl der Große, dem die summarisch enthaupteten zehntausend Sachsen nie zum Nachteil angerechnet worden sind. Es sind das eben die Männer, die Geschichte machen, die Männer großen Stils, und wer Historie schreiben oder auch nur verstehen will, hat sich in erster Reihe zweier Dinge zu befleißigen: er muß Personen und Taten aus ihrer Zeit heraus zu begreifen und sich vor Sentimentalitäten zu hüten wissen.«
»Gewiß, gewiß«, lachte der Oberst. »Einverstanden mit allem, wobei mir nur ewig merkwürdig bleibt, daß die durch Natur und Beruf friedliebendsten Leute von der Welt allemal für ›Kopf-ab‹ sind, während alle Leute von Fach an dreißig abgeschlachteten Wendenfürsten doch einigermaßen Anstoß nehmen. Es muß übrigens ein Gesetz in dieser Erscheinung walten, vielleicht dasselbe, nach dem ganz unbemittelte Personen immer erst geneigt sind, ein Dreißig-Millionen-Vermögen als ein Vermögen überhaupt gelten zu lassen.«
Unter diesem Gespräche, das sich weiterspann, hatten unsere drei Freunde den Punkt erreicht, wo der Waldweg wieder in den Hauptweg einbog, auf dem, im selben Augenblicke fast, wo sie denselben betraten, ein Hauderer oder Personenwagen, mit dem Anhaltiner Wappen am Wagenschlage, vorüberrollte.
»War das nicht der askanische Bär?« fragte St. Arnaud.
»Zu dienen. Und zwar der askanische Bär an einem emeritierten Postwagen aus guter
alter Zeit, wo das Herzogtum Anhalt noch eine selbständige Postverwaltung hatte. Die
nunmehr
»Ah«, sagte der Oberst, »das waren die zwei Berliner an der Table d'hôte. Dergleichen darf man nicht übelnehmen. Die Berliner sind Spaßmacher und gefallen sich in ironischen Bemerkungen und Zitaten.«
»Und treffen dabei meistens den Nagel auf den Kopf«, setzte der Emeritus hinzu. »Denn Sie werden, mein hochverehrter Herr Eginhard, doch nicht allen Ernstes verlangen, daß wir uns im Zeitalter Otto von Bismarcks auch noch für Otto den Faulen oder gar für Otto den Finner interessieren sollen?«
»Doch, mein Herr Emeritus. Zu den schönsten Zierden deutscher Nation zähl ich Loyalität gegen das noch lebende Fürstengeschlecht und unwandelbare Pietät gegen die, die bereits vom Schauplatz abgetreten sind.«
»Eine Forderung, mein hochverehrter Herr Aus dem Grunde, die sich leichter stellen
als erfüllen läßt. Andauernde Treue gegen das Alte macht die Treue gegen das Neue
nahezu zur
»Oder untreu.«
»Meinetwegen.«
Und dabei lächelte der Emeritus mit überlegener Miene.
Der so voraufschreitenden Kolonne folgten Gordon und Cécile.
Nach rechts hin, auf Blankenburg zu, lagen weite Wiesen und Ackerflächen, während unmittelbar zur Linken ein Waldschirm von geringer Tiefe stand, der unsere Reisenden von der steil abfallenden Talschlucht und der unten schäumenden Bode trennte. Dann und wann kam eine Lichtung, und mit Hülfe dieser glitt dann der Blick nach der anderen Felsenseite hinüber, auf der ein Gewirr von Spitzen und Zacken und alsbald auch der Hexentanzplatz mit seinem hellgelben, von der Sonne beschienenen Gasthause sichtbar wurde. Juchzer und Zurufe hallten durch den Wald, und dazwischen klang das Echo der Böller-und Büchsenschüsse von der Roßtrappe her.
»Es ist doch ein eigen Ding um die Heimat«, sagte Gordon,
»Sie sprechen das mit so vieler Wärme. Lebt Ihre Mutter noch? Haben Sie sie wiedergefunden?«
»Nein, sie starb in den Jahren, da ich draußen war. Ich habe nichts weiter mehr als zwei Schwestern. Eine war noch ein halbes Kind, als ich Deutschland verließ; aber mit der andern wuchs ich auf, wir harmonierten in allen Stücken, und wenn sich mir meine Wünsche nur einigermaßen erfüllen, so trennen wir uns nicht wieder, wenigstens nicht wieder auf Jahre. Ja, diese Bande sind doch die festesten und überdauern alles andre. Wie manche Nacht, wenn ich in den gestirnten Himmel aufsah, hab ich an Mutter und Schwester gedacht und mir ein Wiedersehen ausgemalt. Nur halb ist es mir in Erfüllung gegangen.«
Cécile schwieg. Sie war klug genug, um die Herzlichkeit solcher Sprache zu verstehen und zu würdigen, aber doch andererseits auch verwöhnte Frau genug, um sich durch ein so betontes Hervorkehren verwandtschaftlicher Empfindungen, und zwar in diesem Augenblick und an ihrer Seite, wenig geschmeichelt zu fühlen.
»Und wie heißt Ihre Schwester?«
»Clothilde.«
»Clothilde«, wiederholte sie langsam und gedehnt, und Gordon, der heraushören mochte,
daß ihr der Name nicht sonderlich gefiel, fuhr deshalb fort: »Ja, Clothilde, meine
gnädigste Frau. Sie wägen den Namen und finden ihn etwas schwer. Und Sie haben recht.
Ich glaube auch nicht, daß ich fähig sein würde, mich jemals in eine Clothilde zu
verlieben. Aber je weniger
»Und der wäre?«
»Mathilde.«
»Ja«, lachte Cécile. »Mathilde! Wirklich. Man hört das Schlüsselbund.«
»Und sieht die Speisekammer. Jedesmal, wenn ich den Namen Mathilde rufen höre, seh ich den Quersack, darin in meiner Mutter Hause die Backpflaumen hingen. Ja, dergleichen ist mehr als Spielerei, die Namen haben eine Bedeutung.«
»Ich wollte, daß Sie recht hätten, es würde mich glücklich machen. Aber was hab ich beispielsweise von meiner musikalischen und sogar heiliggesprochenen Namensschwester? Die Heiligkeit gewiß nicht, und auch kaum die Musik.«
So plaudernd, erreichten sie die Stelle, wo der nach Altenbrak abzweigende Weg auf ein weites Elsbruch einbog, hinter dem die bis jetzt von ihnen passierte Waldpartie von neuem aufragte, freilich nicht als Wald mehr, sondern nur noch als Schonung, über deren Kiefern und Kusseln hinweg eine mutmaßlich einen Weg einfassende Doppelreihe weißstämmiger Birken sichtbar wurde. Hart in Front dieser Schonung lagerte, deutlich erkennbar, eine Gruppe hemdärmliger oder doch in Leinwandjacken gekleideter Personen, aller Wahrscheinlichkeit nach also Holzschläger oder Arbeiter auf Tagelohn. Etwas Leichtes in den Bewegungen jedoch, zumal wenn sich einzelne von ihnen erhoben, zeigte bald, daß es keine Tagelöhner sein konnten.
»Was sind das für Leute da?« fragte Gordon den Jungen. Ehe dieser aber antworten
konnte, wurde drüben ein Signalhorn laut, und im selben Augenblicke begann ein Hin-
und Herlaufen und gleich danach ein Ordnen und Richten. Und nun setzten sich auch
unsere zwei Reisenden in Trab und erkannten im Näherkommen, daß es blutjunge Leute
waren,
»War das reizend«, sagte Cécile. »Jugend, Jugend. Und so frisch und glücklich. Und so ritterlich und artig.«
Gordon nickte. »Ja, meine gnädigste Frau, das ist Deutschland, Jung-Deutschland. Und mit Stolz und Freude sehe ich es wieder. Draußen hat man auch dergleichen, aber es ist doch anders. Hier gibt sich alles natürlicher und weniger zurechtgemacht; weniger mise en scene. Gott erhalt uns unsere Jugend.«
Und während er noch so sprach, streiften die Birkenzweige Céciles Gesicht, was ihn zu dem Vorschlag veranlaßte, doch die Plätze zu wechseln. Aber sie wollte davon nichts hören. »Es ist doch immer ein Streicheln, auch wenn es weh tut. Und dazu diese himmlische Luft! Ach, ich könnte den ganzen Tag so reiten, und von Müdigkeit wäre keine Spur.«
Endlich hatten sie die Schonung im Rücken und hielten vor einer von einem Plankenzaun eingefaßten und hoch in Gras stehenden Wiese, darauf nichts sichtbar war als, in einiger Entfernung, drei ziemlich gleich aussehende Häuschen, die todstill und wie verwunschen in der grellen Mittagssonne dalagen. Keine Grille zirpte, kein Rauch stieg auf; um den Zaun herum aber ging in weitem Bogen der Weg, anstatt die Wiese kurz und knapp zu durchschneiden.
»Wie heißt das?« fragte Gordon.
»Nur in Ordnung. Wenn es nicht schon so hieße, so müßt es so getauft werden. Todtenrode! Wohnen Menschen hier? Mutmaßlich ein Totengräber?«
»Nein, ein Förster.«
Unter solchem Gespräche waren sie bis an die Stelle gekommen, wo die vorerwähnten drei Häuschen standen. Eines derselben, das größte, das etwas von Architektur und Ornament zeigte, war ganz von wildem Wein überwachsen, und Gordon ritt heran, um, so gut es die Lichtblendung gestattete, von außen her in die Fenster hineinzusehen. Keine Gardine war da, kein Vorhang, überhaupt nichts, was auf Bewohnerschaft hätte deuten können, und doch war unverkennbar, daß dies Haus in der Öde sehr bewegte Tage gesehen haben mußte. Polsterbänke zogen sich um panelierte Wände, dazu Schenktisch und schwere Stühle, während sich in dem Zimmer daneben, das sich, bei nur halber Tiefe, leichter übersehen ließ, allerlei Möbel aus der Zeit des Empire befanden, darunter ein hellblaues Atlassofa mit drei schmalen Spiegeln über der Lehne.
Cécile sah gleichzeitig mit Gordon in die verblaßte Herrlichkeit hinein, und auch der Junge stellte sich neugierig auf die Zehspitzen.
»Eine Försterei, sagtest du. Das ist aber ein Jagd schloß.«
»Ja, ein Jagdschloß.«
»Und von wem?«
»Von unsrem Herzog.«
»Kommt er oft?«
»Nein. Aber der vorige...«
»Ja«, lachte Gordon, »der vorige, der kam oft.« Und zu Cécile gewandt, fuhr er fort:
»Ich hab ihn noch in Paris gesehen, den guten Herzog, alt geworden, geschnürt und
geschminkt, und mit Ringellöckchen, eine lächerliche Figur, ebenso der Liebling wie
der Spott der Halbweltdamen. Wahrhaftig, wer die Geschichte dieser Duodezfürsten
schreiben will, muß bei den fürstlichen Jagdschlössern anfangen. Und nun gar
Cécile musterte den Sprecher, der einen Augenblick in der Laune schien, in seiner Philippika fortzufahren; bald aber wahrnehmend, daß er, wie damals vor den Porträts der Fürst-Abbatissinnen, in seinen Auslassungen um ein gut Teil zu weit gegangen sei, begann er sofort das Thema zu wechseln, was ihm die sich rasch verändernde Szenerie ziemlich leicht machte. Der Weg nämlich, der bis dahin über ein Plateau geführt hatte, senkte sich hinter Todtenrode wieder und mündete, bald danach, auf eine mittelhoch am Abhange sich hinziehende Chaussee, neben der, in der Tiefe, die diesseits von einem sonnigen Wiesengrunde, jenseits aber von Wald und Schatten eingefaßte Bode hinfloß. Erquickende Kühle drang von unten her bis zur Höhe hinauf, und einzelne Häuser, die zerstreut und lauschig am Flusse hin lagen, berechtigten zu der Annahme, daß man in kürzester Frist am Ziele sein werde.
Gordon wurde nunmehr sehr bald auch der drei voraufmarschierenden Herren ansichtig, die ganz zuletzt einen Richtsteig eingeschlagen haben mußten, und auf sie hinweisend, rief er seiner Begleiterin in beinahe freudiger Aufregung zu: »Da sind sie. Wenn wir uns in Trab setzen, haben wir sie noch vor dem ersten Hause.«
Cécile sah ihn bei diesen Worten verwundert an, aber mit einer Verwunderung, in die
sich etwas von Empfindlichkeit
Und im Trabe, während der Junge sich in den Steigbügel hing, ging es bergab.
Eine Minute noch, und man mußte die Voraufmarschierenden eingeholt und das Dorf selbst erreicht haben.
Aber es war doch anders bestimmt, denn unmittelbar vor dem Dorfeingange wurde Cécile, die dem Flusse zunächst ritt, einer im Grase sitzenden Dame, der Malerin, gewahr.
Wirklich, es war Fräulein Rosa, mitten in der Arbeit vor einer Staffelei, die sie sich aus drei Bohnenstangen mit eingeschlagenen Holznägeln zurechtgezimmert hatte. Die Freude der Künstlerin gab sich, wie die der beiden Ankömmlinge, ganz ungesucht, und den Pinsel ins Gras werfend, aber die Palette immer noch auf dem linken Daumen, sprang sie von ihrem Malerstuhl auf und reichte Cécile die frei gewordene Rechte.
»Willkommen in Altenbrak... Ach, nun entsinn ich mich... Die drei Herren... vor einer Minute erst... Richtig, das war ja der Herr Oberst und der freundliche alte Emeritus. Und der dritte... Ja, wer war der dritte?«
»Der Herr Privatgelehrte.«
»Nun, der hätte seine Langweil und sich selbst in ›Hotel Zehnpfund‹ belassen können.
Aber welche Freude, Sie wiederzusehen, meine gnädigste Frau. Und Sie, Herr von
Gordon.
Cécile, als die Malerin endlich schwieg, tat auch ihrerseits ein paar Fragen und versuchte bei der Gelegenheit, einen Blick auf die Skizze zu werfen, aber Rosa wollte davon nichts wissen und fuhr fort: »Nein, meine gnädigste Frau, nur nicht gleich wieder Kunst und Kunstgespräche. Was Sie hergeführt hat, hat einen andern Zweck und Namen. Und ich brauche kaum danach zu fragen. Natürlich, der Präzeptor, der alte Murrkopf, der Mann mit der sonoren Baßstimme, Selbstherrscher aller Altenbraker und dabei Landesautorität in Sachen der Schmerle. Täglich bin ich an seinem Tisch (er hält nämlich eine Pension), und dann setzt er sich zu mir und sagt mir Liebenswürdigkeiten und will mich sogar adoptieren. Aber ich hab ihm gesagt, er müsse mich heiraten, anders tät ich's nicht, ich wolle Schloßfrau werden auf Burg Rodenstein oder kurzweg die Rodensteinerin und den ganzen Tag über mit dem Schlüsselbund rasseln.«
»Und Sie wohnen in seiner Pension?«
»Nein, ich ziehe diese Seite des Dorfes vor. Ich wohne hier... das dritte Haus da, gleich hinter dem Staket.«
Und sie wies auf ein reizendes, am Dorfeingange gelegenes Häuschen, in dessen Vorgarten ein paar Stachelbeersträucher standen und Mohn und Borré bunt durcheinander blühten. An dem Staket aber trockneten Netze, während eine Sichel an der alten Linde hing.
»Beneidenswert«, sagte Gordon. »Manchem glückt es, überall ein Idyll zu finden; und wenn er's nicht findet, so schafft er's sich. Ich glaube, Sie gehören zu diesen Glücklichen.«
»Ich glaub es beinah selbst, muß aber jedes persönliche Verdienst
Cécile schien von diesem scherzhaft hingeworfenen Worte mehr berührt, als sich erwarten ließ. Jedenfalls brach sie rasch ab und sagte: »Das ist ein großes Thema. Und wenn Herr von Gordon und Fräulein Rosa erst ins Philosophieren kommen...«
»Dann gibt es kein Ende.«
Cécile nickte zustimmend, und unter einem herzlichen »Au revoir« warf sie das Tier herum und lenkte, von Gordon gefolgt, auf den breiten Fahrweg ein, in dessen Schatten der Junge zurückgeblieben war.
»Haben wir noch weit bis zum Präzeptor?«
»Noch eine Viertelstunde.«
»Gut denn.«
Und man setzte sich wieder in Trab.
Wirklich, es war noch eine Viertelstunde, denn das Haus, das der Alte bewohnte, lag an der entgegengesetzten Seite von Altenbrak. Aber so lang der Weg war und so ruhebedürftig Cécile sich fühlte, dennoch sprach sie kein Wort von Ermüdung, weil das Bild, das die Dorfstraße gewährte, sie beständig interessierte. Links hin lagen die Häuser und Hütten in der malerischen Einfassung ihrer Gärten, während nach rechts hin, am jenseitigen Ufer der Bode, der Hochwald anstieg, auf dessen Lichtungen das Vieh weidete. Das Geläut der Glocken tönte herüber, und dazwischen klang das Rauschen des über Kieselgeröll hinschäumenden Flusses.
So ging es das Dorf entlang, an Stegen und Brücken vorbei, bis endlich da, wo die Schlucht sich wieder weitete, der Eseljunge nach einem in Mittelhöhe des Felsens eingebauten Häuserkomplex hinaufwies, daran in Riesenbuchstaben auf weißem Schilde stand: »Gasthaus zum Rodenstein«.
»Hier wohnt der Präzeptor.«
Und so hielt man denn.
Auf der obersten Stufe stand bereits St. Arnaud und empfing die Spätlinge mit vieler Freundlichkeit, aber doch zugleich mit einem Anfluge von Spott. »Die Herrschaften«, hob er an, »scheinen auf einen Wettlauf mit dem braunschweigischen Roß beziehungsweise dem askanischen Bären verzichtet zu haben. Zu meinem lebhaften Bedauern. Im übrigen hab ich aus der mir auferlegten Entbehrung das Beste zu machen gesucht und kenne in diesem Augenblicke nicht nur Albrecht den Bären, sondern auch den Markgrafen Waldemar so genau, daß ich keinem Müllergesellen, und wenn es Jakob Rehbock in Person wäre, raten möchte, mich hinters Licht führen zu wollen. Freilich, ob Herrn von Gordon an einer derartigen Wissenszufuhr in gleicher Weise gelegen gewesen wäre, muß dahingestellt bleiben – hinsichtlich meiner teuren Cécile verbürg ich mich für das Gegenteil. Und nun an die Gewehre! Zehn Minuten haben ausgereicht, mich mit dem Rodensteiner bekannt zu machen, und ich dürste danach, Sie beide dem trefflichen Alten vorzustellen. Unser Freund Eginhard, des Emeritus zu geschweigen, ist zwar eben über ihn her und hat, wenn ich recht gehört habe, vor fünf Minuten den ganzen Markgrafen Otto mit dem Pfeil auf die Sehne seiner Beredsamkeit gelegt. Aber ich hoffe, der Pfeil fliegt schon. Und so denn schnell, eh er zum zweiten Male spannt.«
Unter diesem Geplauder überschritten alle drei die Schwelle des Gasthauses und
traten, nach Passierung einiger winkliger und ziemlich verräucherter Stuben, auf
einen halb veranda-, halb balkonartigen Vorbau hinaus, dessen weit vorspringendes
Schutzdach in Front auf drei Holzpfeilern ruhte. Nach der Rückseite hin aber lag
dasselbe Schutzdach auf einer indigoblauen Wand, an der entlang ein großer, immer mit
Essig und Öl und leider auch mit Mostrichbüchsen besetzter Eßtisch stand. In Mitte
desselben erblickte man Eginhard und den Emeritus in
»Erlauben Sie mir, mein hochverehrter Herr Präzeptor, Ihnen meine Frau vorzustellen. Und hier Herrn von Gordon. Die Tagesaufgabe beider war augenscheinlich, das Unausreichende kavalleristischer Leistungsfähigkeit aufs neue zu beweisen und daneben die Superiorität der alten Garde zu Fuß.«
Der Präzeptor hatte sich von seinem Stuhl erhoben und hieß Cécile willkommen, eine zweite Verbeugung galt Gordon. Er stützte sich, all die Zeit über, auf ein Weichselrohr mit Elfenbeingriff und gab, als er sich gleich danach wieder an den Eßtisch lehnte (das Stehen wurd ihm schwer), eine bequeme Gelegenheit, ihn in seiner ganzen Erscheinung zu mustern. Er konnte füglich als der Typus eines knorrigen Niedersachsen, eines in Eichenholz geschnitzten Westfalen gelten und vernahm denn auch nichts lieber, als »daß er einen Waldeck-Kopf habe«. Wirklich ließ sich von einer solchen Ähnlichkeit sprechen. Ein Fall, den er vor Jahr und Tag getan, machte, daß er seitdem eines Stockes bedurfte, sonst aber war er verhältnismäßig jung geblieben und glich, in der Fülle seines krausen Haares, darin sich nur wenig Grau mischte, mehr einem Fünfziger als einem hohen Siebziger, der er doch war. Sein Bestes aber war sein Organ, und man begriff völlig, daß er mit dieser seiner Stimme vierzig Jahre lang die Altenbraker zusammengehalten und ihnen durch Epistel- und Bibelvorlesung von der Kanzel her den Prediger ersetzt hatte.
Cécile fühlte sich sofort angezogen durch seine Persönlichkeit und sprach ihm unbefangen und liebenswürdig aus, wie sehr sie sich freue, seine Bekanntschaft zu machen. Der Herr Emeritus, in dem er einen warmen Verehrer habe, habe sehr viel Schönes von ihm erzählt, von ihm, von Altenbrak und von den Schmerlen, und sie sehe wohl, daß er nicht zuviel gesagt habe. Denn Altenbrak sei reizend, und was die Schmerlen angehe...
So würden diese (unterbrach hier der Präzeptor) hinter ihrer Reputation nicht
zurückbleiben und die gnädige Frau gewiß
Cécile war einverstanden, und nachdem man noch die Frau Präzeptorin und deren Tochter, eine junge Förstersfrau, zu Rate gezogen, wurde festgestellt, daß um fünf Uhr gegessen werden solle. Natürlich auf der Veranda. Die noch dazwischenliegenden zwei Stunden aber solle jeder zu freier Verfügung haben, entweder zu Promenaden an der Bode hin oder aber zu Ruhe und Schlaf.
Ja, Ruhe, danach verlangte Cécile, die sich denn auch unverweilt in eine nach einem Gärtchen hinaus gelegene Hinterstube zurückzog, wo die Fenster aufstanden und die kleinen gelben Gardinen im Luftzuge wehten. In Nähe des einen Fensters stand ein bequemes Ledersofa, darauf die total Erschöpfte sich streckte, während die junge, nur zu Besuch und Aushülfe bei den Eltern anwesende Förstersfrau sie mit einem leichten Sommermantel zudeckte.
»Soll ich die Fenster schließen, gnädige Frau?«
»Nein. Es ist gut so, wie's ist. Eine so schöne Luft und doch kein Zug. Aber wenn Sie mir eine Freude machen wollen, so nehmen Sie sich einen Stuhl und setzen sich zu mir. Ich kann doch nicht schlafen und habe nur das Bedürfnis, mich zu ruhen.«
»Ach, das kenn ich.«
»Sie? Wie das? Sie sind noch so jung und sehen so blühend aus, und Ihre Augen lachen so frisch und glücklich. Sie haben gewiß einen guten Mann. Nicht wahr?«
»Ja, den hab ich.«
»Und Kinder?«
In diesem Augenblick hörte man von draußen eine Kinderstimme.
