So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie um sich zu überzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da. Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison d'Accouchement. Gut. Man wird sie entbinden – man kann das. Weiter, rue Saint-Jacques, ein großes Gebäude mit einer Kuppel. Der Plan gab an Val-de-grâce, Hôpital militaire. Das brauchte ich eigentlich nicht zu wissen, aber es schadet nicht. Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. Es roch, soviel sich unterscheiden ließ, nach Jodoform, nach dem Fett von pommes frites, nach Angst. Alle Städte riechen im Sommer. Dann habe ich ein eigentümlich starblindes Haus gesehen, es war im Plan nicht zu finden, aber über der Tür stand noch ziemlich leserlich: Asyle de nuit. Neben dem Eingang waren die Preise. Ich habe sie gelesen. Es war nicht teuer.
Und sonst? ein Kind in einem stehenden Kinderwagen: es war dick, grünlich und hatte einen deutlichen Ausschlag auf der Stirn. Er heilte offenbar ab und tat nicht weh. Das Kind schlief, der Mund war offen, atmete Jodoform, pommes frites, Angst. Das war nun mal so. Die Hauptsache war, daß man lebte. Das war die Hauptsache.
Das sind die Geräusche. Aber es giebt hier etwas, was furchtbarer ist: die Stille. Ich glaube, bei großen Bränden tritt manchmal so ein Augenblick äußerster Spannung ein, die Wasserstrahlen fallen ab, die Feuerwehrleute klettern nicht mehr, niemand rührt sich. Lautlos schiebt sich ein schwarzes Gesimse vor oben, und eine hohe Mauer, hinter welcher das Feuer auffährt, neigt sich, lautlos. Alles steht und wartet mit hochgeschobenen Schultern, die Gesichter über die Augen zusammengezogen, auf den schrecklichen Schlag. So ist hier die Stille.
Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und
bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein
Ich habe heute einen Brief geschrieben, dabei ist es mir aufgefallen, daß ich erst drei Wochen hier bin. Drei Wochen anderswo, auf dem Lande zum Beispiel, das konnte sein wie ein Tag, hier sind es Jahre. Ich will auch keinen Brief mehr schreiben. Wozu soll ich jemandem sagen, daß ich mich verändere? Wenn ich mich verändere, bleibe ich ja doch nicht der, der ich war, und bin ich etwas anderes als bisher, so ist klar, daß ich keine Bekannten habe. Und an fremde Leute, an Leute, die mich nicht kennen, kann ich unmöglich schreiben.
Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.
Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen ist, wieviel Gesichter es giebt. Es giebt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, daß ihre Hunde damit ausgehen. Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht.
Aber die Frau, die Frau: sie war ganz in sich hineingefallen, vornüber in ihre Hände. Es war an der Ecke rue Notre-Dame-des-Champs. Ich fing an, leise zu gehen, sowie ich sie gesehen hatte. Wenn arme Leute nachdenken, soll man sie nicht stören. Vielleicht fällt es ihnen doch ein.
Die Straße war zu leer, ihre Leere langweilte sich und zog mir den Schritt unter den Füßen weg und klappte mit ihm herum, drüben und da, wie mit einem Holzschuh. Die Frau erschrak und hob sich aus sich ab, zu schnell, zu heftig, so daß das Gesicht in den zwei Händen blieb. Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form. Es kostete mich unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen Händen zu bleiben und nicht zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute, ein Gesicht von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch noch viel mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht.
Ich fürchte mich. Gegen die Furcht muß man etwas tun, wenn man sie einmal hat. Es
wäre sehr häßlich, hier krank zu werden, und fiele es jemandem ein, mich
Dieses ausgezeichnete Hôtel ist sehr alt, schon zu König Chlodwigs Zeiten starb man
darin in einigen Betten. Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natürlich fabrikmäßig.
Bei so enormer Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf
kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. Wer giebt heute noch
In den Sanatorien, wo ja so gern und mit so viel Dankbarkeit gegen Ärzte und Schwestern gestorben wird, stirbt man einen von den an der Anstalt angestellten Toden; das wird gerne gesehen. Wenn man aber zu Hause stirbt, ist es natürlich, jenen höflichen Tod der guten Kreise zu wählen, mit dem gleichsam das Begräbnis erster Klasse schon anfängt und die ganze Folge seiner wunderschönen Gebräuche. Da stehen dann die Armen vor so einem Haus und sehen sich satt. Ihr Tod ist natürlich banal, ohne alle Umstände. Sie sind froh, wenn sie einen finden, der ungefähr paßt. Zu weit darf er sein: man wächst immer noch ein bißchen. Nur wenn er nicht zugeht über der Brust oder würgt, dann hat es seine Not.
Meinem Großvater noch, dem alten Kammerherrn Brigge, sah man es an, daß er einen Tod in sich trug. Und was war das für einer: zwei Monate lang und so laut, daß man ihn hörte bis aufs Vorwerk hinaus.
Das lange, alte Herrenhaus war zu klein für diesen Tod, es schien, als müßte man
Flügel anbauen, denn der Körper des Kammerherrn wurde immer größer, und er wollte
fortwährend aus einem Raum in den anderen getragen sein und geriet in fürchterlichen
Zorn, wenn der Tag noch nicht zu Ende war und es gab kein Zimmer mehr, in dem er
nicht schon gelegen hatte. Dann ging es mit dem ganzen Zuge von Dienern, Jungfern und
Hunden, die er immer um sich hatte, die Treppe hinauf und, unter Vorantritt des
Haushofmeisters, in seiner hochseligen Mutter Sterbezimmer, das ganz in dem Zustande,
in dem sie es vor dreiundzwanzig Jahren verlassen hatte, erhalten worden war und das
sonst nie jemand betreten durfte. Jetzt brach die ganze Meute dort ein. Die Vorhänge
wurden zurückgezogen, und das robuste Licht eines Sommernachmittags untersuchte alle
die scheuen, erschrockenen Gegenstände und
Vor allem aber schien den Hunden der Aufenthalt in einem Raum, wo alle Dinge rochen, ungemein anregend. Die großen, schmalen russischen Windhunde liefen beschäftigt hinter den Lehnstühlen hin und her, durchquerten in langem Tanzschritt mit wiegender Bewegung das Gemach, hoben sich wie Wappenhunde auf und schauten, die schmalen Pfoten auf das weißgoldene Fensterbrett gestützt, mit spitzem, gespanntem Gesicht und zurückgezogener Stirn nach rechts und nach links in den Hof. Kleine, handschuhgelbe Dachshunde saßen, mit Gesichtern, als wäre alles ganz in der Ordnung, in dem breiten, seidenen Polstersessel am Fenster, und ein stichelhaariger, mürrisch aussehender Hühnerhund rieb seinen Rücken an der Kante eines goldbeinigen Tisches, auf dessen gemalter Platte die Sèvrestassen zitterten.
Ja, es war für diese geistesabwesenden, verschlafenen Dinge eine schreckliche Zeit.
Es passierte, daß aus Büchern, die irgend eine hastige Hand ungeschickt geöffnet
hatte, Rosenblätter heraustaumelten, die zertreten wurden; kleine, schwächliche
Gegenstände wurden ergriffen und, nachdem sie sofort zerbrochen waren,
Und wäre es jemandem eingefallen zu fragen, was die Ursache von alledem sei, was über dieses ängstlich gehütete Zimmer alles Untergangs Fülle herabgerufen habe, – so hätte es nur eine Antwort gegeben: der Tod.
Der Tod des Kammerherrn Christoph Detlev Brigge auf Ulsgaard. Denn dieser lag, groß über seine dunkelblaue Uniform hinausquellend, mitten auf dem Fußboden und rührte sich nicht. In seinem großen, fremden, niemandem mehr bekannten Gesicht waren die Augen zugefallen: er sah nicht, was geschah. Man hatte zuerst versucht, ihn auf das Bett zu legen, aber er hatte sich dagegen gewehrt, denn er haßte Betten seit jenen ersten Nächten, in denen seine Krankheit gewachsen war. Auch hatte sich das Bett da oben als zu klein erwiesen, und da war nichts anderes übrig geblieben, als ihn so auf den Teppich zu legen; denn hinunter hatte er nicht gewollt.
Da lag er nun, und man konnte denken, daß er gestorben sei. Die Hunde hatten sich, da
es langsam zu dämmern begann, einer nach dem anderen durch die Türspalte gezogen, nur
der Harthaarige mit dem mürrischen Gesicht saß bei seinem Herrn, und eine von seinen
breiten, zottigen Vorderpfoten lag auf Christoph Detlevs großer, grauer Hand. Auch
von der Dienerschaft standen jetzt
Aber es war noch etwas. Es war eine Stimme, die Stimme, die noch vor sieben Wochen niemand gekannt hatte: denn es war nicht die Stimme des Kammerherrn. Nicht Christoph Detlev war es, welchem diese Stimme gehörte, es war Christoph Detlevs Tod.
Christoph Detlevs Tod lebte nun schon seit vielen, vielen Tagen auf Ulsgaard und redete mit allen und verlangte. Verlangte, getragen zu werden, verlangte das blaue Zimmer, verlangte den kleinen Salon, verlangte den Saal. Verlangte die Hunde, verlangte, daß man lache, spreche, spiele und still sei und alles zugleich. Verlangte Freunde zu sehen, Frauen und Verstorbene, und verlangte selber zu sterben: verlangte. Verlangte und schrie.
Denn, wenn die Nacht gekommen war und die von den übermüden Dienstleuten, welche
nicht Wache hatten, einzuschlafen versuchten, dann schrie Christoph Detlevs Tod,
schrie und stöhnte, brüllte so lange und anhaltend, daß die Hunde, die zuerst
mitheulten, verstummten und nicht wagten sich hinzulegen und, auf ihren langen,
schlanken, zitternden Beinen stehend, sich fürchteten. Und wenn sie es durch die
weite, silberne, dänische Sommernacht im Dorfe hörten, daß er brüllte, so standen sie
auf wie beim Gewitter, kleideten sich an und blieben ohne ein Wort um die Lampe
Das war nicht der Tod irgendeines Wassersüchtigen, das war der böse, fürstliche Tod, den der Kammerherr sein ganzes Leben lang in sich getragen und aus sich genährt hatte. Alles Übermaß an Stolz, Willen und Herrenkraft, das er selbst in seinen ruhigen Tagen nicht hatte verbrauchen können, war in seinen Tod eingegangen, in den Tod, der nun auf Ulsgaard saß und vergeudete.
Wie hätte der Kammerherr Brigge den angesehen, der von ihm verlangt hätte, er solle einen anderen Tod sterben als diesen. Er starb seinen schweren Tod.
Und wenn ich an die andern denke, die ich gesehen oder von denen ich gehört habe: es
ist immer dasselbe. Sie alle haben einen eigenen Tod gehabt. Diese Männer, die ihn in
der Rüstung trugen, innen, wie einen Gefangenen, diese Frauen, die sehr alt und klein
wurden und dann auf einem ungeheueren Bett, wie auf einer Schaubühne, vor der ganzen
Familie, dem Gesinde und den Hunden diskret und herrschaftlich hinübergingen.
Und was gab das den Frauen für eine wehmütige Schönheit, wenn sie schwanger waren und standen, und in ihrem großen Leib, auf welchem die schmalen Hände unwillkürlich liegen blieben, waren zwei Früchte: ein Kind und ein Tod. Kam das dichte, beinah nahrhafte Lächeln in ihrem ganz ausgeräumten Gesicht nicht davon her, daß sie manchmal meinten, es wüchsen beide?
Ich habe etwas getan gegen die Furcht. Ich habe die ganze Nacht gesessen und geschrieben, und jetzt bin ich so gut müde wie nach einem weiten Weg über die Felder von Ulsgaard. Es ist doch schwer zu denken, daß alles das nicht mehr ist, daß fremde Leute wohnen in dem alten langen Herrenhaus. Es kann sein, daß in dem weißen Zimmer oben im Giebel jetzt die Mägde schlafen, ihren schweren, feuchten Schlaf schlafen von Abend bis Morgen.
Und man hat niemand und nichts und fährt in der Welt herum mit einem Koffer und mit einer Bücherkiste und eigentlich ohne Neugierde. Was für ein Leben ist das eigentlich: ohne Haus, ohne ererbte Dinge, ohne Hunde. Hätte man doch wenigstens seine Erinnerungen. Aber wer hat die? Wäre die Kindheit da, sie ist wie vergraben. Vielleicht muß man alt sein, um an das alles heranreichen zu können. Ich denke es mir gut, alt zu sein.
Was so ein kleiner Mond alles vermag. Da sind Tage, wo alles um einen licht ist,
leicht, kaum angegeben in der hellen Luft und doch deutlich. Das Nächste schon hat
Töne der Ferne, ist weggenommen und nur gezeigt, nicht hergereicht; und was Beziehung
zur Weite hat: der Fluß, die Brücken, die langen Straßen und die Plätze, die sich
verschwenden, das hat diese Weite eingenommen hinter sich, ist auf ihr gemalt wie auf
Seide. Es ist nicht zu sagen, was dann ein lichtgrüner Wagen sein kann auf dem
Pont-neuf oder irgendein Rot, das nicht zu halten ist, oder auch nur ein Plakat an
der Feuermauer einer perlgrauen Häusergruppe. Alles ist vereinfacht,
Unten ist folgende Zusammenstellung: ein kleiner Handwagen, von einer Frau geschoben; vorn darauf ein Leierkasten, der Länge nach. Dahinter quer ein Kinderkorb, in dem ein ganz Kleines auf festen Beinen steht, vergnügt in seiner Haube, und sich nicht mag setzen lassen. Von Zeit zu Zeit dreht die Frau am Orgelkasten. Das ganz Kleine stellt sich dann sofort stampfend in seinem Korbe wieder auf, und ein kleines Mädchen in einem grünen Sonntagskleid tanzt und schlägt Tamburin zu den Fenstern hinauf.
Ich glaube, ich müßte anfangen, etwas zu arbeiten, jetzt, da ich sehen lerne. Ich bin
achtundzwanzig, und es ist so gut wie nichts geschehen. Wiederholen wir: ich habe
eine Studie über Carpaccio geschrieben, die schlecht ist, ein Drama, das »Ehe« heißt
und etwas Falsches mit zweideutigen Mitteln beweisen will, und Verse. Ach, aber mit
Versen ist so wenig getan, wenn man sie früh schreibt. Man sollte warten damit und
Sinn und Süßigkeit sammeln ein ganzes Leben lang und ein langes womöglich, und dann,
ganz zum Schluß, vielleicht könnte man dann zehn Zeilen schreiben, die
Alle meine Verse aber sind anders entstanden, also sind es keine. – Und als ich mein
Drama schrieb, wie irrte ich da. War ich ein Nachahmer und Narr, daß ich eines
Dritten bedurfte, um von dem Schicksal zweier Menschen zu erzählen, die es einander
schwer machten? Wie leicht ich in die Falle fiel. Und ich hätte doch wissen müssen,
daß dieser Dritte, der durch alle Leben und Literaturen geht, dieses Gespenst eines
Dritten, der nie gewesen ist, keine Bedeutung hat, daß man ihn leugnen muß. Er gehört
zu den Vorwänden der Natur, welche immer bemüht ist, von ihren tiefsten Geheimnissen
die Aufmerksamkeit der Menschen abzulenken. Er ist der Wandschirm, hinter dem ein
Drama sich abspielt. Er ist der Lärm am Eingang zu der stimmlosen Stille eines
wirklichen Konfliktes. Man möchte meinen, es wäre allen bisher zu schwer gewesen, von
den Zweien zu reden, um die es sich handelt; der Dritte, gerade weil er so unwirklich
ist, ist das Leichte der Aufgabe, ihn konnten sie alle. Gleich am Anfang ihrer Dramen
merkt man die Ungeduld, zu dem Dritten zu kommen, sie können ihn kaum erwarten. Sowie
er da ist, ist alles gut. Aber wie langweilig, wenn er sich verspätet, es kann rein
nichts geschehen ohne ihn, alles steht, stockt, wartet. Ja und wie, wenn es bei
diesem Stauen und Anstehn bliebe? Wie, Herr Dramatiker, und du, Publikum,
Und dabei leben sie unter den Menschen, nicht diese »Dritten«, aber die Zwei, von denen so unglaublich viel zu sagen wäre, von denen noch nie etwas gesagt worden ist, obwohl sie leiden und handeln und sich nicht zu helfen wissen.
Es ist lächerlich. Ich sitze hier in meiner kleinen Stube, ich, Brigge, der achtundzwanzig Jahre alt geworden ist und von dem niemand weiß. Ich sitze hier und bin nichts. Und dennoch, dieses Nichts fängt an zu denken und denkt, fünf Treppen hoch, an einem grauen Pariser Nachmittag diesen Gedanken:
Ist es möglich, denkt es, daß man noch nichts wirkliches und Wichtiges gesehen, erkannt und gesagt hat? Ist es möglich, daß man Jahrtausende Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen, und daß man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine Schulpause, in der man sein Butterbrot ißt und einen Apfel?
Ist es möglich, daß man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist? Ist es möglich, daß man sogar diese Oberfläche, die doch immerhin etwas gewesen wäre, mit einem unglaublich langweiligen Stoff überzogen hat, so daß sie aussieht wie die Salonmöbel in den Sommerferien?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß die ganze Weltgeschichte mißverstanden worden ist? Ist es möglich, daß die Vergangenheit falsch ist, weil man immer von ihren Massen gesprochen hat, gerade, als ob man von einem Zusammenlauf vieler Menschen erzählte, statt von dem Einen zu sagen, um den sie herumstanden, weil er fremd war und starb?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß man glaubte, nachholen zu müssen, was sich ereignet hat, ehe man geboren war? Ist es möglich, daß man jeden einzelnen erinnern müßte, er sei ja aus allen Früheren entstanden, wüßte es also und sollte sich nichts einreden lassen von den anderen, die anderes wüßten? Ja, es ist möglich. Ist es möglich, daß alle diese Menschen eine Vergangenheit, die nie gewesen ist, ganz genau kennen? Ist es möglich, daß alle Wirklichkeiten nichts sind für sie; daß ihr Leben abläuft, mit nichts verknüpft, wie eine Uhr in einem leeren Zimmer –?
Ja, es ist möglich.
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß es Leute giebt, welche »Gott« sagen und meinen, das wäre etwas Gemeinsames? – Und sieh nur zwei Schulkinder: es kauft sich der eine ein Messer, und sein Nachbar kauft sich ein ganz gleiches am selben Tag. Und sie zeigen einander nach einer Woche die beiden Messer, und es ergiebt sich, daß sie sich nur noch ganz entfernt ähnlich sehen, – so verschieden haben sie sich in verschiedenen Händen entwickelt. (Ja, sagt des einen Mutter dazu: wenn ihr auch gleich immer alles abnutzen müßt. –) Ach so: Ist es möglich, zu glauben, man könne einen Gott haben, ohne ihn zu gebrauchen?
Ja, es ist möglich.
Wenn aber dieses alles möglich ist, auch nur einen Schein von Möglichkeit hat, – dann muß ja, um alles in der Welt, etwas geschehen. Der Nächstbeste, der, welcher diesen beunruhigenden Gedanken gehabt hat, muß anfangen, etwas von dem Versäumten zu tun; wenn es auch nur irgend einer ist, durchaus nicht der Geeignetste: es ist eben kein anderer da. Dieser junge, belanglose Ausländer, Brigge, wird sich fünf Treppen hoch hinsetzen müssen und schreiben, Tag und Nacht. ja er wird schreiben müssen, das wird das Ende sein:
Ganz erhalten ist in meinem Herzen, so scheint es mir, nur jener Saal, in dem wir uns
zum Mittagessen zu versammeln pflegten, jeden Abend um sieben Uhr. Ich habe diesen
Raum niemals bei Tage gesehen, ich erinnere mich nicht einmal, ob er Fenster hatte
und wohin
Mein Großvater nannte es die Familie, und ich hörte auch die andern diese Bezeichnung
gebrauchen, die
Neben dieser Dame saß der kleine Sohn einer Cousine, ein Knabe, etwa gleichaltrig mit mir, aber kleiner und schwächlicher. Aus einer gefältelten Krause stieg sein dünner, blasser Hals und verschwand unter einem langen Kinn. Seine Lippen waren schmal und fest geschlossen, seine Nasenflügel zitterten leise, und von seinen schönen dunkelbraunen Augen war nur das eine beweglich. Es blickte manchmal ruhig und traurig zu mir herüber, während das andere immer in dieselbe Ecke gerichtet blieb, als wäre es verkauft und käme nicht mehr in Betracht.
Am oberen Ende der Tafel stand der ungeheure Lehnsessel meines Großvaters, den ein
Diener, der nichts anderes zu tun hatte, ihm unterschob und in dem der Greis nur
einen geringen Raum einnahm. Es gab Leute,
Ich befand mich fast den ganzen Tag im Parke und draußen in den Buchenwäldern oder
auf der Heide; und es gab zum Glück Hunde auf Urnekloster, die mich begleiteten; es
gab da und dort ein Pächterhaus oder einen Meierhof, wo ich Milch und Brot und
Früchte bekommen konnte, und ich glaube, daß ich meine Freiheit
In den ersten Tagen nach unserer Ankunft allerdings benahm sich Mathilde Brahe äußerst gesprächig. Sie fragte den Vater nach früheren Bekannten in ausländischen Städten, sie erinnerte sich entlegener Eindrücke, sie rührte sich selbst bis zu Tränen, indem sie verstorbener Freundinnen und eines gewissen jungen Mannes gedachte, von dem sie andeutete, daß er sie geliebt habe, ohne daß sie seine inständige und hoffnungslose Neigung hätte erwidern mögen. Mein Vater hörte höflich zu, neigte dann und wann zustimmend sein Haupt und antwortete nur das Nötigste. Der Graf, oben am Tisch, lächelte beständig mit herabgezogenen Lippen, sein Gesicht erschien größer als sonst, es war, als trüge er eine Maske. Er ergriff übrigens selbst manchmal das Wort, wobei seine Stimme sich auf niemanden bezog, aber, obwohl sie sehr leise war, doch im ganzen Saal gehört werden konnte; sie hatte etwas von dem gleichmäßigen unbeteiligten Gang einer Uhr; die Stille um sie schien eine eigene leere Resonanz zu haben, für jede Silbe die gleiche.
Aber es begann damit, daß ich lachte. Ja ich lachte laut und ich konnte mich nicht
beruhigen. Eines Abends fehlte nämlich Mathilde Brahe. Der alte, fast ganz erblindete
Mein Vater, gleichsam um mein Benehmen zu verdecken, fragte mit seiner breiten
gedämpften Stimme: »Ist Mathilde krank?« Der Großvater lächelte in seiner Art und
antwortete dann mit einem Satze, auf den ich, mit mir selber beschäftigt, nicht
achtgab und der etwa lautete: Nein, sie wünscht nur, Christinen nicht zu begegnen.
Ich sah es also auch nicht als die Wirkung dieser Worte an, daß mein Nachbar, der
braune Major, sich erhob und, mit einer undeutlich gemurmelten Entschuldigung und
einer Verbeugung gegen den Grafen hin, den Saal verließ. Es fiel mir nur auf, daß er
sich hinter dem Rücken des Hausherrn in der Tür nochmals umdrehte und dem kleinen
Erik und zu meinem größten Erstaunen plötzlich auch mit winkende und nickende Zeichen
machte, als forderte er uns auf, ihm zu folgen. Ich war so überrascht, daß mein
Lachen aufhörte, mich zu bedrängen. Im übrigen schenkte ich
Die Mahlzeit schleppte sich weiter wie immer, und man war gerade beim Nachtisch angelangt, als meine Blicke von einer Bewegung ergriffen und mitgenommen wurden, die im Hintergrund des Saales, im Halbdunkel, vor sich ging. Dort war nach und nach eine, wie ich meinte, stets verschlossene Türe, von welcher man mir gesagt hatte, daß sie in das Zwischengeschoß führe, aufgegangen, und jetzt, während ich mit einem mir ganz neuen Gefühl von Neugier und Bestürzung hinsah, trat in das Dunkel der Türöffnung eine schlanke, hellgekleidete Dame und kam langsam auf uns zu. Ich weiß nicht, ob ich eine Bewegung machte oder einen Laut von mir gab, der Lärm eines umstürzenden Stuhles zwang mich, meine Blicke von der merkwürdigen Gestalt abzureißen, und ich sah meinen Vater, der aufgesprungen war und nun, totenbleich im Gesicht, mit herabhängenden geballten Händen, auf die Dame zuging. Sie bewegte sich indessen, von dieser Szene ganz unberührt, auf uns zu, Schritt für Schritt, und sie war schon nicht mehr weit von dem Platze des Grafen, als dieser sich mit einem Ruck erhob, meinen Vater beim Arme faßte, ihn an den Tisch zurückzog und festhielt, während die fremde Dame, langsam und teilnahmlos, durch den nun freigewordenen Baum vorüberging, Schritt für Schritt, durch unbeschreibliche Stille, in der nur irgendwo ein Glas zitternd klirrte, und in einer Tür der gegenüberliegenden Wand des Saales verschwand.
Ich war der einzige, der am Tische sitzengeblieben war; ich hatte mich so schwer gemacht in meinem Sessel, mir schien, ich könnte allein nie wieder auf. Eine Weile sah ich, ohne zu sehen. Dann fiel mir mein Vater ein, und ich gewahrte, daß der Alte ihn noch immer am Arme festhielt. Das Gesicht meines Vaters war jetzt zornig, voller Blut, aber der Großvater, dessen Finger wie eine weiße Kralle meines Vaters Arm umklammerten, lächelte sein maskenhaftes Lächeln. Ich hörte dann, wie er etwas sagte, Silbe für Silbe, ohne daß ich den Sinn seiner Worte verstehen konnte. Dennoch fielen sie mir tief ins Gehör, denn vor etwa zwei Jahren fand ich sie eines Tages unten in meiner Erinnerung, und seither weiß ich sie. Er sagte: »Du bist heftig, Kammerherr, und unhöflich. Was läßt du die Leute nicht an ihre Beschäftigungen gehn?« »Wer ist das?« schrie mein Vater dazwischen. »Jemand, der wohl das Recht hat, hier zu sein. Keine Fremde. Christine Brahe.« – Da entstand wieder jene merkwürdig dünne Stille, und wieder fing das Glas an zu zittern. Dann aber riß sich mein Vater mit einer Bewegung los und stürzte aus dem Saale.
Ich hörte ihn die ganze Nacht in seinem Zimmer auf und ab gehen; denn auch ich konnte
nicht schlafen. Aber plötzlich gegen Morgen erwachte ich doch aus irgend etwas
Schlafähnlichem und sah mit einem Entsetzen, das mich bis ins Herz hinein lähmte,
etwas
»Ach«, antwortete das Fräulein Brahe mit einem Seufzer, der mir komisch vorkam, »eine Unglückliche, mein Kind, eine Unglückliche.«
Am Morgen dieses Tages bemerkte ich in einem Zimmer einige Bediente, die mit Packen beschäftigt waren. Ich dachte, daß wir reisen würden, ich fand es ganz natürlich, daß wir nun reisten. Vielleicht war das auch meines Vaters Absicht. Ich habe nie erfahren, was ihn bewog, nach jenem Abend noch auf Urnekloster zu bleiben. Aber wir reisten nicht. Wir hielten uns noch acht Wochen oder neun in diesem Hause auf, wir ertrugen den Druck seiner Seltsamkeiten, und wir sahen noch dreimal Christine Brahe.
