Im alten Eisen : ELTeC ausgabe Raabe, Wilhelm (1831-1910) ELTeC conversion Leonard Konle 64386 169 COST Action "Distant Reading for European Literary History" (CA16204) Zenodo.org ELTeC ELTeC release 1.1.0 ELTeC-deu ELTeC-deu release 1.0.0 Im alten Eisen Raabe, Wilhelm Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von editorPeter Goldammer und editorHelmut Richter, Berlin und Weimar: Aufbau, 1964–1966. Entstanden 1884/85. Erstdruck in: Vom Fels zum Meer (Stuttgart), Februar- Mai 1887.

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Erstes Kapitel

Solange der Mensch auf seiner Erde Geschichten hört oder dergleichen selber erzählt, teilt er sie gewöhnlich ein in solche, die gut anfangen und böse endigen, und solche, die schlimm beginnen, aber zu einem wünschenswerten Ende kommen.

Darüber wäre nun manches zu sagen; denn so recht begriffen und ausgerechnet hat eigentlich noch keiner, wo bei den Geschichten dieser Erde der Anfang und wo das Ende ist, wo das Wünschenswerte beginnt und das Gegenteil davon endet, oder umgekehrt. Ich für mein Teil hüte mich wohl, mich hierüber des weitern auszulassen, ich halte mich einfach an des Menschen uralt hergebrachte Anordnung und Abfachung seiner Erlebnisse und seiner Schicksale und verkünde nur, zu eigener Erleichterung tief aufatmend, daß vorliegende Geschichte nach menschlichem Ermessen ziemlich gut ausgeht.

In eigener Sache frei aufatmen oder in der anderer Leute: für den rechten Erzähler läuft das auf ein und dasselbe hinaus, geradeso wie für den rechten Zuhörer. –

Es war, um mitten in der unruhvollen Wirklichkeit im altgewohnten Märchenton zu beginnen, an einem trüben Sonntagmorgen im Spätherbst noch vor dem Kirchenglockengeläut. Ach, es rüsteten sich eben nur zu viel mitleidige Seelen, gute Leute, die man für diesmal gern an anderer Stelle lieber gesehen hätte, zum Kirchgange. In der ganzen, großen Stadt Berlin hatte niemand von denen, die helfen konnten – auch keine Frau –, eine Ahnung davon, was sich nebenan ereignen sollte, der Zeit nach gerechnet von diesem Sonntagmorgen bis zum Morgen des nächsten Mittwochs.

Nebenan, das ist wohl ein etwas enger Begriff für eine so weitläufige Stadt wie die Stadt Berlin; aber alle diejenigen, die nachher zuerst in den Zeitungen durch den Doktor Berg von dem Vorgefallenen zu lesen bekamen, hatten doch sämtlich das Gefühl, daß die Geschichte dicht neben ihnen selber an passiert sei. So sagten sie auch alle, indem sie sich des gewohnten fremdländischen Wortes für ihren innerlichsten Schauder ob des unbemerkten Vorbeigleitens des Trauerspiels ruhig bedienten.

Was war denn nun aber eigentlich so besonders Außergewöhnliches vorgefallen neben uns an in der mächtigen Stadt? Was war es, das nachher, als es laut wurde, alles Glockengeläut und jede Predigt überschrie?

Nur zwei Kinder hatte man während der Zeit vom Sonntagmorgen bis zum Dienstagabend neben ihrer Mutter allein gelassen – einen Jungen von dreizehn und ein Mädchen von acht Jahren. Die Mutter war am Sonntag bald nach Tagesanbruch gestorben – ein Fall, der so häufig eintritt, daß es nur die ihm anhaftenden Umstände sein konnten, welche später alle Leute so sehr erschreckten. Wir aber können heute auch nichts Besseres tun, als so genau als möglich wie Doktor Berg niederzuschreiben, was auch wir nachher in Erfahrung brachten.

Bei Bewußtsein war die Frau nicht mehr gewesen, als die Kinder durch ihr letztes schweres Atmen erweckt wurden. Sie hatte nicht mehr ihre letzten Verfügungen treffen, auch nicht mehr ihren Sohn zum letztenmal nach dem Arzt schicken können.

»Bleib liegen, bleib still liegen; ich bin gleich wieder da«, hatte der Junge zu dem Schwesterchen gesagt. »Bleib untergekrochen, Paulchen, und rufe nicht nach Mama, bis ich wieder hier bin. Der Herr Doktor kommt wohl noch einmal zu uns, wenn er heute morgen in unsere Gegend kommt.«

Der junge Bezirksarmenarzt hätte, auch wenn er sofort vorgefahren wäre, die Kranke nicht auf ihrem Wege aufgehalten. Als er kurz vor dem Kirchengeläut eintraf, fand er sie nicht mehr gegenwärtig, nicht mehr zu Hause, und konnte ihre Abreise ihren Kindern und dem Armenvorsteher des Bezirks nur durch Ausfüllung des vom Staat und dessen Sterblichkeitslisten vorgeschriebenen Frage- und Antwortbogens bescheinigen.

Er hatte nachher den Knaben unterm Kinn genommen und gesagt:

»Tapfer, mein Junge! Mußt ein guter Junge sein. Verwandte habt ihr nicht? Keine alte Tante, die so ein bißchen nach dem Rechten sehen könnte?«

»Nein, Herr Doktor.«

»Hm ... Nun, man wird euch schon beispringen, den Zettel gib aber so bald als möglich heute morgen an Ort und Stelle ab. Man wird schon nach euch sehen, und auch ich werde euch im Auge behalten. Daß du mir auf die Kleine da achtgibst, armer Tropf, und mir keinen Unsinn machst, bis – eure Angelegenheiten geordnet sind! Ich selber kann mich nun nicht länger bei euch aufhalten; also noch einmal, sei ein verständiger Junge, bis man dir zu Hülfe kommt; und was deine Mutter betrifft –«

Er vollendete den Satz nicht, die gewohnten beruhigenden Wortverbindungen erschienen ihm gänzlich überflüssig im gegebenen Fall, den diesmaligen Hinterlassenen gegenüber. Und er hatte recht, und es zeugte mehr von seinem braven Herzen, daß er, statt zu reden, sich noch einmal in dem leeren oder vielmehr ausgeleerten Raum umsah und bei sich dachte:

›Die Sache müßte einem wieder einmal von Rechts wegen den ganzen Tag verderben!‹ – Wir können nicht sagen, auf was für ein besonderes Behagen er für diesen Tag rechnete. –

Es war an einem Sonntagmorgen noch vor dem Kirchengeläut, und die beiden Kinder waren neben der Leiche allein mit dem Blatt Papier, welches der Doktor zurückgelassen hatte und welches fürs erste allen Trost und jede Hülfe der Welt, die ihnen eben versprochen worden waren, in sich faßte.

Aus der nächsten Nachbarschaft, aus dem Hause selbst ließ sich niemand blicken, obgleich der Arzt beim Herabsteigen der Treppen jedem ihm in den Weg geratenden erwachsenen Mitbewohner mitgeteilt hatte, daß »die Frau da oben soeben gestorben und daß nach den Kindern sofort zu sehen sei«.

»O du mein Je«, sagten die Frauen, während die Männer sich, meistens stumm verhielten, nur durch eine Schulterbewegung antworteten und erst, nachdem der junge Herr aus Hörweite war, ihre Ansicht äußerten: »Daß sich keines eher da hereinmischt, als bis die Polizei dagewesen ist und die Sache auf ihr Risiko genommen hat. So ein Doktor wäscht sich bloß die Hände, geht hin, wenn er sein Wort gesprochen hat, und kümmert sich um uns erst wieder, wenn er sagen kann: ›Habe ich's nicht gesagt, daß das Ding mit dem, einen Fall noch nicht aus und zu Ende war?‹«

Und alle Ärzte und Sanitätsräte der Welt hätten kommen können und hätten es der Nachbarschaft doch nicht eingeredet, daß die Frau da oben nicht an der giftigsten Krankheit gestorben sei und jedes Nahegehen nicht sofortige Ansteckung durch die Seuche und gleichfalls den bittersten Tod verbürge. Und sie hatten wirklich schon genug mit sich selber zu schaffen. Die Nachbarn nämlich, sowohl die im Hause als auch die in den Häusern zu beiden Seiten und gegenüber. Und sie hielten merkwürdigerweise auf ihr Leben wie die wohlgestelltesten Mitbürger und Mitbürgerinnen in den anständigsten Stadtteilen. Und da sie hier herum allesamt von ihrer Hände Arbeit von einem Tag zum andern lebten, so hatten sie nicht unrecht, wenn sie ihre Gesundheit soviel als möglich zu Rate hielten, vorzüglich die, welche nicht bloß für sich selbst sorgen mußten: es war mit die kinderreichste Gegend der Stadt – selbstverständlich!

Natürlich auch die elternreichste! Und – in dieser kinder- und elternreichen Gegend diese beiden Kinder ihrer Aufgabe gegenüber allein!...

Ihrer Aufgabe?

Jawohl, der Aufgabe, die Mutter zu begraben. In dem Folgenden ist zu lesen, wie sie auf sich selber angewiesen waren und wie sie sich zu helfen suchten. –

»Das hat eben der Doktor an den Herrn geschrieben, wo ich das Geld jeden Monat holte, Paule«, sagte der Knabe. »Vorhin haben sie mir auf der Treppe gesagt, sie wollten uns einen Topf Kaffee und Brot vor die Türe setzen. Weiter können sie sich nicht trauen; sie haben alle Angst. Hast du Angst, Paulchen, wenn ich jetzt noch einmal für einen Augenblick weglaufe?«

»Mama! Meine Mama!« schluchzte die Kleine, mit beiden Fäustchen vor den Augen.

Ein Schauder, ein Zittern lief auch durch den Körper des Knaben, als sich das Schwesterchen so mit zugehaltenen Augen dichter an ihn drängte; aber er reckte sich doch mit den Schultern auf und biß die Zähne zusammen, um seiner Angst, seinem Schmerz, seiner Ratlosigkeit nicht durch ein noch lauteres Weinen Luft machen zu müssen. Er sah, als er das Kind fest umfaßte, nach der toten Mutter hin. Er überwand den großen Schrecken vor der Leiche, indem er mit dem Fuße aufstampfte und die Fingernägel sich in das Fleisch der Hand drückte und nun, wie die Schwester schluchzend, rief:

»Tapfer – ein tapferer Junge! Das hat schon Mama gesagt. Ja!... Und ich will ein tapferer Junge sein, und ich will ein guter Junge sein, wie Mama es gewollt hat und es mir anbefohlen hat bis – bis zuletzt... Ich will, ich will keine Furcht haben. Sie ist auch so unsere liebe Mama, Paule! Ich will sehen, was ich tun kann für Mama und für uns, für dich und für mich, Paulchen!«

Er war noch kein großer Junge, aber er hatte sich zu der Schwester doch niederzubeugen, als er sie in die Arme nahm und flüsterte:

»Ich muß weit und schnell laufen, und du hast noch so kleine Beine. Willst du wieder unterkriechen und wieder einschlafen, oder kannst du – willst du zu Mama dich setzen?«

»Zu Mama setzen!« schluchzte das Kindchen; und von der Tür aus sah noch der Mann in der Familie, wie es zu Häupten des Leichnams sich auf die schlechte Matratze kauerte, dicht neben das stille, beruhigte Gesicht der Mutter. –

Wie die Zeitungen davon geschrieben haben, werden wir seinerzeit Genaueres mitteilen, wenn es uns noch nötig scheinen sollte; wie jede zuständige Behörde ihre Pflicht getan hat, wie alles nur auf unglückliche Umstände und Mißverständnisse hinauslief, werden wir, wenn wir es nicht vergessen, auch sagen. An diesem Sonntagmorgen ist jetzt der Knabe mit dem Schein des Armenarztes zu dem Armenvorsteher des Bezirks gelaufen und hat ihn glücklicherweise noch zu Hause getroffen. Es war aber wirklich eben noch Zeit; Frau und Tochter haben bereits ungeduldig im Nebenzimmer gewartet mit den Gesangbüchern auf dem Frühstückstische; und schon mit dem Hute auf dem Kopfe hat der Herr den zweiten Schein – den Schein für den Sarg – ausgefertigt und, indem er den Jungen damit zu dem Bezirksarmenschreiner schickte, abermals Eile anempfohlen.

Er ist durchaus nicht unfreundlich dabei gewesen. Im Gegenteil, er hat dem kleinen, keuchenden Boten ganz zärtlich und bedauernd auf die Schultern geklopft: »Armes Kerlchen! Nun, lauf nur jetzt. Es wird sich schon alles ordnen; wir werden schon nachsehen.«

Und gelaufen ist der Junge wiederum, einen weiten Weg zu dem Meister Tischler, der nur gebrummt hat:

»Hm, auch wieder 'n Geschäft!«

Dann ist er nach drei Stunden atemlos und im Schweiß nach Hause gekommen und hat die unmündige Schwester der Mutter das Gesicht waschend und die Haare kämmend gefunden, aber den Kaffee und das Brot der Nachbarn noch unangerührt draußen vor der Tür.

Er hat den Topf und den schwarzen Laib mit in die Kammer gebracht, aber beides zitternd auf den Boden niedergesetzt, als er das noch unmündigere Geschöpf so am Werke erblickte.

»O Paulchen!«

»Oh, Mama hat es gestern auch noch von mir gelitten. Sie hat es immer sich von mir tun lassen, seit sie krank war.«

»Nun bleibe ich bei dir und helfe dir bei allem. Am Dienstag um elf Uhr kommt der Wagen für Mama, Paulchen!«

»Oh, und wir fahren mit?«

»Ja, Paulchen, und nachher in die weite Welt, von der Mama immer erzählt hat. Wie brav du gewesen bist, während ich fort war! Aber haben sie nicht angeklopft und es durchs Schlüsselloch hereingerufen, daß sie dir zu essen und zu trinken vor die Tür setzten?«

»O doch; aber ich mochte nicht hinausgucken, ich mochte mit Mama allein nichts essen und trinken; aber nun bin ich hungrig.«

»Mama weinte am meisten, wenn wir nichts hatten. Sie sah uns so gern essen. Und nun wollen wir Kaffee trinken. Komm, ich setze mich zu dir und Mama. Sie wird sich freuen, wenn sie sieht, daß sie uns so bei sich sitzen hat. Und des Großpapas Degen habe ich ja auch noch. Den nehme ich übermorgen mit in die Welt. Mit dem haue ich uns schon raus, und es soll uns keiner viel anhaben.«

Die Kleine rückte auf dem Strohsack der Toten, und der Bruder kauerte sich neben sie. Sie hatten den schlechten irdenen Topf vor sich auf dem Fußboden und das Brot auf dem Schoß. Sie aßen und tranken, und als sie satt waren, hatten sie den ganzen Tag über nichts mehr zu tun, und ebenso den nächsten Tag, den Montag durch. Wolf Wermuth aber hielt ritterlich mit dem Degen des Leutnants Wolfram Hegewisch die Leichenwache.

Zweites Kapitel

In der Nacht nun von Montag auf den Dienstag waren in einem höchst anständigen bürgerlichen Hause viele Leute beieinander, das heißt, es war große Gesellschaft dort. Ihren jour fixe nannte die Hausfrau den abendlichen Zusammenlauf und war nicht ohne Grund stolz darauf; denn es kam viel Volk zu ihr, Männlein und Fräulein, paarweise und auch einzeln, zumeist auserlesene, und zwar zum Zweck auserlesene Leute, die sich meistens wenig zum Volk, noch weniger zu den Leuten, aber sehr beträchtlich zur Welt rechneten. Wie könnte in der letzteren Beziehung die ausgiebigste Märchenphantasie dahin nachsteigen, wohin gerade der phantasiefreieste, der solideste, vernünftigste, verständigste Teil der Erdenbürger und Erdenbürgerinnen in seinen Einbildungen von seinem Verhältnis zu dem Volk und zu den Leuten und – der Welt sich verklettern kann!

Es war in einer hochachtbaren Geschäftsgegend der Stadt, wo Gastgeber und Gastgeberin sich höher als gewöhnlich und diesmal ins Ästhetische verklettert hatten und die Gäste natürlich zum größten Teil – danach waren.

Die Straßen sind dort noch breit und ungemein reinlich. Es können die nobelsten Menschen in den er sten Stockwerken der Häuser da wohnen und Gesellschaften geben, in denen man sich sehen und hören lassen kann. Der bürgerliche Lebensbetrieb ist hier in dieser Hinsicht noch nicht hinderlich und verhindert vor allen Dingen noch durchaus nicht das Vorfahren in »eigener Equipage«. Letzteres freilich ist das Hauptargument fürs »Wohnenbleiben«, das dem Herrn der augenblicklich so glänzend erleuchteten und gefüllten Salons im ersten Stock über Runne & Plate seiner und ihrer Herrin gegenüber zur Verfügung steht. Ohne es würde man doch wohl schon längst in noch anständigerer Gegend die Leute aus seiner Gesellschaftssphäre bei sich sehen und nicht über den Geschäftsstuben und Familienwohnräumen der zwar sehr bekannten, sehr ehrbaren und soliden, aber durchaus nicht geist- und geldaristokratischen Firma Runne & Plate.

Gottlob, das Haus hat außer seinem Geschäftstor für das Volk, die Leute und den Werkeltagslebensverkehr auch seine stattliche Privatpforte für – uns! Wir aber, wo blieben wir mit unserem Beruf auf Erden, wenn wir uns nicht das Recht nähmen, ungeladen durch alle Türen einzugehen und uns ungerufen überall einzufinden, bei dem Volk, bei den Leuten und bei uns? Und zwar nicht bloß beim Feste!

Und was würde dabei zutage kommen, wenn wir es nicht verstünden, unsere Zeit abzupassen und stets im richtigen Augenblick mit da zu sein?

Nichts von Bedeutung selbstverständlich. –

Wenn wir nun diesmal ungeladen, ungesehen, unbelauscht von unserem Rechte Gebrauch machen, befindet sich die »Soiree« auf ihrem Höhepunkt und Hofrat Dr. Brokenkorb, einer der geladenen Gäste – und zwar aus dem Hause selbst –, in denkbar kläglichster Laune und flauester Stimmung inmitten des Glanzes und der Fülle, der feinfühligsten Freundlichkeiten der Hausfrau, der achtungsvollen Zutunlichkeiten des Kommenzienrates und der schmeichelhaften Liebenswürdigkeiten der Töchter des Hauses. Er, der sonst unter diesen Lichtern und Tönen, bei diesem Fächerrauschen und diesen Redensarten, im Fließen dieser Genüsse aus allen Künsten und im sanften Geflüster aus mehr als einer Wissenschaft heraus ganz an seiner Stelle und eine Zierde unter uns ist, hat an diesem Abend genug von sich und also auch von der Gesellschaft, von – uns. Er fühlt sich nicht bei sich heute abend und schiebt es auf ein körperliches Unwohlsein, worin er sich irrt. Er fühlt sich niedergedrückt, gelangweilt und eigentlich recht überflüssig, nicht bloß in den Kissen seiner Causeuse, unter den Fächerpalmen des Salongartens, sondern auch ein wenig sonst. Und das letztere ist uns besonders erwünscht. Haben wir uns doch nur deshalb ungeladen, ungesehen, unbelauscht bei uns eingefunden, um den Herrn abzuholen und mit ihm innerhalb seiner eigenen vier Wände, eine Treppe hoch über der gegenwärtigen Lust und Unlust am Dasein, noch eine stille Stunde zuzubringen. Ob wir ihn noch einmal so wie jetzt in tadelloser Gesellschaftstoilette finden werden, ist zum mindesten zweifelhaft. Benutzen wir also die günstige Gelegenheit und reden ein wenig von den Äußerlichkeiten seiner Existenz. Die Samtrobe und das Fächergeknarr seiner Nachbarin im Diwan und ihr schmeichelhaftes Dreinreden sind uns durchaus nicht hinderlich dabei.

Er bekommt viele Komplimente, nicht bloß von der gnädigen Frau und Hausherrin, sondern auch von vielen andern Damen der Gesellschaft, jungen und alten, zu hören. Sagen wir ihm gleichfalls einige; er hat, wie man das nennt, Sinn dafür.

Wie man das nennt, ist Hofrat Dr. Albin Brokenkorb ein schöner Mann. Ein schöner Mann in den besten Jahren, so um die Vierzig herum; zwar mit etwas hoher Stirn und auch sonst gelichtetem Haupthaar, aber mit einem weichlockigen blonden Vollbart und blauen, weichblickenden Augen, deren Aufschlag oder Aufgeschlagenwerden vorzüglich etwas Sympathisches haben soll, wie von Autoritäten holdester Kompetenz häufig versichert wird! Mit knarrenden Stiefeln ist seine Erscheinung nimmer in Verbindung zu bringen; er tritt auf, wie er redet, und die Lider hebt und senkt er nicht geräuschloser, um seinen Reden an der rechten Stelle den herzfesselnden Nachdruck zu geben. Er redet leise, oder vielmehr gedämpft, doch er kann sonor reden und tut es, wo er sich Erfolg davon verspricht; und gestern abend hat er im Saal der Singakademie einen Vortrag über das Schwert und die Myrte in der Weltliteratur gehalten, und er hat die tiefsten Fasern der Empfindung mit dem letzteren Gewächs aus der Tiefe seiner Seele symbolisch aufgezogen. Morgen wird er (wenn nichts dazwischenkommt) über dasselbe Thema in Potsdam vor dem gewähltesten Publikum reden, und er glaubt an seinen Beruf, die besten Stände zu sich emporzuheben: er ist wirklich gar kein übler Mensch. Daß er es böse mit sich und seinem geselligen Kreise meine, hat ihm noch niemand nachgesagt, und, wahrhaftig, wir tun's auch nicht!

Wenn es ein Glück ist, seinen Fähigkeiten, Liebhabereien und so weiter ungestört sich überlassen zu dürfen, so ist dieses Glück dem Hofrat Dr. Brokenkorb durch Gunst und Gnade der Götter im höchsten Maße zuteil geworden. Er ist gesund und ein verhältnismäßig noch junger Hofrat. Dieser sein Titel schreibt sich aus den Verpflichtungen, der Gnade und Gunst eines der kleinern Fürstenhöfe unseres deutschen Vaterlandes her. Sein auskömmliches Vermögen stammt weniger von eigenem Verdienst als von ungemein geachteten Vorfahren aus der Freien und Hansestadt Lübeck ab.

Ja, sie mögen ihn alle gern, die Götter wie die sterblichen Menschen! Und er verdient es; denn wenig andere wissen so fließend, so glatt, so lieblich von ihnen und – zu ihnen zu reden wie er. Die Götter haben das Ihrige an ihm getan, und die Menschen tun es noch. Wir wiederholen: die älteren Damen lächeln ihm und machen ihm lieber als irgendeinem anderen Platz an ihrer Seite. – Die Hausherren klopfen ihm vertraulich und doch respektvoll auf die Schulter und nennen ihn: bester Hofrat – die jüngeren, die unverheirateten Damen haben noch nicht das mindeste gegen ihn einzuwenden. Es ist in der letzteren Hinsicht in mehr als einem Hause immer noch dann und wann in einer Weise von ihm die Rede, von der man annimmt, daß er – gar keine Ahnung davon habe. Die Töchter des Hauses, welches heute seinen jour fixe hat, werden von den schönen Freundinnen und Bekanntinnen zwischen dem vierundzwanzigsten und neunundzwanzigsten Lebensjahre auf den liebenswürdigen Hausgenossen in einer Art angesehen, die nicht bloß Neid, sondern hie und da auch Schadenfreude ist. Wir aber hätten viel zu tun, wenn wir von allem, was geredet werden kann, singen und sagen müßten. –

Hofrat Dr. Albin Brokenkorb hatte auch im Glanz und Lärm des heutigen Abends einen der bevorzugtesten Plätze eingenommen. Gleichweit entfernt von dem Piano wie von den Kartentischen und jenem Tischchen mit den beiden Lichtern, hinter welchem der Herr mit dem roten Maroquinheft (diesmal nicht er!) Platz zu nehmen pflegt. Er hatte von allem Angenehmen abgekriegt, wie gestern, wie vorgestern und so rückwärts durch manches liebe, lange Jahr. Und er war selber auch heute wie gestern angenehm gewesen – »bezaubernd« im höchsten Maße, beredt fast zu sehr. Letzteres lag ihm seltsamerweise augenblicklich auf den Nerven. Er hatte Nerven – Nerven, Nerven! Er gehörte nicht zu den Leuten, denen der Rock, welchen sie tragen, ebenso gleichgültig ist wie das, was man über sie denkt, von ihnen spricht, wenn sich die Tür hinter ihnen geschlossen hat. Wie alle, denen der Weg durch das Leben ein wenig zu leicht gemacht wurde, hielt er etwas sowohl auf seinen Rock wie auf seinen Ruf. Daß einem Menschen durch das Schicksal auch aus Bosheit die Pfade eben gemacht werden können, ist eine Tatsache, die von solchen, welche sich nicht über allzu großes Glück im Leben zu beklagen haben, lange nicht genug mit in die letzte Abrechnung gezogen wird.

»Sie wollen uns doch nicht schon verlassen, lieber Freund?« hatte die Herrin des Hauses gefragt; er aber durfte eigentlich schon seit längerer Zeit diese Absicht nicht verbergen und suchte nur immer noch nach der höflichsten und wohltuendsten Begründung derselben gegenüber der stattlichen, schönen Frau in bordeauxrotem Sammet. Was ihn an diesem Abend so früh aus diesem seinem Daseinselemente von dannen scheuchte, ließ sich schwer ausdrücken in der Sprache des ihn umgehenden Gesellschaftskreises und auch – in seiner gewohnten eigenen.

Daß die Gnädige hinzufügte: »Aber Hofrätchen, die Kinder, Aglae und Josepha, werden dies sogar unartig finden; sie hatten noch so sehr auf Ihre wundervolle ägyptologische Erfahrung in betreff ihres Kostüms für das Künstlerfest im nächsten Monat gerechnet!«, konnte ihn diesmal nicht zum Bleiben bewegen und wie sonst zu einem interessanten Exkurse über die Damentoiletten am Hofe der Königin Kleopatra anreizen.

Er hatte wie ein anderer ganz gewöhnlicher Sterblicher trotz Josepha und Aglae einfach Kopfweh als Entschuldigungsgrund seines vorzeitigen Aufbruchs vorzugehen. Er hatte sich ganz wie jemand, der nicht der gesuchte Ratgeber in solchen ästhetischgeselligen Angelegenheiten oder gar der geliebteste Salonvorträgler der Stadt war, aus dem Programm der »Soiree« selber zu streichen, das heißt sich mit dem Taschentuch vor der Stirn an den Wänden hin wegzuschleichen. Er, der geistreichste Mann des Abends, quälte sich in der Überzeugung, eben diesen ganzen Abend durch Sottise auf Sottise gehäuft zu haben, und verbeugte sich jetzt nach rechts und links lächelnd und bis zum äußersten den Schein der Unbefangenheit aufrechterhaltend, in der Gewißheit, demnächst ruhelos auf heißem Kopfkissen mit heißer Stirn zu liegen und weiter darüber nachzugrübeln, was es eigentlich war, das ihm so sehr und für diesmal unwiederbringlich die Stimmung, das leichte, angenehm melancholisch angehauchte gewohnte Behagen am Dasein und den in seinem Kreise Mitdaseienden nahm.

Wir aber haben unseren Mann draußen! Der Türvorhang ist hinter ihm zugefallen und die Tür auch. Wir haben ihn abgeholt und folgen ihm die Treppe hinauf zu seinem eigenen Reich. Auf jeder dritten Stufe drückt er das Taschentuch an die wirklich etwas »eingenommene« Stirn und murmelt: »Ich habe mein Teil.«

Hofrat Albin Brokenkorb ist ein sehr belesener Mann, und so sind auch seine unwillkürlichsten Ausrufe nicht selten Erinnerungen aus Gelesenem. Diesmal stammte die Reminiszenz aus einer anderen sehr merkwürdigen Geschichte, in der ein anderer, im Erdentreiben nicht recht feststehender Mann die Treppe hinaufstieg und auf jeder dritten Stufe: »Ich habe mein Teil!« ächzte.

»I promessi sposi«, die Verlobten, heißt das Buch, und der darin so seufzt, war nicht Doktor der Philosophie und ***scher Hofrat, sondern Leutpfarrer in einem kleinen Dorfe am Comer See, nicht weit von der Stadt Lecco gelegen. Als Don Abbondio geht er durch die Weltliteratur. Letzteres eine Ehre, die wir unserem Freunde, Hofrat Dr. Brokenkorb, weder wünschen können noch wollen. Letzterer ist aber auch nicht auf seinem abendlichen Wege nach seiner Wohnung auf die beiden Sbirren des Don Rodrigo gestoßen, sondern hat in seiner Sofaecke im vollsten ästhetischen und gesellschaftlichen Behagen des Abends eine merklich andere Erscheinung gehabt.

Drittes Kapitel

»Der Herr will morgen früh wiederkommen.«

»Welcher Herr, Rupfer?«

»Der diese Visitenkarte für den Herrn Hofrat dagelassen hat«, sagte der Diener mit einem Grinsen, das jeder Beschreibung spottete.

Mit dem breitmäuligen stummen Lachen eines treuen Knechtes, der sich schon seit Stunden darauf vorbereitete und freute, seinen Herrn »mal richtig in Verwunderung zu setzen«, reichte er dem Hofrat das hin, was er eben eine Visitenkarte genannt hatte. Sein Herr aber hatte in der Tat Grund, den Gegenstand mit Verwunderung – mit Erstaunen entgegenzunehmen, ihn in den Händen zu wiegen und dann mit ihm rasch an den mit Schreibzeug, geschriebenem Zeug, gedruckten Büchern und dergleichen hoch bedeckten Arbeitstisch in das hellere Licht der Lampe zu treten.

Ein Stock!

Ein abgenutzter, abgelaufener Spazierstock oder vielmehr Wanderknüppel, ein höchst unfeiner und, wie es schien, schon vor recht langer Zeit aus der Weißdornhecke geschnittener Wegbegleiter, mit einer Bocksfratze am Griff und mit einem derben Lederriemen, dem man es gleichfalls ansah, daß er bei mehr als einer andringlichen Gelegenheit fest um das rechte Handgelenk geschlungen worden sei.

»Was soll denn nun dieser Unsinn?... Was soll... mein Gott, ist es möglich?«

Die Knie schwankten wahrhaftig unter dem Mann. Er stützte sich mit der Linken schwer auf die Platte seines Schreibtisches, die seltsame carte de visite wie ein Kurzsichtiger (der er nicht war) vom Griff bis zu der eisernen Zwinge immer genauer und immer näher den Augen untersuchend, bis er plötzlich den jetzt seinerseits sehr erstaunten Rupfer am Kragen faßte und, mit dem unheimlichen Stabe bedrohlich nach rückwärts ausholend, rief:

»Mensch, wie sah der Mensch – der Herr, der dir dies gab, aus? Nimm dich zusammen, oder ich mache dich gleichfalls zu einem Spuk, einem Gespenst, einem – revenant!«

»Es war schon in der Dämmerung, als er die Glocke zog. Jawohl, so was von 'n Spuk mag er wohl an sich gehabt haben, aber so recht habe ich ihn mir in meiner Verblüffung nicht drauf ansehen können. Und seinen Namen hat er auch nicht nennen wollen, als ich ihm sagte, der Herr Hofrat seien nicht zu Hause. Da hat er mich nämlich erst mit dem Knüppel vor die Brust gestoßen und ihn mir dann zugereicht und dumpfig wie aus 'm Kirchhofe raus bemerkt, der Herr Hofrat würden schon wissen, und mehr sei nicht nötig. Morgen früh würde er wieder vorsprechen.«

»Schon gut! Morgen früh! Morgen früh will er wiederkommen«, sagte der Herr Hofrat matt. Er saß jetzt in dem Lehnstuhl vor seinem Arbeitstische mit dem Stabe des geheimnisvollen Fremden über den Knien. Eine ziemliche Weile wartete der Diener darauf, daß er noch einmal angeredet werde; da dieses aber nicht geschah, versuchte er es endlich lieber selber, die Unterredung noch einmal aufzunehmen.

»Der Herr Hofrat haben sonst nichts mehr zu befehlen?«

»Wie meinst du, guter Rupfer?«

»Der Herr Hofrat wünschen vielleicht noch nicht zu Bette zu gehen; und so möchte ich mir erlauben –«

»Du kannst jedenfalls gehen und dich niederlegen. Gute Nacht! Ich werde mich allein auskleiden; ich bedarf deiner nicht weiter. Dieser Herr – der Herr, welcher diesen – diesen Stab – diesen Stock zurückgelassen hat, ist mir morgen zu jeder Zeit willkommen. Hörst du, Rupfer? Ich bin für ihn den ganzen Tag zu Hause – für jeden andern erst nach Anfrage; – verstehst du, mein guter Rupfer?«

»Zu Befehl, Herr Hofrat, und wünsche ich dem Herrn Hofrat eine recht wohlzuschlafende Nacht.«

Der treue Diener wendete sich zur Tür. Dort zögerte er, kam noch einmal zurück und flüsterte respektvoll vertraulich zuredend:

»Soll ich also nicht lieber den greulichen Schandprü-, den Stock – den Stab – mit hinaus – wenigstens mit auf den Vorplatz hinausnehmen?«

»Rege mich nicht noch mehr auf, Menschenkind«, seufzte Hofrat Dr. Albin Brokenkorb, unfähig, von neuem grob den Quäler anzufahren. Dieser aber meinte draußen vor der Tür kopfschüttelnd:

»Hat er einmal Haue damit gekriegt, oder soll er morgen welche damit haben? Na, die Zeit wird's ja wohl hoffentlich ausweisen! I je, was man doch alles in so 'ner feinen, ruhigen Junggesellenhauswirtschaft in Erfahrung bringen kann!«

Nachdem er dann in seiner Kammer die Lampe ausgeblasen und die Decke über den Kopf gezogen hatte, schlummerte er wie ein Kind ein, was sein Herr noch lange nicht tat.

Zu letzterem drang noch geraume Zeit hindurch aus dem Stockwerk unter ihm, bei Runne & Plate im Hause, das Geräusch, Stimmengesumm und Musikgetön der Abendgesellschaft, aus der er vorhin vor der sonst gewohnten Stunde unruhig und mißgelaunt, körperlich und geistig verstimmt, aber selbstverständlich mit dem unbedingt an der Tür geforderten Lächeln sich entfernt hatte. Er aber, der auch die feste Absicht gehabt hatte, so rasch als möglich sich zu Bett zu legen und die Decke über den Kopf zu ziehen, nahm statt dessen über dem auf seinem Tische liegenden Memento den Kopf in beide Hände und hielt ihn so, bis – er ihn losließ und auf und ab ging – ja auf und ab lief im Gemache über dem dumpfen Weltgeräusch unter seinen Füßen.

Er saß, er ging, er lief, und er – Hofrat Dr. Albin Brokenkorb – nahm die bei seinem Diener Rupfer abgegebene Visitenkarte mit auf seiner nächtlichen Wanderung. Er schlang den Lederriemen dieses Stocks um das eigene Handgelenk und stieß mit der eisernen Zwinge dann und wann fest auf über dem jour fixe seiner Haus- und Lebensgenossen. Auf und ab schritt er mit dem Handwerksgesellenstabe über den weichen Teppich seines Studierzimmers, und er – Albin Brokenkorb, der da gemeint hatte, sehr müde nach Hause gekommen zu sein, hatte sich in Wirklichkeit müde zu laufen, ehe er von neuem in seinen Stuhl sinken und den Stock wieder vor sich auf den Tisch legen konnte.

»Uhusen!« murmelte er, als er so weit war. Wir, nachdem wir ihn so weit haben, sehen uns zuerst ein wenig genauer bei ihm um. Das ist in mehr als einer Hinsicht der Mühe wert. –

»O wie himmlisch, o wie reizend!« pflegten die Damen zu rufen, die Hofrat Dr. Brokenkorb dann und wann durch seine Wohnräume zu führen hatte, alle jene jüngeren und älteren, jungen und alten Damen, welche er in der Gesellschaft kennengelernt hatte oder welchen die Vergünstigung zuteil geworden war, ihn durch seine weit durchs deutsche Land gekannten und geschätzten Vorträge über die Symbolik des –, über die Mystik der –, über die Ästhetik des und der – kennen und verehren zu lernen. Und sie hatten vollkommen recht mit ihren Ausrufen. Ja noch mehr, es war nicht nur himmlisch und reizend, sondern es war auch im höchsten Grade behaglich um diesen allgemeinen Liebling der bessern und besten Kreise her. Auch Runne & Plate wußten das und schätzten es an ihm.

Als vermöglicher Junggesell von jener stillnervösen Sorte, die sich ebenso ungern stören läßt, als sie andere stört, befriedigte dieser Mieter alle Ansprüche an den Hausbesitzer um der lieben Ruhe willen und des bessern Geschmacks wegen aus eigenem Geldbeutel; und Runne & Plate würden in der Tat sehr anspruchsvoll gewesen sein, wenn sie einen noch angenehmeren Bewohner ihres zweiten Stockwerks als diesen Hofrat für möglich gehalten hätten. Er aber hatte sich bei ihnen eingerichtet und ausgebreitet. Durch alle Räume zeugten Wände, Decken und Fußböden davon, daß er als Sammler und mit dem Talent zum Abstäuben geboren worden sei und daß er bis zu seinem jetzigen Lebensjahre nicht aufgehört habe, zusammenzutragen, mit zierlichem Verständnis zu ordnen und mit zarter Neigung Federwedel und – Wischtuch in Tätigkeit zu erhalten. Was sie nicht sagten, aber dachten (die den Mann mit Mama usw. besuchenden Damen nämlich), war: ›O wie schade, daß die in dieser Hinsicht entzückendsten männlichen Wesen sich nur zu häufig so schwer entschließen, unsere Hülfe dabei fürs Leben anzunehmen!‹

Und das ist richtig. Es ist eine der betrübendsten Tatsachen, daß Jünglinge, junge Männer, Männer in den besten Jahren, die es am meisten verdienen, zu heiraten und geheiratet zu werden, ihrem Glück im Dasein eben aus dem tiefsten Grunde ihrer Veranlagung zu dem, was den Damen gefällt, töricht oder bemitleidenswert sich entziehen.

Ein Spinnrad aus dem siebenzehnten Jahrhundert war eine Perle der Sammlungen des Hofrats Albin Brokenkorb; aber obgleich er auch über es und das Spinnen von den ältesten bis zu den neuesten Zeiten einen Vortrag im Frauenverein, in Dutzenden von Frauenvereinen durch halb Deutschland gehalten hatte, kam es ihm am wenigsten in den Sinn, wirklich eine spinnende Hausehre an dasselbe zu setzen.

Wo würden wir aufhören, wenn wir anfangen wollten, im einzelnen zu schildern? Schrank an Schrank, Fach über Fach in kunstgewerblichster Ausstattung durch alle Zimmer! Das Museum eines reichen Privatmanns von den ersten Siegel-, Briefmarken-, Käfer-und Schmetterlings-Sammlungen an bis zur echten Figur aus Tanagra! Mappen voll Kupferstiche, Radierungen, Holzschnitte ältester und neuester Meister! Mappen voll Handschriften berühmter, bekannter, berüchtigter Menschen aller Zeiten! Alles, was einen Zug ins Zierliche, Kleine und Kleinste hatte in Pastell, Aquarell, Wachs, Öl, Schmelz – auf Papier, Leinen, Kupfer, Holz und Porzellan! Kuriositäten in Drechslerarbeit, Glasarbeit, Drahtarbeit! Graziöseste Waffen, Haushaltungs- und Schmuckgegenstände wildester außereuropäischer Nationen! Alte Globen aus Nürnberg und Augsburg. Bücher! Ja, Bücher! Für fast zu viele Fächer menschlichen Wissens die besten, ausgiebigsten, reichhaltigsten, kostbarsten Hülfsmittel zur Schonung der Befähigung des Menschen in Hinsicht auf Selbstfinden, Selbstdenken!

»O Gott!« pflegten die Besucherinnen zu sagen, wenn sie so höflich interessiert als möglich an dieser auserlesenen Bibliothek vorbei wieder zu Interessanterem zu gelangen suchten; und wir – wir sagen dasselbe.

»Uhusen!« hatte Hofrat Dr. Albin Brokenkorb gestöhnt; und es befand sich in seiner Bibliothek kein Werk, das er zu Rat und Trost hinter den Glasscheiben seiner eleganten Schränke auswählen und über die unheimliche Visitenkarte nachschlagen konnte. Sein reichhaltigstes Konversationslexikon, seine bändereichste, illustrierteste Enzyklopädie wußte nicht das geringste über das Wort, den Namen, den Menschen: »Uhusen«.

Viertes Kapitel

Wie war es nur vorhin gewesen drunten im gesellschaftlichen Lärm eine Treppe tiefer, bei Runne & Plate im Hause? Was hatte dort dem beliebtesten, feinsinnigen öffentlichen Erzähler, Hofrat Brokenkorb, zuerst den Abend verdorben und ihn geistig verstimmt, körperlich angegriffen in die Stille seiner eigenen Häuslichkeit hinaufgesendet?

Ein Nichts! Ein helles, fröhliches Mädchenlachen, ein Lichtschein, der auf ein blondes Haar und eine zierliche Schulter fiel. Ein rascher, erschreckter Blick über die eigene Schulter nach der Richtung hin, aus welcher das lustige Gekicher im Gewirr und Gesumm der Gäste zu ihm herüberdrang. Wahrlich ein Nichts eine Einbildung, ein Scheinzauber, der Schatten eines Schattens von Dingen, wie man sie eben im Traum sieht – eine Erinnerung und – also die grimmigste Wirklichkeit, die standhafteste Gegenständlichkeit, die es unter Umständen für den Menschen in der Welt geben kann.

Wer hat es noch nicht an sich selber erfahren, was für einen eisernen Griff die Erinnerung haben kann, wenn sie emportaucht aus dem bunten Spiel der Gegenwart, heraufbeschworen durch den Zufall?

Albin kannte die junge Dame, die da vorandert halb Stunden in der Abendgesellschaft so fröhlich-kindlich gelacht hatte, auf deren blonden Scheitel zu derselben Zeit der Schein der nächsten Gaslichtflamme fiel, wenig oder, besser gesagt, gar nicht. Sie war neu im Leben, in der Gesellschaft und vor allem in dieser Gesellschaft. Ihre Mama hatte sie ihm vorhin vorgestellt:

»Meine Tochter, lieber Hofrat. Eben aus der Pension in Lausanne zurück und doch auch bereits eine große Verehrerin von Ihnen. Entzückt wie alle von Ihrem letzten herrlichen Vortrag im ›Hôtel de Rome‹ für den Verein zur Rettung verwahrloster Kinder. Dies ist der Herr, Rahel! Oh, wie hat sich das Närrchen auf diesen günstigen Zufall gefreut und doch schreckliche Angst vor Ihnen gehabt und vor dem berühmten Manne!«

Der berühmte Mann hatte sich, bescheidentlich abwehrend ob des schmeichelhaften Epithetons, vor dem wirklich niedlichen, dem scheuen, neugierigen Kinde verneigt und einige Augenblicke mit ihm von Lausanne, dem Genfer See und der französischen Schweiz im allgemeinen gesprochen. Dann waren sie wieder voneinander getrennt worden; mit einer abermaligen Verbeugung war Hofrat Dr. Brokenkorb zurückgetreten in eine andere Gruppe seiner Verehrer und Verehrerinnen. Zu viele der lieblichen Fräulein wurden ihm in der Reichshauptstadt und durch das ganze gebildete Deutsche Reich vorgestellt, als daß er sie alle im Gedächtnis hätte festhalten können. Auch das lag wie ein Kranz, und zwar wie einer aus eben sich erschließenden Rosenknöspchen, um sein Leben. Er behielt unbedingt für alle die süßen Geschöpfe ein Herz, wenn er sie gleich nicht allesamt individuell im Gedächtnis zu behalten vermochte. Das ihm eben bekannt gewordene hatte er fünf Minuten später vollständig vergessen, und es hatte auch im letzten Grunde trotz seiner Niedlichkeit doch wenig an sich, was einem verwöhnten Liebling der Götter und der Menschen ein ganz besonderes Interesse hätte abgewinnen können.

Ein leises Lachen der jungen Dame und ein Lichtstrahl eine Stunde – zwei Stunden später, ein zufälliger Blick und ein Aufhorchen mitten in der lebhaftesten Unterhaltung im Kreise der wirklich interessanten Gäste des Abends, und – Hofrat Dr. Albin Brokenkorb gehörte für diesen »jour fixe« der ihn gegenwärtig umgebenden Welt nicht mehr an.

So hatte vor Jahren ein anderes junges Kind gelacht, so war das Licht auf ein anderes blondes Haupt, auf einen anderen zierlichen Hals und andere anmutige Schultern gefallen!

»Ich habe mein Teil!« hatte der Hofrat auf der Treppe zu seiner Wohnung hinauf gestöhnt, und nun hatte er – Uhusens Wanderstab in der Hand – in der Stille der Nacht weiter mit der Erinnerung abzurechnen. In Travemünde, in einer Mondscheinnacht am Strande der Lübischen Bucht war's gewesen, wo ihm der Stock vor langen, langen Jahren – damals frisch aus der Hecke geschnitten – zum erstenmal unter die Nase gehalten worden war, und zwar von seinem besten Freunde Uhusen, dem Sohn des ersten Buchhalters seines Vaters:

»Wie kannst du glauben, daß ich das arme, alberne Ding dir sentimentalem, aus lumpigen Redensarten zusammengeflicktem Hanswurst so ganz ohne weiteres überlassen werde? Aufgewachsen bist du mit mir; zusammengehalten haben wir so ziemlich bis dato, aber für derartiges Kompaniegeschäft mit der Gewissenlosigkeit danke ich für jetzt und in alle Zukunft. Merke dir das, mein Junge, und nimm mir die außergewöhnliche Grobheit nicht übel. Ich habe auf dem Wege von der Stadt das Äußerste getan, meine Meinung für diesmal so kurz und höflich als möglich zusammenzufassen.«

Im Badehotel hatte sich die beste Gesellschaft und ein Teil der weniger guten mit den Gästen aus den Fischerhäusern entlang der Trave zu Spiel, Musik und Tanz nach gewohnter Sommerweise zusammengefunden. Der rote Lichtschein aus den Fenstern der Säle leuchtete hin auf die See, und die See lag im weißen Mondnebel, und die kleinen Wellen der Nähe flimmerten im silbernen Glanz und verrauschten kaum hörbar auf dem feinen Ufersande. Im Badehotel schwiegen Hörner und Geigen, aber aus der Ferne von den Wassern her klang es lieblich und geheimnisvoll herüber, als habe sich dort eine noch feinere und vielleicht auch noch gemischter Gesellschaft zu Gesang und Tanz ein Stelldichein gegeben in der Sommermondnacht, als führten da den Reigen die Nixen und feuchten Herrschaften aus süßem und salzigem Wasser, Undine und Kühleborn, Prinzessin Ilse und Amphitrite und Thetis und alle, die mit dieser Göttin aufstiegen aus der purpurnen Tiefe – unsterbliche Töchter des Nereus –, den teuren weinenden Achilleus ob des Falls des schönen Patroklus zu trösten.

Und beinahe war dem auch so, wenn es sich auch gerade nicht um den Kampf vor Ilion und den Schmerz und Zorn des Peleussohnes handelte. Das schönste Mädchen von Lübeck und vom Ufer der Trave schaukelte dort im blumengeschmückten, von bunten Lichtern glänzenden Kahne auf dem heiligen Meer, und – Peter Uhusen hatte gar nicht unrecht, wenn er sehr ergrimmt auf sich selber war. In einer solchen lichten, warmen Mondnacht konnte es selbst dem größten und gutmütigsten »Hornochsen« klarwerden, daß man eine »beiderseitige erste Liebe« doch ein wenig zu nachtmützenhaft dem besten Freund und verzogensten Muttersöhnchen der damaligen Lübecker guten Gesellschaft zu einem »Tanz am Strande« überlassen könne.