»Da ruft eines?«
»Nein, meine gnädigste Frau, meine Kinder sind nicht hier. Die sind im Wald draußen, beim Vater, und die Älteste, die jetzt sieben ist, das heißt, sie wird acht zu Michaeli, die muß schon die kleine Mutter sein und die beiden andern in Ordnung halten. Denn die Magd hat in der Küche zu tun und mit dem Vieh im Stalle. Da muß denn eben alles mit anfassen. Und die gnädige Frau sollten das Kind sehen, wie sie sich in Respekt zu setzen weiß, ja, sie gehorchen ihr besser als mir, denn die Kinder untereinander besinnen sich nicht lang, ob ein Klaps paßt oder nicht. Und mein Mann sagt oft: ›Sieh, Frau, die Trude versteht es besser als du: so mußt du's machen. Du bist zu gut.‹«
»Und das trifft auch wohl zu?«
»Nun, bös bin ich grade nicht. Aber wer will sagen, daß er, zu gut sei? Wenn man so
gut ist, wie man nur irgend sein kann, ist man noch immer nicht gut genug. Am
wenigsten gegen die Armen. Ach, meine gnädigste Frau, das lernt man im Wald. Wenn man
die Not der Menschen sehen will, dann muß man im Walde leben und das arme Volk sehen,
das sich ein bißchen Reisig zusammensucht und immer noch in Angst ist, daß sie was
mitnehmen, was sie nicht mitnehmen dürfen. Aber ich habe meinem Mann auch gesagt:
›Tu, was du mußt; aber wenn's sein kann, drück ein Aug zu, denn die Not ist groß.‹
Cécile nahm die Hände der jungen Frau. »Ihr lieber Mann wird wohl so sein, wie Sie selber sind. Mir ist nicht bang um ihn. Aber wenn er auch anders wäre, Sie werden ihn schon bekehren und für seine Seele sorgen, und er wird das Himmelreich haben, wie Sie selbst, dessen bin ich sicher. In einer guten Ehe muß sich alles ausgleichen und balancieren, und der eine hilft dem andern heraus.«
»Oder reißt ihn auch mit hinein«, lachte die junge Frau.
»Vielleicht, vielleicht... Aber ich denke, die Gnade rechnet mehr unsere Guttat an als unsere Schuld.«
Cécile wollte nur ruhn, aber zuletzt war sie doch eingeplaudert worden; ein paar Pfauentauben flogen aufs Fenstersims, und die junge Frau Försterin verließ leise das Zimmer, um auf die Veranda, wo nur noch St. Arnaud und der Präzeptor verblieben waren, zurückzukehren und hier Mitteilung zu machen, daß die gnädige Frau schlafe.
»Das ist gut«, sagte St. Arnaud, »ich sah, daß sie der Ruhe bedurfte. Nun aber, mein Herr Präzeptor, müssen Sie mich mit Ihrem ganzen Gewese bekannt machen. Ich find es nur in der Ordnung, daß man im Publikum überall von Ihrem ›Schloß Rodenstein‹ spricht, denn wirklich, Ihr Gasthaus hängt wie eine Burg am Felsen. Ist es Granit?«
»Porphyr, Herr Oberst.«
»Desto besser, oder wenigstens um eine Stufe vornehmer. Aber vornehmer oder nicht, ich muß das alles sehen, immer vorausgesetzt, daß Ihnen Ihr Fuß ein Umhersteigen gestattet.«
»O gewiß, mein Herr Oberst, wenn Sie nur Geduld mit einem alten Invaliden haben wollen, der ein etwas langsames Tempo hat und immer nur einen Schritt macht, wenn andre drei machen.«
»Ganz nach Ihrer Bequemlichkeit. Ich werde Sie doch nicht um etwas bitten und Ihnen
zum Dank für die Gewähr auch noch das Tempo vorschreiben wollen. Das wäre doch ein
gut
»Das ist mein Schmuckstück, mein Belvedere, wohin ich Sie gerade führen möchte. Da tritt der Porphyr am reinsten heraus, und Altenbrak liegt uns zu Füßen. Erlauben der Herr Oberst, daß ich die Tête nehme.«
Bei diesen Worten erhob er sich und schritt, sich auf sein Weichselrohr stützend, auf einen in den Fels gehauenen Zickzackweg zu, der nach dem Aussichtstempelchen hinaufführte. St. Arnaud folgte, schwieg indes, weil er wahrzunehmen glaubte, daß dem alten Herrn nicht bloß das Steigen, sondern auch das Atmen schwer wurde.
Nun aber war man oben und sah in die Landschaft hinaus. Was in der Ferne dämmerte, war mehr oder weniger interesselos, desto freundlicher aber wirkte das ihnen unmittelbar zu Füßen liegende Bild: erst das Gasthaus, das mit seinem Dächergewirr wirklich an eine mittelalterliche »Burg Rodenstein« erinnerte, dann weiter unten der Fluß, über den links abwärts ein schlanker Brückensteg, rechts aufwärts aber eine alte Steinbrücke führte.
»Beneidenswerter, Sie«, sagte der Oberst. »König Polykrates auf seines Daches Zinnen. Und hoffentlich sagen Sie mit ihm: ›Gestehe, daß ich glücklich bin.‹ Ist es nicht so?«
Der Präzeptor wiegte den Kopf hin und her und schwieg, bis er nach einer kleinen Weile sagte: »Nun ja, mein Herr Oberst.«
»Nun ja! Was heißt das? Warum nicht bloß ja? Was fehlt? Ein Mann wie Sie, Liebling fünf Meilen in der Runde, gehalten von der Gemeinde, geschätzt von der Behörde – wie wenige dürfen sich dessen rühmen! Und wenn dann das Jubiläum kommt...«
»Das kommt nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil ich den Dienst quittiert habe.«
»Wie das? Aber freilich... Pardon... ich entsinne mich;
Der Alte lächelte. »Nun ja, Gewissensbisse, das auch. Aber das alles, offen gestanden, blieb doch bloß die kleinere Hälfte. Die Hauptsache war, ich wollte dem Ehrentag entgehen, demselben Ehrentag, dessen der Herr Oberst eben erwähnte.«
»Dem Jubiläum? aber weshalb?«
»Weil ich der sogenannten ›Auszeichnung‹ entgehen wollte.«
»Aus Bescheidenheit?«
»Nein, aus Dünkel.«
»Aus Dünkel? Ich bitte Sie, wer geht einer Auszeichnung aus dem Wege?«
»Die wenigsten. Und ich auch nicht. Aber Auszeichnung und Auszeichnung ist ein Unterschied. Ein jeder freut sich seines Lohnes. Gewiß, gewiß. Aber wenn der Lohn kleiner ausfällt, als man ihn verdient hat oder wenigstens verdient zu haben glaubt, dann freut er nicht mehr, dann kränkt er. Und das war meine Lage. Man wollte mir ein Bändchen geben an meinem Jubiläumstage. Nun gut, auch ein Bändchen kann etwas sein; aber das, das meiner harrte, war mir doch zuwenig, und so macht ich kurzen Prozeß und bin ohne Jubiläum, aber Gott sei Dank auch ohne Kränkung und Ärger aus dem Dienste geschieden. Ich weiß wohl, daß man nie recht weiß, was man wert ist, aber ich weiß auch, daß es die Menschen in der Regel noch weniger wissen. Und handelt es sich gar um ein armes Dorfschulmeisterlein, nun so geht alles nach Rubrik und Schablone, wonach ich mich nicht behandeln lassen wollte. Von niemandem, auch nicht von wohlwollenden Vorgesetzten. Und da hab ich demissioniert und dem Affen meiner Eitelkeit sein Zuckerbrot gegeben.«
»Bravo«, sagte der Oberst und reichte dem Alten beide Hände. »Sich ein Genüge tun ist
die beste Dekoration. Im letzten ist man immer nur auf sich und sein eigen Bewußtsein
angewiesen, und was andre versäumen, müssen wir für uns selber
So plauderten sie weiter, und als sie, bei fortgesetztem Gespräch über Altenbrak und die Altenbraker, endlich den Zickzackweg wieder abwärts stiegen, bemerkten sie Gordon und die beiden älteren Herren die, von einem Dorfspaziergange heimkehrend, eben aus der Talschlucht nach Burg Rodenstein hinaufkletterten. In ihrer Mitte Rosa. Diese begrüßte jetzt der ihr bis in Front des Hauses entgegengehende St. Arnaud unter gleichzeitigen scherzhaften Vorwürfen über ihre Fahnenflucht aus »Hotel Zehnpfund«, und als man abermals eine Minute später gemeinschaftlich auf die Veranda trat, sah man, wie schon die Vorbereitungen zum Mittagsmahl getroffen und Tisch und Stühle, der bessern Aussicht halber, bis hart an die Holzpfeiler vorgerückt waren. Weißes Linnen kam und Blumen, zuletzt auch Cécile, noch angerötet vom Schlaf, und ehe weitere zehn Minuten um waren, hatte jeder seinen Platz beim Mahl, an dem teilzunehmen der Präzeptor nach einigem Zögern eingewilligt hatte. Er saß zwischen den beiden Damen und zeigte durch Artigkeit und guten Humor, daß er in seiner Jugend eine gute Schule durchgemacht haben mußte. Cécile war entzückt und flüsterte Rosa zu: »Tout à fait comme il faut!«
Und so war auch das Mahl, das sich gleich mit einer kleinen Überraschung einleitete. Die Frau Präzeptorin hatte nämlich, über die vereinbarten Gänge hinaus, auch noch für ein Extra Sorge getragen, für eine Kerbelsuppe, hinsichtlich deren ihr Haushalt ein Renommee hatte.
»Ach, Kerbel«, sagte der Oberst, als der Deckel abgenommen wurde. »Wenn Sie wüßten,
meine liebe Frau Präzeptorin, wie Sie's damit getroffen haben! Wenigstens für mich.
Meine ganze Jugend steigt dabei wieder vor mir auf. Alle Mittwoch, so
»Also so weit mein Weinkeller reicht«, lachte der Präzeptor. »Aber mein Herr Oberst, der reicht nicht weit. Ein Trarbacher, ein Zeltinger. Mosel, dir leb ich, Mosel, dir sterb ich. Übrigens das Beste, was ich habe...«
»Nein, nein«, unterbrach Cécile. »Nicht Wein, nichts Fremdes. Braunschweiger Landesgebräu. Nicht wahr, Herr von Gordon?«
»Unbedingt«, sagte dieser. »Bei solchen Gelegenheiten muß alles eine Lokalfarbe haben. Also sagen wir Braunschweiger Mumme.«
So scherzte man weiter, bis man schließlich, auf des Präzeptors Vorschlag, sich für ein einfaches Blankenburger Bier entschied, das denn auch in Deckelkrügen aufgetragen wurde, jeder Krug mit einer blauen Glasurinschrift. Der Oberst las die seine. »›Der Meister hat ein Doppelkinn, Hoch lebe die junge Frau Meisterin...‹ Ei, ei, mein fein's Jung-Gesell, wo will das hinaus? Das herkömmliche Balladen-Töchterlein bleibt uns diesmal überraschlicherweise vorenthalten, und die Frau Meisterin muß dafür aushelfen. Ein Glück, daß sie jung ist.«
In diesem Augenblicke kamen die Schmerlen auf einer mit Zitronenscheiben bunt
garnierten Schüssel, und da niemand, mit Ausnahme des Emeritus und selbstverständlich
auch des Präzeptors, mit dem diffizilen Gerichte Bescheid wußte, so ließ man die
beiden anfangen und erging sich, als man ziemlich vorsichtig zu folgen begann, in
teils schmeichelhaften, teils despektierlichen Vergleichen. Gordon sprach von »White
bait«, woran ihn die Schmerlen erinnern sollten, während ihnen der Oberst einfach
eine Mittelstellung zwischen Yklei und Spree-Stint anwies, allerdings im Tone der
Entschuldigung hinzusetzend: »Honny soit qui mal y pense.« Rosa drang aber auf
vollkommene Revozierung, da sie sich die Poesie der
»Ja, der Emeritus«, riefen alle. »Lied oder Toast. Er mag wählen, aber Verse.«
»Gut. Ich bin es zufrieden«, sagte der Alte. »Doch jeder nach seinen Kräften. Über den Leberreim bin ich nie hinausgekommen. Und weil alle Welt einen Leberreim machen kann, auch Fräulein Rosa, trotz der von ihr abgegebenen Erklärungen, so muß es einfach reihum gehen. Das ist Bedingung.«
»Einverstanden«, sagte Rosa. »Nur muß es streng angefaßt werden, das ist meine Bedingung, und wer einen falschen Reim macht oder ein Wort gebraucht, das gar nicht existiert, der muß Strafe zahlen oder, mit anderen Worten, ein Pfand geben.«
»Und mit Auslösung«, setzte der Privatgelehrte blinzelnd hinzu, der, wie die meisten Pedanten, etwas von einem Faun hatte.
»Mit Auslösung also«, wiederholte St. Arnaud. »Aber vorher lassen wir die Schüssel noch einmal herumgehen. Das gibt uns dann die höhere Weihe. Nun, Herr Emeritus, commençons.«
Und der Emeritus, während er von der Schüssel nahm, rezitierte langsam und bedächtig vor sich hin:
»Vorzüglich, vorzüglich. Mein Kompliment, Herr Oberst. Der Emeritus ist geschlagen. Ach, das ewig siegreiche Militär, siegreich auf jedem Gebiete. In neuester Zeit auch (leider) auf dem der Malerei. Doch das sind trübe Betrachtungen, zu trübe für diese heitere Stunde. Fahren wir also fort. Herr von Gordon, lassen Sie sehen, was Sie draußen in Persien gelernt haben. Die Poesie soll ja da zu Hause sein. Ist es nicht so? Wie hieß er doch? Ah, ja, Firdusi. Nun also.«
Gordon, der eine scherzhafte Fehde zu provozieren wünschte, nahm ohne weiteres »Querlen« als Reimwort und ließ sich, als dies selbstverständlich beanstandet wurde, zu Behauptungen hinreißen, deren äußerste Fragwürdigkeit noch über die seines Reimes hinausging.
»Es gibt keine Querlen«, entschied Rosa. »Was Inkulpat meint, wenn er überhaupt etwas gemeint hat, sind Quirle. Die gibt es. Herr von Gordon, ein Pfand. Und nun Sie, Herr Eginhard. Ich bitte Sie, Sie bei diesem Vornamen, ich möchte fast sagen im Namen der Poesie, nennen zu dürfen.«
Eginhard begann, während er vor sich hin starrte, seine Brillengläser zu putzen. Aber mit einem Male lag etwas Leuchtendes um seine Stirn, und er sagte mit einem Anfluge von historischer Würde:
Rosa bestritt sofort wieder, daß es einen Fürsten von Werle gegeben habe, wobei
Cécile sekundierte. St. Arnaud aber trat nicht nur für den Privatgelehrten ein,
sondern setzte sogar
Diese verneigte sich lächelnd und sagte dann: »Ich finde, die Herren haben sich's schwer gemacht, um mir es leicht zu machen. An dem Zunächstliegenden sind Sie vorübergegangen. Entscheiden Sie selbst, ob ich recht habe:
Dabei erhob sie sich und ging auf Cécile zu, um ihr die Hand zu küssen. Diese litt es aber nicht, sondern umarmte sie mit einem Anflug von Verlegenheit, zugleich sichtlich bewegt durch diese Huldigung einer heiteren und liebenswürdigen Natur.
Etwas wie Sentimentalität schien aufkommen zu wollen, der Präzeptor aber, der kein Freund davon war, stellte den früheren Ton rasch wieder her, und unter Vortrag aller möglichen Anekdoten aus seinem eigentümlichen, halb als Kantor und halb als Pastor verbrachten Leben verging das Mahl, das niemand Miene machte gewaltsam abzukürzen.
Endlich aber erhob man sich, und als man in das Tempelchen hinaufstieg, um bei frischer Luft und freier Aussicht den Kaffee zu nehmen, war die Sonne schon im Niedergehen und hing über den Tannen der Berghöhe. Nun sank sie tiefer und durchglühte die Spitzen der Bäume, die momentan im Feuer zu stehen schienen.
Alles war schweigend in das herrliche Schauspiel vertieft, und man sah erst wieder auf, als zu fröhlichem Sprechen und Lachen, von dem man nicht recht wußte, woher es kam, allerlei Stimmen laut wurden, die das Echo wecken wollten. Aber es antwortete nicht.
Inzwischen waren die vom Dorf her ungesehen und ungekannt
»Die Turner«, rief Cécile. »Sie werden uns noch einmal begrüßen wollen.«
Und wirklich schlossen sie sich, als sich der Weg wieder zu verbreitern begann, zu Sektionen zusammen und marschierten in festem Tritt, und während die Tambours schlugen, auf die Stelle zu, wo die schmale, fast zu Füßen von Burg Rodenstein liegende Holzbrücke nach dem andern Ufer hinüberführte. Drüben aber nahmen sie nicht Aufstellung en ligne, sondern im Halbkreis, und stimmten hier, umleuchtet von dem Lichte des hinscheidenden Tages, den Scheffelschen »Rodensteiner« an:
Unsre hoch oben stehenden Freunde horchten weiter, aber es blieb bei dieser Strophe. Die Turner brachen mitten im Singen ab, lachten und lärmten und konnten sich an ihrem endlos wiederholten »Raus da, aus dem Haus da« kein Genüge tun.
Von dem Tempelchen her aber klatschte man jetzt Beifall, und der alte, ganz aus dem Häuschen geratene Präzeptor verschwor sich ein Mal über das andere, ein Faß »Echtes« auflegen und die jungen Leute zu Gaste laden zu wollen.
Aber diese, die den Gesang nur im Anblick der Gasthausinschrift ›Zum Rodenstein‹ improvisiert hatten, begnügten sich, zum Gegengruß ihre Mützen zu schwenken, und marschierten gleich danach in den Wald hinein und auf Treseburg zu.
Eginhard und der Emeritus hatten vor, auf Schloß Rodenstein zu bleiben, um anderntags einen »überaus lohnenden« Ausflug erst nach Rübeland und dann in weitem Bogen nach Kloster Michelstein hin zu machen, die St. Arnauds ihrerseits aber, und mit ihnen selbstverständlich auch Gordon, waren entschlossen, noch am selben Abende nach Thale zurückzukehren. Ein Blick auf die Bettbestände hatte nämlich der gnädigen Frau, schon im Laufe des Nachmittags, die nur zu gewisse Gewißheit gegeben, daß von einem Nachtquartier an dieser sonst so reizenden Stelle nicht wohl die Rede sein könne, was denn auch, als man bei Sonnenuntergang von dem Aussichtstempelchen wieder hinunterstieg, St. Arnaud veranlaßte, dem Eseljungen die nötigen Befehle zu Sattlung und raschem Aufbruch zukommen zu lassen, während er für sich persönlich ein Pferd aus den Altenbraker Beständen erbat. »Denn er teile nicht die Passion für Eselreiterei.«
»Dann bitt ich den Herrn Präzeptor«, setzte Cécile mit einer ihr sonst nicht eignen Bestimmtheit hinzu, »den Eseljungen überhaupt ablohnen und statt des einen Pferdes drei beschaffen zu wollen.«
»Ei, ei«, lachte St. Arnaud, einigermaßen überrascht über diese Bestimmtheit, während der kaum minder verwunderte Gordon in Cécile drang, das Bequemere doch nicht ohne Not aufgeben zu wollen.
Aber Cécile blieb fest und sagte: »Darin finden Sie sich nicht zurecht, Herr von Gordon; dazu muß man verheiratet sein. Die Männer sitzen ohnehin auf dem hohen Pferd; schlimm genug; reitet man aber gar noch aus freien Stücken zu Esel neben ihnen her, so sieht es aus wie Gutheißung ihres de haut en bas. Und das darf nicht sein.«
In dieser Weise stritt man noch eine Weile, bis Gordon in einem ihn treffenden Streifblicke zu lesen glaubte: »Tor. Um deinetwegen.«
Eine Viertelstunde später erschienen die Pferde; man nahm
Der Weg drüben schlängelte sich zunächst eine Waldhöhe hinauf, bald aber stieg er wieder zur Bode nieder und folgte deren Windungen. Unter den überhängenden Zweigen lag bereits Dämmerung, und minutenlang war nichts Lebendes um sie her sichtbar, bis plötzlich, in nur geringer Entfernung von ihnen, ein schwarzer Vogel aus dem Waldesschatten hervorhüpfte, wenig scheu, ja beinahe dreist, als woll er ihnen den Weg sperren. Endlich flog er auf, aber freilich nur, um sich dreißig Schritte weiter abwärts abermals zu setzen und daselbst dasselbe Spiel zu beginnen.
»Eine Schwarzdrossel«, sagte Gordon. »Ein schönes Tier.«
»Aber unheimlich.«
St. Arnaud lachte. »Meine teure Cécile, du greifst vor. Das sind Gefühle, wenn man sich im Walde verirrt hat. Aber dies Stück Romantik wird uns erspart bleiben, ja nicht einmal eine regelrechte Gruselnacht, in der man die Hand nicht vor Augen sieht, steht uns bevor. Sieh nur, da drüben hängt noch das Abendrot, und schon kommt der Mond herauf, als ob er auf Ablösung zöge. Laß die Schwarzdrossel. Sie begleitet uns, weil sie froh ist, Gesellschaft zu finden. Frage nur Herrn von Gordon.«
»Ich möchte doch mehr der gnädigen Frau zustimmen«, sagte dieser. »Alle Vögel, mit alleiniger Ausnahme der Spatzen, exzellieren in etwas eigentümlich Geheimnisvollem und beschäftigen unsere Phantasie mehr als andere Tiere. Wir leben in einer beständigen Scheu vor ihnen, und es gibt eigentlich weniges auf der Welt, was mir soviel Respekt einflößte wie zum Beispiel ein grauer Kakadu, Professoren der Philosophie folgen erst in weiterem Abstand. Und nun gar Storch und Schwalbe! Wer hätte den Mut, einer Schwalbe was zuleide zu tun oder einen Storch aus dem Neste zu schießen?«
Unter solchem Gespräche war man bis an die Treseburger Brücke gekommen und sah auf das am andern Ufer, unmittelbar neben dem Fluß hin, reizend gelegene Gasthaus »Zum weißen Hirsch«. Einige der hier aufgestellten Tische hatten Windlichter, die meisten aber begnügten sich mit dem hellen Scheine, den der Mond gab.
»Wollen wir hinüber?« fragte der Oberst.
Aber Cécile war dagegen. Der Weg drüben sei doch mutmaßlich derselbe, den sie schon am Vormittage gemacht hätten, und sie habe keine Sehnsucht, noch einmal an Todtenrode vorüberzukommen.
»Also diesseits!«
Und damit lenkte St. Arnaud in einen schluchtartigen Weg ein, der in ziemlicher Steile zu dem zwischen Treseburg und Thale sich ausdehnenden Plateau hinaufstieg.
Oben war nichts als Gras und Acker, zwischen denen ein schmaler Weg lief, nur gerade breit genug, um in gleicher Linie nebeneinander bleiben zu können. Die Schatten aller drei fielen vorwärts auf den wie Silber blitzenden Weg, und diesem ihrem Schatten ritten sie nach. Meist im Schritt. Die Luft ging kalt, und Cécile begann zu frösteln, weshalb ihr Gordon ein Plaid reichte, das er bis dahin über die Kruppe seines Pferdes geschnallt hatte.
»Nimm's nur«, sagte St. Arnaud. »Herr von Gordon wird dich kunstgerecht damit drapieren; das ist er seinem Clan Gordon schuldig. Und dann haben wir dich als Hochlandserscheinung zwischen uns. Lady Macbeth oder dergleichen. Nur der Reithut fällt aus dem Stil.«
»Was ist das?« sagte der Oberst und ritt auf das Denkmal zu, während Gordon und Cécile langsameren Schritts ihren Weg fortsetzten.
»Lockt Sie's nicht auch?« fragte Cécile mit einem Anfluge von Spott und bittrer Laune. »St. Arnaud sieht mich frösteln und weiß, daß ich die Minuten zähle. Doch was bedeutet es ihm?«
»Und ist doch sonst voll Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme.«
»Ja«, sagte sie langsam und gedehnt. Und eine Welt von Verneinung lag in diesem Ja. Gordon aber nahm ihre lässig herabhängende Hand und hielt und küßte sie, was sie geschehen ließ. Dann ritten beide schweigend nebeneinander her, bis sich St. Arnaud ihnen wieder gesellte.
»Was war es?« fragte Cécile.