Ich wußte damals nichts von ihrer Geschichte. Ich
Das war, als wir Christine Brahe zum letztenmal sahen. Dieses Mal war auch Fräulein Mathilde zu Tische erschienen; aber sie war anders als sonst. Wie in den ersten Tagen nach unserer Ankunft sprach sie unaufhörlich ohne bestimmten Zusammenhang und fortwährend sich verwirrend, und dabei war eine körperliche Unruhe in ihr, die sie nötigte, sich beständig etwas am Haar oder am Kleide zu richten, – bis sie unvermutet mit einem hohen klagenden Schrei aufsprang und verschwand.
In demselben Augenblick wandten sich meine Blicke unwillkürlich nach der gewissen
Türe, und wirklich: Christine Brahe trat ein. Mein Nachbar, der Major, machte eine
heftige, kurze Bewegung, die sich in meinen Körper fortpflanzte, aber er hatte
offenbar keine Kraft mehr, sich zu erheben. Sein braunes, altes, fleckiges Gesicht
wendete sich von einem zum andern, sein Mund stand offen, und die Zunge wand sich
hinter den verdorbenen Zähnen; dann auf einmal war dieses Gesicht fort, und sein
grauer Kopf lag auf dem Tische, und seine Arme
Und nun ging Christine Brahe vorbei, Schritt für Schritt, langsam wie eine Kranke, durch unbeschreibliche Stille, in die nur ein einziger wimmernder Laut hineinklang wie eines alten Hundes. Aber da schob sich links von dem großen silbernen Schwan, der mit Narzissen gefüllt war, die große Maske des Alten hervor mit ihrem grauen Lächeln. Er hob sein Weinglas meinem Vater zu. Und nun sah ich, wie mein Vater, gerade als Christine Brahe hinter seinem Sessel vorüberkam, nach seinem Glase griff und es wie etwas sehr Schweres eine Handbreit über den Tisch hob.
Und noch in dieser Nacht reisten wir.
Bibliothèque Nationale.
Ich sitze und lese einen Dichter. Es sind viele Leute im Saal, aber man spürt sie
nicht. Sie sind in den Büchern. Manchmal bewegen sie sich in den Blättern, wie
Menschen, die schlafen und sich umwenden zwischen zwei Träumen. Ach, wie gut ist es
doch, unter lesenden Menschen zu sein. Warum sind sie nicht immer so? Du kannst
hingehen zu einem und ihn leise anrühren: er fühlt nichts. Und stößt du einen Nachbar
beim Aufstehen ein wenig an und entschuldigst dich, so nickt er nach der Seite, auf
der er deine Stimme hört, sein Gesicht wendet sich dir zu und sieht dich nicht, und
sein Haar ist wie das Haar eines Schlafenden. Wie wohl das tut. Und ich sitze und
habe einen Dichter. Was für ein Schicksal. Es sind jetzt vielleicht dreihundert Leute
Das war vor zwei Wochen. Aber nun vergeht fast kein Tag ohne eine solche Begegnung.
Nicht nur in der Dämmerung, am Mittag in den dichtesten Straßen geschieht es, daß
plötzlich ein kleiner Mann oder eine alte Frau da ist, nickt, mir etwas zeigt und
wieder verschwindet, als wäre nun alles Nötige getan. Es ist möglich, daß es ihnen
eines Tages einfällt, bis in meine Stube zu kommen, sie wissen bestimmt, wo ich
wohne, und sie werden es schon einrichten, daß der Concierge sie nicht aufhält. Aber
hier, meine Lieben, hier bin ich sicher vor euch. Man muß eine besondere Karte haben,
um in diesen Saal eintreten zu können. Diese Karte
Ihr wißt nicht, was das ist, ein Dichter? – Verlaine... Nichts? Keine Erinnerung?
Nein. Ihr habt ihn nicht unterschieden unter denen, die ihr kanntet? Unterschiede
macht ihr keine, ich weiß. Aber es ist ein anderer Dichter, den ich lese, einer, der
nicht in Paris wohnt, ein ganz anderer. Einer, der ein stilles Haus hat im Gebirge.
Der klingt wie eine Glocke in reiner Luft. Ein glücklicher Dichter, der von seinem
Fenster erzählt und von den Glastüren seines Bücherschrankes, die eine liebe, einsame
Weite nachdenklich spiegeln. Gerade der Dichter ist es, der ich hätte werden wollen;
denn er weiß von den Mädchen so viel, und ich hätte auch viel von ihnen gewußt. Er
weiß von Mädchen, die vor hundert Jahren gelebt haben; es tut nichts mehr, daß sie
tot sind, denn er weiß alles. Und das ist die Hauptsache. Er spricht ihre Namen aus,
diese leisen, schlankgeschriebenen Namen mit den altmodischen Schleifen in den langen
Buchstaben und die erwachsenen Namen ihrer älteren Freundinnen, in denen schon ein
klein wenig Schicksal mitklingt, ein klein wenig Enttäuschung und Tod. Vielleicht
liegen in einem Fach seines
Manchmal gehe ich an kleinen Läden vorbei in der rue de Seine etwa. Händler mit Altsachen oder kleine Buchantiquare oder Kupferstichverkäufer mit überfüllten Schaufenstern. Nie tritt jemand bei ihnen ein, sie machen offenbar keine Geschäfte. Sieht man aber hinein, so sitzen sie, sitzen und lesen, unbesorgt; sorgen nicht um morgen, ängstigen sich nicht um ein Gelingen, haben einen Hund, der vor ihnen sitzt, gut aufgelegt, oder eine Katze, die die Stille noch größer macht, indem sie die Bücherreihen entlang streicht, als wischte sie die Namen von den Rücken.
Ach, wenn das genügte: ich wünschte manchmal, mir so ein volles Schaufenster zu kaufen und mich mit einem Hund dahinterzusetzen für zwanzig Jahre.
Es ist gut, es laut zu sagen: »Es ist nichts geschehen.« Noch einmal: »Es ist nichts geschehen.« Hilft es?
Daß mein Ofen wieder einmal geraucht hat und ich ausgehen mußte, das ist doch
wirklich kein Unglück. Daß ich mich matt und erkältet fühle, hat nichts zu bedeuten.
Daß ich den ganzen Tag in den Gassen umhergelaufen bin, ist meine eigene Schuld. Ich
hätte ebensogut im Louvre sitzen können. Oder nein, das hätte ich nicht. Dort sind
gewisse Leute, die sich wärmen
Ich war etwas erschöpft nach alledem, man kann wohl sagen angegriffen, und darum war
es zuviel für mich, daß auch er noch auf mich warten mußte. Er wartete in der kleinen
Crémerie, wo ich zwei Spiegeleier essen wollte; ich war hungrig, ich war den ganzen
Tag nicht dazu gekommen zu essen. Aber ich konnte auch jetzt nichts zu mir nehmen;
ehe die Eier noch fertig waren, trieb es mich wieder hinaus in die Straßen, die ganz
dickflüssig von Menschen mir entgegenrannen. Denn es war Fasching und Abend, und die
Leute hatten alle
Und ich wehre mich noch. Ich wehre mich, obwohl ich weiß, daß mir das Herz schon heraus hängt und daß ich doch nicht mehr leben kann, auch wenn meine Quäler jetzt von mir abließen. Ich sage mir: es ist nichts geschehen, und doch habe ich jenen Mann nur begreifen können, weil auch in mir etwas vor sich geht, das anfängt, mich von allem zu entfernen und abzutrennen. Wie graute mir immer, wenn ich von einem Sterbenden sagen hörte: er konnte schon niemanden mehr erkennen. Dann stellte ich mir ein einsames Gesicht vor, das sich aufhob aus Kissen und suchte, nach etwas Bekanntem suchte, nach etwas schon einmal Gesehenem suchte, aber es war nichts da. Wenn meine Furcht nicht so groß wäre, so würde ich mich damit trösten, daß es nicht unmöglich ist, alles anders zu sehen und doch zu leben. Aber ich fürchte mich, ich fürchte mich namenlos vor dieser Veränderung. Ich bin ja noch gar nicht in dieser Welt eingewöhnt gewesen, die mir gut scheint.
Noch eine Weile kann ich das alles aufschreiben und sagen. Aber es wird ein Tag
kommen, da meine Hand weit von mir sein wird, und wenn ich sie schreiben heißen
werde, wird sie Worte schreiben, die ich nicht meine. Die Zeit der anderen Auslegung
wird anbrechen, und es wird kein Wort auf dem anderen bleiben, und jeder Sinn wird
wie Wolken sich auflösen und wie Wasser niedergehen. Bei aller Furcht bin ich
schließlich doch wie einer, der vor etwas Großem steht, und ich erinnere mich, daß es
früher oft ähnlich in mir war, eh ich zu schreiben begann. Aber diesmal werde ich
geschrieben werden. Ich bin der Eindruck, der sich verwandeln wird. Oh, es fehlt nur
ein kleines, und ich könnte das alles begreifen und gutheißen. Nur ein Schritt, und
mein tiefes Elend würde Seligkeit sein. Aber ich kann diesen Schritt nicht tun, ich
bin gefallen und kann mich nicht mehr aufheben, weil ich zerbrochen bin. Ich habe ja
immer noch geglaubt, es könnte eine Hülfe kommen. Da liegt es vor mir in meiner
eigenen Schrift, was ich gebetet habe, Abend für Abend. Ich habe es mir aus den
Büchern, in denen ich es fand, abgeschrieben, damit es mir ganz nahe wäre und aus
meiner Hand entsprungen wie Eigenes. Und ich will es jetzt noch einmal schreiben,
hier vor meinem Tisch kniend will ich es
»Mécontent de tous et mécontent de moi, je voudrais bien me racheter et m'enorgueillir un peu dans le silence et la solitude de la nuit. Âmes de ceux que j'ai aimés, âmes de ceux que j'ai chantés, fortifiez-moi, soutenez-moi, éloignez de moi le mensonge et les vapeurs corruptrices du monde; et vous, Seigneur mon Dieu! accordez-moi la grâce de produire quelques beaux vers qui me prouvent à moi-même que je ne suis pas le dernier des hommes, que je ne suis pas inférieur à ceux que je méprise.«
»Die Kinder loser und verachteter Leute, die die Geringsten im Lande waren. Nun bin ich ihr Saitenspiel worden und muß ihr Märlein sein.
... sie haben über mich einen Weg gemacht...
... es war ihnen so leicht, mich zu beschädigen, daß sie keiner Hülfe dazu durften.
... nun aber geußet sich aus meine Seele über mich, und mich hat ergriffen die elende Zeit.
Des Nachts wird mein Gebein durchbohret allenthalben; und die mich jagen, legen sich nicht schlafen.
Durch die Menge der Kraft werde ich anders und anders gekleidet; und man gürtet mich damit wie mit dem Loch meines Rocks...
Meine Eingeweide sieden und hören nicht auf; mich hat überfallen die elende Zeit...
Meine Harfe ist eine Klage worden, und meine Pfeife ein Weinen.«
Plötzlich erhoben sich ganz in der Nähe rasch hintereinander die erschreckten,
abwehrenden Schreie eines Kindes, denen ein leises, zugehaltenes Weinen folgte.
Während ich mich anstrengte, herauszufinden, wo das könnte gewesen sein, verzitterte
wieder ein kleiner, unterdrückter Schrei, und ich hörte Stimmen, die fragten, eine
Stimme, die halblaut befahl, und dann schnurrte irgend eine gleichgültige Maschine
los und kümmerte sich um nichts. Jetzt erinnerte ich mich jener halben Wand, und es
war mir klar, daß das alles von jenseits der Türen kam und daß man dort an der Arbeit
war. Wirklich erschien von Zeit zu Zeit der Wärter mit der fleckigen Schürze und
winkte. Ich dachte gar nicht mehr daran, daß er mich meinen könnte. Galt es mir?
Nein. Zwei Männer waren da mit einem Rollstuhl; sie hoben die Masse hinein, und ich
sah jetzt, daß es ein alter, lahmer Mann war, der noch eine andere, kleinere, vom
Leben abgenutzte Seite hatte mit einem offenen, trüben, traurigen Auge. Sie fuhren
ihn hinein, und neben mir entstand eine Menge Platz. Und ich saß und
Plötzlich aber war alles still, und in die Stille sagte eine überlegene, selbstgefällige Stimme, die ich zu kennen glaubte:
»Riez!« Pause. »Riez. Mais riez, riez.« Ich lachte schon. Es war unerklärlich, weshalb der Mann da drüben nicht lachen wollte. Eine Maschine ratterte los, verstummte aber sofort wieder, Worte wurden gewechselt, dann erhob sich wieder dieselbe energische Stimme und befahl: »Dites-nous le mot: avant.« Buchstabierend: »a-v-a-n-t«... Stille. »On n'entend rien. Encore une fois:....«
Und da, als es drüben so warm und schwammig lallte: da zum erstenmal seit vielen,
vielen Jahren war es wieder da. Das, was mir das erste, tiefe Entsetzen eingejagt
hatte, wenn ich als Kind im Fieber lag: das Große. Ja, so hatte ich immer gesagt,
wenn sie alle um mein Bett standen und mir den Puls fühlten und mich fragten, was
mich erschreckt habe: Das Große. Und wenn sie den Doktor holten und er war da und
redete mir zu, so bat ich ihn, er möchte nur machen, daß das Große wegginge, alles
andere wäre nichts. Aber er war wie die andern. Er konnte es nicht fortnehmen, obwohl
ich damals doch klein war und mir leicht zu helfen gewesen wäre. Und jetzt war es
wieder da. Es war später einfach ausgeblieben, auch in Fiebernächten war es nicht
wiedergekommen, aber jetzt war es da, obwohl ich kein
Ich kann mich nicht erinnern, wie ich durch die vielen Höfe hinausgekommen war. Es war Abend, und ich verirrte mich in der fremden Gegend und ging Boulevards mit endlosen Mauern in einer Richtung hinauf und, wenn dann kein Ende da war, in der entgegengesetzten Richtung zurück bis an irgendeinen Platz. Dort begann ich eine Straße zu gehen, und es kamen andere Straßen, die ich nie gesehen hatte, und wieder andere. Elektrische Bahnen rasten manchmal überhell und mit hartem, klopfendem Geläute heran und vorbei. Aber auf ihren Tafeln standen Namen, die ich nicht kannte. Ich wußte nicht, in welcher Stadt ich war und ob ich hier irgendwo eine Wohnung hatte und was ich tun mußte, um nicht mehr gehen zu müssen.
Ich liege in meinem Bett, fünf Treppen hoch, und mein Tag, den nichts unterbricht,
ist wie ein Zifferblatt ohne Zeiger. Wie ein Ding, das lange verloren war, eines
Morgens auf seiner Stelle liegt, geschont und gut, neuer fast als zur Zeit des
Verlustes, ganz als ob es bei irgend jemandem in Pflege gewesen wäre –: so liegt da
und da
Die Angst, daß ein kleiner Wollfaden, der aus dem Saum der Decke heraussteht, hart sei, hart und scharf wie eine stählerne Nadel; die Angst, daß dieser kleine Knopf meines Nachthemdes größer sei als mein Kopf, groß und schwer; die Angst, daß dieses Krümchen Brot, das jetzt von meinem Bette fällt, gläsern und zerschlagen unten ankommen würde, und die drückende Sorge, daß damit eigentlich alles zerbrochen sei, alles für immer; die Angst, daß der Streifen Rand eines aufgerissenen Briefes etwas Verbotenes sei, das niemand sehen dürfe, etwas unbeschreiblich Kostbares, für das keine Stelle in der Stube sicher genug sei; die Angst, daß ich, wenn ich einschliefe, das Stück Kohle verschlucken würde, das vor dem Ofen liegt; die Angst, daß irgendeine Zahl in meinem Gehirn zu wachsen beginnt, bis sie nicht mehr Raum hat in mir; die Angst, daß das Granit sei, worauf ich liege, grauer Granit; die Angst, daß ich schreien könnte und daß man vor meiner Türe zusammenliefe und sie schließlich aufbräche, die Angst, daß ich mich verraten könnte und alles das sagen, wovor ich mich fürchte, und die Angst, daß ich nichts sagen könnte, weil alles unsagbar ist, – und die anderen Ängste... die Ängste.
Ich habe um meine Kindheit gebeten, und sie ist wiedergekommen, und ich fühle, daß sie immer noch so schwer ist wie damals und daß es nichts genützt hat, älter zu werden.
Heute habe ich es nicht erwartet, ich bin so mutig ausgegangen, als wäre das das Natürlichste und Einfachste. Und doch, es war wieder etwas da, das mich nahm wie Papier, mich zusammenknüllte und fort warf, es war etwas Unerhörtes da.
Der Boulevard St-Michel war leer und weit, und es ging sich leicht auf seiner leisen Neigung. Fensterflügel oben öffneten sich mit gläsernem Aufklang, und ihr Glänzen flog wie ein weißer Vogel über die Straße. Ein Wagen mit hellroten Rädern kam vorüber, und weiter unten trug jemand etwas Lichtgrünes. Pferde liefen in blinkernden Geschirren auf dem dunkel gespritzten Fahrdamm, der rein war. Der Wind war erregt, neu, mild, und alles stieg auf: Gerüche, Rufe, Glocken.
Ich kam an einem der Caféhäuser vorbei, in denen am Abend die falschen roten Zigeuner
spielen. Aus den offenen Fenstern kroch mit schlechtem Gewissen die übernächtige
Luft. Glattgekämmte Kellner waren dabei, vor der Türe zu scheuern. Der eine stand
gebückt und warf, handvoll nach handvoll, gelblichen Sand unter die Tische. Da stieß
ihn einer von den Vorübergehenden
Ich fühlte, daß ein wenig Angst in mir anfing. Etwas drängte mich auf die andere Seite hinüber; aber ich begann nur schneller zu gehen und überblickte unwillkürlich die wenigen Leute vor mir, an denen ich nichts Besonderes bemerkte. Doch ich sah, daß der eine, ein Laufbursche mit einer blauen Schürze und einem leeren Henkelkorb über der einen Schulter, jemandem nachschaute. Als er genug hatte, drehte er sich auf derselben Stelle nach den Häusern um und machte zu einem lachenden Kommis hinüber die schwankende Bewegung vor der Stirne, die allen geläufig ist. Dann blitzte er mit den schwarzen Augen und kam mir befriedigt und sich wiegend entgegen.
Ich erwartete, sobald mein Auge Raum hatte, irgendeine ungewöhnliche und auffallende
Figur zu sehen, aber es zeigte sich, daß vor mir niemand ging, als ein großer hagerer
Mann in einem dunklen Überzieher und mit einem weichen, schwarzen Hut auf dem kurzen,
fahlblonden Haar. Ich vergewisserte mich, daß weder an der Kleidung, noch in dem
Benehmen dieses Mannes
Ich glaube, daß er es genommen hat; was konnte ich dafür, daß es nicht mehr war.
Auf der Place St-Michel waren viele Fahrzeuge und hin und her eilende Leute, wir
waren oft zwischen zwei Wagen, und dann holte er Atem und ließ sich ein wenig gehen,
wie um auszuruhen, und ein wenig hüpfte es und nickte ein wenig. Vielleicht war das
die List, mit der die gefangene Krankheit ihn überwinden wollte. Der Wille war an
zwei Stellen durchbrochen, und das Nachgeben hatte in den besessenen Muskeln einen
leisen, lockenden Reiz zurückgelassen und den zwingenden Zweitakt. Aber der Stock war
noch an seinem Platz, und die Hände sahen böse und zornig aus; so betraten wir die
Brücke, und es ging. Es ging. Nun kam etwas Unsicheres in den Gang, nun lief er zwei
Schritte, und nun stand er. Stand. Die linke Hand löste sich leise vom Stock ab und
hob sich so langsam empor, daß ich sie vor der Luft zittern sah; er schob den Hut ein
wenig zurück und strich sich über die Stirn. Er wandte ein wenig
Was hätte es für einen Sinn gehabt, noch irgendwohin zu gehen, ich war leer. Wie in leeres Papier trieb ich an den Häusern entlang, den Boulevard wieder hinauf.
Ein Briefentwurf.Ich versuche es, Dir zu schreiben, obwohl es eigentlich nichts giebt nach einem notwendigen Abschied. Ich versuche es dennoch, ich glaube, ich muß es tun, weil ich die Heilige gesehen habe im Pantheon, die einsame, heilige Frau und das Dach und die Tür und drin die Lampe mit dem bescheidnen Lichtkreis und drüben die schlafende Stadt und den Fluß und die Ferne im Mondschein. Die Heilige wacht über der schlafenden Stadt. Ich habe geweint. Ich habe geweint, weil das alles auf einmal so unerwartet da war. Ich habe davor geweint, ich wußte mir nicht zu helfen.
Ich bin in Paris, die es hören freuen sich, die meisten beneiden mich. Sie haben
recht. Es ist eine große Stadt, groß, voll merkwürdiger Versuchungen. Was mich
betrifft, ich muß zugeben, daß ich ihnen in gewisser Beziehung erlegen bin. Ich
glaube, es läßt sich nicht anders sagen. Ich bin diesen Versuchungen erlegen, und
Ob es nicht möglich wäre, einmal das Meer zu sehen?
Ja, aber denke nur, ich bildete mir ein, Du könntest kommen. Hättest Du mir vielleicht sagen können, ob es einen Arzt giebt? Ich habe vergessen, mich danach zu erkundigen. Übrigens brauche ich es jetzt nicht mehr.
Erinnerst Du Dich an Baudelaires unglaubliches Gedicht »Une Charogne«? Es kann sein, daß ich es jetzt verstehe. Abgesehen von der letzten Strophe war er im Recht. Was sollte er tun, da ihm das widerfuhr? Es war seine Aufgabe, in diesem Schrecklichen, scheinbar nur Widerwärtigen das Seiende zu sehen, das unter allem Seienden gilt. Auswahl und Ablehnung giebt es nicht. Hältst Du es für einen Zufall, daß Flaubert seinen Saint-Julien-l'Hospitalier geschrieben hat? Es kommt mir vor, als wäre das das Entscheidende: ob einer es über sich bringt, sich zu dem Aussätzigen zu legen und ihn zu erwärmen mit der Herzwärme der Liebesnächte, das kann nicht anders als gut ausgehen.
Glaube nur nicht, daß ich hier an Enttäuschungen leide, im Gegenteil. Es wundert mich
manchmal, wie bereit
Mein Gott, wenn etwas davon sich teilen ließe. Aber wäre es dann, wäre es dann? Nein, es ist nur um den Preis des Alleinseins.
Die Existenz des Entsetzlichen in jedem Bestandteil der Luft. Du atmest es ein mit
Durchsichtigem; in dir aber schlägt es sich nieder, wird hart, nimmt spitze,
geometrische Formen an zwischen den Organen; denn alles, was sich an Qual und Grauen
begeben hat auf den Richtplätzen, in den Folterstuben, den Tollhäusern, den
Operationssälen, unter den Brückenbögen im Nachherbst: alles das ist von einer zähen
Unvergänglichkeit, alles das besteht auf sich und hängt, eifersüchtig auf alles
Seiende, an seiner schrecklichen Wirklichkeit. Die Menschen möchten vieles davon
vergessen dürfen; ihr Schlaf feilt sanft über solche Furchen im Gehirn, aber Träume
drängen ihn ab und ziehen die Zeichnungen nach. Und sie wachen auf und keuchen und
lassen einer Kerze Schein sich auflösen in der Finsternis und trinken, wie
gezuckertes Wasser, die halbhelle Beruhigung. Aber, ach, auf welcher Kante hält sich
diese Sicherheit. Nur eine geringste Wendung, und schon wieder steht der Blick über
Bekanntes und Freundliches hinaus, und der eben noch so tröstliche Kontur wird
deutlicher als ein Rand von Grauen. Hüte dich vor dem Licht, das den Raum hohler
macht; sieh dich nicht um, ob nicht vielleicht ein Schatten hinter deinem Aufsitzen
aufsteht wie dein Herr. Besser vielleicht, du wärest in der Dunkelheit
O Nacht ohne Gegenstände. O stumpfes Fenster hinaus, o sorgsam verschlossene Türen;
Einrichtungen von alters her, übernommen, beglaubigt, nie ganz verstanden. O Stille
im Stiegenhaus, Stille aus den Nebenzimmern, Stille hoch oben an der Decke. O Mutter:
o du Einzige, die alle diese Stille verstellt hat, einst in der
Der Mouleur, an dem ich jeden Tag vorüberkomme, hat zwei Masken neben seiner Tür
ausgehängt. Das Gesicht der jungen Ertränkten, das man in der Morgue abnahm,
Weltvollendender: wie, was als Regen fällt über die Erde und an die Gewässer, nachlässig niederfällt, zufällig fallend, – unsichtbarer und froh von Gesetz wieder aufsteht aus allem und steigt und schwebt und die Himmel bildet: so erhob sich aus dir der Aufstieg unserer Niederschläge und umwölbte die Welt mit Musik.
Deine Musik: daß sie hätte um die Welt sein dürfen; nicht um uns. Daß man dir ein Hammerklavier erbaut hätte in der Thebaïs; und ein Engel hätte dich hingeführt vor das einsame Instrument, durch die Reihen der Wüstengebirge, in denen Könige ruhen und Hetären und Anachoreten. Und er hätte sich hoch geworfen und fort, ängstlich, daß du begännest.
Und dann hättest du ausgeströmt, Strömender, ungehört; an das All zurückgebend, was
nur das All erträgt. Die Beduinen wären in der Ferne vorbeigejagt, abergläubisch; die
Kaufleute aber hätten sich hingeworfen am Rand deiner Musik, als wärst du der Sturm.
Einzelne
Denn wer holt dich jetzt aus den Ohren zurück, die lüstern sind? Wer treibt sie aus den Musiksälen, die Käuflichen mit dem unfruchtbaren Gehör, das hurt und niemals empfängt? da strahlt Samen aus, und sie halten sich unter wie Dirnen und spielen damit, oder er fällt, während sie daliegen in ihren ungetanen Befriedigungen, wie Samen Onans zwischen sie alle.
Wo aber, Herr, ein Jungfräulicher unbeschlafenen Ohrs läge bei deinem Klang: er stürbe an Seligkeit oder er trüge Unendliches aus und sein befruchtetes Hirn müßte bersten an lauter Geburt.
Ich unterschätze es nicht. Ich weiß, es gehört Mut dazu. Aber nehmen wir für einen
Augenblick an, es hätte ihn einer, diesen Courage de luxe, ihnen nachzugehen, um dann
für immer (denn wer könnte das wieder vergessen oder verwechseln?) zu wissen, wo sie
hernach hineinkriechen und was sie den vielen übrigen Tag beginnen und ob sie
schlafen bei Nacht. Dies ganz besonders wäre festzustellen: ob sie schlafen. Aber mit
dem Mut ist es noch nicht getan. Denn sie kommen und gehen nicht wie die übrigen
Leute, denen zu folgen eine Kleinigkeit wäre. Sie sind da und wieder fort,
hingestellt und weggenommen wie Bleisoldaten. Es sind ein wenig abgelegene Stellen,
wo man sie findet, aber durchaus nicht versteckte. Die Büsche treten zurück, der Weg
wendet sich ein wenig um den Rasenplatz herum: da
Nur die Frauen frag nichts, wenn du eine füttern siehst. Denen könnte man sogar folgen; sie tun es so im Vorbeigehen; es wäre ein Leichtes. Aber laß sie. Sie wissen nicht, wie es kam. Sie haben auf einmal eine Menge Brot in ihrem Handsack, und sie halten große Stücke hinaus aus ihrer dünnen Mantille, Stücke, die ein bißchen gekaut sind und feucht. Das tut ihnen wohl, daß ihr Speichel ein wenig in die Welt kommt, daß die kleinen Vögel mit diesem Beigeschmack herumfliegen, wenn sie ihn natürlich auch gleich wieder vergessen.