Da liegt ein einzelner Steinklotz, von dem nur die Gelehrten wissen, wie er dahin gekommen ist, am sonst durchaus nicht felsigen Ufer der Bucht; und gegen diesen harten Block hatte der eine Schulfreund den andern allgemach mehr und mehr hingedrängt:

»Nun, was hast du für dich zu sagen? Ich komme für ihren Vater, hinter dem Rücken der dummen Gans, ihrer Mutter, um mich um Erdwine hier bei euch zu bekümmern. Und ich bekümmere mich um sie: – mit heraushängender Zunge bin ich von der Stadt aus jetzt gottlob hier. Bloß recht vergnügt seid ihr? Bloß das gewöhnliche Rhinozeros bin ich? Da dem schwedischen Granit hinter deinem feigen Buckel haben wir, ihr Alter und ich, es ganz allein zu danken, daß du uns Rechenschaft von diesem heutigen vergnügten Tage ablegst.«

»Ich stehe ja selber in Unruhe hier an der See«, sagte Albin kläglich-pathetisch. »Mama hat mich den ganzen Nachmittag und Abend an ihrer Seite festgehalten, und du kannst mir glauben, Peter, 's ist heute wenig Vergnügen für mich hier zu holen gewesen.«

»Ja, deine Mutter – deine Mama! Was die Frau Senatorin dazu tun kann, dich zum Narren und das arme Ding zur Närrin zu machen, das besorgt sie freilich mit und gegen den Strich aus ihrer idealen Weltanschauung heraus. Weshalb kann sie den Leutnant und mich – ich wollte sagen unsere Erdwine nicht allein lassen? Was hat Erdwine überhaupt in eurer nobeln Gesellschaft zu suchen? Jawohl, die Frau Leutnant, die Hauptnärrin, sitzt freilich und renommiert gegen die Nachbarschaft ob der Ehre, die ihrem Kinde, ihrem Mädchen durch die respektable Firma Brokenkorb Mutter und Sohn angetan wird, während der alte Mann wie ein zahnloser Bär mit einem Ring durch die Nase auf und ab in seiner Stube stapft und an seiner Pfeifenspitze seinen verstockten Gram und Grimm verkaut. Denke nur ja nicht, süßer Knabe, daß ich des frivolen Backfisches und eurer lieben Gesichter wegen hier bin! Des alten Herrn wegen bin ich den Weg von der Stadt her zu Fuß gelaufen. Und, beim stinkenden Acheron und faul fließenden Styx, um dich hier im himmlischen silbernen Mondschein in seinem Namen am Kragen zu nehmen und mich in seinem Namen zu erkundigen, wie ihr sämtlich euch hier amüsiert! Laß mich ausreden, Schafskopf! Ein riesiger Kuhschwof ist es natürlich zu Lande und zu Wasser – das Meer erglänzte weit hinaus – ich weiß nicht, was soll es bedeuten – am Ganges duftet's und leuchtet – das ist kein Rauschen des Windes, das ist der Seejungfern Gesang – und wie der Bafel sonst so bei euch zu Hause in euern romantischen Stimmungen lautet. Ja, du schönes Schiffermädchen, treibe den Kahn ans Land, das heißt, dich, alter Junge, lieber Freund, armer Hase, dich, Albinus, frage ich jetzt: wie lange gedenkt ihr noch dies Spiel weiter zu treiben? Denn ein Spiel und nichts weiter ist es! Aber ich will's nicht länger, hörst du, Albin? Ihr sollt dem Leutnant Hegewisch und mir das Kind nicht zu einem Spielzeug machen! Ist es bereit dazu, so ist mir ihr Vater zu gut dafür. Hat denn deine Mutter gar keinen Begriff davon, welche Verantwortlichkeit sie auf sich ladet, wenn sie das Mädchen von Tag zu Tag mehr zu einer phantastischen Komödienpuppe macht?«

»Man scheint hier recht sonderbare Fragen an meinen Sohn zu stellen«, sagte plötzlich eine Stimme neben den beiden jungen Männern oder vielmehr den eben dem Jünglingsalter zuwachsenden Knaben. Die Frau Senatorin Brokenkorb, die Mutter Albins, war, unbemerkt von den beiden, auch von dem Festsaale her gegen den Strand hinabgeschritten, war gerade recht zu dem letzten Teile ihrer Unterhaltung gekommen und hatte dem Dinge mit nicht ungerechtfertigtem Erstaunen zugehört.

»Was gibt diesem unerzogenen – ungezogenen Buben das Recht, sich in solcher Weise in Angelegenheiten zu mischen, die durchaus über seinen Horizont hinaus liegen?« fragte die Frau Senatorin. »Du kennst schon längst meine Meinung über diesen deinen Umgang mit Leuten, die ihrer Bildung wie ihrer gesellschaftlichen Stellung nach nicht zu uns gehören, Albin. Wenn du bis jetzt meinen Wünschen in dieser Beziehung nicht Folge gegeben hast, so rede ich nunmehr deutlicher und spreche dir meinen Willen aus. Von diesem Moment ab ist dein Verkehr mit diesem jungen Mann, dem Sohn des Bediensteten deines Vaters, für immer zu Ende. Wir reden nachher noch darüber; jetzt gib mir deinen Arm, man vermißt dich schon zu lange dort in unserm Kreise, mein Sohn. Außerdem wünsche ich auch so bald als möglich nach der Stadt zurückzukehren, um in dieser Nacht noch mit deinem Vater ein Wort über sein und unser Verhältnis zu diesem – dieser – Familie Uhusen reden zu können....«

Wie klar und leuchtend und – widerwärtig jene Jugendmondnacht dem jetzigen geistreichen, poetischen, gelehrten Hofrat und Doktor der Philosophie Brokenkorb in dieser Nacht nachdem eben zu Ende gehenden jour fixe seiner Hausmitbewohner vor der Seele lag! In dieser Nacht gab es kaum einen zweiten gleich »glücklich angelegten« Menschen in der Stadt, dem eine rege Erinnerungskraft und eine etwas fahrige Phantasie ein gleiches Mißbehagen bereiteten.

»Na, da habe ich mir – uns wieder einmal eine nette Suppe eingebrockt«, hörte er hinter sich noch das Wort des Freundes, während er die Mama nach dem Strandhotel zurückführte oder, wahrlich, viel mehr von der stattlichen Dame widerstandslos dorthin zurückgeführt wurde. Es war nicht mehr die Konversation, das Gesumm, die Musik der Gesellschaft, welcher er eben mit dem Taschentuch an der Stirn sich entzogen hatte; es waren nunmehr der Lichterglanz, der Lärm, das Gewoge, die Geigen und Hörner jener Gesellschafts-, Konzert- und Tanznacht in Travemünde, die ihm jetzt einen gesunden, traumlosen Schlaf vor allen andern Genüssen der Erde wünschenswert erscheinen ließen.

Er aber hatte sich diesmal wachend mit den seltsamen Träumen des Daseins abzufinden und mit seines Schulgenossen Peter Uhusens knotigem Wanderstab aus den grünen Hecken seiner Kinderheimat in der feinfühligen Hand, nervösest aufgeregt, durch das Gewirr, die flimmernden Schatten auf den längst zugewachsenen Pfaden seines Lebens sich den Weg zu bahnen.

Sie waren von Kindesbeinen an ganz gute Freunde, er und Peter Uhusen, der Sohn von seines Vaters Buchhalter. Er sah den Papa Uhusen im Laufe der Jahre hinter seinem Schreibpult zu einem dürren, kümmerlichen, gedrückten Männchen einschrumpfen und den Peter zu dem längsten, breitschulterigsten, unbeholfensten Burschen des ganzen Gymnasiums im alten Katharinenkloster heranwachsen. Sein eigener Papa hatte nicht das mindeste gegen seinen Verkehr mit dem Sohne seines alten Kontorgenossen einzuwenden, und seine Mutter fand längere Jahre ebenfalls nichts Bedenkliches dabei, bis sie mit höchstem Mißbehagen, und als es »beinah schon zu spät zur Abhülfe war«, herausfand, daß er durchaus nicht für ihren »Knaben« passe.

»Deine Alte ist eine Riesin, Albino«, sagte Peter. »Daß sie Geschmack hat und alle in der Stadt in der Hinsicht in die Tasche steckt, das weiß Lübeck. Das weiß nicht nur Lübeck, sondern auch Hamburg und Bremen und alles, was sonst noch von den freien Hansen übrig ist in unseren sämtlichen Enklaven im Ratzeburgischen, im Amt Ritzebüttel und Bergedorf; Bremerhaven nicht zu vergessen. Wie schade für dich, weiche Seele, und vielleicht auch für meinen alten Papa in eurer Schreibstube und draußen zwischen seinen Tulpen und Pelargonien, daß sie mich so sehr wenig riechen kann! Na, komm aber nur heute nachmittag noch einmal heraus zu uns. Der Leutnant kommt auch an den Zaun, und das Erdwinchen heben wir herüber. Einmal soll es trotz allem guten Geschmack und übeln Geruch zwischen der Wackenitz und der Trave doch noch ein netter Abend werden, und wir lesen ›Wallensteins Lager‹ mit möglichst verteilten Rollen.«

Wie der Freund auch der Frau Senatorin »riechen« mochte, der gut erzogene Sohn brachte doch seine liebsten Stunden in der Gesellschaft des Schlingels in dem kleinen Vorstadthäuschen des Buchhalters Uhusen und im Haus- und Gartenverkehr mit der nächsten Nachbarschaft dort, jenseits der Grenzen der besten Gesellschaft der Stadt, hin. Nicht bloß im Sommer, sondern auch im Winter. Es war dem Hofrat Dr. Brokenkorb mit Peter Uhusens Weißdornprügel ein Zauberstab in die Hand gegeben, unter dessen Berührung all das vergangene Grün, all der vergangene Schnee der Kinder- und Jugendjahre fast »physisch-peinlich« wieder lebendig wurde in dieser Nacht. Er hielt wenig Vorträge, in welchen er ihn nicht zitierte, den großen Landsmann Emanuel Geibel, der so schön gesungen hat von den Glocken und Gassen, den Gärten und Türmen, den Märkten und Wällen der alten, edeln, prächtigen Heimatsstadt; aber in dieser Nacht, nach diesem letzten jour fixe mit Uhusens Stock über den Knien hatte er seit lang zum ersten Male wieder nicht nötig, den lieben Dichter aus dem Bücherschrank zu holen, um sich – eine Stimmung zu geben.

»Dieser alte, närrische Papa Uhusen mit seiner Verliebtheit in unsere alten lübischen Glocken!« sagte der Hofrat. »Er mit seinem Zifferngesicht in meines seligen Vaters Kontor und – sofort mit der Hand hinter dem weniger tauben Ohr, wenn sie anfingen zu singen auf den nächsten Türmen! Wie deutlich ich meinen eigenen Papa wieder höre mit seinem ›Uhu sen, was träumen Sie?‹ Und wie deutlich ich dann ein Stockwerk höher meine Mutter vernehme: ›Brokenkorb, wovon träumst du wieder im Schlafrock? Seit einer Stunde solltest du schon im Gesellschaftsanzuge sein!‹ ... Jaja, wir führten einen wunderlichen Haushalt damals, und einen wunderlichen Haushalt führten der Peter und sein Vater und seine Tante Gottliebe draußen in ihrem kleinen Gartenhause vor dem Tor! Hm, ha, auch die Gottliebe! Ich habe seit Jahren nicht an die gedacht, und wie gut sie doch zu uns hielt bei allen dummen Streichen, in welche ihr Peter seine besten Freunde am liebsten mit verwickelte! Ei freilich, es war wohl nicht ohne Grund, daß meine selige Mama so mancherlei gegen meinen Umgang mit den Leuten vor dem Tor einzuwenden hatte! Haha, und es waren doch vortreffliche Zeiten, als wir noch so jung waren im alten Lübeck während und nach den schleswig-holsteinischen Feldzügen. Was hast du nachher noch Besseres und Nützlicheres erlebt, Albin? Und vor allem nach jener Mondscheinnacht in Travemünde, die allem Verkehr des Hauses Brokenkorb mit dem Hause Uhusen ein so jähes tragisches – ja so albern-triviales Ende machte?! Was hast du dir angelernt, was hat man dich angelehrt, seit sie ein so verdrießliches Ende nahmen, die Tage deiner Jugend, deine Lehrjahre im Hause Uhusen und Kompanie? Worte, Phrasen, alles das, was, von anderen abgetan, der Mittelmäßigkeit, der Herde Mode wird! Was zählst du als deinen wirklichen, wahrhaftigen Menschengewinn in dieser Nacht mit diesem Stock in der Hand für dich zusammen, Albin? Sie nennen dich einen Gelehrten; aber bist du es? Sie heißen dich einen Poeten; aber hast du das Recht, selber dich als einen solchen zu fühlen? Ist es nicht, als käme sie jetzt zum erstenmal seit deinen Knabenjahren wieder zu dir, die hohe Göttin, und zwar gestützt auf diesen Zauberstab in deiner Hand? Albin, Albin, was hattest du den Leuten an Wahrheit aus deinem Herzen zu bieten, wenn du ihnen deine schönen Reden hieltest? Wann hast du zu ihnen anders als aus den Sorgen deiner Eitelkeit heraus gesprochen? Wann sahest du je Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wie in dieser bittersüßen Stunde, Albin Brokenkorb? Commediante – tragediante, hast du jemals aus einer Stunde wie diese jetzige das geringste von der Menschen Wesen auf Erden in deine Reden hineingetragen? Reden? Ja, Reden aus Redensarten! Zitate und wieder Zitate – Konversationslexikonsweisheit und Tagesliebedienerei, Hofrat, Doktor Albin Brokenkorb!«

Fünftes Kapitel

»Und morgen früh will er wieder vorsprechen, und er wird mich nach meinen Erfolgen in der Welt ausfragen wollen!«

Er sprang empor, der Herr Hofrat Brokenkorb, noch immer mit dem alten Weißdorn aus der Hecke an der Trave in der Faust. Aber er machte jetzt Miene, als wolle er das bedeutungsvolle Gedenkzeichen so weit als möglich von sich schleudern; es blieb jedoch bei dem Gestus. Leise und scheu trug er nur das wunderliche Memento des Jugendfreundes in die fernste Ecke des Gemaches und kam zurück zu seinem Platz und saß von neuem hin mit den Ellenbogen auf dem Tische und dem Kopfe in der Hand. Es war nun so spät in der Nacht geworden, daß er unter sich den Aufbruch der Gesellschaft in den Zimmern, die Stimmen, das Lachen und die höfliche Dankbarkeit der Herren und Damen auf den Treppen und alles andere Geräusch, was zu solchem »Ite, missa est!« gehört, die letzten Grüße vor der Haustür und das Rollen des letzten Wagens vernahm. Er horchte angestrengt hinter alledem drein und dachte: das ist der und der – da lacht die und die – das ist der Wagen des Kommerzienrats Fallensleben, und da geht der gute Major von Grützbeutel mit seiner Frau; – und er war mit seiner Seele nicht im geringsten bei all diesen Leuten und dem Lärm, den ihr Abschiednehmen in der Stille der Nacht hervorbrachte.

Ihm war unbedingt nicht wohl, es ging ihm alles zu arg durcheinander. Waren das nicht dieselben Stimmen, das nämliche Lachen vieler gleichgültiger Menschen, die ihm, auch eben, den Sinn betäubt hatten am Ufer der Lübischen Bucht und im Tanzsaal des Strandhotels zu Travemünde, als die Kähne von der See zurückgekommen waren und das junge Volk sich in die Türen drängte und das Mondenlicht und das Licht der Kronleuchter auf einem jungen blonden Scheitel glänzte, während die ganze übrige Welt in einem Schatten versank, in welchem nur der schwarze Peter draußen am Strande und die erzürnte Mutter, die Frau Senatorin Brokenkorb, von Bedeutung waren?

»Erdwine!« murmelte er, und dann suchte er sich zu entsinnen, wie lange es wohl her sei, seit er diesen Namen zum erstenmal hörte. Jaja, noch einige Jahre vor jener Sommerfestnacht an der See! Er war selber noch vollkommen ein Knabe, als er eines Tages im Zimmer seiner Mutter eine sonderbar aufgeregte fremde Dame mit einem kleinen Mädchen getroffen hatte. Und Mama und die Fremde hatten einander du und bei ihren Taufnamen Amalie und Adele genannt, und nachher bei Tische hatte Mama dem Papa mit kopfschüttelnder Verwunderung und einiger Unruhe das Genauere über den Besuch erzählt. Nämlich, daß Adele, ihre beste Schul- und Jugendfreundin, wieder in Lübeck sei und mit ihrem allerliebsten Töchterchen und ihrem Mann, dem Leutnant Hegewisch, ein Häuschen unter den kleinen Leuten vor dem Tor bezogen habe. Erdwine heiße das Kind, und der armen Adele sei es draußen in der Welt nicht besser gegangen wie zu Hause von dem Bankerott ihres Vaters, vom Bankerott von Ryge & Kompanie an, und ihr Mann sei der nämliche unpraktische, eigensinnige Phantast und Schwärmer wie in der Zeit, als die Dänen die Trave blockierten und er zu den Schleswig-Holsteinern lief. Es sei ihr sehr schlecht gegangen, der Adele, dem törichten Geschöpf, und nun seien sie zu drei wieder da – Mann, Frau und Kind –, und was sie – Amalie Brokenkorb – für die Freundin in der Gesellschaft tun könne, das werde sie selbstverständlich tun. Es werde dem armen Weibe, dieser lächerlichen Frau Leutnant, aber wohl herzlich schwer werden, sich nur notdürftig durchzubringen, da sie nicht nur für ihr Kind, sondern auch für ihren Mann zu sorgen habe.

Der Hofrat Brokenkorb erinnerte sich ganz deutlich des »Hm's!«, das der Papa damals hatte vernehmen lassen, und ebenso genau erinnerte er sich einer Unterhaltung, die nachher im Kontor zwischen dem Senator und seinem Schulgenossen und Buchhalter Uhusen vorgefallen war und die damit schloß daß der Papa seinen Gehülfen an einem Rockknopf an seinen Lehnstuhl zog und ihm zuflüsterte:

»Es ist mir angenehm, Uhusen, daß Sie und unser armer Hegewisch Nachbarn geworden sind. Nehmen Sie sich des Mannes nach Möglichkeit an, und wenden Sie sich sofort an mich, wenn ich irgendwo helfen kann, ohne Aufsehen zu erregen. Und, alter Freund, suchen Sie sich auch mit der Gans, seiner Frau, so gut als möglich zu stellen. Sie werden's schon wissen, wie ich das meine; Sie können vielleicht manches tun, dem Mann auch in dieser Hinsicht seine Lebensbürde zu erleichtern. Sein Husten gefällt mir gar nicht; und ein guter Nachbar, der ein wirkliches Einsehen in die Sachlage hätte, wäre dem armen Tropf wohl an die Seite zu wünschen. Und, Uhusen, da wir gerade einmal bei diesem Thema sind: es ist mir lieb, daß Ihr Junge sich des meinigen etwas annimmt; und nun – lassen Sie uns wieder von anderen Dingen reden; nehmen Sie die schwedische Korrespondenz mit zu Ihrem Pult; Christiania muß sofort expediert werden; wegen Dübourg & Sohn in Kopenhagen will ich selber an unsern Rechtsanwalt schreiben.« –

Der bekannte Gesellschaftsredner Albin Brokenkorb erinnerte sich ganz genau, wie er noch am selbigen Tage in dem Hause vor dem Tor den Kameraden am Arm genommen hatte: »Du, weißt du, was mein Papa heute gesagt hat? Du sollst dich meiner annehmen und dein Vater des Herrn Leutnants, und die Frau Leutnant sei eine Gans. Und meine Mama will sich der Frau Leutnant und Erdwinens annehmen, und ich darf auch höflich mit ihr umgehen, mit Erdwine nämlich, und den guten Ton niemals aus den Augen setzen, und das habe ich Mama auch versprochen und ihr auch gesagt: eigentlich sei das gar nicht mehr nötig, denn du, Peter, betrügest dich schon wie ein alter Ritter gegen sie, obgleich du sonst gar nichts nach Mädchen frügest. Und den besten Ton hättest du auch, das wüßte die ganze Schule, und deshalb nennten sie dich auch nicht bloß den langen Peter, sondern auch den schwarzen Peter und Peter den Großen und manchmal auch gar nicht Peter, sondern den Schmied von Jüterbog.«

»Schafskopf!« hatte der lange, große und schwarze Peter geschnarrt. Ach, wenn die Damen seiner gewohnten Zuhörerschaften hätten sehen können, wie tief ihrem Lieblingsdenker die »träumende Stirn« herabsank ob der Träume dieser Nacht, die ihm diesmal nicht aus Schaum und Dunst und Literaturgepflogenheiten erwuchsen, sondern die der Nachhall wirklicher Schritte in der Welt, wirklich gesprochener Worte, geweinter Tränen, gelachten Lachens, wirklich gefühlter Gefühle und gedachter Gedanken waren! Sie hätten ihn sicherlich wieder »entzückend« gefunden; ob sie ihn begriffen haben würden, wenn er ihnen auch diesmal von seinen Stimmungen Bericht zu geben versucht hätte, ist freilich eine andere Frage.

Stimmungen!

Der Mensch macht sich Stimmungen und benennt dieselben dann verschieden. Albin Brokenkorb machte aber in dieser Nacht seine Stimmungen seit langer Zeit zum erstenmal wieder nicht selber und gab ihnen deshalb auch keine Namen; wir aber, wir können item deswegen wahrlich nichts dafür, daß unser Bericht von seinen Bildern in dieser Nacht vielen im hohen Grade verworren erscheinen wird. Eine Beruhigung für uns ist, daß die Lebenserfahrenen wohl wissen, an wen sie sich in solchem Falle zu halten haben – nämlich an sich selber in selbstdurchwachten gleichen Traumnächten und bei gleich unwiderstehlich ihnen aufgedrängtem Phantasiespiel. – –

Durch Jahre – aus der Kinderzeit bis in die Jünglingszeit, vorwärts und zurück, wie der Geist, der in dieser Nacht Gewalt über den Schlaflosen hat, es will – gleiten die Schatten und Bilder, wie wir das schon mühselig über die letzten Seiten mit unserem Nachschildern begleitet haben. Es ist Tag, und es ist Abend, es ist Frühling und Herbst, Sommer und Winter. Der schwarze Peter hebt Erdwine Hegewisch über die Hecke zum Kinderspiel, und der angenehmste Jüngling von Lübeck, Albin, horcht am Strande auf die Stimmen von der See, wo die schönste Jungfrau der Heimatstadt, die lustige Gespielin im blumenbekränzten Kahn unter Festgenossen schaukelt, zu denen der schwarze Peter Uhusen, der dann und wann immer noch der Schmied von Jüterbog genannt wird, nicht gehört und auch selber sich niemals gerechnet hat. Eben war es noch, als sei die Welt gar nicht zu denken ohne den Freund Peter und den Papa Uhusen und den Leutnant und die schöne Erdwine, und nun hat schon die »gute, wohlmeinende selige Mutter« mit dem Vater gesprochen, wie sie es versprochen hat am Ufer der Mondscheinsee, und nun sind sie alle gegangen – wie Traumgebilde einer Nacht – dieser Nacht. Wenn der Stock im Winkel nicht wäre, brauchte Hofrat Dr. Brokenkorb sich nicht im geringsten auf ein Abgrübeln über ihr mögliches, wirkliches Dagewesensein auf der Erde einzulassen!

Es half ihm nichts, dem armen Albin, daß er das Gedenkzeichen so weit als möglich von sich ab in den Winkel geschoben hatte; immer von neuem mußte er jetzt den Kopf nach jener Ecke hinwenden.

»Was ein Stock erzählen kann!« das hätte von Rechts wegen das Motiv, der Inhalt und der Titel seiner nächsten Vorlesung sein müssen; uns aber wird's allgemach zuviel, einem Menschen auf seinen Sprüngen zu folgen, der nicht mehr imstande ist, seine Begriffe, Gedanken und Bilder beisammenzuhalten und aneinanderzureihen.

Wir hören nur noch, wie der Stock im Winkel sagt:

»So lebtet ihr zusammen, so liefet ihr auseinander – so verscholl Erdwine Hegewisch in der Welt. Und nun geh zu Bett, Albin. Das Aufsitzen in der Nacht hilft doch zu nichts. Morgen früh kommt mein Herr, der mich aus der grünen Hecke schnitt, als ihr die Welt noch vor euch hattet. Was aber geht mich im Grunde das an? Mir war's auch wohl, ehe mich der Narr, der schwarze Peter, Ihnen zu Ehren und Nutzen, geehrter Herr Hofrat, vom erdeingeborenen Wurzelstock riß!«

Sechstes Kapitel

Es war ein Morgen, wie er dem Erdenwanderer nur zu häufig im Buche steht und jedesmal seine Kritik herausfordert, welchen Ständen er (der in ihn hinaus muß) angehören mag, ob den gelehrten, ob den ungelehrten. Nur pflegen die gelehrten Stände die bitterste Kritik zu üben, zumal wenn sie im Besitze eines Regenschirms sind und denselben mit einem Giftblick nach oben unausgespannt lassen in der vollen Gewißheit, daß die Feuchtigkeit heute auch von unten kommt und keine Abwehr dagegen ist.

Ein Dienstagmorgen, feucht, kalt, grau und verdrossen, und der Mann, der durch ihn ohne Schirm herwandelte, dem Anschein nach ganz zu ihm passend – ganz für ihn gemacht! Dem Anschein nach – auf eine Entfernung von zwanzig bis dreißig Schritten für einen Kurzsichtigen, für einen Weitsichtigen mehr.

Lassen wir ihn näher kommen.

Aus einem der Gasthöfe von untergeordnetem Range, deren Fremdenliste die Blätter nicht mitzuteilen pflegen, war er hervorgetreten, ein Mann auch noch in den besten Jahren, gleich dem Herrn Hofrat Dr. Brokenkorb, jedoch wirklich nicht vom besten Ansehen und in keiner Hinsicht zu vergleichen mit dem angenehmsten Mann in Berlin. Hochbeinig, breitschultrig, dauerhaft in Loden und Leder! Was die einzelnen Gliedmaßen anbelangte, wenigstens so ziemlich wohlerhalten! Daß er mit der rechten Backe dem Feuer etwas zu nahe gekommen sein mußte, da dieselbe vom Ohrzipfel bis über den Backenknochen schwarzgesengt war – daß das rechte Auge fehlte, hatte nicht viel zu bedeuten. Mit der Backe sah er nicht auf und in die Welt, sie wurde höchstens nur von der Welt dann und wann auf den übeln Zufall hin betrachtet; und was das mangelnde Sehorgan anbetraf, nun so besaß er ja noch ein ungemein klares, kluges, ja schlaues und bei aller Schlauheit doch fröhlich-heiteres linkes Auge, dem so leicht nichts von dem, was sich rundumher zutrug, entging. Dies beides ließ sich also ertragen; viel unangenehmer und für einen werkhaften Mann aus den nicht gelehrten Ständen zuzeiten unbequem war's, daß der linken Hand der Zeigefinger, der Mittelfinger und der Ringfinger mangelten, aber –

»Was kann es helfen? Solange der Mensch noch einen Daumen übrigbehält, um ihn seinem tagtäglichen Verdruß aufzudrücken, soll er ja ganz zufrieden und still sein und höchstens mit 'nem richtigen Maulwerk nachhelfen, wo die Tatze nicht ausreicht«, sagte Peter Uhusen. Mit dem Namen haben wir den Mann näher kommen lassen und hoffen nunmehr, ihm bald so nahe als möglich kommen zu können. Ihn aus seines Freundes Albin nächtlichen jour-fixe-Träumereien völlig kennenzulernen, war, wie er selber – der schwarze Peter, der Schmied von Jüterbog – sich ausgedrückt haben würde, die reine blasse Unmöglichkeit. Was wußte gleich zum Exempel der Herr Hofrat von dem Schmied von Jüterbog, wie er jetzt nach jahrelangem Umhertreiben in der Welt von Wien nach Berlin kam? und weshalb? Wie konnte der Hofrat ahnen, wozu die Weltgeschichte und diese Geschichte den lang verschollenen Jugendfreund, den braven Peter, den schwarzen Peter, den – Schmied von Jüterbog der lübischen Jungen augenblicklich in Berlin nötig hatte? –

Wir haben wohl alle von dem Schmied von Jüterbog gehört und gelesen, wie er in seiner Kunst ein so erfahrener Meister war, der beste seiner Zeit, wie er mit dem Kaiser Friedrich dem Rotbart Mailand eroberte und in Apulien Krieg führte, wie er als hundertjähriger Greis den Tod und den Teufel fing und wie ihm der heilige Petrus drei Wünsche gestattete. Großmutter hat uns erzählt, wie er mit diesen drei Wünschen umgegangen ist und sich zum letzten statt der ewigen Seligkeit eine Feldflasche mit einem nimmer versiegenden guten Magentropfen erbeten hat. Wir wissen, daß ihn nachher weder die Hölle noch der Himmel gewollt hat und daß er zu seinem alten Herrn in den Kyffhäuser gegangen ist und dort des Kaisers Schlachtpferd und die Pferde der Prinzessin und ihrer reitenden Fräulein beschlägt, bis – die Raben nicht mehr um den Berg fliegen. Wie kam der Mann aus dem warmen, behaglichen, süßdämmerigen Märchenberg in den frostigen, unfreundlichen, trübseligen, großstädtischen Herbstmorgen?

Er, Peter Uhusen, der Schmied von Jüterbog, hatte einfach eine Zerstreuung nötig gehabt und wollte seinen Freund Brokenkorb besuchen, wie man eben auch einen gleichgültig gewordenen Jugendgenossen, dessen Haus zufällig am Wege liegt, auf einer Erholungsreise aufsucht. Am Montagnachmittag war er am Orte angelangt, hatte die Wohnung des Hofrats richtig gefunden, aber ihn nicht in derselben. Er hatte seine Visitenkarte – wir wissen, was für eine – abgegeben und war seines Weges gegangen und wie der Jugendfreund ziemlich spät zu Bett gekommen. Recht gut hatte er sich bis in den Morgen hinein zu unterhalten gewußt, und zwar an mehr als einem Orte. Ohne die geringste Lokalkenntnis hatte er sich sofort zurechtgefunden, und nun war er von neuem da, als ob er nicht einen beträchtlichen Teil der Nacht, nach Schluß der Komödie, an seinem Tisch hinterm Glase allein, in tiefer Betrübnis und in heftigem Heimweh nach – Untermeidling gesessen habe. Wach, frisch, auf wackeren, vollkommen heilen und ganzen Beinen, blickte er aus seinem einen Auge klar und vergnüglich um sich herum, kümmerte sich um die Witterung und Temperatur keinen Pfifferling und summte eben, drei Gassen weit von seinem »Gasthof« und abermals auf dem Wege zum Freunde, im Vorgefühl des Behagens, welches er unzweifelhaft ihm mitbrachte, sich kitzelnd:

»We'll take a cup of kindness yet, For auld lang syne;

na, warte, miin Jung, mit dir werde ich bei einem guten alten Tropfen hoffentlich auf die gute alte Zeit anstoßen, wie es sich gehört. Nach dem, was man in den Zeitungen von ihm liest, muß er fein in der Wolle sitzen und sich doch noch zu einem lieben, netten Menschen ausgewachsen haben.«

Er hatte, wie der Mensch häufig, wenn er sich am Morgen frisch und grün fühlt, keine Ahnung von dem, was der Tag auch für einen braven Mann wie er, Peter Uhusen, der sich weder vor dem Tod noch dem Teufel fürchtete, doch Überraschendes in seinem grauen Mantel tragen kann. Er, der eben noch ein Gesicht machte wie sein Namensvetter, als der den Tod mit seiner Sense und dem Schoß voll Birnen im Birnbaum kleben sah, hatte nicht die geringste Ahnung davon, daß ihn bloß drei Häuser weiter Tod und Teufel – wieder einmal mit der Nase auf der Menschen mögliche Schicksale in dieser Welt stoßen sollten. – – –

Drei Häuser weiter ab führte durch eine offene, dunkle, niedere Tür eine ausgetretene, schmutzige Steintreppe in einen Keller hinunter. Über der Tür verkündete eine Inschrift den Leuten, daß hier um alles gehandelt werde, was Menschen nicht mehr gebrauchen können, aber dessenungeachtet doch noch gern zu verwenden wünschen: vorzugsweise ihre Knochen, ihre Lumpen und – ihr altes Eisen. Auf der Treppe aber, aus der Dämmerung ihres Geschäftsreiches halben Leibes in die Ober- und Gassenwelt hineinragend, stand die Inhaberin der Niederlage irdischer Abgängigkeiten, die Hände auf dem Rücken, in den Händen einen alten Infanterieoffiziersdegen, aus halb zugekniffenen Augen dem Anschein nach auch nur in das Wetter sehend.

Eine Frau von ungefähr sechzig Jahren! Das Haar, dem man es noch ansah, daß es seinerzeit sehr dunkel gewesen war, nicht grade salonmäßig frisiert, aber doch auch nicht ganz ungekämmt; – Augen, die, wenn sie einen voll ansahen, noch ebenso schwarz leuchteten wie an dem Tage, an dem sie zum erstenmal aufgemacht worden waren; – ein stattlich Unterkinn – die Gesichtsfarbe ziemlich ins Gelbe schlagend. Eine Frau von nicht geringem Leibesumfang, in blauschwarzem Wollkleide und zum Schutz gegen das morgendliche Vorwinterfrösteln mit einem buntfarbigen Tuch angetan, dessen Zipfel hinten über den breiten Hüften in einen festen Knoten geschlungen waren –

»Gibt es denn dies?« fragte Peter Uhusen, stehenbleibend und dem ersten kurzen Blick einen langen und zugleich die sonderbare Frage folgen lassend: »Ist es denn möglich?«

»Bei Gott ist alles möglich, bei den Menschen recht vieles; alles mögliche aber findet der Herr bei mir oder kann er bei mir noch einmal anbringen. Alte Lumpen, alte Knochen, zerbrochenes Glas, altes Eisen! Seinen ganzen alten Adam mit Zubehör im einzelnen und im ganzen zu den zivilsten Preisen. Ja aber, bei Hekate, Herr, Maulaffenhandel treibt unsere Firma nicht! Wird dem Herrn unwohl oder wird ihm zu wohl in seiner Haut, so sage er es! Da – beide Hände frei für alles, was der heutige angenehme Morgen bringt!«

Die Dame hatte in der Tat ihre Hände frei gemacht, indem sie, ohne sich zu drehen, den Degen, den sie hielt, mit einem energischen Ruck des Handgelenks in die Tiefe ihres Gewölbes zurückgeschleudert hatte, wo er klirrend wahrscheinlich einen Haufen andern alten Eisens vermehrte. Und beide Arme in die Seite stemmend, war sie um eine Treppenstufe aufwärts mehr zutage getreten und stand dem verdächtigen Kunden auf dem Bürgersteige dicht Nase unter Nase.

»Signor, ich habe eine ziemlich ausgebreitete Bekanntschaft in der Welt. Wenn's auf keinen schlechten Witz hinauslaufen soll, mit wem könnte ich diesmal die Ehre haben – unter den Lumpen und – im alten Eisen?«

Dies war aber nun, wahrscheinlich weil die Frau sich ihren Mann bereits genauer betrachtet hatte, gänzlich ohne Mißtrauen und Zorn gesprochen. Im Gegenteil, es lag in Ton und Ausdruck eine so gutmütige Weltverachtung und unverwüstliche Heiterkeit, daß jedermann sofort merken mußte, hier habe er es mit einem vollkommen ungebrochenen Lebensmut und einem durchaus unproblematischen Charakter zu tun, wie auch, was das letztere anbetraf, der äußere Anschein und die Toilette der Dame dagegen zeugten.

Wer die Ehre hatte, das Weibsbild zu seiner ältesten Bekanntschaft zu rechnen, gleich Peter Uhusen, der freute sich unter allen Umständen, es noch einmal wiederzusehen in der großen Tragikomödie unter unseres Herrgotts Direktion. Und wie tief auch im Laufe der Zeiten und Menschenschicksale Frau Wendeline Cruse in die Lumpen und ins alte Eisen geraten sein mochte, der Schmied von Jüterbog oder – an dieser Stelle: Herr Schmied aus Jüterbog bot ihr vor allem herzlichst beide Hände: »Gnädige Frau, ich irre mich wahrhaftig nicht – ich habe die Ehre! Guten Morgen, Frau Direktorin Cruse! Ma'am! – Signora! – Mrs. Crusoe! Hamburger Berg, Lübeck – Celle – Brooklyn! Habe ich es mir nicht immer gedacht, daß wir zwei einander niemals für immer verlorengehen könnten?«

Wie kann ein Mensch seine Rede ausreden, wenn er plötzlich bei beiden Schultern gepackt, beim Tageslicht ganz genau besehen und eine ziemlich abschüssige Treppe hinunter in einen weniger dämmerigen als dunkeln »Produktenkeller« gerissen wird. Der schwarze Peter, Peter Uhusen, Herr Schmied aus Jüterbog, oder was für Namen sonst er auf Erden geführt hatte und noch führen mochte, fand sich taumelnd in der Düsternis, und es war noch ein Glück für seine gesunden Glieder, daß er sich auch noch eine geraume Weile in den Armen seiner eigentümlichen Freundin befand.

Die gleicherweise vielbenamsete Freundin holte den guten alten Bekannten nicht nur sofort zu sich herunter, sondern sie nahm oder riß ihm vielmehr das Wort vom Munde und rief, ihn wie einen Sack ihrer Handelsartikel zusammenrüttelnd und – schüttelnd: »Es ist der Junge, der tolle Uhusen aus Lübeck!... Ich kenne mich nicht, oder der Bursche ist es wirklich und wahrhaftig!... Mein Schmied! Mein Schmied aus Jüterbog!... Und das kommt da im Morgennebel heran, kommt die Straße her und läuft natürlich vorbei, wenn einen nicht der Zufall im rechten Moment vor die Tür stellt! Grade wo einem der Zufall... Menschenkind, gibt es einen Zufall? Da setzen Sie sich hin und antworten Sie! Vor allen Dingen aber sagen Sie ehrlich, Schmied, sind Sie es, oder sind Sie es nicht? Und wenn Sie es sind, weshalb haben sie sich so niederträchtig die halbe Maske ruinieren lassen?«

Der Schmied von Jüterbog, der schwarze Peter Uhusen, saß war hingesetzt worden. Eine Bank, ein Schemel oder ein Stuhl oder sonst dergleichen war's nicht, was er unter sich fühlte, nachdem man ihn hingesetzt hatte; aber – er saß weich auf einem Sack voll der Handelsprodukte der Frau Wendeline. Wahrscheinlich auf einem Quantum Ware aus dem anrüchigsten Geschäftsbetrieb der Groß- und Kleinhändlerin, auf einem Sack voll alter Kleider und sonstigen Lumpenzeugs.

Er mußte wohl ein Auge haben, das an den raschesten Wechsel von Licht und Finsternis gewöhnt war; denn sofort sah er sich genau um und rief mit ernsthafter, verständnisvoller Billigung: »Sicherlich nahrhaft, gedeihlich, im allerbesten Flor! Aber – wie die Sache eigentlich möglich ist, möcht ich dazu wissen!«

Keine Fürstin konnte in ihrem Prunksaal mit einer graziösern Hand- und Fächerbewegung allem in der Nähe und in der Weite seine Grenzen andeuten; aber keine andere Dame konnte auch in derselben Weise wie Frau Wendeline Cruse hinzufügen: »Auf Sie als meinen Griffith habe ich natürlich bis heute morgen gewartet; nicht wahr, Schmied?«

Der zitierte Name klang ein wenig sonderbar im Lumpenkeller, allein am unrechten Orte im alten Eisen fand sich der wackere Marschall der Königin Katharina von England durchaus nicht, und der schwarze Peter fand nicht im geringsten etwas Merkwürdiges daran, ihm hier zu begegnen.

»Daß ich Sie sofort auf der Treppe da wiedererkannt habe, liebste Frau, ist doch schon etwas; nicht wahr, Frau Wendeline? Was könnte durch Feder und Papier der Welt Besseres über Sie verkündet werden als: noch ganz die alte! Ewig die große Frau, die Meisterin, die Königin, Isis, Rhea – o Isis und Osiris! O Mama, Mama, allen Umständen gewachsen! Vivat die Mutter Cruse!?«

»Sie lebe!« sprach die Dame mit Nachdruck. »Daß sie das Ihrige tut, um weiterzuleben, meine ich, sehen Sie recht deutlich, lieber Sohn. Ein reizendes Altenteil, was? Wie man's seiner Mutter wünschen möchte, wenn man ein guter Junge wäre. Jaja, so weit sind wir! Unten angekommen unter den Lumpen, abgenagten Knochen und im alten Eisen! Wie viele der jungen Enteriche, die sie ausgebrütet hat, schwimmen behaglich, und wer von ihnen hat sich beim Sonnenuntergang umgesehen nach der alten struppierten Henne am Ufer, der Mama Cruse?«

Peter Uhusen reichte fürs erste seine Hand herüber. Die Mutter Cruse faßte dieselbe trotz ihrer melancholischen Betrachtungen über den Undank der Welt rasch und zärtlich; da es aber die verstümmelte war, ließ sie sie fallen, doch um sie sogleich desto fester zu ergreifen und den Gast und guten Bekannten besserer Tage in wahrhaft mütterlich-betroffener Sorge sich näher zu ziehen!

»Bitt um Entschuldigung, wenn ich im vorliegenden Fall zuviel gesagt haben sollte, Kind. Es ist freilich ein bißchen dunkel hier; – fehlt – fehlt noch etwas, armer Tropf? Daß dir eine Gesichtshälfte in der Lebensschlacht abhanden gekommen ist, habe ich leider schon bemerken müssen. Jetzt sagen Sie es aber gleich gradeheraus, auf was die Prinzipalin bei der Generalinventur nicht mehr zu rechnen hat. Armes Küken, hat dich der Habicht so arg in den Fängen gehabt, während es mit uns anderen im Lauf der Dinge wenigstens doch ganz gemütlich bergunter ging?«

»Zerzaust hat der Geier oder Habicht, oder wie Sie das Ding sonst nennen wollen, Ma'am, den Burschen genug«, lachte der Schmied von Jüterbog. »Aber der schöne Rest eines für deutsche Verhältnisse nicht unbedeutenden Stammkapitals von Lebensmut und gesunden Gliedmaßen ist heute noch ganz zu Ihrer Verfügung, Mama Cruse. Ich weiß nicht, wer sonst alles Ihnen Grund zum Verzweifeln an der Welt gegeben haben mag; ich für mein bescheiden Teil darf mir doch wohl schmeicheln, drüben in Brooklyn Ihren Segen mit auf den eigenen Weg durchs Dasein genommen zu haben.«

»Ein schöner Weg – und ein schöner Segen!« brummte Frau Wendeline. »Wie ist mir denn? Nicht wahr, eine gute Handvoll aus dem braunen Busch auf diesem Schädel da habe ich ja wohl auch von Ihnen beim Abschied zum Angedenken in der Hand behalten?«

»Ganz so schlimm war's wohl nicht«, grinste Herr Schmied aus Jüterbog. »›Wenn Sie's denn nicht besser haben wollen, so scheren Sie sich meinetwegen aus dem Tempel!‹ äußerten Sie sich, Mama Cruse. ›Ich kenne euch Tollköpfe ja. Wenn euch der Hafer sticht, so ist kein Halten. Na, Schmiedchen, laufen Sie nur ruhig in Ihr Verderben; Sie werden sich noch oft genug nach den Fleischtöpfen und den – Idealen der Mutter Cruse zurücksehnen.‹ Und – Mama – bei Thespis, William Shakespeare, Molière, Kotzebue, Goethe und allen, die sonst noch einen fahrenden Musenkasten durch die langweilige Welt mitgeschoben haben, Sie hatten wie gewöhnlich recht. Nach Ihrer Naturalverpflegung habe ich oft das innigste Verlangen verspürt, und Ihre Ideale – haben mich gewärmt in des Lebens Frösten und kühl gehalten in des Da seins Hitze bis auf den heutigen Tag. So wahr ich, wenigstens noch teilweise, vorhanden bin, ich freue mich unendlich, Sie wiedergetroffen zu haben, und was noch von dem Kerl vorhanden ist, das steht zu Ihrer Verfügung, alte, brave Musenmutter. Ich wollte wie sonst nur, ich könnte es Ihnen alles so heimzahlen, wie Sie es mir seinerzeit gegeben haben von Lübeck an, wo ich Ihnen hinter dem Rücken meines braven Vaters und der Tante Gottliebe zum erstenmal des Spaßes wegen als Meerkater und Herr Schmied aus Jüterbog aus der Verlegenheit half, und zwar glorreich.«

Das alte Weib, dies Bündel von winterlich-warmen, aber keineswegs jour-fixe-fähigen Wollröcken mit seinem über dem breiten Busen gekreuzten und von vorn nach hinten gezogenen und zusammengeknoteten Jahrmarktshausmuttertuch machte von neuem eine Handbewegung, die der vornehmsten Dame würdig gewesen wäre. Dann aber klopfte sie, was noch besser war und ihr noch viel besser ließ, beinahe mütterlich-zärtlich dem wiedergefundenen guten Bekannten aufs Knie und rief: »Uhusen, ein guter Junge sind Sie immer gewesen, und als Sie im Ernst nachher in Celle als Herr Schmied aus Jüterbog und verunglückter weiland Königlich Hannoverscher Artilleriegefreiter zu mir kamen, habe ich Sie mit Vergnügen mitgenommen. Daß Sie mir in Brooklyn durch- und mit in den Sklavenkrieg gingen, das habe ich Ihnen im Grunde am allerwenigsten verdacht. So ein Durchgehen ist doch zuletzt mein eigenes ganzes Dasein gewesen. Für eine Tochter der gebildetsten Stände ist es hoffentlich einmal vor unserem Herrgott kein zu übel riechend Lob, daß sie so wohlbehalten zuletzt unter den Lumpen und im alten Eisen anlangte. Jaja, Schmied von Jüterbog, so spielen uns unsere Illusionen mit, und Sie – Sie sehen mir auch nicht aus, als ob Ihnen Ihre Ideale Wort gehalten hätten.«

»Wie Ihnen, Mutter Cruse!«

»Dann bin ich schon zufrieden«, sprach die alte Dame ernsthaft, fragte aber sofort mit der heitersten Ironie: »Und wenn ich fragen darf, was haben sie, Ihre Träume vom Leben meine ich, im besonderen für Sie abgeworfen, Korporal Nym? Was war der Humor von der Katzenbalgerei? Kapitän bei Chickahominy natürlich! Major beim großen Laufen von Bull-Run – Colonel eines verdammten Niggerregiments bei Gettysburg – Brigadegeneral –«

»Und das alles hätte ich in Ihrer Schaubude bequemer und noch bei weitem großartiger haben können!« lachte der schwarze Peter Uhusen. »Hören Sie auf, Mama, wenn Sie auch annähernd recht haben! Beinahe war's so – bis auf den Major, den Colonel und den Brigadegeneral. Als Kapitän haben sie mich wirklich bei ihrer Artillerie gebrauchen können. Bevor ich der weiland königlich hannoverschen durchging und in Sankt Pauli – nicht in Celle – bei Ihnen einsprang, gnädige Frau, hatte ich wenigstens einen recht hübschen Grund auch hierzu gelegt. Als Lerse in Ihrer Bearbeitung des ›Götz von Berlichingen‹ für den Hamburger Berg und als Ritter Harold von Pappnasen in meinem eigenen Zugstück – wissen Sie noch? – ›Blankeneser Seeräuber‹ – war ich freilich noch größer.«

»Jetzt bitte, Schmied, hören auch Sie auf!« seufzte halb lachend, halb weinend die alte Frau im alten Eisen und schlug die Hände im Schoß zusammen. »Jawohl, so weit war die Wendeline Cruse damals schon nach ihrem letzten ›fliegenden Sommerglück‹ als Direktrice des Lübecker Stadttheaters bis hinunter zu Ihrem Pappnasenpiraten für den Hamburger Berg, Schmied aus Jüterbog. O Gott, wie leid hat es mir manchmal in stiller Nacht getan, daß Sie nicht in Wirklichkeit mein Junge waren, Kind! Geohrfeigt, geprügelt hätte ich Sie alle Tage dreimal nach Noten und ohne Noten; aber wenn Sie einmal Ihre Talente, wie die arme Wendeline die ihrigen, der albernen Welt in die Rapuse geben mußten, unter welchem Meßbudenschilde konnte das besser geschehen als unter dem meinigen?«

»Seit der Eröffnung des Theaters zu Blackfriars, seit dem Roten Ochsen, dem Phönix, dem Globus und dem Cockpit zu Drurylane war keinem Hanswurst bessere Gelegenheit gegeben, aufs Seil zu gehen, als mir unter Ihrer Leitung, Mama Cruse.«

»Das Exemplar, aus dem ich euch den süßen William klarmachte, ihr Pappnasenritter und Affen, habe ich gerettet ins alte Eisen. Doch wir kommen ab von dem, was mir doch gegenwärtig die Hauptsache ist. Passen Sie auf Ihr Stichwort, Schmiedchen. Also, was haben Sie getrieben, wie ist es Ihnen ergangen, und wozu haben Sie es gebracht, seit ich Ihnen nicht mehr die Butterbrötchen strich und die Leviten las?«

Peter Uhusen erhob die verstümmelte Hand und zwinkerte heiter mit dem gesunden, dem sehr gesunden, klugen und klaren Auge:

»Was hätte ich weiter anderes treiben können als Dummheiten, Mama? Nach Ihren Fleischtöpfen habe ich mich dann und wann bitterlich zurückgesehnt, Ma'am! Nach Verdienst ist es mir natürlich ergangen, und als Sie mir den Namen Schmied aus Jüterbog in einer Ihrer liebenswürdigen Stimmungen anhingen, da hatte Ihnen unbedingt ein Gott das Wort auf die Zunge gelegt wie meinem Freunde Brokenkorb den Schmied von Jüterbog, mit dem er mich bei seiner gnädigen Frau Mutter in Mißkredit brachte. Ich bin der Schmied von Jüterbog, das heißt, ich habe in sein Geschäft hineingeheiratet und seine Tochter zur Frau genommen. Die liebe Sage weiß von dieser Tochter nichts; aber sie existierte, und ich habe sie ihm von der Seele genommen als das einzige, was ihm darauf lag, da er zum Kaiser Friedrich in den Kyffhäuser ging. Anderes hinterließ er nicht. Die Wundergaben hafteten natürlich nur an der Persönlichkeit. Sein Birnbaum wurde mit dem Garten hinterm Hause und dem Hause selbst subhastiert; und die Esel, die den Sack, in welchem man den Teufel fangen konnte, in den Kehricht warfen, wußten sowenig, was sie taten, wie die andern Esel, welchen das Tellertuch, der Däumling und der verrostete Pfennig der drei guten Rolandsknappen in die Hände fielen.«

»Die Leute können nicht alle für die Lumpen, die Knochen und das alte Eisen dieselben guten Augen haben wie wir, mein Sohn«, sagte kopfnickend Frau Wendeline Cruse. »Aber wie ist mir denn? Sie selber? Weshalb haben Sie selber nicht Hand auf die Wunderstücke gelegt, junger Mann?«

»Mama, nicht taub werden!« rief der schwarze Peter. »Hab ich's Ihnen nicht gesagt, daß ich mir des Alten Tochter hingenommen habe aus seinem Nachlaß? Sollte das unter Umständen nicht genügen, um den Teufel und den Tod in die Falle zu locken?«

»Unter allen Umständen!« lachte die alte Dame. »Freilich ist's eine andere Frage: wem zum Profit? Und da müßte man doch wohl erst wissen, wie das Mädel war und wie die junge Frau sich machte. Lieber Schmied von Jüterbog, ich habe mehr als einen armen Tropf kennengelernt, der drei Tage nach der Hochzeit sich dem Teufel mit Vergnügen übergab und den Tod beschwor, seinem irdischen Dasein im häuslichen Glück so rasch als möglich ein Ende zu machen.«

Peter Uhusen saß eine Weile stumm, wie in tiefstes Nachsinnen über diese Worte versunken. Dann seufzte er schwer, und dann – blickte er auf und mit dem noch vorhandenen, glänzenden Auge auf die Mutter Cruse und sagte:

»In Wien – im Vorort Untermeidling liegt das Herze auf dem Kirchhof, seit dem Zehnten vorigen Monats. Wenn mir in diesem Moment jemand einen genügenden Grund dafür angäbe, weshalb ich hier sitze, so wäre ich ihm dankbar. Emerenz heißt sie, und die Raketenhülsen fürs nächstjährige erste große Praterfeuerwerk drehte sie noch mit. Mein Name ist Peter Uhusen aus Lübeck, alias Herr Schmied aus Jüterbog; aber meine Firma lautet: Pyrotechnisches Laboratorium von Hausrucker & Cie. Hausrucker bin ich, und Cie, war meine Frau.«

Siebentes Kapitel

»Großer Gott!« rief Frau Wendeline Cruse mit dem tiefsten Mitgefühl auf dem wetterfesten, wahrlich nicht häßlichen Altweibergesicht. »Bei uns geblieben der Gelehrte, der Kriegsmann und auch das Stück Hofmann, das in ihm steckte, in ihm, dem Schmied aus Jüterbog, der zu der Direktorin Cruse kam, weil sie ihn sonst nirgends in der Welt zu irgend etwas hatten gebrauchen können! Guter Gott, wie gut er seine Rolle begreift!«

»So ist es!« sprach Peter Uhusen. »Der Junge, der vor Ihren Lampen im Lübecker Stadttheater nur zu oft den Boden der Wirklichkeit unter den Füßen weg verlor, der desertierte Kriegsknecht, den Sie als Herrn Schmied aus Jüterbog in Celle und auf dem Hamburger Berg unter Ihre Fittiche nahmen, der Dichter der Blankeneser Seeräuber, der Dramaturg, Regisseur, Inspizient von Mrs. Robinson Crusoes vereinigtem Drurylane- und Globetheater auf Brooklyn, sie sind sämtlich beim Handwerk geblieben, sind ganz im besondern bei Ihnen, in Ihrer Welt geblieben, Sie alte wundervolle Mutter Cruse! Wir spielen unsere Rollen gut und lassen den Pöbel nicht in unsere persönlichen Gefühls- und Privatangelegenheiten. Wir wissen unsere Gesichter zu schneiden.«

»Hören Sie, Schmied«, sagte die alte Dame in Rührung, Ratlosigkeit und stolzer Genugtuung, »es ist ein frostiger Morgen; wir wollen näher an den Ofen rücken, und ich will Ihnen ein Glas Wein zu trinken geben, als säßen wir wieder zu Sankt Pauli hinter der Kulisse.«

»Und uns einbilden, das Kind in Untermeidling, die Emerenz, sitze derweilen noch bei ihrer Papparbeit und sei fest versichert, daß ihr Peter ihr nur deshalb in die winterliche, graue nordische Fremde durchgebrannt sei, um im nächsten Sommer jede Praterkonkurrenz durch wissenschaftlichen Verkehr mit den höchsten pyrotechnischen Autoritäten der norddeutschen Brüderschaft gründlichst zu ruinieren!« sagte seufzend der Mann, der gestern abend seinem Jugendfreunde sein Wahrzeichen dagelassen hatte.