»Das Denkmal eines alten Oberforstmeisters.«
»Den hier ein Wilddieb erschossen?«
»Nein, weniger sensationell. Er starb ruhig in seinem Bett.«
»Und hieß?«
»Pfeil.«
»Ah, Pfeil. Graf Pfeil?«
»Nein«, lachte St. Arnaud, »bloß Pfeil. Die Natur hat mitunter ihre demokratischen Launen. Übrigens war er, aller Bürgerlichkeit ungeachtet, eine große Forst-Autorität, und einer unsrer berühmtesten landwirtschaftlichen Sätze rührt von ihm her.«
»Und welcher, wenn ich fragen darf?«
»Daß die Vermählung von Sumpf und Sand unter Umständen eine besonders feine Kultur
schaffe. Sumpf an und für sich sei nicht zu gebrauchen und Sand an und für sich auch
nicht, aber daß der liebe Gott in seinem notorischen Lieblingslande Mark Brandenburg
beide dicht nebeneinandergelegt habe, das
Und im Fluge ging es weiter über das Plateau hin, abwechselnd an Bäumen und Felszacken und dann wieder an Kreuzwegen und Wegweisern vorüber. An einem stand: »Nach dem Hexentanzplatz«, und St. Arnaud wies darauf hin und sagte: »Wollen wir einen Contre mitmachen? Oder bist du für Extratouren?«
Es klang übermütig und spöttisch, und sie bog sich bei seiner Annäherung unwillkürlich zur Seite.
Der Oberst aber war in der Laune, sich gehenzulassen, und fuhr in dem einmal angeschlagenen Tone fort: »Sieh nur, wie das Mondlicht drüben auf die Felsen fällt. Alles spukhaft; lauter groteske Leiber und Physiognomien, und ich möchte wetten, alles, was dick ist, heißt Mönch, und alles, was dünn ist, heißt Nonne. Wahrhaftig, Herr von Gordon hatte recht, als er den ganzen Harz eine Hexengegend nannte.«
Gleich danach waren sie bis an den Vorsprung gekommen, von dem aus sich der Plateauweg wieder senkte. Die Pferde wollten in gleicher Pace vorwärts, aber ihre Reiter, überrascht von dem Bilde, das sich vor ihnen auftat, strafften unwillkürlich die Zügel. Unten im Tal, von Quedlinburg und der Teufelsmauer her, kam im selben Augenblicke klappernd und rasselnd der letzte Zug heran, und das Mondlicht durchleuchtete die weiße Rauchwolke, während vorn zwei Feueraugen blitzten und die Funken der Maschine weit hin ins Feld flogen.
»Die Wilde Jagd«, sagte St. Arnaud und nahm die Tête, während Gordon und Cécile folgten.
Als sich unsere Reiter eine Viertelstunde später dem Hotel näherten, sahen sie deutlich, daß der letzte Zug viel Gäste gebracht haben mußte, denn der große, nach der Parkwiese hinaus gelegene Balkon zeigte noch das bunteste Leben. Alles stand in Licht, und in dem Lichte hin und her bewegten sich die Kellner. Einer trug eine große, hoch aufgebaute Teemaschine, was zweifellos bedeutete, daß Engländer oder Holländer angekommen sein mußten.
»Sieh, Pierre«, sagte Cécile, die sich angesichts dieses lachenden Bildes rasch wieder erheiterte. »Das ist hübsch, daß wir noch Leben vorfinden.«
Und gleich danach hielten alle drei vor dem Vorbau, hoben sich aus den Sätteln und traten in das Vestibül. Eine Welt von Koffern und Reisetaschen lag hier bunt durcheinander, und als Cécile die Treppe hinaufstieg, tat ihr die Wärme wohl, die die Gasflammen ausstrahlten.
»Ich denke, wir nehmen den Tee noch gemeinschaftlich auf dem Balkon. Nicht wahr, Herr von Gordon?«
Und wirklich, binnen kürzester Frist saßen unsere Freunde mit unter den Gästen, und zwar an demselben Tisch, an dem sich ihre Bekanntschaft, vor wenig Tagen erst, eingeleitet hatte. Cécile, die sich inzwischen umgekleidet, trug, halb vorsichts-, halb eitelkeitshalber, ein mit Pelz besetztes Jacquet, das ihr vortrefflich stand und mit dazu beitrug, sie zum Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit zu machen. Nichts davon entging ihr, und ihre wohlige Stimmung wuchs bis zu dem Moment hin, wo sie, nach eingenommenem Tee, den nur noch von wenig Gästen besetzten Balkon am Arme St. Arnauds verließ.
Es schlug elf vom Dorfe her, als Gordon in sein einfaches, im linken Flügel gelegenes
Zimmer trat, um sich's hier, wie seine Gewohnheit war, schon vor dem Schlafengehen in
einer Sofaecke bequem zu machen. Er war aber noch viel zu sehr bestürmt
Unter solchem Selbstgespräche trat er vom Fenster zurück und ließ alles, was der Tag
gebracht, noch einmal an seiner Seele vorüberziehen. Wieder vernahm er das heitere
Lachen, mit dem sie bei Tisch die Schmerlen-Reime begleitet hatte, wieder sah er das
mondbeschienene Plateau, darauf sie heimritten, hörte wieder das langgedehnte »Ja«,
das doch ein kurzes »Nein« war, und fühlte noch einmal den erwidernden Druck ihrer
Hand. Und dabei kehrten ihm alle Betrachtungen und Fragen zurück, denen er schon in
seinen Zeilen an die Schwester Ausdruck gegeben hatte. »Was ist es mit dieser Frau?
So gesellschaftlich geschult und so naiv! Sie will mir gefallen und ist doch ohne
rechte Gefallsucht. Alles gibt sich mehr aus Gewohnheit als aus Coquetterie. Sie hat
augenscheinlich in der vornehmen Welt gelebt, vielleicht in einer allervornehmsten,
und hat Auszeichnungen und Huldigungen erfahren, aber wenig echte Neigung und noch
weniger Liebe. Ja, sie hat ein Verlangen, eine Sehnsucht. Aber welche? Mitunter ist
es, als sehne sie sich, von einem Drucke befreit zu werden oder von einer Furcht und
innerlichen Qual. Ist ihr St. Arnaud diese Furcht?
In diesem Augenblicke schwand drüben der Lichtstreifen auf dem Bosquet.
»Es soll dunkel bleiben.«
Und er schloß das Fenster und suchte die Ruhe.
Die kam ihm nicht gleich, aber als sie kam, schlief er fest, und die Sonne war schon an seinem Fenster vorüber, als er aufwachte. Nach der Uhr sehend, sah er, daß der Zeiger bereits auf acht wies, und er sprang nun rasch aus dem Bett.
Seine Toilette war erst halb beendet, als es klopfte.
»Herein.«
Der Portier übergab ihm ein Telegramm, zugleich Entschuldigungen vorbringend. Es sei schon gestern nachmittag gekommen, als die Herrschaften noch auf der Altenbraker Partie gewesen seien. Und nachher sei's vergessen worden. Herr von Gordon möge verzeihen.
Gordon lächelte. Telegramme hatten längst aufgehört, eine besondere Wichtigkeit für
ihn zu haben, und so kam es, daß er auch jetzt noch eine Minute vergehen ließ, ehe er
den Zettel überhaupt öffnete. Sein Inhalt lautete: »Bremen, 15. Juli. Wegen des neuen
Kabels abgeschlossen. Wir erwarten Sie morgen.« Eine Welt widerstreitender
Empfindungen drang auf ihn ein, als er auf diese Weise den ihm während der letzten
Tage so lieb gewordenen Aufenthalt in Thale so plötzlich abgebrochen sah. Aber das
Angenehme, Beruhigende, Zufriedenstellende wog in diesem Widerstreit der Gefühle doch
schließlich vor. »Gott sei Dank, ich bin nun aus der Unruhe heraus und vielleicht aus
noch Schlimmerem. Wer sich in Gefahr begibt, kommt drin um, und mit unserer
Festigkeit und unseren guten Vorsätzen ist nicht viel getan. Eine gnädige Hand muß
Und er klingelte.
»Mein Frühstück und meine Rechnung... Sind Oberst St. Arnaud und Frau schon auf dem Balkon?«
»Ja, Herr Baron.«
Er ließ sich die Rangerhöhung gefallen und fuhr fort: »Und der nächste Zug nach Hannover?«
»Neun Uhr zwanzig.«
»Ah, da hab ich noch Zeit vollauf.«
Und er hob, als er wieder allein war, den Koffer auf den Ständer und begann zu packen. Die Raschheit, mit der er dabei verfuhr, zeigte den Vielgereisten, und der vom Zimmerkellner mittlerweile gebrachte Kaffee hatte noch eine mittlere Temperatur, als auch alles schon fertig und der ins Schloß gedrückte Koffer samt Schirm und Plaid beiseite geschoben war.
Gordon sah nach der Uhr.
»Neun. Also noch zwanzig Minuten: fünfzehn für mein Frühstück und fünf für den Abschied. Etwas wenig. Aber je weniger, desto besser. Was soll man sich sagen? Abschiedsworte müssen kurz sein wie Liebeserklärungen. Das Beste hält nicht lange vor und sträubt sich gegen Dauer: der erste Moment ist poetisch, der zweite kaum noch und der dritte gewiß nicht mehr. Und weil man das fühlt und ein schlechtes Gewissen hat, so wird man lügnerisch und heuchelt und übertreibt. Und das mag ich nicht. Ich will mich nicht selbst um die schönen Eindrücke dieser Tage bringen und will gehobenen Herzens und ohne alles Redensartliche von ihr gehen. Ich will mich ihrer erinnern, wie, wie... Nun wie... Nun, nur um 's Himmels willen nichts von kindischen Vergleichen. Und doch, woran erinnert sie mich? An wen? Oder an welches Bild?«
Und er wiegte den Kopf, nachsinnend, hin und her. Endlich schien er es gefunden zu
haben: »Ja, das ist es. Ich habe mal
Und unter solchem Selbstgespräche trat er noch einmal ans offene Fenster und sah, über die zunächstgelegene kleine Gartenanlage fort, in das Flachland hinaus, an dessen äußerstem Rande die Türme von Quedlinburg aufragten. Er blieb eine Minute lang im Anblick derselben und nahm dann Hut und Stock, um sich bei den St. Arnauds zu verabschieden. Aber diese waren nicht mehr auf dem Balkon, sondern promenierten bereits im Park unten und schritten eben auf ihre Lieblingsbank zu, die, von Flieder und Goldregen halb überwölbt, den Blick auf den Bahnhof frei hatte.
»Bitte«, so wandte er sich an den Oberkellner, »lassen Sie meine Sachen hinüberschaffen.«
Und nun ging er auf die Bank zu, wo St. Arnaud und Cécile mittlerweile Platz genommen hatten. Boncœur war mit da, lag aber diesmal nicht zur Seite, sondern in Front, in vollem Sonnenschein. Als er Gordon kommen sah, hob er einen Augenblick den Kopf, ohne sich im übrigen zu rühren.
»Ah, Herr von Gordon«, sagte der Oberst. »So spät. Ich dachte, Sie wären ein Frühauf. Meine Frau hat Ihnen in den letzten zehn Minuten mindestens ebenso viele Krankheiten angedichtet. Ich wette, sie schwärmte schon in der Vorstellung einer allerchristlichsten Krankenpflege.«
»Der ich mich nun rasch und undankbar entziehe.«
»Wie das?«
Gordon sah, wie Cécile sich verfärbte. Sie bezwang sich aber, warf mit dem Schirm ein paar Steinchen in die Luft und sagte: »Sie lieben Überraschungen, Herr von Gordon.«
»Nein, meine gnädigste Frau, nicht Überraschungen. Erst seit einer Stunde weiß ich davon, und es lag mir daran, über das, was nun sein muß, so schnell wie möglich hinwegzukommen. Was sag ich Ihnen noch? Ich werde diese Tage nie vergessen und würde mich glücklich schätzen, sie früher oder später, sei's hier oder in Berlin oder irgend sonstwo in der Welt, wiederkehren zu sehen.«
Cécile sah vor sich hin, und eine peinliche Stille folgte, bis St. Arnaud artig, aber nüchtern erwiderte: »Worin sich unsere Wünsche begegnen.«
In diesem Augenblicke läutete die Glocke drüben zum zweiten Male.
»Das gilt mir. Adieu, meine gnädigste Frau. Au revoir, Herr Oberst.«
Und Gordon, den Hut lüftend, ging auf den Bahnhof zu, der nur durch eine hohe Hecke von der Parkwiese getrennt war. Vor einem der hier eingeschnittenen Durchgänge blieb er noch einmal stehen, verneigte sich und grüßte militärisch hinüber. Der Oberst erwiderte den Gruß in gleicher Weise, während Cécile dreimal mit dem Taschentuch winkte.
Keine Minute mehr, und der Pfiff der Lokomotive schrillte durch die Luft. Boncœur aber sprang auf und legte seinen Kopf in den Schoß der schönen Frau. Dabei schien er sagen zu wollen: »Laß ihn ziehen: ich bleibe dir und – bin treuer als er.«
Gordon war allein im Coupé und nahm einen Rückwärtsplatz, um so lange wie möglich
einen Blick auf die Berge zu haben, zu deren Füßen er so glückliche Tage verbracht
hatte.
»Dieser Abschied«, sprach er vor sich hin, »ich wollt ihn abkürzen, um nicht in armselige Redensarten zu verfallen, und doch war mein letztes Wort nichts andres. ›Auf Wiedersehen!‹ Alles Phrase, Lüge. Denn wie steht es damit in Wahrheit? Ich will sie nicht wiedersehen, ich darf sie nicht wiedersehen; ich will nicht Verwirrungen in ihr und mein Leben tragen.«
Er wechselte den Platz, weil die just eine starke Biegung machende Bahn ihm den Blick auf die Berge hin entzog. Dann aber fuhr er in seiner Betrachtung fort: »Ich will sie nicht wiedersehen, so sag ich mir. Aber schließlich, warum nicht? Sind Verwirrungen denn unausbleiblich? Lady Windham in Delhi war nicht älter als Cécile, und ich selbst war um fünf Jahre jünger als heut, und doch waren wir Freunde. Niemals, in den nun zurückliegenden Tagen, hab ich mir im Umgange mit der liebenswürdigen Lady mißtraut und ihr selbst noch weniger. Also warum kein Wiedersehen mit Cécile? Warum nicht Freundschaft? Was in einer indischen Garnisonstadt möglich war, muß noch viel möglicher sein innerhalb der Zerstreuungen einer großen Residenz. Sind doch Einsamkeit und Langeweile so recht eigentlich die Gevatterinnen, die die Liebestorheit aus der Taufe heben.«
Er warf die Zigarette fort, lehnte sich zurück und wiederholte: »Warum nicht
wiedersehen?« Aber er konnte weder Ruhe noch Trost aus dieser Frage schöpfen. »Ach,
daß ich von der Frage nicht loskomme, das ist eben das Mißliche, das gibt die
Vorwegentscheidung. Ich entsinne mich eines Rechtsanwalts, der mir einmal beim
Schoppen erzählte: ›Wenn wer zu mir kommt und im Eintreten schon anhebt ›Ich habe da
was geschrieben und wollte nur noch von ungefähr anfragen, ob vielleicht eine
Stelle...‹, so ruf ich ihm schon von weitem zu: ›Streichen Sie die Stelle. Sie würden
mich nicht fragen, wenn
Solche Betrachtungen begleiteten ihn und kamen ihm während seines Bremer Aufenthalts allabendlich wieder, wenn er, nach den Geschäften und Mühen des Tages, seinen Spaziergang am Bollwerk hin machte. Seine Vorsätze blieben dieselben, aber freilich seine Neigungen auch, und als er eines Tages, wo diese Neigungen mal wieder stärker als die Vorsätze gewesen waren, in seine Wohnung heimkehrte, schob er ein Tischchen an die Balkontür seines nach dem Flusse hin gelegenen Zimmers und setzte sich, um an Cécile zu schreiben.
Es war eine kostbare Nacht, kein Lüftchen ging, und auf den vorüberflutenden Strom fielen von beiden Ufern her die Quai- und Straßenlichter; die Mondsichel stand über dem Rathaus, immer stiller wurde die Stadt, und nur vom Hafen her hörte man noch Singen und den Pfiff eines Dampfers, der sich, unter Benutzung der Flut, zur Abfahrt rüstete.
Rasch flog Gordons Feder über die Seiten hin, und die weiche Stimmung, die draußen herrschte, bemächtigte sich auch seiner und fand in dem, was er schrieb, einen Ausdruck.
Die Verhandlungen in Bremen währten länger als erwartet und kamen erst zum Abschluß,
als eine nach den friesischen
Anfang August war er in Berlin, wo, neben amtlichen und finanziellen Vorbereitungen, auch allerlei das Technische betreffende Bestellungen und Kontrakte zu machen waren. Er bezog eine schon Ende Mai, kurz vor seiner Reise nach Thale, gemietete Wohnung in der Lennéstraße, wohin er auch alle Briefe zu richten angeordnet hatte. Leider fand er nichts vor, weder in der Wohnung noch auf der Post, oder doch nicht das, woran ihm am meisten gelegen war. Eine schlechte Laune stellte sich ein, aber glücklicherweise nicht auf lange.
»Tor, der ich bin und immer nur mit meinen Wünschen rechne. Man braucht kein Menschenkenner zu sein, um zu wissen, daß Cécile keine passionierte Briefschreiberin ist. Wäre sie das, so wäre sie nicht sie selbst. Briefeschreiben ist wie Wetterleuchten; da verblitzt sich alles, und das Gewitter zieht nicht herauf. Aber Frauen wie Cécile vergegenständlichen sich nichts und haben gar nicht den Drang, sich innerlich von irgendwas zu befreien, auch nicht von dem, was sie quält. Im Gegenteil, sie brüten darüber und überladen sich mit Gefühl bis dann mit einem Male der Funken überspringt. Aber sie schreiben nicht, sie schreiben nicht.«
Er schob, während er so sprach, den Sofatisch beiseit und begann auszupacken. Unter
den ersten Sachen war auch eine Schreibmappe, deren Deckel eine Photographie zeigte,
das Bild seiner Schwester. In der Stimmung, in der er war, sah er sich's an und
sagte: »Clothilde. Wie gut sie aussieht. Aber sie taugt auch nichts. Es muß über drei
Wochen sein, daß ich an sie geschrieben. Und bis heute keine Antwort, trotzdem das
In diesem Augenblicke klopfte es.
»Herein.«
Der Eintretende war ein Großindustrieller, Vorstand einer Fabrik für Maschinenwesen und Kabeldrähte, dem Gordons Ankunft von Bremen her telegraphiert worden war und der nicht säumen wollte, sich ihm vorzustellen. Gordon entschuldigte sich wegen der überall im Zimmer herrschenden Unordnung und bat den Fremden, einen eleganten Herrn von augenscheinlich weltmännischen Allüren, in einem der Fauteuils Platz zu nehmen. Der Fremde lehnte jedoch mit vieler Verbindlichkeit ab und lud seinerseits Gordon ein, ihn nach seiner Charlottenburger Villa hinaus begleiten und daselbst sein Gast sein zu wollen; sein Wagen halte bereits vor der Tür, und was Geschäftliches zu sprechen sei, lasse sich unterwegs verhandeln. »Wir haben dann den Abend für ein Gespräch mit den Damen.« Seine Frau, so schloß er, die passioniert für Nilquellen und Kongobecken sei, freue sich ungemein, einen so weitgereisten Herrn kennenzulernen, und wenn es Afrika nicht sein könne, so werde sie sich auch mit Persien und Indien zufriedengeben.
Gordon fühlte sich durch die ganze Sprechweise sehr angeheimelt und nahm an.
Der Abend in Charlottenburg war entzückend gewesen, und Gordon hatte sich wieder
überzeugt, »wie klein die Welt sei«. Gemeinschaftliche Freunde waren entdeckt worden,
in Bremen, England, New York, und zuletzt auch in Berlin selbst. Auch den Obersten
von St. Arnaud kannte man; er habe eine schöne Frau, die schon einmal verheiratet
gewesen sei (sehr
Nun war es Morgen, und er erschrak fast, als er in sein Wohnzimmer trat und sich hier umsah. Alles lag noch gerade so da, wie's gestern, als der Besuch kam, gelegen hatte: Wäsche, zerstreut über die Stühle hin, Überzieher und Fracks an Schrankecken und Fensterriegel gehängt, und der Koffer selbst halb aufgeklappt zwischen Tür und Ofen. Am buntesten aber sah es auf dem Sofatisch aus, wo Nagelscheren und Haarbürsten, Eau-de-Cologne-Flaschen und Krawatten ein Chaos bildeten, aus dessen Zentrum ein rotes Fez und als Überraschung ein Markt-Astern-Bouquet aufragte, das die Wirtin, vielleicht um sich ihres Mieters fester zu versichern, mit beinah komischer Sorgfalt in eine blaue Glasvase mit Silberrand hineingestellt hatte. Nirgends ein Zollbreit Platz. Zu dem allen kam in eben diesem Augenblick auch noch der Kaffee; Gordon nahm schnell eine Schale voll und setzte dann das Tablett auf den Bücherschrank.
»Und nun sollt ich wohl«, hob er an, »in diesem Chaos Ordnung stiften. Aber ich war so lange nicht in Berlin, wenigstens nicht mit Muße, daß ich ein Recht habe, mich als einen Fremden anzusehen. Und für einen Fremden ist es immer das erste, daß er sich ein Kissen aufs Fensterbrett legt und die Häuser und Menschen ansieht.«
Und damit trat er wirklich ans Fenster und sah hinaus.
»Aber Häuser und Menschen in der Lennéstraße! Da hätt ich mir freilich einen anderen
Stadtteil und vor allem ein anderes Vis-à-vis suchen müssen. Alles ist so still und
verkehrslos hier, als ob es eine Privatstraße wäre mit einem Schlagbaum rechts und
links. Sei's drum; man muß die Feste nehmen, wie sie fallen, und die Straßen auch. Im
übrigen wird sich schon was finden, das der Betrachtung aus der Vogelperspektive wert
wäre. Das an der Ecke da, das muß der Schneckenberg
Er sah noch eine Weile dem Spritzen zu, freute sich, wie sich das Sonnenlicht in den Tropfen brach, und gab dann seinen Fensterplatz wieder auf, um endlich Ordnung zu schaffen. Rüstig ging er ans Werk und mußte lachen, als der Kleiderschrank bei jeder Berührung seiner Holzriegel quietschte. »Noch ganz die alte Zeit. So quietschten sie früher auch. Aber Berlin wird Weltstadt.«
Und während er so sprach, flogen die Kästen auf und zu, bis, nach Ablauf einer Stunde, nicht bloß die Stiefel aller Arten und Grade blank aufmarschiert in einer Ecke standen, sondern auch die Bürsten und sonstigen Reinigungsapparate des zivilisierten Men schen ihren richtigen Platz gefunden hatten.
Er ruhte sich einen Augenblick und machte dann Toilette.
»Wohin? Alte Freunde besuchen, die vielleicht keine mehr sind? Immer mißlich. Also neue, das heißt mit andern Worten die St. Arnauds. Denn andre hab ich nicht. Aber sind sie da? Daß ich sie vor acht Tagen auf der langweiligen Insel nicht finden konnte, beweist nicht, daß sie zurück sein müssen. Sie können sich, statt für Norderney, mindestens ebensogut für Helgoland oder Scheveningen entschieden haben. Eins ist wie das andre. Aber mit oder ohne Chance, jedenfalls kann ich einen Versuch machen.«
Diese war auf dem Hafenplatze, so daß der einzuschlagende Weg erst durch ein Stück Königgrätzer Straße, demnächst aber über den Potsdamer Platz führte, der auch heute wieder wegen Kanalisation und Herstellung eines Inselperrons unpassierbar war. Wenigstens in seiner Mitte. So mußte Gordon denn an der Peripherie hin sein Heil versuchen, was ihn freilich nur in neue Wirrnisse brachte. Denn es war gerade Markt heute, der, wie gewöhnlich an dieser Stelle, zwischen Straßendamm und Häuserfront abgehalten wurde. Hier saßen die Marktfrauen in einer Art Defilee »gekeilt in drangvoll fürchterliche Enge«, durch welche Gordon nun hindurch mußte. Wirklich, das war nichts Leichtes, aber so schwer es war, so vergnüglich war es auch, und auf die Gefahr hin, überrannt zu werden, blieb er stehen und musterte die Szenerie. Weit hin standen die Himbeer-Tienen am Trottoir entlang, nur unterbrochen durch hohe, kiepenartige Körbe, daraus die Besinge, blauschwarz und zum Zeichen ihrer Frische noch mit einem Anfluge von Flaum, hervorlugten. In Front aber, und zwar als besondere Prachtstücke, prangten unförmige verspätete Riesenerdbeeren auf Schachtel- und Kistendeckeln, und dazwischen lagen Kornblumen und Mohn in ganzen Bündeln, auch Goldlack und Vergißmeinnicht, samt langen Bastfäden, um, wenn es gewünscht werden sollte, die Blumen in einen Strauß zusammenzubinden. Alles primitiv, aber entzückend in seiner Heiterkeit und Farbe. Gordon war ganz hingenommen davon, und erst als er sich satt gesehen und ein paar kräftige Atemzüge getan hatte, ging er weiter, um, an der Köthner-Straßen-Ecke rechts einbiegend, auf den Hafenplatz zuzuschreiten.