Da saß ich an deinen Büchern, Eigensinniger, und versuchte sie zu meinen wie die andern, die dich nicht beisammen lassen und sich ihren Anteil genommen haben, befriedigt. Denn da begriff ich noch nicht den Ruhm, diesen öffentlichen Abbruch eines Werdenden, in dessen Bauplatz die Menge einbricht, ihm die Steine verschiebend.
Junger Mensch irgendwo, in dem etwas aufsteigt, was ihn erschauern macht, nütz es,
daß dich keiner kennt. Und wenn sie dir widersprechen, die dich für nichts nehmen,
und wenn sie dich ganz aufgeben, die, mit
Bitte keinen, daß er von dir spräche, nicht einmal verächtlich. Und wenn die Zeit geht und du merkst, wie dein Name herumkommt unter den Leuten, nimm ihn nicht ernster als alles, was du in ihrem Munde findest. Denk: er ist schlecht geworden, und tu ihn ab. Nimm einen andern an, irgendeinen, damit Gott dich rufen kann in der Nacht. Und verbirg ihn vor allen.
Du Einsamster, Abseitiger, wie haben sie dich eingeholt auf deinem Ruhm. Wie lang ist es her, da waren sie wider dich von Grund aus, und jetzt gehen sie mit dir um, wie mit ihresgleichen. Und deine Worte führen sie mit sich in den Käfigen ihres Dünkels und zeigen sie auf den Plätzen und reizen sie ein wenig von ihrer Sicherheit aus. Alle deine schrecklichen Raubtiere.
Da las ich dich erst, da sie mir ausbrachen und mich anfielen in meiner Wüste, die
Verzweifelten. Verzweifelt, wie du selber warst am Schluß, du, dessen Bahn falsch
eingezeichnet steht in allen Karten. Wie ein Sprung geht sie durch die Himmel, diese
hoffnungslose Hyperbel deines Weges, die sich nur einmal heranbiegt an uns und sich
entfernt voll Entsetzen. Was lag dir daran, ob eine Frau bleibt oder fortgeht und ob
einen der Schwindel ergreift und einen der Wahnsinn und ob Tote lebendig sind und
Lebendige scheintot: was lag dir daran? Dies alles war so natürlich für dich; da
So wie du warst, auf das Zeigen angelegt, ein zeitlos tragischer Dichter, mußtest du dieses Kapillare mit einem Schlag umsetzen in die überzeugendsten Gebärden, in die vorhandensten Dinge. Da gingst du an die beispiellose Gewalttat deines Werkes, das immer ungeduldiger, immer verzweifelter unter dem Sichtbaren nach den Äquivalenten suchte für das innen Gesehene. Da war ein Kaninchen, ein Bodenraum, ein Saal, in dem einer auf und nieder geht: da war ein Glasklirren im Nebenzimmer, ein Brand vor den Fenstern, da war die Sonne. Da war eine Kirche und ein Felsental, das einer Kirche glich. Aber das reichte nicht aus; schließlich mußten die Türme herein und die ganzen Gebirge; und die Lawinen, die die Landschaften begraben, verschütteten die mit Greifbarem überladene Bühne um des Unfaßlichen willen. Da konntst du nicht mehr. Die beiden Enden, die du zusammengebogen hattest, schnellten auseinander; deine wahnsinnige Kraft entsprang aus dem elastischen Stab, und dein Werk war wie nicht.
Wer begriffe es sonst, daß du zum Schluß nicht vom Fenster fortwolltest, eigensinnig wie du immer warst, Die Vorübergehenden wolltest du sehen; denn es war dir der Gedanke gekommen, ob man nicht eines Tages etwas machen könnte aus ihnen, wenn man sich entschlösse anzufangen.
Damals zuerst fiel es mir auf, daß man von einer Frau nichts sagen könne; ich merkte,
wenn sie von ihr erzählten,
– Dann pflegte sie jedesmal, wenn sie zu der Szene mit dem Hunde kam, die Augen zu schließen und das ganz verschlossene, aber überall durchscheinende Gesicht irgendwie inständig zwischen ihre beiden Hände zu halten, die es kalt an den Schläfen berührten. »Ich hab es gesehen, Malte«, beschwor sie: »Ich hab es gesehen.« Das war schon in ihren letzten Jahren, da ich dies von ihr gehört habe. In der Zeit, wo sie niemanden mehr sehen wollte und wo sie immer, auch auf Reisen, das kleine, dichte, silberne Sieb bei sich hatte, durch das sie alle Getränke seihte. Speisen von fester Form nahm sie nie mehr zu sich, es sei denn etwas Biskuit oder Brot, das sie, wenn sie allein war, zerbröckelte und Krümel für Krümel aß, wie Kinder Krümel essen. Ihre Angst vor Nadeln beherrschte sie damals schon völlig. Zu den anderen sagte sie nur, um sich zu entschuldigen: »Ich vertrage rein nichts mehr, aber es muß euch nicht stören, ich befinde mich ausgezeichnet dabei.«
Wenn sie aber von Ingeborg erzählte, dann konnte ihr nichts geschehen; dann schonte sie sich nicht; dann sprach sie lauter, dann lachte sie in der Erinnerung an Ingeborgs Lachen, dann sollte man sehen, wie schön Ingeborg gewesen war. »Sie machte uns alle froh«, sagte sie, »deinen Vater auch, Malte, buchstäblich froh. Aber dann, als es hieß, daß sie sterben würde, obwohl sie doch nur ein wenig krank schien, und wir gingen alle herum und verbargen es, da setzte sie sich einmal im Bette auf und sagte so vor sich hin, wie einer, der hören will, wie etwas klingt: ›Ihr müßt euch nicht so zusammennehmen; wir wissen es alle, und ich kann euch beruhigen, es ist gut so wie es kommt, ich mag nicht mehr.‹ Stell dir vor, sie sagte: ›Ich mag nicht mehr‹; sie, die uns alle froh machte. Ob du das einmal verstehen wirst, wenn du groß bist, Malte? Denk daran später, vielleicht fällt es dir ein. Es wäre ganz gut, wenn es jemanden gäbe, der solche Sachen versteht.«
»Solche Sachen« beschäftigten Maman, wenn sie allein war, und sie war immer allein diese letzten Jahre.
Maman hatte Ingeborgs kleinen Sekretär hinauf in ihr Zimmer stellen lassen, davor
fand ich sie oft, denn ich durfte ohne weiteres bei ihr eintreten. Mein Schritt
verging völlig in dem Teppich, aber sie fühlte mich und hielt mir eine ihrer Hände
über die andere Schulter hin. Diese Hand war ganz ohne Gewicht, und sie küßte sich
fast wie das elfenbeinerne Kruzifix, das man mir abends vor dem Einschlafen reichte.
An diesem niederen Schreibschrank, der mit einer Platte sich vor ihr aufschlug, saß
sie wie an einem Instrument. »Es ist so viel Sonne drin«, sagte sie, und wirklich,
das Innere war
Maman zog die kleinen Laden heraus, die alle leer waren.
»Ach, Rosen«, sagte sie und hielt sich ein wenig vor in den trüben Geruch hinein, der
nicht alle wurde. Sie hatte dabei immer die Vorstellung, es könnte sich plötzlich
noch etwas finden in einem geheimen Fach, an das niemand gedacht hatte und das nur
dem Druck irgendeiner versteckten Feder nachgab. »Auf einmal springt es vor, du
sollst sehen«, sagte sie ernst und ängstlich und zog eilig an allen Laden. Was aber
wirklich an Papieren in den Fächern zurückgeblieben war, das hatte sie sorgfältig
zusammen gelegt und eingeschlossen, ohne es zu lesen. »Ich verstünde es doch nicht,
Malte, es wäre sicher zu schwer für mich.« Sie hatte die Überzeugung, daß alles zu
kompliziert für sie sei. »Es giebt keine Klassen im Leben für Anfänger, es ist immer
gleich das Schwierigste, was von einem verlangt wird.« Man versicherte mir, daß sie
erst seit dem schrecklichen Tode ihrer Schwester so geworden sei, der Gräfin
Öllegaard Skeel, die verbrannte, da sie sich vor einem Balle
Und nun will ich die Geschichte aufschreiben, so wie Maman sie erzählte, wenn ich darum bat.
Es war mitten im Sommer, am Donnerstag nach Ingeborgs Beisetzung. Von dem Platze auf
der Terrasse, wo der Tee genommen wurde, konnte man den Giebel des Erbbegräbnisses
sehen zwischen den riesigen Ulmen hin. Es war so gedeckt worden, als ob nie eine
Person mehr an diesem Tisch gesessen hätte, und wir saßen auch alle recht
ausgebreitet herum. Und jeder hatte etwas mitgebracht, ein Buch oder einen
Arbeitskorb, so daß wir sogar ein wenig beengt waren. Abelone (Mamans jüngste
Schwester) verteilte den Tee, und alle waren beschäftigt, etwas herumzureichen, nur
dein Großvater sah von seinem Sessel aus nach dem Hause hin. Es war die Stunde, da
man die Post erwartete, und es fügte sich meistens so, daß Ingeborg sie brachte, die
mit den Anordnungen für das Essen länger drin zurückgehalten war. In den Wochen ihrer
Krankheit hatten wir nun reichlich Zeit gehabt, uns ihres Kommens zu entwöhnen; denn
wir wußten ja, daß sie nicht kommen könne. Aber an diesem Nachmittag, Malte, da sie
wirklich nicht mehr kommen konnte –: da kam sie. Vielleicht war es unsere Schuld;
vielleicht haben wir sie gerufen. Denn ich erinnere mich, daß ich auf einmal dasaß
und angestrengt war, mich zu besinnen, was denn eigentlich nun anders sei. Es war mir
plötzlich nicht möglich zu sagen, was; ich hatte es völlig vergessen.
Einmal, als es über dieser Erzählung fast dunkel geworden war, war ich nahe daran, Maman von der »Hand« zu erzählen: in diesem Augenblick hätte ich es gekonnt. Ich atmete schon auf, um anzufangen, aber da fiel mir ein, wie gut ich den Diener begriffen hatte, daß er nicht hatte kommen können auf ihre Gesichter zu. Und ich fürchtete mich trotz der Dunkelheit vor Mamans Gesicht, wenn es sehen würde, was ich gesehen habe. Ich holte rasch noch einmal Atem, damit es den Anschein habe, als hätte ich nichts anderes gewollt. Ein paar Jahre hernach, nach der merkwürdigen Nacht in der Galerie auf Urnekloster, ging ich tagelang damit um, mich dem kleinen Erik anzuvertrauen. Aber er hatte sich nach unserem nächtlichen Gespräch wieder ganz vor mir zugeschlossen, er vermied mich; ich glaube, daß er mich verachtete. Und gerade deshalb wollte ich ihm von der »Hand« erzählen. Ich bildete mir ein, ich würde in seiner Meinung gewinnen (und das wünschte ich dringend aus irgendeinem Grunde), wenn ich ihm begreiflich machen könnte, daß ich das wirklich erlebt hatte. Erik aber war so geschickt im Ausweichen, daß es nicht dazu kam. Und dann reisten wir ja auch gleich. So ist es, wunderlich genug, das erstemal, daß ich (und schließlich auch nur mir selber) eine Begebenheit erzähle, die nun weit zurückliegt in meiner Kindheit.
Es ist ausgemacht, daß ich an jenem Abend einen Ritter zeichnete, einen einzelnen,
sehr deutlichen Ritter auf einem merkwürdig bekleideten Pferd. Er
Aber wie? Ich nahm mich unbeschreiblich zusammen, aber es war nicht auszudrücken, so daß es einer begriff. Gab es Worte für dieses Ereignis, so war ich zu klein, welche zu finden. Und plötzlich ergriff mich die Angst, sie könnten doch, über mein Alter hinaus, auf einmal da sein, diese Worte, und es schien mir fürchterlicher als alles, sie dann sagen zu müssen. Das Wirkliche da unten noch einmal durchzumachen, anders, abgewandelt, von Anfang an; zu hören, wie ich es zugebe, dazu hatte ich keine Kraft mehr.
Es ist natürlich Einbildung, wenn ich nun behaupte, ich hätte in jener Zeit schon
gefühlt, daß da etwas in mein Leben gekommen sei, geradeaus in meines, womit ich
allein würde herumgehen müssen, immer und immer. Ich sehe mich in meinem kleinen
Gitterbett liegen und nicht schlafen und irgendwie ungenau voraussehen, daß so das
Leben sein würde: voll lauter besonderer Dinge, die nur für Einen gemeint sind und
die sich nicht sagen lassen. Sicher ist, daß sich nach und nach ein trauriger und
schwerer Stolz in mir erhob. Ich stellte mir vor, wie man herumgehen würde, voll von
Innerem und schweigsam. Ich empfand eine ungestüme Sympathie für die Erwachsenen; ich
bewunderte sie, und ich nahm mir vor, ihnen zu sagen, daß ich sie bewunderte.
Und dann kam eine von diesen Krankheiten, die dar auf ausgingen, mir zu beweisen, daß dies nicht das erste eigene Erlebnis war. Das Fieber wühlte in mir und holte von ganz unten Erfahrungen, Bilder, Tatsachen heraus, von denen ich nicht gewußt hatte; ich lag da, überhäuft mit mir, und wartete auf den Augenblick, da mir befohlen würde, dies alles wieder in mich hineinzuschichten, ordentlich, der Reihe nach. Ich begann, aber es wuchs mir unter den Händen, es sträubte sich, es war viel zu viel. Dann packte mich die Wut, und ich warf alles in Haufen in mich hinein und preßte es zusammen; aber ich ging nicht wieder darüber zu. Und da schrie ich, halb offen wie ich war, schrie ich und schrie. Und wenn ich anfing hinauszusehen aus mir, so standen sie seit lange um mein Bett und hielten mir die Hände, und eine Kerze war da, und ihre großen Schatten rührten sich hinter ihnen. Und mein Vater befahl mir, zu sagen, was es gäbe. Es war ein freundlicher, gedämpfter Befehl, aber ein Befehl war es immerhin. Und er wurde ungeduldig, wenn ich nicht antwortete.
Maman kam nie in der Nacht –, oder doch, einmal kam sie. Ich hatte geschrieen und
geschrieen, und Mademoiselle war gekommen und Sieversen, die Haushälterin, und Georg,
der Kutscher; aber das hatte nichts genutzt. Und da hatten sie endlich den Wagen nach
den Eltern geschickt, die auf einem großen Balle waren, ich glaube beim Kronprinzen.
Und auf einmal hörte ich
Aber was lang war, das waren die Nachmittage in solchen Krankheiten. Am Morgen nach
der schlechten Nacht kam man immer in Schlaf, und wenn man erwachte und meinte, nun
wäre es wieder früh, so war es Nachmittag und blieb Nachmittag und hörte nicht auf
Nachmittag zu sein. Da lag man so in dem aufgeräumten
Wenn Maman mal eine halbe Stunde kam und Märchen vorlas (zum richtigen, langen Vorlesen war Sieversen da), so war das nicht um der Märchen willen. Denn wir waren einig darüber, daß wir Märchen nicht liebten. Wir hatten einen anderen Begriff vom Wunderbaren. Wir fanden, wenn alles mit natürlichen Dingen zuginge, so wäre das immer am wunderbarsten. Wir gaben nicht viel darauf, durch die Luft zu fliegen, die Feen enttäuschten uns, und von den Verwandlungen in etwas anderes erwarteten wir uns nur eine sehr oberflächliche Abwechslung. Aber wir lasen doch ein bißchen, um beschäftigt auszusehen; es war uns nicht angenehm, wenn irgend jemand eintrat, erst erklären zu müssen, was wir gerade taten; besonders Vater gegenüber waren wir von einer übertriebenen Deutlichkeit.
»Ich möchte wohl wissen, was aus Sophie geworden ist«, sagte Maman dann plötzlich bei solchen Erinnerungen.
Wenn ich das jetzt überdenke, kann ich mich wundern, daß ich aus der Welt dieser
Fieber doch immer wieder ganz zurückkam und mich hineinfand in das überaus gemeinsame
Leben, wo jeder im Gefühl unterstützt sein wollte, bei Bekanntem zu sein, und wo man
sich so vorsichtig im Verständlichen vertrug. Da wurde etwas erwartet, und es kam
oder es kam nicht, ein Drittes war ausgeschlossen. Da gab es Dinge, die traurig
waren, ein- für allemal, es gab angenehme Dinge und eine ganze Menge nebensächlicher.
Wurde aber einem eine Freude bereitet, so war es eine Freude, und er hatte sich
danach zu benehmen. Im Grunde war das alles sehr einfach, und wenn man es erst heraus
hatte, so machte es sich wie von selbst. In diese verabredeten Grenzen ging denn auch
alles hinein; die langen, gleichmäßigen Schulstunden, wenn draußen der Sommer war;
die Spaziergänge, von denen man französisch erzählen mußte; die Besuche, für die man
hereingerufen wurde und die einen drollig fanden, wenn man gerade traurig war, und
sich an einem belustigten wie an dem betrübten Gesicht gewisser Vögel, die kein
anderes haben. Und die Geburtstage natürlich, zu denen man Kinder eingeladen bekam,
die man kaum kannte, verlegene Kinder, die einen verlegen machten, oder dreiste, die
einem
Mademoiselle hatte zuzeiten ihre Migräne, die ungemein heftig auftrat, und das waren
die Tage, an denen ich schwer zu finden war. Ich weiß, der Kutscher wurde dann in den
Park geschickt, wenn es Vater einfiel, nach mir zu fragen, und ich war nicht da. Ich
konnte oben von einem der Gastzimmer aus sehen, wie er hinauslief und am Anfang der
langen Allee nach mir rief. Diese Gastzimmer befanden sich, eines neben dem anderen,
im Giebel von Ulsgaard und standen, da wir in dieser Zeit sehr selten Hausbesuch
hatten, fast immer leer. Anschließend an sie aber war jener große Eckraum, der eine
so starke Verlockung für mich hatte. Es war nichts darin zu finden als eine alte
Büste, die, ich glaube, den Admiral Juel darstellte, aber die Wände waren ringsum mit
tiefen, grauen Wandschränken verschalt, derart, daß sogar das Fenster erst über den
Schränken angebracht war in der leeren, geweißten Wand. Den Schlüssel hatte ich an
einer der Schranktüren entdeckt, und er schloß alle anderen. So hatte ich in kurzem
alles untersucht: die Kammerherrenfräcke aus dem achtzehnten Jahrhundert, die ganz
kalt waren von den eingewebten Silberfaden, und die schön gestickten Westen
Niemand wird es verwunderlich finden, daß ich das alles herauszog und ins Licht
neigte; daß ich das und jenes an mich hielt oder umnahm; daß ich ein Kostüm, welches
etwa passen konnte, hastig anzog und darin, neugierig und aufgeregt, in das nächste
Fremdenzimmer lief, vor den schmalen Pfeilerspiegel, der aus einzelnen ungleich
grünen Glasstücken zusammengesetzt war. Ach, wie man zitterte, drin zu sein, und wie
hinreißend war es, wenn man es war. Wenn da etwas aus dem Trüben heraus sich näherte,
langsamer als man selbst, denn der Spiegel glaubte es gleichsam nicht und wollte,
schläfrig wie er war, nicht gleich nachsprechen, was man ihm vorsagte. Aber
schließlich mußte er natürlich. Und nun war es etwas sehr Überraschendes, Fremdes,
ganz anders, als man es sich gedacht hatte, etwas Plötzliches, Selbständiges, das man
rasch überblickte, um sich im nächsten Augenblick doch zu erkennen, nicht ohne eine
gewisse Ironie, die um ein Haar
Ich lernte damals den Einfluß kennen, der unmittelbar von einer bestimmten Tracht
ausgehen kann. Kaum hatte ich einen dieser Anzüge angelegt, mußte ich mir
eingestehen, daß er mich in seine Macht bekam; daß er mir meine Bewegungen, meinen
Gesichtsausdruck, ja sogar meine Einfälle vorschrieb; meine Hand, über die die
Spitzenmanschette fiel und wieder fiel, war durchaus nicht meine gewöhnliche Hand;
sie bewegte sich wie ein Akteur, ja, ich möchte sagen, sie sah sich selber zu, so
übertrieben das auch klingt. Diese Verstellungen gingen indessen nie so weit, daß ich
mich mir selber entfremdet fühlte; im Gegenteil, je vielfältiger ich mich abwandelte,
desto überzeugter wurde ich von mir selbst. Ich wurde kühner und kühner; ich warf
mich immer höher; denn meine Geschicklichkeit im Auffangen war über allen Zweifel.
Ich merkte nicht die Versuchung in dieser rasch wachsenden Sicherheit. Zu meinem
Verhängnis fehlte nur noch, daß der letzte Schrank, den ich bisher meinte nicht
öffnen zu können, eines Tages nachgab, um mir; statt bestimmter Trachten, allerhand
vages Maskenzeug auszuliefern, dessen phantastisches Ungefähr mir das Blut in die
Wangen trieb. Es läßt sich nicht aufzählen, was da alles war. Außer einer Bautta,
deren ich mich entsinne, gab es Dominos in
Das war nun wirklich großartig, über alle Erwartung. Der Spiegel gab es auch
augenblicklich wieder, es war zu überzeugend. Es wäre gar nicht nötig gewesen, sich
viel zu bewegen; diese Erscheinung war vollkommen, auch wenn sie nichts tat. Aber es
galt zu erfahren, was ich eigentlich sei, und so drehte ich mich ein wenig und erhob
schließlich die beiden Arme: große, gleichsam beschwörende Bewegungen, das war, wie
ich schon merkte, das einzig Richtige. Doch gerade in diesem feierlichen Moment
vernahm ich, gedämpft durch meine Vermummung, ganz in meiner Nähe einen vielfach
zusammengesetzten Lärm; sehr erschreckt, verlor ich das Wesen da drüben aus den Augen
und war arg verstimmt, zu gewahren, daß ich einen kleinen, runden Tisch umgeworfen
hatte mit weiß der Himmel was für, wahrscheinlich
Heiß und zornig stürzte ich vor den Spiegel und sah mühsam durch die Maske durch, wie
meine Hände arbeiteten. Aber darauf hatte er nur gewartet. Der Augenblick
Ich rannte davon, aber nun war er es, der rannte. Er stieß überall an, er kannte das
Haus nicht, er wußte nicht wohin; er geriet eine Treppe hinunter, er fiel auf dem
Gange über eine Person her, die sich schreiend freimachte. Eine Tür ging auf, es
traten mehrere Menschen heraus: Ach, ach, was war das gut, sie zu kennen. Das war
Sieversen, die gute Sieversen, und das Hausmädchen und der Silberdiener: nun mußte es
sich entscheiden. Aber sie sprangen nicht herzu und retteten; ihre Grausamkeit war
ohne Grenzen. Sie standen da und lachten, mein Gott, sie konnten dastehn und lachen.
Ich weinte, aber die Maske ließ die Tränen nicht hinaus, sie rannen innen über mein
Gesicht und trockneten gleich und rannen wieder und trockneten. Und endlich
Sieversen erzählte bis an ihr Ende, wie ich umgesunken wäre und wie sie immer noch weitergelacht hätten in der Meinung, das gehöre dazu. Sie waren es so gewöhnt bei mir. Aber dann wäre ich doch immerzu liegengeblieben und hätte nicht geantwortet. Und der Schrecken, als sie endlich entdeckten, daß ich ohne Besinnung sei und dalag wie ein Stück in allen den Tüchern, rein wie ein Stück.
Die Zeit ging unberechenbar schnell, und auf einmal war es schon wieder so weit, daß
der Prediger Dr. Jespersen geladen werden mußte. Das war dann für alle Teile ein
mühsames und langwieriges Frühstück. Gewohnt an die sehr fromme Nachbarschaft, die
sich jedesmal ganz auflöste um seinetwillen, war er bei uns durchaus nicht an seinem
Platz; er lag sozusagen auf dem Land und schnappte. Die Kiemenatmung, die er an sich
ausgebildet hatte, ging beschwerlich vor sich, es bildeten sich Blasen, und das Ganze
war nicht ohne Gefahr. Gesprächsstoff war, wenn man genau sein will, überhaupt keiner
da; es wurden Reste veräußert zu unglaublichen Preisen, es war eine Liquidation aller
Bestände. Dr. Jespersen mußte sich bei uns darauf beschränken, eine Art von
Privatmann zu sein; das gerade aber war er nie gewesen. Er war, soweit er denken
konnte, im Seelenfach angestellt. Die Seele war eine öffentliche
Im Manuskript an den Rand geschrieben.(Was übrigens meinen Vater betraf, so war
seine Haltung Gott gegenüber vollkommen korrekt und von tadelloser Höflichkeit. In
der Kirche schien es mir manchmal, als wäre er geradezu Jägermeister bei Gott, wenn
er dastand und abwartete und sich verneigte. Maman dagegen erschien es fast
verletzend, daß jemand zu Gott in einem höflichen Verhältnis stehen konnte. Wäre sie
in eine Religion mit deutlichen und ausführlichen Gebräuchen geraten, es wäre eine
Seligkeit für sie gewesen, stundenlang zu knien und sich hinzuwerfen und sich recht
mit dem großen Kreuz zu gebärden vor der Brust und um die Schultern herum. Sie lehrte
mich nicht eigentlich beten, aber es war ihr eine Beruhigung, daß ich gerne kniete
und die Hände bald gekrümmt und bald aufrecht faltete, wie es mir gerade
ausdrucksvoller schien. Ziemlich in Ruhe gelassen, machte ich frühzeitig eine Reihe
von Entwickelungen durch, die ich erst viel später in einer Zeit der Verzweiflung auf
Gott bezog, und zwar mit solcher Heftigkeit, daß er sich bildete und zersprang, fast
in demselben Augenblick. Es ist klar, daß ich ganz von vorn anfangen mußte hernach.
Und bei diesem Anfang meinte ich manchmal, Maman nötig zu haben, obwohl es ja
natürlich richtiger war, ihn allein durchzumachen. Und da war sie ja auch schon lange
tot.)
Er kam auch zu ihr bei dieser Gelegenheit, aber sie hat ihn sicher nicht mehr gesehen. Ihre Sinne gingen ein, einer nach dem andern, zuerst das Gesicht. Es war im Herbst, man sollte schon in die Stadt ziehen, aber da erkrankte sie gerade, oder vielmehr, sie fing gleich an zu sterben, langsam und trostlos abzusterben an der ganzen Oberfläche. Die Ärzte kamen, und an einem bestimmten Tag waren sie alle zusammen da und beherrschten das ganze Haus. Es war ein paar Stunden lang, als gehörte es nun dem Geheimrat und seinen Assistenten und als hätten wir nichts mehr zu sagen. Aber gleich danach verloren sie alles Interesse, kamen nur noch einzeln, wie aus purer Höflichkeit, um eine Zigarre anzunehmen und ein Glas Portwein. Und Maman starb indessen.
Man wartete nur noch auf Mamans einzigen Bruder, den Grafen Christian Brahe, der, wie
man sich noch erinnern wird, eine Zeitlang in türkischen Diensten gestanden hatte, wo
er, wie es immer hieß, sehr ausgezeichnet worden war. Er kam eines Morgens an in
Begleitung eines fremdartigen Dieners, und es überraschte mich, zu sehen, daß er
größer war als Vater und scheinbar auch älter. Die beiden Herren wechselten sofort
Mehrere Jahre später erst hörte ich wieder von dem Grafen Christian reden. Es war auf Urnekloster, und Mathilde Brahe war es, die mit Vorliebe von ihm sprach. Ich bin indessen sicher, daß sie die einzelnen Episoden ziemlich eigenmächtig ausgestaltete, denn das Leben meines Onkels, von dem immer nur Gerüchte in die Öffentlichkeit und selbst in die Familie drangen, Gerüchte, die er nie widerlegte, war geradezu grenzenlos auslegbar. Urnekloster ist jetzt in seinem Besitz. Aber niemand weiß, ob er es bewohnt. Vielleicht reist er immer noch, wie es seine Gewohnheit war; vielleicht ist die Nachricht seines Todes aus irgendeinem äußersten Erdteil unterwegs, von der Hand des fremden Dieners geschrieben in schlechtem Englisch oder in irgendeiner unbekannten Sprache. Vielleicht auch giebt dieser Mensch kein Zeichen von sich, wenn er eines Tages allein zurückbleibt. Viel leicht sind sie beide längst verschwunden und stehen nur noch auf der Schiffsliste eines verschollenen Schiffes unter Namen, die nicht die ihren waren.