»Hätte ich ihr müdes Köpfchen im Schoße gehalten, ich könnte nicht mehr von ihr wissen, als ich jetzt schon von ihr weiß«, murmelte die Frau Wendeline, in der dunkelsten Tiefe ihrer Geschäftshöhle, in dem unheimlichsten Winkel allerlei fragliche Handelsartikel aus dem Wege räumend und nachher mit einem Schlüsselbund an einem Schranke rasselnd. Und dann kam sie mit einer Flasche wirklich echten alten spanischen Weines und zwei seltenen venezianischen Flügelgläsern zurück und sagte:

»Es ist die Meinung der Welt, daß wir am Fuße der Leiter uns alle dem Trunk ergeben, Uhusen. Aber wie Sie sehen, Schmied von Jüterbog, habe ich auch dies unabwendbare Schicksal nach Möglichkeit veridealisiert. Es ist nicht das erstemal, daß wir so mit dem Glase auf dem Knie hinter dem Spiegel, hinter der Kulisse hocken und von der Menschen Illusionen jenseits der Lampen und des Vorhangs plaudern. Also verheiratet haben Sie sich, Kind? Und am Zehnten vorigen Monats ist Ihre Frau gestorben. Wie ein anderer, ein Großer oder Größester aus Ismael, haben Sie auch den Versuch gemacht, es so gut haben zu wollen wie andere. Wo könnten Sie Ihr Herz besser ausschütten als hier bei uns im alten Eisen?«

»Vortrefflich!« murmelte Peter. »Mit Vergnügen, Mama Cruse, aber – wissen Sie wohl, daß Sie mich im Laufe unserer Bekanntschaft eigentlich recht oft und genau ausgeholt haben, daß Sie im Grunde längst von mir mehr wissen als ich von Ihnen? Wir haben uns nun lange nicht gesehen, und ich finde Sie, wie Sie selber, gottlob gelassen, sagen, am Fuße der Leiter, im alten Eisen: wie wär's, wenn Sie zum erstenmal mir wirklich von sich selber sprächen, ehe ich Ihnen eingehenderen Bericht, nicht noch einmal von mir, sondern diesmal von meiner Frau gebe?«

»Eine Sache, die in drei Worten abgemacht werden kann und an der ich bis an meines Lebens Ende wiederkäuen könnte«, murmelte die alte Dame. »Wären Sie bei den schreibenden Ständen geblieben, Uhusen, so würde ich Ihnen heute vielleicht den Vorschlag machen, meine Memoiren zu redigieren. Da sitzt noch ein früherer Bekannter von uns hier in der Stadt – ein feiner Mann, ein berühmter Mensch und trotz aller Vielbeschäftigung ein Mann ohne Zweck und Ziel. Den Herrn Hofrat Brokenkorb meine ich –«

»Und ich war eben auf dem Wege zu ihm, als Sie vor der Treppe da mich anhielten.«

»Sieh, sieh! So kehrt das Schicksal seine Haufen zusammen, wenn es ihm Zeit scheint. Nun machen Sie für mich ihm meinen Vorschlag, und fordern Sie ihn auf, mich bei Gelegenheit auch wieder einmal zu besuchen und wie Sie alte lübische Jugenderinnerungen von neuem aufzufrischen.«

»Mit Vergnügen, gnädige Frau! Aber nun für mich zu den drei Worten über Ihre Lebensläufe in auf- und absteigender Richtung. Sie wußten Ihre Leute sehen vor und hinter dem Vorhang auszufragen. Mich selber haben Sie allewege wie einen Handschuh um und um gewendet; aber Sie selber blieben uns stets die große Unbekannte. Da bin ich nie auf die Kosten meiner Verehrung für Sie gekommen oder, wenn Sie lieber wollen – meiner Neugier. Und ich habe doch nach Möglichkeit in Lübeck, in Sankt Pauli, in Celle und in Brooklyn in das Gewölk geblasen und an Ihrem Schleier gezupft.«

Das Wort »gnädige Frau« klang wohl ein wenig sonderbar an diesem Orte; aber als die wunderliche Althändlerin jetzt sich aufrichtete, das Haupt hob und mit der Hand den Gast zum Sitzenbleiben nötigte, hätte jedermann sagen müssen, daß es vollkommen auch in diese Höhle gehöre, da die passende Trägerin dazu vorhanden war. Ruhig und gelassen, als ob sie etwas ganz Selbstverständliches erzähle, sagte sie: »Sie haben recht, Uhusen. Man soll sich, wenn es Zeit wird, einen ehrlichen Gesellen und keinen Narren aussuchen, dem man das Konzept zu seiner Grabrede läßt. Ich bin die Tochter meiner Eltern. Mein Vater war der Sohn eines rheinischen Regierungsrats und lief ohne Talent zur Bühne. Meiner Mutter Lieblingsbuch war ›Goethes Briefwechsel mit einem Kinde‹, und sie war die Tochter eines Bonner Professors der Mathematik und eine Dichterin, die im geheimen Tragödien schrieb und einen Schauspielerroman veröffentlicht hatte. Sie fanden sich zusammen, wie Vögel von denselben Federn sich zusammenzufinden pflegen. Und zu meinem Glück! Denn jedes hat mir von sich das Beste gegeben an Intellekt und Temperament; – es lebe die Unverwüstlichkeit der Menschheit, Peter Uhusen! – Sie hatten eine Erbschaft getan oder in der Lotterie gewonnen oder einen vermöglichen Narren aus den erwerbenden Ständen zu sich herübergezogen – was weiß ich –, sie hatten, was ich sicher weiß, eben mich auf den Hals bekommen, als sie zu Gelde kamen. Wie aus einer Theaterversenkung bin ich, ein nacktes Kind, auf dem Sturmwind reitend, in die Luft und ins Leben geworfen, und zwar unter der Regie von Papa und Mama – auf ihrer eigenen Bühne in einer schwäbischen Provinzialstadt. Nach Marbach haben sie mich zur Taufe gebracht –«

»Wie sie mit dem frommen Kind Eulenspiegel von Kneitlingen nach Ampleben gingen«, brummte der schwarze Peter, aber:

»Nein!« rief nachdrucksvoll, und die Hand im vollen Pathos erhebend, Mutter Cruse. »Nein! ... wie närrische Leute, die nicht wissen, was sie tun, aber bis in die letzte Lebensfiber hinein die Überzeugung haben, daß sie auf dem rechten Wege sind und Pharisäer, Schriftgelehrte und Philister schwatzen und die Nasen rümpfen lassen können! Wollen Sie mich noch weiter hören, Herr Schmied aus Jüterbog?«

»Ich bitte um Verzeihung, daß ich unterbrach, schöne Frau«, sagte recht kleinlaut Peter Uhusen.

»Die armen Kinder«, seufzte die alte Frau, den Kopf schüttelnd; und es klang recht wunderlich, sie über ihre Eltern als arme Kinder seufzen zu hören. »Sie hatten für alles Hübsche und Schöne, für alles, was glänzt und wohl duftet und fein klingt und zum Lachen und zum Weinen reizt, Sinn und Verständnis. Ach nur zu viel Sinn, wenn vielleicht auch nicht im gleichen Maße Verständnis! Mama zog ihre Schleppen nicht nur über ihre Bühne, sondern auch durch ihren Salon. Wir hatten einen Salon – im ersten Stock, im zweiten – im dritten. In einem vierten Stockwerk hörte dies Vergnügen auf in einer Mittelstadt in Mitteldeutschland, grad als ich ungefähr sechzehn Jahre alt geworden war. Schmied von Jüterbog, in jenem Lebensalter bin ich schon die Vormünderin meiner Eltern gewesen und habe ihr Lachen und Weinen, ihr Kinderlachen und Kinderweinen, zu Ruhe sprechen müssen mit Vernunft und Verstand. Und die Geschäfte mit dem Pfandhause habe ich ganz geschickt besorgt. Die Hausfreunde, die in jenen Jahren mir persönlich dabei mit ihrem Geldbeutel und mit ihrer Lebenserfahrung unter die Arme greifen wollten, die warf die Tochter meiner Mutter am besten vor die Tür und verriegelte dieselbe fest hinter ihnen. Nun, Sie kennen das ja, alter Freund.«

»Damals noch nicht. Polierte in jenen holden Tagen noch die Schulbänke im Lübecker Katharinenkloster, in Gesellschaft mit Freund Brokenkorb«, brummte Peter Uhusen.

»Und schwärmte verstohlen von der obersten Galerie herunter für die junge, hübsche Madame Cruse, die erste Liebhaberin und Frau Direktorin, he? Jaja, Gott hab ihn selig, meinen guten alten Vater Cruse. Ich sehe noch heute sein Grinsen, mit welchem er Sie, in sein Meerkaterfell eingenäht, mir als meinen glühendsten Verehrer vorstellte. Mein alter, lieber Vormund, Vater und Gatte! Er hatte mich auf den Armen getragen, und er trug mich nach Papas und Mamas Tode auf den Händen. Er bezahlte ihnen die Särge, und ich bin ihm eine gute kleine Frau gewesen und habe es ihm in dieser läppischen Narrenwelt wahrlich nicht durch Dummheiten quittiert-«

»Sie sollen leben, teure Frau!« rief Uhusen, doch die alte Freundin wehrte ab, und zwar wiederum mit einer bezeichnenden Handbewegung. Der alte Bekannte stellte sein venedisch Glas denn auch neben sich auf den schwarzen, schmutzigen Boden und küßte nur seiner vornehmsten, wenn auch nicht liebsten weiblichen Bekanntschaft im Leben die Hand. Das war wahrlich schicklicher so, und die Herrin im alten Eisen ließ es sich denn auch gefallen und gab weiter Bericht von sich, ohne sich zu überheben.

»Welch eine wundervolle Kinderzeit habe ich bei meinen Eltern und ihrem genauesten Umgang gehabt. Im plattierten Glanz unserer Jubeljahre und beim Lichtstümpchen in der Dachstube. Die zwei lächerlichen Krabben sind mit ihren Idealen im Herzen und hochtönenden Worten auf der Zunge gestorben, und ich – ich bin ihre rechte Tochter gewesen und bin es gottlob geblieben bis hierherunter zu den Lumpen und ins alte Eisen. Und mein greisköpfiger Hanswurst von Mann! Mein melancholischer Komikus Papa Cruse! Er hatte natürlich wie wir alle seinen Beruf verfehlt, und so kam er, zeigte uns nach abgelegtem Pachter Feldkümmel, wie der König Lear auf der Heide rase und der General Wallenstein den Max mit seinen Pappenheimern abziehen lasse. O Uhusen, wie groß waren Papa, Mama und unser Freund Cruse unter sich allein, und wie wenig spielten wir Komödie, wenn wir unter uns allein waren, so nach Mitternacht, wenn alles, was Komödiant und Philister zu gleicher Zeit ist, zu Bett war!... Und er war doch ein guter Geschäftsmann, mein lieber Alter. Ich kam zu ihm wie Fitchers Vogel im Kindermärchen, nackt in einem Fischnetze, nicht gefahren und nicht gegangen. Ich habe es gut bei ihm gehabt, solange er lebte, und in seinem Sinne habe ich nach seinem Tode ein tapferes und vergnügtes Leben weiterführen können. Als Sie auf dem Hamburger Berg zu mir kamen als Herr Schmied aus Jüterbog, da stand ich schon seit Jahren in seinen Schuhen, und Sie wissen, wie ich lag und wie ich meine Klinge führte als Frau Direktor Cruse, als Mrs. Crusoe, als Mutter Robinson, auf beiden Hemisphären fest im Sattel.«

»Jedwedem armseligen Lebenskomödiantengesindel vor und hinter dem Vorhang doppelt und dreifach gewachsen!« rief der schwarze Peter, in heller Begeisterung lachend und mit einer Träne in seinem einzigen Auge.

»Ich hatte es ihm – meinem seligen Mann versprochen, mich wacker zu halten«, sagte die alte Dame, nachdenklich den Kopf wiegend, ohne viel auf den Enthusiasmus ihres gegenwärtigen Gastes zu achten. »Ich höre ihn noch in seiner letzten Stunde auf dem Gasthausbett: ›Lütt Dirn, denke immer dran, daß du es gewesen bist, die einen grauköpfigen Hanswurst am Hängen gehindert hat! Kleine Frau, lieb Kind, tue mir den einzigen Gefallen und kümmere dich um nichts, aber horche auf alles und sieh um dich wie der Vogel auf dem Zweige: für einen Menschen, der um sich her in der Welt Achtung gibt, kann immer noch was zwischen den Nagel an der Wand und den Strick in der Hand kommen.‹ – Nachher lachte er noch einmal so, wie er lachte, wenn man ihm als großem Komiker eine Liebenswürdigkeit sagte, und sah mich mit Augen an, die ich niemals vergesse, und dann – ab! Und ich mit seiner krampfigen Hand um mein Handgelenk – allein im Geschäft. Ja, lieber Schmied aus Jüterbog, bis dato ist mir immer noch was zwischen den Nagel und den Strick gekommen, und mit der Lebensverdienstmedaille unterm Hemde und unter der Haut sitzt die Mutter Cruse – glücklich unten angekommen, am Fuß der Leiter im alten Eisen. Und nun erzählen Sie mir von Ihrem jungen Weibe in Sicherheit und im Frieden zu Untermeidling.«

Achtes Kapitel

Peter Uhusen stand auf von seinem Sitze auf dem Lumpensack. Er fuhr sich mit der verstümmelten Hand durch den gewaltigen Haarbusch. Er holte tief Atem und rieb sich mit der gesunden Faust die Stirn und seufzte:

»Und diese – dieses Weib wünscht von – mir, von einem armen Tropf gleich mir, was Genaueres darüber zu erfahren, wie Menschen in dieser Welt treppab und treppauf gehen! Und sie schämt sich ihrer Heldenhaftigkeit und unterschlägt sie mir uns, dem gewöhnlichen Plebs, und verweist uns auf ihre Memoiren an der Stelle, wo ihr Kampf mit Dummheit, Bosheit und Trivialität für uns Alltagspöbel noch interessanter wird. Mama, liebe alte Mama, so lasse ich dich noch nicht! So mir die Götter gnädig sind, ist es nicht das letzte Mal, daß ich auf diesem Sack sitze und von diesem Keller aus die Erde endlich einmal im vollen Lichte liegen sehe! In Untermeidling habe ich mein liebes Weib auf dem Kirchhofe und Busch und Baum und im Sommer Weinlaub um Fenster und Tür und im Herbst Trauben und süddeutschen Himmel im Sommer und Winter über dem Dach. Sie sind eingeladen, das für die schönste Zeit des Jahres – für alle Zeit, solange es Ihnen gefallen mag, Mutter Cruse, mit diesem Keller zu vertauschen; aber für mehr als eine Winternacht hier im Keller mit der widerwärtigen Gasse draußen lade ich mich selber jetzt wieder bei Ihnen zu Gaste, Mama. Oh, und ich wollte, ich könnte noch meine Frau mitbringen!«

»Wie Sie zu der gekommen sind, wollten Sie mir erzählen, lieber Sohn«, sagte die alte Dame. »Ob wir zwei uns noch einmal unterm Rebendach oder im Lumpenkeller zusammenfinden und beieinanderhocken, das ist wohl nur eine Kuriosität. Aber wissen muß man, was neu zur Gesellschaft kommt! Der letzte Althändler sortiert da auch und rechnet nicht jeden, jede und jedes nobel zum alten Eisen.«

»Aus dem Feuer habe ich mir die Kastanie geholt«, rief Peter Uhusen, die verstümmelte Hand erhebend und damit auf die schwarze Nase und das verbrannte Auge deutend. »Es war eben eine heiße Zeit für den alten östreichischen Schmied von Jüterbog an der schönen blauen Donau. In Ungarn hatte er in der Artillerie Kriegsdienste getan, wie ich in den Veruneinigten Staaten. In Italien war er mit seinem Kaiser gewesen und hatte sein Geschütz in den fatalsten Schlachten sauber bedient. Vor Tod und Teufel fürchtete er sich nicht; aber mit seinen Gläubigern wußte er durchaus nicht umzugehen.«

»Das haben manche Leute so an sich«, sagte Frau Wendeline.

»Und also war es ein Glück, daß sein Mädchen auf mich verfiel, der sein lebelang auf das lieblichste mit dergleichen Halunken zu verkehren wußte. Sind Sie einmal in Wien gewesen, gnädige Frau?«

»Nur im Fluge.«

»Also sind Sie in Grinzing wahrscheinlich nicht bekannt. Im Krapfenwäldchen auch nicht und im Buchenwald über Schloß Reisenberg ebenso. Spukte es dort noch odisch-magnetisch vom seligen Freiherrn von Reichenbach her, ich kann's nicht sagen; aber was Magnetisches war an jenem Tage sicherlich dabei und in der Luft. Dort war's, wo ich mit meinem besten Theatertenor aus dem Busch trat und mich dem alten Hausrucker wie seinem Kinde ins Herz krähte. Ein Fäßlein Gumpoldskirchner hatte er zu Ehren von seines Töchterleins Geburtstage aufgelegt im Walde, und seine Zugharmonika hatte er mitgebracht. Na, Sie kennen mich, Mutter Cruse, und wissen, daß ich verstehe, mich den Leuten vorzustellen und gleich von der hübschesten Seite zu zeigen. Diesmal gehörte ich nach zehn Minuten vollkommen zur Gesellschaft; denn so wie diesmal hatten Licht, Luft, Landschaft, Tagesstunde und Menschen seit lange nicht zu mir gestimmt. Nachdem der Meister einen Augenblick der Abendsonne wegen die Hand über die Augen gehalten hatte, legte er sie mit militärischem Gruß an die Stirn und sagte: ›I hab die Ehr, Herr Kamerad, und es ist mir ein Vergnügen auf ein Glas Gumpoldskirchner, und die Madeln haben auch nichts dagegen.‹ – Mama, ich schmeichle mir, auch Sie hatten nichts dagegen, als ich kam. Die Damen haben gottlob immer selten etwas gegen mich einzuwenden gehabt, wenn ich gekommen bin. Kinder, wer da weiß, was er euch schuldig ist, sich nicht zu grausam vor euch fürchtet, nicht zu albern den Narren oder das Tier herauskehrt, der kann sich schon bei – euch Madeln angenehm machen. Auch noch als Veteran aus dem nordamerikanischen Sklavenkriege! Die Dümmsten von euch wissen hier noch immer sofort herauszufinden, wer von uns armen Sündern seine beste Zeit noch vor sich und für euch zur Verfügung hat. Selbstverständlich hatte ich auf dem Wege zum Kahlenberg hinauf den Alten am Arm und zog selber im Zug die Zugharmonika. Und noch selbstverständlicher hatte ich auf dem Heimwege den Volksmusikblasebalg wieder abgegeben und führte vom Leopoldsberg hinunter die Kleine im rosa Sommerkleide nach Nußdorf. Am folgenden Abend wußte ich in Untermeidling in der Werkstatt und dem Haus- und Schuldenwesen des alten Feuerwerkers Joseph Hausrucker ziemlich Bescheid, aber unter seinem verzauberten Birnbaum hinten im Hausgarten völlig. Bei allem, was lieb und herzig ist, war der Birnbaum richtig verzaubert! Und wer diesmal klebenblieb für Zeit und Ewigkeit, das war Ihr Herr Schmied aus Jüterbog, Mama Cruse! Anfangs saßen wir zu drei auf der Bank unterm Baum, der Alte, sie und ich, und nimmer logen zwei Konstabuler wie der vom Po und der vom Potomak einander so die Jacke voll. Nachher, als wir zu zweien saßen, sie und ich, habe ich mir Gewissensbisse genug darüber gemacht. Sie hatte auf ganz andere Dinge zu achten als auf unsere Abenteuer zu Wasser und zu Lande. Das arme Ding war eben nicht anders und besser dran als wie Sie, Mutter Cruse, wenn Sie in Sorgen und Bängnissen hinter der Szene die Groschen und Pfennige zählten, während wir andern leichtsinnigen Hanswürste draußen am Seil hingen und nicht wußten – wohin mit der Freud. Man kann den Tod und den Teufel im Sack haben und bei allem eigenen Lebensmut seiner liebsten und nächsten Nachbarschaft denselben vollständig nehmen.«

»Es ist gut, daß Sie es wissen, wie sehr Sie da recht haben, lieber Schmied«, seufzte Frau Wendeline.

»Weil ich's wußte, bin ich ja auf der Bank klebengeblieben und habe bei der Gant auf den Birnbaum im Garten, den Garten selber, das Haus, des Kaisers alten tapfern Feuerwerker und – das Kind mitgeboten und gottlob das letzte Wort und höchste Gebot gehabt. Es kam alles glücklicherweise billig weg; und als mein Mädchen mit Tränen fragte, ob es – es, Mutter Cruse!, das Gebot wert sei, da habe ich bloß einen Augenblick eine seiner goldenen Flechten in der Hand gewogen und sie ihm dann unter das süße, betrübte Wiener Näschen gehalten.«

»Sie sollen leben, Schmied von Jüterbog«, murmelte die Frau Wendeline.

»Nun ja«, seufzte der lange Peter melancholisch, »zuerst ging es damit an – mit dem Leben nämlich. Die Welt ist nicht lauter Zugharmonika, Straußsche Walzer und Übers-Faß-Rutschen beim heiligen Leopold, und der graue Kamerad gehörte eben zu den Glücklichen, die das nicht einsehen wollen und können. Nun ja, ich habe ihn recht vergnüglich zu Tode füttern dürfen, meinen braven Schwiegerpapa; und an dem gewohnten Getränk hat's ihm auch nicht gefehlt bis zum letzten. Ich war lange genug als Vagabund in der Welt herumgefahren, um ihm dankbar zu sein als ein guter Sohn für den Unterschlupf in seinem Haus und in seiner Tochter liebem Herzen! Als ich an seiner verpufften Feuerradshülse stand, hat's mir ebenso leid wie seinem Kind getan, daß sich das Ding nicht länger vergnüglich drehte. Und nachher habe ich sein Geschäft mit seinen und meinen Humoren fortgesetzt, und zwar in verbesserter Auflage. Sie hätten es damals, als ich als der verlaufene junge Herr Schmied aus Jüterbog unter Ihre Flügel kroch, wohl nicht für möglich gehalten, daß sich dieser Tagesschwärmer und Nachtfalter noch einmal, und gar im lustigen Wien, zu einem soliden Geschäftsmann durchfressen sollte – seinem Weibe zuliebe? Beide Fäuste gäbe ich darum, Mama, wenn Sie heute das Kind, mein Weib, mein liebes Weib, darum fragen könnten, Mutter, liebe Mutter Cruse.«

»Alles habe ich dir zugetraut, mein guter Sohn, mein tapferer Sohn! Ach, Schmied aus Jüterbog, unter allen Umständen ist Ihre Art, im alten Eisen anzulangen, nicht die trostloseste, glauben Sie es mir!« seufzte die alte Dame, ihre Augen trocknend.

»Ja, im alten Eisen!« rief der Schulbankgenosse des Herrn Hofrats Dr. Brokenkorb. »Es ging heiß her im Kampf um Soll und Haben in unserer jungen Ehe. Mußten mir die Gliedmaßen, die ich aus dem amerikanischen Sklavenkrieg heil davongebracht hatte, hier an die Wände und gegen die Decke des Laboratoriums von Hausrucker und Kompanie fliegen! Es gab auch einen recht netten Krach dabei, der mir mein jung blühend zweites Leben von der Bank unterm Birnbaum im Garten im Sprung in den Qualm, das Kopfunter, Kopfüber der höchst überflüssigen Zündmasse-Explosion hineintrieb. Solange ich Atem hole, werde ich den süßen Atem meiner jungen Frau auf meinem Gesicht spüren, wie sie mich faßte und nach Leben und Tod auf der gebratenen, blutenden Alt-Söldner-Fratze suchte. Mama, es war wahrhaftig nichts Besonderes, in dem Moment dem Liebchen zu sagen: ›Herz, es hat nichts auf sich!‹ und dem Esel von Lehrbub, der das Unheil angerichtet hatte, den nächsten Wasserkübel über den Kopf zu stülpen. Ach, ja, meiner Schönheit wegen nahmen Sie mich seinerzeit auch nicht, Mutter Cruse; und was mein Donauweiblein anbetraf, so genügte es, daß es mit jedem Rest davon zufrieden war.«

Der Erzähler stand jetzt und reckte sich und schien die unverletzte Faust noch einmal auf ihre Kraft zu Abwehr und Angriff im Lebensgeschäft zu prüfen. Die alte Dame wühlte im dunkelsten, unheimlichsten Winkel ihres jetzigen Geschäftslokals unter ihren Handelsartikeln. Ohne sich an das Geklirr und Geklapper, welches sie in der Tiefe ihrer Höhle verführte, zu kehren, sprach Peter Uhusen weiter hinein in die Finsternis und den durchaus nicht lieblichen Moderduft des Abfallkellers.

»Ach Mama, Mama Cruse, Sie hätten dabeisein müssen, als sie, meine Frau, mein Weib, mein liebes Mädchen, sich noch solch einen argen Abzug an meiner Holdseligkeit gefallen lassen mußte. Sie vor allen, Mutter Cruse. Denn wenn jemand außer der Emerenz in den gemütlichsten, behaglichsten Stunden, Tagen und Wochen meines Daseins mir mit am Bette hätte sitzen sollen, so wären Sie die Person gewesen. Das Kopfende ließ sich freilich durch anderthalb Monde bei Tag und bei Nacht Emerenz Uhusen nicht neh men; und so hab ich's, zerfetzt, halb gebraten, halb blind, in Erfahrung gebracht – endlich im Leben in Erfahrung gebracht, wie behaglich es tut, sich gut gebettet zu haben!... Und nun soll ich wohl Ihnen das Nähere und Weitere davon berichten, wie ich an meiner Frauen Kopfkissen neulich zur Vergeltung zu sitzen hatte und wie ich sie gut betten mußte – oh, so gut, so weich, so tief und so in die Stille, daß sie sehr töricht wäre, wenn sie fürs erste den Kopf wieder unter der Decke vorstreckte?! Es ist ganz mit rechten Dingen zugegangen, wie ja alles in der Welt so zugehen soll. Aber – liebe alte Mutter, fragen Sie jetzt nicht weiter danach, wie sie mir nur zu tief, zu sanft einschlief und vorher nur sagte: ›Behalte mich lieb, ich habe dich auch liebgehabt, Peter.‹ – Jaja, Mutter Cruse; zwei saubere Lebensveteranen finden wir uns wieder! Zerhauen, zerfetzt am Leibe und kummervoll in der Seele und einsamer denn je auf dem Wege. Wer von uns beiden hat nun noch mehr als ein stoisch, stumpfes Achselzucken für den guten Freund? Ich oder Sie bei den Lumpen und Knochen?«

»Und – im alten Eisen!« sagte Frau Wendeline Cruse, die nunmehr das, was sie suchte, unter ihrem Vorrat gefunden hatte und fürstlich, königlich wie in ihren besten Lebenstagen und an ihren stolzesten Bühnenabenden vor ihrem Herrn Schmied aus Jüterbog stand, und zwar gestützt, mit beiden Händen am Griff, auf den alten Degen, den sie vorhin in der Überraschung dieses Wiederfindens hinter sich in ihr altes Eisen geschleudert hatte. Und seltsamerweise fragte sie dazu: »Und jetzt kommen Sie natürlich von Lübeck, mein armer Schmied von Jüterbog?«

Uhusen sah sie nur einen Augenblick verwundert an, dann aber sagte er gleich mit vollstem Verständnis der Frage:

»Der Tröstungen der süßen Heimat wegen? Nein, Mutter Cruse, nur bis Mölln kam ich, wo mir ein altes Gedenkzeichen aus der Jugendzeit, ein Stock, den ich vor Jahren aus einer lübischen Hecke geschnitten hatte, bei einer letzten, braven alten Tante noch im Winkel stand. Was die Vaterstadt anbetraf, so schnarrte es seltsam in Mölln unter einem alten Grabstein mit Eule und Spiegel hervor: ›Nimm Rat an, alter Junge, Bruderherz! Bin ich nach irgendeinem Daseinsjammer und -jokus jemals wieder in Kneitlingen gewesen? Hat mein Chronist mir je solch ein Wagnis nachweisen können? Was willst du suchen, und was kannst du finden da – zu Hause, Bruder Schmied aus Jüterbog? Gehst du im Katzenjammer hin, so schneiden dir die alten Gassen, Plätze, Häuser und Türme sehr kuriose Gesichter und verhelfen dir trotz allem Kindheitsglockenklang wahrlich nicht zu einem tröstenden sauern Hering. Wünschest du aber mit deinen Lebenstaten und -errungenschaften großzutun, na, so halt dich meinetwegen an die Menschen, alte und neue; ich bin fest überzeugt, du wirst dich nicht lange über die erste Wirtshausrechnung und Herzerleichterung hinaus im versunkenen Jugendvineta aufhalten. Höre Vernunft, Uhusen; laß die Toten von den Toten begraben worden sein. Der alte Papa und die Tante Gottliebe, und was sonst dazu gehörte, werden es dir nicht übelnehmen, daß du ihnen nicht auf den Kirchhöfen nachkriechst, um ihnen von den goldenen Flechten und blauen Augen unter dem grünen Hügel in Untermeidling zu ihren verwahrlosten Ruhestellen hinunterzuflüstern. Wir warten schon in aller Ruhe, daß man uns nachkommt: ich für mein Teil seit dem Jahre eintausenddreihundertundfünfzig. Was willst du noch zu Hause, Peterchen aus der Fremde? Vielleicht auf hie und da einen gemütlichen Frühschoppen, auf eine behagliche Kneipnacht an den alten bekannten Orten über und unter der Erde dich vertrösten? Probiere es nicht, rate ich. Es ist nicht anzuempfehlen, sich zu abgestandenen Krügen und altgewordenen Jugendbekanntschaften zu setzen. Halt dich an dein jetziges Blau-, Grün- und Rotfeuer, suche deinen Raketensatz lieber überall anderswo als in der Stadt Lübeck zu verstärken. In Berlin zum Exempel haben sie einige Lichteffekte, von denen ihr selbst in Wien noch nichts wißt. Da es nicht anders sein kann, reise ruhig in – Geschäften! Gehe nach Berlin, es ist das beste, so wahr ich – hier aufrecht vor dir begraben stehe.‹ – Mama Cruse, das gab den Ausschlag. Da sie wirklich in Lübeck nichts wissen konnten von Frau Emerenz Uhusen, bin ich einfach – in Geschäften in Berlin.«

»Aber einen alten Bekannten aus der Heimatstadt gedachten Sie doch auch hier am Orte aufzusuchen? – auf die Gefahr hin, sich auch hier zu abgestandenen Schoppen und Freundschaften einzuladen.«

»Jawohl«, brummte der schwarze Peter. »Es ist dann und wann auch in der Neuen Freien Presse von dem großen Mann, dem berühmten Menschen Albin Brokenkorb die Rede. Wir sind gute Freunde gewesen und auseinandergekommen, wie man so im Leben auseinanderkommt. Was eine Wirklichkeit war, wurde zu einem Namen, einem Klang und blieb lange Jahre weiter nichts als das. Dann aber wird bei Gelegenheit solch ein Klang wieder zu – zu einem Schatten, auf den man sehen kann, auf den man hinsieht und der, je länger man auf ihn hinsieht, desto mehr Knochen, Blut und Fleisch bekommt. Zu gelegener Zeit faßt man dann mal die ganze Erinnerung in ein Bündel von Wehmut, Ärger, Anhänglichkeit und dem Bedürfnis, nachträglich noch eine Tracht Prügel auszuteilen, zusammen; und – so haben Sie recht, Mama, ich habe, wenn auch keine Sehnsucht, so doch ein Verlangen nach dieser Jugendfreundschaft gehabt. Und gestern abend schon war ich vor der Tür des alten Jungen. Er hat mit seinen Talenten zu wuchern gewußt; na der Himmel segne ihm seine Glorie! Da ich ihn nicht zu Hause traf, habe ich ihm meine Visitenkarte dagelassen. Meinen Weißdorn aus dem Altjungfernwinkel zu Mölln.«

»Einen Knüppel haben Sie dem Herrn Hofrat Brokenkorb in die Stube geschickt?« rief die Frau Wendeline.

»In Lübeck hatte ich ihn stehenlassen, ehe ich in die Welt, zu den Hannoveranern, zu Ihnen, Mama, in den Sklavenkrieg und nach Untermeidling ging. In Mölln hat ihn mir, wie gesagt, meine letzte kimmerische Tante aus dem Winkel geholt und gesagt: ›Der ist aus dem Nachlaß der Tante Gottliebe, und es hing früher ein Zettel dran, daß er für dich aufgehoben werden sollte.‹ – Albin wird sich der Bocksfratze am Griff auch wieder erinnern.«

»Da, Peter Uhusen!« rief die Frau Wendeline, ihren Gastfreund gegen die Treppe ins hellere Licht ziehend. »Ich wollte dich damit zum Ritter schlagen, nun aber frage ich dich nur: sollte nicht auch dies einiges Interesse für den Herrn Doktor Brokenkorb haben?«

Sie gab den Degen dem Gast in die Hände. Der lange Peter nahm ihn mit einigem Erstaunen und besah natürlich zuerst den Griff, an dem die Parierstange abgehauen war, was ziemlich sicher dartat, daß die Klinge wirklichen Dienst gesehen und in der Männerschlacht mitgefunkelt habe.

»Ja, geh nur damit ins Licht!« murmelte die alte Dame. »Ins Licht, so hell es der Tag und der Kehrichtkeller der alten Extheaterdirektorin, der Frau im alten Eisen, zu bieten haben. Wundere dich nur, wie eine andere Regie ihre Requisiten zu Lustspiel und Trauerspiel in Ordnung hält. Die Klinge, die Klinge, Peter Uhusen aus Lübeck!«

Und die Waffe zitterte in der Hand des starken Mannes, als jetzt sein Auge an dem alten Eisen niederglitt und er auf der einen Seite der Klinge las:

»1848, 9.April – Bau. – 1849 – Kolding, Gudsö – Fridericia.«

Und auf der andern Seite:

»Armee von Schleswig-Holstein. Wolfram Hegewisch.«

Peter Uhusen fuhr mit der verstümmelten Hand über die Stirn:

»Hegewisch!... Erdwine Hegewisch!... Ich träume dies!... Der Herr Leutnant... die Frau Adele – großer Gott, Erdwine Hegewisch! Albin, Albin! Das Haus und der Garten an der Trave, mein Vater, die Tante Gottliebe – die Frau Senatorin! Frau, Freundin, Mama Cruse, beste Mutter Cruse, wie kommen Sie zu dieser Plempe, dieser sonderbaren, teuern Klinge, die ich so oft in den Händen gehalten habe, die mir durch meine besten wundervollsten, lächerlichsten und abschmeckendsten Jugendtage blitzte?«

»Wie man im alten Eisen zu solch einem alten Eisen kommt, Herr«, sagte Frau Wendeline ohne alles Pathos, aber dafür mit desto echterm Ernste.

Neuntes Kapitel

Der lange Peter trat fehltretend von den Stufen der Kellertreppe, die er des bessern Lichtes wegen bestiegen hatte, herab in das Dunkel des Gewölbes. Er faßte, die Waffe des ersten schleswig-holsteinschen Freiheitskrieges mit dem Rest der verstümmelten Hand haltend, mit der gesunden den Arm der Freundin, und zwar nicht bloß, um sich im Stolpern auf den Füßen zu erhalten.

»Jetzt sagen Sie, woher Sie das Ding haben, alte Zauberin! In welche Wunderhöhle bin ich geraten? In was für ein Traum- und Märchendüster soll ich noch versinken? Ich bin nicht nach Lübeck gegangen aus Furcht vor aller vorweltlichen Süßlichkeit und Verdrießlichkeit, und da – hier kommt Lübeck zu mir, und wieder einmal könnte der zweite Betrug ärger werden denn der erste. Wie gerät dieser tragikomische oder vielmehr komisch-tragische Säbel jetzt zu mir und meinem Stock, und zwar bei dieser schon so wundervollen Zufallsbegegnung?«

»Wissen Sie gewiß, Freund, daß das nur eine Zufallsbegegnung war? Ich wußte wohl, wie das Sie in die Höhe jagen würde, obgleich mir selbst der Name auf diesem Stück alten Eisen natürlich nur eine dunkle, undeutliche Erinnerung ist. Jaja, Schmied aus Jüterbog, wie machen es die Toten, um noch einmal ein Wort im Verkehr der Lebenden mitsprechen zu können? Ich habe Sie jungen Narren nicht umsonst auf meines Mannes Bühne als Meerkater zu Gast gehabt und habe nicht umsonst als Gast der Soireen der Frau Senator Brokenkorb ›Heraus in eure Schatten, rege Wipfel!‹ rezitiert. Hegewisch? Ich hatte eben mit Mühe mit meinen alten Augen den Namen auf der Klinge entziffert und mich gefragt: ›Ist dir nicht einmal ein Träger solches Namens über den Weg gelaufen?‹, als Sie die Gasse herunter kamen. Das Kind, der Junge, der diesen guten Degen für eine Düte Sargnägel bei mir, unter dem alten Eisen der alten Wendeline Cruse, zum Pfand lassen wollte –«

»Das Kind? Der Junge? Was für ein Junge? – Um Gottes willen!«

»Nun, ein Knirps von ungefähr zwölf Jahren. Einer von der Art, wie ich sie alle Tage vor meiner Tür am Schopf oder am Ohr zu nehmen habe, um mir die notdürftigste Ruhe und einige Sicherheit vor dem Pfeifen, Zischen und Werfen mit faulen Eiern zu verschaffen. An dieses Publikum vor den Lampen habe ich wohl nicht gedacht, als ich, meiner armen Eltern Kind, in das Ideal durchging; aber das Schicksal lehrte es uns, auch mit ihm den Kampf weiterzuführen. Am Fuße der Leiter, Uhusen! Im alten Eisen, Schmied von Jüterbog! Der Gasse da draußen dann und wann eine zu gute Komödie, eine fast ans Tragische streifende Komödie, mein tapferer Kamerad aus dem Sklavenkrieg ums Dasein! Meinen Sie nicht?«

»Geht sie nicht gutwillig, nehme ich sie mit Gewalt mit nach Untermeidling«, murmelte Peter Uhusen; doch das andere Interesse überwog augenblicklich zu sehr. Mit vor Aufregung zitternder Stimme rief er:

»Der Junge? Der Junge mit dem Degen des Leutnants Hegewisch, Mama, liebste, beste, tapferste alte Mama?!«

»Jawohl. So dachte ich natürlich zuerst, das ist auch einer aus deiner jetzigen Nachbarschaft im Erdenkriege, und nahm ihn also schon auf der Treppe am Kragen und führte ihn mit mir herunter, wie ich so manche andere, junge und alte – als ich noch meine jungen Locken schüttelte – mit hinter die Kulissen genommen habe, um ihnen meinen und ihren Standpunkt klarzumachen. Wie ich auch euch, Sie Hansnarr, und Ihren Freund, den großen Herrn Hofrat Brokenkorb, kurz euch beide dummen Jungen aus dem Gassenpublikum, hinter dem Vorhang gehabt habe zu einem vernünftigen Zwiegespräch.«

»Ich bitte Sie um alles in der Welt, lassen Sie jetzt den großen Brokenkorb und den abgeschmackten, lächerlichen Knieschlotterer Uhusen!« murmelte der Schmied aus Jüterbog.

»Sie gehören doch wohl dazu«, sagte Frau Wendeline. »Ich hatte da im Hintergrund des trüben Morgens wegen beim Lumpensortieren mein Lämpchen noch brennen; und bei dessen Schein sieht mich der Junge an und sagt: ›Ich habe keinen Unsinn im Kopfe; ich möchte nur für einen Groschen Nägel, aber ich habe auch kein Geld.‹ – ›Und das soll kein Unsinn sein, du Schlingel?‹ meine ich und schüttele das arme Geschöpf weiter. ›Euch kenne ich! Ein Nagel zu meinem Sarge möchte jeder von euch werden. Es steht wohl deutlich genug draußen geschrieben, daß hier nur mit altem Eisen gehandelt wird.‹ – ›So geben Sie mir den Groschen hier für meines Großvaters Offiziersdegen, und wenn Sie ihn mir aufheben können, bis ich ihn wieder abholen kann, so sollen Sie, so sollen‹ – ich lasse jetzt das Schütteln und ziehe das Kind näher an die Lampe: ›Was soll, was soll ich dann?‹ – ›Mir die Erste und Liebste auf Erden sein; aber ich habe nichts mehr weiter auf der Erde als den Degen hier, und ich brauche für einen Groschen Nägel!‹ – ›Wozu? Für wen?‹ – ›Für meine Mutter.‹ – ›Und deine Mutter schickt dich?‹ – ›Nein, meine Mutter ist tot, und sie haben uns den Sarg geschickt, aber die Nägel vergessen; und ich bin der letzte Erbe, und der Degen ist nicht gestohlen, und ich habe Sie niemals mit geneckt, Madam, und wenn Sie mir ihn aufheben wollten, so würde ich ihn wiederholen und das Geld zurückbringen, sobald ich kann.‹«

»Und Sie fragten den Knaben nach seinem Namen, nach der Wohnung seiner Mutter?« rief Peter Uhusen; aber die alte Komödienmutter ließ sich in ihrer Weise der Darstellung nicht irren. Sie erzählte gut, und das Ding lebte in jedem ihrer Worte, in jeder ihrer Handbewegungen und sonstigen Gebärden.

»›Ich würde das Geld wiederbringen, sobald ich es habe‹, sagte der Junge, ›und wenn Sie dazu einen Groschen für Milch für meine kleine Schwester und für Brot für uns beide leihen wollten, so wollte ich mich schön bedanken und, wenn Sie mich nach der Schule wozu brauchen können, es gern abverdienen hier im Keller.‹«

»Der Name – die Wohnung des Knaben – der Frau – der Kinder!« rief Uhusen, mit dem Fuße aufstampfend, in zitternder Faust das in so seltsamer Weise ihm in den Pfad geworfene Memento seiner Jugendzeit, dies wundervolle Erinnerungszeichen der besten, sonnigsten, phantasienreichsten Tage seiner Kindheit und Jugend.

»Schulzenstraße Numero zehn – fünf Treppen hoch. Nur Ruhe, Schmied aus Jüterbog! Ja, der Name, der Name? Ob sich wohl Ihr Freund Albin mit Hülfe Ihrer Visitenkarte des Namens Erdwine Hegewisch wieder erinnert hat? O ihr Mondscheinnächte von Travemünde, ihr Segelfahrten mit Zither und Waldhorn auf der Lübischen Bucht. Jaja, Herr Schmied aus Jüterbog, der Erde Lust, Zierlichkeit, Lieblichkeit, Glanz und Fülle mag noch in grimmigerer Dunkelheit zu Ende kommen als wie hier in meiner Versenkung, im düstern Keller, im alten Eisen, unter den Knochen, abgetragenen Kleidern, Lumpen, Lappen, und was man sonst so Abfälle des Lebens zu nennen pflegt.«

Dem Firmainhaber von Hausrucker und Kompanie in Untermeidling war es zumute – nicht wie am stillen Sterbebette seines Weibes, sondern wie im ärgsten Lärm einer seiner amerikanischen Schlachten, oder noch besser wie damals, als ihm seines Schwieger Vaters Laboratorium um die Ohren flog und ihm das halbe Gesicht und das beste Stück von der einen Faust an die Wände und gegen die Decke mitnahm. Es waren aber auch nicht des Daseins Mondscheinnächte, wie sie ihm Frau Wendeline in die Erinnerung zurückrufen wollte: es war der Sonnenschein über den Nachbargärten, die grüne, lebendige Hecke, die dieselben voneinander schied, welche in dieser Stunde, in diesem Augenblicke die alte Waffe in seiner Hand gespenstisch vor ihm aus dem Dunkel aufsteigen ließ. Es ging ein Leuchten von der Klinge aus – das Blitzen, wie es in einer Gewitternacht den fernsten Horizont zeigen kann.

»Da lag die Welt einst in der Sonne!« sagt dann der Wanderer auf der Landstraße, der Schiffer auf hohem Meer, der Fahrgast im Eisenbahnzuge oder der Mann und die Frau, die einsam um Mitternacht die Stirn an die Fensterscheibe drücken und nur die regentriefende Gasse, das spiegelnde Pflaster im Laternenschein und den dunkeln Himmel über den Dächern zur Aussicht haben. Der starke, gute Mann in dem trostlosen Alterszufluchtsort der starken, guten, weisen Frau, der großen Frau Wendeline Cruse, murmelte:

»Dies träume ich, oder es hat mich jemand am Kragen von Wien her in diese jetzige Stunde hinein vor sich her geschoben! Madam, ich wiederhole es Ihnen, ich habe gestern abend meinen Stock bei meinem Freunde Albin als Visitenkarte abgegeben!«

»Und ich will Ihnen helfen, durch den heutigen Tag zu kommen, Uhusen, und ihn wo möglich zu einem guten Ende zu bringen. Gehen Sie bei Ihrem Freunde, unserm Herrn Hofrat, nach Ihrem Stock jetzt den Degen des Leutnants Hegewisch ab. Nehmen Sie eine Droschke, holen Sie den Mann, wo möglich in aller Güte, möglichst rasch hierher zu mir. Das beste wird freilich sein, wir drei alten guten Bekannten gehen zusammen zu den Kindern der schönen Erdwine Hegewisch, eurer Prinzessin aus Traumland. Jaja, wir stehen unter einer seltsamen Regie, Freund Schmied aus Jüterbog, alias Peter Uhusen aus Lübeck. Und dieser Direktion gegenüber ist noch niemand kontraktbrüchig geworden.«

Zehntes Kapitel

Sie aßen und tranken, und als sie satt waren, hatten sie den ganzen Tag über nichts mehr zu tun, und den nächsten Tag, den Montag, auch.

So ging ja wohl das erste Bruchstück dieses Berichts, und zwar das, welches bis jetzt von den Hauptpersonen handelte, zu Ende? Und nun – von wieviel Leuten und Dingen, Verhältnissen, Gegenständen, Um- und Zuständen haben wir reden müssen, ehe es uns jetzt gegönnt wird, zu dem schaurigen Anfang zurückzukehren und mehr davon zu sagen, was die Worte zu bedeuten hatten: und den nächsten Tag, den Montag, auch...