»Sie werden in dem Diebitschschen Hause wohnen. Etwas Alhambra, das paßt ganz zu
meiner schönen Cécile. Wahrhaftig, sie hat die Mandelaugen und den tief
melancholischen Niederschlag irgendeiner Zoë oder Zuleika. Nur der Oberst, bei allem
Respekt vor ihm, stammt nicht von den Abenceragen
Während er noch so vor sich hin plauderte, stand er vor dem St. Arnaudschen Hause, das aber, wie die Nummer jetzt auswies, nicht das Haus mit der Alhambrakuppel, sondern ein benachbartes von kaum minderer Eleganz war, wie gleich sein Eintritt ihm zeigen sollte. Die Stufen waren mit Teppich, das Gelände mit Plüsch belegt, während die buntbemalten Flurfenster ein mattes Licht gaben. Eine Treppe hoch angekommen, las er: »Oberst v. St. Arnaud.«
Er klingelte. Niemand aber kam.
»Also noch verreist. Ich will's aber doch noch einmal versuchen. Solange die Herrschaften nicht da sind, sitzen die Dienerschaften auf den Ohren.«
Und er klingelte wieder.
Wirklich, ein hübsches Mädchen kam, eine Jungfer, etwas verlegen. Sie schien in einer intimen Unterhaltung gestört worden zu sein oder doch mindestens in ihrer Toilette.
»Die gnädige Frau schon zurück?«
»Erst heut über acht Tage.«
»Von Norderney?«
»Nein. Von dem Gut.«
»Ah, von dem Gut«, sagte Gordon, als ob er wisse, daß ein solches existiere. Dann ging er wieder, nachdem er sein Bedauern ausgesprochen hatte, die Herrschaften verfehlt zu haben.
»Also noch auf dem Gut. Das will sagen, auf dem Gute der Frau. Denn Obersten haben keine Güter. Es gibt zwar Dotationen, aber die kommen erst später, wenn sie überhaupt kommen.«
Und damit trat er wieder auf den Platz hinaus.
Erst in einer Woche sollte Cécile von dem Gute zurückkehren. Das erschien Gordon eine lange Zeit, und die Tage wollten kein Ende nehmen, noch weniger die Abende, was ihm Veranlassung gab, es mit dem Theater zu versuchen. Aber er empfand wieder ganz die Wahrheit dessen, was ihm einst ein Freund über Theater und Theaterbesuch gesagt hatte: »Man muß oft hingehen, um Vergnügen daran zu finden; wer selten hinkommt, leidet unter der Unwahrheit dessen, was er sieht.« Er gab also den Theaterbesuch wieder auf, vielleicht rascher, als recht und billig war, und mußt es schließlich noch als ein besonderes Glück ansehen, in dem ihm nahe gelegenen »Hôtel du Parc« einen ihm zusagenden Platz für Unterbringung seiner Abende zu finden. Er saß hier oft halbe Stunden lang und länger in dem schmalen Glaspavillon und las entweder die Zeitungen oder plauderte mit dem Wirt.
Eines Abends traf er in eben diesem Glaspavillon auch die beiden Berliner wieder, die, vom »Hotel Zehnpfund« her, ihm noch gut in der Erinnerung waren, und er würde sicherlich nicht versäumt haben, sie zu begrüßen, wenn sie nicht in Begleitung ihrer Damen gewesen wären, die, nachdem ihnen ganz ersichtlich Gordons Name zugetuschelt worden war, so fort Anstandsgesichter aufsetzten und jeden Versuch ihrer Ehemänner zu Fortführung einer unbefangenen oder gar heiter ungenierten Unterhaltung energisch ablehnten. In dieser erkünstelten Würde verharrten sie denn auch bis zuletzt und brachen, nachdem sie sich gegen den sie begleitenden und ihnen bekannten Wirt nur im letzten Momente noch mit verstecktem Lächeln verbeugt hatten, unter entsprechender Pomphaftigkeit auf.
»Kannten Sie die Herrschaften?« fragte Gordon. »Ich war im Juni mit ihnen in Thale zusammen; das heißt mit den beiden Herren. Da waren sie ganz anders, etwas laut, etwas sonderbar, so berlinisch.«
»Ja«, lachte der Wirt. »Das ist immer so. Richtige Berliner
»Besonders, wenn die Frauen dabei sind.«
»Ja, dann besonders.«
Zwei Tage später war die Zeit um, wo die St. Arnauds zurück sein wollten, und Gordon zählte jetzt die Stunden, um am Hafenplatz wieder vorzusprechen. Er bezwang sich aber und ließ abermals drei, vier Tage vergehen, eh er sich anschickte, seinen Antrittsbesuch zu machen.
Diesmal nahm er seinen Weg am Wrangelbrunnen und der Matthäikirche vorbei, welchen Umweg er nur der längeren Vorfreude halber wählte.
»Nun aber ist es Zeit.« Und damit bog er, vom Schöneberger Ufer her, links ein und passierte gleich danach die kleine, hier noch aus älterer Zeit her den Verkehr nach dem Hafenplatz hin vermittelnde Dreh-und Gitterbrücke. Schon von fern her sah er nach der Beletage hinauf und nahm nicht ohne Sorge wahr, daß die zusammengesteckten Gardinen nach wie vor die ganze Fensterbreite verdeckten. Als er aber die Treppe hinaufstieg und den letzten Absatz derselben glücklich erreicht hatte, ließ ihm die den Türrahmen einfassende Laubgirlande keinen Zweifel mehr, daß die Herrschaften zurückgekehrt sein müßten. Oben angekommen, fuhr er mit leiser Hand über das schon halb trockene Laub hin und sagte, wie wenn er an dem Raschelton die Zeit gemessen habe: »Drei Tage.«
Nun erst zog er die Glocke. Dasselbe nach Wesen und Sprechart oberschlesische Mädchen erschien wieder, das ihm schon bei seinem ersten Besuche geöffnet hatte, diesmal mit bemerkenswerter Raschheit. Er nannte seinen Namen, und einen Augenblick später kam Antwort: »Die gnädige Frau lasse bitten.«
Gordon folgte, den Korridor entlang, bis an den sogenannten Berliner Saal, an dessen
Schwelle Cécile bereits stand und ihn begrüßte. Sie sah frischer und jugendlicher aus
als in Thale, welchen Eindruck ein helles Sommerkostüm noch steigerte.
»Herzlich willkommen«, sagte sie. »Und vor allem schönen Dank für Ihren Brief; er hat mir so wohlgetan. Und wie liebenswürdig, daß Sie Wort halten und unsrer gedenken.«
Gordon erwiderte, daß er vor zehn Tagen schon nachgefragt habe.
»Susanne hat uns davon erzählt. Und die Beschreibung, die sie machte, war so gut, daß St. Arnaud und ich gleich auf Sie rieten. Aber nun vor allem Pardon, daß ich Sie nicht in unsren Glanzräumen empfange. Wir sind noch wie zu Gast bei uns selbst und beschränken uns auf ein paar Hinterzimmer. Ein Glück, daß wir wenigstens einen leidlich repräsentablen Gartenbalkon haben. Übrigens finden Sie Besuch. Erlauben Sie, daß ich voraufgehe.«
Gordon verneigte sich, und einen Augenblick später traten beide, nach Passierung eines schon im Seitenflügel gelegenen und mit Philodendrons und andren Blattpflanzen fast überfüllten Raumes, auf einen Vorbau hinaus, der, aus Stein aufgeführt, mehr einem nach vorn hin offenen Zimmer als einem Balkone glich. Eiserne Stühle samt Tisch und Etagère standen umher, während auf einer mit Kissen belegten Gartenbank ein alter Herr mit schneeweißem Haar saß, der sich, als er Gordons gewahr wurde, von seinem Platz erhob.
»Erlauben mir die Herren, Sie miteinander bekannt zu machen: Herr von Leslie-Gordon, Herr Hofprediger Doktor Dörffel. Aber nun, wenn ich bitten darf, placieren wir uns. Der Stuhl in der Ecke da... wahrscheinlich verstaubt..., aber gleichviel, helfen Sie sich, so gut es geht. Und nun, Herr von Gordon, bitt ich, Ihnen ein Glas von diesem Montefiascone einschenken zu dürfen. Oder der Herr Hofprediger übernimmt es vielleicht; er hat ruhige Nerven und eine sichere Hand, während ich immer noch das Fingerzittern habe; Meer- und Gebirgsluft haben mir gleichmäßig die Hülfe versagt. Aber nichts von solch unerfreulichen Dingen. Ihr Wohl, Herr von Gordon.«
Cécile dankte. »Erinnern Sie sich noch des Tages, wo wir das letzte Mal so zusammensaßen?«
»Oh, wie könnt ich des Tages je vergessen.«
Und er begann nun den Reim zu zitieren, worin Rosa von der »Perlen schönster Perle« gesprochen hatte.
Cécile ließ ihn aber nicht aussprechen und sagte: »Nein, Herr von Gordon, Sie dürfen mich nicht in Verlegenheit bringen, und am wenigsten hier vor meinem väterlichen Freunde. Ja, die Schmerlen und der Rodensteiner. Und als dann die Turner aufmarschierten! Es war so reizend. Aber das Reizendste von allem ist doch, daß wir in diesem Augenblicke darüber sprechen und den Herrn Hofprediger nicht nur in unsre gemeinschaftlichen glücklichen Erinnerungen einweihen, sondern auch auf Verständnis rechnen können. Denn er hat selber ein gut harzisch Herz und ist ein Quedlinburger, wenn ich nicht irre.«
»Nein, meine gnädigste Frau, nur ein Halberstädter.«
»Nur, nur«, lachte Gordon. »Jedenfalls beneid ich den Herrn Hofprediger um seine Geburtsstätte.«
»Zuletzt ist jeder Platz gerade gut genug, um darauf geboren zu werden.«
»Gewiß. Aber doch der eine vor dem andern. Und wenn ich meinerseits mir einen Platz hätte wählen können, so hätt ich mir Lübeck gewählt oder Wismar oder Stralsund, weil ich die Hansa-Passion habe. Gleich nach der Hansa aber kommt der Strich von Halberstadt bis Goslar. Und als drittes erst kommt Thüringen.«
Der Hofprediger reichte Gordon die Hand und sagte: »Darauf müssen wir noch eigens anstoßen; erst Hansa, dann Harz und dann Thüringen. Mir aus der Seele gesprochen, trotzdem es fast sakrilegisch ist. Denn ein richtiger lutherischer Geistlicher muß eigentlich auch zur Luther-Gegend halten.«
»Gewiß, zur Luther-Gegend, die die Dioskuren von Weimar uns gleich noch als Zugabe
bringt. Aber der Harz hat nun mal meine ganz besondren Sympathien, und ich liebe
jedes harzische
»... von Taubenhayn«, ergänzte der Hofprediger. Aber im selben Augenblicke wahrnehmend, daß Cécile, wie bei jedem unpersönlich bleibenden Gespräche, voll wachsender Abspannung dreinsah, brach er rasch ab oder mühte sich wenigstens, auf etwas Näherliegendes einzulenken. »Ja, der Harz!« fuhr er fort. »Wir sind ganz d'accord, Herr von Gordon. Und nun gar mein liebes altes Halberstadt, von dem ich mit dem König von Thule singen möchte, ›es ging ihm nichts darüber‹ – so sehr häng ich daran. Und doch, wenn ich mich umtun und einen Fleck Erde nennen sollte, der vielleicht angetan wär, ihm in meinem Herzen den Rang streitig zu machen, so wär es unser gutes Berlin. Und worin den Rang streitig macht? Just in dem, was ihm am meisten abgesprochen wird, in landschaftlicher Schönheit. Bitte, treten Sie hier heran, Herr von Gordon, hier an diese Brüstung, und dann urteilen Sie selbst. Wenn Sie den ganzen Harz auf den Kopf stellen, so fällt, so schön er ist, kein Stück Erde heraus wie das hier.«
Und wirklich, er durfte so sprechen, denn was sich da, vom ersten Herbste kaum angeflogen, zu Füßen des Balkons ausbreitete, war eine Art Föderativstaat von Gärten, zwanzig oder mehr, die, durch niedrige, kaum sichtbare Heckenzäune voneinander getrennt, ein einziges großes Blumencarré bildeten: Astern in allen Farben, aus denen Rondele von Canna indica emporblühten. Die Mittagssonne blitzte dazwischen, und auf einer ihnen gegenübergelegenen Veranda standen Damen im Gespräch und fütterten Tauben, die, von einem Nachbarhofe her, auf die jenseitige Balkonbrüstung geflogen waren.
»Insel der Seligen«, sagte Gordon vor sich hin und bedauerte doch schon im selben
Augenblicke, das Wort gesprochen zu haben, weil er wahrnahm, wie peinlich Cécile
davon berührt wurde. Doch es ging vorüber, und sich rasch wieder in ihre gute Laune
zurückfindend, sagte sie: »Wissen Sie, daß ich all die Zeit über an den alten
Emeritus und den Professor mit dem sonderbaren Namen gedacht habe. Braunschweig oder
Anhalt
Gordon versprach feierlichst Besserung, fragte nach dem Obersten und zuletzt auch nach Rosa, und ob Nachrichten von ihr eingetroffen seien, was bejaht wurde. Dann erhob er sich, verneigte sich mit vieler Artigkeit gegen den Hofprediger und empfahl sich, während Cécile nach dem Diener klingelte.
»Nun«, fragte Cécile, »welchen Eindruck haben Sie von ihm empfangen?«
»Einen guten.«
»Ohne Einschränkung?«
»Fast. Er ist klug und gewandt und, wie ich glaube, von untadliger Gesinnung.«
»Aber?«
»Er hat, so lebhaft und sanguinisch er ist, einen eigensinnigen Zug um den Mund und ist mutmaßlich fixer Ideen fähig. Ich fürchte, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, so will er auch mit dem Kopf durch die Wand. Das Schottische spukt noch in ihm nach. Alle Schotten sind hartköpfig.«
»Ich hab ihn umgekehrt immer nachgiebig gefunden und überaus leicht zu behandeln.«
»Ja, alltags und in kleinen Dingen.«
Cécile schwieg sichtlich verstimmt, weshalb der Hofprediger, einlenkend, fortfuhr:
»Im übrigen, meine gnädigste Frau, dürfen Sie Bemerkungen wie diese nicht ernsthafter
nehmen, als sie gemacht werden. Alles, was ich gesagt habe, sind Sentiments und
Mutmaßungen. Ich bin Hofprediger, aber nicht Prophet, auch nicht einmal von den
kleinen. Und wenn ich recht hätte! Was bedeutet Eigensinn? Unser Leben ist voller
Fallgruben, und wer in die des Eigensinns fällt, fällt noch immer nicht sonderlich
tief. Da gibt es ganz andre. Herr von Gordon, wenn mich nicht alles täuscht, ist ein
Mann von Grundsätzen und doch zugleich frei von Langweil und Pedanterie.
»Im Gegenteil, nicht einsam genug. Was sich Gesellschaft nennt, ist mir alles Erdenkliche, nur kein Trost und keine Freude.«
»Weil die Gesellschaft, die sich Ihnen bietet, hinter Ihren Ansprüchen zurückbleibt. Sie lächeln, aber es ist so, meine gnädigste Frau. Was Sie brauchen, sind unbefangene Menschen, Menschen, die die Sprache zum Ausplaudern, nicht aber zum Cachieren der Dinge haben. Und zu diesen Unbefangenen zählt Herr von Gordon. So wenigstens ist der Eindruck, den ich von ihm empfangen habe. Pflegen Sie seine Bekanntschaft, und er wird Ihnen das Licht und die Freude geben, die Sie so schmerzlich vermissen.«
Sie schüttelte den Kopf.
Er aber nahm teilnehmend ihre Hand und sagte: »Was ist es wieder, meine liebe
gnädigste Frau? Sie müssen diese Melancholie von sich abtun. Es gehört nicht zu den
Machtmitteln unserer Kirche, den Himmel aufzuschließen und seligzusprechen. Aber so
wir nur den rechten Glauben haben, so trägt unser Heiland unsere Schuld. Diese
freudige Gewißheit haben wir, und Sie dürfen sich nicht mit Vorstellungen quälen, die
darauf aus sind, diese Gewißheit immer wieder in Frage zu stellen. Ich weiß wohl, was
diesen Ihren beständigen Zweifeln zugrunde liegt, es ist das, daß Sie, vor Tausenden,
in Ihrem Herzen demütig sind. Und diese Demut soll Ihnen bleiben. Aber es ist doch
zweierlei die Demut vor Gott und die Demut vor den Menschen. In unserer Demut vor
Gott können wir nie zu weit gehen, aber in unserer Demut vor den Menschen können wir
mehr tun als nötig. Und Sie tun es. Es ist freilich ein schöner Zug und ein sicheres
Kennzeichen edlerer Naturen, andere besser zu glauben als sich selbst, aber wenn wir
diesem Zuge zu sehr nachhängen, so verfallen wir in Irrtümer und
Er hatte sich erhoben, und beide waren an die Balkonbrüstung getreten, von der aus sie jetzt die stille, vor ihnen ausgebreitete Blumenwelt überblickten. Eine Weile schwiegen sie. Dann sagte Cécile: »Mut! Vielleicht hätt ich ihn, wenn ich nicht in trüben Ahnungen steckte. Die mir jetzt zurückliegenden glücklichen Tage, welchem Umstande verdank ich sie? Doch nur dem, daß er, den Ihre Güte mir zum Freunde geben möchte, sieben Jahre lang draußen in der Welt war und ein Fremder in seiner eigenen Heimat geworden ist. Er weiß nichts von der Tragödie, die den Namen St. Arnauds trägt, und weiß noch weniger von dem, was zu dieser Tragödie geführt hat. Aber auf wie lange noch? Er wird sich rasch hier wieder einleben, alte Beziehungen anknüpfen, und eines Tages wird er alles wissen. Und an demselben Tage...«
Sie brach hier ab und schien einen Augenblick zu schwanken, ob sie weitersprechen solle. Dann aber fuhr sie voll wachsender Erregung fort: »Ja, mein Freund, er wird eines Tages alles wissen, und an demselben Tage wird auch der heitere Traum, den ich träumen soll, zerronnen sein. Und, daß ich es sagen muß, ein Glück, wenn er zerrinnt. Denn wenn er jemals Gestalt gewönne...«
»Dann? was dann, meine gnädigste Frau?«
»Dann wäre jeder Tag ein Bangen und eine Gefahr. Denn es verfolgt mich ein Bild, das
ich nicht wegschaffen kann aus meiner Seele. Hören Sie. Wir gingen, als wir noch in
Thale waren, St. Arnaud und ich und Herr von Gordon, eines Spätnachmittags an der
Bode hin und plauderten und bückten uns und pflückten Blumen, bis mich plötzlich ein
glühroter Schein blendete. Und als ich aufsah, sah ich, daß es die niedergehende
Sie war unter diesen Worten in ein nervöses Fliegen und Zittern verfallen, und der Hofprediger, der wohl wußte, daß ihr, wenn diese hysterischen Paroxysmen kamen, einzig und allein durch ein Ab- und Überleiten auf andere Dinge hin und, wenn auch das nicht half, lediglich durch eine fast rücksichtslose Herbheit zu helfen war, sagte, während er sie bis an ihren Platz zurückführte: »Dieser Überschwang der Gefühle, meine gnädigste Frau, das ist recht eigentlich der böse Feind in Ihrer Seele, vor dem Sie sich hüten müssen. Das ist nicht Ihr guter Engel, das ist Ihr Dämon. Überschwenglichkeiten, die sich ins Religiöse kleiden, ohne religiös zu sein, haben keine Geltung vor Gott, ja, nicht einmal vor dem Papste. Wovon ich mich selbst einmal überzeugen durfte.«
Der nüchterne Ton, in dem er dies sagte, machte sie stutzen, aber eine gute Wirkung,
an der die Neugier einigen Anteil haben mochte, war doch für den sie scharf
beobachtenden Hofprediger unverkennbar, und so nahm er denn aufs neue herzlich und
zutulich ihre Hand und wiederholte: »Ja, meine gnädigste Frau, nicht einmal vor dem
Papste, wovon ich mich selbst einmal überzeugen konnte. Vielleicht erinnern Sie sich,
daß ich Hauslehrer und dann Reisebegleiter bei dem jungen Grafen Medem war und mit
ihm nach Rom ging. Als wir daselbst eines Tages zu Schiff nach Terracina wollten,
traf es sich, daß auch
Cécile starrte verwirrt und verstimmt vor sich hin, war aber doch sichtlich aus dem Bann ihrer Ängste heraus, und so durfte denn der Hofprediger in einem mit jedem Augenblicke freundlicher werdenden Tone fortfahren: »Und nun zürnen Sie mir nicht, meine gnädigste Frau, wegen eines Mangels an Rücksichtnahme. Kenn ich doch Ihren beweglichen und im letzten auch gesunden Sinn und weiß deshalb, Sie werden sich endgiltig aufrichten an dieser Geschichte. Die Heilslehren existieren und sollen uns Brot und Wein des Lebens sein. Aber sie sind nicht ein Schlagwasser oder Riechsalz, um uns in jedem beliebigen Momente plötzlich aus unserer Ohnmacht aufzuwecken. Es gibt auf diesem Gebiete nichts Plötzliches, sondern nur ein Allmähliches, auch die geistige Genesung ist ein stilles Wachsen, und je tiefer Sie sich mit dem Glauben an den Erlösertod Jesu Christi durchdringen, desto sicherer und fester wird in Ihnen der Friede der Seele sein.«
Während der Hofprediger mit Cécile dies Gespräch führte, schlenderte Gordon am andern
Kanalufer auf seine Wohnung zu, bog aber, als er auf diesem Rückwege die Pfeiler der
die
»Was bleibt übrig? Ich glaube jetzt klar zu sehen. Sie war sehr schön und sehr verwöhnt, und als der Prinz, auf den mit Sicherheit gerechnet wurde, nicht kommen wollte, nahm sie den Obersten. Und ein Jahr später war sie nervös, und zwei Jahre später war sie melancholisch. Natürlich, ein alter Oberst ist immer zum Melancholischwerden. Aber das ist auch alles. Und schließlich haben wir nichts als eine Frau, die, wie tausend andre, nicht glücklich und auch nicht unglücklich ist.«
Unter solchem Selbstgespräche war er bis an die Bülowstraße gekommen und wollte sich
eben, unter Benutzung derselben, in weitem Bogen wieder zurück nach dem Tiergarten
schlängeln, als er, in einiger Entfernung, eines Begräbniszuges gewahr wurde, der
nach dem Matthäikirchhofe hinaus wollte. Der gelbe, mit Kränzen überdeckte Sarg stand
auf einem offnen Wagen, in dessen Front ein schmales, silbernes Kreuz beständig hin
und her schwankte. Hinter dem Wagen kamen Kutschen und hinter den Kutschen ein
ansehnliches Trauergefolge. Gordon wäre gern ausgewichen, aber der gehabten
Anwandlung sich schämend, blieb er und ließ den Zug an sich vorbeipassieren. »Es ist
nicht gut, die Augen gegen derlei Dinge zu schließen, am wenigsten, wenn man eben
Luftschlösser baut. Der Mensch lebt, um seine Pflicht zu tun und zu sterben.