Freilich, wenn damals auf Urnekloster ein Wagen einfuhr, so erwartete ich immer, ihn
eintreten zu sehen, und mein Herz klopfte auf eine besondere Art. Mathilde
Als indessen bald darauf mein Interesse umschlug und infolge gewisser Begebenheiten ganz auf Christine Brahe überging, bemühte ich mich eigentümlicherweise nicht, etwas von ihren Lebensumständen zu erfahren. Dagegen beunruhigte mich der Gedanke, ob ihr Bildnis wohl in der Galerie vorhanden sei. Und der Wunsch, das festzustellen, nahm so einseitig und quälend zu, daß ich mehrere Nächte nicht schlief, bis, ganz unvermutet, diejenige da war, in der ich, weiß Gott, aufstand und hinaufging mit meinem Licht, das sich zu fürchten schien.
Was mich angeht, so dachte ich nicht an Furcht. Ich dachte überhaupt nicht; ich ging. Die hohen Türen gaben so spielend nach vor mir und über mir, die Zimmer, durch die ich kam, hielten sich ruhig. Und endlich merkte ich an der Tiefe, die mich anwehte, daß ich in die Galerie getreten sei. Ich fühlte auf der rechten Seite die Fenster mit der Nacht, und links mußten die Bilder sein. Ich hob mein Licht so hoch ich konnte. Ja: da waren die Bilder.
Erst nahm ich mit vor, nur nach den Frauen zu sehen, aber dann erkannte ich eines und
ein anderes, das ähnlich in Ulsgaard hing, und wenn ich sie so von unten beschien, so
rührten sie sich und wollten ans Licht, und
Aber dann waren viele da, die ich nie gesehen hatte; wenige Frauen, aber es waren Kinder da. Mein Arm war längst müde geworden und zitterte, aber ich hob doch immer wieder das Licht, um die Kinder zu sehen.
Ich begriff sie, diese kleinen Mädchen, die einen Vogel auf der Hand trugen und ihn vergaßen. Manchmal saß ein kleiner Hund bei ihnen unten, ein Ball lag da, und auf dem Tisch nebenan gab es Früchte und Blumen; und dahinter an der Säule hing, klein und vorläufig, das Wappen der Grubbe oder der Bille oder der Rosenkrantz. So viel hatte man um sie zusammengetragen, als ob eine Menge gutzumachen wäre. Sie aber standen einfach in ihren Kleidern und warteten; man sah, daß sie warteten. Und da mußte ich wieder an die Frauen denken und an Christine Brahe, und ob ich sie erkennen würde.
Ich wollte rasch bis ganz ans Ende laufen und von dort zurückgehen und suchen, aber da stieß ich an etwas. Ich drehte mich so jäh herum, daß der kleine Erik zurücksprang und flüsterte: »Gieb acht mit deinem Licht.«
»Du bist da?« sagte ich atemlos, und ich war nicht im klaren, ob das gut sei oder
ganz und gar schlimm. Er lachte nur, und ich wußte nicht, was weiter. Mein Licht
flackerte, und ich konnte den Ausdruck seines Gesichts nicht recht erkennen. Es war
doch wohl schlimm, daß er da war. Aber da sagte er, indem er näher kam: »Ihr Bild ist
nicht da, wir suchen es immer noch oben.« Mit seiner halben Stimme und dem einen
beweglichen Auge
»Wir?« fragte ich, »ist sie denn oben?«
»Ja«, nickte er und stand dicht neben mir.
»Sie sucht selber mit?«
»Ja, wir suchen.«
»Man hat es also fortgestellt, das Bild?«
»Ja, denk nur«, sagte er empört. Aber ich begriff nicht recht, was sie damit wollte.
»Sie will sich sehen«, flüsterte er ganz nah.
»Ja so«, machte ich, als ob ich verstünde. Da blies er mir das Licht aus. Ich sah, wie er sich vorstreckte, ins Helle hinein, mit ganz hochgezogenen Augenbrauen. Dann wars dunkel. Ich trat unwillkürlich zurück.
»Was machst du denn?« rief ich unterdrückt und war ganz trocken im Halse. Er sprang mir nach und hängte sich an meinen Arm und kicherte.
»Was denn?« fuhr ich ihn an und wollte ihn abschütteln, aber er hing fest. Ich konnte es nicht hindern, daß er den Arm um meinen Hals legte.
»Soll ich es sagen?« zischte er, und ein wenig Speichel spritzte mir ans Ohr.
»Ja, ja, schnell.«
Ich wußte nicht, was ich redete. Er umarmte mich nun völlig und streckte sich dabei.
»Ich hab ihr einen Spiegel gebracht«, sagte er und kicherte wieder.
»Einen Spiegel?«
»Ja, weil doch das Bild nicht da ist.«
Er zog mich auf einmal etwas weiter nach dem Fenster hin und kniff mich so scharf in den Oberarm, daß ich schrie.
»Sie ist nicht drin«, blies er mir ins Ohr.
Ich stieß ihn unwillkürlich von mir weg, etwas knackte an ihm, mir war, als hätte ich ihn zerbrochen.
»Geh, geh«, und jetzt mußte ich selber lachen, »nicht drin, wieso denn nicht drin?«
»Du bist dumm«, gab er böse zurück und flüsterte nicht mehr. Seine Stimme war umgeschlagen, als begänne er nun ein neues, noch ungebrauchtes Stück. »Man ist entweder drin «, diktierte er altklug und strenge, »dann ist man nicht hier; oder wenn man hier ist, kann man nicht drin sein.«
»Natürlich«, antwortete ich schnell, ohne nachzudenken. Ich hatte Angst, er könnte sonst fortgehen und mich allein lassen. Ich griff sogar nach ihm.
» Wollen wir Freunde sein?« schlug ich vor. Er ließ sich bitten. »Mir ists gleich«, sagte er keck.
Ich versuchte unsere Freundschaft zu beginnen, aber ich wagte nicht, ihn zu umarmen. »Lieber Erik«, brachte ich nur heraus und rührte ihn irgendwo ein bißchen an. Ich war auf einmal sehr müde. Ich sah mich um; ich verstand nicht mehr, wie ich hierher gekommen war und daß ich mich nicht gefürchtet hatte. Ich wußte nicht recht, wo die Fenster waren und wo die Bilder. Und als wir gingen, mußte er mich führen.
»Sie tun dir nichts«, versicherte er großmütig und kicherte wieder.
Ob er dich gesehen hat, wie ich dich seh? Du trugst einen Anzug von heliotropfarbenem Samt. Mathilde Brahe schwärmte für diesen Anzug. Aber das ist nun gleichgültig. Nur ob er dich gesehen hat, möchte ich wissen. Nehmen wir an, daß es ein wirklicher Maler war. Nehmen wir an, daß er nicht daran dachte, daß du sterben könntest, ehe er fertig würde; daß er die Sache gar nicht sentimental ansah; daß er einfach arbeitete. Daß die Ungleichheit deiner beiden braunen Augen ihn entzückte; daß er keinen Moment sich schämte für das unbewegliche; daß er den Takt hatte, nichts hinzuzulegen auf den Tisch zu deiner Hand, die sich vielleicht ein wenig stützte –. Nehmen wir sonst noch alles Nötige an und lassen es gelten: so ist ein Bild da, dein Bild, in der Galerie auf Urnekloster das letzte.
(Und wenn man geht, und man hat sie alle gesehen, so ist da noch ein Knabe. Einen
Augenblick: wer ist das? Ein Brahe. Siehst du den silbernen Pfahl im schwarzen Feld
und die Pfauenfedern? Da steht auch der Name: Erik Brahe. War das nicht ein Erik
Brahe, der hingerichtet
Wenn Besuch da war und Erik wurde gerufen, so versicherte das Fräulein Mathilde Brahe jedesmal, es sei geradezu unglaublich, wie sehr er der alten Gräfin Brahe gliche, meiner Großmutter. Sie soll eine sehr große Dame gewesen sein. Ich habe sie nicht gekannt. Dagegen erinnere ich mich sehr gut an die Mutter meines Vaters, die eigentliche Herrin auf Ulsgaard. Das war sie wohl immer geblieben, wie sehr sie es auch Maman übelnahm, daß sie als des Jägermeisters Frau ins Haus gekommen war. Seither tat sie beständig, als zöge sie sich zurück, und schickte die Dienstleute mit jeder Kleinigkeit weiter zu Maman hinein, während sie in wichtigen Angelegenheiten ruhig entschied und verfügte, ohne irgend jemandem Rechenschaft abzulegen. Maman, glaube ich, wünschte es gar nicht anders. Sie war so wenig gemacht, ein großes Haus zu übersehen, ihr fehlte völlig die Einteilung der Dinge in nebensächliche und wichtige. Alles, wovon man ihr sprach, schien ihr immer das Ganze zu sein, und sie vergaß darüber das andere, das doch auch noch da war. Sie beklagte sich nie über ihre Schwiegermutter. Und bei wem hätte sie sich auch beklagen sollen? Vater war ein äußerst respektvoller Sohn, und Großvater hatte wenig zu sagen.
Frau Margarete Brigge war immer schon, soweit ich denken kann, eine hochgewachsene,
unzugängliche
Er hatte bei Tische ein einziges Mal die seinige seiner Gemahlin gegenüber
aufrechterhalten. Das war lange her; aber die Geschichte wurde doch noch boshaft und
heimlich weitergegeben; es gab fast überall jemanden, der sie noch nicht gehört
hatte. Es hieß, daß die Kammerherrin zu einer gewissen Zeit sich sehr über Weinflecke
ereifern konnte, die durch Ungeschicklichkeit ins Tischzeug gerieten; daß ein solcher
Fleck, bei welchem Anlaß er auch passieren mochte, von ihr bemerkt und unter dem
heftigsten Tadel sozusagen bloßgestellt wurde. Dazu wäre es auch einmal gekommen, als
man mehrere und namhafte Gäste hatte. Ein paar unschuldige Flecke, die sie übertrieb,
wurden der Gegenstand ihrer höhnischen Anschuldigungen, und wie sehr der Großvater
sich auch bemühte, sie durch kleine Zeichen und scherzhafte Zurufe zu ermahnen, so
wäre sie doch eigensinnig bei ihren Vorwürfen geblieben, die sie dann allerdings
mitten im Satze stehen lassen mußte. Es geschah nämlich etwas nie Dagewesenes und
völlig Unbegreifliches.
Später gewann eine andere Eigenheit die Oberhand bei meiner Großmutter. Sie konnte es nicht ertragen, daß jemand im Hause erkrankte. Einmal, als die Köchin sich verletzt hatte und sie sah sie zufällig mit der eingebundenen Hand, behauptete sie, das Jodoform im ganzen Hause zu riechen, und war schwer zu überzeugen, daß man die Person daraufhin nicht entlassen könne. Sie wollte nicht an das Kranksein erinnert werden. Hatte jemand die Unvorsichtigkeit, vor ihr irgendein kleines Unbehagen zu äußern, so war das nichts anderes als eine persönliche Kränkung für sie, und sie trug sie ihm lange nach.
In jenem Herbst, als Maman starb, schloß sich die Kammerherrin mit Sophie Oxe ganz in
ihren Zimmern ein und brach allen Verkehr mit uns ab. Nicht einmal ihr Sohn wurde
angenommen. Es ist ja wahr, dieses Sterben fiel recht unpassend. Die Zimmer waren
kalt, die Öfen rauchten, und die Mäuse waren ins Haus gedrungen; man war nirgends
sicher vor ihnen. Aber das
Mamans Tod verzieh sie uns niemals ganz. Sie alterte übrigens rasch während des folgenden Winters. Im Gehen war sie immer noch hoch, aber im Sessel sank sie zusammen, und ihr Gehör wurde schwieriger. Man konnte sitzen und sie groß ansehen, stundenlang, sie fühlte es nicht. Sie war irgendwo drinnen; sie kam nur noch selten und nur für Augenblicke in ihre Sinne, die leer waren, die sie nicht mehr bewohnte. Dann sagte sie etwas zu der Komtesse, die ihr die Mantille richtete, und nahm mit den großen, frisch gewaschenen Händen ihr Kleid an sich, als wäre Wasser vergossen oder als wären wir nicht ganz reinlich.
Sie starb gegen den Frühling zu, in der Stadt, eines Nachts. Sophie Oxe, deren Tür offenstand, hatte nichts gehört. Da man sie am Morgen fand, war sie kalt wie Glas.
Gleich darauf begann des Kammerherrn große und schreckliche Krankheit. Es war, als hätte er ihr Ende abgewartet, um so rücksichtslos sterben zu können, wie er mußte.
Übrigens hatte Abelone ein Gutes: sie sang. Das heißt, es gab Zeiten, wo sie sang. Es
war eine starke, unbeirrbare Musik in ihr. Wenn es wahr ist, daß die Engel männlich
sind, so kann man wohl sagen, daß etwas Männliches in ihrer Stimme war: eine
strahlende, himmlische Männlichkeit. Ich, der ich schon als Kind der Musik gegenüber
so mißtrauisch war (nicht, weil sie mich stärker als alles forthob aus mir, sondern,
weil ich gemerkt hatte, daß sie mich nicht wieder dort ablegte, wo sie mich gefunden
hatte, sondern tiefer, irgendwo ganz ins Unfertige hinein), ich ertrug diese Musik,
auf der man aufrecht aufwärtssteigen konnte, höher und
Zunächst bestand unsere Beziehung darin, daß sie mir von Mamans Mädchenzeit erzählte. Sie hielt viel darauf, mich zu überzeugen, wie mutig und jung Maman gewesen wäre. Es gab damals niemanden nach ihrer Versicherung, der sich im Tanzen oder im Reiten mit ihr messen konnte. »Sie war die Kühnste und unermüdlich, und dann heiratete sie auf einmal«, sagte Abelone, immer noch erstaunt nach so vielen Jahren. »Es kam so unerwartet, niemand konnte es recht begreifen.«
Ich interessierte mich dafür, weshalb Abelone nicht geheiratet hatte. Sie kam mir alt vor verhältnismäßig, und daß sie es noch könnte, daran dachte ich nicht.
»Es war niemand da«, antwortete sie einfach und wurde richtig schön dabei. Ist
Abelone schön? fragte ich mich überrascht. Dann kam ich fort von Hause, auf die
Adels-Akademie, und es begann eine widerliche und arge Zeit. Aber wenn ich dort zu
Sorö, abseits von den andern, im Fenster stand, und sie ließen mich ein wenig in Ruh,
so sah ich hinaus in die Bäume, und in solchen Augenblicken und nachts wuchs in mir
die Sicherheit, daß Abelone schön sei. Und ich fing an, ihr alle jene Briefe zu
schreiben, lange und kurze, viele heimliche Briefe, darin ich von Ulsgaard zu handeln
meinte und davon, daß ich unglücklich sei. Aber es werden doch wohl, so wie ich es
jetzt sehe, Liebesbriefe gewesen sein. Denn schließlich kamen die Ferien, die erst
gar nicht
Es war durchaus nichts vereinbart zwischen uns, aber da der Wagen einbog in den Park, konnte ich es nicht lassen, auszusteigen, vielleicht nur, weil ich nicht anfahren wollte, wie irgendein Fremder. Es war schon voller Sommer. Ich lief in einen der Wege hinein und auf einen Goldregen zu. Und da war Abelone. Schöne, schöne Abelone.
Ich wills nie vergessen, wie das war, wenn du mich anschautest. Wie du dein Schauen trugst, gleichsam wie etwas nicht Befestigtes es aufhaltend auf zurückgeneigtem Gesicht.
Ach, ob das Klima sich gar nicht verändert hat? Ob es nicht milder geworden ist um Ulsgaard herum von all unserer Wärme? Ob einzelne Rosen nicht länger blühen jetzt im Park, bis in den Dezember hinein?
Ich will nichts erzählen von dir, Abelone. Nicht deshalb, weil wir einander täuschten: weil du Einen liebtest, auch damals, den du nie vergessen hast, Liebende, und ich: alle Frauen; sondern weil mit dem Sagen nur unrecht geschieht.
Es giebt Teppiche hier, Abelone, Wandteppiche. Ich bilde mir ein, du bist da, sechs
Teppiche sinds, komm, laß uns langsam vorübergehen. Aber erst tritt zurück und sieh
alle zugleich. Wie ruhig sie sind, nicht? Es ist wenig Abwechslung darin. Da ist
immer diese ovale blaue Insel, schwebend im zurückhaltend roten Grund, der blumig ist
und von kleinen, mit sich beschäftigten
Sie füttert den Falken. Wie herrlich ihr Anzug ist. Der Vogel ist auf der gekleideten Hand und rührt sich. Sie sieht ihm zu und langt dabei in die Schale, die ihr die Dienerin bringt, um ihm etwas zu reichen. Rechts unten auf der Schleppe hält sich ein kleiner, seidenhaariger Hund, der aufsieht und hofft, man werde sich seiner erinnern. Und, hast du bemerkt, ein niederes Rosengitter schließt hinten die Insel ab. Die Wappentiere steigen heraldisch hochmütig. Das Wappen ist ihnen noch einmal als Mantel umgegeben. Eine schöne Agraffe hält es zusammen. Es weht.
Geht man nicht unwillkürlich leiser zu dem nächsten Teppich hin, sobald man gewahrt, wie versunken sie ist: sie bindet einen Kranz, eine kleine, runde Krone aus Blumen. Nachdenklich wählt sie die Farbe der nächsten Nelke in dem flachen Becken, das ihr die Dienerin hält, während sie die vorige anreiht. Hinten auf einer Bank steht unbenutzt ein Korb voller Rosen, den ein Affe entdeckt hat. Diesmal sollten es Nelken sein.
Mußte nicht Musik kommen in diese Stille, war sie nicht schon verhalten da? Schwer und still geschmückt, ist sie (wie langsam, nicht?) an die tragbare Orgel getreten und spielt, stehend, durch das Pfeifenwerk abgetrennt von der Dienerin, die jenseits die Bälge bewegt. So schön war sie noch nie. Wunderlich ist das Haar in zwei Flechten nach vorn genommen und über dem Kopfputz oben zusammengefaßt, so daß es mit seinen Enden aus dem Bund aufsteigt wie ein kurzer Helmbusch. Verstimmt erträgt der Löwe die Töne, ungern, Geheul verbeißend. Das Einhorn aber ist schön, wie in Wellen bewegt.
Die Insel wird breit. Ein Zelt ist errichtet. Aus blauem Damast und goldgeflammt. Die Tiere raffen es auf, und schlicht beinah in ihrem fürstlichen Kleid tritt sie vor. Denn was sind ihre Perlen gegen sie selbst. Die Dienerin hat eine kleine Truhe geöffnet, und sie hebt nun eine Kette heraus, ein schweres, herrliches Kleinod, das immer verschlossen war. Der kleine Hund sitzt bei ihr, erhöht, auf bereitetem Platz und sieht es an. Und hast du den Spruch entdeckt auf dem Zeltrand oben? da steht: »A mon seul désir.«
Was ist geschehen, warum springt das kleine Kaninchen da unten, warum sieht man
gleich, daß es springt? Alles ist so befangen. Den Löwe hat nichts zu tun. Sie selbst
hält das Banner. Oder hält sie sich dran? Sie hat mit der anderen Hand nach dem Horn
des Einhorns gefaßt. Ist das Trauer, kann Trauer so aufrecht sein,
Aber es kommt noch ein Fest, niemand ist geladen dazu. Erwartung spielt dabei keine Rolle. Es ist alles da. Alles für immer. Der Löwe sieht sich fast drohend um: es darf niemand kommen. Wir haben sie noch nie müde gesehen; ist sie müde? oder hat sie sich nur niedergelassen, weil sie etwas Schweres hält? Man könnte meinen, eine Monstranz. Aber sie neigt den andern Arm gegen das Einhorn hin, und das Tier bäumt sich geschmeichelt auf und steigt und stützt sich auf ihren Schooß. Es ist ein Spiegel, was sie hält. Siehst du: sie zeigt dem Einhorn sein Bild –.
Abelone, ich bilde mir ein, du bist da. Begreifst du, Abelone? Ich denke, du mußt begreifen.
Junge Mädchen allerdings findet man zuweilen davor. Denn es giebt eine Menge junger Mädchen in den Museen, die fortgegangen sind irgendwo aus den Häusern, die nichts mehr behalten. Sie finden sich vor diesen Teppichen und vergessen sich ein wenig. Sie haben immer gefühlt, daß es dies gegeben hat, solch ein leises Leben langsamer, nie ganz aufgeklärter Gebärden, und sie erinnern sich dunkel, daß sie sogar eine Zeitlang meinten, es würde ihr Leben sein. Aber dann ziehen sie rasch ein Heft hervor und beginnen zu zeichnen, gleichviel was, eine von den Blumen oder ein kleines, vergnügtes Tier.
Es läßt sich ja nicht vermeiden, daß man während des Zeichnens zuweilen überlegt, ob
es nicht doch möglich gewesen wäre zu bleiben. Wenn man hätte fromm sein können,
herzhaft fromm im gleichen Tempo mit den andern. Aber das nahm sich so unsinnig aus,
das gemeinsam zu versuchen. Der Weg ist irgendwie enger geworden: Familien können
nicht mehr zu Gott. Es blieben also nur verschiedene andere Dinge, die man zur Not
teilen konnte. Da kam dann aber, wenn man ehrlich teilte, so wenig auf den einzelnen,
daß es eine Schande war. Und betrog man beim Teilen, so entstanden
Auseinandersetzungen. Nein, es ist wirklich besser zu zeichnen,
Und über der angestrengten Beschäftigung mit dem, was sie sich vorgenommen haben, diese jungen Mädchen, kommen sie nicht mehr dazu, aufzusehen. Sie merken nicht, wie sie bei allem Zeichnen doch nichts tun, als das unabänderliche Leben in sich unterdrücken, das in diesen gewebten Bildern strahlend vor ihnen aufgeschlagen ist in seiner unendlichen Unsäglichkeit. Sie wollen es nicht glauben. Jetzt, da so vieles anders wird, wollen sie sich verändern. Sie sind ganz nahe daran, sich aufzugeben und so von sich zu denken, wie Männer etwa von ihnen reden könnten, wenn sie nicht da sind. Das scheint ihnen ihr Fortschritt. Sie sind fast schon überzeugt, daß man einen Genuß sucht und wieder einen und einen noch stärkeren Genuß: daß darin das Leben besteht, wenn man es nicht auf eine albere Art verlieren will. Sie haben schon angefangen, sich umzusehen, zu suchen; sie, deren Stärke immer darin bestanden hat, gefunden zu werden.
Das kommt, glaube ich, weil sie müde sind. Sie haben Jahrhunderte lang die ganze
Liebe geleistet, sie haben immer den vollen Dialog gespielt, beide Teile. Denn der
Mann hat nur nachgesprochen und schlecht. Und hat ihnen das Erlernen schwer gemacht
mit seiner Zerstreutheit, mit seiner Nachlässigkeit, mit seiner Eifersucht, die auch
eine Art Nachlässigkeit war. Und sie haben trotzdem ausgeharrt Tag und Nacht und
haben zugenommen an Liebe und Elend. Und aus ihnen sind, unter
Nun weiß ich auch, wie es war, wenn Maman die kleinen Spitzenstücke aufrollte. Sie hatte nämlich ein einziges von den Schubfächern in Ingeborgs Sekretär für sich in Gebrauch genommen.
»Wollen wir sie sehen, Malte«, sagte sie und freute sich, als sollte sie eben alles
geschenkt bekommen, was in der kleinen gelblackierten Lade war. Und dann konnte sie
vor lauter Erwartung das Seidenpapier gar nicht auseinanderschlagen. Ich mußte es tun
jedesmal. Aber ich wurde auch ganz aufgeregt, wenn die Spitzen zum Vorschein kamen.
Sie waren aufgewunden um eine Holzwelle, die gar nicht zu sehen war vor lauter
Spitzen. Und nun wickelten wir sie langsam ab und sahen den
Da kamen erst Kanten italienischer Arbeit, zähe Stücke mit ausgezogenen Fäden, in denen sich alles immerzu wiederholte, deutlich wie in einem Bauerngarten. Dann war auf einmal eine ganze Reihe unserer Blicke vergittert mit venezianischer Nadelspitze, als ob wir Klöster wären oder Gefängnisse. Aber es wurde wieder frei, und man sah weit in Gärten hinein, die immer künstlicher wurden, bis es dicht und lau an den Augen war wie in einem Treibhaus: prunkvolle Pflanzen, die wir nicht kannten, schlugen riesige Blätter auf, Ranken griffen nacheinander, als ob ihnen schwindelte, und die großen offenen Blüten der Points d'Alençon trübten alles mit ihren Pollen. Plötzlich, ganz müde und wirr, trat man hinaus in die lange Bahn der Valenciennes, und es war Winter und früh am Tag und Reif. Und man drängte sich durch das verschneite Gebüsch der Binche und kam an Plätze, wo noch keiner gegangen war; die Zweige hingen so merkwürdig abwärts, es konnte wohl ein Grab darunter sein, aber das verbargen wir voreinander. Die Kälte drang immer dichter an uns heran, und schließlich sagte Maman, wenn die kleinen, ganz feinen Klöppelspitzen kamen: »Oh, jetzt bekommen wir Eisblumen an den Augen«, und so war es auch, denn es war innen sehr warm in uns.
Über dem Wiederaufrollen seufzten wir beide, das war eine lange Arbeit, aber wir mochten es niemandem überlassen.
»Die sind gewiß in den Himmel gekommen, die das gemacht haben«, meinte ich bewundernd. Ich erinnere, es fiel mir auf, daß ich lange nicht nach dem Himmel gefragt hatte. Maman atmete auf, die Spitzen waren wieder beisammen.
Nach einer Weile, als ich es schon wieder vergessen hatte, sagte sie ganz langsam: »In den Himmel? Ich glaube, sie sind ganz und gar da drin. Wenn man das so sieht: das kann gut eine ewige Seligkeit sein. Man weiß ja so wenig darüber.«
Oft, wenn Besuch da war, hieß es, daß Schulins sich einschränkten. Das große, alte Schloß war abgebrannt vor ein paar Jahren, und nun wohnten sie in den beide engen Seitenflügeln und schränkten sich ein. Aber das Gästehaben lag ihnen nun einmal im Blut. Das konnten sie nicht aufgeben. Kam jemand unerwartet zu uns, so kam er wahrscheinlich von Schulins; und sah jemand plötzlich nach der Uhr und mußte ganz erschrocken fort, so wurde er sicher auf Lystager erwartet.