Den ganzen Sonntag und den Montag auch hatten die zwei Kinder nichts zu tun. Es kam keiner aus dem Hause zu ihnen; aber man schob ihnen wieder Brot und Kaffee vor die Tür, und zu Mittag klopfte es sogar an derselben, und als der Junge draußen nachsah, fand er auf der Schwelle einen Napf mit warmer Suppe und einem Stück Fleisch darin. Sie lebten sowohl am Sonntag wie am Montag sehr gut. So gut wie seit lange nicht! Und der Junge sagte das auch. Es ist aber doch nicht wiederzugeben, wie diese Zeit eigentlich hinging; die beste, die sonnigste, die grimmigste Phantasie von uns Erwachsenen verliert sich da über alle Grenzen des Nachempfindens hinaus in unbestimmte Reiche des Grauens.

Morgen und Abend; Nacht, Morgen und Abend und wieder Morgen! Wie das da über dem Durcheinander der Hunderttausende in der leeren Kammer, so voll von Schrecken, Dämmerung und Nacht und zu seiner Zeit wiederum Dämmerung und Tag geworden ist: es können wohl Mütter bei der Vorstellung ihre Kinder fester an sich drücken und nur verworren denken:

›Lieber nähme ich euch mit, ja – schickte euch – voraus!‹

Je länger diese tote Mutter nicht sprach, desto mehr fürchtete sich ihr jüngstes Kind vor ihr und wagte nicht, nach ihr hinzusehen. Da war es sehr nützlich, daß die ältere Waise, daß der Junge in den Gassen aufgewachsen war und schon mehr tote Menschen gesehen hatte und wußte, daß die Toten nicht reden. Aber noch besser war es, daß er, wenigstens an diesen beiden Tagen und in diesen zwei Nächten, den Degen seines Großvaters noch zur Abwehr besaß und ihn im linken Arm hielt, mit der tapfern rechten Faust am Griff, wenigstens wenn die kleine Schwester schlief. Wenn sie wachte, mußte er freilich die mit dem linken Arm umfassen und ihren Kopf an seine Brust drücken; aber dann legte er jedesmal die alte Waffe aus dem schleswigholsteinschen Kriege, den seinerzeit viele Leute für etwas sehr Bedenkliches, sehr Aufregendes, sehr Schreckliches hielten, über seine und ihre Knie und hielt auch so die rechte Hand am Griff.

Wie verschollen das für uns ist, diese an die alte Klinge sich knüpfenden Historien, die schlimmen Geschichten aus den Jahren achtundvierzig, neunundvierzig und fünfzig, die nachher doch auch zu einem ganz guten Ende gekommen sind! Wie das fernher klingt von dem offenen Brief Christians des Achten, von den Generalen Wrangel, Bonin und Willisen, von dem Waffenstillstand zu Malmö, dem Frieden von Berlin, dem Londoner Protokoll! Bau, Kolding, Gudsö, Fridericia, Idstedt und Friedrichstadt: wer vernimmt den verklungenen Gefechtslärm noch unter dem Nachhall des wirklichen Schlachtendonners, der jenen Namen gefolgt ist? Und Sieger haben auch damals und dort gejauchzt und Besiegte geweint oder mit den Zähnen geknirscht; und der Degen von Bau, Fridericia und Idstedt war ein guter Degen, obgleich er einem Besiegten angehört hatte, einem Unterlegenen, nicht bloß in jenen winzigen Schlachten, sondern auch in einem grimmigern Kampfe, dem um des Menschen Dasein auf Erden überhaupt.

Und die gute, edle Klinge tat ihre Pflicht auch in der Hand des neuen Erdenkämpfers – durch den Sonntag und den Montag, bei Tage und in der Nacht, bis sie auch ihm entwunden wurde und in das alte Eisen geriet, wir wissen schon, wann und wo.

»Sei nur still, Paule«, sagte der Knabe, »solange ich den hier habe, tut uns keiner was. Ich fürchte mich vor der Mama gar nicht, und für die andern hat sie mir ja grade diesen aufgehoben und ihn nicht mit unsern andern Sachen verkauft. Du weißt, wie blank er blitzt, wenn die Sonne scheint, und, guck, ich halte ihn mit ausgestrecktem Arm schon eine Minute lang, ohne mit der Hand zu zittern. Wenn ihn der Großpapa aus der Scheide gezogen gehabt hat, haben auf dem Schlachtfeld viel Tausend Tote um ihn her gelegen. Schlafe du nur ruhig wieder ein, Paulchen; ich bin wie auf Wache bei dir und auch bei der Mama. Sie kann ja nichts dafür, daß sie dir Angst macht, und sie hat gesagt, daß sie sich auf mich verläßt und daß ich ein tapferer Held für dich sein soll.«

»Und wenn sie die Mama im Wagen abholen, so fahren wir auch mit aus?«

»Sie haben es mir versprochen. Aber nachher gehen wir in die weite Welt, und es ist mir einerlei, was sie in der Schule sagen, wenn der Lehrer mich aufruft und einer von uns Jungens sagt: ›Er ist nicht da; seine Mutter ist gestorben und hat ihm seine Schwester anempfohlen, und sein Großpapa war ein berühmter Offizier in den größten Kriegen, und er ist mit seiner kleinen Schwester und seines Großvaters Degen in die weite Welt gegangen‹...«

Die gute Klinge hatte im hellsten Sonnenschein auf keinem der winzigen Schlachtfelder diesseits und jenseits des Danewerks je einen solchen Glanz gegeben wie an diesen dunkeln Tagen, in diesen schrecklichen Nächten! Wie alle guten, echten Schwerterklingen hatte sie, obgleich sie zuerst nur von einem »Enthusiasten«, einem »Phantasten«, einem »halbwegs närrischen armen Menschen« geführt worden war, etwas von dem Zauber an sich, der Gram, Mistelteier, Mimung und Balmung, der der Joyeuse des Kaisers Karl, dem Durandel Rolands des Paladins und dem Flamberg Richards von Montalban zu einem Leuchten bis in unsere Tage verholfen hat. Wer weiß, wieviel jene Helden, so jene Degen führten, von ihrer Begeisterung, ihrer Phantasie und ihrer »Unzurechnungsfähigkeit« an den armen, törichten Leutnant im Heerbann der meerumschlungenen Herzogtümer Schleswig und Holstein weitergegeben hatten? Wir lassen keinen Spott auf die Vererbung menschlicher Würden, Eigenschaften und Eigentümlichkeiten von den Ahnen her, was die Gelehrten Atavismus nennen, kommen und sind herzlich froh und sehr dankbar in betreff dessen, was diesmal von dem Großvater auf den Enkel übergegangen ist mit dem alten Eisen von Bau, Kolding und Fridericia.

Welcher Lebende war je unter den Toten des ausgedehntesten Schlachtfeldes so allein und so angewiesen auf den Schwertsegen im Dasein, auf den Zauber im alten Eisen, wie dieser unmündige Knabe, der eben sagte:

»Kriech nur dichter mit unter meine Jacke. Du mußt dich nicht fürchten vor der Mama. Wenn du nicht schlafen kannst, will ich dir wieder eine schöne Geschichte erzählen, bis du einschläfst.« –

»Ja, eine schöne Geschichte, von der Mama ihren –«

»Ja, von der Mama ihren –!«

Das Wort ist immer von neuem wieder gesprochen worden zwischen den beiden Unmündigen – ein wunderwirkendes Wort von den Geschichten, welche die Mütter zu erzählen wissen. Die tote Frau hatte es nicht geahnt bei ihrem Leben, wieviel sie gewußt, wieviel sie weitergegeben hatte von ihren Geschichten, ihren schönen Geschichten. Da jedoch alles so weitergegeben wird, was beklagen die Lebendigen die Toten? Es sind aber auch nur die Vernünftigen, die das tun; die zwei Kinder, die beiden Waisen dieser stumm gewordenen Mutter, taten es nicht.

»Fürchte dich bloß nicht! Der Mama und dem Großpapa ist's auch oft schlimm ergangen in der Welt; aber sie haben sich doch durchgeholfen. Und ich helfe dir und mir auch durch, Paule, mit des Großpapas Kriegsdegen«, sagte der Knabe.

Er hätte hinzusetzen können:

›Und mit der Mama schönen Geschichten aus ihrem schlimmen Leben‹; aber zu denen gehörte er und sein Schwesterchen ja selber, und so konnte er diesen Zusatz nicht machen. Welch ein wundervolles Kindermärchenbuch würde das werden, wenn wir jetzt nachschreiben könnten, was alles die arme Erdwine ihren Kindern erzählt hatte, alles, womit sie sie in den Schlaf und über Hunger und Kälte, Mißhandlungen draußen und im Hause, über Trotz und Tränen weggesungen hatte! Nun lag und schlief sie selber und wußte selbst nichts mehr von Hunger und Kälte, Mißachtung, Trotz und Tränen und hörte auch nicht mehr, wie ihre Geschichten, ihre schönen, wunderschönen Geschichten, nachklangen in der Welt und nochmals Hunger und Kälte, Angst und Grauen, Trotz und Tränen überwältigten. Nun kam es in diesen Nächten und Tagen zum Vorschein, wieviel von ihres Vaters Überspanntheit, seinem »Beruf für die tausend und eine Nacht«, seiner »Unzulänglichkeit im praktischen Leben« zum Segen für ihre Kinder auf die übergegangen war. Was alles hat sie mit dem närrischen alten Eisen von den Unglücksstätten bei Bau, Fridericia, Idstedt weiterzugeben gehabt an ihren Sohn und Erben von seinem Großvater her!

Der Mutter Märchen und Geschichten haben die Kinder lebendig erhalten; wir aber erzählen nur eine von den letzteren nach, wie sie Form, Farbe und Gestalt angenommen hat in dem tapferen Jungen, der bis zum Dienstagmorgen sein Schwesterchen mit dem Degen des Leutnants Hegewisch in der Faust beschützte.

»Mama ist auch tapfer gewesen und hat sich ihr ganzes Leben durch nicht gefürchtet. Sie ist auch lustig gewesen, dem Großpapa schon zuliebe, wie sie mit uns lustig gewesen ist, wenn es mit uns nicht gar zu schlimm ging und der Papa nicht zu krank und zu ärgerlich war. Und der Großpapa ist der Beste aller Menschen gewesen und niemals ärgerlich. Und er ist auch der Klügste von allen Menschen gewesen, das hat sie aber noch nicht mal vor dem Papa sagen dürfen, denn der hat sie damit ausgelacht; ich habe es wohl gemerkt. Aber der Papa hat wohl nichts dafür gekonnt, denn es hat ja niemand gewußt, wie klug und weise der Großpapa sei. O der hat Geschichten gewußt, noch viel schöner als der Mama ihre, weißt du, sagt die Mama, aber das kann doch auch eigentlich keiner glauben! Aber die Menschen und wir Kinder müssen an die Geschichten glauben, sonst bleibt es dummes Zeug, und so ist es dem armen Großpapa gegangen. Weil keiner ihm geglaubt hat, ist er auch arm gewesen und hat mit der Großmama und der Mama, als sie so klein war wie wir, in der weiten Welt herumziehen müssen; denn alle seine Tapferkeit in den Schlachten und seine Klugheit und seine Weisheit hat ihm nichts geholfen; denn es hat keiner von dem Krieg, in welchem er gewesen ist, nachher was wissen wollen. Und die Großmama zuletzt auch nicht, obgleich sie ihn zuerst darum so liebgehabt hat wie die Mama uns, dich und mich und den seligen Papa, von dem du nichts mehr weißt, Paule.«

»Er war böse mit mir und hat mich geschüttelt, wenn ich des Nachts geweint habe; und Mama hat mir nichts singen dürfen.«

»Er ist krank gewesen, so schlimm krank, Paule, daß er seine Geige nicht mehr spielen und nicht mehr anhören konnte; und in ihrer Krankheit wußte auch Mama manchmal nichts mehr von mir und dir. Ich habe mir nichts daraus gemacht, wenn er krank nach Hause gekommen ist und mich geschlagen hat; denn wenn er nachher eingeschlafen ist, hat mich die Mama am liebsten auf den Schoß genommen und mir die schönsten Geschichten erzählt. Die Mama hat so sehr viel in ihrem Leben erlebt, denn sie ist ja schon vier Jahre vor dem Kriege geboren, in welchem der Großpapa die größten Heldentaten verrichtet hat und Offizier und Leutnant geworden ist, und ich will auch viel erleben. Und ihre Mama, unsere Großmama, ist eine so sehr vornehme Frau gewesen, und sie sind alle so weit in der Welt herumgezogen, und weil sie so viele Not gelitten haben und keiner dem Großpapa geglaubt hat, ist die Großmama wieder mit ihnen nach Hause gezogen, wo ihre Eltern einst unmenschlich reich gewesen sind und sie viele andere reiche und vornehme Leute zu Freunden gehabt hat. Wir haben die Stadt in der Schule schon in der Geographie gehabt, sie heißt Lübeck und liegt an dem Fluß Trave, und der geht in die Ostsee, und auf die See gehe ich auch, wenn es mir nicht auf dem Lande glücken will; aber dir baue ich vorher ein hübsches Haus in einem Ort, der heißt Travemünde, dicht am Wasser, wo man alle Schiffe, die ein- und ausfahren, sehen kann und wo du auch mich ein- und ausfahren sehen kannst. Es gibt auch Seeoffiziere auf Schiffen mit vielen hundert Kanonen. Die Großmama mit dem Großpapa und Mama hat aber nicht dicht am Meer in Travemünde gewohnt, sondern bei der Stadt Lübeck in einem wunderhübschen kleinen Hause mit einem wunderschönen kleinen Garten, so wie wir zwei es uns gar nicht denken könnten, wenn Mama nicht davon immer erzählt hätte.«

»Ja, und sie hat selber einen kleinen Garten gehabt, und die ganze Welt hat ihr gehört, und Stachelbeeren und Blumen hat sie selber pflücken dürfen. Und alle Geschichten hat sie da selber erlebt, von Hans und Grete und dem Däumerling und dem Hühnchen, das sich an einem Nußkern verschluckt hat, und alles andere.«

»Das hat ihr der Großpapa erzählt, sonst hätte sie es auch nur aus Büchern gewußt, wie hier in der Stadt alle anderen Kinder. Ohne den Großpapa und dem seine Freunde wäre es doch nicht so schön gewesen, als sie so jung wie wir gewesen ist. Ich habe auch ein paar gute Freunde in der Schule, und das ist gut, und ohne das wäre es schlimm. Wir helfen einander; und dem Großpapa sein bester guter Freund hat ihm auch geholfen, und er hat Herr Uhusen geheißen und hat in einem gradeso kleinen Hause und Garten nebenan gewohnt, und es ist nur die grüne Hecke zwischen ihnen gewesen.«

»O ja! voll Käfer, goldene, grüne, rote und bunte, und bunte Schmetterlinge –«

»Und mit einem Loch in ihr, wo man hat durchkriechen können, wenn man nicht herüberspringen wollte, wie der Mama bester Freund, des Großpapas besten Freunds sein Junge – so einer wie ich, wenn ich es mir fest vornehme und nicht lüge und nicht – stehle und nicht bettle und – mich – nicht – fürchte...«

An dieser Stelle ist doch des Kindes Stimme in ein krampfhaft niedergeschlucktes Schluchzen übergegangen, und es ist ein Segen gewesen, daß das Schwesterchen gesagt hat:

»Mama hat auch Schwarzer Peter mit uns gespielt, und wenn sie dir einen schwarzen Schnurrbart gemalt hat, hat sie gesagt, du solltest ein rechter schwarzer Peter werden und so groß wie ihr schwarzer Peter, der in ihrem schönen Garten mit ihr gespielt hat.«

»Sieh mal, Paulchen, das behalt nur, weil du es noch weißt! Ich will's auch in meinem Gedächtnis behalten, weil ich es der Mama versprochen habe und ich noch mehr davon weiß als wie du. Sie haben ihn auch den langen Peter genannt und noch viele andere Namen gegeben. Er hat sich aber nichts daraus gemacht; er ist immer vergnügt gewesen und hat sich nicht hinter den warmen Ofen gesetzt, auch wenn er im Winter immer einen gehabt hat. Aber er ist nicht der einzige Spielkamerad der Mama gewesen – wir kennen sie nicht alle; aber noch einer ist dabeigewesen, der ist wieder dem Peter sein guter Freund gewesen und ein vornehmer, reicher Junge, und er ist immer zu dem Peter gekommen, weil er ohne ihn nichts hat anfangen können, und der lange schwarze Peter hat den andern immer unter seinen Schutz genommen. Er hätte die ganze Welt unter seinen Schutz genommen, hat die Mama gesagt; – den Namen des andern weiß ich nicht, den hat sie uns nicht miterzählt; er ist gewiß nicht so gut gegen sie gewesen wie der lange Peter und nicht so vergnügt und hat nicht so die ganze Welt und Nachbarschaft, alle Jungen zusammen, bezwingen können. Der Mama ihr guter Freund ist nach dem Großpapa der tapferste Mensch in der Welt gewesen, und wenn er dabeigewesen ist, hat Mama auf dem Lande und auf dem Wasser – denke nur, Paule, dort geht ja schon das große Wasser, das Meer, an! –, hat Mama tun und lassen können, was sie wollte.«

»Erzähle noch mal die Geschichte von dem bösen Hund«, sagte das Kind.

»Die Geschichte von dem tollen Hund, der in den Garten gekommen ist, Paulchen? Ja, das war eine von der Mama ihren letzten Geschichten, und dieser hier ist auch dabeigewesen!«

Hierbei ist der Erbe des Leutnants Hegewisch aufgesprungen und hat neben dem Schwesterchen und der Leiche der Mutter gestanden und sein einziges, sein letztes Erbstück, den guten Degen, erhoben und ihn geschüttelt, als sei nichts Böses, Grimmiges, Tolles auf der Erde und in seinem Schicksal, was er nicht gleichfalls damit siegreich zu Boden strecken könne.

»Es ist nur die Mama und der Großpapa, der tapfere, schwarze, lange Peter und der andere, dessen Namen die Mama nicht miterzählt, zu Hause gewesen. Aber der Großpapa hat mit kranken Füßen in einem Lehnstuhl in der Laube gesessen und hat sich nicht rühren können, als der Hund in den Garten gekommen ist.«

»So einer, wie auch bei uns hier in der Straße totgeschlagen ist, wo alle Leute so schrien und in die Häuser liefen?«

»Gradeso einer! Man sieht es ihnen gleich an, das Gift läuft ihnen aus dem Maule, und sie lassen die Zunge heraushängen und torkeln herum und schnappen nach jedem, der ihnen in den Weg kommt, und wen sie beißen, der ist auf ewig verloren und muß eines schrecklichen Todes sterben. Sie haben das alle gewußt, nur die Mama nicht, die ist dem Vieh mit Lachen entgegengelaufen, und es ist nur das einzige Glück gewesen, daß der lange Peter da war und daß der Großpapa eben wieder von seinen Kriegen erzählt hat, denn dazu hat ihm der lange Peter jedesmal seinen Offiziersdegen aus seiner Kammer über dem Bett weg heruntergeholt und ihm übers Knie gelegt, daß er die Geographienamen von den Schlachten nicht verwechsele, denn zuletzt hat er sich gar nicht mehr recht genau darauf besinnen können, der arme Großpapa.«

Nun ist der Junge in die leere Kammer hineingelaufen und hat mit lebendigster Phantasie gedeutet:

»Da hat der Hund gestanden – da hat der Großpapa gesessen – hier ist die Hecke gewesen, wo der andere, dessen Namen Mama uns nicht gesagt hat, in seiner Angst hinübergesprungen ist und sich in Sicherheit gebracht hat, und – hier hat der tapfere kluge Peter die Mama aufgehoben und sie dem andern auch über die Hecke zu ihrer Sicherheit nachgeworfen. So große Besinnung hat er gehabt, und so große Besinnung muß jeder haben, der sich gut durch die Welt helfen will, hat die Mama gesagt, und solche Besinnung will und muß ich auch haben, denn ich will dir und mir auch durch die Welt helfen, Paule. Und die Mama hat gesagt, die ist noch schlimmer als ein toller Hund.«

»Aber Mama hat geschrien und aus der Nase geblutet, weil sie so hoch aus der Luft heruntergefallen ist, hat die Mama gesagt.«

»Das ist ganz einerlei. Da laß ich dich auch schreien, wenn ich nur den tollen Hund vor dir totsteche, ehe er dich beißt. Das ist die Besinnung, die einer haben muß, der dem andern helfen will, hat die Mama auch gesagt. Der Großpapa hat nicht einmal schreien und um Hülfe rufen können; er hat stillsitzen müssen in seinem Schrecken, weil er sich mit seinen Beinen nicht rühren konnte. Die Drachen aus der Mama ihren Märchengeschichten sind nicht so schrecklich wie ein toller Hund! Ohne den langen Peter lebte die Mama nicht mehr und der Großpapa auch nicht –« (ja, so sagte, so rief der arme Junge, fortgerissen von der Erinnerung an die Geschichte der toten Mutter!) –, »sie hätten elend umkommen müssen ohne den tapfern Peter. Der aber hat dem Großpapa seinen Degen – diesen hier, der nun mir gehört – aus der Hand gerissen, und es ist nachher in die Zeitung gekommen, wie er ihn gebraucht hat und wie er mit dem Giftvieh gestritten hat wie der Ritter Siegfried mit dem feuerspeienden Drachen.«

Hätte die tote Mutter aufwachen können, sie würde erwacht sein von dem bittern, grimmigen, edeln, siegessichern Ernst, mit dem ihr Sohn die gute alte Klinge ihres Vaters, des Leutnants Wolf Hegewisch, in den Boden stieß und schluchzend rief:

»So will ich auch sein, Paule. Fürchte dich nur nicht; es tut dir keiner was, solange ich so Schildwacht vor dir stehe! Schlafe du ganz ruhig bei unserer lieben, lieben Mama, bis wir in die weite Welt gehen und in den blutigen Krieg, wie der Großpapa mit der lieben Mama und der Großmama.«

Elftes Kapitel

Es ist ein fraglich Ding um das Schildwachtstehen vor der Sicherheit, dem Behagen, dem Glück eines andern von uns in unserer Welt. Der stärkste Mann weiß nicht, wie und wann ihm die Waffe aus der Hand, die Kraft aus den Knochen, der Mut aus der Seele abhanden kommen wird; und dem unmündigen Knaben neben der toten Mutter und dem verlassenen Schwesterchen ist nun bereits die Wehr aus der kindischen Faust gerissen und unter das alte Eisen der Mutter Cruse geworfen worden. Der tapfere, lange schwarze Peter, Herr Schmied aus Jüterbog, der Peter Uhusen aus der Fremde, befindet sich aber auch schon mit ihr in seiner gesunden Faust auf dem Wege zu seinem und Erdwine Hegewischs Jugendfreunde Albin Brokenkorb: wir wissen eben auch nie, aus welchen Winkeln, auf welchen Wegen und Umwegen uns die Waffen, die Kräfte und der Mut zurückgegeben werden können.

Der kleine Belagerungszustand war längst erklärt. Man durfte eigentlich nicht, und noch dazu am hellen Mittage, mit solch einer nackten Klinge unterm Arm, vorausgesetzt, daß man nicht zu den berechtigten Waffenträgern im Staat gehörte, durch die Straßen laufen. Der Schmied von Jüterbog aber kam natürlich unangehalten durch, zog sich höchstens die Anmerkung eines jüngern oder altern Gassenjungen zu:

»Na, oller Landsturm, wohin denn mit die Plempe?« Der lange Peter auf dem Marsche zu dem »andern«, von dem die Mama ihren Kindern keine »schönen Geschichten« erzählt hatte, war nicht in der Lage und Stimmung, auf irgendwelche Bemerkungen und Anmerkungen der Begegnenden etwas zu geben. An und für sich schon ein Mensch der Selbstgespräche, hatte er im gegebenen Fall viel zuviel mit sich selber zu verhandeln, um sehr auf das zu achten, was andere zu sagen hatten.

Und nicht ohne Grund befand er sich im Anfang seines Weges viel mehr in Untermeidling am recht stillen Ort als in dem Lärm und Getöse der menschenwimmelnden Straßen, durch die er sich aber einem Traumwandler gleich zurechtfand.

Und er sprach viel wienerisch auf diesem Wege mit sich selbst. Er hatte sich mit allerhand Dialekten unter allerhand Völkern vertraut gemacht und das Talent dazu auch mitbekommen; wir aber, wir können es leider nicht nachmachen, wie wienerisch er jetzt an mehr als vier Straßenecken von Berlin zu sich selber redete. Wir wissen höchstens, wie ihm zumute war.

»Mein arm Mädchen«, sagte er, »da liegt sie nun, und hier laufe ich herum. Das Herz! Wie wär es nun, wenn ich es jetzt am Arm hängen hätt und müßte ihm von meiner ersten Liebschaft erzählen, um es nur annähernd aufs laufende zu bringen? Mein lieb Kind da nun in seinem stillen Winkel in seiner Ruhe und Sicherheit, und – ich von neuem als ein unzurechnungsfähiger, von jeglichem Phantasiewind umgetriebener Narr und Land- und Seehanswurst im Tummel und in unnötigster Aufregung!...«

Er hielt an im eiligen Gange und stand zum Verdruß eiliger Mitläufer im Tumult des Lebens an einem der lebendigsten Durchgänge still und brummte:

»Und ich meine doch, ich höre sie grade eben unter ihrer Gras- und Efeudecke hervorkichern: ›Galoppier nur, Peterle! Hast mich doch lieb, behältst mich lieb und kommst zu mir nach Haus und bringst mich den ganzen Abend durch deine neuerlebten Geschichten zum Lachen!‹...«

Nun ging er ruhiger weiter mit sich als ein Mensch, der wissenschaftlich gebildet worden war auf Lateinschulen und dergleichen und welcher Komödie gespielt hatte unter der Direktion der klugen, tapfern, weisen Frau Wendeline Cruse und unter der Präsidentschaft des klugen, tapfern, weisen Mr. Abraham Lincoln Feldgeschütze zum Besten seiner Mitbürger und Brüder auf der Erde befehligt hatte in einem der edelsten Kriege der Welt. Über das Selbstgespräch, was er so führte, ist freilich kaum etwas zu sagen.

»He, Droschke!« rief er, und in dem Wagen weiterrasselnd, meinte er: »Ach mein armes Heckenröschen Erdwine Hegewisch, was haben sie aus dir gemacht? Und was werden wir heute noch über dich erfahren? Nun, da wäre es ja wahrhaftig ein Glück zu nennen, daß ich im Grunde mit bestem Gewissen die ganze Sache auf die celebre, feinfühlige Seele des edeln Albin abladen kann! Und der Emerenz zu Hause – in Untermeidling ist das letztere vielleicht doch auch das liebste. Ein Frauenzimmer war sie denn doch einmal, und, bei Gott, ihre Rechte sollen ihr gelassen werden bis hinunter in die Erde.«

Ja, wenn es mit dem Abladen so leicht ginge, wie sich das hinspricht! Der Schmied von Jüterbog nahm die Gedanken darüber wie sich sein arm lieb Weibchen wohl zu diesem seinem neuesten Lebensabenteuer verhalten haben würde, mit in den Wagen. Sie begleiteten ihn bis vor die Tür von Runne & Plate, der großen Handlung in neuem und altem Eisen, und er wurde sie auch nicht los die Treppen hinauf zu dem zierlichen Porzellanschild mit der Inschrift: Hofrat Dr. Brokenkorb.

Da erst kam er ins klare, sowohl in seinem Verhältnis zu sich selber wie zu seinem guten, lieben, fröhlichen, lachenden Weibchen – auf dem Kirchhofe zu Untermeidling. Da kam ihm wieder das Verständnis für diese Welt, in der sein großer Namensahnherr den Teufel in den Sack und den Tod in den Birnbaum bannte.

»Den alten saubern Jungen hätte das Herze so genau wie ich in seiner Jugend kennen sollen!« seufzte Peter Uhusen kopfschüttelnd in Betrachtung der Porzellanadresse seines Jugendfreundes. »Da würde es wahrhaftig gesagt haben: ›Lauf rasch zu, Peterle; – kümmere dich um mich gar nicht – bring erst die Kinder vor dem Unwetter ins Trockene. Sorge dich gar nicht um uns ausgewachsenes Volk! Hui, der Platzregen! Jawohl, mein armer Papa sagte auch oft: Kind, wenn ich dich nur erst in Sicherheit hätte, das andere wäre mir ganz einerlei. Lauf, lauf, Peterle, hol die Kinder von der Gassen herein – wenn es zum Verdruß für dich dabei kommt, ist's wenigstens in deiner jetzigen melancholischen Laune ein Zeitvertreib für dich gewesen, mein armes, liebes Männle. Bildest dir doch wohl nicht ein, daß ich jetzt eifersüchtig werden könnte? Zieh nur die Glocke und reich dein altes Eisen hinein und bestell einen schönen Gruß an deinen Herrn Hofrat von unserer Himmelsbank unter dem alten Birnbaum in unserm Garten in Untermeidling, und wenn es ihm im geringsten unangenehm wäre, möchte er sich ja nicht weiter bemühen.‹«

Der Schmied von Jüterbog zog dessenungeachtet die Glocke und brummte:

»Wenigstens, wenn ich gestern nur undeutlich wußte, was mich in drei Teufels Namen hierher führte, so weiß ich es, alles in allem gezählt, heute zweifelsohne sicherlich annähernd.«

Die Glocke gab auf den diese Worte begleitenden Ruck freilich einen Widerhall, der nicht im mindesten der Rücksicht gemäß war, die man sonst auf die Nerven eines Mannes zu nehmen pflegte, der seiner feinsten Empfindungsfähigkeiten wegen nicht nur bekannt, sondern auch geliebt war. Aber der Lärm hatte wenigstens sofort die gewünschte Wirkung.

Rupfer stürzte herbei, und zwar mit dem innigsten Bedürfnis, so grob als möglich zu werden. Was auf seinen Lippen schwebte, verbiß er jedoch gänzlich, und zwar mit einem immer sonniger werdenden Grinsen, als sein Blick auf den »Herrn mit dem Stocke, der gestern schon einmal da war«, fiel.

Ein »O du mein Je!« entrang sich diesen selbigen Lippen unwillkürlich, als sein Auge die diesmalige Waffe in der Faust des verdächtigen Fremden traf. Regungslos, mit stumpfsinniger Vorahnung, daß etwas ganz besonders Kurioses im Gange sei, stand er in der geöffneten Pforte, den Türgriff in der Hand, und ließ sich zweimal die Frage wiederholen:

»Der Herr jetzt zu Hause?«

›Dies geht nicht gut aus‹, sagte der getreue Knecht, aber nur still bei sich. ›Gestern mit dem Knüppel und heute mit der Plempe! Det nennt man jedenfalls eine jesteigerte Anfrage vonwegen mal runterkommen.‹

Laut äußerte er sich, zwischen Besorgnis und Grobheit schwankend und dazu die äußere Erscheinung dieses dringenden Besuchs nicht ohne großstädtische Menschenkenntnis in Betracht ziehend:

»Will nachfragen.«

Aber da kannte er Peter Uhusen nicht. Mit der Gemütsruhe eines Obersten von zwanzig Niggerbataillons drehte der Herr Schmied aus Jüterbog ihn zur Seite und schritt an ihm vorbei oder besser gesagt über ihn hinweg mit dem einfachen Worte:

»Schön!«

»Aber der Herr Hofrat befinden sich unwohl und noch im Bett –«

»Desto besser«, sprach der Schmied von Jüterbog und öffnete sich bereits die nächste, zu den innern Gemächern führende Tür selber und brummte, auf der Schwelle einen Augenblick innehaltend, jedoch letzteres nicht aus Scheu oder Blödigkeit:

»Donnerwetter, wie gemütlich!« –

Wir wissen schon, wie vollkommen er mit diesem Ausrufe recht hatte. Man mußte nicht bloß eine junge Dame aus den besten Ständen oder ihre gnädige Frau Mutter sein, um durchaus empfinden zu können, wie hier geistiges und körperliches Raffinement zur Herstellung des Behaglichsten zusammengewirkt hatten. Auch aus Untermeidling konnte man kommen und aus dem heutigen Tage, dem heutigen Wetter und aus dem Lumpen-, Knochen- und Alten-Eisen-Keller der Frau Wendeline Cruse und mit dem Degen des armen Leutnants Hegewisch unterm Arm, um hier den Frieden, die Stille, die Wärme, das Licht, die Dämmerung und den Hausrat zu würdigen. Das Wetter vor allem mußte man aus den Fenstern und aus der Umgebung des Herrn der Hausgelegenheit, von seinen Teppichen, Sesseln, Tischen, Stühlen und Schränken her betrachten, um zu merken, wie behaglich es – das Wetter nämlich – unter Umständen sein könne.

Mit gedämpfter Melodie verkündete die ebenfalls auf die Nerven ihres Besitzers gestimmte wundervolle Boule-Uhr, was es an der Zeit war, und – seltsamerweise aus der Erinnerung an einen kleinen verwaisten Nähtisch aus Eschenholz in Untermeidling erwachend, ging Peter Uhusen weiter. Und – noch sonderbarerweise – schritt er pfeifend, leise pfeifend vor und rundum im Gemach, entlang den Bildern, Raritäten und Bücherschränken an den Wänden, und immer – mit dem Degen unter dem Arm wie der Bettler beim alten Vater Gellert:

Sie sehn, ich fordere nichts mit Unbescheidenheit; Nein, ich verlasse mich (hier wies er auf den Degen) allein auf Ihre Gütigkeit.

Der Diener des Hofrats blieb ihm selbstverständlich grade darum auf den Fersen, in Verblüfftheit und Ratlosigkeit immerfort den Ärmel um das rechte Faustgelenk auf- und abkrempelnd.

»Hui, i, i, i, uhuii«, summte der Schmied von Jüterbog. »Ganz die selige Mama, nur natürlich ein wenig mehr ins Geschmackvolle und ganz bedeutend ins Wissenschaftliche übertragen.«

Damit öffnete er die Tür, die in das nächste Gemach führte, als ob er den Weg seit Jahren kenne.

»Auch nicht übel«, sagte er. »Der Mensch versteht es wahrhaftig, und es ist eigentlich schade, ihn im Ausleben seiner Lebensbegabungen und Fähigkeiten nur auf den kürzesten Moment zu stören; aber – wer kann da helfen?«

Bei den ersten Worten hatte er vertraulich seinen Begleiter auf die Schulter geklopft, bei den letzten schlug er bereits frech den Vorhang von der nächsten Tür zurück.

»Aha«, nickte er, »hier gelangen wir denn wohl in das innerste Heiligtum. Es weht ein Schauer vom Gewölb herab – hier ist Charakter und Geist und edelster Menschheit Bild – richtig; hier entwickeln sich die Götterkinder. Sieh, sich, und mein braver, ungebildeter Schwartauer Knüppel da auf dem Schreibtisch quer über allem, was die edelste Menschheit zu ihrem Apparat feinster Kulturentwicklung rechnet. Nicht wahr, junger Mensch, hier pflegen der Hofrat ihren geheimsten Studien obzuliegen?«

»Ja, dieses ist des Herrn Studierstube, und daneben liegt er im Schlafzimmer und war vorhin noch sehr der Ruhe bedürftig.«

Es hat sich wohl nur selten auf eine derartige Benachrichtigung hin ein guter Freund so rücksichtslos geräuspert und so kräftig ausgeschnoben, wie das in diesem Augenblick Peter Uhusen aus Lübeck und Untermeidling tat. Es war da unbedingt für jemand ein »gesunder Schnupfen« im Anzuge; und aus dem Gemach nebenan, dessen Pforte gleichfalls geöffnet stand, drang klagend gedämpft wie ein Echo auf den katarrhalischen Losbruch des allzu frühen und sehr gesunden Besuchers eine matte Stimme, die da seufzte:

»Rupfer!«

»Herr Hofrat?«

»Sind Sie verrückt, oder – sind Sie – nicht allein darinnen?«

»Hm.«

»Kommen Sie her, Rupfer! Was fällt Ihnen ein? Ist da jemand bei Ihnen?«

»Jawohl, Alter«, sagte Uhusen mit volltönigstem Nachdruck, gänzlich ohne alle eigenen katarrhalischen Affektionen und trotz einiger mangelnden Gliedmaßen sehr gesund an Leib und Seele und nur behaglich kühl angefeuchtet durch den naßkalten Vorwintertag draußen und durch den Degen des Leutnants Hegewisch unterm Arm etwas mehr als sonst angeregt, in das dumpfwarme Schlafgemach des Jugendgenossen hineinschreitend und durchaus nicht auf der Schwelle zögernd.

»Es war da jemand, Brokenkorb«, sprach er, an das Lager des Hofrats tretend, mit dem ganzen Pathos der Frau Wendeline Cruse. »Und zwar – ich! Einmal bin ich es noch, wenn du nichts dagegen hast, mein Sohn und Zeitgenosse. Peter Uhusen ist mein Name. Unter den Glocken von Sankt Marien in Lübeck bin ich mit dir jung geworden und gewesen. Den Schmied von Jüterbog habt ihr mir seinerzeit aufgehängt. Nun komme ich aus dem alten Eisen, und – freilich – ich habe dich lange nicht aus den Federn geholt!«

Mit einem Ruck saß Albin Brokenkorb im Bette aufrecht und starrte hohläugig auf den im Kampf ums Dasein so arg mitgenommenen und doch so gesund gebliebenen Jugendfreund selber ein ganz anderer Mann sowohl in his night-gown als wie in complete steel, das heißt im Gesellschaftsanzuge. Er starrte, starrte, starrte und sank zurück auf die Kissen mit dem Winsellaut:

»Du – du – Uhusen?«

»Ich – der Sohn meines Vaters!« grinste der schwarze Peter und stieß zur Verstärkung des dramatischen Effekts das Schlachtschwert der Niederlagen von Bau, Fridericia, Idstedt und so weiter vor dem Lager des Freundes so fest durch den türkischen Teppich in den Boden, daß sicherlich drunten bei Kommerzienrats einer der Kronleuchter im Salon in ein längeres Schwanken geriet.

»Du – mein – lieber – Peter?«

»Ja, ich, dein geliebtester Peter! Sie können abtreten, Rupfer – vorausgesetzt, daß du bereits gefrühstückt hast, Albin. Andernfalls würde ich anraten, dir eine Tasse Bouillon, ein Beefsteak oder ein kaltes Huhn und ein Glas Madeira ans Bett bringen zu lassen, ehe – wir weitergehen. Ich habe nämlich dir etwas Unverdauliches mitzuteilen und die Absicht, dich, wenn es irgend möglich ist, vor dem Mittagessen mit mir zu nehmen. Wann pflegst du zu speisen, Brokenkorb?«

»Ganz – der alte!« stammelte der Mann in den Kissen. »Zwischen vier – und fünf Uhr.«

»Wo?«

»Im Hôtel de Rome.«

»Ganz der alte. Immer klassisch. Na, so esse ich diesmal mit dir im Hôtel de Rome. Also – jetzt rasch etwas Stärkendes, Nahrhaftes für den Herrn Hofrat, Rupfer.«

Der Herr Hofrat richtete sich von neuem und jetzt mit flehendbeschwörend erhobenen Händen auf.

»Aber mein Gott, was soll?... Ich brauche nichts Nahrhaftes – nichts Stärkendes. Uhusen – wenn du es wirklich bist, was ich immer noch bezweifle – ich bitte dich – ich fühle mich in der Tat nicht recht wohl – fühle mich wirklich ein wenig angegriffen.«

»Und leider, leider komme ich, dich noch ein wenig fester anzugreifen. Na, ich war immer ein braver Naturarzt, lieber Junge, wie du noch wissen mußt, ob du an meine Methode glaubst oder nicht. Und recht häufig habe ich ziemlich genau gewußt, was dir am besten war, wie du dich erinnern wirst. Aber um jedes Mißverständnis wegzuräumen, so werde ich diesmal geschickt! Alt-Lübeck, dein seliger Vater und deine selige Mutter, mein seliger Vater, die Tante Gottliebe, der Leutnant Hegewisch und – Erdwine Hegewisch schicken mich mit der Zange, Albin; und Sie, lieber Rupfer, sorgen Sie für eine Herz- und Magenstärkung nebenan im Arbeitszimmer oder im Salon unter den mittelalterlichen, den chinesischen oder sonstigen Raritäten, Rupfer. Verstören Sie die Papiere nicht, aber beeilen Sie sich. Bei der Toilette werde ich heute dem Herrn Hofrat behülflich sein.«

Der Herr warf einen verzweiflungsvoll-hülflosen Blick auf den Diener; aber dieser stand schon allzusehr unter dem Bann und Zauber des gewalttätigen Fremden, als daß er seinem Herrn anders als durch ein außergewöhnlich stupides Lächeln hätte zu Hülfe kommen können.

»Du machst mir eine unendliche Freude, Uhusen«, stotterte der Hofrat. »Wir frühstücken natürlich zusammen – sorgen Sie dafür, Rupfer –, und ich bin ganz für den Tag zu deiner Verfügung, Peter. Mir meine Tasse Kakao, Rupfer. In meinem Bibliothekzimmer findest du die neueste Zeitung; wenn du mir nur fünf Minuten Zeit lassen willst, liebster, bester Freund, so bin ich sofort bei dir und selbstverständlich ganz dein mit Leib und Seele. Und ich hoffe, du hast deinen Aufenthalt bei uns nicht zu kurz abgemessen.«

Rupfer grinste noch einmal von der Tür aus zurück, dann hörte man ihn im Studierzimmer sein Vergnügen an dem Dinge in seinem Ärmel verbeißen und dann ein Gemach weiter mit Tellern, Tassen, Gläsern und sonstigem Tischgerät klappern. Herr Schmied aus Jüterbog aber machte noch keine Miene, dem Wunsche seines Freundes nachzukommen und sich für die nächsten »fünf Minuten« zu der neuesten Tageszeitung zurückzuziehen. Im Gegenteil, er nahm Platz in dem Sessel am Fußende des Bettes seines Freundes. Er setzte sich fest hin, stellte den Degen des Leutnants Hegewisch zwischen die Knie und stützte beide Hände und das Kinn auf den Griff und besah unheimlich lange Zeit hindurch den Freund noch genauer, und zwar stumm.

Der Hofrat lächelte, wie man so unter Umständen oder unter solchen Umständen zu lächeln pflegt; – im Wartezimmer der Zahnärzte pflegt so gelächelt zu werden.

»Du gefällst mir nicht, Brokenkorb!« seufzte der lange Peter. »Offen gestanden, Albin, du gefällst mir ganz und gar nicht; oder vielmehr, du entsprichst meinen Erwartungen nur zu sehr. Ich lese von dir, ich höre von dir, und ich schüttle das Haupt und frage mich: Wie muß ein Mensch, der das alles zusammen-und den Leuten vorträgt, zuletzt aussehen?«

Halb geschmeichelt und halb erzürnt und jedenfalls in immer noch steigender Aufregung, erhob sich der Hofrat auf den Ellbogen.

»Aber auch du, Peter, bist nicht mehr der nämliche wie vor als ich zum letztenmal das Vergnügen hatte, mit dir zusammen zu sein. Gütiger Himmel, was hast denn du mit dir angefangen, außerdem, daß auch du nicht jünger im Laufe der Jahre geworden bist?«

»Gefreit habe ich und dabei das halbe Gesicht, ein Stück von der Nase und eine halbe Faust verloren. Meine Frau habe ich begraben; aber beruhige dich, oder besser, beunruhige dich deshalb nicht im geringsten. Das geht dich durchaus nichts an. Davon hätten wir vielleicht geplaudert, wenn dich gestern abend meine Visitenkarte zu Hause getroffen haben werde. Nicht wahr, du hast auch schon einen Vortrag über ›Zwischen Lipp' und Kelchesrand‹ gehalten, Brokenkorb? Uns, uns, Albin, alter Freund, ist etwas dazwischengekommen! Ein Stück altes Eisen aus dem Kehricht des Lebens! Und da die Zeit drängt, wollen wir über alles übrige unterwegs reden. Da!... Wie ich beim Durchgehen durch deine Zimmer bemerkt habe, sammelst du auch kuriose Waffenstücke. Da! Und vielleicht ist das Ding käuflich. Das wäre etwas für dich ganz im besonderen! In den Handel ist es wenigstens bereits geraten.«

Er hatte dem wehrlosen armen Ästhetiker die gute Klinge des Leutnants Hegewisch auf die Bettdecke gelegt und ging und zog die stilgerechten Fenstervorhänge zurück, um das volle Tageslicht, so gut es der gegenwärtige Herbsttag zu geben hatte, auf den Jugendfreund und die Jugenderinnerung fallen zu lassen.

»Ich verstehe dich wirklich nicht«, seufzte der beliebte Gelehrte in das Kissen. »Ein bißchen weniger rätselhaft wäre freundschaftlicher, liebster Uhusen. Was soll das? Ein Offiziersdegen modernster Zeit! Was soll mir das sagen? Was willst du im besonderen mir damit sagen, bester Freund?«

Nun hatte er sich mit der Waffe gegen das heller in das Gemach strömende Tageslicht gewendet, und das scharfe Auge des sachverständigen Liebhabers fiel auf die eingegrabenen Schriftzeichen.

»Wie?... Mein Gott, woher hast du das? Wie kommt das in deine Hände?«

Der schwarze Peter zuckte nur die Achseln.

»Fridericia – Bau – Kolding! Hegewisch!« murmelte Hofrat Dr. Brokenkorb. »Der Leutnant Hegewisch!... Erdwine – Erdwine Hegewisch!«

»Wie das eigentlich in meine Hände kommt, was es uns heute will und bedeutet, weiß ich augenblicklich auch noch nicht recht anzugeben«, sagte Schmied aus Jüterbog ruhig. »Jedenfalls halte ich es für einen Wink des Schicksals an dich, wenigstens noch einmal aus der Welt deiner Ideale in die Hosen zu fahren. Und jetzt mache ich von deinem freundlichen Anerbieten Gebrauch und lese nebenan die Zeitung, während du Toilette machst. Ich schicke deinen Rupfer und deinen Kakao. Ich selber habe bereits gefrühstückt und bin zu allem, was der Tag bringen mag, mit dem, was das Leben von mir übriggelassen hat, aufgelegt und bereit. Beiläufig, von einer Frau Wendeline Cruse, ihrem Aufenthalt und ihrem Produktenkeller in hiesiger Stadt ist dir wohl nichts in die Erfahrung geraten?«

Zwölftes Kapitel

Der tapfere Mann und Lebensveteran, der gute Peter Uhusen, dem sie so manchen Spottnamen aufgehängt hatten auf seinen Kriegszügen durch das Menschenschicksal von der ersten Schulbank an, saß in dem bequemen Sessel an dem Schreibtische des Freundes und hatte anfangs schwer beide Hände auf beide Knie fallen lassen. Er hatte gestern abend, als er den Stock aus der Erbschaft der Tante Gottliebe und den Händen der Möllner Tante als Wahrzeichen hineinschickte und zurückließ, sich das Wiederzusammentreffen wahrlich ein wenig spaßiger vorgestellt, als es nun ausfiel. Wie häufig geschieht das, und wie sonderbar, daß selbst Menschen wie dieser dumme Peter sich immer doch von neuem darüber wundern, wenn die lustigen, klaren Wellen, die von Phantasieland herüberrollen, vor ihren Füßen als trübstes Spülwasser des Erdendaseins anlangen!

Der Schmied von Jüterbog, als Verfasser der »Seeräuber von Blankenese«, schlug mit den flachen Händen einen Marsch auf seinen Knien, aber es war ein melancholisch-trauerhaft Tempo, mit dem er seine Gedanken so begleitete. Er nickte vor sich hin, blinzelte mit dem gesunden Auge um sich her, schüttelte den äußerlich so zerfetzten und innerlich so heilen und ganzen Kopf und murmelte:

»Was soll das nun? Was können wir voneinander haben? Wär's gestern auf einen närrischen Abend bei einer Zigarre und einem Glase Wein hinausgelaufen, so hätte es wenigstens das sein können, was der Deutsche gemütlich nennt – ein sauber Wort für mancherlei oft recht unsaubere Dinge. Da hätt ich ihm lachend den Knüppel zwischen die Beine geworfen und mein Vergnügen an seiner Eselhaftigkeit gehabt. Jawohl, Peter Uhusen, ob die Kleine da in Untermeidling unter ihrem grünen Hügel wohl nicht ein wenig an dem alten Stück Eisen beteiligt ist, das dir selber jetzt zwischen die Beine geraten ist und worüber du hierhin, in des Lebens Behaglichkeit, gestolpert bist?... Was hilft er mir in seinen Hosen hier an seinem Frühstückstisch und in seinem Pelz draußen im schlechten Lebenswetter? Und doch – er ist nun so gut wie ich darin – von allem Sonnenschein und Mondenlicht über den Türmen von Lübeck und den Wellen der Lübischen Bucht her! – Und – mit muß er jetzt, allein freß ich diesen sauergewordenen süßen Kinderbrei nicht! Beim Satan, er nimmt auch seinen Löffel, mag er wollen oder nicht.«

Der schwarze Peter selber nahm aber trotz dieses grimmigen Stoßseufzers zuerst doch, wenn auch ganz mechanisch, die Zeitung. Anfangs hielt er sie verkehrt, dann auch mechanisch als gebildeter Mann leserecht. Anfangs las er nicht, sondern sah nur Buchstaben; aber wieder ganz mechanisch setzten sich in ihm diese Buchstaben zu Worten, Namen und Begriffen zusammen. Nun packte er mit beiden Händen, sowohl der gesunden wie der verstümmelten, das Blatt und rückte sich zurecht im Stuhl.

Er vertiefte sich in ein »Referat« über den Freund, in eine ausführliche Besprechung der letzten öffentlichen Leistung desselben. . .