Gordon wuchs sich rasch wieder in Berlin ein und war nur verwundert, nach wie vor
keinen Brief aus Liegnitz eintreffen zu sehn, auch nicht, als er die saumselige
Schwester gemahnt hatte. Seine Verwunderung war aber nicht gleichbedeutend mit
Verstimmung, vielmehr gestand er sich, alles in allem nie glücklichere Tage verlebt
zu haben. Auch nicht in Thale. Wenn es sein konnte, sprach er täglich bei seiner
Freundin vor und erneuerte, dabei die freundlichen, gleich bei seinem ersten Besuche
gehabten Eindrücke. Was ihn einzig und allein störte, war das, daß er sie nie allein
fand. Mitte September traf Céciles jüngere Schwester auf Besuch ein und wurde ihm als
»meine Schwester Kathinka« vorgestellt. Bei diesem Vornamen blieb es. Sie war um
mehrere Jahre jünger und ebenfalls sehr schön, aber ganz oberflächlich und
augenscheinlich mehr nach Verhältnissen als nach Huldigungen ausblickend. Cécile
wußte davon und schien erleichtert, als die Schwester wieder abreiste. Der Besuch
hatte nur wenig über eine Woche gedauert und war niemandem zu rechter Befriedigung
gewesen. Auch Gordon nicht. Desto größere Freude hatte dieser, als er eines Tages
Rosa traf und von ihr erfuhr, daß sie verhältnismäßig häufig im St. Arnaudschen Hause
vorspreche, weshalb es eigentlich verwunderlich sei, sich bis dahin noch nicht
getroffen zu haben. Das müsse sich aber ändern, womit niemand einverstandener war als
Gordon selbst. Und zu dieser Änderung kam es denn auch; man sah sich öfter, und
erschien bei diesen Begegnungen auch noch der in der benachbarten Linkstraße wohnende
Hofprediger, so steigerte sich der von Rosas Anwesenheit beinah unzertrennliche
Frohsinn, und vom Harz und seinen Umgebungen schwärmend, erging man sich in
Erinnerungen an Roßtrappe, »Hotel Zehnpfund« und Altenbrak. Der Oberst war selten da,
so selten, daß Gordon sich entwöhnte, nach ihm zu fragen. »Er ist im Club«, hieß es
ein Mal über das andre. Der Club aber, um den sich's handelte, war kein
militärischer,
Neben Rosa war es der alte Hofprediger, der, wenn man gemeinschaftlich heimging, über diese kleineren oder größeren Inkorrektheiten Aufklärung gab, meistens vorsichtig und zurückhaltend, aber doch immer noch deutlich genug, um Gordon einsehen zu lassen, daß er es mit seinem in seinem langen Skriptum an die Schwester im halben Übermute gebrauchten »Jeu-Oberst« richtiger, als er damals annehmen konnte, getroffen habe. Teilnahme mit Cécile war, wenn er derlei Dinge hörte, jedesmal sein erstes und ganz aufrichtiges Gefühl, aber eine nur zu begreifliche Selbstsucht sorgte gleichzeitig dafür, daß dies Gefühl nicht andauerte. St. Arnaud war nicht da, das war doch schließlich die Hauptsache, das gab den Ausschlag, und weder seine Blicke noch seine spöttischen Bemerkungen konnten das Glück ihres Beisammenseins stören.
Ja, diese Septembertage waren voll der heitersten Anregungen, und Briefchen in Vers und Prosa, die von seiten Gordons beinah jeden Morgen an Cécile gerichtet wurden, sei's, um sie zu begrüßen oder ihr etwas Schmeichelhaftes zu sagen, steigerten begreiflicherweise das Glück dieser Tage. St. Arnaud seinerseits gewöhnte sich daran, diese Billets doux auf dem Frühstückstische liegen zu sehn, und leistete sehr bald darauf Verzicht, von solcher »Mondscheinpoesie« weitere Notiz zu nehmen. Er lachte nur und bewunderte, »wozu der Mensch alles Zeit habe«. Cécile selbst, voll Mißtrauen in ihre Rechtschreibung, antwortete nur selten, wobei sie sich zurückhaltender und ängstlicher als nötig zeigte, da Gordon bereits weit genug gediehen war, um in einer mangelhaften Orthographie, wenn solche sich wirklich offenbart haben sollte, nur den Beweis immer neuer Tugenden und Vorzüge zu finden.
So waren vier Wochen vergangen, als Gordon, an einem der letzten Septembertage, eine Karte folgenden Inhalts erhielt: »Oberst von St. Arnaud und Frau geben sich die Ehre, Herrn v. Leslie-Gordon zum 4. Oktober zu einem Mittagessen einzuladen. 5 Uhr. Im Überrock. U.A.w.g.«
Gordon nahm an und war nicht ohne Neugier, bei dieser Gelegenheit den St. Arnaudschen Kreis näher kennenzulernen. Was er, außer dem Hofprediger, bis dahin gesehen hatte, war nichts Hervorragendes gewesen, ziemlich sonderbare Leute, die sich allenfalls durch Namen und gesellschaftlich sichere Haltung, aber wenig durch Klugheit und fast noch weniger durch Liebenswürdigkeit ausgezeichnet hatten. Beinah alle waren Frondeurs, Träger einer Opposition quand même, die sich gegen Armee und Ministerium und gelegentlich auch gegen das Hohenzollerntum selbst richtete. St. Arnaud duldete diesen Ton, ohne persönlich mit einzustimmen, aber daß er ihn überhaupt zuließ, war für Gordon ein Beweis mehr, daß es keine Durchschnitts-Duellaffaire gewesen sein konnte, was den Obersten veranlaßt oder vielleicht auch gezwungen hatte, den Dienst zu quittieren. Etwas Besonderes mußte hinzugekommen sein.
Und nun war der 4. Oktober da.
Gordon, so pünktlich er erschien, fand alle Geladenen, unter denen der Hofprediger
leider fehlte, schon vor und wurde, nachdem er Cécile begrüßt und ein paar Worte an
diese gerichtet hatte, dem ihm noch unbekannten größeren Bruchteile der Gesellschaft
vorgestellt. Der Erste, dem Range nach, war General von Rossow, ein hochschultriger
Herr mit dünnem Schnurr- und noch dünnerem Knebelbart, dazu braunem Teint und roten
vorstehenden Backenknochen; nach Rossow folgte: von Kraczinski,
Kriegsministerialoberst und polnisch-katholisch, Geheimrat Hedemeyer, hager,
spitznasig und süffisant, Sanitätsrat Wandelstern, fanatischer Anti-Schweninger, und
Frau Baronin von Snatterlöw. Gordon verneigte sich nach allen Seiten hin, bis er
Rosas gewahr wurde, der er sich nunmehr rasch
»Ich habe die schlechte Gewohnheit«, schloß er, »in Andeutungen zu sprechen und auf Dinge hinzuweisen, die von zehn kaum einer kennt, also auch nicht versteht.«
Sie lachte. »Wie gütig Sie sind, über den eigentlichen Grund so leicht hinwegzugehen und gegen sich selbst den Ankläger zu machen. Sie wissen am besten, daß ich nichts weiß. Und nun bin ich zu alt zum Lernen. Nicht wahr, viel zu alt?«
In diesem Augenblicke wurden die Flügeltüren geöffnet, und Gordon brach ab, weil er sah, daß General von Rossow auf Cécile zukam, um ihr den Arm zu bieten. Kraczinski, Hedemeyer, Wandelstern und einige andere folgten mit und ohne Dame.
Die Plätze waren so gelegt, daß Gordon seinen Platz zwischen der Baronin und Rosa hatte.
»Gerettet«, flüsterte diese.
»Gerichtet«, antwortete er mit einem Seitenblick auf die Baronin, eine hochbusige Dame von neunundvierzig, mit Ringellöckchen und Adlernase, die sich, ärgerlich über das Geflüster zwischen Gordon und Rosa, mit Ostentation von Gordon ab- und ihrem anderen Tischnachbar zuwandte. Sie nannte das »ihre Revanche nehmen«.
Die Revanche war aber nicht von Dauer, und ehe noch das Tablett mit dem Tokaier
herumgereicht wurde, setzte sie, wie das ihre Gewohnheit war, bereits höchst
energisch ein und sagte mit einer ans Männliche grenzenden Altstimme: »Sie waren in
Persien, Herr von Gordon. Man spricht jetzt soviel von persischer Zivilisation,
namentlich seit den umfangreichen Übersetzungen Baron Schacks (jetzt Graf Schack),
eines Vetters meines verstorbenen Mannes. Ich kann mir aber nicht denken, daß diese
Zivilisation viel bedeute, da persische Minister hier im Königlichen Schlosse, wenn
auch freilich durch kulturelle Gebräuche dazu veranlaßt, eine ganze Reihe von Hämmeln
»Ich halte dies für Übertreibung, Frau Baronin.«
»Sehr mit Unrecht, mein Herr von Gordon. Ich hasse Übertreibungen, und was ich sage, ist offiziell. Übrigens mißverstehen Sie mich nicht. Ich gehöre nicht zu der Gruppe devotest ersterbender Leute, die königliche Schloßgardinen ein für allemal als ein Heiligtum ansehen. Im Gegenteil, ich hasse mißverstandene Loyalitäten. Ein freier Sinn ist das allein Dienliche wie das allein Ziemliche. Servilismus und niedrige Gesinnung sind in meinen Augen unwürdig und hassenswert. Ein für allemal. Aber Anstand und Sitte stehen mir hoch, und blutige Messer an hellblauen Atlasgardinen abwischen, gleichviel, ob dieses Horreur in königlichen Schlössern stattfindet oder nicht, ist ein Roheitsakt, den ich beinah unsittlich nennen möchte, jedenfalls unsittlicher als manches, was dafür angesehen wird. Denn auf keinem Gebiete gehen die Meinungen so weit auseinander als gerad auf diesem. Ich werde mich durch Sätze wie diese keinen Verkennungen Ihrerseits aussetzen, denn ich spreche zu einem Manne, der die Wandelbarkeit moralischer Anschauungen, wie sie Race, Bodenbeschaffenheit und Klima mit sich führen, in hundertfältiger Abstufung persönlich erfahren hat. Irr ich hierin, oder bin ich umgekehrt Ihrer Zustimmung sicher?«
»Vollkommen«, sagte Gordon, nahm aber doch die Pause, die der eben bei der Baronin erscheinende Turbot ihm gönnte, wahr, um Rosa zuzuflüstern: »Emanzipiertes Vollblut. Furchtbar.«
An der andern Seite des Tisches wurden statt der Steinbutte Forellen präsentiert, und Cécile, die sich auf einen Augenblick von ihrem zweiten Nachbar, dem beständig ironisierenden Geheimrat, frei zu machen wußte, sagte zu Gordon über den Tisch hin: »Aber von den Forellen müssen Sie nehmen, Herr von Gordon. Es sind ja halbe Reminiszenzen an Altenbrak. Denn von der Forelle bis zur Schmerle, so wenigstens versicherte uns der alte Emeritus, ist nur ein Schritt.«
Rosa, der dieser Zuspruch mitgegolten hatte, nickte. General
»Und ließen sich die Schmerlen im Freien servieren«, lachte St. Arnaud. »Im Freien und vielleicht sogar an der großen Säule mit der berühmt gewordenen Inschrift: ›Nach Canossa gehen wir nicht.‹ Aber wir gehen doch.«
»Und gehen auch noch weiter«, fiel der Geheimrat ein, der (schon unter Mühler
»kaltgestellt«) den bald darauf ausbrechenden Kulturkampf als Pamphletist begleitet,
seine Wiederanstellung jedoch, trotz andauernder Falk-Umschmeichlung, nicht
durchgesetzt hatte. »Ja, noch weiter.« Und dabei hob er seine goldene Brille, mit der
Absicht, sie zu putzen, wie das seine Gewohnheit war, wenn er einen heftigen Ausfall
plante. Die Götter aber widerstritten diesem Versuche, denn der linke Brillenhaken
hatte sich in einem Löckchen seiner blonden Perücke verfitzt und wollte nicht
nachgeben. Unter glücklicheren und namentlich gesicherteren Toupet-Verhältnissen würd
er nun freilich, aller Widerhaarigkeit zum Trotz, mit jener »Energie« vorgegangen
sein, die sieben Jahre lang sein Programm und den Inhalt seiner Pamphlete gebildet
hatte, dieser Sicherheit aber entbehrend, sah er sich auch hier gezwungen, den
Verhältnissen Rechnung zu tragen und auf ein rücksichtsloses Vorgehen zu verzichten,
das ihn an seiner empfindlichsten Stelle bloßgestellt haben würde. Schließlich indes
war das Häkchen aus dem Toupet heraus, und mit einer Ruhe, die den Mann von Welt
zeigte, nahm er seinen Satz wieder auf und sagte: »Ja, meine Herrschaften, und gehen
auch
Die Baronin, die sich in dieser Wendung zitiert glaubte, klatschte mit ihren zwei Zeigefingern Beifall.
»Ich hasse das«, wiederholte der Geheimrat, während er sich gegen die Snatterlöw
verbeugte, »mehr noch, ich verachte das. Wir sind kein Volk, das, seiner Natur und
Geschichte nach, einen Dalai-Lama ertragen kann, und doch haben wir ihn. Wir haben
einen Dalai-Lama, dessen Schöpfungen, um nicht zu sagen Hervorbringungen, wir mit
einer Art Inbrunst anbeten. Rundheraus, wir schwelgen in einem unausgesetzten Götzen-
und Opferdienst. Und was wir am willfährigsten opfern, das ist die freie Meinung,
trotzdem keiner unter uns Älteren ist, der nicht mit Herwegh für den ›Flügelschlag
der freien Seele‹ geschwärmt hätte. Wie gut das klingt. Aber haben wir diesen
Flügelschlag? Haben wir diese freie Seele? Nein, und wieder nein. Wir sind weiter
davon ab denn je. Was wir haben, heißt Omnipotenz. Nicht die des Staates, die nicht
nur hinzunehmen, die sogar zu rühmen, ja die das einzig Richtige wäre, nein, wir
haben die Omnipotenz eines einzelnen. Ich nenne keinen Namen. Aber soviel bleibt:
Übergriffe sind zu verzeichnen, Übergriffe nach allen Seiten hin, und soviel
Übergriffe, soviel Fehlgriffe. Freilich, wer diesen Dingen, direkt oder indirekt,
durch Jahrzehnte hin nahegestanden hat, der sah es kommen, dem blutete seit lange das
Herz über ein System des Feilschens und kleiner Behandlung großer Fragen. Und wo die
Wurzel? womit begann es? Es begann, als man, Arnims kluge Worte mißachtend, einen
Hochverräter aus ihm stempeln wollte, bloß weil ein Brief und ein Rohrstuhl fehlte.
Was aber fehlte, war kein Brief und kein Rohrstuhl, sondern einfach Unterwerfung.
Daran gebricht es. Arnim hatte den Mut seiner Meinung, das war alles, das war sein
Verbrechen, das allein. Aber wenn es erst dahin gekommen ist, meine Herren, daß jede
freie Meinung im Lande Preußen Hochverrat bedeutet, so sind wir alle
Die Baronin war hingerissen und steigerte sich bis zu Kußhändchen. »Ihr Wohl, Herr Geheimrat! Ihr Wohl, und die Freiheit der Geister!«
Einige der Zunächstsitzenden schlossen sich an, und sehr wahrscheinlich, daß sich ein allgemeiner Toast daraus entwickelt hätte, wenn nicht der alte General ziemlich unvermittelt dazwischengefahren wäre. Der Beginn seiner Rede verfiel zwar dem Schicksal, überhört zu werden, aber mehr ärgerlich als verlegen darüber, nahm er schließlich seine ganze Stimmkraft zusammen und ruhte nicht eher, als bis er sich mit Gewalt Gehör verschafft hatte: »Sie sprechen da von der Freiheit der Geister, mein lieber Hedemeyer. Nun ja, meinetwegen. Aber machen wir nicht mehr davon, als es wert ist. Wir sind unter uns« (ein Blick streifte Gordon), »ich hoffe, sagen zu können, wir sind unter uns, und so dürfen wir uns auch gestehen, die protestantische Freiheit der Geister ist eine Redensart.«
»Erlauben Sie ...«, warf Hedemeyer dazwischen.
»Ich bitte Sie, mich nicht unterbrechen zu wollen«, fuhr der alte General mit überlegener Miene fort. »Sie haben gesprochen, jetzt spreche ich. Ihr verflossener Falk, ich nenn ihn mit Vorbedacht Ihren Falk, hat es gut gemeint, darüber kann kein Zweifel sein. Aber pourquoi tant de bruit pour une omelette ...«
Alles lachte, denn es traf sich, daß eine dicht mit Omelettschnitten garnierte Gemüseschüssel in eben diesem Augenblicke dem General präsentiert wurde.
»Sie meinen...«
Kraczinski, der zwei Brüder in der russischen und einen dritten in der österreichischen Armee hatte, lächelte mit kriegsministerieller Überlegenheit vor sich hin, von Rossow aber fuhr fort: »Der Chef, trotz altem livländischen Adel, der hingehn mag, ist, von meinem Standpunkt aus, ein homo novus, der der unglückseligen Anschauung von der geistigen Bedeutung der Offiziere huldigt. Alles Unsinn. Wissen und Talent ruinieren nur, weil sie bloß den Dünkel großziehen. Derlei Allotria sind gut für Professoren, Advokaten und Zungendrescher, überhaupt für alle die, die sich jetzt Parlamentarier nennen. Aber was soll das dem Staat? Der verlangt andres. Auf die Gesinnung kommt es an, auf das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit dem Stammlande, das nur die haben, die schon mit am Cremmer-Damm und bei Ketzer-Angermünde waren. Aber das wird jetzt übersehen, übersehen in einer mir ganz unbegreiflichen Weise. Denn die höhere Disziplin ist lediglich eine Frage der Loyalität. Und das wissen auch die Hohenzollern. Aber weil sie nicht gerne dreinreden und allzu bescheiden sind und immer glauben, die Herren vom grünen Tisch (und die Armee hat auch ihren grünen Tisch) müßten es besser wissen, so lassen sie sich bereden und betimpeln. Ein erbärmlicher Zustand. Und daß es nicht zu ändern ist, das ist das schlimmste. Napoleon konnte nicht alle Schlachten selber schlagen, und die Hohenzollern können nicht allerpersönlichst in alle Winkel der Verwaltung hineingucken. Da liegt es, mein lieber Geheimrat. Da, nur da. Canossa hin, Canossa her. Preßfreiheit, Redefreiheit, Gewissensfreiheit, alles Unsinn, alles Ballast, von dem wir eher zuviel als zuwenig haben.«
Gordon, der wohl wußte, daß rasches Erwidern die beste, jedenfalls aber die leichteste Form des Dankes sei, nahm unmittelbar nach diesem Toaste das Wort und bat, nachdem er in einer scherzhaft durchgeführten Antithese den »Obersten St. Arnaud des 4. Oktober« dem »General St. Arnaud des 2. Dezember« gegenübergestellt und in Cécile die Lichtgestalt, die den Unterschied zwischen beiden besiegte, gefeiert hatte, das Wohl der liebenswürdigen Wirte proponieren zu dürfen.
Sein Trinkspruch war vorzüglich aufgenommen worden, am enthusiastischsten von der Baronin, die bei dieser Gelegenheit selbstverständlich nicht ermangelte, von ihrer im vorigen Sommer in Ragaz stattgehabten Promenadenbegegnung mit der Kaiserin Eugenie zu sprechen, »einer Frau, die, wenn sie, statt ihres Polisson von Gatten, das Heft in Händen gehabt hätte, Frankreich ganz anders regiert, jedenfalls aber männlicher verteidigt und höchstwahrscheinlich gerettet haben würde«.
Bald darauf wurde die Tafel aufgehoben, und als sich, nach abermals einer Minute, die
gesamte Herrenwelt, mit Ausnahme des bei den Damen verbliebenen St. Arnaud, in das
Rauchzimmer zurückgezogen hatte, nahm von Rossow – der vor gerade
»Fräulein Rosa Hexel.«
»Mit einem x?«
»Ja, Herr General.«
»Na, das paßt ja. Nur keine Spielverderberei. Da kommt übrigens das Tablett noch mal. Chartreuse. Den kann ich Ihnen empfehlen.«
Um neun Uhr brach man auf. Alles drängte sich im Korridor, und Cécile fragte die Malerin, ob der Diener eine Droschke holen solle. Rosa dankte jedoch, Herr von Gordon werde sie bis an den Platz begleiten, und dort finde sie Pferdebahn.
»O nicht doch«, lachte Rosa. »Was Sie nur denken? So leicht kommen Sie nicht davon. Sie müssen mich bis nach Hause bringen, Engel-Ufer, und ich schenke Ihnen keinen Schritt. Aber sahen Sie nicht die Gesichter, als ich bloß Ihren Namen nannte? Der Geheimrat hob den Kopf, wie wenn er eine Fährte suche. Man muß es den Schandmäulern nicht zu leicht machen. Und das sind sie samt und sonders, die ganze Gesellschaft.«
»Ich fürchte, daß Sie recht haben. Aber doch alles in allem nicht übel, nicht dumm.«
»Nein, nicht dumm.«
»Und auch nicht uninteressant.«
»Nein, auch nicht uninteressant. Und au fond doch wieder. Es sieht alles nach was aus und klingt leidlich. Aber was ist es am Ende? Chronique scandaleuse, Malicen, Absetzen einiger Bitterkeiten. Und dann hat jeder sein elendes Steckenpferd. Der Klügste bleibt immer St. Arnaud selbst, er steht drüber und lacht. Aber dieser alte General! Ich verstehe nichts von Politik und noch weniger von Armee, wer mir aber ernsthaft versichern will, daß ein kluger General Müller allemal eine Landeskalamität und neben einem Hampel von Hampelshausen nie zu nennen sei, wer mir das ernsthaft versichern will, mit dem bin ich fertig, und wenn ich ihn trotz alledem interessant finden soll, so bin ich dazu zwar bereit, aber frag mich nur nicht wie.«
»Schau, schau, Fräulein Rosa, das sprüht ja wie ein pot à feu.«
»Der ich auch bin. Und wenn ich nun gar erst von diesem Geheimrat rede, da sprüh ich nicht bloß, da zisch ich wie eine Schlange, versteht sich Feuerwerksschlange.«
»Und doch war vieles richtig, was er sagte.«
»Vielleicht; vielleicht auch nicht. Ich versteh nichts davon. Aber unehrlich war es
jedenfalls. Er ist ein schlechter Kerl, frivol, zynisch, und kein Frauenzimmer, und
wenn es die keusche Susanne wäre, kann eine Minute lang mit ihm zusammen sein, ohne
sich einer Unpassendheit ausgesetzt zu sehen. Er
Gordon lachte. »Bravo, Fräulein Rosa. Fehlt von den Gästen eigentlich nur noch die Snatterlöw.«
»Über die zu sprechen ich mich hüten werde. Haben Sie doch, mein werter Herr von Gordon, in aller Intimität zwei Stunden lang neben ihr gesessen. Und ich sah wohl, wie sie jedesmal Ihren Arm nahm und ihn zustimmend drückte. Sie hat überhaupt etwas von einer Massage-Doktorin.«
»Und Cécile?«
»Ach, die arme Frau! Es wird wohl auch nicht alles sein, wie's sein sollte. Schönheit ist eine Gefahr von Jugend auf; nicht als ob ich aus Erfahrung spräche, dafür ist gesorgt. Aber sie ist lieb und gut und viel zu schade. Gebe Gott, daß es ein gutes Ende nimmt.«
Es war spät geworden, und der Wächter patrouillierte schon durch die Lennéstraße hin,
als Gordon wieder vor seiner Wohnung anlangte. Rosa hatte, den ganzen Weg über, fast
unausgesetzt gesprochen, am meisten über St. Arnaud, auf den sie wiederholt und mit
einer gewissen Teilnahme zurückgekommen war. »Er läßt viel zu wünschen übrig, und ich
möcht ihn nicht zum Feind und fast ebensowenig zum Freunde haben; aber trotz alledem
ist er immer noch der Beste, weil der Ehrlichste.