Maman ging eigentlich schon nirgends mehr hin, aber so etwas konnten Schulins nicht
begreifen; es blieb nichts übrig, man mußte einmal hinüberfahren. Es war im Dezember
nach ein paar frühen Schneefällen; der
An diesem Tag war es überhaupt nicht recht hell geworden. Die Bäume standen da, als wüßten sie nicht weiter im Nebel, und es hatte etwas Rechthaberisches, dahinein zu fahren. Zwischendurch fing es an, still weiterzuschneien, und nun wars, als würde auch noch das Letzte ausradiert und als führe man in ein weißes Blatt. Es gab nichts als das Geläut, und man konnte nicht sagen, wo es eigentlich war. Es kam ein Moment, da es einhielt, als wäre nun die letzte Schelle ausgegeben; aber dann sammelte es sich wieder und war beisammen und streute sich wieder aus dem Vollen aus. Den Kirchturm links konnte man sich eingebildet haben. Aber der Parkkontur war plötzlich da, hoch, beinahe über einem, und man befand sich in der langen Allee. Das Geläut fiel nicht mehr ganz ab; es war, als hängte es sich in Trauben rechts und links an die Bäume. Dann schwenkte man und fuhr rund um etwas herum und rechts an etwas vorbei und hielt in der Mitte.
»Aber es war doch eben ein Haus da«, sagte Maman und konnte sich gar nicht so rasch an Wjera Schulin gewöhnen, die warm und lachend herausgelaufen war. Nun mußte man natürlich schnell hinein, und an das Haus war nicht mehr zu denken. In einem engen Vorzimmer wurde man ausgezogen, und dann war man gleich mitten drin unter den Lampen und der Wärme gegenüber.
Diese Schulins waren ein mächtiges Geschlecht selbständiger Frauen. Ich weiß nicht,
ob es Söhne gab. Ich erinnere mich nur dreier Schwestern; der ältesten, die an einen
Marchese in Neapel verheiratet gewesen war, von dem sie sich nun langsam unter vielen
Prozessen schied. Dann kam Zoë, von der es hieß, daß es nichts gab, was sie nicht
wußte. Und vor allem war Wjera da, diese warme Wjera; Gott weiß, was aus ihr geworden
ist. Die Gräfin, eine Narischkin, war eigentlich die vierte Schwester und in gewisser
Beziehung die jüngste. Sie wußte von nichts und mußte in einem fort von ihren Kindern
unterrichtet werden. Und der gute Graf Schulin fühlte sich, als ob er mit allen
diesen Frauen verheiratet
Vor der Hand lachte er laut und begrüßte uns eingehend. Ich wurde unter den Frauen weitergegeben und befühlt und befragt. Aber ich hatte mir fest vorgenommen, wenn das vorüber sei, irgendwie hinauszugleiten und mich nach dem Haus umzusehen. Ich war überzeugt, daß es heute da sei. Das Hinauskommen war nicht so schwierig; zwischen allen den Kleidern kam man unten durch wie ein Hund, und die Tür nach dem Vorraum zu war noch angelehnt. Aber draußen die äußere wollte nicht nachgeben. Da waren mehrere Vorrichtungen, Ketten und Riegel, die ich nicht richtig behandelte in der Eile. Plötzlich ging sie doch auf, aber mit lautem Geräusch, und eh ich draußen war, wurde ich festgehalten und zurückgezogen.
»Halt, hier wird nicht ausgekniffen«, sagte Wjera Schulin belustigt. Sie beugte sich zu mir, und ich war entschlossen, dieser warmen Person nichts zu verraten. Sie aber, als ich nichts sagte, nahm ohne weiters an, eine Nötigung meiner Natur hätte mich an die Tür getrieben; sie ergriff meine Hand und fing schon an zu gehen und wollte mich, halb vertraulich, halb hochmütig, irgendwohin mitziehen. Dieses intime Mißverständnis kränkte mich über die Maßen. Ich riß mich los und sah sie böse an. »Das Haus will ich sehen«, sagte ich stolz. Sie begriff nicht.
»Das große Haus draußen an der Treppe.«
»Schaf«, machte sie und haschte nach mir, »da ist doch gar kein Haus mehr.« Ich bestand darauf.
Damit schob sie mich vor sich her wieder in die hellen Stuben. Da saßen sie alle und sprachen, und ich sah sie mir der Reihe nach an: die gehen natürlich nur hin, wenn es nicht da ist, dachte ich verächtlich; wenn Maman und ich hier wohnten, so wäre es immer da. Maman sah zerstreut aus, während alle zugleich redeten. Sie dachte gewiß an das Haus.
Zoë setzte sich zu mir und stellte mir Fragen. Sie hatte ein gutgeordnetes Gesicht, in dem sich das Einsehen von Zeit zu Zeit erneute, als sähe sie beständig etwas ein. Mein Vater saß etwas nach rechts geneigt und hörte der Marchesin zu, die lachte. Graf Schulin stand zwischen Maman und seiner Frau und erzählte etwas. Aber die Gräfin unterbrach ihn, sah ich, mitten im Satze.
»Nein, Kind, das bildest du dir ein«, sagte der Graf gutmütig, aber er hatte auf einmal dasselbe beunruhigte Gesicht, das er vorstreckte über den beiden Damen. Die Gräfin war von ihrer sogenannten Einbildung nicht abzubringen. Sie sah ganz angestrengt aus, wie jemand, der nicht gestört sein will. Sie machte kleine, abwinkende Bewegungen mit ihren weichen Ringhänden, jemand sagte »sst«, und es wurde plötzlich ganz still.
Hinter den Menschen drängten sich die großen Gegenstände aus dem alten Hause, viel zu
nah. Das schwere Familiensilber glänzte und wölbte sich, als sähe man es
»Mama riecht«, sagte Wjera Schulin hinter ihm, »da müssen wir immer alle still sein, sie riecht mit den Ohren«, dabei aber stand sie selbst mit hochgezogenen Augenbrauen da, aufmerksam und ganz Nase.
Die Schulins waren in dieser Beziehung ein bißchen eigen seit dem Brande. In den engen, überheizten Stuben kam jeden Augenblick ein Geruch auf, und dann untersuchte man ihn, und jeder gab seine Meinung ab. Zoë machte sich am Ofen zu tun, sachlich und gewissenhaft, der Graf ging umher und stand ein wenig in jeder Ecke und wartete; »hier ist es nicht«, sagte er dann. Die Gräfin war aufgestanden und wußte nicht, wo sie suchen sollte. Mein Vater drehte sich langsam um sich selbst, als hätte er den Geruch hinter sich. Die Marchesin, die sofort angenommen hatte, daß es ein garstiger Geruch sei, hielt ihr Taschentuch vor und sah von einem zum andern, ob es vorüber wäre. »Hier, hier«, rief Wjera von Zeit zu Zeit, als hätte sie ihn. Und um jedes Wort herum war es merkwürdig still. Was mich angeht, so hatte ich fleißig mitgerochen. Aber auf einmal (war es die Hitze in den Zimmern oder das viele nahe Licht) überfiel mich zum erstenmal in meinem Leben etwas wie Gespensterfurcht. Es wurde mir klar, daß alle die deutlichen großen Menschen, die eben noch gesprochen und gelacht hatten, gebückt herumgingen und sich mit etwas Unsichtbarem beschäftigten; daß sie zugaben, daß da etwas war, was sie nicht sahen. Und es war schrecklich, daß es stärker war als sie alle.
Meine Angst steigerte sich. Mir war, als könnte das, was sie suchten, plötzlich aus mir ausbrechen wie ein Ausschlag; und dann würden sie es sehen und nach mir zeigen. Ganz verzweifelt sah ich nach Maman hinüber. Sie saß eigentümlich gerade da, mir kam vor, daß sie auf mich wartete. Kaum war ich bei ihr und fühlte, daß sie innen zitterte, so wußte ich, daß das Haus jetzt erst wieder verging.
»Malte, Feigling«, lachte es irgendwo. Es war Wjeras Stimme. Aber wir ließen einander nicht los und ertrugen es zusammen; und wir blieben so, Maman und ich, bis das Haus wieder ganz vergangen war.
Am reichsten an beinah unfaßbaren Erfahrungen waren aber doch die Geburtstage. Man wußte ja schon, daß das Leben sich darin gefiel, keine Unterschiede zu machen; aber zu diesem Tage stand man mit einem Recht auf Freude auf, an dem nicht zu zweifeln war. Wahrscheinlich war das Gefühl dieses Rechts ganz früh in einem ausgebildet worden, zu der Zeit, da man nach allem greift und rein alles bekommt und da man die Dinge, die man gerade festhält, mit unbeirrbarer Einbildungskraft zu der grundfarbigen Intensität des gerade herrschenden Verlangens steigert.
Dann aber kommen auf einmal jene merkwürdigen Geburtstage, da man, im Bewußtsein
dieses Rechtes völlig befestigt, die anderen unsicher werden sieht. Man möchte wohl
noch wie früher angekleidet werden und dann alles Weitere entgegennehmen. Aber kaum
ist man wach, so ruft jemand draußen, die Torte sei
Das alles leistete man schließlich, wie es verlangt wurde,
Daß man erzählte, wirklich erzählte, das muß vor meiner Zeit gewesen sein. Ich habe nie jemanden erzählen hören. Damals, als Abelone mir von Mamans Jugend sprach, zeigte es sich, daß sie nicht erzählen könne. Der alte Graf Brahe soll es noch gekonnt haben. Ich will aufschreiben, was sie davon wußte.
Abelone muß als ganz junges Mädchen eine Zeit gehabt haben, da sie von einer eigenen,
weiten Bewegtheit war. Brahes wohnten damals in der Stadt, in der Bredgade, unter
ziemlicher Geselligkeit. Wenn sie abends spät hinauf in ihr Zimmer kam, so meinte sie
müde zu sein wie die anderen. Aber dann fühlte sie auf einmal das Fenster und, wenn
ich recht verstanden habe, so konnte sie vor der Nacht stehn, stundenlang, und
denken: das geht mich an. »Wie ein Gefangener stand ich da«, sagte sie, »und die
Sterne waren die Freiheit.« Sie konnte damals einschlafen, ohne sich schwer zu
machen. Der Ausdruck In-den-Schlaf-fallen paßt nicht für dieses Mädchenjahr. Schlaf
war etwas, was mit einem stieg, und von Zeit zu Zeit hatte man die Augen offen und
lag auf einer neuen Oberfläche, die noch lang nicht die oberste war. Und dann war man
auf vor Tag; selbst
Der Graf Brahe lebte ganz abseits von seinen Töchtern. Er hielt es für Einbildung, wenn jemand behauptete, das Leben mit andern zu teilen. (»Ja, teilen –«, sagte er.) Aber es war ihm nicht unlieb, wenn die Leute ihm von seinen Töchtern erzählten; er hörte aufmerksam zu, als wohnten sie in einer anderen Stadt.
Es war deshalb etwas ganz Außerordentliches, daß er einmal nach dem Frühstück Abelone zu sich winkte: »Wir haben die gleichen Gewohnheiten, wie es scheint, ich schreibe auch ganz früh. Du kannst mir helfen.« Abelone wußte es noch wie gestern.
Schon am anderen Morgen wurde sie in ihres Vaters Kabinett geführt, das im Rufe der
Unzugänglichkeit stand. Sie hatte nicht Zeit, es in Augenschein zu nehmen, denn man
setzte sie sofort gegen dem Grafen über
Der Graf diktierte. Diejenigen, die behaupteten, daß Graf Brahe seine Memoiren schriebe, hatten nicht völlig unrecht. Nur daß es sich nicht um politische oder militärische Erinnerungen handelte, wie man mit Spannung erwartete. »Die vergesse ich«, sagte der alte Herr kurz, wenn ihn jemand auf solche Tatsachen hin anredete. Was er aber nicht vergessen wollte, das war seine Kindheit. Auf die hielt er. Und es war ganz in der Ordnung, seiner Meinung nach, daß jene sehr entfernte Zeit nun in ihm die Oberhand gewann, daß sie, wenn er seinen Blick nach innen kehrte, dalag wie in einer hellen nordischen Sommernacht, gesteigert und schlaflos.
Manchmal sprang er auf und redete in die Kerzen hinein, daß sie flackerten. Oder ganze Sätze mußten wieder durchgestrichen werden, und dann ging er heftig hin und her und wehte mit seinem nilgrünen, seidenen Schlafrock. Während alledem war noch eine Person zugegen, Sten, des Grafen alter, jütländischer Kammerdiener, dessen Aufgabe es war, wenn der Großvater aufsprang, die Hände schnell über die einzelnen losen Blätter zu legen, die, mit Notizen bedeckt, auf dem Tische herumlagen. Seine Gnaden hatten die Vorstellung, daß das heutige Papier nichts tauge, daß es viel zu leicht sei und davonfliege bei der geringsten Gelegenheit. Und Sten, von dem man nur die lange obere Hälfte sah, teilte diesen Verdacht und saß gleichsam auf seinen Händen, lichtblind und ernst wie ein Nachtvogel.
Dieser Sten verbrachte die Sonntag-Nachmittage damit,
Ein paar Tage ging das Diktieren seinen Gang. Aber dann konnte Abelone »Eckernförde« nicht schreiben. Es war ein Eigenname, und sie hatte ihn nie gehört. Der Graf, der im Grunde schon lange einen Vorwand suchte, das Schreiben aufzugeben, das zu langsam war für seine Erinnerungen, stellte sich unwillig.
»Sie kann es nicht schreiben«, sagte er scharf, »und andere werden es nicht lesen können. Und werden sie es überhaupt sehen, was ich da sage?« fuhr er böse fort und ließ Abelone nicht aus den Augen.
»Werden sie ihn sehen, diesen Saint-Germain?« schrie er sie an. »Haben wir Saint-Germain gesagt? streich es durch. Schreib: der Marquis von Belmare.«
Abelone strich durch und schrieb. Aber der Graf sprach so schnell weiter, daß man nicht mitkonnte.
»Er mochte Kinder nicht leiden, dieser vortreffliche Belmare, aber mich nahm er auf
sein Knie, so klein ich war, und mir kam die Idee, in seine Diamantknöpfe
»Die Bücher sind leer«, schrie der Graf mit einer wütenden Gebärde nach den Wänden hin, »das Blut, darauf kommt es an, da muß man drin lesen können. Er hatte wunderliche Geschichten drin und merkwürdige Abbildungen, dieser Belmare; er konnte aufschlagen, wo er wollte, da war immer was beschrieben; keine Seite in seinem Blut war überschlagen worden. Und wenn er sich einschloß von Zeit zu Zeit und allein drin blätterte, dann kam er zu den Stellen über das Goldmachen und über die Steine und über die Farben. Warum soll das nicht darin gestanden haben? es steht sicher irgendwo.«
»Eine oberflächliche Existenz: wie? Im Grunde wars doch eine Ritterlichkeit gegen seine Dame, und er hat sich ziemlich dabei konserviert.«
Seit einer Weile schon redete der Alte nicht mehr auf Abelone ein, die er vergessen hatte. Er ging wie rasend auf und ab und warf herausfordernde Blicke auf Sten, als sollte Sten in einem gewissen Augenblicke sich in den verwandeln, an den er dachte. Aber Sten verwandelte sich noch nicht.
»Man müßte ihn sehen«, fuhr Graf Brahe versessen fort. »Es gab eine Zeit, wo er
durchaus sichtbar war, obwohl in manchen Städten die Briefe, die er empfing, an
niemanden
»Er war nicht schön.« Der Graf lachte eigentümlich eilig. »Auch nicht, was die Leute bedeutend nennen oder vornehm: es waren immer Vornehmere neben ihm. Er war reich; aber das war bei ihm nur wie ein Einfall, daran konnte man sich nicht halten. Er war gut gewachsen, obzwar andere hielten sich besser. Ich konnte damals natürlich nicht beurteilen, ob er geistreich war und das und dies, worauf Wert gelegt wird –; aber er war.«
Der Graf, bebend, stand und machte eine Bewegung, als stellte er etwas in den Raum hinein, was blieb.
In diesem Moment gewahrte er Abelone.
»Siehst du ihn?« herrschte er sie an. Und plötzlich ergriff er den einen silbernen Armleuchter und leuchtete ihr blendend ins Gesicht.
Abelone erinnerte sich, daß sie ihn gesehen habe.
In den nächsten Tagen wurde Abelone regelmäßig gerufen, und das Diktieren ging nach diesem Zwischenfall viel ruhiger weiter. Der Graf stellte nach allerhand Papieren seine frühesten Erinnerungen an den Bernstorffschen Kreis zusammen, in dem sein Vater eine gewisse Rolle spielte. Abelone war jetzt so gut auf die Besonderheiten ihrer Arbeit eingestellt, daß, wer die beiden sah, ihre zweckdienliche Gemeinsamkeit leicht für ein wirkliches Vertrautsein nehmen konnte.
Einmal, als Abelone sich schon zurückziehen wollte, trat der alte Herr auf sie zu,
und es war, als hielte er die Hände mit einer Überraschung hinter sich: »Morgen
Wahrscheinlich sah Abelone ihn ungläubig an.
»Ja, ja, das giebt es alles noch«, bestand er in befehlendem Tone, »es giebt alles, Komtesse Abel.«
Er nahm Abelonens Hände und schlug sie auf wie ein Buch.
»Sie hatte die Stigmata«, sagte er, »hier und hier.« Und er tippte mit seinem kalten Finger hart und kurz in ihre beiden Handflächen.
Den Ausdruck Stigmata kannte Abelone nicht. Es wird sich zeigen, dachte sie; sie war recht ungeduldig, von der Heiligen zu hören, die ihr Vater noch gesehen hatte. Aber sie wurde nicht mehr geholt, nicht am nächsten Morgen und auch später nicht. –
»Von der Gräfin Reventlow ist ja dann oft bei euch gesprochen worden«, schloß Abelone kurz, als ich sie bat, mehr zu erzählen. Sie sah müde aus; auch behauptete sie, das Meiste wieder vergessen zu haben. »Aber die Stellen fühl ich noch manchmal«, lächelte sie und konnte es nicht lassen und schaute beinah neugierig in ihre leeren Hände.
Noch vor meines Vaters Tod war alles anders geworden. Ulsgaard war nicht mehr in unserm Besitz. Mein Vater starb in der Stadt, in einer Etagenwohnung, die mir feindsälig und befremdlich schien. Ich war damals schon im Ausland und kam zu spät.
Er war aufgebahrt in einem Hofzimmer zwischen zwei Reihen hoher Kerzen. Der Geruch
der Blumen war
Neu war nur die Umgebung, auf eine unangenehme Art. Neu war dieses bedrückende Zimmer, das Fenster gegenüber hatte, wahrscheinlich die Fenster anderer Leute. Neu war es, daß Sieversen von Zeit zu Zeit hereinkam und nichts tat. Sieversen war alt geworden. Dann sollte ich frühstücken. Mehrmals wurde mir das Frühstück gemeldet. Mir lag durchaus nichts daran, zu frühstücken an diesem Tage. Ich merkte nicht, daß man mich forthaben wollte; schließlich, da ich nicht ging, brachte Sieversen es irgendwie heraus, daß die Ärzte da wären. Ich begriff nicht, wozu. Es wäre da noch etwas zu tun, sagte Sieversen und sah mich mit ihren roten Augen angestrengt an. Dann traten, etwas überstürzt, zwei Herren herein: das waren die Ärzte. Der vordere senkte seinen Kopf mit einem Ruck, als hätte er Hörner und wollte stoßen, um uns über seine Gläser fort anzusehen: erst Sieversen, dann mich.
Ich blickte unwillkürlich wieder hin in das schöne, gleichmäßige Gesicht. Und da wußte ich, daß er Sicherheit wollte. Die hatte er im Grunde immer gewünscht. Nun sollte er sie bekommen.
»Sie sind wegen des Herzstichs da: bitte.«
Ich verneigte mich und trat zurück. Die beiden Ärzte verbeugten sich gleichzeitig und begannen sofort sich über ihre Arbeit zu verständigen. Jemand rückte auch schon die Kerzen beiseite. Aber der Ältere machte nochmals ein paar Schritte auf mich zu. Aus einer gewissen Nähe streckte er sich vor, um das letzte Stück Weg zu ersparen, und sah mich böse an.
»Es ist nicht nötig«, sagte er, »das heißt, ich meine, es ist vielleicht besser, wenn Sie...«
Er kam mir vernachlässigt und abgenutzt vor in seiner sparsamen und eiligen Haltung. Ich verneigte mich abermals; es machte sich so, daß ich mich schon wieder verneigte.
»Danke«, sagte ich knapp. »Ich werde nicht stören.«
Ich wußte, daß ich dieses ertragen würde und daß kein Grund da war, sich dieser Sache
zu entziehen. Das hatte
Nein, nein, vorstellen kann man sich nichts auf der Welt, nicht das Geringste. Es ist alles aus so viel einzigen Einzelheiten zusammengesetzt, die sich nicht absehen lassen. Im Einbilden geht man über sie weg und merkt nicht, daß sie fehlen, schnell wie man ist. Die Wirklichkeiten aber sind langsam und unbeschreiblich ausführlich.
Wer hätte zum Beispiel an diesen Widerstand gedacht. Kaum war die breite, hohe Brust bloßgelegt, so hatte der eilige kleine Mann schon die Stelle heraus, um die es sich handelte. Aber das rasch angesetzte Instrument drang nicht ein. Ich hatte das Gefühl, als wäre plötzlich alle Zeit fort aus dem Zimmer. Wir befanden uns wie in einem Bilde. Aber dann stürzte die Zeit nach mit einem kleinen, gleitenden Geräusch, und es war mehr da, als verbraucht wurde. Auf einmal klopfte es irgendwo. Ich hatte noch nie so klopfen hören: ein warmes, verschlossenes, doppeltes Klopfen. Mein Gehör gab es weiter, und ich sah zugleich, daß der Arzt auf Grund gestoßen war. Aber es dauerte eine Weile, bevor die beiden Eindrücke in mir zusammenkamen. So, so, dachte ich, nun ist es also durch. Das Klopfen war, was das Tempo betrifft, beinah schadenfroh.
Es ist anzunehmen, daß ich mich noch einmal verneigte, ohne diesmal recht bei der Sache zu sein. Wenigstens war ich erstaunt, mich allein zu finden. Jemand hatte die Uniform wieder in Ordnung gebracht, und das weiße Band lag darüber wie vorher. Aber nun war der Jägermeister tot, und nicht er allein. Nun war das Herz durchbohrt, unser Herz, das Herz unseres Geschlechts. Nun war es vorbei. Das war also das Helmzerbrechen: »Heute Brigge und nimmermehr«, sagte etwas in mir.
An mein Herz dachte ich nicht. Und als es mir später einfiel, wußte ich zum erstenmal ganz gewiß, daß es hierfür nicht in Betracht kam. Es war ein einzelnes Herz. Es war schon dabei, von Anfang anzufangen.
Ich weiß, daß ich mir einbildete, nicht sofort wieder abreisen zu können. Erst muß
alles geordnet sein, wiederholte ich mir. Was geordnet sein wollte, war mir nicht
klar. Es war so gut wie nichts zu tun. Ich ging in
Ein paar Stunden täglich brachte ich in Dronningens Tværgade zu, in den engen Zimmer,
die beleidigt aussahen wie alle Mietswohnungen, in denen jemand gestorben ist. Ich
ging zwischen dem Schreibtisch und dem großen weißen Kachelofen hin und her und
verbrannte
Es kann sein, daß ich nun etwas weiß, was er gefürchtet hat. Ich will sagen, wie ich
zu dieser Annahme komme. Ganz innen in seiner Brieftasche befand sich ein Papier,
seit lange gefaltet, mürbe, gebrochen in den Bügen. Ich habe es gelesen, bevor ich es
verbrannte. Es war von seiner besten Hand, sicher und gleichmäßig
»Drei Stunden vor seinem Tod«, so begann es und handelte von Christian dem Vierten. Ich kann den Inhalt natürlich nicht wörtlich wiederholen. Drei Stunden vor seinem Tod begehrte er aufzustehen. Der Arzt und der Kammerdiener Wormius halfen ihm auf die Füße. Er stand ein wenig unsicher, aber er stand, und sie zogen ihm das gesteppte Nachtkleid an. Dann setzte er sich plötzlich vorn an das Bettende und sagte etwas. Es war nicht zu verstehen. Der Arzt behielt immerzu seine linke Hand, damit der König nicht auf das Bett zurücksinke. So saßen sie, und der König sagte von Zeit zu Zeit mühsam und trübe das Unverständliche. Schließlich begann der Arzt ihm zuzusprechen; er hoffte allmählich zu erraten, was der König meinte. Nach einer Weile unterbrach ihn der König und sagte auf einmal ganz klar: »O, Doktor, Doktor, wie heißt er?« Der Arzt hatte Mühe, sich zu besinnen.
»Sperling, Allergnädigster König.«
Aber darauf kam es nun wirklich nicht an. Der König, sobald er hörte, daß man ihn verstand, riß das rechte Auge, das ihm geblieben war, weit auf und sagte mit dem ganzen Gesicht das eine Wort, das seine Zunge seit Stunden formte, das einzige, das es noch gab: »Döden«, sagte er, »Döden.« Der Tod, der Tod.
Mehr stand nicht auf dem Blatt. Ich las es mehrere Male, ehe ich es verbrannte. Und es fiel mir ein, daß mein Vater viel gelitten hatte zuletzt. So hatte man mir erzählt.
Aber ich fürchtete mich auch schon früher. Zum Beispiel, als mein Hund starb.
Derselbe, der mich ein- für
Oder ich fürchtete mich, wenn im Herbst nach den ersten Nachtfrösten die Fliegen in die Stuben kamen und sich noch einmal in der Wärme erholten. Sie waren merkwürdig vertrocknet und erschraken bei ihrem eigenen Summen; man konnte sehen, daß sie nicht mehr recht wußten, was sie taten. Sie saßen stundenlang da und ließen sich gehen, bis es ihnen einfiel, daß sie noch lebten; dann warfen sie sich blindlings irgendwohin und begriffen nicht, was sie dort sollten, und man hörte sie weiterhin niederfallen und drüben und anderswo. Und endlich krochen sie überall und bestarben langsam das ganze Zimmer.
Aber sogar wenn ich allein war, konnte ich mich fürchten. Warum soll ich tun, als
wären jene Nächte nicht gewesen, da ich aufsaß vor Todesangst und mich daran
klammerte, daß das Sitzen wenigstens noch etwas Lebendiges
Mein Gott, mein Gott, wenn mir noch solche Nächte bevorstehen, laß mir doch
wenigstens einen von den Gedanken, die ich zuweilen denken konnte. Es ist nicht so
unvernünftig, was ich da verlange; denn ich weiß, daß sie gerade aus der Furcht
gekommen sind, weil meine Furcht so groß war. Da ich ein Knabe war, schlugen sie mich
ins Gesicht und sagten mir, daß ich feige sei. Das war, weil ich mich noch schlecht
fürchtete. Aber seitdem
Ich begreife übrigens jetzt gut, daß man ganz innen in der Brieftasche die
Beschreibung einer Sterbestunde bei sich trägt durch alle die Jahre. Es müßte nicht
einmal eine besonders gesuchte sein; sie haben alle etwas fast Seltenes. Kann man
sich zum Beispiel nicht jemanden vorstellen, der sich abschreibt, wie Felix Arvers
gestorben ist. Es war im Hospital. Er starb auf eine sanfte und gelassene Weise, und
die Nonne meinte vielleicht, daß er damit schon weiter sei, als er in Wirklichkeit
war. Sie rief ganz laut irgend eine Weisung hinaus, wo das und
Es giebt ein Wesen, das vollkommen unschädlich ist, wenn es dir in die Augen kommt, du merkst es kaum und hast es gleich wieder vergessen. Sobald es dir aber unsichtbar auf irgendeine Weise ins Gehör gerät, so entwickelt es sich dort, es kriecht gleichsam aus, und man hat Fälle gesehen, wo es bis ins Gehirn vordrang und in diesem Organ verheerend gedieh, ähnlich den Pneumokocken des Hundes, die durch die Nase eindringen.
Dieses Wesen ist der Nachbar.