Und wie er vorhin beim Überschreiten der Schwelle: »Donnerwetter, wie gemütlich!« gerufen hatte, so murmelte er jetzt von Zeit zu Zeit, und dann und wann einen Blick nach dem Schlafzimmer nebenan werfend, wo der betäubte, verstörte Albin noch immer mit seiner Toilette beschäftigt war: »Mag er wollen oder nicht; mit muß er! Er weiß alles ja ganz genau! – Er redet zu gut! – Und sein Thema!? Das Kind, das Weib und der Mann auf der Erde!. .. Du liebster Himmel, wie wird der Mensch als Mann auf der Erde meistens im Blindekuhspiel herumgeführt! Da versitze ich vorgestern den ganzen Abend und die halbe Nacht im königlichen Schauspiel – ›Das Leben ein Traum‹ – und nachher einsam mit dem müden Kopf auf beiden Fäusten in den Kaiserhallen, und drei Schritt abseits redet dieser Mensch und Charakter so zur Sache! Den armen Kerl triffst du immer noch früh genug zu Hause, Uhusen, denke ich gestern abend noch und lasse ihm meinen Knüppel des Spaßes wegen als Wahrzeichen zurück, und nun sitze ich so und sage nichts weiter als: ›Gott ist groß, und Mohammed ist sein Prophet!‹ Aber beim Zeus, dem bewölkten und unbewölkten, diesen Mr. Propheten des alten Allah kaufe ich mir jetzt wieder mal mehr denn je und nehme ihn erbarmungslos mit zur Richtigstellung des Verhältnisses von Mann, Weib und Kind zu dieser Erde. Bestellen Sie dreist eine Droschke, Rupfer; ich bin gleich mit dem Artikel fertig und der Herr Hofrat hoffentlich bald mit seinem Kakao.«

»Zeit wird es wohl dafür«, bemerkte Rupfer für sich. »Es geht scharf in den Nachmittag hinein und an die Tabledothe ran.«

In diesem Augenblick schlug die Uhr über dem Schreibtische des Hofrats dreimal.

»Na?« sagte Peter Uhusen aufblickend. »Habe ich so lange Zeit an seinem Lager und jetzt eben hier über der Aufzählung seiner Verdienste versessen?«

Drei! klang es sonor von einer Rokokokonsole hinter dem Rücken des langen Peters. Drei! klang es fein silbern aus dem Nebengemach und noch einmal und noch einmal und noch einmal, bald näher, bald ferner, bald lauter, bald leiser, aus allen Zimmern.

»Das reine Kloster San Juste!« sprach kopfschüttelnd der Schmied von Jüterbog. »Na, na, ob dieser Kaiser Karl der Fünfte da nebenan in seiner Schlafkammer vor seinem großen Stehspiegel wohl genauer als der andere von seinen vielen Uhren erfährt, was es für den Menschen an der Zeit ist? Nun, Gott sei Dank, da ist er wenigstens noch einmal außerhalb seines Katafalks, der wohlgepflegte, blondbärtige, gut erhaltene, mittelalterliche gelehrte Germane, der Liebling seines Publikums und, weiß der Teufel wie's zugeht, mir auch noch immer eine meiner angenehmsten Erinnerungen aus den Tagen der Vergangenheit.«

Hiermit legte der Freund dem Freunde beide Hände auf die Schultern, und so standen beide Männer noch einmal im Leben einander vertraulich gegenüber und unterwarfen jeder den andern einer kurzen, aber scharfen Prüfung. Und sie hatten beide das Gefühl, daß weder der Ernst noch der Scherz, weder die Lust noch der Schrecken der Sterblichkeit sie noch einmal so Brust an Brust, Schulter an Schulter zusammenführen werde. Sie hatten beide die volle Gewißheit, daß die gespenstische Klinge, dieser Degen des Leutnants Wolf Hegewisch, nimmer in den halbvergessenen Schlachten so scharf zugeschlagen habe wie heute an diesem grauen Herbsttage, in dieser stillen, behaglichen Arbeitsstube.

»Wenn der Herr Hofrat wirklich sich wohl genug fühlen, so hält der Wagen unten vor der Tür«, meldete Rupfer mit einem bedenklichen Blick auf den unheimlich gesunden Gast mit dem Stock, dem Säbel, dem einen Auge und den anderthalb Fäusten, der »so ganz tat, als ob er überall zu Hause sei, aber hier bei uns am allermeisten«.

»Wir fühlen uns wohl genug«, sagte Uhusen, ohne auf etwas anderes als auf den Jugendgenossen zu achten. »Sie können gehen, junger Mann; ich werde dem Herrn Hofrat selber in den Pelz helfen. Alle Wetter, wie häufig habe ich mich vergeblich in den Winternächten im Kriege und im Frieden des Lebens nach einem ähnlichen gesehnt. Ja, dem geschorenen Schaf sänftigt Gott den Wind, das ist auch so eine von den vielen schönen Redensarten, wie sie der Mensch, sehr wenig zu seinem eigenen Trost, erfindet.«

Immer mehr wurde der Liebling des gebildeten Publikums wie Wachs unter den Händen des rauhen Patrons, der aus seinen »Winternächten des Lebens« her alles, was er redete, tat, riet, für das unbedingt Richtige, das ganz selbstverständlich Sachgemäße und Zeitgemäße nahm. Wie in den Lübecker Kindheits- und Jugendtagen stand Peter Uhusen an der Spitze, half dem feinen Albin über den Zaun, drückte ihn an die Wand, schlug sich für ihn im Einzelkampf wie im Massenturnier und half auch wohl ihm selber durch ein paar tüchtige Rippenstöße zu einem bessern Verständnis von Welt und Leben in den Gassen der Stadt, an den Ufern der Trave und am Strande der Lübischen Bucht.

Etwas Jungenshaftes hatte er noch immer an sich, in seiner offenen, regenfeuchten Joppe aus breiter Brust blasend und schnaufend. Der Hofrat, der seine Reden im Konzept ausarbeitete und sie nachher drucken ließ, war ihm sonderbarerweise auch auf dem Felde mündlicher Äußerung durchaus nicht gewachsen, und nur mühsam und unbeholfen kam er aus seiner Betäubung heraus zu einer Kundgebung seinerseits.

»Du mußt mir wirklich verzeihen, mein bester Freund, wenn ich immer noch nicht recht weiß, was du eigentlich von mir willst«, stotterte er. »Ich gehe wie ein Traumwandler. Du trittst aus dem Gewölk, aber mich hüllst du vollkommen in ein solches ein. Was hast du mit mir vor? Was sollte mir dein Spazierstock gestern abend, und was soll mir nun dieser Degen des alten Narren, des Leutnants Hegewisch? Du sprichst mir über Leben und Tod in deinen eigenen Angelegenheiten wie über etwas Gleichgültiges, dich kaum Betreffendes, und du wirfst mir diesen freilich etwas unheimlichen Säbel auf das Bett und holst Dinge aus der Vergangenheit hervor, deren Erinnerung uns beiden nur unangenehm und verdrießlich sein kann. Wozu dieses? Ich bitte dich, um Gottes willen, wozu dieses? Das liegt doch alles so weit hinter – mir, hinter uns beiden. Was haben wir erfahren, erlebt, errungen seit jenen Jahren! Was willst du nun mit diesen verjährten, kindischen Erinnerungen, liebster, bester Uhusen? Was soll mir noch der Degen des Leutnants Hegewisch und sein allerliebstes, leichtsinniges, spatzenköpfiges Kind? Ich bitte dich um alles in der Welt, guter Peter, laß doch die Toten ihre Toten begraben haben, und vor allen Dingen sei mein Gast heute an der Wirtstafel im Hôtel de Rome. Ich glaube, daß ich dich da in eine auch dir höchst interessante Gesellschaft einführen kann. Du wirst Leute kennenlernen, die in unserm heutigen Gesellschaftsleben ihre Rollen merkwürdig gut zu spielen wissen. Ich nenne dir nur-«

»Weiß Bescheid um das Volk«, brummte Herr Schmied aus Jüterbog. »Habe mitgespielt auf beiden Hemisphären, und zwar unter einer besseren Direktion als der deinigen – nimm mir das nicht übel, Albin, es schickt sich nicht, verächtlich von dem Degen des Leutnants Hegewisch zu sprechen – wie du es auch mit seiner Tochter halten magst. Ich habe jetzt mehr als zuvor die feste Absicht, dir von dem Zauber, der in dem närrischen alten Eisen liegt, deinen Teil abzugeben, ob du willst oder nicht. Wir gehen heute gewiß zusammen und zuerst zu der Frau Direktorin Cruse. Du erinnerst dich unserer Frau Wendeline aus dem Salon deiner Frau Mutter her? Menschenkind, Nüchternster aller Lieblinge des Publikums, wie rauschte, um bei ihren Worten zu bleiben, voreinst ihre Schleppe durch unser junges Leben! Wir werden zusammen, Arm in Arm, erfahren, wohin die närrische Klinge von Idstedt, Bau und Fridericia weist. Wenn ich mein Gewissen beruhigt haben werde und weiß, wo diesmal die Toten ihre Toten begraben haben, und wenn dann die Zeit noch langt, bin ich bereit für deine Tischgenossenschaft im Römischen Hof und nehme deine Einladung zu allen Genüssen, geistigen und leiblichen, mit Vergnügen an.«

»Rupfer«, seufzte der Hofrat, »wir – der Herr und ich – speisen jedenfalls heute abend hier zu Hause. Sorgen Sie für das Nötige.«

»Hm«, brummte Peter, »lasset die Toten ihre Toten begraben. Man soll den Abend nicht vor dem Tage loben; aber, einerlei, sicher ist wenigstens, daß aus Abend und aus Morgen immer ein neuer Tag wird.«

Er nahm nicht den Degen des Leutnants Hegewisch, sondern seinen eigenen vertrauten Wanderstock aus den Schwartauer Hecken unter den Arm, und Rupfer überreichte seinem Herrn den Regenschirm.

Auf der ersten Treppenstufe sagte der unwiderstehlichste, das heißt zudringlichste aller »Jugendbekannten« gemütlich ermunternd:

»Siehst du, alter Junge, der Mensch kann alles, wenn ihm sein Nachbar im Trübsal unter die Arme greift. Jawohl, so schläft man in die Tage hinein, wenn sie einem zu behaglich gemacht werden. Ein bißchen übernächtig siehst du freilich noch aus, aber dem werden wir bald auf die wirkungsvollste Weise abhelfen. Wir, die wir nur zu oft durch die Trommel oder das Horn aus der süßen Selbstvergessenheit aufgerufen wurden, wissen nur zu wohl, was es um einen traumlosen Schlaf ist, und stören niemand daraus auf ohne dringende Notwendigkeit.«

»Aber ich habe die Nacht in der Tat übel zugebracht«, sagte der Hofrat klagend, und zwar mit einem Blick nach der Korridortür des Kommerzienrats in der Erinnerung an den Lichtschein auf der Schulter und dem Haupte der jungen Dame unter dem Kronleuchter der gnädigen Frau und – an die Visitenkarte seines jetzigen rauhen Führers, die ihm Rupfer nach seiner Rückkehr aus dem Gesellschaftsabend seiner Hausgenossen abgeliefert hatte. Er sagte aber von beiden nichts.

»Ist es nicht schon ein Segen, daß du dich wenigstens noch einmal wieder auf den Beinen findest?« meinte Peter Uhusen weiter. »Wie lange ist's her? Vor zwei Stunden – da lagest du – nicht tot von den Toten begraben, aber scheintot von dem Leben mit Kissen und Kopfweh zugedeckt, in Nervenschwäche verpackt, durchaus nicht fähig, dich selbst deines Ruhmes unter den Lebenden zu erfreuen, und nun ahnst du sowenig wie ich, zu was für einer göttlichen Komödie und zu welchem wundervollen Motiv für spätere objektive Darstellung für Redebühne und Druckerpresse ich dich aus dem Bett zu holen hatte, und zwar mit dem Degen des Leutnants Hegewisch!«

In der Gasse vor dem offenen Wagenschlage seufzte er noch:

»Wahrhaftig, die frische Luft wird dir gut tun. Und mir auch«, setzte er hinzu.

»Da fährt er mit ihm ab wie der Satan mit der armen Seele!« grinste Rupfer, dem Wagen mit bedientenhafter Schadenfreude nachsehend. Der Schmied von Jüterbog aber befand sich mit seinem Jugendgenossen eben auf dem Wege nach dem »Lumpen-, Knochen- und Alteisenkeller« der großen Dame – der guten, alten, tapfern Mama Cruse, ihrer beiderseitigen guten, alten Bekanntschaft, deren königliche Gewänder einst so wundervoll durch ihr junges Dasein gerauscht waren und geglänzt hatten.

Dreizehntes Kapitel

Nun saßen sie nebeneinander im Wagen und rasselten durch die Straßen eine nicht kleine Strecke Weges. Uhusen aufrecht, die verstümmelte Faust auf der Satyrfratze seines getreuen Stabes; Albin Brokenkorb von Zeit zu Zeit die Stirn mit dem feinen, wohlduftenden Taschentuch betupfend.

Der Hofrat begann die Unterredung: »Ich wehre mich nicht länger! – Wie ich hierzu komme, weiß ich nicht; aber was du mit mir vorhast, wohin wir fahren, das will ich doch jetzt wissen. Ich bitte dich also dringend, diesem – diesem – Scherze ein Ende zu machen, bester Freund. Wir sind allmählich doch wohl ein wenig zu alt für dergleichen Komödienfahrten geworden.«

Der gute Komödiant, Herr Schmied aus Jüterbog, wendete sich zum erstenmal mit dem grimmigsten Ernst auch auf dem Gesichte zu dem Lebensgenossen und sagte: »Hm, du zitiertest vorhin das Neue Testament, wenn auch vielleicht nicht völlig nach der Meinung des Herrn: Lasset die Toten ihre Toten begraben. Weißt du, Albin – es wird dir auch das vielleicht sonderbar erscheinen, ich habe mich die letzten Jahre viel mit dem sonderbaren Buche abgegeben. Unsereiner kommt beim Raketendrehen und Feuerräderabbrennen und grade häufig im allerschönsten Brillantfeuer auf allerhand sonderbare Liebhabereien. Mit den drei Synoptikern habe ich mich nicht ohne Interesse beschäftigt Matthäus, Markus und Lukas oder Lukanus nennen sich die Graubärte ja wohl? –, und ich versichere dich, wenn man zwischen ihren Zeilen liest, kommt man auf ganz sonderbare Ideen. Des Menschen Sohn, der da durch die Blätter geht, nimmt einen mit sich auf seine Wege, man mag wollen oder nicht! Ich habe dir bereits gesagt, daß ich lese, was du drucken läßt. – Du gehst da nicht selten auch um den Mann aus Galiläa – herum und verwendest das, was die drei Knasterbärte vom Hörensagen über ihn berichten, zweckdienlich genug; deine Damen müssen entzückt darüber sein. Sie haben viel Sonne im Orient. Die Blumen sind dort ja wohl das ganze Jahr durch köstlicher gekleidet als Salomo in seiner Pracht. Palmen wachsen da, während wir uns mit der deutschen Eiche, und noch dazu die längste Zeit im Jahr kahl, zu begnügen haben. Aber damit du mich nicht länger stumm fragst, was dieses alles soll, so sage ich nur, daß mir der Mann aus dem sonnigen Nazara am deutlichsten in die Erscheinung tritt, wenn hierzulande die Tage kurz und die Nächte lang sind, die Dachrinnen gießen oder der Schnee fällt. Ich gehe dann gern die deutschen Regen- und Rauhfrosthalden entlang oder – noch lieber – durch die Rinnsteine oder unter den Dachrinnen unserer Städte und träume und überdenke Undruckbares. Ich armer Krüppel, Teufel, Vagabund verkehre dann am liebsten mit meinesgleichen, meiner Bekanntschaft und Verwandtschaft und brauche nie weit zu laufen, ohne den wackelnden Tisch zu finden, unter dem man seine Beine mit der übrigen Lumpengenossenschaft behaglich ausstrecken darf. Man trifft vornehme Leute an dergleichen Tafeln, armer Albin, und diesmal habe ich außergewöhnlich Glück gehabt, Albin. Du wolltest mich an deinem Mittagstisch in die interessanteste Gesellschaft dieser winterlichen Welt einführen; ich aber bin beauftragt, dich zu der Mutter Cruse zu führen. Sie schickte mich mit dem Degen des Leutnants Hegewisch. Du weißt mit der Creme der Menschheit umzugehen; aber ich rate dir doch, dich zusammenzunehmen; eine der ersten Damen der Erde wünscht dich wiederzusehen und dich zu sprechen – eine ganz liebe, alte Tante! Übrigens sind wir an Ort und Stelle, und – da stehen wir Kamele vor dem Nadelöhr.« –

Der Wagen hielt vor dem Geschäftslokal der Frau Wendeline Cruse, und die Frau Wendeline stand wie vor vier Stunden auf ihrer Kellertreppe auf der gewohnten Stufe. Eine merkwürdige Veränderung war aber in ihrer äußern Erscheinung vorgegangen; sie hatte in ihren Koffern gekramt. Sie hatte das Kostüm gewechselt.

Abgeworfen war das, was zu ihrer Rolle als Althändlerin gehört hatte: der schmutzige braune Rock, die Friesjacke, das grellbunte, über Kreuz geknüpfte Wolltuch, die braunen Wollstrümpfe und die niedergetretenen Filzschuhe der »Madam aus dem Lumpenkeller«. Die gnädige Frau erwartete die beiden Herren und das, was der Tag weiter bringen mochte, als den besten Ständen angehörige Matrone. Tadellos von dem Hute bis zu den Stiefelchen, würdig in den Mantel gehüllt und statt auf den Degen des Leutnants Hegewisch nun auf den eleganten Regenschirm gestützt. Sie wußte sich in alle ihre Rollen zu finden; aber diese »war ihr doch von allen am meisten auf den Leib geschrieben«, wie der lange Peter Uhusen, ihr Herr Schmied aus Jüterbog, in tiefer Rührung bei sich dachte, mit dem Kostüm die silbergrauen, vornehmen Locken, die treuen, klugen, fröhlichen Augen, den feinen, ironisch-gutmütigen Mund der großen Gönnerin und tapfern Lebenskriegsgenossin in Betracht ziehend.

»An dem Bett eines kranken Kindes würde sie sich ebensogut wie ein ander solides Erdenweib zu benehmen gewußt haben, weshalb sollte sie nicht mit meinem Freund Brokenkorb sofort auf den richtigen Fuß gekommen sein?« fragte später Uhusen und hatte recht in seinem Vertrauen. Die Frau Wendeline machte nicht das geringste Aufheben beim Anblick des Hofrats. Sie kreischte nicht auf, sie machte in keiner Weise einen unnötigen Lärm. Sie wußte ihre Überraschung zu verbergen und war die unumschränkte Herrin ihrer Gebärden.

Sie sagte einfach: »Auch Sie, Herr Doktor? Quelle journée des miracles! Wie angenehm, auch Sie an diesem wunderlichen Tage wiederzusehen! Die Jahre sind wohl über uns beide dahingegangen, aber ich würde Sie unter allen Umständen und an jedem Orte wiedererkannt haben. Sie erinnern sich meiner auch ein wenig? Wendeline Cruse ist mein Name. Ihre liebe Frau Mama war vor längern Jahren sehr liebenswürdig gegen mich, und Ihrer, Herr Hofrat, erinnre ich mich auch sehr gut. Sie haben sich auch wirklich nicht mehr verändert, als die Jahre so mit sich bringen.«

»Frau Wendeline Cruse!« wiederholte der Hofrat, »mein Gott, Peter –«

»Es ist ein Tag der Wunder oder wunderlichen Begebnisse«, sagte der schwarze Peter. »Wer weiß, was uns noch an alten und neuen Bekanntschaften für den heutigen Tag aufgehoben war? Ich bin auf alles gefaßt und werde mich über nichts wundern. Auch über mich und dich nicht.«

»Dies ist brav – dies ist tapfer von Ihnen, lieber Brokenkorb«, sagte die alte Dame. »Drei Leute, die sich nicht vor den Gespenstern der Vergangenheit fürchten, wie selten trifft man die auf einem Flecke zusammen! Vor dem kommenden Tage keine Angst zu haben ist da eine Kleinigkeit. Nicht wahr, Schmied aus Jüterbog? Und nun, wenn die Herren nur einen Augenblick sich gedulden wollen, daß ich das Geschäft schließe für den heutigen Tag. Sie helfen mir wohl ein wenig mit dem Fensterladen, Uhusen? Calate la tenda. Vorhang herunter.«

Der lange Peter griff zu, wie jemand, der dergleichen nicht zum erstenmal besorgte. Die alte Gönnerin schloß die Tür ab und flüsterte dabei: »Die Adresse weiß ich; aber Sie sind doch sicher, daß wir auf – seine Nerven nicht zuviel hin wagen?«

»Unsereiner hat auch seine Nerven«, meinte lachend der Mann von Bull-Run. »Nach denen fragt freilich niemand.«

Zu dem betäubt auf das Firmaschild der Althändlerin starrenden Jugendfreund sagte er nur kurz: »Die gnädige Frau kennt die Adresse Erdwinens und ihrer Kinder. Ich meine, wir beeilen uns ein wenig; die Dämmerung kommt schon recht früh um diese Jahreszeit.«

Er half der großen Dame beim Einsteigen; den willenlosen Hofrat hob er hinein in den Wagen und stieg grimmig, den Stock von Travemünde, den Knüppel aus dem Märchenland, unterm Arm, rasch selber nach.

»Vorwärts, Schulzenstraße Numero zehn!«

Die Schar der Gaffer aus der Nachbarschaft, die sich längst um die Droschke vor dem Lumpen-, Knochen- und Alteisenkeller versammelt hatte, gab den anziehenden Pferden Raum, um aber sofort zu einigen Nachbemerkungen von neuem zusammenzutreten, zu einigen Bemerkungen sowohl über das Fuhrwerk wie über die Nachbarin, ihre Firma, ihre zu so ungewohnter Stunde geschlossene Geschäftstür und die Herren, die sie abholten.

»'ne Droschke erster Klasse! Was sagt der Mensch dazu? Und sie wie 'ne Gräfin aus die Modenzeitung und 's Wachsfigurenkabinett! Und denn die beiden Herren, die wie zu Hofe vorfahren! Großartig.«

»Na, der eine von die beiden sah ruppig genug aus, und der Deibel hat ihn auch recht hübsch durch die Photograph'nauslage gekämmt.«

»Ja und per Wagen ist auch schon mehr als eine abgeführt worden, aber weniger zu Balle, als wo's weniger hübsch ist. Das Kriminal und die liebe Polizei –«

»Bedienen sich für ihre angenehmen Extratouren selten eines Kupees ersten Ranges und schicken 'ne andere Sorte von Kommissionäre. Ihre Blocksbergerfahrungen in allen Ehren, Mutter Jurke, aber diesmal stimmt det nicht. Und auf die alte Dame laß ich überhaupt nichts kommen. Von dem Tage an, wo sie hier ihre Großhandlung eröffnet hat, ist sie mir sympathisch gewesen, und ich habe gleich gesagt: hinter der steckt was. Und ich muß das zu beurteilen wissen, denn –«

»Den Katzenkopp, den sie gestern meinem Altesten gesteckt hat, den weiß ich zu beurteilen und behalte ihn ihr auf dem Konto trotz alle ihre Hintertreppen-und Tafeldeckerei-Erfahrung, liebster Pieseke. Darauf können Sie Gift nehmen, den Löffel werd ich Ihnen mit Vergnügen dazu leihen. Was sagen Sie, Madam Müller, was ist Ihre Erfahrung? Wird det olle Maskeradengeschöpfe erst zu einer Hochzeit oder schon zu 'ner Taufe gebraucht als Gelegenheitsmacherin?«

»Maskeradengeschöpfe stimmt ausnehmend. Aus de Gosse in de Karosse. Was alles da aus das alte Eisen aufsteigen kann! Morgens Knochen wiegen – mittags Lumpen sortieren und nachmittags mit 'n Är in die Ekipasche wie die hochselige Kaiserin von China. Aber ist es dem Polizeipräsendenten recht, so muß es mir auch konform sein. Und übrigens, wozu sind wir denn, Gott sei gelobt und gepriesen, endlich Weltstadt geworden, wenn wir uns noch über was wundern wollen? Juten Abend, meine Herrschaften.« –

Während so wieder einmal Kritik über sie geübt wurde, lehnte die alte Frau, von der auch hier wieder einmal die Rede war, äußerlich ruhig und unbewegten Gemütes im Hintersitz des Wagens den beiden Männern gegenüber und sah längere Zeit, ohne ein Wort zu bemerken, von dem einen auf den andern. Sie hatte den ihr gebührenden Platz sofort eingenommen und zu Peter Uhusens innerstem Behagen die »Regie übernommen« und führte sie »gelassen im Regen wie im Sonnenschein, unbefangen gegen Sünder und Gerechte ganz wie zu Olims Zeiten, da wir Esel noch jünger waren und auf der Weide hintenausschlugen.«

Nun reichte sie mit freundlich-mütterlichem Gestus die Hand im tadellosen Handschuh – nicht dem Freund aus Untermeidling, sondern dem – andern hinüber und sagte: »Sie sahen, lieber Hofrat, daß ich zu dem alten Eisen geraten bin; aber ich bin nicht schuld daran, daß sich unter meinem Vorrat der Degen Ihres alten Freundes, des Leutnants Hegewisch, eingefunden hat. Ich habe den da, den Einäugigen da in der Ecke, zu Ihnen mit dem Funde geschickt, und – bei der ewigen Nacht und der Sonne, die das ewige Blau daraus macht, wie Sie selber neulich so hübsch in der Singakademie sagten – ich freue mich in der Seele, daß Sie mit dem närrischen Peter zu mir gekommen sind, um den Spuren zu folgen, auf welche dieses alte Eisen hinweist. Verpflichtet ist ja im Grunde keiner von uns dazu.«

»Na?!« brummte der schwarze Peter, doch der war wie gar nicht vorhanden für Frau Wendeline Cruse.

Die feine alte Frau sah über den Verfasser der »Blankeneser Seeräuber« gänzlich hinweg. Sie widmete sich ganz dem Hofrat. Auf das zierlichste zog sie den Faden, ganz unmerklich für den Betreffenden zog sie ihn, und der Schmied von Jüterbog konnte, sich in seiner Wagenecke zurechtrückend, nur sich sagen: ›O du abgefeimte graue Meerschweinchenmama!‹

Wie mütterlich oder großmütterlich für den armen Albin besorgt, seufzte Frau Wendeline: »Was kann uns noch Erdwine Hegewisch sein? Fünfzehn Jahre sollen eine lange Zeit sein; zwanzig sind unbedingt eine längere. Was wissen wir noch von den Tagen, da wir jung waren, da wir die Sonne, den Mond und die Sterne noch nicht in den Akten des Lebens, sondern nur über unsern dummen, jungen Köpfen hatten? Jaja, lieber Albin, verjährter Mondschein auf der Lübischen Bucht! Reizend sah das Kind im Efeukranz aus, das schöne Mädchen, mit dem wir auf der Spiegelflut schaukelten. Aber ist es nicht ein Jahrhundert, ein Jahrtausend her, seit sich ihr Schicksal von dem unsrigen getrennt hat? Was ist uns Erdwine Hegewisch? Was haben wir mit der Witwe Wermuth in der Schulzenstraße zu schaffen?«

»Gnädige Frau« – stammelte Albin; aber die große alte Dame legte ihm die Hand im feinen Handschuh auf den Arm und sagte: »Wenn einer wie ich im Kehricht anlangte, dann kann er, wenn er nicht auf dem Wege zum Tier geworden ist, viel gelernt und dann und wann sogar ein sehend Auge bekommen haben. Schade, daß Sie nicht erst einen Augenblick in meinem Keller auf dem Sack gesessen haben, lieber Brokenkorb, auf welchem dieser närrische Kerl hier heute morgen saß. Aber einerlei, Sie sollen mir doch noch die Mutter Cruse unter dem alten Eisen symbolisch verwerten! Das Fatum hat uns drei, nicht ohne seine Gründe zu haben, wieder zusammengeführt durch den Degen des lieben, alten, törichten, armen Leutnants Wolfram Hegewisch. Bau – Kolding – Fridericia; – Witwe Erdwine Wermuth, was ist uns das, was soll uns das? Die alte Klinge ist's, das alte Eisen ist's, mit dem alles übrige in unserer Erinnerung wieder aufgewacht ist und uns drei aus dem Lumpenkeller, aus Untermeidling und – aus Ihrem schönen, reichen Leben, Herr Hofrat, in dieses – nichtsnutzig – stoßende – Gefährt zusammengeschachtelt hat.«

»Bei den unsterblichen Göttern!« rief der lange Peter, doch die Frau Wendeline fuhr auch jetzt fort, ohne auf ihn zu achten, obgleich sie ihn nun mit anredete: »Ich habe gleichfalls meine Zeit nicht verloren, lieber Uhusen, während Sie mit dem Degen des Leutnants zu unserem guten Hofrat liefen. Meine Geschäftsverbindungen im Abfallhandel sind mir diesmal sehr zustatten gekommen. Ich habe das Nötigste sofort auf wenig diplomatischem Wege in Erfahrung gebracht. Das Kind ist zugrunde gegangen als die Witwe eines verkommenen Musiklehrers; wir kommen grade recht zu ihrem Begräbnis. Der Degen des Leutnants Hegewisch scheint übrigens nicht mehr des armen Weibes wegen unter meinen Kehricht, zu meinem alten Eisen geraten zu sein. Nun, wir werden ja sehen, wohin die Klinge deutete. Nicht wahr, Peter Uhusen?«

Das letzte Wort richtete sie ganz und gar an Herrn Schmied aus Jüterbog.

Vierzehntes Kapitel

Es war Albin, der leise noch einmal nach dem Namen des Gatten des weiland schönsten Mädchens der Stadt Lübeck fragte, und die Frau Wendeline sagte kopfschüttelnd: »Franz Wermuth! Das ist auch eine Seltsamkeit dieses Tages, daß auch der mir schon über den Weg gelaufen ist. Er war seinerzeit kein übler Geiger, und meine Mama hat ihn in Süddeutschland in ihrem Salon als Wunderknaben unter dem übrigen Volk der Menagerie in einem Ringe schaukelnd gehabt. Jedenfalls ist er auch bedeutend älter als das arme Mädchen gewesen. Er war ein Narr, aber kein bösartiger. Vielleicht geriet das Kind noch gar ganz an den Richtigen, und es hätte ihr sicherlich noch viel übler als bei ihm gebettet werden können. Aber lassen mich die Herren einen Augenblick. Wie saß ich heute morgen noch so ruhig und als Philosophin im Kehricht, und da rasselt es unter den Knochen, und die Lumpen werden lebendig, es fängt der ganze Plunder von neuem an zu spuken. Was von dem Uhusen noch übrig ist, kommt die Gasse herab, als ob sich das völlig so von selber verstünde. Und hier – der ganze Herr Hofrat Brokenkorb und der brave Junge mit dem Degen seines Großvaters, der tapfere Junge, der mir das glorreiche Unglückszeichen gegen eine Düte Sargnägel verpfänden will – mein Gott, mein Gott! Mein Kopf, mein Kopf!«

Es blieb nun still in der Kutsche, die nicht nur die vornehmen, sondern auch die anständigen Straßen der Stadt allmählich hinter sich gelassen hatte und in südwärts gelegene Regionen derselben sich verlor, die wahrlich nicht mehr selbst im kleinbürgerlichen Sinn zu den »respektabeln« gerechnet werden konnten.

Von einem Droschkenkutscher erster Klasse konnte man es auch nicht verlangen, daß er hier genau Bescheid wisse. Er hielt öfters an, sah nach den Straßennamen an den Ecken und holte sich auch mehrmals mündlichen Rat.

Zuletzt hielt er aber wirklich und meinte, den Schlag öffnend: »Wenn die Herrschaften meinen, so – wären wir hier vielleicht. Numero zehn!«

Der Schmied aus Jüterbog warf nur einen kurzen Blick herum und half der Frau Wendeline beim Aussteigen. Auch diese sah nur ernsthaft gelassen zur Rechten und Linken und dann an dem Hause empor, vor welchem der Wagen hielt.

Als Albin Brokenkorb als der letzte ebenfalls im schlüpfrigen Straßenkot stand und sich umsah, murmelte er wie die gnädige Frau: »Mein Gott!«, aber mit ganz anderer Betonung als wie jene. Doch noch war er gottlob imstande, Literatur zu denken: ›Auf unseres Lebenspfades Mitte fand von einem dunkeln Wald ich mich umfangen! Der fünfundzwanzigste März des Jahres dreizehnhundert!... Virgil, Virgil!... und... Beatrice, Bea-‹

Er vollendete auch in Gedanken den holden Namen nicht zum zweitenmal.

»Nanu, aber das Gefahre heute! Die eine Ekipasche zu, die andere ab, wie bei 'ne Neujahrsgratulation unter die Linden. Na, Herr wirklich Geheimer, womit können wir Ihnen denn hier bei uns dienen?«

»Det werde ick Ihnen sofort sagen«, sprach die Mutter Cruse, sich trotz der Verwirrung, in welche der Tag sie geworfen hatte, der Herrschaft über die Korona der Gegend, welche sich auch hiesigen Orts sofort um den Wagen und seine Insassen versammelt hatte, bemächtigend, und zwar durchaus im Ton und zum Verständnis des Ortes. Sie schob die Hand weg, die sich aus dem Kreise heraus auf den armen Albin gelegt hatte, rief dem Kutscher zu: »Sie warten, lieber Mann!« und wendete sich an Peter Uhusen: »Nehmen Sie jetzt den Hofrat, während ich das übrige besorge.«

Es war klar, daß etwas vorgegangen war in der Gasse, und zwar vor noch nicht langer Zeit. Weiber mit und ohne Kinder auf den Armen standen in Gruppen vor der Nummer zehn. Auch Männer, die Hände in den Hosentaschen, lungerten umher. Die Stimmung schien eigentümlich zu sein. Es wurde wohl gelacht, es fielen wohl schlechte Redensarten, und schlimme Witze wurden gemacht; aber es wurden doch auch die Köpfe geschüttelt, und zwar nicht bloß stupide, sondern auch betroffen, nachdenklich, ernsthaft und in feigem Mitleid.

Die vornehme Dame, der feine Herr im schönen Pelz und Peter Uhusen erregten natürlich neues Aufsehen; das erste Zwiegespräch zwischen dem Volk und der Frau Wendeline fand statt, und die Mutter Cruse wußte auch weiterhin mit den Leuten fertig zu werden und übernahm es, die notwendigen Erkundigungen einzuziehen.

»Wohnt hier die Witwe Wermuth?«

»Hat hier bis vor 'ner halben Stunde gewohnt, Madameken. Aber abgereist! Eben mit dem Omnibus nach dem Bahnhof – na ja, wenn der Aujust da seine Gäule ordentlich was zumutet, kommen Sie vielleicht noch recht, um den letzten Abschied von ihr zu nehmen.«

Der Bursche; der so antwortete, wurde von einer älteren Frau zurückgedrängt, die ihm mit einem Rippenstoß riet, sein dummes Maul anderswo hören zu lassen, und sich zu der Mutter Cruse wendete: »Sie suchen die unglückselige Kreatur, die Witwe Wermuth? Da kommen Sie leider ein bißchen zu spät. Eben hat man ihr abgeholt.«

»Das Begräbnis hat stattgefunden?«

»So, das wissen Sie also schon, daß sie tot ist? Ach Madam, was muß der Mensch alles erleben! Ja, eben ist sie da um die Ecke, wo Sie hergekommen sind. Seit Wochen sind wir hier in der Straße vor ihr nicht zur Ruhe gekommen; aber nun schenkt der Herrgott ihr den Frieden, und uns ist ja wohl auch die Last vom Halse genommen, und man braucht nicht mehr an sie zu denken!«

»Die Frau hat Kinder hinterlassen?...«

»Ach Gott, die Würmer! Jawohl, jawohl! Hier stehen wir mit unsere an die Schürze oder auf 'm Arm, und die Range da im Rinnstein – willste heraus, Jammerkröte! – gehört auch zu mir. Aber Gott soll sie bewahren, daß sie so bei mir Wache halten müssen wie der Wermuthen ihre seit 'm Sonntagmorgen bis eben am Nachmittag!«

»Nehmen Sie den Hofrat unter den Arm, Uhusen«, sagte die Frau Wendeline. »Liebe Frau, wo kann man das Nähere erfahren?«

»Nu, natürlich in ihrer Wohnung, wenn Sie sich die Mühe geben wollen und die Vergiftung nicht fürchten. Fünf Treppen hoch. Witwe Wermuth mit Kreide an die Tür, und der Wirt hat die fällige Miete drunter notiert!«

»Wen trifft man da oben?« fragte die Mutter Cruse; aber da trat die ganze Gruppe ein wenig zurück und blieb anfangs stumm, bis über die Schultern der Nächststehenden hinweg jemand, nicht ohne Heiterkeit in der Stimme, rief: »Wissen Sie was? Rufen Sie mal an der Bodentreppe: ›Rotkäppchen!‹ Es wird ja denn vielleicht wohl wer Appell geben, der genauer Bescheid weiß als wie wir. Ein ganz nettes Mädchen! Ja, rufen Sie nur: ›Fräulein! Fräulein Rotkäppchen!‹«

»Was soll die Dummheit?« rief die große Frau aus dem Knochen-, Lumpen- und Eisenkeller, mit allem Nachdruck in den Kreis vortretend, nach dem Ratgebenden hin, und der Pöbel wich zurück, wie überall da, wo sie den Fuß fest aufsetzte. »Ich wünsche zu wissen, wo ich die Kinder der Frau Wermuth finde.«

Aber die Frau mit dem Kinde auf dem Arm, dem Kinde an der Schürze und der Range in der Gosse meinte: »Ach ja, tun Sie es doch nur! Rufen Sie da oben nach dem Fräulein. Rufen Sie gütigst an der Bodentreppe den Namen Rotkäppchen. Sie heißt zwar so nicht, aber sie hört auf den Namen. Die Herren Professoren und die Herren von den Künsten haben ihn ihr beigelegt aus Spaß. Wir hier unten haben uns wirklich zu sehr vor der Sterblichkeit gefürchtet, was die Witwe Wermuth angeht.«

»Kommen Sie, Uhusen«, stöhnte Wendeline Cruse. »Ich glaube, wir haben keine Zeit zu verlieren. Mir wird immer seltsamer zumute, und ich ahne, was es bedeutet, wenn sich der Mensch hier in dieser Stadtgegend vor seinesgleichen des Todes wegen zu fürchten anfängt.«

Es war nun völlig Zwielicht geworden, aber noch hell genug, daß sie die Treppen in den untern Stockwerken des Hauses Nummer zehn ohne viel Gefahr für ihre gesunden Gliedmaßen überwanden. Erst in der Höhe wurde der Weg bedenklicher; denn mit der Gebrechlichkeit und Steilheit der Treppen nahm die Dunkelheit zu, und sie fanden sich bald auf das vorsichtigste Tasten angewiesen.

Ohne den guten Peter Uhusen wäre jetzt selbst die tapfere alte Dame beinahe und der Hofrat Brokenkorb ganz und gar verloren gewesen. Doch der Peter wußte nicht nur mit den gebrechlichen Leitern und der Dämmerung, sondern auch mit den Bewohnern des wimmelnden Gebäudes noch besser als die Mutter Cruse zurechtzukommen. Seine zerfetzte, ruinierte, schwarzgebrannte Visage, sein Haarwuchs und Bart, seine Lodenjoppe und sein Knittel von Travemünde imponierten letztern doch noch um ein weniges mehr als die Mutter Cruse.

Sie gingen mit einem Gefolge, das größer wurde, je höher sie kletterten. Von allen Treppenabsätzen, aus allen Gängen drängte es sich hervor, ein schattenhaftes, unheimliches, murmelndes, kicherndes, zeterndes Gewimmel, und der Hofrat hätte wohl von neuem ängstlich »Virgil! Virgil!« rufen dürfen. Er hing körperlich und geistig zitternd dem heutigen »Meister und hohen Führer« am Arm und murmelte nur: »Ein Traum, ein Traum! Ich träume das!« Aber Peter Uhusens frohmutiger Baß blieb derselbe zu ebener Erde, im ersten Stock und unter dem Dache, bei Tage, in der Dämmerung und in der dunkelsten Nacht. Ein Mann mit so wohlwollend dröhnendem Organ verschafft sich überall nicht nur Durchgang, sondern auch Auskunft. Der gute Peter wußte sich auch hier auf jedem Treppenabsatz das Individuum herauszuholen, das er am besten auf seinem Wege gebrauchen konnte. Wie im Fluge machte er Bekanntschaft: Mann, Weib und Kind standen ihm Rede, und den braven Stab aus der Schwartauer Hecke durfte er ruhig unter dem Arm, an welchem ihm sein Freund Albin nicht hing, weitertragen.

»Das ist der richtige Reservemann, und – wenn ihn – die alte Tante da in die Welt gesetzt hat, na, denn kann man sie beide gratulieren!« sagte oder dachte die Einwohnerschaft des Hauses Numero zehn. –

Höher, immer höher, bis es anscheinend nicht höher ging! Seltsamerweise standen sie im fünften Stockwerk verhältnismäßig im Hellen. Ein ziemlich großes Dachfenster warf noch den letzten Tagesschein auf den Vorplatz; – und dazu ein wunderliches Phänomen: sie fanden sich ohne alle Begleitung – sie fanden sich allein vor der Tür der Witwe Wermuth!

Selbst der Schmied von Jüterbog wendete sich verwundert zurück nach der Tiefe, aus der sie emporgestiegen waren. Er stieß die eiserne Zwinge seines Stockes in den morschen Boden und sah auf die Frau Wendeline und sagte grimmig: »Sie hatten recht, Mama! Die ganz gewöhnliche feige Welt, in der wir Atem holen – so lange als möglich!«

Frau Wendeline machte nur ihre königlichste Handbewegung, antwortete aber weiter nicht, sondern schritt auf die nächste, weit offenstehende Tür zu, die Tür mit der Kreideinschrift des Hauswirts. Über den Rand des Treppenhauses hoben sich nur einige Kinderköpfe, aber verschwanden auch wieder. Sie duckten nieder auf den Anruf von ein paar kreischenden, ängstlichen Weiberstimmen. Die Witwe Wermuth war ausgezogen. Es war nichts mehr von ihr persönlich im Hause vorhanden als ihr Name und die Summierung ihrer letzten uneingelösten Schuldrechnung auf der Erde an der Tür; aber das Haus fürchtete sich noch immer vor ihrem Gift und traute sich mit seinen Kindern nicht heran an den Strohsack, auf dem sie ihren Kindern Märchen und von ihrem Leben, von ihrem Freund Peter Uhusen und dem »andern« und von ihrem Vater, dem Leutnant Hegewisch – erzählt hatte.-

»Niemand hier!... Leer!...«, sagte Peter, und es gibt Orte, wo die gesundesten, kräftigsten Stimmen am gespenstischsten klingen. Uhusen hatte seine Worte ganz leise gesprochen, und ein gespenstischer Nachhall klang doch aus dem öden Raume zurück: Leer!

Nur die furchtbare Strohmatratze dort im Winkel, der Lumpenhaufen, auf welchem sich die schöne Erdwine Hegewisch zum letzten, ruhigsten Schlaf ausgestreckt hatte und auf dem ihre Kinder gekauert und sich mit der Erinnerung an die Märchen und Lebensgeschichten der Mutter die Angst, die Schauder der letzten Tage und Nächte vertrieben hatten!

»Albin, Albin«, murmelte Peter Uhusen jetzt selber schaudernd, dem Jugendfreunde den Arm zum erstenmal in wirklicher alter Vertraulichkeit um die Schultern legend. »O ihr Mondscheinnächte auf den klingenden Wassern! Du machtest damals recht gute Verse. Sie waren recht gut, und es war nur nichtsnutzig von mir, wenn ich dich darob auslachte. Was gäbe ich darum, wenn ich in diesem Augenblick um diese arme Erdwine mir die Haare ausraufen und über dich lachen oder dich prügeln könnte!«

Der Hofrat murmelte fröstelnd, zitternd nur, daß dies freilich entsetzlich sei, daß er die Welt nie so gesehen habe, daß er sich das – dieses – solches nie, nie, nie so vorgestellt habe. Und seufzend klopfte ihm der Jugendgenosse auf die Schulter und meinte: »Ja, Bruder, wenn der Weg zum Tisch der Götter immer nur über Asphodeloswiesen führte, was für ein Kunststück und Verdienst wäre dabei, ihn zu beschreiten?«

»Aber die Kinder! Die Kinder! So denkt doch an die Kinder, ihr Menschenkinder! Es sind ihrer zwei. Der brave Junge mit dem Degen des Leutnants Hegewisch und sein Schwesterchen. Wo sind die Kinder?«

Ja, wo waren die Kinder geblieben? Wohin hatte sie der schreckliche Besen unter den Abfall des Lebens gekehrt?

»Ich wollte, ich hätte sie in meinem Keller bei meinem Kehricht und säße mit ihnen hinter geschlossenen Läden und Türen«, murmelte die Mutter Cruse. »Rufen Sie doch einmal die Treppe hinunter und erkundigen Sie sich nach ihnen bei den Armen im Geist, Uhusen!«

Herr Schmied aus Jüterbog tat das; aber nur ein paar schrille Kinderstimmen gaben ihm aus dem dunkeln Treppenhaus herauf die Antwort: »Ausgezogen und abgefahren mit ihrer Mama!«

»Was bleibt uns jetzt übrig, als den Rat anzunehmen, den uns die Leute drunten in der Gasse gegeben haben?« fragte die Frau Wendeline, und aus der leeren, schweigsamen Kammer wieder auf den Vorplatz tretend, rief sie mit ihrer trotz ihres Alters noch wohltönenden Stimme nach dem höchsten Dach empor: »Rotkäppchen!« und nach einigem vergeblichen Horchen nochmals: »Rotkäppchen! Rotkäppchen!«

»Das soll mich doch wundern«, brummte der schwarze Peter.

Noch regte und rührte sich nichts, keine Maus, und von den Geistern des Hauses weder ein guter noch ein schlimmer.

»No mouse stirring!« murmelte Mrs. Crusoe von Brooklyn.

»Sie will uns hören stärker beschwören«, sagte Peter. »Was meinen Sie, Mama Cruse, wenn ich dieser märchenhaften Unbekannten mit dem lieben Namen einmal die Versicherung gäbe, daß wir nicht zu der Polizei gehören, sondern als die besten Freunde der Witwe Wermuth kommen?«

Frau Wendeline hatte nicht nötig, hierüber ihre Meinung abzugeben. Über ihren Köpfen raschelte und knisterte es, Staub und Kalkstückchen lösten sich von der Decke, und durch eine der Ritzen zwischen den Planken kam ein melodisch Stimmchen:

»Wer sich darauf verlassen könnte!«

»Sie können sich dreist darauf verlassen, Fräulein Rotkäppchen!« rief der Schmied von Jüterbog nach den Balken über seinem dicken, braven Haupte, und zwar mit dem vertrauenerweckendsten Ausdruck, hinauf. »Kommen Sie ruhig herunter, Rotkäppchen. Wenn wir selber nicht schon dann und wann von der Polizei gefaßt worden sind, so ist wenig von unserm Verdienst dabei.«

Und siehe! Es war, als erhebe sich da oben jemand aus lauschender Stellung von den Knien. Und nun schüttelte das sich und trippelte vorsichtig hin und her. Und nun schwang das sich von dem allerobersten Dachwinkel des Hauses Numero zehn nicht mehr eine Treppe, sondern die Leiter hinunter, schattenhaft durch die Dämmerung, kätzlich, mit Affengewandtheit, zierlichst balletterfahren, geschickt von Griff zu Griff, von Staffel zu Staffel. Ein Röckchen blieb an einem Nagel hängen, und zwei weiße Strümpfchen wurden auch noch bei fast vollkommenem Abenddunkel merklich sichtbar. Ein letzter Sprung, und im tadellosen Kreis- und Hakenschwung vor den drei Freunden von Erdwine Hegewisch sich drehend, sank ein Frauenzimmerchen von wenig mehr als achtzehn Jahren in einem tiefen Knicks zurück und legte die Hände wie flehend zusammen und dann den Finger auf den Mund und flüsterte, im hülflosen Trotz schluchzend: »O Himmel, um Gottes willen! Wenn Sie mich angelogen haben, fällt mein Blut auf Ihre Köpfe! Ich bin heute morgen mit der frühesten Frühe hier eingeschlupft – o großer Gott, und ich kann von allem Rechenschaft geben, nur mit der Polizei will ich lieber nichts zu tun haben, und wenn Sie doch dazu gehören – oder – wohl gar zu der geheimen, so ersäufe ich mich in meinen Tränen und springe da aus dem Fenster – na, und was hätten Sie dann weiter als das Nachsehen?«

Dabei hatte das Ding beide Hände vor dem Gesicht und stand frostgeschüttelt, kichernd und schluchzend, und zwar in allerleichtesten Sommerkleidern, in Kleidern, die sicherlich schon mehr als eine Tanznacht mitgemacht hatten.