Gordon folgte jedem Wort und fragte nach dem, was ihn selbstverständlich am meisten interessieren mußte: nach dem Verhältnis und der Lebensweise des Ehepaares untereinander. Aber was er als Antwort darauf hörte, war im wesentlichen nur eine Bestätigung dessen, was er schon während der Harzer Sommertage beobachtet hatte. »Ja«, schloß Rosa, »sein Verhältnis zu Cécile, da hab ich kein gutes Wort für ihn. Mitunter freilich hat er seinen Tag der Rücksichten und Aufmerksamkeiten, und man könnte dann beinahe glauben, er liebe sie. Aber was heißt Liebe bei Naturen wie St. Arnaud? Und wenn es Liebe wäre, wenn wir's so nennen wollen, nun so liebt er sie, weil sie sein ist, aus Rechthaberei, Dünkel und Eigensinn, und weil er den Stolz hat, eine schöne Frau zu besitzen. In Wahrheit ist er ein alter Garçon geblieben, voll Egoismus und Launen, viel launenhafter als Cécile selbst. Die Ärmste hat ihr Herz erst neulich darüber zu mir ausgeschüttet. ›Er hält‹, sagte sie, ›viertelstundenlang meine Hand und erschöpft sich in Schönheiten gegen mich, und gleich danach geht er ohne Gruß und Abschied von mir und hat auf drei Tage vergessen, daß er eine Frau hat.‹«
Das und viel anderes noch ging Gordon im Kopfe herum, als er wieder in seiner Wohnung
war; vor allem aber klang
Zu guter Zeit war er auf und bei seinem Kaffee, schob aber die Zeitungen, die die Wirtin gebracht hatte, zurück. Alles Behagens unerachtet, war er in keiner Lesestimmung und beschäftigte sich nach wie vor mit dem, was ihm der gestrige Tag gebracht hatte. Die Fenster standen auf, und er sah hinaus auf den Tiergarten. Ein feiner, von der Morgensonne durchleuchteter Nebel zog über die Baumspitzen hin, die, trotz der schon vorgerückten Jahreszeit, kaum ein welkes Blatt zeigten; denn am Tage vorher war es windig gewesen, und das wenige, was sich bis dahin von gelbem und rotem Laube mit eingemischt hatte, lag jetzt unter den Bäumen und bildete Muster auf dem Rasenteppich. Dann und wann fuhr ein Wasserkarren langsam durch die Straße; sonst alles still, so still, daß Gordon es hörte, wenn die Kastanien aufschlugen und aus der Schale platzten.
Ein immer wachsendes Wohlgefühl überkam ihn. »Ich glaube, ich bin so glücklich, weil ich wieder in der Heimat bin. Wo war ich nicht alles? Aber solche Momente hat man nur daheim.«
Als er sich wieder zurückwandte, vernahm er deutlich, daß draußen auf dem Korridor gesprochen wurde. »Der Herr muß unterschreiben.« Und gleich danach trat der Briefträger ein. Er brachte Karten und Geschäftsanzeigen, der eingeschriebene Brief aber, über dessen Empfang quittiert werden mußte, war der langerwartete von Schwester Clothilde.
»Nun endlich.«
Gordon setzte sich in den Schaukelstuhl am Fenster, um hier con amore zu lesen.
»Mein lieber Roby. Deinen zweiten Brief, in dem Du Dich über mein Schweigen beklagst,
erhielt ich gleichzeitig mit dem ersten. Ich fand beide hier vor, als ich vorgestern
abend von meinen Weltfahrten nach meinem lieben Liegnitz zurückkehrte. Dein Brief aus
Thale war mir selbstverständlich nach Johannesbad und, weil er mich dort nicht mehr
traf, nach Partenkirchen
Eine Welt von Dingen habe ich, seitdem Du hier warst, erlebt: die junge Kramsta hat sich mit einem Offizier verlobt, Helene Rothkirch ist Hofdame bei der Prinzessin Alexandrine geworden, und der alte Zedlitz hat sich wieder verheiratet. Und nun erst die jetzt zurückliegende Reise mit ihren hundert Bekanntschaften und Eindrücken! Aber ich werde mich hüten, Dir von Berchtesgaden und dem Watzmann eine lange Beschreibung zu machen, einmal, weil Dir 8000 Fuß nicht viel bedeuten können, und zweitens, weil ich annehme, daß junge Kavaliere, die sich nach einer schönen Angebeteten erkundigen, lieber von dieser Angebeteten als vom Watzmann hören wollen.«
Gordon lachte. »Ganz Clothilde. Und wie recht sie hat.«
»... Also die St. Arnauds. Nun wir kennen sie hier recht gut, oder doch wenigstens die Vorgänge, die seinerzeit viel von sich reden machten. Es war nicht gerade das Beste, wobei Dich das eine trösten mag, daß es, alles in allem, auch nicht das Schlimmste war.
St. Arnaud war Oberstlieutenant in der Garde, brillanter Soldat und unverheiratet,
was immer empfiehlt. Man versprach sich etwas von ihm. Es sind jetzt gerade vier
Jahre, daß er in Oberschlesien Oberst und Regimentskommandeur wurde. Den Namen der
Garnison hab ich vergessen; übrigens auch ohne jede Bedeutung für das, was kommt. Er
nahm Wohnung in dem Hause der verwitweten Frau von Zacha, richtiger Woronesch von
Zacha, in deren bloßem Namen schon, wie Dir nicht entgehen wird, eine ganze slawische
Welt harmonisch zusammenklingt. Frau von Zacha war eine berühmte Schönheit gewesen;
ihre Tochter Cécile war es noch. Jedenfalls fand es der Oberst und verlobte sich mit
ihr. Vielleicht auch, daß er sich in dem Nest, das ihm die Residenz ersetzen sollte,
bloß langweilte.
Gordon legte den Brief aus der Hand und wiederholte: »So gerechtfertigt diese Haltung gewesen sein mochte. Warum? Wodurch? Aber was frag ich? Clothilde wird mir die Antwort nicht schuldig bleiben.«
Und er las weiter.
»Und hier ist nun die Stelle, mein lieber Robert, wo Herr von St. Arnaud zurück- und
Frau von St. Arnaud in den Vordergrund tritt. Was lag vor, daß das Offiziercorps
gegen seinen eigenen Obersten Front machen mußte? Cécile war eine Dame von
zweifelhaftem oder, um milder und rücksichtsvoller zu sprechen, von eigenartigem Ruf.
Als sie kaum siebzehn war, sah sie der alte Fürst von Welfen-Echingen und ernannte
sie bald danach, und zwar nach wenig schwierigen Verhandlungen mit Frau von Zacha,
zur Vorleserin seiner Gemahlin, der Fürstin. Die Fürstin war an derartige
›Ernennungen‹ gewöhnt, erhob also keinen Widerspruch. So kam Cécile nach Schloß
Cyrillenort, lebte sich ein, begleitete das fürstliche Paar auf seinen Reisen, war
mit demselben in der Schweiz und Italien, las am Teetisch vor (aber selten) und blieb
im Schloß, als die alte Fürstin gestorben war. Nicht sehr viel später schied auch der
Fürst selbst aus dieser Zeitlichkeit und hinterließ dem schönen Tee-Fräulein ein
oberschlesisches Gut, zugleich mit der Bestimmung, daß es ihr freistehen solle,
Schloß Cyrillenort noch ein Jahr lang zu bewohnen. Es lag dem schönen Fräulein
Da hast Du die St.-Arnaud-Geschichte, hinsichtlich deren ich Dich nur noch herzlich
und inständig bitten möchte, von Deiner durchgängerischen Gewohnheit ausnahmsweise
mal ablassen und das Kind nicht gleich mit dem Bade verschütten zu wollen. Als Les
lie-Gordon kennst Du natürlich Deinen Schiller und wälzt hoffentlich mit ihm, als ob
es sich um Wallenstein in Person handele, die größere Schuldhälfte ›den
unglückseligen Gestirnen‹ zu. Wirklich, mein Lieber, an solchen
Deine Clothilde«
Gordon war in der höchsten Erregung. Einzelnes, was er in der Charlottenburger Villa, gleich nach seinem Eintreffen in Berlin, und dann gestern wieder aus dem Munde des alten Generals gehört hatte, hatte freilich nicht viel Gutes in Sicht gestellt, aber dieser Schlag ging doch über das Erwartete hinaus. Fürstengeliebte, Favoritin in duplo, Erbschaftsstück von Onkel auf Neffe! Und dazwischen der Kammerherr – ein Schatten, der sich schließlich gesträubt hatte, sich zum Ehemann zu verdichten.
Er warf den Brief fort und erhob sich, um in hastigen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen. Dann aber trat er an das zweite, bis dahin geschlossene Fenster und riß auch hier beide Flügel auf, denn es war ihm, als ob er ersticken solle.
Der eingelegte Zettel von Eva Lewinski (nur ein halber, eng bekritzelter Briefbogen) war auf den Teppich gefallen. Er nahm ihn jetzt wieder auf und sagte: »Besser alles in einem. Lieber die ganze Dosis auf einmal als tropfenweis. Und wer weiß, vielleicht ist auch etwas von Trost und Linderung darin.«
Und er setzte sich wieder und las.
Ich sehe noch die Frau von Zacha, wie sie dem Sarge folgte, tief in Trauer und angestaunt von der gesamten Männerwelt. Denn Frau von Zacha, damals erst dreißig, war noch schöner als Cécile. Diese mochte zwölf sein, als der Vater starb, aber sie wirkte schon wie eine Dame, darauf hielt die Mutter, die wohl von Anfang an ihre Pläne mit ihr hatte. Verwöhntes Kind, aber träumerisch und märchenhaft, so daß jeder, der sie sah, sie für eine Fee in Trauer halten mußte.
Kurz nach dem Tode des Vaters ging es. Die junge Herzogin auf Schloß Rauden, die sich für die schöne Witwe mit ihren drei Kindern interessierte, gab und half. Aber die Wirtschaft war zu toll, und so zog sie zuletzt ihre Hand von den Zachas ab. Alles, was diesen blieb, beschränkte sich auf eine kleine Pension. An Erziehung war nicht zu denken. Frau von Zacha lachte, wenn sie hörte, daß ihre Töchter doch etwas lernen müßten. Sie selbst hatte sich dessen entschlagen und sich trotzdem sehr wohl gefühlt, bis zum Hinscheiden ihres Mannes gewiß und nachher kaum minder. Es stand fest für sie, daß eine junge schöne Dame nur dazu da sei, zu gefallen, und zu diesem Zwecke sei wenig wissen besser als viel. Und so lernten sie nichts.
Oft mußten wir lachen über den Grad von Nichtbildung, worin Mutter und Töchter
wetteiferten. Alle Quartal kam ihre Pension. Dann gaben sie Festlichkeiten und
schafften neue
Sie hatte ganz verschrobene Ideen und war abwechselnd unendlich hoch und unendlich niedrig. Sie sprach mit der Herzogin auf einem Gleichheitsfuß, am liebsten aber unterhielt sie sich mit einer alten Waschfrau, die in unsrem Hause wohnte. War dann das Geld vertan, was keine Woche dauerte, so hatten sie zwölf Wochen lang nichts. Es wurde dann geborgt oder von Obst aus dem Garten gelebt, und wenn auch das nicht da war, so gab es ›Pilzchen‹. Aber glaube nur nicht, daß ›Pilzchen‹ wirklich Pilze gewesen wären. Pilzchen waren große Rosinen, in welche, von unten her, halbe Mandelstücke gesteckt wurden. Das war mühevoll genug, und mit Anfertigung davon verbrachte Frau von Zacha den ganzen Vormittag, um die Götterspeise dann mittags auf den Tisch zu bringen. Inmitten des Schüsselchens aber lag, um auch das nicht zu verschweigen, eine besonders große Rosine, die nicht nur den ihr zuständigen Mandelfuß hatte, sondern auch noch von zwei horizontal liegenden und ebenfalls aus Mandelkern geschnittenen Speilerchen kreuzartig durchstochen war. An den vier Spitzen dieser Speilerchen saßen dann ebenso viele kleine Korinthen und stellten das morceau de résistance her, das in der Sprache der Zachas ›le Roi Champignon‹ hieß. Eine Bezeichnung, von der die Leute sagten, daß sich sowohl der Witz wie das damalige Französisch der Familie darin erschöpft habe.
Dies, meine liebe Clothilde, sind meine persönlichen Erlebnisse, Kindererlebnisse. Was dann weiter kam, weißt Du besser als ich. Wie immer Deine
Eva L.«
Gordon hielt den Zettel in der Hand und zitterte. Dann aber war es mit eins, als ob
er seine Ruhe wiedergefunden habe. »Ja, das entwaffnet! Großgezogen ohne Vorbild und
ohne Schule, und nichts gelernt, als sich im Spiegel zu sehen und eine Schleife zu
stecken. Und nie zu Haus, wenn eine
Er drehte den Zettel noch immer zwischen den Fingern, zupfte daran und knipste gegen Rand und Ecken, alles, ohne zu wissen, was er tat. Endlich erhob er sich und sah auf die Baumwipfel hinüber, die jetzt in vollem Morgenlichte lagen.
»Die Nebel drüben sind fort, aber ich stecke darin, tiefer, als ob ich auf dem Watzmann wär. Und ist man erst im Nebel, so ist man auch schon halb in der Irre. Que faire? Soll ich den Entrüsteten spielen oder ihr sagen: ›Bitte, meine Gnädigste, schicken Sie den Hofprediger fort, ich bin gekommen, um Ihre Beichte zu hören.‹ Und dann zum Schluß: ›Ei, ei, meine Tochter.‹ Oder soll ich ihr von Bußübungen sprechen? Oder von den Zehn Geboten? Oder vom höheren sittlichen Standpunkt? Oder gar von der verletzten Weiblichkeit? Ich habe nicht Lust, mich unsterblich zu blamieren und Zeuge zu sein, daß sie lächelt und klingelt und ihrer Zofe zuruft: ›Bitte, leuchten Sie dem Herrn.‹«
Er trat, als er so sprach, vom Fenster an die Spiegelkonsole, wo, neben Uhr und
Notizbuch, auch sein Zigarrenetui lag.
Er wollte nichts tun, in seinem Benehmen nichts ändern, und doch ließ er drei Tage vergehen, ohne bei den St. Arnauds vorzusprechen.
Endlich, den vierten Tag, nahm er sich ein Herz.
Es war inzwischen herbstlich und windig geworden, und die Blätter tanzten vor ihm her, als er über den Hafenplatz ging. Er warf einen Blick hinauf und sah, daß überall, ganz wie damals bei seinem ersten vergeblichen Besuche, die Holzjalousien herabgelassen waren. Nur in St. Arnauds Zimmer standen die Fensterflügel weit auf, und die Gardinen wehten im Winde.
»Wieder im Tattersall oder im Club. Nie zu Haus. Es scheint wirklich, daß er sie
manchen Tag keine Stunde sieht, und Rosa mag recht mit ihrer Mutmaßung haben, daß
seine Liebe, wenn überhaupt vorhanden, von ganz eigner Art sei.
Unter solchem Selbstgespräche war er bis an das Haus gekommen, dessen Tür sich im selben Augenblick öffnete, wie wenn sein Erscheinen von der Portierloge her bereits bemerkt worden wäre. Wirklich, ein kleines Mädchen sah neugierig durch das Guckfenster und schien auf seinen Gruß zu warten. Er nickte denn auch und stieg die Treppe hinauf.
Gleich auf dem ersten Absatz traf er den von Cécile kommenden Geheimrat. »Ah, Herr von Gordon«, grüßte dieser. »Les beaux esprits se rencontrent. Die Gnädigste fühlt sich unwohl; leider, oder auch nicht leider; je nachdem, wie man's nehmen will. Sie wissen, es ist ihr ewig Weh und Ach...«
Und er lachte, während er unter nochmaliger legerer Hutlüftung an Gordon vorüberging.
Dieser war von der Begegnung aufs unangenehmste berührt, und um so unangenehmer, als
ihm an dem Diner-Tage nicht entgangen war, daß Cécile viel Entgegenkommen für ihren
geheimrätlichen Tischnachbar gehabt hatte. Sein frivoler
Und nun war er die Treppe hinauf und zog die Klingel.
»Die gnädige Frau wird sehr erfreut sein«, empfing ihn die Jungfer und meldete: »Herr von Gordon.«
»Ah, sehr willkommen.«
Cécile war wirklich leidend, hatte den Lieblingsplatz auf dem Balkon aber nicht aufgegeben. Die kleine Bank mit den zwei Kissen war fortgeräumt, und statt ihrer stand eine Chaiselongue da, darauf die Kranke ruhte, den Oberkörper mit einem Shawl, die Füße mit einer Reisedecke zugedeckt, in die das Wappen der St. Arnauds oder vielleicht auch das der Woronesch von Zacha eingestickt war. Auf einem Tischchen daneben stand ein phiolenartiges Fläschchen samt Wasser und Zuckerschale.
Gordon, als er sie so sah, war tief bewegt, vergaß alles und wollte Worte der Teilnahme sprechen. Sie ließ es aber nicht zu, nahm vielmehr ihrerseits das Wort und sagte, während sie sich mit Anstrengung an dem Rückenkissen höher hinaufrückte: »So spät erst. Ich habe Sie früher erwartet, Herr von Gordon... Hat unser kleines Diner so wenig Gnade vor Ihren Augen gefunden? Aber setzen Sie sich. Dort unten steht noch ein Stuhl. Werfen Sie das Tuch beiseit; oder nein, geben Sie's her, ich will es noch über den Shawl decken. Denn offen gestanden, mich friert.«
»Und doch haben Sie sich hier ins Freie gebettet, als ob wir Juli statt Oktober hätten.«
»Ja, der Geheimrat, der eben hier war, war derselben Meinung und tadelte mich, ja, drang in dem ihm eigenen Tone darauf, mich persönlich umbetten zu wollen.«
»Ein Ton, den ich höre. C'est le ton, qui fait la musique.«
»Freilich. Und bei niemandem mehr als bei dem Geheimrat. Und doch amüsiert er mich;
ich gestehe es, wenn auch vielleicht wenig zu meinem Ruhme. Man hört soviel
Langweiliges,
»Ach, Sie haben leicht spotten, meine gnädigste Frau. Wissen Sie doch am besten, wie's liegt. Rosa! Mit Rosa könnte man um den Äquator fahren, und man landete genauso, wie man eingestiegen. Ich habe sie bis an ihre Wohnung geführt, und wir haben eine Welt besprochen und bewitzelt. Und doch, wenn ich, statt ihrer selbst, eins ihrer Bilder unterm Arm gehabt hätte, so wär es dasselbe gewesen. Um es kurz zu sagen, ihr Charmantsein ist ohne Charme, und ich kenne Frauen, deren zustimmendes Schweigen mir mehr bedeutet als Rosas witzigstes Wort.«
Cécile lächelte und verschmähte es, sich das Ansehen zu geben, als ob sie Sinn und
Ziel seiner Worte nicht verstanden habe. Zugleich aber schüttelte sie den Kopf und
sagte: »Sie werden besser tun, mir von meinen Tropfen zu geben. Da, das Fläschchen.
Es ist ohnehin schon über die Zeit. Aber zählen Sie richtig und bedenken Sie, welch
ein kostbares Leben auf
»Vor Ihnen, Cécile ...«
»Ja«, fuhr diese fort, ohne der Unterbrechung zu achten, »damals glaubte ich nicht, daß der Fingerhut für mich blüht. Seit gestern aber ist mir auch noch eine Herzkrankheit in aller Form und Feierlichkeit zudiktiert worden, als ob ich des Elends nicht schon genug hätte. Fünf Tropfen, bitte; nicht mehr. Und nun etwas Wasser.«
Gordon gab ihr das Glas.
»Es schmeckt nicht viel besser als der Tod... Nun aber setzen Sie sich wieder und erzählen Sie mir von Ihrer eigentlichen Tischnachbarin. Interessante Frau, die Baronin. Nicht wahr? Und so distinguiert!«
»Jedenfalls mehr dezidiert als distinguiert. Den Zweifel, diesen Ursprung oder Sprößling aller Bescheidenheit, haben die Götter beispielsweise nicht in ihre Brust gelegt; dafür aber den Haß, wenigstens den redensartlichen. Gott, was haßte diese Frau nicht alles! Und dazu welch ein Appetit! Und jedes dritte Gericht ihr ›Leibgericht‹; Pardon, sie brauchte wirklich diesen Ausdruck. Ach, Cécile, wie kommen Sie zu diesem Mannweib, zu solcher Amazone, Sie, die Sie ganz Weiblichkeit sind und...«
»Und Schwäche. Sprechen Sie's nur aus. Und nun elend und krank dazu!«
»Nein, nein«, fuhr Gordon in immer wärmer und leidenschaftlicher werdendem Tone fort:
»Nein, nein; nicht krank. Sie dürfen nicht krank sein. Und diese dummen Tropfen; weg
damit samt der ganzen Doktorensippe. Das brüstet sich mit Ergründung von Leib und
Seele, schafft immer neue Wissenschaften, in denen man sich vor ›Psyche‹ nicht retten
kann, und kennt nicht mal das Abc der Seele. Verkennung und Irrtum, wohin ich sehe.
Ach, meine teure Cécile, Sie haben sich
Sie sog jedes Wort begierig ein, aber in ihrem Auge, darin es von Glück und Freude leuchtete, lag doch zugleich auch ein Ausdruck ängstlicher Sorge. Denn ihr Herz und ihr Wille befehdeten einander, und je gewissenhafter und ehrlicher das war, was sie wollte, je mehr erschrak sie vor allem, was diesen ihren Willen wieder ins Schwanken bringen konnte. Sie hatte sich gegen sich selbst zu verteidigen, und so sagte sie denn: »O nicht so, lieber Freund. Sehen Sie die roten Flecke hier? Ich fühle wenigstens, wie sie brennen. Glauben Sie mir, ich bin wirklich krank. Aber, wenn ich auch gesund wäre, Sie dürfen diese Sprache nicht führen. Um meinetwegen nicht und auch um Ihretwegen nicht.«
Es war ersichtlich, daß er diese Worte nicht recht zu deuten verstand, und so wiederholte sie denn: »Ja, auch um Ihretwegen nicht. Denn diese Sprache, soviel sie bedeuten will, ist doch nur Alltagssprache, Sprache, darin ich jeden Ton und jede kleinste Nuance kenne. Das wenigstens hab ich gelernt, darin wenigstens hab ich eine Schule gehabt. So spricht herkömmlich ein Mann von Welt zu einer Frau von Welt, und es fehlen nur noch die Herabsetzungen und Verkleinerungen, ich sage nicht, wessen, und die versteckten Anklagen, ich sage nicht, gegen wen, um das Herkömmliche dieser Sprache vollkommen zu machen. Ein Glück für mich, daß Ihr Taktgefühl mich vor diesem Äußersten wenigstens zu bewahren wußte.«
Sie schob, als sie so sprach, sich abermals aufrichtend, den Shawl zurück und setzte
dann in wieder freundlicher werdendem
Gordon schien antworten zu wollen, aber sie wies nur auf die Karaffe, zum Zeichen,
daß sie zu trinken wünsche, trank auch wirklich und fuhr dann aufatmend fort: »Es
drückt mich mancherlei. Sie haben gesehen, wie wir leben; es ist soviel Spott um mich
her, Spott, den ich nicht mag und den ich oft nicht einmal verstehe. Denn die großen
Fragen interessieren mich nicht, und ich nehme das Leben, auch jetzt noch, am
liebsten als ein Bilderbuch, um darin zu blättern. Über Land fahren und an einer
Waldecke sitzen, zusehen, wie das Korn geschnitten wird und die Kinder die Mohnblumen
pflücken, oder auch wohl selber hingehen und einen Kranz flechten und dabei mit
kleinen Leuten von kleinen Dingen reden, von einer Geiß, die verlorenging, oder von
einem Sohn, der wiederkam, das ist meine Welt, und ich bin glücklich gewesen, solang
ich darin leben konnte. Dann, ich war noch ein halbes Kind, wurd ich aus dieser Welt
herausgerissen, um in die große Welt gestellt zu werden, und ich habe mich, solang es
galt, auch ihrer Freuden gefreut und an ihren Torheiten und Verirrungen teilgenommen.