Nun, ich habe, seit ich so vereinzelt herumkomme,
Ich habe unberechenbare Nachbaren gehabt und sehr regelmäßige. Ich habe gesessen und
das Gesetz der ersten herauszufinden versucht; denn es war klar, daß auch sie eines
hatten. Und wenn die pünktlichen einmal am Abend ausblieben, so hab ich mir
ausgemalt, was ihnen könnte zugestoßen sein, und habe mein Licht brennen lassen und
mich geängstigt wie eine junge Frau. Ich habe Nachbaren gehabt, die gerade haßten,
und Nachbaren, die in eine heftige Liebe verwickelt waren; oder ich erlebte es, daß
bei ihnen eines in das andere umsprang mitten in der Nacht, und dann war natürlich an
Schlafen nicht zu denken. Da konnte man überhaupt beobachten, daß der Schlaf durchaus
nicht so häufig ist, wie man meint. Meine beiden Petersburger Nachbaren zum Beispiel
gaben nicht viel auf Schlaf. Der eine stand und spielte die Geige, und ich bin
sicher, daß er dabei hinübersah in die überwachen Häuser, die nicht aufhörten hell zu
sein in den unwahrscheinlichen Augustnächten. Von dem anderen zur Rechten weiß ich
allerdings, daß er lag; er stand zu meiner Zeit überhaupt nicht mehr auf. Er hatte
sogar die Augen geschlossen; aber man
Dieser kleine Beamte da nebenan war eines Sonntags auf die Idee gekommen, eine
merkwürdige Aufgabe zu lösen. Er nahm an, daß er recht lange leben würde, sagen wir
noch fünfzig Jahre. Die Großmütigkeit, die er sich damit erwies, versetzte ihn in
eine glänzende Stimmung. Aber nun wollte er sich selber übertreffen. Er überlegte,
daß man diese Jahre in Tage, in Stunden, in Minuten, ja, wenn man es aushielt, in
Sekunden umwechseln könne, und er rechnete und rechnete, und es kam eine Summe
heraus, wie er noch nie eine gesehen hatte. Ihn schwindelte. Er mußte sich ein wenig
erholen. Zeit war kostbar, hatte er immer sagen hören, und es wunderte ihn, daß man
einen Menschen, der eine solche Menge Zeit besaß, nicht geradezu bewachte. Wie leicht
konnte er bestohlen werden. Dann aber kam seine gute, beinah ausgelassene Laune
wieder, er zog seinen Pelz an, um etwas breiter und stattlicher
»Nikolaj Kusmitsch«, sagte er wohlwollend und stellte sich vor, daß er außerdem noch, ohne Pelz, dünn und dürftig auf dem Roßhaarsofa säße, »ich hoffe, Nikolaj Kusmitsch«, sagte er, »Sie werden sich nichts auf Ihren Reichtum einbilden. Bedenken Sie immer, daß das nicht die Hauptsache ist, es giebt arme Leute, die durchaus respektabel sind; es giebt sogar verarmte Edelleute und Generalstöchter, die auf der Straße herumgehen und etwas verkaufen.« Und der Wohltäter führte noch allerlei in der ganzen Stadt bekannte Beispiele an.
Der andere Nikolaj Kusmitsch, der auf dem Roßhaarsofa, der Beschenkte, sah durchaus
noch nicht übermütig aus, man durfte annehmen, daß er vernünftig sein würde. Er
änderte in der Tat nichts an seiner bescheidenen, regelmäßigen Lebensführung, und die
Sonntage brachte er nun damit zu, seine Rechnung in Ordnung zu bringen. Aber schon
nach ein paar Wochen fiel es ihm auf, daß er unglaublich viel ausgäbe. Ich werde mich
einschränken, dachte er. Er stand früher auf, er wusch sich weniger ausführlich, er
trank stehend seinen Tee, er lief ins Bureau und kam viel zu früh. Er ersparte
überall ein bißchen Zeit. Aber am Sonntag war nichts Erspartes da. Da begriff er, daß
er betrogen sei. Ich hätte nicht wechseln dürfen, sagte er sich. Wie lange hat man an
so einem Jahr. Aber da, dieses infame Kleingeld, das geht hin, man weiß nicht wie.
Und es wurde ein häßlicher Nachmittag, als er in
Es fiel ihm ein, daß es eine staatliche Behörde geben müsse, eine Art Zeitbank, wo er wenigstens einen Teil seiner lumpigen Sekunden umwechseln könne. Echt waren sie doch schließlich. Er hatte nie von einer solchen Anstalt gehört, aber im Adreßbuch würde gewiß etwas Derartiges zu finden sein, unter Z, oder vielleicht auch hieß es »Bank für Zeit«; man konnte leicht unter B nachsehen. Eventuell war auch der Buchstabe K zu berücksichtigen, denn es war anzunehmen, daß es ein kaiserliches Institut war; das entsprach seiner Wichtigkeit.
Nikolaj Kusmitsch war nicht ganz frei von Schadenfreude: Mag sie immerhin –, wollte
er eben denken, aber da geschah etwas Eigentümliches. Es wehte plötzlich
Er lag und hatte die Augen geschlossen. Und es gab Zeiten, weniger bewegte Tage sozusagen, wo es ganz erträglich war. Und dann hatte er sich das ausgedacht mit den Gedichten. Man sollte nicht glauben, wie das half. Wenn man so ein Gedicht langsam hersagte, mit gleichmäßiger Betonung der Endreime, dann war gewissermaßen etwas Stabiles da, worauf man sehen konnte, innerlich versteht sich. Ein Glück, daß er alle diese Gedichte wußte. Aber er hatte sich immer ganz besonders für Literatur interessiert. Er beklagte sich nicht über seinen Zustand, versicherte mir der Student, der ihn lange kannte. Nur hatte sich mit der Zeit eine übertriebene Bewunderung für die in ihm herausgebildet, die, wie der Student, herumgingen und die Bewegung der Erde vertrugen.
Ich erinnere mich dieser Geschichte so genau, weil sie mich ungemein beruhigte. Ich kann wohl sagen, ich habe nie wieder einen so angenehmen Nachbar gehabt, wie diesen Nikolaj Kusmitsch, der sicher auch mich bewundert hätte.
Ich nahm mir nach dieser Erfahrung vor, in ähnlichen Fällen immer gleich auf die
Tatsachen loszugehen. Ich merkte, wie einfach und erleichternd sie waren, den
Vermutungen gegenüber. Als ob ich nicht gewußt hätte,
Es sei zu meiner Ehre gesagt, daß ich viel geschrieben habe in diesen Tagen; ich habe krampfhaft geschrieben. Allerdings, wenn ich ausgegangen war, so dachte ich nicht gerne an das Nachhausekommen. Ich machte sogar kleine Umwege und verlor auf diese Art eine halbe Stunde, während welcher ich hätte schreiben können. Ich gebe zu, daß dies eine Schwäche war. War ich aber einmal in meinem Zimmer, so hatte ich mir nichts vorzuwerfen. Ich schrieb, ich hatte mein Leben, und das da nebenan war ein ganz anderes Leben, mit dem ich nichts teilte: das Leben eines Studenten der Medizin, der für sein Examen studierte. Ich hatte nichts Ähnliches vor mir, schon das war ein entscheidender Unterschied. Und auch sonst waren unsere Umstände so verschieden wie möglich. Das alles leuchtete mir ein. Bis zu dem Moment, da ich wußte, daß es kommen würde; da vergaß ich, daß es zwischen uns keine Gemeinsamkeit gab. Ich horchte so, daß mein Herz ganz laut wurde. Ich ließ alles und horchte. Und dann kam es: ich habe mich nie geirrt.
Beinah jeder kennt den Lärm, den irgendein blechernes,
In dieser Verfassung wundert es mich beinah, daß ich die Sache nicht leichter nahm.
Obwohl ich doch jedesmal im voraus gewarnt war durch mein Gefühl. Das wäre
auszunutzen gewesen. Erschrick nicht, hätte ich mir sagen müssen, jetzt kommt es; ich
wußte ja, daß
Nun an diesem selben Abend war es ärger denn je. Es war noch nicht sehr spät, aber
ich war aus Müdigkeit schon zu Bett gegangen; ich hielt es für wahrscheinlich, daß
ich schlafen würde. Da fuhr ich auf, als hätte man mich berührt. Gleich darauf brach
es los. Es sprang und rollte und rannte irgendwo an und schwankte und klappte. Das
Stampfen war fürchterlich. Dazwischen klopfte man unten, einen Stock tiefer, deutlich
und böse gegen die Decke. Auch der neue Mieter war natürlich gestört. Jetzt: das
mußte seine Türe sein. Ich war so wach, daß ich seine Türe zu hören meinte, obwohl er
erstaunlich vorsichtig damit umging. Es kam mir vor, als nähere er sich. Sicher
wollte er wissen, in welchem Zimmer es sei. Was mich befremdete, war seine wirklich
übertriebene Rücksicht. Er hatte doch eben bemerken können, daß es auf Ruhe nicht
ankam in diesem Hause. Warum in aller Welt unterdrückte er seinen Schritt? Eine Weile
glaubte ich ihn an meiner Tür;
Und nun (ja, wie soll ich das beschreiben?), nun wurde es still. Still, wie wenn ein Schmerz aufhört. Eine eigentümlich fühlbare, prickelnde Stille, als ob eine Wunde heilte. Ich hätte sofort schlafen können; ich hätte Atem holen können und einschlafen. Nur mein Erstaunen hielt mich wach. Jemand sprach nebenan, aber auch das gehörte mit in die Stille. Das muß man erlebt haben, wie diese Stille war, wiedergeben läßt es sich nicht. Auch draußen war alles wie ausgeglichen. Ich saß auf, ich horchte, es war wie auf dem Lande. Lieber Gott, dachte ich, seine Mutter ist da. Sie saß neben dem Licht, sie redete ihm zu, vielleicht hatte er den Kopf ein wenig gegen ihre Schulter gelegt. Gleich würde sie ihn zu Bett bringen. Nun begriff ich das leise Gehen draußen auf dem Gang. Ach, daß es das gab. So ein Wesen, vor dem die Türen ganz anders nachgeben als vor uns. Ja, nun konnten wir schlafen.
Ich habe meinen Nachbar fast schon vergessen. Ich sehe wohl, daß es keine richtige
Teilnahme war, was ich für ihn hatte. Unten frage ich zwar zuweilen im Vorüber gehen,
ob Nachrichten von ihm da sind und welche. Und ich freue mich, wenn sie gut sind.
Aber ich übertreibe. Ich habe eigentlich nicht nötig, das zu wissen. Das hängt gar
nicht mehr mit ihm zusammen, daß ich manchmal einen plötzlichen Reiz verspüre,
nebenan einzutreten. Es ist nur ein Schritt von meiner Tür zu der anderen, und das
Zimmer ist nicht verschlossen. Es
Ich sage mir, daß es dieser Umstand ist, der mich reizt. Aber ich weiß ganz gut, daß es ein gewisser blecherner Gegenstand ist, der auf mich wartet. Ich habe angenommen, daß es sich wirklich um einen Büchsendeckel handelt, obwohl ich mich natürlich irren kann. Das beunruhigt mich nicht. Es entspricht nun einmal meiner Anlage, die Sache auf einen Büchsendeckel zu schieben. Man kann denken, daß er ihn nicht mitgenommen hat. Wahrscheinlich hat man aufgeräumt, man hat den Deckel auf seine Büchse gesetzt, wie es sich gehört. Und nun bilden die beiden zusammen den Begriff Büchse, runde Büchse, genau ausgedrückt, einen einfachen, sehr bekannten Begriff. Mir ist, als entsänne ich mich, daß sie auf dem Kamin stehn, die beiden, die die Büchse ausmachen. Ja, sie stehn sogar vor dem Spiegel, so daß dahinter noch eine Büchse entsteht, eine täuschend ähnliche, imaginäre. Eine Büchse, auf die wir gar keinen Wert legen, nach der aber zum Beispiel ein Affe greifen würde. Richtig, es würden sogar zwei Affen danach greifen, denn auch der Affe wäre doppelt, sobald er auf dem Kaminrand ankäme. Nun also, es ist der Deckel dieser Büchse, der es auf mich abgesehen hat.
Einigen wir uns darüber: der Deckel einer Büchse, einer gesunden Büchse, deren Rand
nicht anders gebogen ist, als sein eigener, so ein Deckel müßte kein anderes
Verlangen
Die Dinge sehen das nun schon seit Jahrhunderten an. Es ist kein Wunder, wenn sie
verdorben sind, wenn sie den Geschmack verlieren an ihrem natürlichen, stillen Zweck
und das Dasein so ausnutzen möchten, wie sie es rings um sich ausgenutzt sehen. Sie
machen Versuche, sich ihren Anwendungen zu entziehen, sie werden unlustig und
nachlässig, und die Leute sind gar nicht erstaunt,
Wie begreif ich jetzt die wunderlichen Bilder, darinnen Dinge von beschränkten und regelmäßigen Gebrauchen sich ausspannen und sich lüstern und neugierig aneinander versuchen, zuckend in der ungefähren Unzucht der Zerstreuung. Diese Kessel, die kochend herumgehen, diese Kolben, die auf Gedanken kommen, und die müßigen Trichter, die sich in ein Loch drängen zu ihrem Vergnügen. Und da sind auch schon, vom eifersüchtigen Nichts heraufgeworfen, Gliedmaßen und Glieder unter ihnen und Gesichter, die warm in sie hineinvomieren, und blasende Gesäße, die ihnen den Gefallen tun.
Es gab Zeiten, da ich diese Bilder für veraltet hielt. Nicht, als ob ich an ihnen zweifelte. Ich konnte mir denken, daß dies den Heiligen geschah, damals, den eifernden Voreiligen, die gleich mit Gott anfangen wollten um jeden Preis. Wir muten uns dies nicht mehr zu. Wir ahnen, daß er zu schwer ist für uns, daß wir ihn hinausschieben müssen, um langsam die lange Arbeit zu tun, die uns von ihm trennt. Nun aber weiß ich, daß diese Arbeit genau so bestritten ist wie das Heiligsein; daß dies da um jeden entsteht, der um ihretwillen einsam ist, wie es sich bildete um die Einsamen Gottes in ihren Höhlen und leeren Herbergen, einst.
Wenn man von den Einsamen spricht, setzt man immer zuviel voraus. Man meint, die
Leute wüßten, um was es sich handelt. Nein, sie wissen es nicht. Sie haben nie einen
Einsamen gesehen, sie haben ihn nur gehaßt, ohne ihn zu kennen. Sie sind seine
Nachbaren gewesen, die ihn aufbrauchten, und die Stimmen im Nebenzimmer,
Aber dann, wenn er nicht aufsah, besannen sie sich. Sie ahnten, daß sie ihm mit alledem seinen Willen taten; daß sie ihn in seinem Alleinsein bestärkten und ihm halfen, sich abzuscheiden von ihnen für immer. Und nun schlugen sie um und wandten das Letzte an, das Äußerste, den anderen Widerstand: den Ruhm. Und bei diesem Lärmen blickte fast jeder auf und wurde zerstreut.
Diese Nacht ist mir das kleine grüne Buch wieder eingefallen, das ich als Knabe
einmal besessen haben muß; und ich weiß nicht, warum ich mir einbilde, daß es von
Mathilde Brahe stammte. Es interessierte mich nicht, da ich es bekam, und ich las es
erst mehrere Jahre später, ich glaube in der Ferienzeit auf Ulsgaard. Aber
Ich erinnere nur noch zwei. Ich will sagen, welche: Das Ende des Grischa Otrepjow und Karls des Kühnen Untergang.
Gott weiß, ob es mir damals Eindruck machte. Aber jetzt, nach so viel Jahren, entsinne ich mich der Beschreibung, wie der Leichnam des falschen Zaren unter die Menge geworfen worden war und dalag drei Tage, zerfetzt und zerstochen und eine Maske vor dem Gesicht. Es ist natürlich gar keine Aussicht, daß mir das kleine Buch je wieder in die Hände kommt. Aber diese Stelle muß merkwürdig gewesen sein. Ich hätte auch Lust, nachzulesen, wie die Begegnung mit der Mutter verlief. Er mag sich sehr sicher gefühlt haben, da er sie nach Moskau kommen ließ; ich bin sogar überzeugt, daß er zu jener Zeit so stark an sich glaubte, daß er in der Tat seine Mutter zu berufen meinte. Und diese Marie Nagoi, die in schnellen Tagreisen aus ihrem dürftigen Kloster kam, gewann ja auch alles, wenn sie zustimmte. Ob aber seine Unsicherheit nicht gerade damit begann, daß sie ihn anerkannte? Ich bin nicht abgeneigt zu glauben, die Kraft seiner Verwandlung hätte darin beruht, niemandes Sohn mehr zu sein.
(Das ist schließlich die Kraft aller jungen Leute, die fortgegangen sind.) Im Manuskript an den Rand geschrieben.
Das Volk, das sich ihn erwünschte, ohne sich einen vorzustellen, machte ihn nur noch
freier und unbegrenzter
Aber auch abgesehen davon, ist diese Begebenheit durchaus nicht veraltet. Es wäre
jetzt ein Erzähler denkbar, der viel Sorgfalt an die letzten Augenblicke wendete; er
hätte nicht unrecht. Es geht eine Menge in ihnen vor: Wie er aus dem innersten Schlaf
ans Fenster springt und über das Fenster hinaus in den Hof zwischen die Wachen. Er
kann allein nicht auf; sie müssen ihm helfen. Wahrscheinlich ist der Fuß gebrochen.
An zwei von den Männern gelehnt, fühlt er, daß sie an ihn glauben. Er sieht sich um:
auch die andern glauben an ihn. Sie dauern ihn fast, diese riesigen Strelitzen, es
muß weit gekommen sein: sie haben Iwan Grosnij gekannt in all seiner Wirklichkeit,
und glauben an ihn. Er hätte Lust, sie aufzuklären, aber den Mund öffnen, hieße
einfach schreien. Der Schmerz im Fuß ist rasend, und er hält so wenig von sich in
diesem Moment, daß er nichts weiß als den Schmerz. Und dann ist keine Zeit. Sie
drängen heran, er sieht den Schuiskij und hinter ihm
Bis hierher geht die Sache von selbst, aber nun, bitte, einen Erzähler, einen Erzähler: denn von den paar Zeilen, die noch bleiben, muß Gewalt ausgehen über jeden Widerspruch hinaus. Ob es gesagt wird oder nicht, man muß darauf schwören, daß zwischen Stimme und Pistolenschuß, unendlich zusammengedrängt, noch einmal Wille und Macht in ihm war, alles zu sein. Sonst versteht man nicht, wie glänzend konsequent es ist, daß sie sein Nachtkleid durchbohrten und in ihm herumstachen, ob sie auf das Harte einer Person stoßen würden. Und daß er im Tode doch noch die Maske trug, drei Tage lang, auf die er fast schon verzichtet hatte.
Wenn ichs nun bedenke, so scheint es mir seltsam, daß in demselben Buche der Ausgang
dessen erzählt wurde, der sein ganzes Leben lang Einer war, der Gleiche, hart und
nicht zu ändern wie ein Granit und immer schwerer auf allen, die ihn ertrugen. Es
giebt ein Bild von ihm in Dijon. Aber man weiß es auch so, daß er kurz, quer, trotzig
war und verzweifelt. Nur an die Hände hätte
Es gehörte unglaubliche Vorsicht dazu, mit diesem Blute zu leben. Der Herzog war damit eingeschlossen in sich selbst, und zuzeiten fürchtete ers, wenn es um ihn herumging, geduckt und dunkel. Es konnte ihm selber grauenhaft fremd sein, dieses behende, halbportugiesische Blut, das er kaum kannte. Oft ängstigte es ihn, daß es ihn im Schlafe anfallen könnte und zerreißen. Er tat, als bändigte ers, aber er stand immer in seiner Furcht. Er wagte nie eine Frau zu lieben, damit es nicht eifersüchtig würde, und so reißend war es, daß Wein nie über seine Lippen kam; statt zu trinken, sänftigte ers mit Rosenmus. Doch, einmal trank er, im Lager vor Lausanne, als Granson verloren war; da war er krank und abgeschieden und trank viel puren Wein. Aber damals schlief sein Blut. In seinen sinnlosen letzten Jahren verfiel es manchmal in diesen schweren, tierischen Schlaf. Dann zeigte es sich, wie sehr er in seiner Gewalt war; denn wenn es schlief, war er nichts. Dann durfte keiner von seiner Umgebung herein; er begriff nicht, was sie redeten. Den fremden Gesandten konnte er sich nicht zeigen, öd wie er war. Dann saß er und wartete, daß es aufwachte. Und meistens fuhr es mit einem Sprunge auf und brach aus dem Herzen aus und brüllte.
So seh ich es jetzt, damals aber machte es mir vor allem Eindruck, von dem Dreikönigstag zu lesen, da man ihn suchte.
Der junge lothringische Fürst, der tags vorher, gleich nach der merkwürdig hastigen
Schlacht in seiner elenden Stadt Nancy eingeritten war, hatte ganz früh seine
Umgebung geweckt und nach dem Herzog gefragt. Bote um Bote wurde ausgesandt, und er
selbst erschien von Zeit zu Zeit am Fenster, unruhig und besorgt. Er erkannte nicht
immer, wen sie da brachten auf ihren Wagen und Tragbahren, er sah nur, daß es nicht
der Herzog war. Und auch unter den Verwundeten war er nicht, und von den Gefangenen,
die man fortwährend noch einbrachte, hatte ihn keiner gesehen. Die Flüchtlinge
Es fror diese Nacht, und es war, als fröre auch die Idee, daß er sei; so hart wurde sie. Und Jahre und Jahre vergingen, eh sie sich auflöste. Alle diese Menschen, ohne es recht zu wissen, bestanden jetzt auf ihm. Das Schicksal, das er über sie gebracht hatte, war nur erträglich durch seine Gestalt. Sie hatten so schwer erlernt, daß er war; nun aber, da sie ihn konnten, fanden sie, daß er gut zu merken sei und nicht zu vergessen.
Aber am nächsten Morgen, dem siebenten Januar, einem Dienstag, fing das Suchen doch
wieder an. Und diesmal war ein Führer da. Es war ein Page des Herzogs, und es hieß,
er habe seinen Herrn von ferne stürzen sehen; nun sollte er die Stelle zeigen. Er
selbst hatte nichts erzählt, der Graf von Campobasso hatte ihn gebracht und hatte für
ihn gesprochen. Nun ging er voran, und die anderen hielten sich dicht hinter ihm. Wer
ihn so sah, vermummt und eigentümlich unsicher, der hatte Mühe zu glauben, daß es
wirklich Gian-Battista Colonna sei,
Auf einmal blieb der Vorderste stehen und sah um sich. Dann wandte er sich kurz zu
Lupi, dem portugiesischen Arzt des Herzogs, und zeigte nach vorn. Ein paar Schritte
weiterhin war eine Eisfläche, eine Art Tümpel oder Teich, und da lagen, halb
eingebrochen, zehn oder zwölf Leichen. Sie waren fast ganz entblößt und ausgeraubt.
Lupi ging gebückt und aufmerksam von einem zum andern. Und nun erkannte man Olivier
de la Marche
Einer nach dem anderen blickte sich um; jeder meinte den Römer hinter sich zu finden.
Aber sie sahen nur den Narren, der herbeigelaufen kam, böse und blutig. Er hielt
einen Mantel von sich ab und schüttelte ihn, als sollte etwas herausfallen; aber der
Mantel war leer. So ging man daran, nach Kennzeichen zu suchen, und es fanden sich
einige. Man hatte ein Feuer gemacht und wusch den Körper mit warmem Wasser und Wein.
Die Narbe am Halse kam zum Vorschein und die Stellen der beiden großen Abszesse. Der
Arzt zweifelte nicht mehr. Aber man verglich noch anderes. Louis-Onze hatte ein paar
Schritte weiter den Kadaver des großen schwarzen Pferdes Moreau gefunden, das der
Herzog am Tage von Nancy geritten hatte. Er saß darauf und ließ die kurzen Beine
hängen. Das Blut rann ihm noch immer aus der Nase in den Mund, und man sah ihm an,
daß er es schmeckte. Einer der Diener drüben erinnerte, daß ein Nagel an des Herzogs
linkem Fuß eingewachsen gewesen
Im Manuskript an den Rand geschrieben.(Des Herzogs Narr war auch der erste, der eintrat, als die Leiche gebettet war. Es war im Hause eines gewissen Georg Marquis, niemand konnte sagen, wieso. Das Bahrtuch war noch nicht übergelegt, und so hatte er den ganzen Eindruck. Das Weiß des Kamisols und das Karmesin vom Mantel sonderten sich schroff und unfreundlich voneinander ab zwischen den beiden Schwarz von Baldachin und Lager. Vorne standen scharlachne Schaftstiefel ihm entgegen mit großen, vergoldeten Sporen. Und daß das dort oben ein Kopf war, darüber konnte kein Streit entstehen, sobald man die Krone sah. Es war eine große Herzogs-Krone mit irgendwelchen Steinen. Louis-Onze ging umher und besah alles genau. Er befühlte sogar den Atlas, obwohl er wenig davon verstand. Es mochte guter Atlas sein, vielleicht ein bißchen billig für das Haus Burgund. Er trat noch einmal zurück um des Überblicks willen. Die Farben waren merkwürdig unzusammenhängend im Schneelicht. Er prägte sich jede einzeln ein. »Gut angekleidet«, sagte er schließlich anerkennend, »vielleicht eine Spur zu deutlich.« Der Tod kam ihm vor wie ein Puppenspieler, der rasch einen Herzog braucht.)
An den Anfang solcher Veränderungen verlegte ich auch das Lesen. Dann würde man mit
Büchern umgehen
Ich führe diese Erscheinungen an, weil ich sie ziemlich auffällig an mir erfuhr,
damals in jenen Ferien auf Ulsgaard, als ich so plötzlich ins Lesen geriet. Da zeigte
es sich gleich, daß ich es nicht konnte. Ich hatte es freilich vor der Zeit begonnen,
die ich mir dafür in Aussicht gestellt hatte. Aber dieses Jahr in Sorö unter lauter
andern ungefähr Altersgleichen hatte mich mißtrauisch gemacht gegen solche
Berechnungen. Dort waren rasche, unerwartete Erfahrungen an mich herangekommen, und
es war deutlich zu sehen, daß sie mich wie einen Erwachsenen behandelten. Es waren
lebensgroße Erfahrungen, die sich so schwer machten, wie sie waren. In demselben Maße
aber, als ich ihre Wirklichkeit begriff, gingen mir auch für die unendliche Realität
meines Kindseins die Augen auf. Ich wußte, daß es nicht aufhören würde, so wenig wie
das andere erst begann. Ich sagte mir, daß es natürlich jedem
Diese Entdeckung sonderte mich begreiflicherweise noch mehr ab. Sie beschäftigte mich
in mir und erfüllte mich mit einer Art endgültiger Frohheit, die ich für Kümmernis
nahm, weil sie weit über mein Alter hinausging. Es beunruhigte mich auch, wie ich
mich entsinne, daß man nun, da nichts für eine bestimmte Frist vorgesehen war,
manches überhaupt versäumen könne. Und als ich so nach Ulsgaard zurückkehrte und alle
die Bücher sah, machte ich mich darüber her; recht in Eile, mit fast schlechtem
Gewissen. Was ich später so oft empfunden habe, das ahnte ich damals irgendwie
voraus: daß man nicht das Recht hatte, ein Buch aufzuschlagen, wenn man sich nicht
verpflichtete, alle zu lesen. Mit jeder Zeile brach man die Welt an. Vor den Büchern
war sie heil und vielleicht wieder ganz dahinter. Wie aber sollte ich, der nicht
lesen konnte, es mit allen aufnehmen? Da standen sie, selbst in diesem bescheidenen
Bücherzimmer, in so aussichtsloser Überzahl und hielten zusammen. Ich stürzte mich
trotzig und verzweifelt von Buch zu Buch und schlug mich durch die Seiten durch wie
einer, der etwas Unverhältnismäßiges zu leisten hat. Damals las ich Schiller und
In späteren Jahren geschah es mir zuweilen nachts, daß ich aufwachte, und die Sterne standen so wirklich da und gingen so bedeutend vor, und ich konnte nicht begreifen, wie man es über sich brachte, so viel Welt zu versäumen. So ähnlich war mir, glaub ich, zumut, sooft ich von den Büchern aufsah und hinaus, wo der Sommer war, wo Abelone rief. Es kam uns sehr unerwartet, daß sie rufen mußte und daß ich nicht einmal antwortete. Es fiel mitten in unsere seligste Zeit. Aber da es mich nun einmal erfaßt hatte, hielt ich mich krampfhaft ans Lesen und verbarg mich, wichtig und eigensinnig, vor unseren täglichen Feiertagen. Ungeschickt wie ich war, die vielen, oft unscheinbaren Gelegenheiten eines natürlichen Glücks auszunutzen, ließ ich mir nicht ungern von dem anwachsenden Zerwürfnis künftige Versöhnungen versprechen, die desto reizender wurden, je weiter man sie hinausschob.