»Es wird wirklich zu dunkel selbst hier für den Ort«, sagte die Mutter Cruse, »aber laß dich doch mal 'n bißchen genauer ansehen! Sollte ich dich gar nicht kennen, du leichtsinniger Buttervogel? Na, Peter Uhusen, la journée des miracles! Zu den absonderlichsten Wundern gehört dieses neue Begebnis nun wohl grade nicht; aber bei meinen Lumpen, Knochen, im alten Eisen und beim Kehricht hab ich das Persönchen hier auch schon gehabt. Kennst du mich nicht mehr, du saubere Märchenprinzessin?«

Das absonderliche Rotkäppchen nahm die Hände vom Gesicht, breitete sie, komödiantenhaft mit hängenden Armen Von neuem in die Knie sinkend, vor der alten Dame aus: »O Madam, Madam – Madameken Cruse, Sie hier? Und Ihretwegen habe ich da oben das Ohr am Boden gehalten und Sie für den Schutzmann genommen? Ihretwegen, Madam, Mama, Mutterken – o verzeihen Sie mir die Vertraulichkeit; Sie sollten hier nur hergejagt worden sein und hier bei den Kindern gesessen haben seit heute früh und bei so 'nem Schnupfen und Katarrh im Anzuge – um sich nach einem Herzen zu sehnen, an das Sie sich endlich mal wieder sicher lehnen möchten! Sie wissen es also noch, daß Sie es waren, die mir meine Tanzschuhe an den Kopf warfen, als ich sie des Hungers wegen bei Ihnen versetzen wollte? Ja, Sie haben mich ohnmächtig als 'nen andern Sack voll Lumpen auf Ihren Säcken voll Lumpen liegen gehabt, und eine Tasse Pfefferminztee haben Sie mir eingetrichtert und mich satt und mit einem Paar anderer Schuh und einem ganzen Sack voll lieber, gutester, bester Vermahnungen entlassen! O Gott, wenn es nur bei unsereiner etwas helfen könnte!«

An beiden Schultern hielt die Mutter Cruse den armen Gassenschmetterling und schüttelte ihn, um endlich den Redestrom zu unterbrechen. Aber Rotkäppchen hatte schon einen andern guten Bekannten unter den dreien entdeckt; und jetzt stand sie und rief, die Arme wie zu einer Umarmung ausbreitend: »O mein Leben, und auch der Herr Hofrat – der Herr Hofrat Brokenkorb! Na, Hofrätchen, Doktorchen, wenn wir zwei einander nicht wiederkennen sollten?! O Himmel, man hat doch oft genug in den allerberühmtesten Ateliers Modell gestanden, gesessen, gelegen und gehangen, um nicht auch den Herrn Hofrat kennengelernt zu haben. O welch ein Glück, welch ein Glück! ›Siehst du, Kind, Glück muß man haben, um durch die Welt zu kommen, und das gebe ich dir mit‹, sagte meine Mutter auf dem Totenbett. Sie hat auch auf einem Sack gelegen wie der da, als sie das sagte. Und als ich bei den Kindern heute morgen dasaß und die ganze Welt tot und die Kinder im Schlaf und die Witwe Wermuth auch, da hab ich ein Herz gehabt so groß wie die weite Welt und so voll von verschluckten Tränen, und so hab ich den Kindern über den Morgen und den Tag weggeholfen und wäre auch nur zu gern mit ihnen neben dem Totenwagen hergelaufen, wenn ich – mich – nur – vor der Polizei getraut hätte.«

Diesen Redefluß unterbrach die Frau Wendeline nicht, und Hofrat Dr. Albin Brokenkorb war auch nicht dazu imstande, und der Schmied von Jüterbog, der doch mit dem Tod und dem Teufel fertig zu werden wußte, setzte nur grimmig die Zähne aufeinander und murmelte: »Es wird Zeit; wir haben Eile, Eile! Mädchen, gutes Kind, wir suchen die Kinder, da wir die Mutter nicht mehr gefunden haben. Jetzt erzähle rasch, was du weißt, halte dich nicht auf bei Nebendingen und alten Bekanntschaften. Nimm mich für eine neue, ganz solide!« Rotkäppchen warf jetzt den ersten Blick auf den zottigen Einäugigen mit dem Knotenstock und der verstümmelten Tatze.

»Gott ja!« schluchzte sie. »Ja, wie gern! Wenn man nur schon längst einen gehabt hätte, dem man sein Herz darüber ganz hätte ausschütten mögen! Sie sind ja drei Tage allein gewesen bei der Toten!«

»Allein die Kinder bei der Toten?« riefen die Mutter Cruse und Peter Uhusen entsetzt.

»Jaja. Oh, wenn der Herr Hofrat das beschreiben wollte in den Zeitungen, was ich noch seit heute morgen davon gehört und gesehen habe, damit könnte er Glück machen. Oh, wenn er mit meiner Zunge damit vor seinen Damen und dem Publikum reden wollte! Aber wer die Geschichte gedruckt liest, der glaubt sie nicht, und auch keiner von den Herren Malern kann sie recht malen.«

Albin Brokenkorb hatte nie, nie vor seinen Lichtern ein Publikum gehabt, das so atemlos, so grimmig-gespannt, so im Tiefsten erschüttert, so lautlos ihm zuhörte, wie jetzt die drei in dem leeren Dachzimmer von Erdwine Hegewisch auf das horchten, was das junge Frauenzimmer von der Sache wußte.

»Da die Witwe Wermuth sich über nichts mehr zu schämen hatte, so hat sie sich auch meiner nicht geschämt; ich hab hier nämlich auch mal im Hause gewohnt, und wir haben Bekanntschaft miteinander gehabt und uns ausgeholfen, wie es sich so machte. Sie mir manchmal mit einer Brotrinde und ich ihr, wenn ich Glück hatte, mit einem Zehnmarkstück. Aber seit Wochen oder Monaten waren wir voneinandergekommen, und den Sommer war ich im Bade gewesen und sonst auf Reisen.«

»Jaja«, murmelte die Frau Wendeline. »Natürlich!«

»Als ich dann mit dem Herbst wieder hier in der Stadt ankam, ging es mal wieder abwärts. Aus einem Pech ins andere, meine Herren. Nun, Sie wissen ja, wie das so ist, Hofrätchen. Na, wir sind das ja gewohnt, also, vivat, wer sich nicht das Herz absorgt, sondern, wenn's zum Schlimmsten geht, sich sagt: Wenn's ganz aus ist, ist's auch einerlei! So hatte ich vorgestern abend nichts mehr, als was ich auf dem Leibe hatte, und das Unterkommen in der schönen Natur störte mir, wie gesagt, in der letzten Nacht die Polizei. Die Jagd! Aber die kennen uns nicht, die da meinen, sie hätten uns, wenn sie auf zehn Schritte unsere Röcke zwischen den Bäumen sehen. Gute Nacht! sage ich ihnen und denke, bei deinen schlimmsten Feinden kannst du dich in deinem jetzigen Anzuge nicht sehen lassen – Herrje, kriech wieder unter bei der Witwe Wermuth, bis die Jagd vorbei ist und der Herr Polizeipräsident nochmals von wegen deiner ein Einsehen gehabt hat. Sind Sie wohl schon einmal so in dem ersten Morgengrauen an den Hauswänden hingeschlichen mit dem kalten Tod und sonst nichts im Magen, mein Herr?«

Mit den letzten Worten wendete sich das Rotkäppchen plötzlich an den Schmied von Jüterbog, und Peter faßte ganz zärtlich den armen Gassenschmetterling mit seiner verstümmelten Faust und murmelte: »Nur erst von den Kindern, Herze! Alles andere später, altes Mädchen.«

»Wer hier im Hause an die Arbeit geht, der muß früh raus«, fuhr das Fräulein fort. »Und so ersah ich von der nächsten Ecke meine Gelegenheit und war für den ersten, der herauskam, drin, und die Treppen hinauf, wie der Schatten von 'ner Katze. Wer um die Tageszeit nicht Hausgelegenheit wußte, hätte sich wohl den Hals brechen können. Wir brechen uns aber so leicht den Hals nicht. Nicht wahr, Madam? Nicht wahr, Hofrätchen?... Ich denke, wenn die ganze Welt einen Riegel vor der Tür hat, die Frau Erdwine hat keinen; – du wickelst dich in einem Winkel zusammen und läßt es draußen regnen, schneien, hageln und stürmen! – – – Du lieber Gott, du lieber, barmherziger Gott, was willst du mit deinen Menschen, wenn du sie das erleben oder nur bloß mit ansehen läßt...!«

Das verzauste, halb verhungerte, halb erfrorene, arme, hübsche Geschöpfchen stand neben dem Strohsack Erdwinens und breitete die Arme aus und sah schaudernd umher und in die Höhe und zuletzt starr und wie abwesend auf die drei und erzählte tonlos, gleichgültig weiter, gleichsam, als rede sie von etwas vor tausend Jahren Geschehenem: »Da lag sie tot seit Tagen, und das kleine Kind lag doch zu ihr gekrochen mit unter der Decke, und der gute Junge, mein lieber Wolf, lag dabei und nur mit dem Kopf auf der Matratze und mit dem Säbel in der Hand auf der nackten Erde, wie der tapferste Ritter, und sonst war keiner bei ihnen gewesen – bis – ich – kam – ich! Ich, mit der ganzen Welt auf den Hacken zu den beiden, bei welchen sich keiner von der ganzen Welt hatte sehen lassen in ihrer Not! Sie, liebe Frau, und Sie, lieber Herr mit dem einen Auge (ich weiß nicht, wie Sie heißen), das ist die Welt in ihrer Angst der Vergiftung wegen!«...

»Es wird immer dunkler!« murmelte Frau Wendeline, die zuckenden Hände aneinander reibend und wie blind von einem ihrer Begleiter auf den andern starrend.

»Ja, und je kürzer ich mich fasse, desto besser ist es. Keinen Menschen kann man das in der Erzählung nachfühlen lassen, was ich heute hier in diesen vier Wänden erfahren habe. Auch Sie nicht, Herr Hofrat!... Auf keiner Bühne ist jemals so gesprochen worden, wie die Kinder zu mir geredet haben aus ihrer Verlassenheit mit nichts von der Welt, als was man ihnen mit Zittern und Zagen vor die Tür schob – Kaffee und Suppe, Essen, so gut sie's selber hatten. Und ich glaube, sie, die Leute im Hause, hätten sich selber lieber die Kehle abgegurgelt, als daß sie mich an den Schutzmann verraten hätten, so lieb war's doch ihnen allen, daß wenigstens am letzten Tage jemand bei den beiden Würmern war und mit ihnen auf den Sarg wartete. O ihr Herrschaften, wir drei, wir drei bei dem grauen Morgen heute! Und ich, ich habe mich am meisten vor dem Leichnam gegrault! Und wie lange Schreckensstunden! Um zehn Uhr ist der Armenleichenwagen, wie der Armenvorsteher versprochen hatte, richtig dagewesen; aber, Herr Hofrat, der Sarg noch nicht. Da hat der Kutscher gesagt, er wolle nachmittags so um vier Uhr wiederkommen, er habe schon noch genug andere Fuhren bis dahin. Eben ist er um die Ecke gewesen, da ist der Tischlerlehrling mit dem Sarg auf einem Handwagen angelangt. ›Ist das hier recht, Witwe Wermuth?‹ Ja! – hat ihn also auf dem Hofe abgeladen und ist auch abgefahren. – ›Wolfram, was fangen wir nun an? Wer hilft uns damit in die Höhe?‹ habe ich gesagt.«

Herr Schmied aus Jüterbog faßte seinen Stock mit ebenso zitternder Hand fester wie die Mutter Cruse ihren Regenschirm; doch das Rotkäppchen erzählte weiter: »›Das tun sie wohl schon bis vor unsere Tür‹, sagte der gute Junge: ›und nachher ziehen wir ihn selber uns herein.‹ Der Junge legt sein Käsemesser bei seiner Mutter hin und springt in den Hof und tut seine Bitte, und es findet sich wirklich einer, der ihm tragen hilft die fünf Treppen hinauf. Ein Arbeitsmann. Aber vor der Tür kehrt der richtig auch um wie die andern Feiglinge. Ein sechs Fuß langer Kerl mit der Medaille von Sechsundsechzig! Das sowie das übrige haben wir drei, Wolf, Paule und ich, besorgt – bis auf die Nägel, die der Schlingel von Jungen, der Lehrling, vergessen oder in der Tasche wieder mit nach Hause genommen hatte. Das war gegen Mittag –«

»Als der Junge mit dem Käsemesser, als der arme, tapfere kleine Kerl mit dem Degen seines Großvaters, mit dem Degen des Leutnants Hegewisch zu mir kam, Uhusen!« rief die Frau Wendeline.

»Und eine Düte Sargnägel dafür verlangte«, sagte Rotkäppchen. »Jawohl, ganz richtig. Bis zu meinem eigenen Tode vergesse ich die Verlegenheit nicht. Wie wir, Wolf und Paulchen und ich, unser Mutterchen, wie wir meinten, jetzt endlich zu ihrer letzten Ruhe im letzten harten Bett auf den Hobelspänen zurechtgelegt hatten und mit letztem bitterm Weinen die platte Decke auflegen wollten – da standen wir, und ich sage: ›Wolf, diese Nägel finden wir wohl bei einer barmherzigen Seele im Hause; – willst du darum gehen und ansuchen, oder soll ich's?‹ Liebe Dame und beste Herren, da sagt dieser Junge: ›Den Kaffee und die Suppe habe ich meiner Schwester wegen angenommen, denn ihren Hunger konnte ich nicht anhören. Sie weinte zu sehr. Da kann mir keiner einen Vorwurf draus machen oder sich nachher drum was meinen. Aber mit Muttern ist das was anders; da nehme ich nichts für an von ihren Guttaten hier im Hause; denn mein Großvater hätte das auch nicht getan. Dazu waren sie doch alle zu schlecht und zu feige gegen uns. Meine Mutter und ich wollen hierzu von ihrer Barmherzigkeit nichts! Zu schlecht, zu feige ist die ganze Welt gewesen, und mir kann keiner helfen als der Großpapa, bei dem nun Mama in aller Sicherheit ist, und nun nehmen Sie mir bloß noch eine Viertelstunde das Paulchen auf den Schoß, Fräulein; ich bin gleich wieder da und bringe die Nägel!‹«

Der Schmied von Jüterbog lehnte sich auf seinen Stock von der Lübischen Bucht, und der zähe Weißdorn bog sich und brach. Peter Uhusen warf die Stücke von sich und keuchte: »Nur zu, Fräulein Rotkäppchen! Bist du auch noch bei der Sache, Albin? Nicht wahr, da lernt man, wie man von Wirkung auf ein auserwähltes Publikum sein kann!«

»Ja, nur zu«, seufzte Rotkäppchen. »Wie konnte ich denn wissen, wozu der Bratspieß seines seligen Großpapas noch nützlich war? Ich konnte ihm nur nachrufen: ›Junge, du willst mich doch nicht hier mit dem Kinde allein lassen?‹ Aber da war er schon aus der Tür und die Treppe hinunter, und ich, ich bin mit der Paula dort in den fernsten Winkel gekrochen; – so ein ausgewachsenes Frauenzimmer und so ein junger Bengel! Und doch, als wäre nun der Mann und letzte Trost aus der Familie auf ewig abhanden gekommen!«

»Ich hatte ihn im alten Eisen am Kragen!« murmelte die Mutter Cruse; und das Fräulein rief: »Tausendmal sollen Sie Dank haben, daß Sie ihn nicht länger aufgehalten haben! Durch Ihre Gütigkeit sind wir ja doch zum Schluß gekommen, das heißt mein lieber Wolf Wermuth; denn ich ungeschicktes Tierchen klopfte mir gleich die Finger blutig mit dem Holzstück aus dem Treppengeländer. Er aber hat jetzt wie ein Handwerksmann, den die ganze Geschichte nichts angeht, den Sarg zugenagelt, und das Paulchen hat dabei das Stück Kuchen gegessen, das er ihr dazu durch Ihre Güte, Madam Cruse, für den Degen seines Großvaters mitgebracht hat. Punkto vier ist, Gott sei Dank, der Kutscher nach seinem Wort zum zweitenmal vorgefahren. Wir haben die Witwe Wermuth vor ihre Tür gezogen, und mit dem Kutscher haben sich wiederum ein paar Männer aus dem Haus bewegen lassen und ihr die Treppen hinuntergeholfen auf den Karren. Nun sind sie, der Himmel sei gepriesen, weg nach dem städtischen Kirchhof. Ich habe ihnen der Polizei wegen nur mit Vorsicht aus dem Korridorfenster da nachsehen können; aber die Herrschaften dürfen sich in dieser Hinsicht beruhigen: soviel Einsicht und Erbarmung hatte der Kutscher, daß er so langsam fuhr, daß die Kinder ganz gut neben dem Wagen herlaufen und mit ihm mitkommen konnten.«

Fünfzehntes Kapitel

»Wir haben uns schon zu lange hierbei aufgehalten«, murmelte Uhusen zwischen den Zähnen. »Wenn wir heute noch von irgendwelchem Nutzen in der Angelegenheit sein wollen, wird's Zeit, daß wir gehen. Bist ein gutes Mädchen und hast deine Sache gut gemacht! Gib der gnädigen Frau jetzt den Arm und führe sie vorsichtig auf der Treppe. Willst du uns weiter begleiten, Albin, so nimm du meinen Arm. Durch Sonnenglanz und Ätherblau geht der Pfad freilich nicht, und zum Mittagessen im Hôtel de Rome würden wir auch wohl ein wenig spät kommen.«

Der Jugendfreund griff nach dem Arm des schwarzen Peters wie in der Angst, auch allein gelassen zu werden in der leeren Dachstube neben dem Strohsack Erdwine Hegewischs.

»Es ist fürchterlich und nicht zu fassen«, stöhnte er. »Ich bin unfähig, mir und einem andern zu helfen; aber ich bleibe bei euch bis zum Ende.«

»Aber ich?« rief Rotkäppchen. »Was wird aus mir, wenn ich bei euch bleibe? Na, es ist einerlei. Angenehm ist der Aufenthalt da oben unter den Dachsparren oder gar hier in dieser Familienstube nicht. Das Menu war auch nicht zum nobelsten; und Sie, lieber Herr, Sie gefallen mir ausnehmend. Ob sie mich heute oder morgen am Flügel nehmen, was liegt dran. Ist man die Angst der Jagd los, so lacht man ja selber drüber. Also vorwärts, meine Herrschaften, ich bleibe auch bei euch. Und wer weiß, wozu ich Ihnen noch nützlich sein kann, lieber Herr mit dem halben Gesichte!«

Sie hatten sich nun, die Treppen abwärts, durch noch dichtere Haufen scheuer Gaffer zu drängen als vorhin beim Emporsteigen. Auch um ihren Wagen fanden sie jetzt einen noch dichtern Kreis von Neugierigen versammelt. Es hatte sich weithin durch das Viertel das Gerücht verbreitet, die Witwe Wermuth in Numero zehn von Schulzenstraße werde nun, da es richtig wieder mal zu spät sei, von den vornehmsten Verwandten gesucht. Und jeder wollte selbstverständlich diese vornehmen Leute und Verwandten mit eigenen Augen sehen, und jeder beneidete die Witwe Wermuth auch jetzt noch um dieselben. Nicht geringe Verwunderung erregte es freilich, als nach der aristokratischen alten Dame und dem Herrn mit dem Pelze auch das Rotkäppchen, nicht aus dem Märchen, sondern aus dem Polizeibezirk, in die Droschke hüpfte und der »kuriose Kerl mit der verbrannten Nase« ihr sogar ungemein höflich dabei behülflich war.

»Nach dem Kirchhof«, rief Uhusen dem Kutscher zu.

»Nach welchem?« fragte der zurück, und Fräulein Rotkäppchen war wirklich jetzt gleich von Nutzen. Es konnte den Weg angeben.

»Rasch, Mann!« rief der lange Peter. »Es wird eine der besten Fuhren für Euch, die Ihr je gehabt hast.«

Daraufhin fuhr der Kutscher wirklich gut, und zwar die sonderbarste Gesellschaft, die sich heute in dieser großen Stadt, in irgendeiner Stadt in einem Wagen zusammenfinden konnte. – –

Die erste, die das Wort nahm, war das Fräulein, und zwar wie eine, der – ein Stein vom Herzen gefallen war. Wie eine, die aufatmete, wie eine, die aus der Jagd heraus und in Sicherheit unter Menschen, unter Freunden war! Wie eine, die die Angst für diesmal hinter sich hatte, die Räder unter sich rollen fühlte, sich nach den letzten Nächten und Tagen in die weichen Plüschpolster des Wagens zurücklehnte und sich unter »höchst angenehmen, vertraulichen Menschen« wie durch ein Wunder gerettet fand.

Es war der »am wenigsten Vertrauliche« im Wagen, der Herr Hofrat Dr. Brokenkorb, dem sie mit dem weiblichen Sicherheitsgefühl, daß sie sich des Rechten zuerst annehme, behaglich-wehmütig aufs Knie klopfte: »Nur nicht zu betäubt, Männeken. Nehmen Sie mich an; ich weiß von gar nichts; ich weiß nicht, wie und weshalb Sie auch dabei sind, aber darauf verlasse ich mich doch, daß wir's zusammen durchfressen. Ich weiß überhaupt von gar nichts, als daß mir die gnädige Frau da mal meine weißen Atlasschuhe an den Kopf geworfen hat und mir das nichtsnutzige Mundwerk mit einem Teller von ihrer Suppe gestopft hat und daß ich jetzt mit den Herrschaften nach Wolfchen und Paulchen suchen darf! O Gott, nach den letzten Tagen und diesem Schreckensmorgen so zu sitzen in der besten Gesellschaft! Wie ist denn eigentlich Ihr Name, Herr? Die liebe Bekanntschaft der andern habe ich ja schon länger die Ehre –«

»Herr Schmied aus Jüterbog, mein Fräulein«, sprach der lange Peter, und das Fräulein legte militärisch grüßend zwei Finger der rechten Hand an das zerzauste Hütchen: »Das hab ich mir doch gleich gedacht«, seufzte sie womöglich noch befriedigter. »Und gedient? Die Nase auch mit neulich in das liebe Frankreich ringesteckt und halb drin steckenlassen? Bei der Garde, wenn ich fragen darf?«

»Schwerste Artillerie«, brummte der Schmied von Jüterbog.

»Wenn ich Sie nicht vom Anfang darauf angesehen habe!« rief Rotkäppchen. »Und vielleicht auch wohl gar außer Dienst?«

»Völlig!« brummte Peter Uhusen, und die junge Dame klopfte jetzt der Alten auf das Knie und seufzte kopfschüttelnd: »Und so spielt nun das ewige Schicksal mit uns und pökelt uns hier zusammen – uns arme Heringe. Sie, Herr Hofrat, natürlich ausgenommen, wenn ich mich eines unpassenden Ausdrucks bedient haben sollte! Aber – es ist einerlei. Wir verstehen uns doch. Wir haben Mitleiden miteinander in der Welt; – und Sie auch, Hofrätchen. Wenn die Herrschaften die Mutter auch nicht mehr angetroffen haben, die Krabben finden wir schon wieder. Wer sollte noch nach denen suchen und sie vor uns in die Tasche stecken? Oh, die liebe Dame und die Herren sollten nur wissen, wie gemütlich und ruhig mir in diesem Augenblick zumute ist! Ach Gott ja, es geht ja wohl nichts über ein gutes, weinerliches Herz auf Erden; aber unser Herrgott sollte doch den in seinen besondern Schutz nehmen, dem er eins davon in zu reichlichem Maße verlieben hat!«

Sie ließen das arme Ding ungestört sich ausschwatzen. Nur nach einigen nähern Einzelheiten über das Leben und den Tod Erdwines und das Aufwachsen ihrer Kinder fragten Uhusen und Mutter Cruse. Was sie hörten, gab ihnen mehr Lust zum Schweigen als zum Reden. Albin drückte sich völlig stumm in seiner Ecke zusammen; er fühlte sich jetzt in Wahrheit sehr unwohl und gänzlich außerstande, seine Gedanken derartig zusammenzuhalten, wie es einem Mann, der einen so rühmlich bekannten Kopf auf den Schultern trug, im Grunde in jeder Lebenslage zukam. Aber nicht nur der ästhetische, sondern auch der soziale feste Grund und Boden war ihm augenblicklich völlig unter den Füßen weg abhanden gekommen. Bilder und Gestalten aus nächsten und fernsten Tagen drängten sich im Wirbel in seinem Gehirn, und – die Gestalten und Bilder, die gestern und vorgestern den Kreis seines Daseins erfüllt hatten, beängstigten ihn am meisten – ihn, den geistvollen Liebling der Welt, den gelehrten Führer des besten Publikums, den verehrten Lebensvirtuosen und Redekünstler. Großer Gott, was hätten die Leute, die ihn kannten und schätzten, zu einem Blick in diesen Wagen für stumme Anmerkungen machen müssen?! Und was für Gesichter?!

Ach, es war ihm ganz unerfaßlich, wie wenig uns bei vorkommenden Gelegenheiten die Gesichter des gebildetsten Publikums, unserer verehrtesten Gönner und Gönnerinnen, unserer guten Freunde und Bekannten, ja unserer liebsten, unserer nächsten Verwandten, die Gesichter von Vater und Mutter, von Weib und Kind kümmern sollen! Wir in unserm gegenwärtigen Fall nehmen nicht die mindeste Rücksicht auf die Gefühle und Mienen, auf welche der Herr Hofrat Dr. Brokenkorb Rücksicht zu nehmen hat. Wir haben es nur mit den Gesichtern in dieser Droschke erster Klasse zu tun, welche von dem mangelhaften Pflaster der letzten Gassen der Stadt auf den weicheren Straßenkörper der Vorstädte hinrollt und auch letztere allmählich hinter sich zurückläßt. Die Gesichter von Mrs. Crusoe und dem langen Peter, dem Einäugigen, waren freilich unter allen Umständen sehens- und beachtenswert, aber unter den laufenden ganz besonders. –

»Jaja, du armer Tropf«, sagte Frau Wendeline, nachdem das schluchzende Rotkäppchen ihr »weinerliches Herz« unserm Herrgott zum besondern Schutz anempfohlen hatte. »Aber sei nur zufrieden und laß dich um Gottes willen auf keinen Handel und Austausch ein. Die da leicht weinen, lachen auch leicht. Und es ist nicht ein Tag wie der andere, und die Nächte gleichen einander auch nicht.«

»Sagt Philine«, brummte Herr Schmied aus Jüterbog aus seinen Goethestudien unter den Weiden am Ufer der Trave her.

»Kenne ich nicht, Alterchen«, lachte Rotkäppchen zwischen ihren Tränen. »Unter meinen Freundinnen weiß ich keine mit dem Namen; aber vielleicht gehört sie zu der Bekanntschaft des Herrn Hofrats. – Die Stadt ist zu groß. Aber den Weg, den wir vor uns haben – in fünf Minuten sind wir da –, den kenne ich und kann die Honneurs vom Orte machen. Ich habe nämlich meine Mama per Zufall auch dort liegen, und so schickt sich das für diesmal ebensogut, wie daß ich Hausgelegenheit dort hinter uns in Numero zehn wußte. So fein wie heute und in so guter Gesellschaft habe ich die alte Frau auch noch nicht besucht. O Hofrätchen, wenn doch jeder seine Gedanken so schön ausdrücken könnte wie Sie! Es muß etwas Wundervolles darum sein, wie ich von den Herren in den Ateliers weiß. Na ja, es kann ja nicht jeder in ein Mausoleum zu liegen kommen und sein Bildnis und seinen Namen in Goldschrift darauf, und mir ist das auch ganz egal. Selbst zu meiner Mutter würde ich auch nur wieder ganz durch Zufall unters letzte Deckbett unterkriechen. Und da kann keiner was dafür, und sie müssen's damit machen, wie es eben paßt. Passen Sie nur auf, wir werden das sogleich mit der Witwe Wermuth erfahren.«

»Zum Henker, ist das ein Weg, der sich hierher in den Mittelpunkt der Zivilisation schickt?« rief der lange Peter grimmig, wahrscheinlich um seiner Stimmung wenigstens nach einer Seite hin Luft zu machen. »Da sollte man sich ja fast auf das Pflaster zurücksehnen.«

»Bauschutt!« meinte die Mutter Cruse. »Wir dehnen uns mächtig ins Weite und müssen uns dabei schon etwas schütteln lassen. Aber, Mädchen, eine Laterne hätten wir eigentlich mitnehmen sollen. Es wird vollständig Nacht, wenn wir nicht in fünf Minuten an Ort und Stelle sind.«

»Das sind wir auch. Nein – richtig – hier sind wir schon. Da sind wieder ein paar Häuser aufgeschossen, seit ich zum letztenmal hier war, und das irrte mich. Oh, ich habe außer Mama auch noch ein paar Freundinnen hier im Frieden, und jetzt weiß ich wieder ganz genau Hausgelegenheit. Siehst du, und August auf dem Bock weiß sie auch. Er hält vor der richtigen Tür: Station Kreuzberg! Und nun lassen Sie mich gütigst zuerst herausklettern und den Herrschaften behülflich sein, den weitern Weg zu finden.«

Sie hatte den Wagenschlag selber geöffnet und war leichtfüßig hinausgehüpft. Scheu, vorsichtig sah sie sich nach allen Richtungen hin um, der Mutter Cruse die Hand reichend.

»Das brauchte man auch nicht, wenn man hier schon zu Hause wäre und nicht bloß Hausgelegenheit wüßte«, lachte sie. »Was ginge einen da noch die öffentliche Sicherheit an? Na, kommen Sie nur, Hofrätchen; und Tag ist es auch noch, gnädige Frau; wir finden uns wenigstens noch ohne Laterne zurecht. Und Sie, lieber Herr mit der schwarzen Nase, ich bitte Sie um Gottes willen, sehen Sie mich nicht mit Ihrem letzten Auge an, als wäre aller Tage Abend gekommen. Gucken Sie, da liegt wirklich noch ein roter Streif von der Sonne am Rande vom Himmel, und irgendwo ist es immer noch schön Wetter. – Herr Hofrat Brokenkorb muß das noch genauer wissen und reizender sagen können. Aber nun vor allen Dingen erst die Kinder!« ...

Sechzehntes Kapitel

Dieser rote Streifen am Westhimmel und unter ihm, und in ihn hineinragend die schwarzen Schattenrisse von bewohnten und im Bau begriffenen Häusern, Baugerüsten, Fabrikschornsteinen und hohen Pappelbäumen! Kein heiterer, blauer, kein Regenhimmel, kein klarer Sonnenauf- und -untergang übt solche geheimnisvolle, bald bängliche, bald beruhigende Wirkung, solche Magie auf das Menschengemüt aus wie dieser blutfarbene Strich, wenn es Abend werden will nach einem unruhvollen, stürmischen oder auch – in stumpfer Langweile vergangenen Tage. Und im Herbst mehr als in einer andern Jahreszeit.

Das blödeste Auge, das den ganzen Tag über für nichts anderes da war als das Nächstliegende, das schärfste Auge, das die ganze Welt überflog und keinen Horizont an den Dingen der Erscheinung fand: sie heften sich beide an den roten Strich im Westen.

Die Straßendirne in ihrer Kammer, der König am Fenster seines Schlosses, der Weise in seiner Studierstube, der einsame Wanderer auf der Landstraße, der Reiter im Zuge der bewaffneten Hunderttausende, der Reiche und der Arme, der Gesunde und der Kranke: sie haben alle ihre nachdenklichen Gedanken bei dem Blick auf diesen roten Streifen. Und – seltsamerweise nur selten sind diesen Gedanken Worte zu geben.

Rotkäppchen hatte einfach auf den roten Strich aufmerksam gemacht. Von den drei anderen, die hier jetzt in der Abenddämmerung neben dem Wagen auf der aufgeweichten Landstraße standen und sich umsahen, war nur Hofrat Brokenkorb imstande, halblaut zu murmeln: »Wie unheimlich wirkungsvoll!«

Ihm, trotz der geistigen und körperlichen Zerschlagenheit, in der er sich befand, entging keine Einzelheit der trostlosen Umgebung: nicht der Schmutz des Pfades, der nicht Gasse, nicht Landstraße, nicht Feldweg war, sondern von allem etwas – nicht die einzelnen, öden Häuser, die bewohnt oder unbewohnt in das graue Feld hineinwuchsen – nicht die Hecken und Zäune – nicht das lange, schwarze Gitter und das hohe, schwarze Tor dicht zur Seite – nicht die erbärmliche Kneipe jenseits des Weges und die vor ihr lungernden Menschen. Es war das seine Gabe – die hohe Fähigkeit, sinnlich wahrzunehmen, und er hatte sein Talent zu seinem Behagen und in vollbefriedigtem Ehrgeiz hundert- und aber hundertmal vor seinen entzückten und erschütterten Zuhörerschaften verwertet: in diesem Augenblick aber – hatte er kein Publikum und wußte mit seiner Sinnesschärfe und geistige Feinfühligkeit nirgends hin. Das war im höchsten Grade widerlich – widerwärtig und durchaus nicht zu ertragen bis an die Grenzen der Nervenanspannung dieses entsetzlichen Tages mit seinen empörenden Zudringlichkeiten und Rücksichtslosigkeiten.

Sehr rücksichtslos entzog ihm auch jetzt noch dazu sein Freund Peter den Arm, auf den er sich beim Herausklettern aus der Droschke gestützt hatte, und ließ ihn rücksichtslos stehen oder nach Belieben mit den andern über die Straße nachkommen. Peter Uhusen stapfte langen Schrittes durch die Pfützen des Weges zu dem schwarzen, eisernen Tor, ohne sich nach irgend jemand umzusehen.

Er legte die Hand auf das Schloß des eisernen, schwarzen Tores und rüttelte – vergeblich.

»Geschlossen?«

Der Kutscher, der, wie gesagt, noch nie in seiner Praxis solch eine Gesellschaft gefahren hatte und ihr bis an das Tor auf den Fersen geblieben war, deutete mit dem Peitschenstiel auf eine schwarze Tafel mit weißen Buchstaben an einem der Torpfeiler.

»Da ist die Kirchhofsordnung angenagelt. Es ist für das Reglement wohl ein bißchen spät am Tage geworden. Wenn aber die Herrschaften sich für ein Trinkgeld noch mal aufschließen lassen wollen, so müssen Sie sich wohl an den Wächter wenden.«

»Das wissen wir, die wir hier zu Hause sind, ebensogut als wie Sie, Männeken«, rief das Rotkäppchen und wendete sich unruhig, ratlos an ihre übrigen Begleiter: »Was sagen Sie aber? Wie ist das nun mit den Kindern?... Na, den alten Hofmarschall und seine Gänge hier kenne ich gottlob auch. Den müssen wir jetzt vor allen haben – und guck, da stecken sie eben auch drüben in der Penne das Gas an. Gedulden Sie sich gefälligst nur einen Augenblick hier; ich bin umgehend mit der nötigen Auskunft zurück.«

Leichtfüßig hüpfte sie der Schenke zu und verschwand nach einer kurzen Unterredung mit den Leuten vor der Tür im Innern des Hauses. Es dauerte auch in der Tat nicht lange, und sie kam wieder zum Vorschein, begleitet von einem Mann, der wohl mit der geschlossenen Kirchhofstür in Verbindung gebracht werden konnte. Selbstverständlich hielt es auch der größere Teil der Lungerer unter dem Schilde der Kneipe für das bessere, unmittelbar aus der Quelle die Kunde zu schöpfen, was da eigentlich noch los sei. –

Ehe der alte Pförtner herzugehumpelt war, befand sich die seltsame Führerin bereits an der Seite Peter Uhusens und flüsterte ihm ins Ohr: »Das ist der Mann mit dem Schlüssel! Sein Name ist Lochner, und er weiß schon, was wir von ihm wollen. Die Geschichte wird aber immer schlimmer! Du großer Gott, Ihren Nerven traue ich schon, bester Herr, und meinen auch, und daß die Mutter Cruse mir nicht schwach wird, glaube ich auch; aber – der da – der Herr Hofrat... ich glaube wirklich, es wäre besser –«

Sie kam in ihrer Angst und Aufregung mit ihren Worten nicht zu Ende; Herr Lochner hatte nach einem kurzen, aber weltkundigen Blick auf die gnädige Frau, den Hofrat Brokenkorb und den Schmied von Jüterbog bereits den großen Schlüssel aus der Tasche vorgelangt und sagte, die Pfeife aus dem Munde nehmend: »Es ist wohl ein bißchen gegen die Tagesordnung; aber eine Ausnahme ist es auch diesmal der andern Umstände wegen, und so will ich den Herrschaften gern zu ihrem Willen helfen. Bitte einzutreten! Ja, es ist immer eine üble Sache um das Zuspätkommen. Witwe Wermuth? Ja, auf Namen können wir uns hier und zumal auf der Armenseite nicht gut einlassen; aber die Nummer mit den beiden Kindern zur Begleitung, die haben wir noch in Sicherheit, zu der kann ich Sie gern führen. Dieser Kondukt kam leider wirklich für heute zu spät am Tage, und so haben wir uns dieses Geschäft bis morgen früh aufheben müssen.«

»Die Kinder! Die Kinder!« rief Frau Wendeline.

»Zu denen kann ich Ihnen nicht verhelfen, Madam«, sagte der Mann. »Nur zu der Nummer, ich wollte sagen, liebe Dame, zu dem Sarge, den sie uns heute hierher begleiteten.«

Selbst er hielt noch einmal auf dem Wege zwischen den ersten Gräberreihen und den vornehmern Monumenten an und wendete sich zu seinen späten Gästen und sagte mit seiner trocknen, heisern Stimme: »Unsereiner sieht das wohl nicht mehr so wie andere Leute, zu deren tagtäglichem Geschäft und Handwerk solche Vorkommnisse nicht gehören. Man wird hier an zu vieles gewöhnt, vorzüglich auf der Armenseite. Jeden Tag Nummer für Nummer so durch das ganze Jahr ohne Unterschied der Witterung, das härtet ab. Aber leid haben mir die zwei Würmer getan, wie sie da bei der Mama im schwarzen Kasten standen und ich und die Kirchhofsverwaltung ihnen mit dem besten Willen nicht helfen konnten, da die Leute schon von der Arbeit weggegangen waren. Stellen Sie sich nur vor, die armen Kreaturen waren nicht von dem Nasenquetscher wegzubringen! Sie saßen auf dem Sarg und wollten die Nacht drauf sitzen bleiben. Der Junge war wie toll und die ganze Bevölkerung hier herum in Bewegung um sie her, als ich sie endlich aus der Gittertür hatte und hinter ihnen abschloß. Es ist wirklich schon ein bißchen dunkel; hier in den engen Wegen halten Sie sich nur dicht hinter mir und stolpern Sie nicht, wenn Sie so freundlich sein wollen.«

Er schritt weiter, seine Pfeife von neuem in Brand setzend, und sie folgten ihm, einer hinter dem andern, im Zickzack zwischen den Büschen, Hügeln, Kreuzen, Säulenstumpfen und Urnen – wortlos den heißen Atem anhaltend und doch vor Frost schaudernd. Und so gelangten sie auf einen baum-, strauch- und denkmallosen, ziemlich umfangreichen Teil des Gräberfeldes; und von neuem blieb der Führer stehen und deutete auf einen dunkeln Gegenstand am Rande einer weiten Grube und sagte »Ich weiß nicht, wie die geehrten Herrschaften dazu stehen; aber – dies ist die letzte Nummer von diesem Tage. Morgen früh nach acht werden wir unser Amt an ihr mit allem Respekt vor der Sterblichkeit verrichten. Die Herren und die liebe Dame können versichert sein, daß wir sie mit aller Achtung beisetzen werden zur ewigen Ruhe. Schuldig sind wir dieses ja doch einer dem andern, und mir persönlich liegt der Junge, dieser Satansjunge, noch zu sehr in den Knochen. Da kann sich der Mensch wirklich nur gratulieren, daß er keine eigenen Kinder hat, wenn er so eine Kinderhand so von so einem schwarzen Deckel so in aller Güte halb mit Gewalt hat losmachen müssen.«

»Das fehlte uns grade noch!« rief der Schmied von Jüterbog, mit dem Fuße aufstampfend; – sein Freund Hofrat Dr. Brokenkorb war nicht mehr fähig, alle Einzelheiten seiner persönlichen Lebenserfahrungen bis in die letzten Nervenenden nachzufühlen. Er litt auch nicht mehr an Kopfweh und Scheu vor übeln Gerüchen; er lag ohnmächtig in den Armen des Rotkäppchens, und diese sagte: »Habe ich es mir nicht gedacht? Habe ich es nicht gesagt? O ich kenne ja seine Nerven! Ich habe ihn ja dutzendmal zu schön über mich reden hören, wenn ich beim Professor Käsewieter als ertrunkene Verlassene Modell lag!«

»Wir beide hätten freilich die Geschichte am besten unter uns allein abgemacht, Uhusen!« rief die Mutter Cruse. »Den Narren haben wir auf dem Halse, und die Kinder, die Kinder – wer schafft uns die Kinder? Aber jetzt ist da nichts zu ändern; greifen Sie mit zu, Sie, Lochner heißen Sie ja wohl? Nehmen Sie ihn beim Kopf, Peter. Hinüber mit ihm nach der Kneipe da! Lauf vorauf, Mädchen, und bestell was Warmes für ihn; und wenn wir ihn wieder bei Sinnen haben, dann so rasch als möglich mit ihm in den Wagen und nach der Stadt zurück – den Kindern, den Kindern nach!«

Sie gab ihre Befehle kurz, bündig, scharf und gehoben, wie auf ihrer Bühne in Lübeck, Celle und New York – aber auch zutreffend, sachgemäß, pragmatisch in der wirklichen, wahrhaftigen, heißen Daseinsschlacht, in dem großen, furchtbaren, anfang- und endlosen Drama des Lebens. Nicht ohne theatralischen Gestus riß sie ihren Mantel ab und warf ihn über den Ohnmächtigen in den Armen der beiden Männer: »Fort mit ihm!«

Aber keine Komödie war in der Art und Weise, wie sie noch einen Augenblick neben dem Sarge von Erdwine Wermuth stehenblieb und mütterlich, altfraulich-mühsam sich beugte, in die aufgeworfene Erde der dunkeln Gemeingräber griff und eine Handvoll davon auf den Deckel über dem Haupte der Toten legte und sagte: »Ich weiß deiner Kinder wegen nicht, Kind, ob ich morgen früh um acht schon hier sein kann.«

Siebenzehntes Kapitel

In der schlechten Kneipe gegenüber dem Kirchhofstor brachten sie den Hofrat glücklicherweise bald zur Besinnung zurück; aber eine ziemliche Weile verging doch, ehe sie imstande waren, die Rückfahrt mit ihm nach der Stadt zu wagen. Wir können es nicht genug wiederholen, daß er die Kunst, hinter einem eleganten Tischchen mit zwei Wachskerzen und einem Manuskript im roten Maroquineinband ein Publikum zu interessieren, zu bewegen, zu rühren, im hohen Maße verstand – daß die Zuhörerinnen vor dieser Kunst dann und wann zergingen und nur selten einer der Zuhörer auf dem Heimwege brummte: »Geschwätz! Aber der Mann versteht's!«

Nun hatte er wieder ein Publikum um sich und vor sich, welches er gleichfalls ungemein interessierte, bewegte und aufregte, jedoch diesmal ohne alle Kunst und ohne jedwedes vorhergegangene Studium vor dem Spiegel. Wie er war, hatte er sich jetzt diesem aus der höchsten Aristokratie und dem tiefsten Plebejertum gemischten Publikum in der Wegschenke zu geben, und er winselte kindisch und äußerte sich ärgerlich-weinerlich, vorzüglich gegen seinen Freund Uhusen, während seiner Abwesenheit im Geiste und klammerte sich mit doppelter Energie an diesen Freund beim ersten Schimmer wiederkehrenden Selbstbewußtseins.

»Du bleibst hier! Du bleibst bei mir! Mein Gott, mein Gott, Peter, was soll aus mir werden?«

Sie hatten ihn zuerst auf der Bank hinter dem Tische niedergelegt, und die Mutter Cruse hatte sein immer noch wohlgelocktes Haupt im Schoß aufrecht erhalten, doch nun saß er gottlob selber wieder und hielt auch den Kopf aufrecht, wenn auch ihn auf beide Hände stützend.

Der Schmied von Jüterbog hatte gebrummt: »Sie könnten mir eine Million bei so 'ne Haut wie deine legen; ich kröche dafür nicht in sie hinein.« Hatte ihm dabei mit dem besten Spiritus der Schenke die Schläfen gerieben und ihm aus dem nämlichen Stoff das zweckdienlichste Getränk brauen lassen, aber sich doch dabei bei weitem mehr dem Kirchhofswächter Lochner als dem leidenden Freunde gewidmet.

»Ich sage ihm und rede ihm zu: ›Bengel, armer Kerl, dieses geht doch nicht‹«, erzählte nämlich Lochner weiter, seine Rede sowohl an die »Honoratioren aus der Stadt« wie an das gewohnte gemischte Publikum der Schenke richtend. »›So eine Nacht hier allein, und noch dazu in dieser Jahreszeit – bloß mit der kummervollen, schwarzen Kiste zur Gesellschaft, wie soll das möglich sein für so 'ne Krabbe wie du, und noch dazu mit solch einer noch erbarmungswürdigern, unmündigern Kreatur am Arme wie das da? Deine kleine Schwester hättest du sowieso schon zu Hause lassen sollen, wenn du auch selber mit eurer Mutter herausgelaufen wärest! Denkst du denn gar nicht daran, wo du bist und wo du dich befindest? Schon, daß es ganz auf mich fiele, wenn wir euch morgen früh hier erfroren fänden, davon will ich gar nichts sagen; aber was bist du für ein Junge? Was bist du für ein Bengel? Hast du denn gar keine Furcht und Gottesfurcht, daß du dir so was zutraust, was kein erwachsener Mann um seiner abgestorbenen Mutter zuliebe sich auferlegte? Bengel, was bist du für ein Junge! Wo und wie bist du aufgewachsen, daß du mir gar keine Ahnung davon zu haben scheinst, an welchem angsthaften Orte du dich zu jetziger Stunde befindest? So guck dich doch nur um, und glaub ja nicht, daß das hier nicht noch dunkler wird und ich, wenn ich solch ein Vieh wäre, dich einriegeln müßte mit deiner kleinen Schwester und dich allein lassen mit der finstern Nacht hier an der Grube, bloß in dieser Gesellschaft mit den Toten? Weißt du denn gar nicht, was das sagen will: eine ganze Nacht allein bloß mit solch einer Gesellschaft? Gruselt dir denn gar nicht? Und wenn du keine Gefühle hierfür hast, so haben andere Leute welche, ich zum Beispiel.‹«

»Halten Sie uns nicht mit Ihren Gefühlen auf«, rief Rotkäppchen, und Peter Uhusen, die Unterlippe zwischen den Zähnen, keuchte: »Rasch weiter, Mann. Mutter Cruse, geben Sie dem Hofrat den Rest aus dem Glase; wir sind sogleich auf dem Marsche, wer auch zur Rechten oder Linken fallen mag.«

Der Kirchhofswächter sah sich alle seine Leute noch einmal an und wußte sich augenscheinlich weniger denn je in dieser Droschke-erster-Klasse-Gesellschaft zurechtzufinden; aber er wendete sich zuletzt wieder doch an den Ruppigsten unter ihr, den Mann mit dem einen Auge, und meinte: »Ja, wer nicht selber mit bei der Komödie gewesen ist, der kann das auch gar nicht nachfühlen. Was antwortet die Kröte auf meinen barmherzigen Zuspruch? Vor einem Kirchhofe brauchte sich gar keiner zu fürchten, der nichts Böses getan hätte, antwortete der Satansjunge. Und das Gruseln wolle er gar nicht lernen, das wisse er schon aus seiner Mutter Geschichten, wie es damit für einen ordentlichen Jungen sei. Vor dem Erfrieren fürchte er sich auch nicht; an die Kälte wären sie schon gewöhnt. Zu Hause hätten sie niemand mehr als den Strohsack, auf dem Mama gelegen habe, und so wollten sie hier bei ihrer Mutter bleiben, bis sie in Sicherheit wäre. Daß sie mit dem Sarge so spät gekommen wären, dafür könnten sie nichts, und morgen früh wollte er mit seiner kleinen Schwester in die weite Welt gehen, wenn er erst seines Großvaters Offiziersdegen wiederhätte.«

»Bei Ihnen liegt er, Hofrat Brokenkorb!« rief die Frau Wendeline. »Nicht wahr, er liegt doch bei Ihnen? Bei Gott, mir beben alle Glieder, daß ich ihn aus Händen gegeben habe – daß – ich ihn – selbst Ihnen anvertraut habe, Schmied von Jüterbog! Aber kommen Sie zu Ende, Unglücksmensch. Was ist aus den unglücklichen Geschöpfen geworden? Was haben Sie mit meinem braven, braven Jungen angefangen?«

»Was konnte ich denn tun? Die Hände habe ich ihm in aller Güte, mit aller Milde von dem Sarge seiner Mutter doch losmachen müssen, wie ich Ihnen schon sagte. Seine Instruktionen hat man doch einmal zu seinem Herzen im Leibe. Und was hätten Sie in meinem Falle denn anders tun können? Es war spät, und wir drei waren da drüben allein mit der toten Frau und letzten Nummer vom Tage. Wenn ich alle die, welche auf dem Terrain da nicht wissen, wo sie mit sich hin sollen, wenn der Angehörige zugedeckt ist, mit in meine Stube nehmen wollte, so hätte ich selber wenig Platz darin. Aber ich habe gesagt: ›Sohnemann, leid tust du mir, und deiner Courage wegen gefällst du mir wahrhaftig; aber Unsinn ist dieses, was du vorhast. Was Vernünftiges werden kann draus nicht, also komm in Güte; deine Schwester nehme ich auf den Arm, und auf was Warmes soll es mir hier bei Flebbe nicht ankommen! Und dann geht ihr artig wieder nach der Stadt zurück, da werden sie ja schon wissen, wie sie nach ihrer verfluchten Schuldigkeit für euch weiter zu sorgen haben.‹ – Und so ist es denn auch geschehen bis auf das Warme aus gutem Herzen. Als ich das unmündige Wesen am Torpfeiler vom Arm abgesetzt habe, um hinter uns abzuschließen und mich mit dem Schlüssel ärgere, da packt der Junge das Mädchen am Arm und ist auf und davon mit ihm in die Dämmerung hinein und der Stadt zu, ehe ich ihnen ein Wort nachschreien kann. Mehr kann ich nicht sagen; aber bis die Herrschaften mit ihrem Wagen kamen, haben wir hier noch bei Flebbe vor der Tür gestanden und dieses Erlebnis besprochen. Es könnte mir nur lieb sein, wenn Sie nun bei der Wirtin und den andern sich erkundigen wollen, wie ich ihnen hierüber meine – Gefühle ausgedrückt habe, verstehen Sie wohl, Fräulein? Sie – Fräulein!«

»Versuche es, Albin. Komm hervor hinterm Tisch! Wir müssen tot oder lebendig weiter. Siehst du, es geht. Nimm nur meinen Arm, alter Mondscheingenoß!« sagte Uhusen. »Im Mondenschein liegt auch wohl heute abend die Lübische Bucht nicht. Fort mit dem Komödienlicht aus unserer Vergangenheit! Der Mann hat recht: wir kommen nicht an gegen die festgestellte Ordnung und müssen die schwarze Kiste dort drüben hinter dem schwarzen Gitter die Nacht durch lassen, wie sie steht. Aber der Enkel des Leutnants Hegewisch will sein Schwert, um sich mit ihm durch die Welt zu hauen! Auch du hast recht, was hast du eigentlich mit dem alten Eisen zu schaffen? Aber es ist zu dir geraten! Freilich sonderbar – es liegt bei dir, und – bei Ahriman und bei Ormuzd und, so wahr ich für mein Teil wenigstens ein Auge und eine Faust im Gedränge behalten habe, der brave kleine Kerl soll seine Waffe haben, und Sie sollen ihn damit zum Ritter schlagen, Mutter Cruse!«...