Aber jetzt, jetzt sehne ich mich wieder zurück, ich will nicht sagen, in ›kleine
Verhältnisse‹, die würd ich nicht ertragen können – aber doch zurück nach Stille,
nach Idyll und Frieden und, gönnen Sie mir, es auszusprechen, auch nach Unschuld. Ich
habe Schuld genug gesehen. Und wenn ich auch durch all mein Leben hin in Eitelkeit
befangen geblieben bin und der Huldigungen nicht entbehren kann, die meiner Eitelkeit
Nahrung geben, so will ich doch, ja, Freund, ich will es, daß diesen Huldigungen eine
bestimmte Grenze gegeben werde. Das habe ich geschworen, fragen Sie nicht, wann und
bei welcher
In großer Bewegung hatte Gordon Cécile verlassen, und erst auf dem Heimwege kam er wieder zur Besinnung und überdachte sein Benehmen. Er hatte sich wirklich dem Augenblick überlassen und war, als er sie krank und schmerzlich resigniert sah, nur voll herzlicher Teilnahme gewesen. Aber dies Gefühl reiner Teilnahme hatte nicht angedauert. Aller Krankheit und Resignation unerachtet oder vielleicht auch gesteigert dadurch, war etwas Bestrickendes um sie her gewesen, und diesem Zauber aufs neue hingegeben, war er schließlich doch in eine Sprache verfallen, die zu mäßigen oder gar schweigen zu heißen er nach dem Inhalt von Clothildens Briefe nicht mehr für geboten gehalten hatte. Worte waren gesprochen, Andeutungen gemacht worden, die vor einer Woche noch unmöglich gewesen wären. »Ja«, schloß er seine rückblickende Betrachtung, »so war es, so verlief es. Und dann antwortete sie so dringend wie nie zuvor und zugleich so demütig wie immer.«
Unter solchem Selbstgespräche war er bis an das Tiergarten-Hotel und gleich danach bis in die unmittelbare Nähe der Lennéstraße gekommen. Aber zu Hause, zwischen Alltagsmöbeln und bei nichts Besserem als zwei Schweizerlandschaften in Öldruck, die schon unter gewöhnlichen Verhältnissen eine Qual für ihn waren, sich einzupferchen, widerstand ihm heute doppelt, und so ging er an seiner Wohnung vorüber und auf eine Bank zu, die, trotzdem die Oktobersonne einladend darauf schien, unbesetzt war.
Er lehnte sich, den Arm aufstützend, in eine der Ecken und
Er wollte sich losmachen von diesen und ähnlichen Betrachtungen, aber es brodelte
weiter in seiner Seele. »Die Welt ist eine Welt der Gegensätze, draußen und drinnen,
und wohin das Auge fällt, überall Licht und Schatten. Die dankbarsten Menschen
überschlagen sich plötzlich in Undank, und die Frommen, mit dem seligen Hiob an der
Spitze, murren wider Gott und seine Gebote. Was hat nicht alles Platz in einem
Menschenherzen? Alles verträgt sich, man rückt mit gut und bös ein bißchen zusammen,
und wer heute sittlich ist und morgen frivol, kann heute gerade so ehrlich sein wie
morgen. Clothilde hatte recht, als sie mich ermahnte, das Kind nicht mit dem Bade zu
verschütten. Und was sagte Rosa: ›Die arme Frau.‹ Sie muß also doch Züge
herausgefunden haben, die
In diesem Augenblicke kam eine Spreewaldsamme mit einem Kinderwagen und nahm neben ihm Platz. Er sah nach ihr hin, aber die gewulsteten Hüften samt dem Ausdruck von Stupidität und Sinnlichkeit waren ihm in der Stimmung, in der er sich befand, geradezu widerwärtig, und so stand er – übrigens zu sichtlicher Verwunderung seiner Bankgenossin – rasch auf, um weiter in die Parkanlagen hineinzugehen.
Als er nach einer Stunde müd und abgespannt nach Hause kam, übergab ihm der Portier einen Brief und ein Telegramm. Der Brief war von Cécile, soviel sah er an der Aufschrift, und die Frage, woher die Depesche komme, war ihm deshalb, momentan wenigstens, gleichgültig. Er stieg hastig in seine Wohnung hinauf, um zu lesen, oben aber überkam ihn eine Furcht. Endlich erbrach er den Brief. Er lautete: »Lieber Freund. Es geht nicht so weiter. Seit dem Tage, wo wir das kleine Diner hatten, sind Sie verändert, verändert in Ihrem Tone gegen mich. Ich sprach es Ihnen schon aus und wiederhole, daß ich darauf verzichte, nach dem Grunde zu forschen. Aber was der Grund auch sei, fragen Sie sich, ob Sie den Willen und die Kraft haben, sich zu dem Tone zurückzufinden, den Sie früher anschlugen und der mich so glücklich machte. Prüfen Sie sich, und wenn Sie antworten müssen ›nein‹, dann lassen Sie das Gespräch, das wir eben geführt haben, das letzte gewesen sein. Es gilt Ihr und mein Glück. Die zitternde Handschrift wird Ihnen sagen, wie mir ums Herz ist, das in allen Stücken nicht will, wie's soll. Aber ich beschwöre Sie: Trennung, oder das Schlimmere bricht herein. Über kurz oder lang würde Sie der Beruf, den Sie gewählt, doch wieder in die Welt hinausgeführt haben – greifen Sie dem vor. Ich vergesse Sie nicht. Wie könnt ich auch! Immer die Ihrige
Cécile«
Er war bewegt, am bewegtesten durch das rückhaltlose Geständnis ihrer Neigung. Aber
er ersah eben daraus auch den
»Ob ich den Willen und die Kraft habe, fragt sie. Nun, den Willen, ja. Aber nicht die Kraft. Vielleicht, weil auch der Wille nicht der ist, der er sein sollte. Woher sollt ich ihn auch nehmen? Ich kann hier nicht leben und an ihrem Hause Tag um Tag gleichgiltig vorübergehen, als wüßt ich nicht, wer hinter den herabgelassenen Rouleaux seine Tage vertrauert. Und so hab ich denn beides nicht, nicht die Kraft und nicht den Willen.«
Als er so sprach, überflog er noch einmal die letzten Zeilen und griff dann erst nach dem Telegramm. Es kam aus Bremen und enthielt die kurze Weisung, herüberzukommen, weil sich dem Unternehmen seitens der dänischen Regierung neue Schwierigkeiten in den Weg gestellt hätten.
»Ohne den Brief wäre mir das Telegramm ein Greuel gewesen, jetzt ist es mir ein
Fingerzeig, wie damals der Befehl, der mich aus Thale wegrief. Nur daß die Situation
von heute pressanter und das Glück im Unglück ersichtlicher ist. Es bleibt ewig wahr,
man soll nicht mit dem Feuer spielen. Trivialer Satz. Aber die trivialsten Sätze sind
immer die wahrsten. Und so denn also Rückzug! Er wird mir leichter, als ich's vor
einer Stunde noch gedacht hätte, denn alles, was gut und verständig in mir ist,
stimmt mit ein und kommt mir zu Hülfe. Sich düpieren lassen oder Spielzeug einer
Weiberlaune zu sein, widersteht mir. Aber hier ist nichts von dem allen, nicht
Düpierung, nicht Weiberlaune, nicht Spiel. Arme Cécile. Dir ist die höhere Moral
nicht an der Wiege gesungen worden, und Oberschlesien mit Adelsanspruch und
Adelsarmut war keine Schule dafür. Nur zu wahr. Aber es war ein guter Fond in ihr,
ein ästhetisches Element, etwas angeboren Feinfühliges, das sie gelehrt hat, echt von
unecht und Recht von Unrecht zu unterscheiden. Etwas aus der Zeit, wo die ›Pilzchen‹
mit dem Roi Champignon auf dem Tisch standen, ist ihr freilich geblieben und wird ihr
bleiben, aber sie will aus dem alten Menschen heraus, aufrichtig und ehrlich, und sie
daran hindern zu wollen wäre
Er sprach es in gutem Glauben vor sich hin. Aber plötzlich besann er sich und lächelte: »Hoffnungen – ideales Wort, das für meine Wünsche, wie sie nun mal sind oder doch waren, nicht recht passen will. Aber müssen denn Hoffnungen immer ideal sein, immer weiß wie die Lilien auf dem Felde? Nein, sie können auch Farbe haben, rot wie der Fingerhut, der oben auf den Bergen stand. Aber weiß oder rot, weg, weg.«
Und er klingelte nach der Wirtin und gab Ordres für seine Abreise.
Den andern Morgen war er in Bremen und nahm Wohnung in »Hillmanns Hotel«, einem entzückenden Gasthause, das er schon aus früheren Aufenthalten kannte. Die Fenster in seinem Zimmer standen auf, und er sah abwechselnd über die die Vorstadt von der Altstadt trennende Esplanade hin in die buntbelebte Sögestraße hinein und dann wieder unmittelbar auf eine neben der ganzen Hotelfront hinlaufende mit Kies bestreute Rampe, darauf die Gäste saßen und eben ihren Frühkaffee nahmen. Denn es war noch milde Luft, und die mächtigen Bäume des benachbarten Wallgangs bildeten einen Schirm, der die ganze Rampe zu einer windgeschützten Stelle machte. Hier wollt er auch sitzen, und als er sich umgekleidet hatte, stieg er treppab und nahm an einem der Tische Platz. Das Treiben, das vorüberwogte: Rollwagen, die nach dem Hafen fuhren, Mägde, die zu Markt, und Kinder, die zur Schule gingen, alles tat ihm wohl und gab ihm ein stilles Behagen wieder, das er seit dem Tage, wo Clothildens Brief eintraf, nicht mehr gekannt hatte. Dabei sah er Cécile beständig vor sich, die, wie ein hinschwindendes Nebelbild, ihn aus weiter Ferne her zu grüßen und doch zugleich auch abzuwehren schien. Das war die rechte Stimmung, und er ließ sich Papier und Schreibzeug bringen und schrieb:
Ich soll mich zurückfinden in den Ton unserer glücklichen Tage, so schrieben Sie mir gestern. Mit Ihnen am selben Orte, dieselbe Luft atmend, würd ich es nie gekonnt haben; aber in dieser Trennung werd ich es können oder es lernen, weil ich es lernen muß. Es ist noch früh am Tag, und ich habe noch niemand aus dem Kreise meiner Auftraggeber gesprochen, aber wenn sich mir erfüllt, was ich von Herzen wünsche, so brechen alle Verhandlungen ab, die mich an diese Küste fesseln, und an ihre Stelle treten wieder Missionen, die mich aufs neue weit in die Welt und in die Fremde hinausführen. Denn in der Fremde nehmen wir, zurückblickend, das Bild für die Wirklichkeit, und die Sehnsucht, die sonst uns quälen würde, wird unser Glück. Über lang oder kurz hoff ich wieder über die Schneepässe des Himalaja zu gehen, überall aber, und je höher hinauf, desto mehr, werd ich der zurückliegenden schönen Tage gedenken, an Quedlinburg und Altenbrak und das Denkmal auf der Klippe... Träume nur und Visionen, aber man nimmt seinen Trost, wie und wo man ihn findet. Liebe, teure Freundin, Ihr innigst ergebener
Leslie-Gordon«
Gordon sah einer Antwort entgegen, aber sie kam nicht, was ihn anfangs halb beunruhigte, halb verstimmte. Die geschäftlichen Verhandlungen indes, die den Oktober über andauerten und ihn zu Vermessungen und sonstigen Feststellungen erst nach Schleswig und dann hoch hinauf bis an den Limfjord führten, ließen eine Kopfhängerei nicht aufkommen. Erinnerungen erfüllten sein Herz, aber jedes leidenschaftliche Gefühl schien begraben, und er freute sich der Wendung, die diese Lebensbegegnung, deren Gefahren er wohl einsah, schließlich genommen hatte.
Das Zimmer, das ihm angewiesen wurde, lag eine Treppe hoch, nach der Bellevuestraße hinaus, und hatte den Blick auf das von Bäumen umstellte Podium, auf dem er ehedem, wenn er vom Hafenplatze kam, manch glückliche Stunde verplaudert hatte. Das lag nun zurück, und auch die Szenerie war nicht mehr dieselbe. Die Kastanienbäume, die damals, wenn auch schon angegelbt, noch in vollem Laube gestanden hatten, zeigten jetzt ein kahles Gezweig, und vom Dach her, just an der Stelle, wo man den ganzen sommerlichen Tisch- und Stühlevorrat übereinandergetürmt hatte, fiel der Regen in ganzen Kaskaden auf das Podium nieder.
Gordon überkam ein Frösteln.
»Hoffentlich ist das nicht die Signatur meiner Berliner Tage. Das würde wenig versprechen. Aber am Ende, was kann man von einem Novembernachmittag erwarten! ›Some days must be dark and dreary‹ – ich weiß nicht, sagt es Tennyson oder Longfellow, jedenfalls einer von beiden, und wenn etliche Tage ›dunkel und traurig‹ sein müssen, nun denn, warum nicht dieser? Ein Feuer im Ofen und eine Tasse Kaffee werden übrigens die Situation um ein erhebliches verbessern.«
Er zog die Klingel, gab seine Ordres und tat einige Fragen an den Kellner.
»Was gibt es im Theater?«
»Störenfried.«
»Etwas antik. Und im Opernhause?«
»Tannhäuser.«
»Haben Sie Billets?«
»Gut. Erster Rang. Deponieren Sie's beim Portier.«
Kurz vor sieben hielt die Droschke vor dem Opernhause, und der allezeit bereitstehende Wagenschlagöffner sagte mit der ihm eigenen und bei Glatteis und trockenem Wetter immer gleichklingenden Fürsorge: »Nehmen Sie sich in acht.«
Gordon freute sich des voll und glänzend besetzten Hauses und ließ von seinem Umschauhalten erst ab, als der Taktstock sich erhob und die Ouvertüre begann. Er kannte jeden Ton und folgte mit Verständnis und Freudigkeit, bis er plötzlich, in einer ihm gegenüberliegenden Loge, Céciles gewahr wurde. Sie saß vorn an der Brüstung, neben ihr der Geheimrat, der ihr, während der Fächer sie halb verdeckte, kleine Bemerkungen zuflüsterte, wobei beider Köpfe sich berührten. So wenigstens schien es Gordon. Und nun ging der Vorhang auf. Aber er sah und hörte nichts mehr und starrte nur, während er Kinn und Mund in seine linke Hand vergrub, nach der Loge hinüber, ganz und gar seiner Eifersucht hingegeben und von einem prickelnden Verlangen erfüllt, lieber zuviel als zuwenig zu sehen. Es schien aber, daß beide dem Spiele nicht nur oberflächlich, sondern aufmerksam und mit einem gewissen Ernste folgten, und nur dann immer, wenn eine leere Stelle kam, beugte sich der eine zum andern und sprach abwechselnd ein kurzes Wort, das von seiten Céciles meistens mit einem Lächeln, von seiten des Geheimrates aber Mal auf Mal mit einem komisch gravitätischen Kopfnicken beantwortet wurde.
Gordon litt Höllenqualen, und über seine Rache brütend, war er nur darüber in Zweifel, ob er sich im gegebenen Moment (und der Moment mußte sich geben) lieber als »böses Gewissen« oder als »Mephisto« gerieren solle. Natürlich entschied er sich für das letztere. Spott und superiore Witzelei waren der allein richtige Ton, und als ihm dies feststand, fiel zum ersten Male der Vorhang.
Und nun stürmte Gordon hinüber, um sich der gnädigen Frau vorzustellen.
Der Geheimrat hatte sein Glas genommen und musterte den Vorhang. Als er sich eben wieder wandte, vielleicht um seiner Freundin und Nachbarin eine kunstkritische Bemerkung über Arion und noch wahrscheinlicher über die badelustige Nereidengruppe zuzuflüstern, sah er den inzwischen eingetretenen Nebenbuhler, der, mit halbem Gruß ihn streifend, sich eben gegen Cécile verneigte.
»Welches Glück für mich, meine gnädigste Frau«, begann Gordon in seinem spitzesten Tone, »Sie schon heut und an dieser Stelle begrüßen zu dürfen. Ich hatte vor, mich Ihnen morgen im Laufe des Tages zu präsentieren. Aber es trifft sich günstiger für mich. Darf ich mich nach Ihrem Befinden erkundigen?«
Cécile zitterte vor Erregung und fand in dem Krampf, der ihr die Sprache zu rauben drohte, nichts als die mit höchster Anstrengung gesprochenen Worte: »Die Herren kennen einander? Geheimrat Hedemeyer... Herr von Gordon.«
»Hatte bereits die Ehre«, sagte Gordon, während er sich auf einem der frei gewordenen
Plätze niederließ. Gleich danach aber, sich leger auf eine Seitenlehne stützend, fuhr
er im Tone forcierter guter Laune fort: »Ein volles Haus, meine Gnädigste, jedenfalls
voller, als man bei einer Oper glauben sollte, die nun schon dreißig Jahre spielt und
jeder auswendig kennt. Es muß der Stoff sein oder die glänzende Besetzung. Ich
vermute, Niemann. Er ist doch der geborene Tannhäuser, und kein anderer reicht da
heran. Wenigstens nicht auf der Bühne. Für mich sind es Auffrischungen aus Tagen her,
in denen ich noch des Vorzugs genoß, mit der silbernen Gardelitze, deren sich,
einigermaßen überraschlich, auch das Regiment ›Eisenbahn‹ erfreut, hier sitzen zu
dürfen, halb als Kunstenthusiast, halb als militärisches Hausornament. Übrigens
empfang ich den Eindruck, als ob Kamerad Hülsen immer noch seine Gnadensonne
Cécile hörte den spöttischen Ton nur halb heraus, desto deutlicher der Geheimrat, der denn auch, ersichtlich, um den draußen in der Welt von »Europens übertünchter Höflichkeit« frei gewordenen »Kanadier« zu markieren – mit der ihm eigenen Ironie replizierte: »Sie waren nur sieben Jahre fort, Herr von Gordon? Ich dachte, länger.«
Gordon, der den Wert einer gelungenen maliziösen Bemerkung auch dann noch zu schätzen wußte, wenn sich die Spitze derselben gegen ihn selber richtete, fand sich momentan in eine leichte, gute Stimmung zurück und antwortete: »Zu dienen, mein Herr Geheimrat; leider nur sieben Jahre, weshalb ich vorhabe, die Zahl baldmöglichst zu verdoppeln, und zwar um meiner weiteren Ausbildung willen. Natürlich Charakter-Ausbildung. Glückt es, so hoff ich einen richtigen Naturmenschen zu erzielen, an dem nichts Falsches ist, auch nicht einmal äußerlich. Aber ich sehe, die Loge fängt an, ihre früheren Insassen wieder aufzunehmen und mich an Rückzug zu mahnen. Ich darf mich doch der gnädigen Frau recht bald in ihrer Wohnung vorstellen?«
»Zu jeder Zeit, Herr von Gordon«, sagte Cécile. »Lassen Sie mich nicht länger warten, als Ihre geschäftlichen Obliegenheiten es fordern. Ich bin so begierig, von Ihnen zu hören.«
All das wurd in Hast und Verlegenheit gesprochen, und sie wußte kaum, was sie sagte. Gordon aber empfahl sich und ging in seine Loge zurück.
In dieser angekommen, gab er sich das Ansehen, als ob er dem zweiten Akt mit ganz besonderem Interesse folge, und wirklich nahm ihn der Wartburgsaal und das Erscheinen der Sänger eine Weile gefangen. Aber nicht auf lang, und als er wieder hinübersah, sah er, daß Cécile die Loge verließ und der Geheimrat ihr folgte.
Das war mehr, als er ertragen konnte; tollste Bilder schossen in ihm auf und jagten
sich, und ein Schwindel ergriff ihn.
Und damit erhob er sich, um dem flüchtigen Paare zu folgen. Fand er sie, schlimm genug, fand er sie nicht ... Er mocht es nicht ausdenken.
»Ah, Herr von Gordon«, sagte die Jungfer, als der zu so später Stunde noch Vorsprechende mit aller Kraft (vielleicht um sein schlechtes Gewissen zu betäuben) die Klingel gezogen hatte.
»Treff ich die gnädige Frau?«
»Ja. Sie war im Theater, ist aber eben zurück. Die Herrschaften werden sehr erfreut sein.«
»Auch der Herr Oberst zugegen?«
»Nein, der Herr Geheimrat.«
Gordon wurde gemeldet, und ehe noch die Antwort da war, daß er willkommen sei, trat er bereits ein.
Cécile und der Geheimrat waren gleichmäßig frappiert, und das spöttische Lächeln des letztern schien ausdrücken zu wollen: »Etwas stark.«
Gordon sah es sehr wohl, ging aber drüber hin und sagte, während er Cécile die Hand küßte: »Verzeihung, meine gnädige Frau, daß ich von Ihrer Erlaubnis einen so schnellen Gebrauch mache. Aber, offen gestanden, im selben Augenblicke, wo Sie die Loge verließen, war mein Interesse hin und nur noch der Wunsch lebendig, den Abend an Ihrer Seite verplaudern zu dürfen. Als Antrittsvisite keine ganz passende Zeit. Indessen Ihr freundliches Wort... Und so verzeihen Sie denn die späte Stunde.«
Cécile hatte sich inzwischen gesammelt und sagte mit einer Ruhe, die deutlich zeigte,
daß ihr unter diesem unerhörten Benehmen ihr Selbstbewußtsein zurückzukehren beginne:
»Lassen Sie mich Ihnen wiederholen. Herr von Gordon, daß Sie zu
»Ganz recht, meine gnädigste Frau. Man will immer gern wissen, was aus dem Don Juan wird.«
»Und aus dem Masetto«, setzte Hedemeyer hinzu, während er sich von dem Fauteuil, auf dem er eben erst Platz genommen hatte, wieder erhob.
»Aber Sie wollen doch nicht schon aufbrechen, mein lieber Geheimrat«, unterbrach ihn Cécile, der in diesem Augenblick ihre ganze Verlegenheit zurückkehrte. »Schon jetzt, schon vor dem Tee. Nein, das dürfen Sie mir nicht antun und Herrn von Gordon nicht, der ein gutes Gespräch liebt. Und was hat er an dem, was ich ihm sage? Nein, nein, Sie müssen bleiben.« Und sie zog die Glocke... »Den Tee, Marie... Hören Sie doch, lieber Freund, wie draußen der Regen fällt. Ich erwarte noch den Hofprediger; er hat es mir zugesagt. Noch einmal also, Sie bleiben.«
Aber der Geheimrat war unerbittlich und sagte: »Meine gnädigste Frau, der Club und die L'hombre-Partie warten auf mich. Und wenn es auch anders läge, man soll nie vergessen, daß man nicht allein auf der Welt ist. Es wär ein Unrecht, Herrn von Gordon so benachteiligen zu wollen. Er hat viele Wochen hindurch Ihrer Unterhaltung entbehren müssen und Sie der seinigen; nun bringt er Ihnen eine Welt von Neuigkeiten, und ich bin nicht indiskret genug, bei diesen Mitteilungen stören zu wollen. Wenn Sie gestatten, sprech ich morgen wieder vor. Vorläufig darf ich vielleicht dem Herrn Obersten einen herzlichen Empfehl bringen. Auch von Ihnen, Herr von Gordon?«
Gordon begnügte sich damit, sich kalt und förmlich gegen den Geheimrat zu verneigen,
der, inzwischen an Cécile herangetreten, ihre Hand an seine Lippen führte. »Wie gerne
wär ich geblieben. Aber es ist gegen meine Grundsätze. Nennen
»Und Sie fragen?«
»Ja, noch einmal: was haben Sie vor? was bezwecken Sie? Sprechen Sie mir nicht von Ihrer Neigung. Eine Neigung äußert sich nicht in solchem Affront. Und in welchem Lichte müssen Sie dem Geheimrat erschienen sein.«
»Jedenfalls in keinem zweifelhafteren als er mir. Lassen Sie das meine Sorge sein.«
»Aber in welchem Lichte lassen Sie mich vor ihm erscheinen. Und Sie begreifen, mein
Herr von Gordon, daß das meine Sorge ist. Ich habe Sie für einen Kavalier genommen
oder, da Sie das Englische so lieben, für einen Gentleman und sehe nun, daß ich mich
schwer und bitter in Ihnen getäuscht habe. Schon Ihr Besuch in der Loge war eine
Beleidigung; nicht Ihr Erscheinen an sich, aber der Ton, der Ihnen beliebte, die
Blicke, die Sie für gut fanden. Ich habe Sie verwöhnt und mein Herz vor Ihnen
ausgeschüttet, ich habe mich angeklagt und erniedrigt, aber anstatt mich hochherzig
aufzurichten, scheinen Sie zu fordern, daß ich immer kleiner vor Ihrer Größe werde.