Übrigens war mein Leseschlaf eines Tages so plötzlich zu Ende, wie er begonnen hatte;
und da erzürnten wir einander gründlich. Denn Abelone ersparte mir nun keinerlei
Spott und Überlegenheit, und wenn ich sie in der Laube traf, behauptete sie zu lesen.
An dem einen Sonntag-Morgen lag das Buch zwar geschlossen neben ihr, aber sie schien
mehr als genug mit den Johannisbeeren
Es muß dies eine von jenen Tagesfrühen gewesen sein, wie es solche im Juli giebt, neue, ausgeruhte Stunden, in denen überall etwas frohes Unüberlegtes geschieht.
Aus Millionen kleinen ununterdrückbaren Bewegungen setzt sich ein Mosaik überzeugtesten Daseins zusammen; die Dinge schwingen ineinander hinüber und hinaus in die Luft, und ihre Kühle macht den Schatten klar und die Sonne zu einem leichten, geistigen Schein. Da giebt es im Garten keine Hauptsache; alles ist überall, und man müßte in allem sein, um nichts zu versäumen.
In Abelonens kleiner Handlung aber war das Ganze nochmal. Es war so glücklich erfunden, gerade dies zu tun und genau so, wie sie es tat. Ihre im Schattigen hellen Hände arbeiteten einander so leicht und einig zu, und vor der Gabel sprangen mutwillig die runden Beeren her, in die mit tauduffem Weinblatt ausgelegte Schale hinein, wo schon andere sich häuften, rote und blonde, glanzlichternd, mit gesunden Kernen im herben Innern. Ich wünschte unter diesen Umständen nichts als zuzusehen, aber, da es wahrscheinlich war, daß man mirs verwies, ergriff ich, auch um mich unbefangen zu geben, das Buch, setzte mich an die andere Seite des Tisches und ließ mich, ohne lang zu blättern, irgendwo damit ein.
»Wenn du doch wenigstens laut läsest, Leserich«, sagte Abelone nach einer Weile. Das
klang lange nicht mehr so streitsüchtig, und da es, meiner Meinung nach,
»Nein, nicht die Antworten«, unterbrach mich Abelone und legte auf einmal wie erschöpft die kleine Gabel nieder. Gleich darauf lachte sie über das Gesicht, mit dem ich sie ansah.
»Mein Gott, was hast du schlecht gelesen, Malte.«
Da mußte ich nun zugeben, daß ich keinen Augenblick bei der Sache gewesen sei. »Ich las nur, damit du mich unterbrichst«, gestand ich und wurde heiß und blätterte zurück nach dem Titel des Buches. Nun wußte ich erst, was es war. »Warum denn nicht die Antworten?« fragte ich neugierig.
Es war, als hätte Abelone mich nicht gehört. Sie saß da in ihrem lichten Kleid, als ob sie überall innen ganz dunkel würde, wie ihre Augen wurden.
»Gieb her«, sagte sie plötzlich wie im Zorn und nahm mir das Buch aus der Hand und schlug es richtig dort auf, wo sie es wollte. Und dann las sie einen von Bettinens Briefen.
Ich weiß nicht, was ich davon verstand, aber es war, als würde mir feierlich versprochen, dieses alles einmal einzusehen. Und während ihre Stimme zunahm und endlich fast jener glich, die ich vom Gesang her kannte, schämte ich mich, daß ich mir unsere Versöhnung so gering vorgestellt hatte. Denn ich begriff wohl, daß sie das war. Aber nun geschah sie irgendwo ganz im Großen, weit über mir, wo ich nicht hinreichte.
Eben warst du noch, Bettine; ich seh dich ein. Ist nicht die Erde noch warm von dir,
und die Vögel lassen noch Raum für deine Stimme. Der Tau ist ein anderer, aber die
Sterne sind noch die Sterne deiner Nächte. Oder ist nicht die Welt überhaupt von dir?
denn wie oft hast du sie in Brand gesteckt mit deiner Liebe und hast sie lodern sehen
und aufbrennen und hast sie heimlich durch eine andere ersetzt, wenn alle schliefen.
Du fühltest dich so recht im Einklang mit Gott, wenn du jeden Morgen eine neue Erde
von ihm verlangtest, damit doch alle drankämen, die er gemacht hatte. Es
Wie ist es möglich, daß nicht noch alle erzählen von deiner Liebe? Was ist denn seither geschehen, was merkwürdiger war? Was beschäftigt sie denn? Du selber wußtest um deiner Liebe Wert, du sagtest sie laut deinem größesten Dichter vor, daß er sie menschlich mache; denn sie war noch Element. Er aber hat sie den Leuten ausgeredet, da er dir schrieb. Alle haben diese Antworten gelesen und glauben ihnen mehr, weil der Dichter ihnen deutlicher ist als die Natur. Aber vielleicht wird es sich einmal zeigen, daß hier die Grenze seiner Größe war. Diese Liebende ward ihm auferlegt, und er hat sie nicht bestanden. Was heißt es, daß er nicht hat erwidern können? Solche Liebe bedarf keiner Erwiderung, sie hat Lockruf und Antwort in sich; sie erhört sich selbst. Aber demütigen hätte er sich müssen vor ihr in seinem ganzen Staat und schreiben was sie diktiert, mit beiden Händen, wie Johannes auf Patmos, knieend. Es gab keine Wahl dieser Stimme gegenüber, die »das Amt der Engel verrichtete«; die gekommen war, ihn einzuhüllen und zu entziehen ins Ewige hinein. Da war der Wagen seiner feurigen Himmelfahrt. Da war seinem Tod der dunkle Mythos bereitet, den er leer ließ.
Das Schicksal liebt es, Muster und Figuren zu erfinden. Seine Schwierigkeit beruht im
Komplizierten. Das
Es ist keine andere Klage je von Frauen geklagt worden: die beiden ersten Briefe Heloïsens enthalten nur sie, und fünfhundert Jahre später erhebt sie sich aus den Briefen der Portugiesin; man erkennt sie wie der wie einen Vogelruf. Und plötzlich geht durch den hellen Raum dieser Einsicht der Sappho fernste Gestalt, die die Jahrhunderte nicht fanden, da sie sie im Schicksal suchten.
Ich habe niemals gewagt, von ihm eine Zeitung zu kaufen. Ich bin nicht sicher, daß er
wirklich immer einige Nummern bei sich hat, wenn er sich außen am Luxembourg-Garten
langsam hin und zurück schiebt den ganzen Abend lang. Es kehrt dem Gitter den Rücken,
und seine Hand streift den Steinrand, auf dem die Stäbe aufstehen. Er macht sich so
flach, daß täglich viele vorübergehen, die ihn nie gesehen haben. Zwar
Wie unrecht hatte ich, ungern hinzusehen. Ich schäme mich aufzuschreiben, daß ich oft in seiner Nähe den Schritt der andern annahm, als wüßte ich nicht um ihn. Dann hörte ich es in ihm »La Presse« sagen und gleich darauf noch einmal und ein drittes Mal in raschen Zwischenräumen. Und die Leute neben mir sahen sich um und suchten die Stimme. Nur ich tat eiliger als alle, als wäre mir nichts aufgefallen, als wäre ich innen überaus beschäftigt.
Und ich war es in der Tat. Ich war beschäftigt, ihn mir vorzustellen, ich unternahm
die Arbeit, ihn einzubilden, und der Schweiß trat mir aus vor Anstrengung. Denn ich
mußte ihn machen wie man einen Toten macht, für den keine Beweise mehr da sind, keine
Bestandteile; der ganz und gar innen zu leisten ist. Ich weiß jetzt, daß es mir ein
wenig half, an die vielen abgenommenen Christusse aus streifigem Elfenbein zu denken,
die bei allen Althändlern herumliegen. Der Gedanke an irgendeine Pietà trat vor und
ab –: dies alles wahrscheinlich nur, um eine gewisse Neigung hervorzurufen, in der
sein langes Gesicht sich hielt, und den trostlosen Bartnachwuchs im Wangenschatten
Nun muß man wissen: es ging auf den Frühling zu. Der Tagwind hatte sich gelegt, die
Gassen waren lang und befriedigt; an ihrem Ausgang schimmerten Häuser, neu wie
frische Bruchstellen eines weißen Metalls. Aber es war ein Metall, das einen
überraschte durch seine Leichtigkeit. In den breiten, fortlaufenden Straßen
Ich wußte sofort, daß meine Vorstellung wertlos war. Die durch keine Vorsicht oder
Verstellung eingeschränkte Hingegebenheit seines Elends übertraf meine Mittel. Ich
hatte weder den Neigungswinkel seiner Haltung begriffen gehabt noch das Entsetzen,
mit dem die Innenseite seiner Lider ihn fortwährend zu erfüllen schien. Ich hatte nie
an seinen Mund gedacht, der eingezogen war wie die Öffnung eines Ablaufs.
Möglicherweise hatte er Erinnerungen; jetzt aber kam nie mehr etwas zu seiner Seele
hinzu als täglich das amorphe Gefühl des Steinrands hinter ihm, an dem seine Hand
sich abnutzte. Ich war stehngeblieben, und während ich das alles fast gleichzeitig
sah, fühlte ich, daß er einen anderen Hut hatte und eine ohne Zweifel sonntägliche
Halsbinde; sie war schräg in gelben und violetten Vierecken gemustert, und was den
Hut angeht, so war es ein billiger neuer Strohhut mit einem grünen Band. Es liegt
natürlich nichts an diesen Farben, und es ist kleinlich, daß ich sie behalten habe.
Ich will nur sagen, daß sie an ihm waren wie das Weicheste auf eines Vogels
Unterseite. Er selbst hatte keine Lust daran,
Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so bist du also. Es giebt Beweise für deine Existenz. Ich habe sie alle vergessen und habe keinen je verlangt, denn welche ungeheuere Verpflichtung läge in deiner Gewißheit. Und doch, nun wird mirs gezeigt. Dieses ist dein Geschmack, hier hast du Wohlgefallen. Daß wir doch lernten, vor allem aushalten und nicht urteilen. Welche sind die schweren Dinge? Welche die gnädigen? Du allein weißt es.
Wenn es wieder Winter wird und ich muß einen neuen Mantel haben, – gieb mir, daß ich ihn so trage, solang er neu ist.
Es ist nicht, daß ich mich von ihnen unterscheiden will, wenn ich in besseren, von Anfang an meinigen Kleidern herumgehe und darauf halte, irgendwo zu wohnen. Ich bin nicht so weit. Ich habe nicht das Herz zu ihrem Leben. Wenn mir der Arm einginge, ich glaube, ich versteckte ihn. Sie aber (ich weiß nicht, wer sie sonst war), sie erschien jeden Tag vor den Terrassen der Caféhäuser, und obwohl es sehr schwer war für sie, den Mantel abzutun und sich aus dem unklaren Zeug und Unterzeug herauszuziehen, sie scheute der Mühe nicht und tat ab und zog aus so lange, daß mans kaum mehr erwarten konnte. Und dann stand sie vor uns, bescheiden, mit ihrem dürren, verkümmerten Stück, und man sah, daß es rar war.
Nein, es ist nicht, daß ich mich von ihnen unter scheiden
Im Manuskript an den Rand geschrieben.(Ich weiß ja nicht einmal, wie es möglich ist, daß die Schulkinder aufstehn in den Kammern voll grauriechender Kälte; wer sie bestärkt, die überstürzten Skelettchen, daß sie hinauslaufen in die erwachsene Stadt, in die trübe Neige der Nacht, in den ewigen Schultag, immer noch klein, immer voll Vorgefühl, immer verspätet. Ich habe keine Vorstellung von der Menge Beistand, die fortwährend verbraucht wird.)
Diese Stadt ist voll von solchen, die langsam zu ihnen hinabgleiten. Die meisten sträuben sich erst; aber dann giebt es diese verblichenen, alternden Mädchen, die sich fortwährend ohne Widerstand hinüberlassen, starke, im Innersten ungebrauchte, die nie geliebt worden sind.
Vielleicht meinst du, mein Gott, daß ich alles lassen soll und sie lieben. Oder warum
wird es mir so schwer, ihnen nicht nachzugehen, wenn sie mich überholen? Warum erfind
ich auf einmal die süßesten, nächtlichsten Worte, und meine Stimme steht sanft in mir
zwischen
Und doch, ich weiß, wenn einer nun versuchte, sie liebzuhaben, so wären sie schwer an ihm wie Zuweitgegangene, die aufhören zu gehn. Ich glaube, nur Jesus ertrüge sie, der noch das Auferstehen in allen Gliedern hat; aber ihm liegt nichts an ihnen. Nur die Liebenden verführen ihn, nicht die, die warten mit einem kleinen Talent zur Geliebten wie mit einer kalten Lampe.
Ich weiß, wenn ich zum Äußersten bestimmt bin, so wird es mir nichts helfen, daß ich
mich verstelle in meinen besseren Kleidern. Glitt er nicht mitten im Königtum unter
die Letzten? Er, der statt aufzusteigen hinabsank bis auf den Grund. Es ist wahr, ich
habe zuzeiten an die anderen Könige geglaubt, obwohl die Parke nichts mehr beweisen.
Aber es ist Nacht, es ist Winter, ich friere, ich glaube an ihn. Denn die
Herrlichkeit ist
Ist nicht dieser der Einzige, der sich erhielt unter seinem Wahnsinn wie Wachsblumen unter einem Glassturz? Für die anderen beteten sie in den Kirchen um langes Leben, von ihm aber verlangte der Kanzler Jean Charlier Gerson, daß er ewig sei, und das war damals, als er schon der Dürftigste war, schlecht und von schierer Armut trotz seiner Krone.
Das war damals, als von Zeit zu Zeit Männer fremdlings, mit geschwärztem Gesicht, ihn
in seinem Bette überfielen, um ihm das in die Schwären hineingefaulte Hemde
abzureißen, das er schon längst für sich selber hielt. Es war verdunkelt im Zimmer,
und sie zerrten unter seinen steifen Armen die mürben Fetzen weg, wie sie sie
griffen. Dann leuchtete einer vor, und da erst entdeckten sie die jäsige Wunde auf
seiner Brust, in die das eiserne Amulett eingesunken war, weil er es jede Nacht an
sich preßte mit aller Kraft seiner Inbrunst; nun stand es tief in ihm, fürchterlich
kostbar, in einem Perlensaum von Eiter wie ein wundertuender Rest in der Mulde eines
Reliquärs. Man hatte harte Handlanger ausgesucht, aber sie waren nicht ekelfest, wenn
die Würmer, gestört, nach ihnen herüberstanden aus dem flandrischen Barchent und, aus
den Falten abgefallen, sich irgendwo an ihren Ärmeln aufzogen. Es war ohne Zweifel
schlimmer geworden mit ihm seit den Tagen der parva regina; denn sie hatte doch noch
bei ihm liegen mögen, jung und klar wie sie war. Dann war sie gestorben. Und nun
hatte keiner mehr gewagt, eine Beischläferin
Aber es lag an den Ereignissen jener Zeitläufte, daß sie nicht schonend beizubringen waren. Wo etwas geschah, da geschah es mit seiner ganzen Schwere, und war wie aus einem Stück, wenn man es sagte. Oder was war davon abzuziehen, daß sein Bruder ermordet war, daß gestern Valentina Visconti, die er immer seine liebe Schwester nannte, vor ihm gekniet hatte, lauter Witwenschwarz weghebend von des entstellten Antlitzes Klage und Anklage? Und heute stand stundenlang ein zäher, rediger Anwalt da und bewies das Recht des fürstlichen Mordgebers, solange bis das Verbrechen durchscheinend wurde und als wollte es licht in den Himmel fahren. Und gerecht sein hieß, allen recht geben; denn Valentina von Orleans starb Kummers, obwohl man ihr Rache versprach. Und was half es, dem burgundischen Herzog zu verzeihen und wieder zu verzeihen; über den war die finstere Brunst der Verzweiflung gekommen, so daß er schon seit Wochen tief im Walde von Argilly wohnte in einem Zelt und behauptete, nachts die Hirsche schreien hören zu müssen zu seiner Erleichterung.
Dies hatte man ihm eingeprägt als den Anfang seines Ruhms. Und er hatte es behalten.
Aber, wenn das damals der Triumph des Todes war, so war dieses, daß er hier stand auf
seinen schwachen Knieen, aufrecht in allen diesen Augen: das Mysterium der Liebe. An
den anderen hatte er gesehen, daß man jenes Schlachtfeld begreifen konnte, so
ungeheuer es war. Dies hier wollte
Zu solchen Tagen war der König voll milden Bewußtseins. Hätte ein Maler jener Zeit
einen Anhalt gesucht für das Dasein im Paradiese, er hätte kein vollkommeneres
Vorbild finden können als des Königs gestillte Figur, wie sie in einem der hohen
Fenster des Louvre stand unter dem Sturz ihrer Schultern. Er blätterte in dem Kleinen
Buch der Christine de Pisan, das »Der Weg des langen Lernens« heißt und das ihm
gewidmet war. Er las nicht die gelehrten Streitreden jenes allegorischen
Aber wenn jemand eintrat, so erschrak er, und langsam beschlug sich sein Geist. Er
gab zu, daß man ihn vom Fenster fortführte und ihn beschäftigte. Sie hatten ihm die
Gewohnheit beigebracht, stundenlang über Abbildungen zu verweilen, und er war es
zufrieden, nur kränkte es ihn, daß man im Blättern niemals mehrere Bilder vor sich
behielt und daß sie in den Folianten festsaßen, so daß man sie nicht untereinander
bewegen konnte. Da hatte sich jemand eines Spiels Karten erinnert, das völlig in
Vergessenheit geraten war, und der König nahm den in Gunst, der es ihm brachte; so
sehr waren diese Kartons nach seinem Herzen, die bunt waren
Im ganzen aber war es wirklich eine beruhigende Beschäftigung, und sie hatten recht,
ihn immer wieder darauf zu bringen. Solche Stunden befestigten ihn in der Ansicht,
daß er der König sei, König Karl der Sechste. Das will nicht sagen, daß er sich
übertrieb; weit von ihm war die Meinung, mehr zu sein als so ein Blatt, aber die
Gewißheit bestärkte sich in ihm, daß auch er eine bestimmte Karte sei, vielleicht
eine schlechte, eine zornig ausgespielte, die immer verlor: aber immer die gleiche:
aber nie eine andere. Und doch, wenn eine Woche so hingegangen war in gleichmäßiger
Selbstbestätigung, so wurde ihm enge in ihm. Die Haut spannte ihn um die Stirn und im
Nacken, als empfände er auf
Es war das Verhängnisvolle dieser dargestellten Gedichte, daß sie sich immerfort ergänzten und erweiterten und zu Zehntausenden von Versen anwuchsen, so daß die Zeit in ihnen schließlich die wirkliche war; etwa so, als machte man einen Globus im Maßstab der Erde. Die hohle Estrade, unter der die Hölle war und über der, an einen Pfeiler angebaut, das geländerlose Gerüst eines Balkons das Niveau des Paradieses bedeutete, trug nur noch dazu bei, die Täuschung zu verringern. Denn dieses Jahrhundert hatte in der Tat Himmel und Hölle irdisch gemacht: es lebte aus den Kräften beider, um sich zu überstehen.
Es waren die Tage jener avignonesischen Christenheit, die sich vor einem
Menschenalter um Johann den Zweiundzwanzigsten zusammengezogen hatte, mit so viel
unwillkürlicher Zuflucht, daß an dem Platze seines Pontifikats, gleich nach ihm, die
Masse dieses Palastes entstanden war, verschlossen und schwer wie ein äußerster
Notleib für die wohnlose Seele aller. Er selbst aber, der kleine, leichte, geistige
Greis, wohnte noch im Offenen. Während er, kaum angekommen, ohne Aufschub, nach allen
Seiten hin rasch und knapp zu handeln begann, standen die Schüsseln mit Gift gewürzt
auf seiner Tafel; der erste Becher mußte immer weggeschüttet werden, denn das Stück
Einhorn war mißfarbig, wenn
Aber da geschah das Unglaubliche. Am Allerheiligentag hatte er gepredigt, länger, wärmer als sonst; in einem plötzlichen Bedürfnis, wie um ihn selbst wiederzusehen, hatte er seinen Glauben gezeigt; aus dem fünfundachtzigjährigen Tabernakel hatte er ihn mit aller Kraft langsam herausgehoben und auf der Kanzel ausgestellt: und da schrieen sie ihn an. Ganz Europa schrie: dieser Glaube war schlecht.
Damals verschwand der Papst. Tagelang ging keine Aktion von ihm aus, er lag in seinem Betzimmer auf den Knieen und erforschte das Geheimnis der Handelnden, die Schaden nehmen an ihrer Seele. Endlich erschien er, erschöpft von der schweren Einkehr, und widerrief. Er widerrief einmal über das andere. Es wurde die senile Leidenschaft seines Geistes, zu widerrufen. Es konnte geschehen, daß er nachts die Kardinäle wecken ließ, um mit ihnen von seiner Reue zu reden. Und vielleicht war das, was sein Leben über die Maßen hinhielt, schließlich nur die Hoffnung, sich auch noch vor Napoleon Orsini zu demütigen, der ihn haßte und der nicht kommen wollte.
Jakob von Cahors hatte widerrufen. Und man könnte meinen, Gott selber hätte seine
Irrung erweisen wollen, da er so bald hernach jenen Sohn des Grafen von Ligny
aufkommen ließ, der seine Mündigkeit auf Erden nur abzuwarten schien, um des Himmels
seelische Sinnlichkeiten mannbar anzutreten. Es lebten viele, die sich dieses
Da sitze ich in der kalten Nacht und schreibe und weiß das alles. Ich weiß es vielleicht, weil mir jener Mann begegnet ist, damals als ich klein war. Er war sehr groß, ich glaube sogar, daß er auffallen mußte durch seine Größe.
Damals erlebte ich, was ich jetzt begreife: jene schwere, massive, verzweifelte Zeit.
Die Zeit, in der der Kuß
Wer konnte stark sein und sich des Mordes enthalten? Wer in dieser Zeit wußte nicht, daß das Äußerste unvermeidlich war? Da und dort über einen, dessen Blick untertags dem kostenden Blick seines Mörders begegnet war, kam ein seltsames Vorgefühl. Er zog sich zurück, er schloß sich ein, er schrieb das Ende seines Willens und verordnete zum Schluß die Trage aus Weidengeflecht, die Cölestinerkutte und Aschenstreu. Fremde Minstrel erschienen vor seinem Schloß, und er beschenkte sie fürstlich für ihre Stimme, die mit seinen vagen Ahnungen einig war. Im Aufblick der Hunde war Zweifel, und sie wurden weniger sicher in ihrer Aufwartung. Aus der Devise, die das ganze Leben lang gegolten hatte, trat leise ein neuer, offener Nebensinn. Manche lange Gewohnheit kam einem veraltet vor, aber es war, als bildete sich kein Ersatz mehr für sie. Stellten sich Pläne ein, so ging man im großen mit ihnen um, ohne wirklich an sie zu glauben; dagegen griffen gewisse Erinnerungen zu einer unerwarteten Endgültigkeit. Abends, am Feuerplatz, meinte man sich ihnen zu überlassen. Aber die Nacht draußen, die man nicht mehr kannte, wurde auf einmal ganz stark im Gehör. Das an so vielen freien oder gefährlichen Nächten erfahrene Ohr unterschied einzelne Stücke der Stille.
Und dann, vor dem späten Nachtessen diese Nachdenklichkeit über die Hände in dem silbernen Waschbecken. Die eigenen Hände. Ob ein Zusammenhang in das Ihre zu bringen war? eine Folge, eine Fortsetzung im Greifen und Lassen? Nein. Alle versuchten das Teil und das Gegenteil. Alle hoben sich auf, Handlung war keine.
Es gab keine Handlung, außer bei den Missionsbrüdern. Der König, so wie er sie hatte
sich gebärden sehn, erfand selbst den Freibrief für sie. Er redete sie seine lieben
Brüder an; nie war ihm jemand so nahegegangen. Es wurde ihnen wörtlich bewilligt, in
ihrer Bedeutung unter den Zeitlichen herumzugehen; denn der König wünschte nichts
mehr, als daß sie viele anstecken sollten und hineinreißen in ihre starke Aktion, in
der Ordnung war. Was ihn selbst betrifft, so sehnte er sich, von ihnen zu lernen.
Trug er nicht, ganz wie sie, die Zeichen und Kleider eines Sinnes an sich? Wenn er
ihnen zusah, so konnte er glauben, dies müßte sich erlernen lassen: zu kommen und zu
gehen, auszusagen und sich abzubiegen, so daß kein Zweifel war. Ungeheuere Hoffnungen
überzogen sein Herz. In diesem unruhig beleuchteten, merkwürdig unbestimmten Saal des
Dreifaltigkeitshospitals
In solchen Momenten richtete er sich auf. Er sah um sich wie vor einer Entscheidung. Er war ganz nahe daran, das Gegenstück zu dieser Handlung hier einzusehen: die große, bange, profane Passion, in der er spielte. Aber auf einmal war es vorbei. Alle bewegten sich ohne Sinn. Offene Fackeln kamen auf ihn zu, und in die Wölbung hinauf warfen sich formlose Schatten. Menschen, die er nicht kannte, zerrten an ihm. Er wollte spielen; aber aus seinem Mund kam nichts, seine Bewegungen ergaben keine Gebärde. Sie drängten sich so eigentümlich um ihn, es kam ihm die Idee, daß er das Kreuz tragen sollte. Und er wollte warten, daß sie es brächten. Aber sie waren stärker, und sie schoben ihn langsam hinaus.
Aussen ist vieles anders geworden. Ich weiß nicht wie. Aber innen und vor Dir, mein
Gott, innen vor Dir, Zuschauer: sind wir nicht ohne Handlung? Wir entdecken wohl, daß
wir die Rolle nicht wissen, wir suchen einen Spiegel, wir möchten abschminken und das
Falsche
Das war im Theater zu Orange. Ohne recht aufzusehen, nur im Bewußtsein des rustiken Bruchs, der jetzt seine Fassade ausmacht, war ich durch die kleine Glastür des Wächters eingetreten. Ich befand mich zwischen liegenden Säulenkörpern und kleinen Althaeabäumen, aber sie verdeckten mir nur einen Augenblick die offene Muschel des Zuschauerhangs, die dalag, geteilt von den Schatten des Nachmittags, wie eine riesige konkave Sonnenuhr. Ich ging rasch auf sie zu. Ich fühlte, zwischen den Sitzreihen aufsteigend, wie ich abnahm in dieser Umgebung. Oben, etwas höher, standen, schlecht verteilt, ein paar Fremde herum in müßiger Neugier; ihre Anzüge waren unangenehm deutlich, aber ihr Maßstab war nicht der Rede wert. Eine Weile faßten sie mich ins Auge und wunderten sich über meine Kleinheit. Das machte, daß ich mich umdrehte.