Sie saßen im Wagen und rollten wieder der Stadt zu. Es war jetzt vollständig Nacht, und die Laternen in den Gassen und die Lichter in den Häusern brannten, und die beiden Weiber warfen nach rechts und links ängstliche, suchende Blicke durch die Fenster des Wagens. Die Mutter Cruse aber preßte trotz ihrer eigenen Ritterlichkeit die Hände krampfhaft im Schoße aneinander und murmelte in abgebrochenen Sätzen: »Was soll ich, Uhusen? Ich mache mir nur die bittersten Vorwürfe. Zu mir ist er gekommen. Bei mir hat er seine Waffe gelassen. Verpfändet um ein Dutzend Sargnägel! Nun ist er in seiner Kinderphantasie völlig wehrlos. Und wenn er nun vor meine verschlossene Tür gekommen wäre um seinen letzten Halt im Leben? Von Ihnen, Schmied von Jüterbog, weiß er ja doch nicht das geringste! Und daß Sie ihn mit mir suchen, kann er auch nicht wissen!«

»Es ist freilich schlimm, so jung so allein zu sein«, sagte das Rotkäppchen leise. »Und er hat noch dazu sein unmündiges Schwesterchen auf dem Halse. Es sind wohl schon welche in solchem Alter ins Wasser gegangen, wenn sie in solcher Stunde und Jahreszeit vor die letzte Hoffnung und verschlossene Tür gekommen sind.«

»Das verhüte der Himmel«, wimmerte der Hofrat, aus seiner Wagenecke auffahrend und aus seinem Stupor. »Das wird nicht sein, das kann nicht sein – habe ich denn noch nicht genug an dem Schrecklichen da draußen – an diesem – Sarge auf dem Kirchhof, an diesem Tage, an diesen Wegen, Fahrten, dieser Nacht? Ich beschwöre dich, Uhusen, mach jetzt ein Ende mit diesen grenzenlosen Aufregungen! Ich will ja alles tun, was ich kann; du kannst ja meine Umstände, ich bin zu allem bereit; aber ich gehe zugrunde an den entsetzlichen Bildern und Aufregungen dieses Tages! Wohin fahren wir denn jetzt auf dieser fürchterlichen Jagd nach dem menschlichen Elend?«

»Fräulein Rotkäppchen riet zuerst doch lieber zu der Witwe Wermuth, das heißt zu der unbezahlten Rechnung in Kreide an ihrer Tür«, sagte Peter Uhusen grimmig. »Die Kleine hat Erfahrung, und wir andern müssen uns dankbar fügen. Leider brauchen wir den Wagen noch, sonst würden wir, die gnädige Frau, ich und das Fräulein, ihn dir gern überlassen zur Heimfahrt. Auf Ehre, Albin, hätte ich eine volle Ahnung davon gehabt, auf welche Wege ich dich hinauszerren müsse, so würde ich es mir zweimal überlegt haben, ehe und bevor ich dir den Degen des Leutnants Hegewisch ins Haus trug.«

»Aber ich will, ich muß diese Wege ja nun mit euch gehen!« stöhnte Albin. »Wie könnte ich je wieder ruhig werden, ohne an der Katharsis dieser Tragödie – dieses erschütternden, dieses furchtbaren Tages teilgenommen zu haben?«

»So ist es recht. Auf dem Wege der Besserung bist du freilich«, brummte der lange Peter, die Achseln zuckend. »Nun, so nimm deine Lebensgeister noch einmal hübsch zusammen und laß dich verbrauchen, wie die Welt dich gewollt hat. Wenn mich mein Ortssinn nicht täuscht, halten wir hier eben noch einmal Schulzengasse Numero zehn.«

»Lassen Sie mich zuerst aus dem Wagen«, rief das Rotkäppchen. »Bei Nacht weiß ich doch wohl am besten hier Hausgelegenheit. Was? Sie zuerst, Hofrätchen? Da nehmen Sie meine Hand. Hier sind wir auf festem Boden, so gut ihn die Ortsgelegenheit liefern kann. Aber wie ist mir denn? Woher kriegen Sie denn auf einmal den guten Humor, Herzenshofrätchen?«

Das konnte nur der liebe Gott wissen! Guter Humor jetzt?!

Es war Humor in dem Dinge, wenn auch ein etwas grimmiger. Der liebe Gott wußte sehr gut darum Bescheid und brachte ihn ganz genau zu Buche. Die bei den guten alten Freunde aber, die Mutter Cruse und Peter Uhusen, die sich in der großen, anfang- und endelosen Komödie, und zwar nicht bloß von den Bretterbuden in Lübeck, Celle, Sankt Pauli und Brooklyn, zuerst zurechtfanden, die wußten ihn auch am besten zu würdigen – diesen Humor! –

»Sie sind alle beim Abendessen, soweit sie etwas zu knabbern haben«, meinte das Rotkäppchen. »Hier unten und im ersten Stock bei der Noblesse möchte ich mich lieber nicht nach den Jören erkundigen. Die Herrschaften glauben es wohl nicht; aber sie können auch hier schauderhaft vornehm und süffisant sein. Heute morgen noch habe ich mich selber erst mit Scheu und Schrecken auf den bloßen Strümpfen durchgeschlichen. Erst weiter oben sind sie mir gut und geben uns Nachricht, wenn die Kinder sich nicht unvermerkt wie ich eingeschlichen haben. Und sie leihen uns auch wohl ein Licht für den Weg. Also bitte ich, sich an meine Schleppe zu halten. Sie besonders, Hofrätchen. Zwei Treppen höher klopfe ich schon jemand heraus. Also nur immerzu. Ein wenig mehr rechts halten – bitte. Wer übrigens bei dieser Angelegenheit den Hals bricht, stirbt eines edlen Todes.«

Das ganze Haus war dunkel und, was die Treppen anbelangte, gänzlich leer. Dagegen regte sich hinter allen Türen das lebendigste Leben Gezänk, Lachen, Gekreisch, weinende Kinder von allen Altern.

Nicht ohne Gefahr und Sorge um ihre gesunden Glieder waren sie im vierten Stock angekommen und standen, einer den andern gefaßt haltend, in der Finsternis, als die Führerin plötzlich mit heller Stimme sang, und zwar seltsamerweise nicht aus der neuesten Operette, sondern aus einem recht alten Kinderliede:

Herr Doktor, lieber Nachbar, Leiht mir Eure Latern; Die Nacht ist so dunkel, Es scheint ja kein Stern.

Ihre Begleiter konnten es in der Dunkelheit nicht erkennen; aber das Mädchen schien sich an einer Tür zum Schlüsselloch niedergebeugt zu haben. Mit gar nicht unmelodischer Stimme sang sie in das Schlüsselloch hinein:

Die Nacht ist ja so dunkel, Es scheint gar kein Stern,

und es erhub sich hinter der Tür ein Gepolter, als falle da einer aus dem Bett oder als schlage da jemand in heller Wut mit der Faust auf den Tisch und werfe aufspringend hinter sich den Stuhl zu Boden. Und aufgerissen wurde die Tür, und der jähzornige Bewohner der Höhle erschien, trübe beleuchtet von seiner Lampe, auf der Schwelle, und zwar mit einem Prügel in der Hand, gegen den Uhusens Stock aus der Schwartauer Heide eine Gerte war. Rotkäppchen ergriff den erhobenen Arm des Mannes im zerfetzten Schlafrock und rief: »Gott sei Dank, Dokterchen, daß Sie jetzt wenigstens zu Hause sind. Wo waren Sie denn die vorige Nacht über? Wo steckten Sie, als ich heute morgen um den letzten Trost im Leben bei Ihnen zuerst anklopfte?«

»Bist du's, frivoles Ephemeron, allerliebstes Uferhaft, meine arme, kleine Eintagsfliege? Na, dann hättest du auch die Dummheit unterwegs lassen können; ein Dutzend Zugharmonikas im Hause seit Feierabend sind grade genug. Mußt du mir auch noch die Ohren vollplärren? Zuviel Musik, zuviel Musik in der Welt, das ist es ja, was ich sage.«

»Wir haben keine Zeit, und ich komme nur um Ihre Lampe für 'nen Moment; aber ich muß die Herrschaften doch wohl miteinander bekannt machen. Herr –«, das Mädchen kam nicht weiter. Hofrat Dr. Brokenkorb und der Mann im Schlafrock hatten sich schon erkannt.

»Hohoho, na aber jetzt – nanu?« brüllte der ungetümliche, rotgesichtige, schwammige Höhlenbewohner (als Gulo borealis unter den Naturkundigen in literarischen Kreisen nicht nur gekannt, sondern auch gefürchtet) den vor einem neuen Schrecken erstarrenden Liebling des Publikums an. »O Götter, Helden und Wieland – die Wonne und Hoffnung von ganz Deutschland hier am Ufer des Cocytus in nächtiger Stunde?! Und mir die Ehre?... Mein allertrefflichster Mohammed, der zu seinem Berge kommt?«

Der Mann schwankte leider bedenklich auf seinen Füßen, und Rotkäppchen stieß ihn kräftig zurück: »Ich sehe schon. Gehen Sie schlafen, Doktor Berg; legen Sie sich nicht aufs Sofa, gehen Sie ins Bett. Ihre Lampe bringe ich zurück, wenn ich sie nicht mehr brauche –«

»Yes, meine Psyche, holde Psyche! Immer mit der Lampe; ganz wie's Raffael gezeichnet und Mark Anton in Kupfer gestochen hat. Psyche, die sich mit der Lampe über den Amor neigt. Sie haben auch über diese süße Sage einen Ihrer lächerlichen Vorträge Ihren Weiberchen hingeleiert, Brokenkorb, und – ich – ich – habe mir und Ihnen die Kritik darüber geleistet. Nicht wahr, sauber? Und dazu ganz ohne Musik – ganz ohne Musik – ganz ohne Musik. Zwanzig Mark unter Brüdern auch jetzt noch in diesem feierlichen Augenblick wert. Leihe mir zwanzig Mark auf die nächste Abschlachtung hin, Bruder. Auch wir haben noch unser Schwert in die Waage zu werfen, bester Koll- Koll- Koll-«

»Jetzt gehen Sie auf der Stelle ins Bett«, rief das Rotkäppchen zornig. Sie hatte den Doktor am Kragen genommen, ihn in seine Stube zurückgeführt und ihn mit einem Stoß wirklich auf sein Lager befördert. Nun griff sie die Lampe vom Tische auf und sagte etwas außer Atem: »Auch das muß einen noch auf dem Wege aufhalten. Ihn nach den Kindern auszufragen hätte uns nichts geholfen; aber sonst ist er gar kein übler Herr und ganz gutmütig und wirklich ein Kollege von Ihnen, Hofrat Brokenkorb. Na, es freut mich, daß Sie ihn auch als solchen kennen und achten. Aber die andern Herrschaften müßten ihn wirklich einmal reden hören, wenn es ihm ein bißchen klarer hinter der Stirn und unter der Glatze zumute ist. Über sein Hauptthema nämlich. Nämlich sein Hauptthema ist, daß viel zuviel Musik in Deutschland gemacht wird. Ich kenne keinen zweiten Menschen, der eine solche ingrimmige Wut auf die Musik hat wie er und sein Gift so spaßig und gelehrt auslassen kann. Oh, er kann über alles reden, wie der Herr Hofrat, und manchmal, wenn er bei guter Laune ist, hält er uns hier im Viertel einen Vortrag vor zwei Lichtern, grade wie der Herr Hofrat anderswo. Aber die Polizei paßt ihm mehr auf die Finger oder – in seinem Fall, auf das Mundwerk. Er weiß nämlich, wenn er in der Stimmung ist, über alles göttlich zu reden, und wenn es ihm aus Zufall zwischen die Lippen kommt, auch himmlisch sozialdemokratisch. Ach Gott, Sie sollten nur wissen, wie ganz einerlei ihm das alles ist, und nicht bloß am andern Morgen im Katzenjammer! Seine einzige, ewige und wirkliche Wut ist nur die zu viele Musik, die die deutsche Bevölkerung macht. Auf das schiebt er's, daß er selber es zu nichts in der Welt gebracht hat; aber – die Hauptsache ist, daß wir augenblicklich seine Lampe haben und daß ich Ihnen mit ihr leuchten kann. Bitte, je weiter nach oben, desto vorsichtiger! Und nun – o Gott, Gott, man sollte wirklich ein Vaterunser vorher beten – da – sind wir wieder vor der Tür der Witwe Wermuth!«

Es war so. Sie standen zum zweitenmal vor der Tür mit der letzten unbezahlten Rechnung von Erdwine Hegewisch; und ihre Führerin öffnete leise und scheu und leuchtete, mit zitternder Hand die Lampe des Doktors Berg haltend, in den fürchterlichen Raum voll Kälte und Finsternis und brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus: »Gottlob, da liegen sie! Sie sind zu Hause!«...

Achtzehntes Kapitel

Zu Hause und im tiefen, festen Schlaf wie in voller Sicherheit im Schoß der Menschheit, der ungezählten Millionen ihresgleichen, wie in voller Sicherheit vor dieser Menschheit, diesen ungezählten Millionen.

Da lagen sie und schliefen, nicht wie sie auf Bildern und in schönen Märchen gemalt werden, die Kinder, die im wilden Walde verlorengingen und von den Rotkehlchen mit Baumblättern zugedeckt wurden: diese zwei Kinder, die im wilden Walde der Welt verlorengegangen waren, hatten es nicht so gut gehabt.

Ihr Zurückschleichen in das Haus hatte niemand gemerkt, und sie hatten es auch ganz verstohlen und auf den Fußspitzen fertiggebracht, und der Knabe hatte auf den Treppen seine und seines Schwesterchens Schuhe in der Hand getragen. In der Dunkelheit hatte in der leeren, schrecklichen Kammer der Bruder umhergetastet auf dem Boden und dann geflüstert: »Nun ist es gut. Sie haben es noch nicht weggeholt; und gestohlen hat es auch keiner. Da sie uns nicht auf dem Kirchhofe bei Mama haben lassen wollen, so haben wir zum Glück noch ihr Bett. Nun decke ich dich wieder mit meiner Jacke zu und wärme dich an mir – fürchte dich nur nicht –, ich fürchte mich gar nicht. Morgen früh schaffe ich uns des Großpapas Degen schon wieder, und dann – dann – ja bloß bis morgen früh mußt du nicht weinen und dich fürchten, Paulchen; – bis morgen früh müssen wir ruhig schlafen und an die Mama denken, die es auch immer am liebsten hatte, daß wir fest einschliefen, wenn es uns nicht zum besten ging.«

Im ruhigen, tiefen Schlaf! Im Kinderschlaf im Kehricht der Welt, unter den Lumpen, Knochen und beim alten Eisen, der Knabe, auch ohne daß der Degen seines Großvaters, das Schwert mit den Zeichen von so manchen verlorenen Schlachten, der Degen des guten, hoffnungsreichen, phantastischen Leutnants Hegewisch zu seinem Schutz und Trost bei ihm lag!

Keines von beiden merkte es, als die vier zu ihrem Bett traten, als ihrer Mutter letzte persönliche Freundin mit der Lampe des Doktors da unten, dem viel zuviel Musik in Deutschland gemacht wurde, sich über sie beugte und der Lichtschein über sie hin fiel.

Ihr – der Kinder – Atem ging ganz ruhig, viel ruhiger als der der vier Lauscher.

»O Gott, Gottchen, Gottchen«, schluchzte Rotkäppchen. »Ganz so, wie mich meine Mutter ganz gewiß auch manch liebes Mal hat liegen sehen.«

Frau Wendeline war neben dem Strohsack niedergekniet, um dem jüngsten Geschöpf die Haare aus der Stirn zu streichen. Wer sie beim »Sortieren« des Inhalts ihrer Säcke in ihrem Keller hatte knien sehen, durfte wohl von neuem bestätigen, daß man ein und dasselbe auf recht verschiedene Art und Weise verrichten kann.

Die beiden Männer standen wortlos und regungslos, und erst nach einer ziemlichen Weile sagte Herr Schmied aus Jüterbog: »Das ist gewiß so etwas wie eine Beruhigung, aber – wie nun weiter? Wir können sie hier nicht lassen. Verwöhnt und nervenschwach sind sie nicht und werden nicht umkommen von einem jähen Auffahren; aber – aber wer von euch will's auf sich nehmen und sie wecken?«

Das war nun doch, eine Frage, die so gar keiner Antwort zu bedürfen schien, daß es fast lächerlich war, sie zu stellen; aber doch war sie allen bis in die tiefste Seele hinein getan, und keiner von ihnen hatte einen Zweifel an ihrer Berechtigung.

Die Mutter Cruse zog die Hand zurück, mit der sie eben die Jacke des Knaben beiden Kindern besser übergedeckt hatte. Das Rotkäppchen hielt die Hand unwillkürlich vor die Flamme in der Lampe des Doktor Berg. Hofrat Brokenkorb, der doch am wenigsten bei der Frage in Betracht kam, trat doch am scheuesten zurück. Der Wechsel zwischen Licht und Schatten, den das Fräulein durch ihre Bewegung auf den geschlossenen Augenlidern der beiden Kleinen hervorgerufen hatte, half ihnen glücklicherweise aus der Verlegenheit.

Das kleine Mädchen fing ängstlich an, in seinem Erschöpfungsschlaf zu wimmern, und der Bruder fuhr auf mit offenen Augen und mit einem Griff nach der Seite des Strohsacks, wo in der vorigen Nacht der Degen von Bau, Kolding und Fridericia, mit dem er durch so viele Tage und Nächte den Todeskampf seiner Mutter und dann sein Schwesterchen bewachte, gelegen hatte. Blinzelnd vor dem Licht und Schatten und verwirrt durch die Gesichter und Gestalten um sich her, saß er aufrecht; und während er die Schwester mit dem linken Arm umfaßte und an sich zog, hob er den rechten Ellbogen vor das eigene Gesicht, wie um einen Schlag abzuwehren, und die Faust, bereit, sofort selber zuzuschlagen.

Aber jetzt hatte ihn schon die Mutter Cruse im Arme, und die letzte Freundin seiner Mama schluchzte zwischen Lachen und Weinen:

»Erschrick dich nicht, Wölfchen! Bloß lauter gute Freunde, Junge. Aber Bengel, wie haben wir euch gesucht? Na, armer Tropf, kennst mich wohl noch immer nicht, daß du mich so dumm anstierst?«

Vor solchem Lärm erwachte selbstverständlich auch die kleine Paula völlig, und zwar mit lautem Geschrei; da aber gab das Rotkäppchen rasch die Lampe des Doktor Berg dem ersten besten und also diesmal dem Hofrat Dr. Brokenkorb in die Hand: »Halten Sie sie nur einen einzigen Augenblick!«

Und schon hatte sie wirklich »beide Hände voll«, hatte die kleine Paula von der Matratze aufgehoben, hielt sie an die Brust gedrückt und tanzte mit ihr in dem Zimmer umher: »Mein Püppchen! Mein Herzchen! Nicht weinen – nicht erschrecken! Glaubtest doch wohl wirklich nicht, daß ich nichts mehr von dir wissen wollte, wenn deine Mama so oft mein einziger Schutz gewesen ist, wenn die ganze Welt mir auf den Hacken war? Nicht weinen, Herzchen! Kennst mich doch? Nimm nur die Händchen von den Augen, lauter gute Freunde rundum! Glaubtest doch hoffentlich, daß es mir das Herz abstieß, als ich heute morgen euch nur verstohlen aus der Bodenluke nachsehen konnte? Und der Heilige Christ ist ja auch vor der Tür; und was wünschst du dir diesmal zum Weihnachten? Einen schönen Baum mit Lichtern und Zuckerwerk und vergoldeten Äpfeln und Nüssen und so viele Puppen und buntes Spielwerk, als es nur in der ganzen weiten Welt gibt! Wozu gibt es denn die vielen Onkel und Tanten in der Welt? Guck nur – dies da ist die Mutter – die Tante Cruse aus dem alten Eisen, und der Herr hier – brauchst dich nicht zu fürchten vor seinem Bart und seiner schwarzen Nase und seinem einen Auge – und seinen Namen habe ich immer noch nicht recht verstehen können – dieser Herr hier gleichfalls aus dem alten Eisen. Und hier der Allerfeinste und Allerbeste, der Herr Hofrat Brokenkorb, deiner seligen Mama allerliebster Freund. Ja wundere dich nur, wie viele Leute es in der Welt gibt, die euch seit heute nachmittag plötzlich gesucht haben, als hinge ihre eigene ewige Seligkeit davon ab, daß sie euch fänden...!«

»Jetzt beruhigen Sie sich endlich, Sie närrische Person, und verschüchtern Sie uns das arme Wurm nicht noch mehr!« rief endlich die Frau Wendeline, aber durchaus nicht zornig. Und dann stellte sie den Jungen, an beiden Schultern ihn haltend, vor den braven Peter Uhusen hin und sagte: »Ja, dies ist der junge Ritter, der mit dem Schwert seiner Ahnen heute morgen zu mir kam. Der Erbe des Leutnants Hegewisch, der gute Junge, dem das Schicksal die letzte Waffe aus der Hand schlug und zu dem alten Eisen warf, um ihn zu seinen Freunden im alten Eisen zu bringen und zu verhelfen! Ich glaube, das wäre ein Bursch und später ein Gesell für Sie Schmied von Jüterbog. Wenn Sie ihn haben wollen, so nehmen Sie ihn, Uhusen; wenn nicht, nun, so lassen Sie ihn mir, vielleicht mache ich auch bei den alten Lumpen und Knochen einen Mann für diese eisernen Zeiten aus ihm.«

Der Knabe blickte von einem zum andern. Man sah es ihm an, daß er bereits völlig wieder bei sich war und ein ruhiges Wort hören und verstehen konnte. Es war durchaus nicht nötig, daß Rotkäppchen mit seiner Schwester auf dem linken Arm ihm die rechte Hand auf die Schulter legte und ihn fragte: »Bist du auch ganz wach, Wolf, und kannst fassen, was die Herrschaften über dich abmachen wollen?«

»Den Degen deines Großvaters hebe ich dir auf, bis du erwachsen bist, mein Sohn«, sagte Uhusen ruhig. »Mutter Cruse, ich glaube, für den Augenblick wird die Hauptfrage sein, wohin wir die beiden für den Rest dieser Nacht bringen. Hier lassen möchte ich sie unter keinen Umständen.«

»Das Kind zu mir ins Bett in meinem Keller; den Jungen nehmen Sie mit in Ihr Wirtshaus«, rief die Mutter Cruse. »Das ist wohl das einfachste.«

»Zu mir, zu mir!« stammelte Albin Brokenkorb. »Beide Kleinen, beide Kinder zu mir!«

»Eine seltsame Bereicherung deiner Raritätensammlungen, alter Freund«, brummte Uhusen, aber nicht ohne Weichheit der Stimme. »Recht hübsch von dir; aber sieh dir die Sache lieber doch erst morgen früh bei ruhigerm Blut und bei Tageslicht an. Was ist Ihr Rat, Fräulein Rotkäppchen?«

»Weshalb fragen Sie mich, Herr? Da den Jungen müssen Sie fragen. Er hat sein Leben bis heute so ziemlich allein machen müssen und wird also auch über das Nächste am besten für sich und hier seine Schwester entscheiden können.«

Peter Uhusen nickte zustimmend.

»So höre, mein Kind«, wendete er sich an den Knaben, und zwar ganz so, als rede er mit einem Erwachsenen. »Wir sind alle gute Freunde von deiner Mutter gewesen und wollen nun alle unser Bestes für dich und deine Schwester tun. Dein lieber Großvater, der tapfere Leutnant Wolf Hegewisch, hat mich und den Herrn da, den Herrn Doktor Brokenkorb, gradeso auf die Schulter geklopft, wie ich dich jetzt darauf klopfe, und ich möchte ihm gern seine Wohltaten vergelten, die er mir getan hat, als ich noch ein Knabe war. Und vor allen Dingen möchte ich mit dir reden können, wie er mit uns zu reden verstand. Mit seinem Degen, welchen du dieser Dame heute morgen brachtest in deiner Not, sind wir seit unserer Jugend vertraut, und ich kenne vielleicht noch mehr Geschichten, die an ihm haften, als wie du. Nun ist das aber für uns alle hier die größte und beste und liebste Geschichte, daß wir durch dies Stück altes Eisen euch, deine Schwester und dich und – deine arme Mutter, unsere liebe Jugendfreundin, aufgefunden haben in dieser Welt, wo man im Getümmel und Gedränge so leicht voneinanderkommt. Als dieser Herr und ich Jungen waren, ist deine Mutter wie unsere kleine Schwester gewesen. Nachher haben wir uns voneinander verloren, aber im guten Gedächtnis behalten; und weil dem so ist, guck, mein Junge, deshalb will jeder sein Teil von euch haben. Ich bin nun nichts weiter als ein invalider Soldat, wie dein Großvater war; und gehst du mit mir, so gehst du an einen harten Arbeitstisch. Der Herr hier, der Herr Hofrat, ist nicht Soldat gewesen; doch eine schlimme Schlacht hat er heute auch mitgeliefert und – hoffentlich mit gewonnen. Folgst du ihm, so kannst du es vielleicht noch zu viel Gutem und Schönem auf Erden bringen, und wahrscheinlich auf nicht allzu beschwerlichen Wegen. Bergan geht es freilich bei uns beiden! Aber wie gesagt: auf Rosen wirst du bei mir gar nicht gebettet, und der Herr da ist ein angesehener Mann. Ich rate dir also, gehe mit ihm. Die Dame wird für deine kleine Schwester sorgen. Du hast mich verstanden? Wir haben ja gehört, wie du das Schwert geführt hast seit dem Sonntag bis zu dieser Stunde; nun sage uns, was du jetzt für das beste hältst?«

Mit scharfen, hellen Augen sah der Knabe an dem Schmied von Jüterbog empor, dann schluchzte er: »Ich ginge mit Ihnen in alles Elend und käme doch schon wieder raus. Aber wo meine Schwester bleibt, bleibe ich. Das habe ich der Mama versprochen.«

»Natürlich!« rief die Mutter Cruse. »Nehmen Sie es mir nicht übel, Uhusen; aber seit ich Sie kenne, haben Sie nicht soviel überflüssige Worte geredet wie eben. Zu der Frau Direktorin Cruse in das alte Eisen! So nehmen Sie doch endlich Ihrem Hofrätchen die Lampe wieder ab, Jungfer Leichtsinn. Geben Sie das Kind dem Herrn aus Wien, liebes Rotkäppchen. Du gehst mit mir, alter kleiner, braver Kerl. Dein närrischer Säbel liegt zwar bei dem Herrn Hofrat, aber mir hast du ihn heute morgen zugetragen, und mir gehörst du zu. Wenigstens für diese erste Nacht. Meine Herren, abgesehen von allem andern, halte ich es eben des nächsten Morgens wegen für das Rechte, daß wir das Zusammengehörige so nahe als möglich beieinanderhalten.«

Es war so. Die letzte Zeit hindurch hatte niemand über die beiden Kinder hinweg an die schaurige schwarze Kiste da draußen in der regnichten, kalten Herbstnacht unter dem freien Himmel an der großen Grube gedacht. Und Rotkäppchen erinnerte sich auch jetzt noch nicht ihrer wieder; denn wer um die Gruppe mit dem Licht, das sie dem Herrn Hofrat auf Wunsch von Frau Wendeline wieder abgenommen hatte, tanzte, war das Rotkäppchen. Und in Anbetracht, daß Erdwines Sarg wirklich noch unverscharrt in dem leisen Regen der Vorwinternacht draußen an der offenen Armengruft stand, war das freilich unpassend. Aber von den Anwesenden am Strohsack der armen Frau Erdwine Wermuth fand sich keiner berufen, dies herauszufinden. Auch die Mutter Cruse nicht; denn die wickelte jetzt ihren schönen Mantel, welchen sie vorhin an jener Grube über den Hofrat Dr. Brokenkorb gebreitet hatte, um das Kind auf dem Arme des langen Peters und hatte nicht die geringste Zeit, »ihre Gefühle durch irgendeinen Wortschwall durchzusieben«. Und was ihren Mantel anbetraf, so war ihr augenblicklich doch schon ohne ihn warm genug und derselbe übrigens auch sonst nichts weiter als eine Nummer aus ihrer Lebenstheatergarderobe.

»So, Wolfram Wermuth«, sagte sie, »jetzt nimmst du den Herrn Hofrat bei der Hand und führst ihn vorsichtig auf der Treppe. Du kennst sie ja am genauesten und weißt, wo ihr Halunken sie am meister, zum Wackeln gebracht habt und wo das Geländer ganz fehlt. Und jetzt fort. Geh voran, Mädchen, und leuchte. Folgen Sie ihr mit dem Kinde, Uhusen, und du, Wolf, nimm dich mit dem Herrn Hofrat in acht. Ich mache den Beschluß.«

Sie stiegen in der angegebenen Reihenfolge nieder und hatten Grund, auf ihre Füße zu achten. Die Frau Wendeline aber blieb als die letzte noch einen letzten Augenblick auf der Schwelle des schauerlichen, jetzt in die volle Nacht versinkenden leeren Zimmers und sah zurück in die Finsternis. Noch einmal streifte ein Lichtschein von der Lampe in der Hand Rotkäppchens das letzte Lager von Erdwine Hegewisch, und die große alte Frau in der Tür schüttelte sich leise und strich sich mit der Hand über die Stirn und murmelte finster: »Jawohl, alte Komödiantin – ein fein Memento für deine schlaflosen Nächte in deinem Keller diesen Winter durch!«

Sie schüttelte aber auch die schauerlichen Bilder, die sich mit diesem Umblick für sie verknüpften, ab mit ihrer gewohnten stolzen Handbewegung und stieg den andern nach, und zwar jetzt nicht mehr durch ein stilles, menschenleeres Haus. Es hatte sich das Gerücht von ihnen nun doch durch alle Stockwerke verbreitet, und sie fanden einen erklecklichen Teil der Bevölkerung auf ihrem Wege. Aber die Leute flüsterten bei ihrem Vorüberschreiten nur leise miteinander und betrugen sich sehr höflich und anständig.

Nur Doktor Berg, der auch aus seiner Tür sah, stammelte mit schwerer Zunge lachend: »Nun beim Zeus, Brokenkorb, das wäre ja wirklich einmal etwas Neues, von dem man in den Zimmern der Damen erzählen könnte. Aber Sie haben recht, Kollege, daß Sie sich persönlich des Skandals annehmen. Er ist in der Tat riesig, und Sie können sich darauf verlassen: ich habe das Meinige getan und werde es ferner tun, diese Sache in die Mäuler der Leute zu bringen.«

›Großer Gott, auch das!‹ ächzte der Hofrat in der Tiefe seiner Seele.

»Ich helfe den Herrschaften nur in ihren Wagen, dann liefere ich Ihnen Ihr Licht wieder ab, Dokterchen«, rief das Rotkäppchen. »Ja, bringen Sie mir das Ding nur in die Zeitungen, und zwar ohne alle Musik! Und meinen Namen dürfen Sie dreist voll ausdrucken.«

Sie standen nun wieder in der Gasse, und der Kutscher nahm seinen Gäulen wieder die regenfeuchten Decken ab.

»Jetzt, gnädige Frau, rasch hinein in die Equipage«, rief das Fräulein. »Herr Unbekannt gibt Ihnen am besten das Kind nun auf den Schoß. Hinein mit dir, Wölfchen. Und Sie, Hofrätchen, erlauben Sie, daß ich Ihnen helfe! Gott sei Dank, Gott sei Dank! Glauben werden es mir die Herrschaften nicht, aber einen Tausendmarkschein nähme ich nicht, wenn ich dafür die zwei Krabben noch immer da oben auf ihrer Mutter Strohsack wissen müßte. Oh, Gott im Himmel sei Dank und vergelte Ihnen alles, was Sie – uns heute Gutes getan haben, wenn wir uns nicht wiedersehen.«

»Steigen Sie endlich ein, bestes Kind«, rief der Schmied von Jüterbog sehr gröblich im Ton, aber dazu im Ausdruck mit einer Höflichkeit, die er nicht an jede beliebige Fürstin, Gräfin oder Kommerzienrätin gewendet haben würde.

»Ich?« fragte das Rotkäppchen, die Lampe des Doktor Berg mit der Hand vor dem Wehen der Nachtluft schützend. »Das ist doch wohl Ihr Ernst nicht, Herr Unbekannt? Wer von Ihnen könnte mir denn ein Nachtquartier bieten?«

»Ich«, sagte die Mutter Cruse aus dem Wagenfester.

»Bei Ihrem alten Eisen?« lachte, die Tränen oder die Regentropfen aus den Augen wischend, die arme Kleine. »Nein, nein, noch nicht. Und dann – Sie haben ja schon die Kinder! Wenn Sie die in Sicherheit halten wollen, dann haben Sie schon Ihr Tun genug, gnädige Frau; und ich bin vollständig über. Aber wenn ich Ihnen vielleicht noch einmal meine Tanzschuhe bringen sollte –«

Der Schmied von Jüterbog zog das arme Geschöpf an sich und fragte es: »Findest du bis morgen zu essen und einen trocknen Winkel?«

Und Rotkäppchen antwortete, aber sehr leise: »Ja, Herr, ich, danke Ihnen; aber wiedersehen möchte ich Sie wirklich noch einmal mit Ihrer schwarzen Nase, Ihrem einen Auge, Ihrer einen Hand und Ihren guten, dummen Redensarten. Natürlich find ich schon ein Unterkommen für diesmal.«

Die Schultern hebend, fügte sie hinzu: »Nur nicht zuviel Musik, zuviel Musik im Deutschen Reich!«

Und der schwarze Peter, Herr Schmied aus Jüterbog, stieg zögernd den andern nach in den Wagen und sah noch vom Fenster des fortrollenden Wagens aus, wie das schöne Mädchen auf der Türschwelle stand und sich die Tränen oder die Regentropfen aus den Augen wischte. Dann blies der Wind das Licht aus.

Neunzehntes Kapitel

Die Mutter Cruse hatte dem Kutscher wiederum ihre Adresse angegeben, und der Kutscher hatte gebrummt: »Na, diese Jagd! Ja, wenn unsereiner sich seine Gedanken darüber machen wollte, was er so hin und her und zusammen fährt, dann hätte er viel zu tun, und ich dankte für die Arbeit.«

Es war ein Glück, daß ihn »die Geschichten seiner Fuhrgäste zuletzt doch gar nichts angingen«, er hätte sie wahrscheinlich sonst nicht so sicher und geschickt durch das Gewühl der lebendigsten Gassen der Stadt zurück zu dem Geschäftslokal der Frau Wendeline geführt.

Da hielten sie nun wieder vor dem Lumpen-, Knochen- und Alteisenkeller; und – als ob nicht ihr wundervolles bewegtes Leben und auch dieser heutige nervenangreifende Nachmittag hinter ihr liege, stieg Frau Wendeline zuerst aus und suchte in ihrer Kleidertasche nach dem Schlüssel, der die Tür zu ihrem Reich des Erdenabfalls öffnete. Aber ganz klar mußte auch sie doch nicht sich während der Fahrt geblieben sein; nämlich sie hatte jetzt das schlafende Kind von ihrem Schoß auf den des Hofrats Dr. Albin Brokenkorb gehoben, und Albin hielt es noch auf den Armen, während Uhusen den Knaben auf das Pflaster stellte.

Aber sehr merkwürdigerweise war Albin um diese Zeit völlig

wach und von der ganzen Gesellschaft vielleicht am objektivsten bei der Sache. Aber diesmal, und das wiederum sonderbarerweise, nicht bei der äußern Erscheinung, sondern bei dem Innern der Dinge. Er ordnete seine heutigen Erlebnisse seiner sonstigen Existenz ein, er legte den Tag zu Begriffen auseinander; und ein Mann, der wieder bei dem Begriff angelangt ist, der ist schon frei und weit hinaus und hinweg über die ärgste Verblüffung in betreff dessen, was ihm persönlich wieder mal am Tisch des Lebens neben den Teller gelegt worden ist.

»Bis ich drunten Licht angezündet haben werde, gedulden sich die Herren wohl hier oben«, sagte Frau Wendeline; und dann öffnete sich die kleine Tür, und der schwarze Abstieg in die Tiefe der Erde wurde ihnen bei dem Lichter- und Lampenschein der Gasse sichtbar. Der erste süß-sauere, unheimliche Duft von dem Produktenlager der Mutter Cruse schlug zu ihnen empor; aber der Hofrat blieb auch dem gewachsen. Nun leuchtete es aus der Tiefe, und die Mutter Cruse trat an die unterste Stufe der Treppe: »Wenn es gefällig ist.«

Dem feinen, vornehmen, gelehrten Mann mit dem Kinde war's gefällig. Er strauchelte nicht mit seiner Last auf den übel ausgetretenen Steinstufen; er wurde nicht ohnmächtig von dem Dunst der alten Knochen und noch ältern Fetzengarderobe.

»Nicht da in die Glasscherben«, warnte aber die Geschäftsinhaberin, als er die kleine Paula jetzt auf dem Boden niedersetzen wollte. Er trat zurück und wäre nun beinahe selber in das alte Eisen geraten; ein hochgetürmter Haufen von verrosteten Kochtöpfen, Ofenröhren, Ofenplatten, Kohlenschaufeln, Feuerhaken und -zangen, und was sonst dazu gehört, kam ins Wackeln und klirrte und rasselte hinter ihm und um ihn her.

Sie mußten sich alle erst an das Licht und die Schatten in dem Gewölbe gewöhnen – alle bis auf die Mutter Cruse, die sich natürlich sofort zurechtzufinden wußte und es ihren jetzt so ungewohnten Gästen so behaglich als möglich, und das auch so schnell als möglich, zu machen suchte.

Sie verstand dieses wundervoll. Mit königlicher Unbefangenheit trat sie einher, als ob alles so recht in der Ordnung sei und als ob dieser schreckliche Aufenthaltsort ihr das ganze Leben durch das wünschenswerteste Ziel voll Licht, Fülle, Ruhe und Sicherheit gewesen sei. Und wir können es nicht genug wiederholen: Hofrat Dr. Brokenkorb war jetzt mit der ganzen Seele in der Situation. »Und diese Wunder hättest du versäumt ohne den Menschen – diesen Vagabunden Uhusen – deinen Freund Peter Uhusen, Albin!« murmelte er, mit allen Sinnen beschäftigt, allen phantastischen Zauber des Nachmittags und des Abends verwendbar sich einzuprägen.

Aber der lange Mensch, der schwarze, kluge Peter Uhusen, schlug den Jugendfreund ganz zärtlich auf die Schulter: »Nicht wahr, du fängst an, dich zurechtzufinden? Dir fällt eine ganz neue Seite auf an dem Menschen in seiner Verwirrung auf Erden? Was für schöne Reden lassen sich darüber den Damen halten! Jaja, siehst du, es war doch wieder mal recht nett von mir, daß ich dich wie in unsern Lübecker Jahren mit mir nahm. Es kommt eben nicht alles dabei heraus, wenn man sich nur auf Mamas Eau-de-Cologne-Fläschchen verschwört in der menschlichen und göttlichen Komödie, in der man eben mitspielt, bewußt oder unbewußt, ob man will, oder ob man nicht will!«

»Zuerst jetzt für die heutigen Hauptpersonen in der Komödie sorgen, Schmied von Jüterbog!« rief die Mutter Cruse. »Das Mädchen wäre mir auch auf den Glasscherben, auf welche es der Herr Hofrat niederbetten wollte, eingeschlafen und der Junge dort auf dem alten Eisen. Essen werden sie nicht wollen; ich kenne das, sie sind zu sterbensmüde dazu; aber ins Bett sollen sie, und somit – habe ich Sie, meine Herren, bis morgen früh hier nicht mehr nötig und wünsche von Herzen auch Ihnen eine recht gute Nacht.«

Die alte Dame hatte im Hintergrunde ihrer Höhle eine Pforte geöffnet, die in ihre Privatgemächer oder vielmehr in ihre Schlafkammer führte. Mutter Cruse schlief nicht, wie die Nachbarschaft wissen wollte, auf ihren Lumpensäcken und Knochensäcken.

Nur im alten Eisen schlief sie, und gewöhnlich einen gesunden Schlaf, einen ruhigen, traumlosen Schlaf. Die beiden Herren sahen noch von der Tür aus, wie sie die Kinder Erdwinens auf ihrem Bett zur Ruhe brachte. Wenn sie sich für diese Nacht ausnahmsweise auf ihren Lumpen ausstreckte, so war dagegen nichts einzuwenden, weder vom Standpunkt ihrer nächsten Nachbarschaft noch von dem des Lieblingspublikums des Hofrats Dr. Albin Brokenkorb aus. Es war eben eine Geschmackssache, über die man sich sowohl in der Tiefe wie in der Höhe beifällig und sogar gerührt aussprechen durfte, ohne deshalb – aus seiner eigenen Rolle zu fallen.

In seine eigene Rolle fand sich Albin draußen in der Gasse im Anhauch der frischen Luft und vor dem Droschkenkutscher, der ihm den Schlag des Wagens öffnete, beruhigend rasch zurück.

»Rede jetzt nicht mehr zu mir, Peter«, sprach er mit einem tragischen Pathos, welches der Mutter Cruse zu andern Zeiten sicherlich viel Spaß gemacht haben würde, das ihr aber im jetzigen Augenblick ebenso sicher recht unbehaglich gewesen wäre, wenn sie drunten am Bett bei den Kindern eine Ahnung davon gehabt hätte. »Dieser Tag hat mich durchgeschüttelt wie kein anderer in meinem Leben. Auf das furchtbarste hat er mich erschüttert; aber laß uns jetzt nicht weiter davon reden; ich bin unfähig, zu hören und zu antworten. Ich muß mir das alles erst in der Stille zurechtlegen, und ich erschrecke jetzt schon vor dem Nachzittern des Erlebten. Du bist hart gegen mich gewesen, Uhusen, aber es war wie immer gut von dir gemeint, und ich habe dir zu danken. Willst du mich jetzt begleiten, willst du mit mir nach Haus fahren, so sollst du mir willkommen sein. Du sollst mir zu Rat, Trost und Überlegung mehr denn willkommen sein! O großer Gott, was für eine Nacht wird das werden mit diesem entsetzlichen Degen des Leutnants Hegewisch dort in meinem Arbeitszimmer auf dem Tische!«

Der Schmied von Jüterbog besah sich seinen Mann noch einmal ganz genau beim Schein der Wagen- und nächsten Gassenlaterne, und zwar mehr erstaunt über sich selber als über den Freund. Er pfiff drei bis vier Sätze aus dem ersten besten Niggermarsch seiner amerikanischen Kriegszeit und sagte, nachdem er sich möglichst wieder gefaßt hatte, mit einer Ironie, die aus dem ältesten alten Eisen der Welt stammte:

»Ich meine doch, wir haben für jetzt wohl völlig genug voneinander. Auf dich wird es ankommen, ob wir uns morgen noch einmal sehen. Was sollte ich dir raten? Was könnte ich mit dir überlegen? Und – ich bitte dich – weshalb sollte grade ich dir zum Trost aufs Seil gehen?«

»Du fährst nicht mit mir, Uhusen?«

»Nein, ich gehe lieber, und zwar meine eigenen Wege.«

»Also denn bis morgen«, lallte Albin Brokenkorb. »Gute Nacht denn! O Götter, welch ein Tag, welch ein fürchterlicher Tag!«

»Gute Nacht, alter Junge«, brummte Peter Uhusen. »Ich rate dir nun selber, deine kostbare Gesundheit zu schonen und dich nicht über die Grenzen der Menschheit hinaus aufzuregen. Sollte es dir unmöglich sein, den Erben des Leutnants Hegewisch den Degen ihres Großvaters persönlich zu bringen, so – schicke ich natürlich nach ihm. Der Herr erhalte dich noch recht lange zur Bildung und Verschönerung seiner Schöpfung.«

Der Hofrat war nicht imstande, noch einmal auszudrücken, daß er wahrscheinlich wieder mißverstanden werde. Er ließ sich von dem Kutscher über den Wagentritt emporlüpfen, sank mit einem tiefen Seufzer hin in die Kissen und schloß die Augen so fest als tunlich, da er den Kopf jetzt nicht mehr wie auf einer andern, mehr oder weniger weit zurückliegenden Stufe seiner Metempsychosen oder Inkarnationen – in den Sand stecken konnte.

Der schwarze Peter stand und sah dem Wagen nach. Dann nahm er den Hut ab und rieb sich mit der verstümmelten Pfote den sonst schon wirr genug sich aufbäumenden Haarwulst zu einer wahrhaft stachelschweinhaften Frisur durcheinander. Hierauf ging er sechs oder acht Schritte auf dem Wege nach seinem Gasthof, schwenkte urplötzlich um, kehrte zurück zu der Kellertür der Mutter Cruse, fand sie noch nicht verriegelt und stolperte nochmals die Kellertreppe hinunter.

»Nun, was soll denn das? Wer ist denn da noch?« scholl es etwas sehr scharf durch die Türspalte, aus der noch der Lichtschein in das Geschäftslokal drang.

»Ich bin's noch einmal, Mama. Ihnen ist es zwar ja längst kein Geheimnis; aber mir ist es ein Bedürfnis, es noch einmal heute in einen Busen auszuschütten, was ich bin und mit glänzendstem Talent zur Darstellung bringe. Ein Esel bin ich – bin ich gewesen von Ewigkeit – werde ich bleiben in Ewigkeit.«

»Hm«, brummte Frau Wendeline, schon sehr in Flanell und also in ziemlich mangelhafter Toilette, aber wirklich mütterlich besorgt aus ihrem Boudoir auftauchend, »was ist denn aber noch mehr Außergewöhnliches vorgefallen, um –«

»Schreibtafel her! Ich muß mir's niederschreiben, Daß einer reden kann, und immer schöner reden Und doch –«

»Das ist annähernd aus dem ›Hamlet‹, Uhusen. Sie fielen mir glänzend damit durch, selbst vor dem Publikum von Brooklyn.«

»Na denn:

– der Lord läßt sich

Entschuldigen, er ist zu Schiff nach Frankreich.«

»Ja, mit Ihrem Leicester haben Sie mich seinerzeit auch schön hineingeritten. Das war freilich Ihre Manie, auf Ihre Kenntnis des Menschen sich etwas einzubilden und sich an Charaktere zu wagen, von denen Sie nicht das mindeste verstanden. Bah, Ihre Psychologie! Nun, was hat Ihnen der saubere Weislingen denn noch angetan oder mitgeteilt, um Ihnen wenigstens für einen kurzen Augenblick zu dieser jetzigen Selbsterkenntnis zu verhelfen?«

Der Peter aus der Fremde sah die greise mütterliche Freundin wahrhaftig ratlos an.

»Zum Teufel, ja, fragen Sie mich nur! Gar nichts!« schrie er wütend, seinen durchnäßten Filzhut mit grimmigem Nachdruck in das alte Eisen niederschmetternd. »Abgeahnt – abgerochen – nein, bei Gott, abgefühlt habe ich's dem armen Tier eben, daß es trotz allem nichts brauchen kann von der Erbschaft des Leutnants Hegewisch und der Witwe Erdwine Wermuth.« Und mütterlicher denn zuvor klopfte die Mutter Cruse ihrem liebsten Erdenkameraden auf die schwarz angerauchte Backe und sagte mit leiser und gerührter Stimme: »Sie haben recht, Uhusen. Ein Esel sind Sie, waren Sie und bleiben Sie. Aber was sollte aus uns hier bei den Knochen, Lumpen und im alten Eisen werden, wenn man euch nicht hätte zu einem Halt und zum Anklammern mit der Hand und mit dem Herzen im Kehrichtstaubwirbel dieser Welt? Ich hätte Sie schon heute morgen umrufen können, Peter, als Sie mir mit dem Degen des ebenso närrischen Leutnants durchgingen; aber da dachte ich mir doch: was würde wohl, wenn man gar noch diese von ihren Dummheiten zurückhalten und ihnen ihre Rolle aus der Hand schlagen würde? Da habe ich Sie denn ruhig laufen lassen, grade als wie ich Ihnen Ihren Willen ließ, wenn Sie mir über Ihre ›Seepiraten von Blankenese‹, oder wie die wunderbare Historie sonst hieß, hinausgriffen und sich nicht nur an meinem bessern Verständnis, sondern auch an unserer Tageskasse auf das schmählichste versündigten.«

Herr Schmied aus Jüterbog saß wieder auf dem Lumpensack, auf dem er am Morgen gesessen, und sah zu der alten Heldenmutter im »Hausrock« empor, als könne er sie nimmer genug sein Lob singen hören. Sie aber fragte nur noch: »Nun, wie hat sich denn der Edle geäußert, um Sie zu diesem vollen Verständnis über Ihre Unzulänglichkeit in betreff von Menschenkunde und Menschenverständnis zu bringen?«

Wütend wieder aufspringend, rief der lange Peter aus der Fremde: »Gar nicht hat er sich geäußert. So dumm wie ich ist er nicht! Fällt ihm gar nicht ein, das einem andern auseinanderzusetzen, was er sich von ihm abriechen, abfühlen, abahnen lassen kann. Den Honigseim des Tages hat er vollgesogen und trägt ihn eben zu Stock, das dazugehörige Wachs ebenfalls an den Beinen. Geben Sie acht, sie adeln ihn uns für das Kapital, was er aus dem heutigen Jammer herausschlägt! Im übrigen freilich fühlt er sich augenblicklich sehr unwohl – zum äußersten erschöpft – ermattet zum Tode von allem, was er heute in unserem Guckkasten – in unserm Guckkasten, Mutter Cruse, gesehen hat. Ob er morgen früh Erdwinen die letzte Ehre geben wird, hängt natürlich ganz von seinem Befinden ab.«

Sie hatten beide bei ihrer Unterhaltung nicht auf das Bett in dem Kämmerchen, in welchem die beiden Kinder Erdwinens zur Ruhe gebracht worden waren, geachtet. Aber jetzt wurde alle ihre Aufmerksamkeit wieder dahin gezogen.