Meiner Tugenden sind nicht viele, Gott sei's geklagt, aber eine darf ich mir unter
Ihrer eigenen Zustimmung vielleicht zuschreiben, und nun zwingen Sie mich, dies
einzige, was ich habe, mein bißchen Demut, in Hochmut und Prahlerei zu verkehren.
Aber Sie lassen mir keine Wahl. Und so hören Sie denn, ich bin nicht schutzlos. Ich
beschwöre Sie, zwingen Sie mich nicht, diesen Schutz anzurufen, es wäre Ihr und mein
Verderben. Und nun sagen Sie, was soll werden? Wo steckt Ihr Titel für all
»Erklären, Cécile! Das Rätsel ist leicht gelöst: ich bin eifersüchtig.«
»Eifersüchtig. Und das sprechen Sie so hin, wie wenn Eifersucht Ihr gutes und verbrieftes Recht wäre, wie wenn es Ihnen zustünde, mein Tun zu bestimmen und meine Schritte zu kontrollieren. Haben Sie dies Recht? Sie haben es nicht. Aber wenn Sie's hätten, eine vornehme Gesinnung verleugnet sich auch in der Eifersucht nicht, ich weiß das, ich habe davon erfahren. Sie konnten Schlimmeres tun, als Sie getan haben, aber nichts Kleineres und nichts Unwürdigeres.«
»Nichts Unwürdigeres! Und was ist es denn, was ich getan habe? Was sich erklärt, ist auch verzeihlich. Cécile, Sie sind strenger gegen mich, als Sie sollten; haben Sie Mitleid mit mir. Sie wissen, wie's mit mir steht, wie's mit mir stand vom ersten Augenblick an. Aber ich bezwang mich. Dann kam der Tag, an dem ich Ihnen alles bekannte. Sie wiesen mich zurück, beschworen mich, Ihren Frieden nicht zu stören. Ich gehorchte, mied Sie, ging. Und der erste Tag, der mich nach langen Wochen und, Gott ist mein Zeuge, durch einen baren Zufall wieder in Ihre Nähe führt, was zeigt er mir? Sie wissen es. Sie wissen es, daß dieser spitze, hämische Herr von Anfang an mein Widerpart war, mein Gegner, der ein Recht zu haben glaubt, sich über mich und meine Neigung zu mokieren. Und eben er, er mir vis-à-vis in der Loge, sichrer und süffisanter denn je zuvor, und neben ihm meine vergötterte Cécile, lachend und heiter hinter ihrem Fächer und sich ihm zubeugend, als könne sie's nicht abwarten, immer mehr von seinen Frivolitäten einzusaugen, von all dem süßen Gift, darin er Meister ist. Ach, Cécile, meine Resignation war aufrichtig und ehrlich, ich schwör es Ihnen; ich kam nicht wieder, um Ihre Ruhe zu stören, aber einen andern bevorzugt sehen und so, so, das war mehr, als ich ertragen konnte. Das war zuviel.«
All das wurde gesprochen, während beide heftig erregt über den Teppich hinschritten;
das Flämmchen unter dem Wasserkessel
Gordon sah vor sich hin, und um seinen Mund war ein Zucken und Zittern, als ob die Worte, die sie so warm und wahr gesprochen, doch eines Eindrucks auf ihn nicht verfehlt hätten. Aber im selben Augenblicke trat das Bild wieder vor seine Seele, davon er, vor wenig Stunden erst, Zeuge gewesen war, und verletzt in seiner Eitelkeit, gequält von dem Gedanken, ein bloßes Spielzeug in Weiberhänden, ein Opfer alleralltäglichster List und Laune zu sein, fiel er in sein kaum beschwichtigtes Mißtrauen und, schlimmer, in den Ton bittren Spottes zurück.
»Sie sind so beredt, Cécile«, sprach er vor sich hin. »Ich wußte nicht, daß Sie so gut zu sprechen verstehen.«
»Und doch ist es nicht lange, seit ich Ihnen Ähnliches und mit gleicher Eindringlichkeit sagen mußte. Schlimm genug, daß mir Ihr Wiedererscheinen eine Wiederholung nicht ersparte. Was Sie Beredsamkeit nennen, nenn ich einfach ein Herz.«
»Und ich habe diesem Herzen geglaubt!«
»Sie haben ihm geglaubt. Also in diesem Augenblicke nicht mehr! Und was glauben Sie jetzt? Was glauben Sie noch?«
»Daß wir uns beide getäuscht haben... Wir bleiben unsrer Natur treu, das ist unsre einzige Treue... Sie gehören dem Augenblick an und wechseln mit ihm. Und wer den Augenblick hat...«
Er brach ab, verbeugte sich und verließ das Zimmer, ohne weiter ein Wort des Abschieds oder der Versöhnung gesprochen zu haben. Im Vorzimmer schoß er, mit allen Zeichen äußerster Erregung, an Dörffel vorüber, der einen Augenblick später in den Salon eintrat.
Als Cécile seiner ansichtig wurde, stürzte sie dem väterlichen Freund entgegen und beschwor ihn unter Tränen um seinen Beistand und seine Hülfe.
Cécile kam spät zum Frühstück, und St. Arnaud, das Zeitungsblatt aus der Hand legend, sah auf den ersten Blick, daß sie wenig geschlafen und viel geweint hatte. Sie begrüßten sich und wechselten dann einige gleichgiltige Worte. Gleich danach nahm St. Arnaud die Zeitung wieder auf und schien lesen zu wollen. Aber er kam nicht weit, warf das Blatt fort und sagte, während er die Tasse beiseite schob: »Was ist das mit Gordon?«
»Nichts.«
»Nichts! Wenn es nichts wäre, so früg ich nicht, und du wärst nicht verwacht und verweint. Also heraus mit der Sprache. Was hat er gesagt? Oder was hat er geschrieben? Er schrieb in einem fort. Ewige Briefe.«
»Willst du sie lesen?«
»Unsinn. Ich kenne Liebesbriefe: die besten kriegt man nie zu sehen, und was dann bleibt, ist gut für nichts. Übrigens sind mir seine Beteuerungen und vielleicht auch Bedauerungen absolut gleichgiltig; aber nicht sein Auftreten vor Zeugen, nicht sein Benehmen in Gegenwart andrer. Er hat dich beleidigt. Der Hauptsache nach weiß ich, was geschehen ist; Hedemeyer hat mir gestern im Club davon erzählt, und ich will nur die Bestätigung aus deinem Munde. Das in der Loge mochte gehen, aber dich bis hierher verfolgen, unerhört! Als ob er den Rächer seiner Ehre zu spielen hätte.«
»Sprich dich nicht in den Zorn hinein, Pierre. Du willst von mir hören, was geschehen ist, und ich sehe, du weißt alles. Ich habe nichts mehr hinzuzusetzen.«
»Doch, doch. Die Hauptsache fehlt noch. All dergleichen hat eine Vorgeschichte und
fällt nicht vom Himmel. Am wenigsten vom Himmel. Gordon ist ein Mann von Familie, von
Welt und Urteil, und ein solcher Mann handelt nicht ins Unbestimmte hinein. Er
befragt die Situation. Und diese Situation will ich wissen, will ich kennenlernen.
Schildre sie mir; ich denke, daß du sie mir schildern kannst, und zwar ohne
Cécile schwieg. Aber wahrnehmend, daß es vergeblich sein würde, ihn durch halbe Worte von seinem Vorhaben abbringen zu wollen, sagte sie: »Was ich zu sagen habe, ist kurz. In Thale waren wir unter deinen Augen, und kein Wort ist gesprochen worden, das sich nicht gleichzeitig an alle Welt, an dich, an den Emeritus, an Rosa gerichtet hätte.«
St. Arnaud wiegte den Kopf und lächelte, während Cécile, die des Heimrittes von Altenbrak gedenken mochte, nicht ohne Verlegenheit vor sich hin blickte.
»Dann«, fuhr sie fort, »sahen wir uns hier. Es blieb, wie's gewesen. Er war voll
Rücksicht und Aufmerksamkeiten, und nichts geschah, was den Respekt gegen mich auch
nur einen Augenblick verleugnet hätte. Seine Konversation war leicht und gefällig,
mit unter übermütig, aber trotz dieses Anfluges von Übermut hört ich aus jedem Wort
eine große Zuneigung
»Laß die Briefe.«
»Du darfst mich nicht unterbrechen. Ich sage, so waren auch seine Briefe. Dann kam das kleine Diner, wo wir Rossow und die Baronin zu Tisch hatten, und von dem Augenblick an war er ein andrer. Die Hergänge jenes Tages können ihn nicht umgestimmt haben, aber unmittelbar danach müssen Dinge zu seiner Kenntnis gekommen sein, ich brauche dir nicht zu sagen, welche, die sein Auftreten und seinen Ton veränderten.«
»Erbärmlich. Eine Infamie.«
»Nein, Pierre.«
»Gut. Weiter.«
»Ich empfand auf der Stelle diese Veränderung und wies in einem Gespräche, darin ich mich ihm offen gab und zugleich Scherz und Ernst zu mischen suchte, darauf hin, daß er diesen veränderten Ton nicht anschlagen dürfe, weder als Mann von Ehre noch als Mann von Welt, und ich hatte den Eindruck, daß er mir selber zustimmte. Wenigstens entsprach dem sein unmittelbares Tun. Er verabschiedete sich in ein paar Zeilen und verließ Berlin. Erst gestern ist er zurück gekehrt. Das andre weißt du. Du mußt es als einen Anfall nehmen.«
»Ich versteh, als einen Anfall von Eifersucht. In der Tat, er geriert sich, als ob er legitimste Rechte geltend zu machen hätte; Prätension über Prätension. Aber, mein Herr von Gordon, Sie sind in der falschen Rolle.«
Dabei schoß sein Auge heftige Blicke, denn er war an seiner empfindlichsten, wenn
nicht an seiner einzig empfindlichen Stelle getroffen, in seinem Stolz. Nicht das
Liebesabenteuer als solches weckte seinen Groll gegen Gordon, sondern der Gedanke,
daß die Furcht vor ihm, dem Manne der Determiniertheiten, nicht abschreckender
gewirkt hatte. Gefürchtet zu sein, einzuschüchtern, die Superiorität, die der Mut
gibt, in jedem Augenblicke fühlbar zu machen, das war recht eigentlich seine Passion.
Und dieser Durchschnitts-Gordon, dieser verflossene preußische Pionier-Lieutenant,
dieser Kabelmann
Cécile las in seiner Seele, und Angst und Sorge vor dem, was jetzt mutmaßlich kommen mußte, befiel sie. Sie nahm deshalb seine Hand, mit der er auf dem Tischtuch in nervöser Unruhe hin und her fuhr, und sagte: »Pierre, versprich mir eins.«
»Was?«
»... Dich nicht zu Gewaltsamkeiten fortreißen zu lassen. Alles, was geschehen ist, ist natürlich und, weil natürlich, auch verzeihlich. Es ist keine Beleidigung darin, wenigstens keine gewollte Beleidigung.«
»Ich werde nicht mehr tun als nötig, aber auch nicht weniger. An dieser Zusage mußt du dir genügen lassen.«
Bei diesen Worten erhob er sich von seinem Platze, ging in sein Arbeitszimmer und nahm hier, wie wenn er vorhabe, sich's bequem zu machen, zunächst eine Zigarre. Dann schritt er ein paarmal auf dem türkischen Teppich auf und ab, setzte sich an seinen Schreibtisch und malte langsam und mit sorglicher Handschrift die Adresse: »Sr. Hochwohlgeboren, Herrn von Leslie-Gordon...«
»Aber wo?« unterbrach er sich, während er auf einen Augenblick die Feder wieder aus der Hand legte. »Nun, er wird sich ja finden lassen... Wozu haben wir Zeitungen und die Rubrik ›Angekommene Fremde‹. Unterschlagen wird er sich doch nicht haben.«
Und nun schob er das Couvert zurück, nahm einen Briefbogen mit Wappen und Initiale und schrieb.
Ȇber den Doppelbesuch, den Sie, mein Herr von Gordon, gestern abend der Frau von St.
Arnaud erst in der Loge, dann in der Wohnung derselben abgestattet haben, bin ich
unterrichtet worden, übrigens nicht durch Frau v. St. Arnaud selbst, die vielmehr –
wie mir gestattet sein mag, in pflichtschuldiger Berücksichtigung Ihrer Gefühle
hinzuzusetzen – in einem eben mit mir gehabten Gespräche nicht Ihre Anklägerin,
sondern Ihre Verteidigerin gemacht hat. Aber gerade diese Verteidigung richtet Sie.
Daß Sie, mein Herr von Gordon, unmittelbar vor
v. St. Arnaud«
Gordon saß in dem Glaspavillon des Hotels, als St. Arnauds Brief eintraf. Er las und verzog keine Miene. Daß sich etwas der Art vorbereiten würde, war ihm von dem Augenblick an wahrscheinlich, wo der Geheimrat, um in den Club zu gehen, den Salon Céciles verlassen hatte. Das Wahrscheinliche war nun da. Nichts von Furcht überkam ihn, und wenn etwas davon ihn angewandelt hätte, so würd ihn der unendlich hochmütige Ton des Briefes dieser Anwandlung rasch wieder entrissen haben. War er doch selber ein Trotzkopf und von einem Selbstgefühle, das dem seines Gegners unter Umständen die Spitze bieten konnte. »Gemach, mein Herr Oberst; Sie halten nicht vor Ihrer Front, und ich bin nicht Ihr jüngster Lieutenant. Oder glauben Sie, daß ich devotest um Entschuldigung bitten und mich vor Ihnen klein machen soll, bloß weil Sie das Totschießen als Geschäft betreiben. Sie täuschen sich. Ich hab auch eine feste Hand und den ersten Schuß dazu, wenn die Gesetze der Ehre noch dieselben sind. Der Ehre. Was sich nicht alles so nennt! Nun, sei's drum ... Aber wen schick ich an Rossow? Ich werde nach der Villa hinausfahren... Der Bruder der jungen Frau...«
Cécile, so gut sie St. Arnauds ungestümen Charakter kannte, gewärtigte keinen unmittelbaren Zusammenstoß und war deshalb nur verstimmt, aber nicht eigentlich geängstigt, als sie den andern Morgen hörte, der Oberst, dessen Unregelmäßigkeiten sie kannte, sei tags vorher nicht nach Hause gekommen.
»Er ist der Mann der Exzentrizitäten. Was wird vorgekommen sein? Ein Sport, eine Clublaune, vielleicht ein Wettritt neben dem Eisenbahnzuge her. Und dann Nachtquartier in einer Dorfschenke mit der Devise: ›Je schlechter, je besser.‹«
Sie nahm ein Buch zur Hand und versuchte zu lesen. Aber es ging nicht, und als auch ein Gespräch mit dem Papagei versagte, zog sie sich in ihr Schlafzimmer zurück, um hier früher als sonst Toilette zu machen.
»Ich will zu Rosa. Freilich am Ende der Welt. Aber seit Wochen hab ich ihr einen Besuch versprochen, und ich sehne mich nach einem guten Menschen.«
In ihrem Schlafzimmer war ein eleganter Kamin, vor dem die Jungfer sich eben beschäftigte. Diese warf Kohlen und Tannäpfel auf und suchte mit einem kleinen Blasebalg das halb ausgegangene Feuer wieder anzufachen.
»Ah, das ist gut, Marie. Mach es uns warm: ich friere. Du könntest mir noch den Shawl bringen.«
Während dieser Worte ging draußen die Klingel, und Cécile hörte, wie des Obersten Diener ein längeres Gespräch hatte.
»Sieh, was es ist.«
Marie ging und kam mit einem Briefe zurück, der eben abgegeben
»Geh, Marie... nein, bleib.«
Und mit zitternder Hand riß sie das Couvert auf und las.
»Verzeihung, gnädigste Frau, Verzeihung, liebe Freundin. Ich hatte wohl unrecht, nein, ich hatte gewiß unrecht. Aber der Sinn war mir gestört, und so kam es, wie es kam. Ein berühmter Weiser, ich weiß nicht, alter oder neuer Zeit, soll einmal gesagt haben, ›wir glaubten und vertrauten nicht genug, und das sei der Quell all unsres Unglücks und Elends‹. Und ich fühle jetzt, daß er recht hat. Ich hätte, statt Zweifel zu hegen und Eifersucht großzuziehen, Ihnen vertrauen und der Stimme meines Herzens rückhaltslos gehorchen sollen. Daß ich es unterließ, ist meine Schuld. Ich werde Sie nicht wiedersehen, nie, was auch kommen mag. Sehen Sie mich allezeit so, wie ich war, ehe die Trübung kam. Immer der Ihre. Wieder ganz der Ihre.
v. G.«
Das Blatt entglitt ihrer Hand, und ein heftiges Schluchzen folgte.
Marie sprang herzu, ließ die halb Ohnmächtige in den Fauteuil nieder und griff nach dem Kölnischen Wasser, das auf dem Kaminsims stand. Aber Cécile richtete sich mit Anstrengung wieder auf und sagte: »Laß. Es geht vorüber. Weißt du, Marie ... Herr von Gordon ...«
»Jesus Maria, gnädige Frau...«
»Da. Lies. Das sind seine letzten Worte.«
Und die Jungfer bückte sich nach dem auf den Kaminteppich gefallenen Brief, um ihn Cécile zurückzugeben. Aber diese schüttelte nur den Kopf und sagte, während sie nach der Konsoluhr zeigte: »Merk die Minute ... Er ist erschossen ... jetzt.«
Am andern Morgen brachten alle Zeitungen folgende gleichlautende Notiz:
»Wie wir aus Dresden erfahren, hat gestern um neun Uhr früh, in Nähe des Großen Gartens, ein Duell zwischen dem Obersten a. D. von St. Arnaud und dem früher ebenfalls der preußischen Armee zugehörigen Zivilingenieur von Leslie-Gordon stattgefunden. Herr von Leslie-Gordon fiel, während von St. Arnaud nur leicht an der linken Seite verwundet wurde. Herr von Gordon wird, einer letztwilligen Verfügung entsprechend, nach Liegnitz, wo zwei seiner Schwestern leben, übergeführt werden. Herr von St. Arnaud hat Sachsen unmittelbar nach dem Rencontre verlassen. Über die Veranlassung zu dem Duell verlautet nichts Bestimmtes, da die Sekundanten jede Auskunft verweigern.«
Vier Tage danach traf unter der Adresse der Frau von St. Arnaud nachstehender Brief in Berlin ein:
»Mentone, den 4. Dezember
Meine liebe Cécile! Was geschehen ist, wirst Du mittlerweile durch Rossow erfahren haben, und über meinen persönlichen Verbleib gibt Dir der Poststempel Auskunft. Ich habe hier im ›Hotel Bauer‹ (es findet sich überall dieser Name) Wohnung genommen und genieße der Ruhe nach all den Vorkommnissen und unruhigen Bewegungen der nun zurückliegenden Woche. Selbst von einer gewissen Herzensbewegung darf ich sprechen, zu der ich mich, Dir gegenüber, gern bekenne. Der Ausgang der Sache machte doch einen Eindruck auf mich, und so bot ich ihm die Hand zur Versöhnung. Aber er wies sie zurück. Eine Minute später war er nicht mehr.
Ich hoffe, daß Du das Geschehene nimmst, wie's genommen werden muß. ›Tu l'as voulu,
George Dandin.‹ Sein Benehmen war ein Affront gegen Dich und mich, und er hätte mich
besser kennen müssen. Übrigens bin ich seinem Mute Gerechtigkeit
Daß ich mich den Langweiligkeiten einer abermaligen Prozessierung entzogen habe, wirst Du natürlich finden. Ich werde mit nächstem sechzig und fühle keinen Beruf in mir, abermals ein Jahr lang (oder vielleicht noch länger) um den Julius-Turm spazierenzugehen. So zog ich denn die Riviera vor.
Empfiehl mich Rossow. Er hat sich in der ganzen Affaire brillant benommen und teilte nach seinen Verhandlungen mit Gordon ganz meine Meinung über diesen. Gordon täuschte durch glatte Formen; anfangs auch mich. Im Grunde seines Herzens war er hochmütig und eingebildet, wie die meisten dieser Herren. Er überschätzte sich, weil ihm das Weltfahren zu Kopfe gestiegen war, und mißachtete die gesellschaftlichen Scheidungen, die wir, diesseits des großen Wassers, vorläufig wenigstens noch haben.
Wenn Deine Gesundheit es zuläßt, erwart ich Dich spätestens in nächster Woche. Die Luft hier ist entzückend, keine Spur von Winter, alles noch in Blüte oder schon wieder in Blüte. Komm also. Der Pflicht der Abschiedsbesuche sind wir ja Gott sei Dank überhoben; jede Situation hat ihre Meriten. Im übrigen wird es gut sein, wenn Dich Marie begleitet, die hier, was ihr den Abschied von Fritz vielleicht erleichtert, das Katholische näher und bequemer hat als in Berlin. Au revoir,
Dein St. Arnaud«
Drei Tage nach Eintreffen dieses Briefes richtete der Hofprediger Dörffel das folgende Schreiben an den Obersten von St. Arnaud:
»Mein Herr Oberst. Es liegt mir die Pflicht ob, Sie von dem
Ich bitte, zunächst chronologisch berichten zu dürfen.
Ihre Frau Gemahlin war schwer leidend seit dem Tage, wo die Zeitungsnachricht eintraf; sie wollte niemand sehen, folgte widerwillig den Anordnungen des Arztes und sah von den Bekannten nur Fräulein Rosa und mich. Ich sprach täglich vor, in der Regel in den Mittagsstunden. Vorgestern, bei meinem Erscheinen, fand ich die Jungfer in Tränen und erfuhr, die gnädige Frau sei tot.
Als ich in das Zimmer trat, sah ich, was geschehen.
Frau v. St. Arnaud lag auf dem Sofa, ein Batisttuch über Kinn und Mund. Es war mir nicht zweifelhaft, auf welche Weise sie sich den Tod gegeben; ihre Linke hielt das kleine Kreuz mit dem Christuskopf, das sie beständig trug. Der Ausdruck ihrer Züge war der Ausdruck derer, die dieser Zeitlichkeit müde sind. Auf dem Tisch neben ihr lag ihr Gebetbuch, in das sie, zusammengeknifft und nach Art eines Lesezeichens, einen an mich adressierten Brief gelegt hatte. Dieser Brief, das Beichtgeheimnis eines demütigen Herzens, ist mir unendlich wertvoll, weshalb ich bitte, den Inhalt desselben Ihnen, mein Herr Oberst, nur abschriftlich und nur in seinem sachlichen Teile mitteilen zu dürfen. Es heißt in diesem Letzten Willen:
›Ich wünsche nach Cyrillenort übergeführt und auf dem dortigen Gemeindekirchhofe, zur Linken der fürstlichen Grabkapelle, beigesetzt zu werden. Ich will der Stelle wenigstens nahe sein, wo die ruhen, die in reichem Maße mir das gaben, was mir die Welt verweigerte: Liebe und Freundschaft und um der Liebe willen auch Achtung... Vornehmheit und Herzensgüte sind nicht alles, aber sie sind viel.
Mein Vermögen erhält meine Mutter, mein Gut St. Arnaud. Nach seinem Tode fällt es an die fürstliche Familie zurück.
Über die Dinge, die mich täglich umgaben, bitt ich St. Arnaud, Verfügung treffen zu
wollen, und bestimme meinerseits nur noch, daß die Konsoluhr und der türkische Shawl
an Marie, das
So, mein Herr Oberst, die Bestimmungen der gnädigen Frau, denen ich meinerseits nur noch hinzuzufügen habe, daß in Gemäßheit derselben verfahren werden und heute nacht noch, und zwar von mir persönlich begleitet, der Kondukt nach Cyrillenort stattfinden wird. Dort werden wir die Tote morgen um die zehnte Stunde zur Ruhe bestatten. Die Vorbereitungen dazu sind bereits getroffen.
Der Friede Gottes aber, der über alle Vernunft ist, sei mit uns allen.«