Oh, ich war völlig unvorbereitet. Es wurde gespielt. Ein immenses, ein übermenschliches Drama war im Gange, das Drama dieser gewaltigen Szenenwand, deren senkrechte Gliederung dreifach auftrat, dröhnend vor Größe, fast vernichtend und plötzlich maßvoll im Übermaß.
Ich ließ mich hin vor glücklicher Bestürzung. Dieses Ragende da mit der antlitzhaften
Ordnung seiner Schatten,
Diese Stunde, das begreife ich jetzt, schloß mich für immer aus von unseren Theatern. Was soll ich dort? Was soll ich vor einer Szene, in der diese Wand (die Ikonwand der russischen Kirchen) abgetragen wurde, weil man nicht mehr die Kraft hat, durch ihre Härte die Handlung durchzupressen, die gasförmige, die in vollen schweren Öltropfen austritt. Nun fallen die Stücke in Brocken durch das lochige Grobsieb der Bühnen und häufen sich an und werden weggeräumt, wenn es genug ist. Es ist dieselbe ungare Wirklichkeit, die auf den Straßen liegt und in den Häusern, nur daß mehr davon dort zusammenkommt, als sonst in einen Abend geht.
Im Manuskript an den Rand geschrieben.(Laßt uns doch aufrichtig sein, wir haben kein Theater, so wenig wir einen Gott haben: dazu gehört Gemeinsamkeit. Jeder hat seine besonderen Einfälle und Befürchtungen, und er läßt den andern so viel davon sehen, als ihm nützt und paßt. Wir verdünnen fortwährend unser Verstehen, damit es reichen soll, statt zu schreien nach der Wand einer gemeinsamen Not, hinter der das Unbegreifliche Zeit hat, sich zu sammeln und anzuspannen.)
Es ist wahr, du warst ein Schauspielerkind, und wenn die Deinen spielten, so wollten sie gesehen sein; aber du schlugst aus der Art. Dir sollte dieser Beruf werden, was für Marianna Alcoforado, ohne daß sie es ahnte, die Nonnenschaft war, eine Verkleidung, dicht und dauernd genug, um hinter ihr rückhaltlos elend zu sein, mit der Inständigkeit, mit der unsichtbare Selige selig sind. In allen Städten, wohin du kamst, beschrieben sie deine Gebärde; aber sie begriffen nicht, wie du, aussichtsloser von Tag zu Tag, immer wieder eine Dichtung vor dich hobst, ob sie dich berge. Du hieltest dein Haar, deine Hände, irgendein dichtes Ding vor die durchscheinenden Stellen. Du hauchtest die an, die durchsichtig waren; du machtest dich klein; du verstecktest dich, wie Kinder sich verstecken, und dann hattest du jenen kurzen, glücklichen Auflaut, und höchstens ein Engel hätte dich suchen dürfen. Aber, schautest du dann vorsichtig auf, so war kein Zweifel, daß sie dich die ganze Zeit gesehen hatten, alle in dem häßlichen, hohlen, äugigen Raum: dich, dich, dich und nichts anderes.
Und es kam dich an, ihnen den Arm verkürzt entgegenzustrecken
Schlecht leben die Geliebten und in Gefahr. Ach, daß sie sich überstünden und
Liebende würden. Um die Liebenden ist lauter Sicherheit. Niemand verdächtigt sie
mehr, und sie selbst sind nicht imstande, sich zu verraten. In ihnen ist das
Geheimnis heil geworden, sie schreien es im Ganzen aus wie Nachtigallen, es hat keine
Teile. Sie klagen um einen; aber die ganze Natur stimmt in sie ein: es ist die Klage
um einen Ewigen. Sie stürzen sich dem Verlorenen nach, aber schon mit den ersten
Schritten überholen sie ihn, und vor ihnen ist nur noch Gott. Ihre Legende ist die
der Byblis, die den Kaunos verfolgt
Was ist anderes der Portugiesin geschehen: als daß sie innen zur Quelle ward? Was dir, Heloïse? was euch, Liebenden, deren Klagen auf uns gekommen sind: Gaspara Stampa; Gräfin von Die und Clara d'Anduze; Louise Labbé, Marceline Desbordes, Elisa Mercœur? Aber du, arme flüchtige Aïssé, du zögertest schon und gabst nach. Müde Julie Lespinasse. Trostlose Sage des glücklichen Parks: Marie-Anne de Clermont.
Ich weiß noch genau, einmal, vorzeiten, zuhaus, fand ich ein Schmucketui; es war zwei Hände groß, fächerförmig mit einem eingepreßten Blumenrand im dunkelgrünen Saffian. Ich schlug es auf: es war leer. Das kann ich nun sagen nach so langer Zeit. Aber damals, da ich es geöffnet hatte, sah ich nur, woraus diese Leere bestand: aus Samt, aus einem kleinen Hügel lichten, nicht mehr frischen Samtes; aus der Schmuckrille, die, um eine Spur Wehmut heller, leer, darin verlief. Einen Augenblick war das auszuhalten. Aber vor denen, die als Geliebte zurückbleiben, ist es vielleicht immer so.
Blättert zurück in euren Tagebüchern. War da nicht immer um die Frühlinge eine Zeit,
da das ausbrechende Jahr euch wie ein Vorwurf betraf? Es war Lust zum Frohsein in
euch, und doch, wenn ihr hinaustratet in das geräumige Freie, so entstand draußen
eine Befremdung
Vielleicht. Vielleicht ist das neu, daß wir das überstehen: das Jahr und die Liebe. Blüten und Früchte sind reif, wenn sie fallen; die Tiere fühlen sich und finden sich zueinander und sind es zufrieden. Wir aber, die wir uns Gott vorgenommen haben, wir können nicht fertig werden. Wir rücken unsere Natur hinaus, wir brauchen noch Zeit. Was ist uns ein Jahr? Was sind alle? Noch eh wir Gott angefangen haben, beten wir schon zu ihm: laß uns die Nacht überstehen. Und dann das Kranksein. Und dann die Liebe.
Daß Clémence de Bourges hat sterben müssen in ihrem Aufgang. Sie, die ohne gleichen
war; unter den Instrumenten, die sie wie keine zu spielen verstand, das schönste,
selber im mindesten Klang ihrer Stimme unvergeßlich gespielt. Ihr Mädchentum war von
so hoher Entschlossenheit, daß eine flutende Liebende diesem aufkommenden
Mädchen in meiner Heimat. Daß die schönste von euch im Sommer an einem Nachmittag in der verdunkelten Bibliothek sich das kleine Buch fände, das Jan des Tournes 1556 gedruckt hat. Daß sie den kühlenden, glatten Band mitnähme hinaus in den summenden Obstgarten oder hinüber zum Phlox, in dessen übersüßtem Duft ein Bodensatz schierer Süßigkeit steht. Daß sie es früh fände. In den Tagen, da ihre Augen anfangen, auf sich zu halten, während der jüngere Mund noch imstande ist, viel zu große Stücke von einem Apfel abzubeißen und voll zu sein.
Und wenn dann die Zeit der bewegteren Freundschaften kommt, Mädchen, daß es euer Geheimnis wäre, einander Dika zu rufen und Anaktoria, Gyrinno und Atthis. Daß einer, ein Nachbar vielleicht, ein älterer Mann, der in seiner Jugend gereist ist und längst als Sonderling gilt, euch diese Namen verriete. Daß er euch manchmal zu sich einlüde, um seiner berühmten Pfirsiche willen oder wegen der Ridingerstiche zur Equitation oben in weißen Gang, von denen so viel gesprochen wird, daß man sie müßte gesehen haben.
Über dem allen erwärmt er sich wieder für seine Arbeit. Es kommen schöne, fast
jugendliche Abende für ihn, Herbstabende zum Beispiel, die sehr viel stille Nacht vor
sich haben. In seinem Kabinett ist dann lange Licht. Er bleibt nicht immer über die
Blätter gebeugt, er lehnt sich oft zurück, er schließt die Augen über einer wieder
gelesenen Zeile, und ihr Sinn verteilt sich in seinem Blut. Nie war er der Antike so
gewiß. Fast möchte er der Generationen lächeln, die sie beweint haben wie ein
verlorenes Schauspiel, in dem sie gerne aufgetreten wären. Nun begreift er momentan
die dynamische Bedeutung jener frühen Welteinheit, die etwas wie ein
Wie er dies denkt, der Einsame in seiner Nacht, denkt und einsieht, bemerkt er einen Teller mit Früchten auf der Fensterbank. Unwillkürlich greift er einen Apfel heraus und legt ihn vor sich auf den Tisch. Wie steht mein Leben herum um diese Frucht, denkt er. Um alles Fertige steigt das Ungetane und steigert sich.
Und da, über dem Ungetanen, ersteht ihm, fast zu schnell, die kleine, ins Unendliche hinaus gespannte Gestalt, die (nach Galiens Zeugnis) alle meinten, wenn sie sagten: die Dichterin. Denn wie hinter den Werken des Herakles Abbruch und Umbau der Welt verlangend aufstand, so drängten sich, gelebt zu wer den, aus den Vorräten des Seins an die Taten ihres Herzens die Seligkeiten und Verzweiflungen heran, mit denen die Zeiten auskommen müssen.
Er kennt auf einmal dieses entschlossene Herz, das bereit
Hier steht der Sinnende auf und tritt an sein Fenster, sein hohes Zimmer ist ihm zu
nah, er möchte Sterne sehen, wenn es möglich ist. Er täuscht sich nicht über sich
selbst. Er weiß, daß diese Bewegung ihn erfüllt, weil unter den jungen Mädchen aus
der Nachbarschaft die eine ist, die ihn angeht. Er hat Wünsche (nicht für sich, nein,
aber für sie); für sie versteht er in einer nächtlichen Stunde, die vorübergeht, den
Anspruch der Liebe. Er verspricht sich, ihr nichts davon zu sagen. Es scheint ihm das
Äußerste, allein zu sein und wach und um ihretwillen zu denken, wie sehr im Recht
jene Liebende war: wenn sie wußte, daß mit der Vereinigung nichts gemeint sein kann,
als ein Zuwachs an Einsamkeit; wenn sie den zeitlichen Zweck des Geschlechtes
durchbrach mit seiner unendlichen Absicht. Wenn sie im Dunkel der Umarmungen nicht
nach Stillung grub, sondern nach Sehnsucht. Wenn sie es verachtete, daß von
Einmal noch, Abelone, in den letzten Jahren fühlte ich dich und sah dich ein, unerwartet, nachdem ich lange nicht an dich gedacht hatte.
Das war in Venedig, im Herbst, in einem jener Salons, in denen Fremde sich
vorübergehend um die Dame des Hauses versammeln, die fremd ist wie sie. Diese Leute
stehen herum mit ihrer Tasse Tee und sind entzückt, sooft ein kundiger Nachbar sie
kurz und verkappt nach der Tür dreht, um ihnen einen Namen zuzuflüstern, der
venezianisch klingt. Sie sind auf die äußersten Namen gefaßt, nichts kann sie
überraschen; denn so sparsam sie sonst auch im Erleben sein mögen, in dieser Stadt
geben sie sich nonchalant den übertriebensten Möglichkeiten hin. In ihrem
gewöhnlichen Dasein verwechseln sie beständig das Außerordentliche mit dem
Verbotenen, so daß die Erwartung des Wunderbaren, die sie sich nun gestatten, als ein
grober, ausschweifender Ausdruck in ihre Gesichter tritt. Was ihnen zu Hause nur
momentan in Konzerten passiert oder wenn sie mit einem Roman allein sind, das tragen
sie unter diesen
Da stand ich nun zwischen ihnen und freute mich, daß ich nicht reiste. In kurzem
würde es kalt sein. Das weiche, opiatische Venedig ihrer Vorurteile und Bedürfnisse
verschwindet mit diesen somnolenten Ausländern, und eines Morgens ist das andere da,
das wirkliche, wache, bis zum Zerspringen spröde, durchaus nicht erträumte: das
mitten im Nichts auf versenkten Wäldern gewollte, erzwungene und endlich so durch und
durch vorhandene Venedig. Der abgehärtete, auf das Nötigste beschränkte Körper, durch
den das nachtwache Arsenal das Blut seiner Arbeit trieb, und dieses Körpers
penetranter, sich fortwährend erweiternder Geist, der stärker war als der Duft
aromatischer Länder. Der suggestive Staat, der das Salz und
Das Bewußtsein, daß ich es kannte, überkam mich unter allen diesen sich täuschenden Leuten mit so viel Widerspruch, daß ich aufsah, um mich irgendwie mitzuteilen. War es denkbar, daß in diesen Sälen nicht einer war, der unwillkürlich darauf wartete, über das Wesen dieser Umgebung aufgeklärt zu sein? Ein junger Mensch, der es sofort begriff, daß hier nicht ein Genuß aufgeschlagen war, sondern ein Beispiel des Willens, wie es nirgends anfordernder und strenger sich finden ließ? Ich ging umher, meine Wahrheit beunruhigte mich. Da sie mich hier unter so vielen ergriffen hatte, brachte sie den Wunsch mit, ausgesprochen, verteidigt, bewiesen zu sein. Die groteske Vorstellung entstand in mir, wie ich im nächsten Augenblick in die Hände klatschen würde aus Haß gegen das von allen zerredete Mißverständnis.
In dieser lächerlichen Stimmung bemerkte ich sie. Sie stand allein vor einem strahlenden Fenster und betrachtete mich; nicht eigentlich mit den Augen, die ernst und nachdenklich waren, sondern geradezu mit dem Mund, der dem offenbar bösen Ausdruck meines Gesichtes ironisch nachahmte. Ich fühlte sofort die ungeduldige Spannung in meinen Zügen und nahm ein gelassenes Gesicht an, worauf ihr Mund natürlich wurde und hochmütig. Dann, nach kurzem Bedenken, lächelten wir einander gleichzeitig zu.
Ich war aber noch nicht nahe genug, da schob sich von der andern Seite eine Strömung
zu ihr hin; unsere gästeglückliche Gräfin selbst, in ihrer warmen, begeisterten
Zerstreutheit, stürzte sich mit einer Menge Beistand über sie, um sie auf der Stelle
zum Singen abzuführen. Ich war sicher, daß das junge Mädchen sich damit entschuldigen
würde, daß niemand in der Gesellschaft Interesse haben könne, dänisch singen zu
hören. Dies tat sie auch, sowie sie zu Worte kam. Das Gedränge um die lichte Gestalt
herum wurde eifriger; jemand wußte, daß sie auch deutsch singe. »Und italienisch«,
ergänzte eine lachende Stimme mit boshafter Überzeugung. Ich wußte keine Ausrede, die
ich ihr hätte wünschen können, aber ich zweifelte nicht, daß sie widerstehen würde.
Schon breitete sich eine trockene Gekränktheit über die vom langen Lächeln
abgespannten Gesichter der Überredenden aus, schon trat die gute Gräfin, um sich
nichts zu vergeben, mitleidig und würdig einen Schritt ab, da, als es durchaus nicht
mehr nötig war, gab sie nach. Ich fühlte, wie ich blaß wurde vor Enttäuschung; mein
Blick füllte sich mit Vorwurf, aber ich wandte mich weg, es lohnte nicht, sie das
sehn
»Ich will wirklich singen«, sagte sie auf dänisch meine Wange entlang, »nicht weil sie's verlangen, nicht zum Schein: weil ich jetzt singen muß.«
Aus ihren Worten brach dieselbe böse Unduldsamkeit, von welcher sie mich eben befreit hatte.
Ich folgte langsam der Gruppe, mit der sie sich entfernte. Aber an einer hohen Tür blieb ich zurück und ließ die Menschen sich verschieben und ordnen. Ich lehnte mich an das schwarzspiegelnde Türinnere und wartete. Jemand fragte mich, was sich vorbereite, ob man singen werde. Ich gab vor, es nicht zu wissen. Während ich log, sang sie schon.
Ich konnte sie nicht sehen. Es wurde allmählich Raum um eines jener italienischen Lieder, die die Fremden für sehr echt halten, weil sie von so deutlicher Übereinkunft sind. Sie, die es sang, glaubte nicht daran. Sie hob es mit Mühe hinauf, sie nahm es viel zu schwer. An dem Beifall vorne konnte man merken, wann es zu Ende war. Ich war traurig und beschämt. Es entstand einige Bewegung, und ich nahm mir vor, sowie jemand gehen würde, mich anzuschließen.
Aber da wurde es mit einemmal still. Eine Stille ergab sich, die eben noch niemand
für möglich gehalten hätte; sie dauerte an, sie spannte sich, und jetzt erhob sich in
ihr die Stimme. (Abelone, dachte ich. Abelone.) Diesmal war sie stark, voll und doch
nicht schwer; aus einem Stück, ohne Bruch, ohne Naht. Es war ein unbekanntes
»Du, der ichs nicht sage, daß ich bei Nacht
weinend liege,
deren Wesen mich müde macht
wie eine Wiege.
Du, die mir nicht sagt, wenn sie wacht
meinetwillen:
wie, wenn wir diese Pracht
ohne zu stillen
in uns ertrügen?
(kurze Pause und zögernd):
Sieh dir die Liebenden an,
wenn erst das Bekennen begann,
wie bald sie lügen.«
Wieder die Stille. Gott weiß, wer sie machte. Dann rührten sich die Leute, stießen aneinander, entschuldigten sich, hüstelten. Schon wollten sie in ein allgemeines verwischendes Geräusch übergehen, da brach plötzlich die Stimme aus, entschlossen, breit und gedrängt:
»Du machst mich allein. Dich einzig kann ich vertauschen.
Eine Weile bist dus, dann wieder ist es das Rauschen,
oder es ist ein Duft ohne Rest.
Ach, in den Armen hab ich sie alle verloren,
du nur, du wirst immer wieder geboren:
weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest.«
Niemand hatte es erwartet. Alle standen gleichsam geduckt unter dieser Stimme. Und zum Schluß war eine solche Sicherheit in ihr, als ob sie seit Jahren gewußt hätte, daß sie in diesem Augenblick würde einzusetzen haben.
Fast glaube ich es, wenn ich bedenke, wie an dieser Erleichterung Gottes eine so einfältige Liebende wie Mechthild, eine so hinreißende wie Therese von Avila, eine so wunde wie die Selige Rose von Lima, hinsinken konnte, nachgiebig, doch geliebt. Ach, der für die Schwachen ein Helfer war, ist diesen Starken ein Unrecht; wo sie schon nichts mehr erwarteten, als den unendlichen Weg, da tritt sie noch einmal im spannenden Vorhimmel ein Gestalteter an und verwöhnt sie mit Unterkunft und verwirtt sie mit Mannheit. Seines starkbrechenden Herzens Linse nimmt noch einmal ihre schon parallelen Herzstrahlen zusamm, und sie, die die Engel schon ganz für Gott zu erhalten hofften, flammen auf in der Dürre ihrer Sehnsucht.
Im Manuskript an den Rand geschrieben.(Geliebtsein heißt aufbrennen. Lieben ist:
Leuchten mit unerschöpflichem Öle. Geliebtwerden ist vergehen, Lieben ist dauern.)
Man wird mich schwer davon überzeugen, daß die Geschichte des verlorenen Sohnes nicht die Legende dessen ist, der nicht geliebt werden wollte. Da er ein Kind war, liebten ihn alle im Hause. Er wuchs heran, er wußte es nicht anders und gewöhnte sich in ihre Herzweiche, da er ein Kind war.
Aber als Knabe wollte er seine Gewohnheiten ablegen. Er hätte es nicht sagen können,
aber wenn er draußen herumstrich den ganzen Tag und nicht einmal mehr die Hunde
mithaben wollte, so wars, weil auch sie ihn liebten; weil in ihren Blicken
Beobachtung war und Teilnahme, Erwartung und Besorgtheit; weil man auch vor ihnen
nichts tun konnte, ohne zu freuen oder zu kränken. Was er aber damals meinte, das war
die innige Indifferenz seines Herzens, die ihn manchmal früh in den Feldern mit
solcher Reinheit ergriff, daß er, zu laufen begann, um nicht Zeit und Atem zu haben,
Das Geheimnis seines noch nie gewesenen Lebens breitete sich vor ihm aus. Unwillkürlich verließ er den Fußpfad und lief weiter feldein, die Arme ausgestreckt, als könnte er in dieser Breite mehrere Richtungen auf einmal bewältigen. Und dann warf er sich irgendwo hinter eine Hecke, und niemand legte Wert auf ihn. Er schälte sich eine Flöte, er schleuderte einen Stein nach einem kleinen Raubtier, er neigte sich vor und zwang einen Käfer umzukehren: dies alles wurde kein Schicksal, und die Himmel gingen wie über Natur. Schließlich kam der Nachmittag mit lauter Einfällen; man war ein Bucanier auf der Insel Tortuga, und es lag keine Verpflichtung darin, es zu sein; man belagerte Campêche, man eroberte Vera-Cruz; es war möglich, das ganze Heer zu sein oder ein Anführer zu Pferd oder ein Schiff auf dem Meer: je nachdem man sich fühlte. Fiel es einem aber ein, hinzuknien, so war man rasch Deodat von Gozon und hatte den Drachen erlegt und vernahm, ganz heiß, daß dieses Heldentum hoffährtig war, ohne Gehorsam. Denn man ersparte sich nichts, was zur Sache gehörte. Soviel Einbildungen sich aber auch einstellten, zwischendurch war immer noch Zeit, nichts als ein Vogel zu sein, ungewiß welcher. Nur daß der Heimweg dann kam.
Mein Gott, was war da alles abzulegen und zu vergessen; denn richtig vergessen, das
war nötig; sonst verriet man sich, wenn sie drängten. Wie sehr man auch zögerte und
sich umsah, schließlich kam doch der
So einem nützt es nichts, mit unsäglicher Vorsicht die Treppen zu steigen. Alle werden im Wohnzimmer sein, und die Türe muß nur gehn, so sehen sie hin. Er bleibt im Dunkel, er will ihre Fragen abwarten. Aber dann kommt das Ärgste. Sie nehmen ihn bei den Händen, sie ziehen ihn an den Tisch, und alle, soviel ihrer da sind, strecken sich neugierig vor die Lampe. Sie haben es gut, sie halten sich dunkel, und auf ihn allein fällt, mit dem Licht, alle Schande, ein Gesicht zu haben.
Wird er bleiben und das ungefähre Leben nachlügen, das sie ihm zuschreiben, und ihnen allen mit dem ganzen Gesicht ähnlich werden? Wird er sich teilen zwischen der zarten Wahrhaftigkeit seines Willens und dem plumpen Betrug, der sie ihm selber verdirbt? Wird er es aufgeben, das zu werden, was denen aus seiner Familie, die nur noch ein schwaches Herz haben, schaden könnte?
Wie konnte er dann nächtelang weinen vor Sehnsucht, selbst so durchleuchtet zu sein. Aber eine Geliebte, die nachgiebt, ist noch lang keine Liebende. O, trostlose Nächte, da er seine flutenden Gaben in Stücken wiederempfing, schwer von Vergänglichkeit. Wie gedachte er dann der Troubadours, die nichts mehr fürchteten als erhört zu sein. Alles erworbene und vermehrte Geld gab er dafür hin, dies nicht noch zu er fahren. Er kränkte sie mit seiner groben Bezahlung, von Tag zu Tag bang, sie könnten versuchen, auf seine Liebe einzugehen. Denn er hatte die Hoffnung nicht mehr, die Liebende zu erleben, die ihn durchbrach.
Wer beschreibt, was ihm damals geschah? Welcher Dichter hat die Überredung, seiner damaligen Tage Länge zu vertragen mit der Kürze des Lebens? Welche Kunst ist weit genug, zugleich seine schmale, vermantelte Gestalt hervorzurufen und den ganzen Überraum seiner riesigen Nächte.
Das war die Zeit, die damit begann, daß er sich allgemein und anonym fühlte wie ein
zögernd Genesender. Er liebte nicht, es sei denn, daß er es liebte, zu sein. Die
niedrige Liebe seiner Schafe lag ihm nicht an; wie Licht, das durch Wolken fällt,
zerstreute sie sich um ihn her
Gleichviel. Ich seh mehr als ihn, ich sehe sein Dasein, das damals die lange Liebe zu
Gott begann, die stille, ziellose Arbeit. Denn über ihn, der sich für immer hatte
verhalten wollen, kam noch einmal das anwachsende Nichtanderskönnen seines Herzens.
Und diesmal hoffte er auf Erhörung. Sein ganzes, im langen Alleinsein ahnend und
unbeirrbar gewordenes Wesen versprach ihm, daß jener, den er jetzt meinte, zu lieben
verstünde mit durchdringender, strahlender Liebe. Aber während er sich sehnte,
endlich so meisterhaft geliebt zu sein, begriff sein an Fernen gewohntes Gefühl
Gottes äußersten Abstand. Nächte kamen, da er meinte, sich auf ihn zuzuwerfen in den
Raum; Stunden voller Entdeckung, in denen er sich stark genug fühlte, nach der Erde
zu tauchen, um sie hinaufzureißen auf der Sturmflut seines Herzens. Er war wie einer,
der eine herrliche Sprache hört und fiebernd sich vornimmt, in ihr zu dichten. Noch
stand ihm die Bestürzung bevor, zu erfahren, wie schwer
In diesen Jahren gingen in ihm die großen Veränderungen vor. Er vergaß Gott beinah
über der harten Arbeit, sich ihm zu nähern, und alles, was er mit der Zeit vielleicht
bei ihm zu erreichen hoffte, war »sa patience de supporter une âme«. Die Zufälle des
Schicksals, auf die die Menschen halten, waren schon längst von ihm abgefallen, aber
nun verlor, selbst was an Lust und Schmerz notwendig war, den gewürzhaften
Beigeschmack und wurde rein und nahrhaft für ihn. Aus den Wurzeln seines Seins
entwickelte sich die feste, überwinternde Pflanze einer fruchtbaren Freudigkeit. Er
ging ganz darin auf, zu bewältigen, was sein Binnenleben ausmachte, er wollte nichts
überspringen, denn er
Die die Geschichte erzählt haben, versuchen es an dieser Stelle, uns an das Haus zu erinnern, wie es war; denn dort ist nur wenig Zeit vergangen, ein wenig gezählter Zeit, alle im Haus können sagen, wieviel. Die Hunde sind alt geworden, aber sie leben noch. Es wird berichtet, daß einer aufheulte. Eine Unterbrechung geht durch das ganze Tagwerk. Gesichter erscheinen an den Fenstern, gealterte und erwachsene Gesichter von rührender Ähnlichkeit. Und in einem ganz alten schlägt plötzlich blaß das Erkennen durch. Das Erkennen? Wirklich nur das Erkennen? – Das Verzeihen. Das Verzeihen wovon? – Die Liebe. Mein Gott: die Liebe.
Er, der Erkannte, er hatte daran nicht mehr gedacht, beschäftigt wie er war: daß sie
noch sein könne. Es ist begreiflich, daß von allem, was nun geschah, nur noch dies
überliefert ward: seine Gebärde, die unerhörte Gebärde, die man nie vorher gesehen
hatte; die Gebärde des Flehens, mit der er sich an ihre Füße warf, sie beschwörend,
Was wußten sie, wer er war. Er war jetzt furchtbar schwer zu lieben, und er fühlte, daß nur Einer dazu imstande sei. Der aber wollte noch nicht.
Ende der Aufzeichnungen