Ein schluchzender Ton war von dorther gekommen. Sie sahen den Sohn Erdwinens aufrecht sitzen und nach ihnen hinstarren im Schein der Lampe. Er stützte sich auf die linke Hand und hob die rechte, welche den Degen von Bau, Kolding und Fridericia so gut geführt hatte, gegen sie.

»Das ist der andere«, schluchzte er. »Die Mama hat ja nicht viel von ihm uns erzählt; aber ich kenne ihn nun doch. Aber er hat noch meinen Degen, und er soll mir meinen Degen, meines lieben Großvaters Degen wiedergeben. Ich habe alles gehört und alles verstanden.«

Die Frau Wendeline und Peter Uhusen waren rasch zu dem Bett geeilt, und jetzt hing der Junge an dem Halse des Schmieds von Jüterbog und rief, in Tränen und Aufregung um Worte kämpfend: »Und Sie sind wieder der andere! Der, von dem Mama immer und immer wieder erzählt hat. Sie haben Mama liebgehabt und haben das Paulchen und mich gefunden, als wir keinen andern mehr zur Hülfe hatten und die ganze Welt sich vor uns fürchtete der Vergiftung wegen. Sie haben schon vorhin von sich und dem andern zu mir gesprochen; aber da habe ich es noch nicht ganz verstehen können aus Mattheit. Jetzt bin ich ganz wieder bei mir, gradesogut wie als Paula und ich allein waren in den Nächten bei der gestorbenen Mama und ich allein wachte. Ja, der guten Madam da habe ich meinen Degen gebracht in meiner allerletzten Not, und sie hat ihn Ihnen gezeigt, und so sind Sie alle uns zu Hülfe gekommen. Sie haben auch den tollen Hund damals totgeschlagen, und-«

Was der arme kleine Bursche alles sonst noch hervorstieß, blieb unverständlich. Die Mutter Cruse und der Schmied von Jüterbog hatten noch lange, lange neben dem Bett zu sitzen, ehe sie ihn zu Ruhe gesprochen hatten und er in seinem Unwohlsein, seiner äußersten Erschöpfung, seiner Todesmattigkeit wieder schlief.

Als er endlich wieder schlief, ließen sie sich das Vorgefallene eine Warnung sein und sprachen von nun an recht leise miteinander. Natürlich zuerst darüber, was nunmehr mit den Kindern werden sollte. Aber darüber kamen sie in dieser Nacht noch zu keinem endgültigen Beschluß. Es war in der Tat zu vieles dabei zu überlegen. Sie verschoben denn auch diesmal die Hauptsache, wie das das Gewöhnlichste und meistens auch das Verständigste ist, auf eine beruhigtere Stunde, also unbedingt zum wenigsten auf morgen, und redeten dafür lieber noch von sich selber, dem armen Rotkäppchen und auch noch ein weniges vom Hofrat Dr. Albin Brokenkorb. Das letztere Thema wirkte merkwürdigerweise am beruhigendsten unter den gegebenen Umständen. Es ist eine Tatsache, daß die Mutter Cruse zuletzt ganz lustig dabei wurde und den armen Peter sogar sehr heiter damit aufzog, so daß dieser beim endlichen wirklichen Gutenachtsagen für diese Nacht, sich den im Produktenkeller mühsam wiedergefundenen Filz auf den Kopf schlagend, grimmig grinsend schnarrte: »Na, zum Henker, ich für meinen Teil lasse ihn mit Vergnügen laufen. Aber Mutter Cruse, wen schicken wir ihm, um ihm die Plempe des Leutnants Hegewisch wieder abholen zu lassen? Meinen guten alten Wanderknüppel, mein einziges Lübecker Erbstück, habe ich schon bei der saubern Geschichte eingebüßt; und das können Sie nicht verlangen, Mama, daß ich mich ohne solchen Trost in der Hand noch einmal zu ihm verfüge. Einige Rücksicht habe ich doch auch auf meine Gefühle zu nehmen.«

Frau Wendeline sah mit einem ihrer verständnisreichsten, hellsten Blicke zu dem Freund hinüber: »Dem Himmel sei Dank, daß man noch lachen kann; aber – machen Sie mir Ihre Gefühle nicht lächerlich, Uhusen! Ihr Knüppel liegt ganz gut – dort – in Numero zehn in der Schulzenstraße – bei dem Strohsack; und um das alte Eisen gehe ich im Notfall selber. Nun aber habe ich für heute wirklich genug. Scheren Sie sich nach Hause oder nach Ihrem Wirtshause, und rauchen Sie noch eine Zigarre zu einem gemütlichen Glase Grog. Ich meinesteils habe auch die Absicht, noch ein wenig still für mich bei einer Tasse Tee zu sitzen. Morgen früh können wir dann ja unsere Ideen zusammentragen und miteinander vergleichen, was zwischen unsern Überlegungen miteinander stimmt oder nicht stimmt.«

»Das mit der Zigarre und dem Glas Grog ist unbedingt eine Idee, und zwar eine, die mir wirklich auch schon unbestimmt im Sinn geschwebt hat. Gute Nacht, Mutter Cruse.«

»Gute Nacht, Uhusen.«

Zwanzigstes Kapitel

Es ist nicht zu ändern; wir müssen noch hier hindurch, so gern wir's uns ersparen und dem Leser durch einen andern schenken lassen möchten. Wer uns den Griffel in die Hand gedrückt hat, trägt die Verantwortung; das Stückchen Blau aber, das jetzt schon durch das Gewölk leuchtet, nehmen wir nicht als ein Geschenk, sondern als ein Zeichen, daß man sich andernorts seiner Verantwortlichkeit bewußt ist.

Der Mittwochmorgen kam. Noch ohne Sonne; aber es dämmerte doch, es wurde von neuem Tag, und wir – wir haben nicht danach zu fragen, wo Rotkäppchen einen Unterschlupf diesmal für die Nacht gefunden hatte. Wenn das deutsche Volk ein wenig zuviel Musik macht, so zeigt es doch von Jahr zu Jahr deutlicher noch einen andern Geschmack, den wir noch weniger billigen können als seine Neigung, in Tönen aufzugehen. Dr. Berg ist anderer Ansicht; – was Hofrat Dr. Brokenkorbs innerste Meinung über die Frage ist, hat er sich bis jetzt gehütet, öffentlich vorzutragen. –

Wir finden mit dem ersten Morgengrauen das Rotkäppchen schon vollständig in den Kleidern und selbstverständlich in denen vom gestrigen Tage. Und wir finden es, mit dem Kopf auf den Knien und die Arme um den Kopf gelegt, auf dem Strohsack in der leeren, kalten Kammer der Witwe Wermuth, in welcher die zwei Stücke des alten »Wanderknüppels« des Schmieds von Jüterbog – das mit der eisernen Zwinge und das mit der Hanswurst- und Faunenfratze – die einzigen Zeichen sind, daß jenseits dieses doch noch etwas anderes liegt, als der Pöbel in der Welt zugeben kann und will – von seinem Zugebenmögen sei nicht die Rede.

Ob das Fräulein so früh am Tage schon ein Frühstück gefunden hatte, können wir gleichfalls nicht sagen; aber als es völlig Dämmerung geworden war, schnellte sie empor, als ob es keinen Hunger, keinen Frost, keine Ermüdung auf Erden gebe. Es ist kein Mensch, den nicht um irgend etwas Hunderttausende, ja Millionen beneiden können, und für heute hatte Fräulein Rotkäppchen noch ihren Leichtsinn, ihren guten Mut und gesunden Körper. Alles drei sehr schöne Dinge – auch das erste unter gewissen Lebensumständen und Daseinsbedingungen.

Sie schüttelte sich in ihren Röcken und machte noch einmal den vergeblichen Versuch, eine erblindete Fensterscheibe als Spiegel zu benutzen. Da das wiederum sich nicht tun lassen wollte, öffnete sie das Fenster, sah in das Wetter und seufzte: »Leidlich!«

Nun regte sich der erste Fuß auf den Treppen im Hause. Der erste Bewohner ging zur Arbeit, und das Rotkäppchen sagte: »Na, denn zu. Hat der Spatz Glück, wird er nicht von der Katze gefressen; und Glück habe ich meistens doch immer noch gehabt. Also vorwärts ins Vergnügen, und nur keinen merken lassen, daß man Angst hat!«

Sie mußte doch wohl ein Frühstück gefunden haben, denn als sie aus dem Hause glitt, sah sie gar nicht verhungert aus. Und ihr Spatzen- und Buttervogelglück hatte sie dazu; sie wurde nicht sofort an der Tür abgefangen und an ihren jetzigen Wegen gehindert.

Sonderbarerweise führte sie der erste Gang in die alleranständigste Gegend der Stadt.

»Ich hab's dem guten Jungen versprochen, und Wort halten soll der Mensch, wenn er auch sonst nichts zu verschenken hat.

Ich hab ihm das Ding von wegen der Nägel des Säbels seines seligen Großpapas und der Madam Cruse unter die Finger gegeben, und ich habe ihm hoch und heilig versprochen: ›Wolf, ich schaffe dir das Käsemesser zurück, denn die Mutter Cruse kenne ich. Mit der brauche ich nur zur Auseinandersetzung zu kommen.‹ Na, so 'ne Komödie! Aber so ganz umsonst will ich gestern abend doch nicht mit der Alten, der Schwarznase und meinem Hofrat nach dem – da draußen hingerutscht sein. Na, Hofrätchen, warte, dich werden wir im Notfall auch aus dem süßesten Schlummer wecken, bloß um der Welt zu beweisen, daß auch unsereine mit beiden Ohren hören kann, wenn man unbestimmte Verhältnisse vor ihr in der Droschke stundenlang Knie gegen Knie verhandelt. Wenn der Junge wo Anspruch auf den Degen seiner Ahnen hat, so ist das heute morgen um achte – da draußen! Da draußen, da draußen, da draußen vor dem Tor. Wer aber so früh am Tage und nach den gestrigen Erlebnissen da sicherlich noch nicht vorhanden sein wird, das ist mein liebes Dokterchen, mein süßes Hofrätchen. Aber – mein ist der Säbel, mir gehört er an, sagt die Jungfrau; und umsonst werde ich mich doch nicht von dem alten braven Sohn, dem Wölfchen Wermuth, mit der Plempe haben gleichfalls beschirmen lassen. Her muß sie, und sollt ich Runne & Plate vom Keller bis zum Dache aus den Eiderdaunen sturmläuten müssen. Das ist ja diesmal ein wahrer Segen, daß dieser Edle, dieser liebe gute Herr mit noch mehreren schönen Seelen zu meiner ausgebreiteten Bekanntschaft gehört! Na, und im Notfall muß mir sein Rupfer zu dem Meinigen verhelfen. Komm ich in Rage, so ist's mir auch ganz egal, was für Aufsehen es macht oder was für eines ich mache.«

Ach, um das Aufsehenmachen in der Welt – –!

So zwischen sechs und sieben Uhr am Morgen kommt man, wenn man Glück hat, schon ohne Aufsehen durch. Es ist dann bereits eine ganze Menge Leute auf den Beinen, auch im Spätherbst und bei mißlichem Wetter. Bei Runne & Plate standen sowohl Geschäftstor wie Privateingang geöffnet, und Rotkäppchen fand in der Hinsicht nichts vor, was ihrem Vorhaben entgegen gewesen wäre. Einen Augenblick zögerte sie zwischen den zwei Pforten; dann aber schlüpfte sie in das hochgewölbte Einfahrtstor des Geschäftshauses und fand sich wieder im richtigen Augenblick an der richtigen Stelle: Gott ist nicht wählerisch in seinen Boten und Werkzeugen, und die irren sich, die da meinen, daß er die Welt mit spitzen Fingern anfasse und das nämliche von ihnen verlange. –

Das große Geschäft in altem und neuem Eisen war schon in voller Tätigkeit. In den Schreibstuben glitten die Stahlfedern über das Papier, und in den Magazinen und auf dem Hofe rasselte und klirrte das und hoben und schoben die Arbeitsleute; die Firma rühmte sich in ihrer »Branche« mit des größten Umsatzes in der Stadt und weit über dieselbe hinaus.

Das Erscheinen der jungen Dame in dem Hofe machte kein Aufsehen. Wie großartig der Umsatz von Runne & Plate in neuem Eisen sein mochte, der in altem blieb immer, zum Teil wenigstens, ein Kleinhandel. Alte Weiber und Männer, halberwachsene Mädchen, Kinder von beiden Geschlechtern kamen mit Körben, mit Säcken, mit Schubkarren oder Handwagen voll des rostigen Wertobjekts und zogen mit weniger Silber und meistens nur Nickel und Kupfer zum Austausch wieder von dannen. Frau Wendeline Cruse war da zum Exempel eine wohlbekannte und sehr respektable Persönlichkeit, und Fräulein Rotkäppchen konnte ganz wohl ebenfalls einen durchgebrannten Stubenofenrost oder eine durchlöcherte Eierkuchenpfanne oder einen zersprungenen Kochtopf unter dem Tuche tragen! Runne & Plate hielten ihre Waagschale und ihr mächtiges Hauptbuch auch für den Geschäftsverkehr mit ihr bereit. Runne & Plate konnten nicht wissen, daß das Rotkäppchen nicht gekommen sei, altes Eisen zu bringen, sondern die feste Absicht hatte, dergleichen auf jede Weise, einerlei, ob erlaubte oder unerlaubte, auszuführen.

»Je, Fräulein, sind Sie denn das? Wie kommen Sie denn jetzt hierher?« erscholl aber eine Stimme aus einer Tür her, von der eine enge Dienerschaftstreppe zu den Wohnungen der besten Mieter des Haupthauses führte; und das Fräulein, rasch dem Anruf zuspringend, sagte: »Na, siehst du, ich wußte es ja, daß ich nur meinem Gefühl zu folgen brauchte. Guten Morgen, Rupfer.«

Es war Rupfer, der mit einem Stiefel seines Herrn über der linken Faust, einer Bürste in der rechten und einer angenehmen leichten Zigarre aus dem Vorrat seines Hofrats dort »der Unterhaltung bei seiner Mühsal wegen« lehnte und den Haufen alten Eisens inmitten des Hofes wachsen und abnehmen sah.

»Ah, so nett!« rief Rotkäppchen. »Sie suche ich grade. Ihretwegen komme ich, Rupferchen.«

»Meinetwegen? Nanu?«

»Oder des Herrn Hofrats Brokenkorb wegen – natürlich. Ist er schon auf?«

»Nanu?« fragte Rupfer mit einem Gesicht, als ob er wegen der Bodenlosigkeit der Anfrage sofort zu Stein werden müsse. »Der schon uf? Und nach solchem Nachhausekommen und dem, was man ihn wahrscheinlich seit gestern hat durchmachen lassen? Fräulein, wenn Sie dabeigewesen sind, dann will ich Sie gleichfalls seit gestern abend gesucht haben, um das Genauere von Ihnen endlich über dieses Jammerelend zu erfahren.«

»Sicherlich war ich dabei. Vom Anfang bis zum Ende. Und erfahren sollen Sie natürlich alles, Rupfer; aber nur jetzt nicht. Ich habe keinen Augenblick Zeit. Ich war nämlich nicht allein dabei, sondern die vornehmsten Herrschaften, und jetzt schickt mich der Herr Oberst zur Disposition Uhusen von wegen des Degens des Herrn Leutnants Hegewisch. Gehen Sie hinauf, Rupfer, und sagen Sie dem Herrn Hofrat: Ein schönes Kompliment von der gnädigen Frau und dem jungen Herrn Wolfram und Fräulein Paula, und ich sei da und geschickt, um den Degen des Herrn Leutnants abzuholen; die Herrschaften brauchten das alte Eisen notwendig auf dem Kirchhofe am Sarge der Frau Erdwine.«

Zu Stein wurde Rupfer nicht, aber er klopfte sich mit dem Zeigefinger, seine Glanzwichsbürste fester packend, dreimal bedeutend, stumm vor die Stirn.

Das arme Mädchen, jetzt zwischen Ärger und Kummer, stampfte mit dem Fuße auf und rief: »Oder noch besser, fragen Sie ihn, ob wir persönlich verabredetermaßen wirklich die Ehre haben werden von ihm. Ob er selber kommen und den Degen mitbringen will.«

»Nu gar noch dieses Blech! Ne, Fräulein, alles andere Ihnen zuliebe, aber diesen Unsinn bestelle ich meinem Herrn nicht. Sie haben ihm gestern abend nicht aus den Kleidern geholfen, Sie haben ihn heute nacht nicht wimmern hören, Sie haben ihn diesen Morgen nicht auf seinem Kopfkissen sich betrachtet. Wissen Sie was, machen Sie sich das letztere Vergnügen. Kommen Sie mit rauf und besehen Sie sich das Unglück; und denn – wenn es eben nicht anders geht, rapportieren Sie selbst zu Hause, oder von wo sonst Sie mir eben nach Möglichkeit vorflunkern. Hätte das mit der Plempe und dem Kerl mit dem Knüppel als Visitenkarte nicht seine Richtigkeit, so nähme ich Gift drauf, daß das nur wieder einer von Ihren dummsten Narrenstreichen ist, Fräulein. Wollen Sie mitkommen?«

Natürlich wollte Fräulein mitkommen. Wir wissen nun schon, daß ihr Leben sie schon öfter mit dem Hofrat Dr. Brokenkorb in Verbindung gebracht hatte: die geschmackvollen, behaglichen Wohnungsräume ihres gefeierten guten Bekannten imponierten ihr gar nicht. Sie lagen ebenso wie gestern bei niedergelassenen Vorhängen im traulichen Dämmer, diese Räume; aber Rotkäppchen warf kaum einen Blick auf ihre Herrlichkeiten, Merkwürdigkeiten, Behaglichkeiten. Sonderbarerweise jedoch fing sie, die vorhin so frisch und warm von dem Strohsack der Witwe Wermuth aufgesprungen war, jetzt in diesen durch die allerneuste und sinnreichste Luftheizung erwärmten Zimmern an zu frösteln, und sie zog ihr dünnes Tuch fester um die Schultern.

Doch da war das Arbeitszimmer des bekannten und beliebten Gelehrten und Kunstverständigen, und –

»Ah!« rief das Mädchen, in den Sessel vor dem Schreibtisch sinkend. Sie griff nach dem Degen des Leutnants Hegewisch, der immer noch über den wohlgeordneten Papieren, den Kunsthandbüchern und zwischen den Nippsachen lag, der noch nicht durch Rupfers Hand zu dem Haufen alten Eisens drunten im Hofe gewandert war. Und sie seufzte: »So!«

Rupfer warf über die Schulter dem Griff einen verständnisvollen Blick zu, lächelte vergnügt in der Gewißheit, seinem Herrn in Treuen die wohltuendste, angenehmste Mitteilung zu machen, und flüsterte in das Nebengemach hinein: »Herr Hofrat, der Säbel des Herrn Leutnants soll wieder abgeholt werden.«

Rotkäppchen lehnte sich über den Arm ihres Sessels dem Türvorhang zu, vernahm aber nichts als einen unbestimmten Laut aus dem Nebenzimmer.

»Oder ob Sie vielleicht selber zu dem Begräbnis kommen und den Degen des Herrn Leutnants mitbringen würden?«

Es ließ sich derselbe Laut, nur etwas deutlicher, vernehmen; Rotkäppchen zuckte die Achseln auf eine Weise, die mehr sagte, als Hofrat Dr. Albin Brokenkorb je in einem seiner berühmten und beliebten Vorträge mündlich oder durch den Druck veröffentlicht hatte.

»Gehen Sie doch näher heran und schütteln Sie ihn, Rupfer«, riet sie, und der gute Diener folgte gern und grinsend dem Rat, indem er spaßhaft seiner und seines Herrn guten Bekannten mit der Faust drohte.

Rotkäppchen stand jetzt gestützt auf den Degen des Leutnants Hegewisch und horchte an der Tür. Es wurde drinnen hin und her geredet, klagend und bedientenhaft. Dann steckte Rupfer den Kopf wieder hinter dem Vorhang vor und greinte leise: »Fräulein, wie ich es mir gedacht habe. Er spricht aus Schäkspieren und lateinisch und griechisch. Das einzige, was ich verstanden habe, ist, daß er an – Ihre – Ihre Herrschaften schreiben will, sobald er wieder bei Kräften ist.«

»Na, grüßen Sie ihn, Rupfer!« rief die Kleine, und den Degen des Leutnants Hegewisch und seines Enkels unter ihr Tuch wickelnd und an die Brust drückend, schritt sie ruhig durch die Gemächer des guten Bekannten, fest und sicher die teppichbelegte Treppe in dem Haupthause von Runne & Plate hinunter und setzte sich erst unten in der Gasse wieder in einen Trab, den sie erst ziemlich weit draußen in den Vorstädten mäßigte und nur einmal noch ganz unterbrach.

Nämlich sie hatte noch in einen Keller zu gucken, in welchem es um sehr viel besser roch als in dem der Frau Wendeline Cruse.

Einundzwanzigstes Kapitel

Es war freilich mehr ein ganz gewöhnlicher Gemüse als vornehmer Blumenkeller; aber wohlfeile Geburtstagssträuße und Totenkränze von natürlichem Grün und künstlichen Papierblumen waren auch in demselben für Geld zu haben.

Geld hatte Rotkäppchen nicht, aber ihre guten Bekanntschaften überall.

»Mädchen, aus alter Freundschaft! Und ich zahle bei der nächsten Gelegenheit«, rief sie, hastig ihre Wahl treffend, der jungen Inhaberin des Ladens zu; und aus alter Freundschaft und früherer ganz genauer Kameradschaft gab die Gemüse- und Blumenhändlerin den Kranz her, und das Rotkäppchen ist wirklich und wahrhaftig noch zur rechten Zeit mit Degen und Kranz an Ort und Stelle gewesen. Sie hat sogar auf die andern zu warten gehabt.

Da lag das schwarze Gittertor jetzt im grauen, dichten Morgennebel und gegenüber am Wege die Schenke, in welcher der Hofrat Brokenkorb gestern abend sich so wenig an Ort und Stelle fühlte.

»Mutter Flebbe, aus alter Freundschaft und guter Bekanntschaft eine Tasse Kaffee; ich zahle bei der nächsten Gelegenheit«, sagte Rotkäppchen in der Kneipe, nachdem sie vergeblich an dem Schloß der Kirchhofstür gerüttelt hatte. Und die Mutter Flebbe, schon in Anbetracht des kuriosen gestrigen Abends und in hoher Spannung, was nun wohl der Tag Neues zu dieser Geschichte bringen werde, spendierte das Getränk auf den schlechtesten Kredit in ihrer ganzen Kundschaft hin.

Landleute, Gärtner, Vagabunden, Viehtreiber zogen vorbei auf der Landstraße und sprachen vor in der Wegewirtschaft. Auch Stammgäste sind schon vorhanden und tauschen ihre Bemerkungen aus und wünschen noch Genaueres zu wissen über den Degen des Leutnants Hegewisch und den Kranz für die Witwe Wermuth.

Fräulein ist allen gewachsen, und die Wirtin der Schenke tritt in Anbetracht der feinen Gesellschaft, in welcher sie gestern abend sich hier fand, auch für sie ein und schlägt nötigenfalls mit der Faust auf den Tisch: »Jetzt bitt ich's mir aus, daß ihr mich das Kind in Ruhe laßt. Jeder hat seine Schmerzen und tut sich in ihnen seine Ehre an! Weshalb soll sie's nicht?«

Na, da ist auch Lochner, der Kirchhofswächter, nimmt seinen Morgenschnaps und brummt: »I, Fräuleinchen! Sie zuerst auf den Beinen? Wann dürfen wir denn auf die andern verehrten Herrschaften rechnen?«

Er traut nämlich vorzüglich dem Herrn in dem schönen Pelz vom gestrigen Abend allerlei Gutes zu, selbstverständlich in Beziehung auf ihn – Lochner.

Das Rotkäppchen weiß nichts von dem Herrn mit dem Pelz und tritt nur von Zeit zu Zeit in die Tür, die Landstraße nach der Stadt zu hinunterblickend. Die städtischen Beamten auf diesem Felde, die Totengräber, finden sich nunmehr auch allgemach ein; die Uhr in der Gaststube schlägt acht, und Lochner meint: »Nun, Fräulein, wie ist dies denn aber? Ihre Herrschaften müßten sich jetzt doch wohl ein bißchen beeilen, sonst müssen wir wirklich ohne sie ans Tagewerk. Wenn ich auch gern jede mögliche Rücksicht auf die Gefühle von jedermann nehme, so leidet's doch jetzt wahrlich die Jahreszeit nicht. Das ist keine Saueregurkenzeit für uns – nehmen Sie nur bloß die Kinder, wie uns das jetzt über den Hals kommt, vom Morgen bis zum Abend. Jetzt könnten wir's mit der armen Madam da draußen noch in aller Ruhe ganz respektabel geben; aber wenn erst der Schwarm zudrängt, dann stehe ich, so leid es mir tut, für nichts, was die intimen Gefühle der alten lieben Dame und der Herren von gestern anbetrifft. Sie verstehen mich. Ihnen, Fräulein, brauche ich ja wohl nichts weiter zu sagen. Sie werden ganz gewiß sich alles Weitere selber zusammenaddieren.«

»Natürlich«, sagte Rotkäppchen. »Wenn es nicht anders ist, fangen Sie ruhig an, Herr Inspektor. Wer kann es immer im voraus wissen, was dem Menschen bei seinem allerschönsten, festesten Vornehmen in den Weg kommen kann? Verschlafen haben die die Zeit nicht! Daraufhin lasse ich mich von Ihnen gleich mit unterscharren, Sie alter, trübseliger Versenkungsmechanikus. Wenn Sie übrigens einmal ein ander Engagement brauchen sollten, bitte, so lassen Sie es mich wissen; ich habe meine Verbindungen bei mehreren Bühnen. Jetzt aber – seien Sie artig und anständig, und denken Sie sich, daß es mir heute bitterer Ernst und ausnahmsweise recht übel zumute ist.«

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Verschlafen hatten die die Zeit nicht. Sie kamen nur einfach, ohne ihr Verschulden, um ein paar Minuten zu spät – der Schmied von Jüterbog nämlich und der Enkel des Leutnants Hegewisch. Die Mutter Cruse hatte überhaupt nicht gekonnt, denn die kleine Paula fieberte nun doch ein wenig, und Frau Wendeline hatte ja auch, irgendein Hindernis vorausahnend, gestern abend bereits ihre Handvoll Erde auf den Leib Erdwinens gedeckt.

Es war der Droschkenkutscher vom vergangenen Tage, der die Hauptleidtragenden von der Stadt herführte. Uhusen hatte ihn sich, ehe er ihm Brokenkorb zur Heimfahrt überlieferte oder überließ, nach seinem Wirtshaus bestellt, und der Mann, der seinen Fahrgast schon ganz richtig nach seinem »nobeln Gemüte taxierte«, war auch pünktlich gewesen. Pünktlich wie der Tod, also viel pünktlicher als Armendoktor. Armenvorsteher, Armentischler und Armenleichenfuhrmann und so weiter in den letztvergangenen Tagen. Aber ändern konnte er an dem Dinge nichts; – zu spät kam der gute Peter noch einmal in Erdwines irdischen Angelegenheiten.

Sie, das heißt Wolf Wermuth und er, der Peter aus der Fremde, fanden, wie Lochner sich ausdrückte, das Gedränge schon in seiner Blüte.

»Eine halbe Stunde macht da einen Unterschied, mein lieber Herr«, sagte Lochner; »aber zu Ihrer Beruhigung kann ich Ihnen sagen, daß Fräulein alles recht dezent besorgt hat und daß wir unserseits Buch unser möglichstes getan haben, der traurigen Angelegenheit einen beruhigungsvollen Beschluß zu verleihen. Die Frau ist im Frieden, und das Fräulein hat seinen Kranz mit Rührung niedergelegt. Mit dem Säbel wußte sie freilich nicht so recht wohin.«

Peter hielt den Knaben am Handgelenk, während er ärgerlich-zornig-niedergeschlagen ob seiner Versäumnis dem Kirchhofswärter durch die engen Gänge zwischen den Gräbern folgte. Nun blieb er stehen und fragte, grimmiger aufsehend: »Mit welchem Säbel?«

Doch der Junge rief: »Mit meinem! Mit meines Großpapas Degen! Sie hat es mir versprochen, daß sie ihn mir wiederschaffen würde, und sie ist mit ihm hiergewesen und hat Wort gehalten!«

»Und dem Albin muß sie vor Tagesanbruch auf die Bude gerückt sein!« rief der Schmied von Jüterbog. »Das Mädchen ist toll oder klüger als wir alle; oder – sie ist beides zu gleicher Zeit, was das wahrscheinlichste ist. O Hofrat, Hofrat – Doktor, Doktor Brokenkorb, geh um Menschengefühle und Menschenkenntnis bei dem Kinde in die Schule. Geh du auch bei ihr in die Schule, Peter Uhusen!«

Sie standen nunmehr wieder auf dem Flecke der Armen und fanden von Frau Erdwine Wermuths Erdenleben kein ander Zeichen mehr als den Kranz mit den weißen Papierblumen auf der frisch aufgeschütteten Erde. Lochners »Kollegen« waren dicht dabei schon mit ihrem Nachbar im Frieden des Herrn beschäftigt, und ziemlich laut dabei. Der Schmied von Jüterbog konnte nur grimmig-kläglich dem betäubten Knaben über Stirn und Haar streichen und murmeln: »Da steht man nun mit seinen eigenen saubern Gefühlen eines durchgefallenen Komödianten.«

Wolf weinte, und der Weise, der Soldat, der Weltmann und der Weltwanderer hob ihn auf den Arm und seufzte: »Du armer, kleiner, wirklicher Held, wie bald wird auch für dich die Gewißheit gekommen sein, daß du nichts als eine Rolle abspielst!«

Lochner wußte nicht anzugeben, wohin die junge Person sich mit dem Degen des Leutnants Hegewisch gewendet habe.

»Sie wird sich aber schon wieder einfinden«, meinte er. »Die verliert sich so leicht nicht. Ich habe hier mein Geschäft gehabt und konnte natürlich nicht auf sie allein achten. Und sie hatte Furcht vor der Polizei und meinte, die Sonne käme ihr ein bißchen zu sehr durch die Wolken; vielleicht gäbe es gar noch einen ganz klaren Tag, und dies sei ihr ausnahmsweise ein bißchen ungemütlich. Dem jungen Herrn hier, wenn ich nicht irre, läßt sie aber bestellen, er solle sich nicht mehr zu arg grämen um seine Mama, sie habe es gut jetzt, was ja auch richtig ist. Und was das alte Eisen anbeträfe, so sei das in guten Händen. Nach der Stadt zurück ist sie nicht. Ihre Papiere scheint sie nicht so recht in Ordnung zu haben.«

Daraufhin bekam der Mann sein Trinkgeld, und Peter Uhusen und Wolfram Wermuth ließen ihn bei seinem Amt in seinem wunderlichen Reich der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und wendeten sich ihresteils nach der Stadt zurück, der Schmied von Jüterbog mit seinen Papieren ausnahmsweise in Ordnung, der Erbe des Leutnants Hegewisch ohne alle Papiere. Wir aber wir werfen einen zweifelnden Blick über unsere Papiere und seufzen sorgenvoll.

Dem Pindar und den übrigen alten Griechen läßt sich ja wohl beikommen, wenn man sie mit Ausdauer Tag und Nacht durchblättert; aber – aber was hat es uns hier geholfen, durch Tage und Nächte den künstlerischen Geheimnissen nachgeschlichen zu sein, uns ihnen nachgeschleppt zu haben?

Von Tage zu Nacht und von Nacht zu Tage wurden die Wendungen in dem großen Buche unbegreiflicher. Je mehr Siegel aufsprangen, desto fragmentarischer wurde das Ganze; und wir – wir haben durch all unser Studium dem ungeheuern Gedicht nicht den harmonischen Abschluß abgewonnen. Mit dem jüngstgeborenen Kind stimmen wir nur in den furchtbaren Angstruf der Menschheit nach derartiger ästhetischer Befriedigung ein. Was unsere Papiere anbetrifft, so haben wir ja Gott sei Dank nur

1. den Kindern der armen Erdwine zu einem behaglichen Unterkommen und einer anständigen Erziehung zu verhelfen;

2. die Lage der Frau Wendeline Cruse zu verbessern;

3. Rotkäppchen einfach zu bessern;

4. den Hofrat Brokenkorb mit einer der Töchter des Kommerzienrats im Stockwerk unter ihm zu verheiraten und –

5. den braven Peter Uhusen, genannt der schwarze Peter, alias der Peter aus der Fremde, alias Herr Schmied aus Jüterbog, ein heiteres, gemütliches Schlußwort sprechen zu lassen.

Nicht wahr? –

Es ist acht Tage nach den vier Tagen, in welchen die stille Hauptperson dieser Geschichte »über der Erde stand« und alles ruhig über sich und ihre Kinder ergehen ließ. Letzteres ein Zeichen, daß sie selber persönlich vollkommen in Sicherheit war, während um sie her so viele und mancherlei schauerliche und schöne Bewegung war. Nun sind wir wieder in dem Geschäftslokal von Frau Wendeline Cruse und finden unsere vornehme große Dame allein zu Hause; denn Peter Uhusen war mit den Kindern in der Affenkomödie, was in Anbetracht der Umstände hie und da vielleicht recht unpassend erscheinen kann, worin jedoch die Mutter Cruse nicht das mindeste Unschickliche fand.

»Ja, gehen Sie nur mit den Würmern, Uhusen«, hatte sie gesagt. »In ihrer Mutter Namen, soviel als möglich hinein mit ihnen in das Licht, die Sonne, das Lachen! Was können wir ihrer Mutter Besseres zuliebe tun, als die Kleinen so rasch als möglich und so oft als möglich wieder zum Lachen zu bringen?«

Es war gegen acht Uhr abends und die Witterung draußen nicht besser als ihr Ruf um diese Jahreszeit. Aber in dem Lumpen-, Knochen- und Alten-Eisen-Keller war es ganz außergewöhnlich gemütlich.

Es war Ordnung darin geschaffen und durch Ordnung Raum gewonnen worden. Ein Tisch mit einem Teppich hatte sich angefunden, eine gute Lampe erhellte das Gewölbe, und der Lehnstuhl der Frau Wendeline war aus dem Kämmerchen an den warmen Ofen im Vorderraum gerückt worden. Es roch sogar nach Kölnischem Wasser in dem Keller. Die gnädige Frau hatte den Boden damit besprengt, und im grauen bürgerlichen Matronenkleide saß sie mit ihrem Strickzeug im Schoß in ihrem Sessel und rieb, statt zu stricken, von Zeit zu Zeit die liebe kluge Stirn mit der Nadel.

Mit der Handarbeit hatte es selten bei ihr viel gebracht, aber an diesem Abend brachte es trotz des besten Vornehmens gar nichts! Mutter Cruse hatte in ihrer Einsamkeit viel zu große Gesellschaft bei sich, sie hatte viel zuviel zurück und vorwärts zu denken, um bei der Sache, nämlich dem Strumpf, bleiben zu können.

Wie sie sich für ihr Teil mit der Vergangenheit abgefunden hatte, haben wir erfahren. Das Beste daraus hatte sie in Sicherheit, und das weniger Angenehme verstand sie in den Winkel zu schieben und fest zuzudecken, im Notfall auch mit Lumpen, Knochen und altem Eisen.

Aber die Zukunft?

Ei, wer hatte sich je sowenig Sorgen um die gemacht wie die Mutter Cruse. Da hatte doch das wundervolle Licht in ihr zu jeder Zeit genug Helle vor ihre Füße geworfen, daß sie ihren Weg von frühester Kindheit bis in das Greisenalter fand, ohne sich vor dem »dummen Spuk im Dunkeln« wie andere zu fürchten.

Und hatte sie nicht recht gehabt in ihrer gottgegebenen Tapferkeit und Unbefangenheit, Schlauheit und Weisheit? War es nicht wieder glorreich, wie auch diesmal die Komödie zu einem befriedigenden Abschluß kam? Erfinden konnte das kein Poet, kein Dramenschreiber; aber erleben konnte man es, wenn man wie Wendeline Cruse hier nur ruhig und gelassen jeden Tag nahm, wie er sich an den vorhergegangenen anschloß.

Sollten die Augen der alten Dame nicht seltsam leuchten, wenn sie in diesem Dämmerstündchen der Mitspielenden der letzten Tage gedachte? An alle zusammen, wie sie diese göttliche Komödie als Ganzes zur Darstellung brachten – an jeden einzelnen, wie er sich zu seiner Rolle schickte?

Der Schmied von Jüterbog! Wie konnte man, wenn man Wendeline Cruse hieß und einst seine Direktorin gewesen war, an diesen Menschen denken, ohne zu weinen und zu lachen, und zwar das erstere noch fröhlicher als das andere? Tausend tolle und wilde Erinnerungen von beiden geographischen Hälften der Erdkugel steckten hier doch die Koboldköpfe aus der Vergangenheit und verlangten grinsend, mit in die Zukunft hinübergenommen zu werden. Dieser Bursche! Wie aus der Versenkung herauf! Und dabei sollte man Strümpfe stricken? Diesen Strumpf aus rosa Wolle, diesen Kinderstrumpf?

Jawohl, jawohl! Zehntausendmal jawohl!

Die Fürstin von Messina mochte die Mutter Cruse mit einem Loch in der Ferse am eigenen Strumpf gespielt haben, ohne »daran zu denken«; aber das närrische, liebe Geschöpfchen, dem sie die letzten Nächte durch einen warmen Platz in ihrem Bett eingeräumt hatte, konnte man nicht mit einem Loch im Hacken durch die Welt laufen lassen. Nein, lieber noch barfuß!

Die Nadeln klirrten jetzt heftig, wie die Frau Direktorin der Kinder gedachte, die ihr so unvermutet aus den Soffitten am Faden in ihren Keller hinuntergelassen worden waren. Mit den urgroßmütterlichsten Ahnfraugefühlen saß und sah und – strickte die Greisin, die ins alte Eisen herabgesunkene Komödienmutter, in eine ganz und gar von Sonnenschein erfüllte Welt hinein und schüttelte nur von Zeit zu Zeit den Kopf und murmelte: »Armer Schmetterling! Arme Erdwine!«

Aber welche ahnungs- und erinnerungsvollste Großmama kann immer stricken? Es standen noch andere Leute aus dem Zugstück der letzten Tage – nicht etwa auf einem andern Blatt, sondern auf demselben Zettel. Der Hofrat Dr. Brokenkorb und das arme Rotkäppchen zum Beispiel.

Mit dem Gedenken an den einen ließ die Frau Wendeline ihre Arbeit wieder im Schoße ruhen und sprach nach einer Weile mit dem gediegensten Nachdruck: »Dieser Esel, dieser – Uhusen!«

Mit dem Gedenken an die andere stand sie auf aus ihrem Sessel, schritt dreimal durch das Gewölbe, setzte sich wieder, warf Strumpf, Nadeln und rosarotes Wollknäuel auf den Tisch.

»Das Mädchen, das Mädchen! Habe ich diese ganzen Tage und Nächte durch an etwas anderes denken können als an dies verrückte Mädchen?«

Dem war wohl nicht ganz so. Die Mutter Cruse hatte sich während der letzten Tage und Nächte nicht bloß mit dem Rotkäppchen beschäftigt; aber berechtigt waren der Ausruf und die Frage doch. Es war viel Kopfzerbrechens ob des Verschwindens und wegen des Verbleibens der jungen Dame in dem Keller der Mutter Cruse zwischen den Lumpen, Knochen, Glasscherben und beim alten Eisen gewesen. Nur der kleine Wolf hatte ruhig gesagt: »Sie hat nie gleich Zeit zu allem; und was sie versprochen hat, das hält sie. Stehlen tut sie nicht; sie hat nur nicht gleich kommen können. Sie hat Mama oft unser Mittagsbrot versprochen und ist erst am Abend oder am andern Tage damit gekommen.« –

»Das gute Mädchen!« seufzte die Mutter Cruse, auf das dumpfe Getön und Getöse der Stadt, das von der Gasse herab in ihre Tiefe drang, unwillkürlich hinhorchend, als erwarte sie eine Antwort auf ihren Seufzer von dorther: ein helles, tolles, leichtsinniges Lachen oder ein verhaltenes Weinen oder einen kreischenden Schrei um Hülfe.

Von dergleichen ließ sich nun nichts vernehmen; aber die Kellertür wurde in diesem Augenblicke geöffnet, und jemand zögerte einen Moment in der offenen Tür und ließ einen so heftigen Zugwind ein, daß die Lampe der Frau Wendeline flackerte und beinahe ausgeblasen worden wäre. Dann glitt es leichtfüßig, unhörbar, zierlichst die Treppe herunter, und wieder fiel der Lichtschein der wieder beruhigten Flamme auf einen kleinen Stiefel und einen weißen Strumpf. Mit einem Sprung stand nun der abendliche Gast vor dem Lehnstuhl der alten Dame, sank mit einem Knickse wie bei einer Vorstellung bei Hofe zurück, schüttelte aus den Locken und der mit weißem Pelzwerk besetzten Theaterkapuze ein Gesprüh von Regentropfen umher und rief mit frischer, zaghaft-vergnüglicher Stimme: »Gnädige Frau – oh, Mutter Cruse! Guten Abend denn endlich, Madamchen!«

»Na freilich – endlich! Wenn du's wirklich bist!« rief die gnädige Frau, von neuem Strumpf, Stricknadeln und Wollgarn vom Schoß streifend und in ihrer ganzen Höhe sich aus ihrem Sessel erhebend.

»Nur auf einen Augenblick –«

»Wo hast du gesteckt? Weshalb hast du uns so auf dich warten lassen? Rede mir nicht bloß von einem Augenblick! Hast du etwa zu viele Leute in der Welt, die so nach dir suchen, wie ich und der lange Peter und der kleine Wolf die letzte Woche nach dir ausgesehen haben?«

»O großer Gott, nein, nein! Aber wo soll ich die Zeit denn für alle zu gleicher Zeit hernehmen, liebste gnädige Frau. Ich hab mir selber doch erst wieder heraus- und aufhelfen müssen, ehe ich das Liebste und Allernotwendigste besorgen konnte. Sie waren mir ja grade diesmal zu scharf auf den Hacken. Pudelnaß bin ich mit dem Strick um den Hals wieder ans Land und zu Gnaden gekommen; aber einerlei – davon müßte ich viel mehr reden, als die ganze Geschichte wert ist. Also vor allen Dingen das Wichtigste – da!«

Sie stand nun im vollen Lichtschein, durchaus nicht abgejagt, zerzaust, verhungert, fieberfröstelnd, wie sie vor acht Tagen auf den Ruf »Rotkäppchen! Rotkäppchen!« in der Schulzenstraße erschienen war. Unter ihrem Mantel hervor reichte sie der Frau Wendeline den Degen des Leutnants Hegewisch hin und schluchzte: »Nur ein bißchen verrostet; Wolf braucht ihn aber nur ein bißchen zu putzen, und er ist so blank wie vorher. Ich konnte doch die dumme Mordwaffe nicht in alle Ewigkeit mit mir herumschleppen, und so hat sie ein paar Tage draußen in der Heide in 'nem Busch gesteckt. Mir war zu schlimm zumute allein am Sarge der Frau Wermuth, als daß ich gleich wieder unter die Leute gehen konnte. Die blaue Schleife hier am Griff soll ein Andenken an mich sein; aber sie ist natürlich leicht abzuknüpfen, wenn Sie es für besser und schicklicher halten sollten, Mutter Cruse.«

»Jetzt nimm vor allen Dingen erst deinen Mantel ab und setze dich, törichte Kreatur, daß man ein vernünftiges Wort mit dir reden kann!« rief die Frau Wendeline.

»Rein unmöglich, gnädige Frau. Meine Droschke hält draußen an der nächsten Ecke, und – ich habe – versprochen, um neun Uhr – zu Hause zu sein.«

»Zu Hause!« murmelte die Mutter Cruse. Sie schritt wie ratlos, kopfschüttelnd in ihrem aufgeputzten Geschäftslokal hin und her, von Zeit zu Zeit einen der Säcke voll Erdenkehricht mit der Hand berührend oder mit dem Fuße ein Stück alten Eisens mehr aus dem Wege schiebend. Plötzlich blieb sie vor ihrem Gast stehen, zog ihm den Mantel von den Schultern, setzte sich wieder, zog wahrhaftig wie eine Mutter, eine Mutter in Schmerz und Angst, das arme Mädchen auf den Schoß und hielt es, wie man einen gefangenen, scheuen Vogel hält, und rief:

»Kind, laß uns verständig zusammen reden! Laß dir wenigstens erzählen, was wir in den letzten Tagen über unsere nächste Zukunft vorläufig beredet haben. Weshalb bist du nicht früher gekommen, um dein Wort dazu zu geben? Du hattest wohl das Recht dazu dir erworben. – Nun haben wir uns notdürftig in die Verantwortlichkeit, die uns das Schicksal auf den Hals geladen hat, gefunden. Die Mutter Cruse schließt einmal wieder ihr Geschäft, zieht ihr Schild ein und begleitet den Schmied von Jüterbog und die Kinder der Witwe Wermuth nach Untermeidling bei Wien. Kind, Kind, man braucht nie die Rolle, die man eben spielt, für die allerletzte zu halten. Wie hätte ich vor acht Tagen noch mir einbilden können, daß ich heute schon die Großmama mit allen Rechten und Pflichten zu agieren haben würde? Was sein würde, wenn des langen Peters liebes armes Donauweiblein nicht unter dem grünen Rasen läge, kann ich nicht sagen. Das gäbe der Geschichte wieder eine andere Nase. Der Mensch hält sich in seiner Lebensnot doch immer an das Nächste. Nun haben die Kinder der armen Erdwine nach meines Peter Uhusens Rockschößen gegriffen; und dem Schmied aus Jüterbog, der sich in seinem Leben nicht vor Tod und Teufel gefürchtet hat, bleibt nichts übrig bei seinem weichen Gemüt, als sich an meinen Rock festzuklammern. Eine sonderliche Wirtschaft wird das werden aber – eine feine, saubere soll es werden – bei den unsterblichen Göttern und dem alten Eisen in der Welt! – Und weißt du, Mädchen, daß der verrückte Gesell, dieser Uhusen und Schmied aus Jüterbog, einen Augenblick der Meinung war, dich mit in das neue Leben zu nehmen?«

»Das haben Sie ihm doch wohl ausgeredet, gnädige Frau?« sagte Rotkäppchen leise und mit der Hand über die Stirn und Augen fahrend. »Ich bin schon in Wien gewesen – was sollte ich da bei Ihnen und den Kindern und dem liebsten alten Eisen, dem Herrn Schmied aus Jüterbog, oder welchen Namen Sie ihm sonst verleihen, zunutze sein? Oh, lassen Sie mich los, Mama Cruse lassen Sie mich laufen – diese Kellerluft erstickt mich! Ich schwimme ja wieder oben, und dem Herrn Hofrat Brokenkorb habe ich dermaßen die Leviten gelesen, daß er fürs erste bei allen seinen Bekanntschaften sich meiner annehmen wird. Oh, wir sind ja auf einen recht guten Fuß gekommen. Ich habe die Geschichte der letzten Tage noch einmal ganz genau mit ihm durchgesprochen. Auf seine Tränen gebe ich sowenig wie auf seine öffentlichen Reden; aber seine Bekanntschaft hat mir wieder an die Oberfläche geholfen. Lassen Sie mich los! Was soll ich unter euch großen Damen und vornehmen Männern und lieben Kindern? Grüßen Sie die Kinder, aber nur von – einer – unbekannten Freundin ihrer Mama! Grüßen Sie Herrn Schmied aus Jüterbog vom Rotkäppchen, und – Sie – Sie – o Mutter, Mutter – liebe Mama, legen Sie bei dem lieben Gott ein gut Wort für mich ein, daß er mich jung wegnimmt von seiner Erde – ich passe, ich passe nicht in sein – altes Eisen!«

Sie hatte sich losgewunden, sie war entschlüpft, und einige Augenblicke später hielt der Wagen, der Peter Uhusen mit den Kindern Erdwine Wermuths aus der Affenkomödie zurückführte, vor der Tür.

»Der Degen des Leutnants Hegewisch ist eben zurückgebracht worden, Uhusen,« sagte Frau Wendeline Cruse, ihre Augen trocknend. »Wir haben über Knochen, Lumpen und altes Eisen in der Welt noch manches zu reden, wenn die Kinder schlafen werden.«