Und Friede auf Erden! : ELTeC ausgabe May, Karl (1842-1912) ELTeC conversion Leonard Konle 210053 661 COST Action "Distant Reading for European Literary History" (CA16204) Zenodo.org ELTeC ELTeC release 1.1.0 ELTeC-deu ELTeC-deu release 1.0.0 Und Friede auf Erden! May, Karl Karl May: Und Friede auf Erden! Reiseerzählung, 16.–20. Tausend, Freiburg i.Br.: Friedrich Ernst Fehsenfeld, 1907 [= Karl May’s gesammelte Reiseerzählungen, Band XXX].

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Erstes Kapitel
Ein Eiferer

»Ich bin Sejjid Omar!«

Wie stolz das klang, und wie beweiseskräftig die Gebärde war, mit welcher er diese Worte zu begleiten pflegte! »Ich bin Sejjid Omar,« das sollte sagen: »Ich, Herr Omar, bin ein studierter, schriftkundiger Abkömmling des Propheten, welcher der Liebling Allahs ist. Mein Name wurde mit allen meinen persönlichen Vorzügen in die heilige Stammrolle zu Mekka eingetragen; darum habe ich das Recht, ein grünes Oberkleid und einen grünen Turban zu tragen. Wenn ich sterbe, wird die Kuppel meines Grabmals grün angestrichen und mir die Tür des obersten der Himmel gleich geöffnet sein. Respekt also vor mir!«

Was aber war dieser Sejjid Omar? Ein Eselsjunge! Er hatte seinen »Stand« an der Esbekije in Kairo, dem Hotel Kontinental, in welchem ich wohnte, gegenüber. Ein schön und kräftig gebauter, junger Mann von wenig über zwanzig Jahren, war er mir durch seinen steten Ernst und die angeborne Würde seiner Bewegungen aufgefallen. Ich beobachtete ihn gern von meinem Balkon aus, und wenn ich unten auf dem prächtigen Vorplatze des Hotels meinen Kaffee trank, konnte ich ihn sprechen hören. Sein Gesicht zeigte zwar auch den Zug von Verschlagenheit, der allen Eseltreibern eigen ist, aber er war nicht aufdringlich und lag seinem Geschäfte in einer Weise ob, als werde Jedem, der sich seines Esels bediente, eine ganz besondere Gunst erwiesen. Er gab sich so wenig wie möglich mit Berufsgenossen ab, und wenn sie ihn für diese Zurückhaltung mit spöttischen Redensarten zu ärgern versuchten, bekamen sie nichts als ein verächtliches »Ich bin Sejjid Omar« zu hören. Wollte ein Fremder mit ihm feilschen, oder wurde ihm irgend Etwas gesagt oder zugemutet, was er für gegen seine Ehre hielt, so wendete er sich mit einem geringschätzenden »Ich bin Sejjid Omar« ab und war dann für den Betreffenden nicht mehr zu sprechen.

Die Folge war, daß ich ihm ein ganz besonderes Interesse schenkte, obgleich sich mir keine Gelegenheit bot, ihm dies in Beziehung auf sein Geschäft zu beweisen. Aber Blicke ziehen einander bekanntlich an. Ich bemerkte, daß auch er sehr oft zu mir herübersah. Er schien unruhig zu werden, wenn ich nach dem Mittag- und dem Abendessen mich nicht sofort auf der Terrasse sehen ließ, und so oft ich beim Ausgehen an ihm vorüberkam, trat er, obgleich ich ihn gar nicht zu beachten schien, einen Schritt zurück und legte, still grüßend, die Hände auf die Brust.

In dem erwähnten Hotel gibt es zu Seiten des Speisesaales zwischen den Säulen kleinere Tische für Gäste, welche es nicht lieben, an der Tafel enggepfercht zu sitzen. Ich hatte mir einen dieser Tische für mich allein reservieren lassen. Der links davon war nicht besetzt; an dem zu meiner rechten Hand gab es seit gestern zwei Fremde, welche nicht nur die allgemeine Aufmerksamkeit, sondern auch die meinige auf sich zogen, obgleich ich mir das nicht so wie die Andern merken ließ. Sie waren Chinesen, und zwar Vater und Sohn. Ich erriet das zunächst aus ihrer Aehnlichkeit und hörte es dann aus ihrem Gespräch, denn ihr Tisch stand dem meinen so nahe, daß ich jedes ihrer Worte verstehen konnte. Sie waren nicht in heimische Tracht gekleidet, sondern trugen weiße Reiseanzüge nach französischem Schnitte. Ihre Zöpfe wurden von den Tropenhelmen verborgen, die sie nur während der Tafel abzunehmen pflegten. Gleich als sie gestern den Speisesaal betraten, war mir die ebenso tiefe wie herzlich aufrichtige Ehrerbietung aufgefallen, welche der Sohn dem Vater entgegenbrachte. Das war eine geradezu rührende Aufmerksamkeit und Dienstfertigkeit, welche sogar dem servierenden Kellner jede Handreichung und jeden Griff abzunehmen strebte, um dem Vater Kindesdank und Kindesliebe zu erweisen. Und man sah deutlich, daß dies nichts Gemachtes, nichts Aeußerliches war, sondern als etwas frei und gern Gegebenes aus dem Innern kam. Der Vater trug Augengläser in schwer goldenem Gestell; der Sohn hatte keine Brille. Sie speisten genau nach unserer Art und taten dies so geläufig und so fehlerlos, so unhörbar und unauffällig, daß manche der übrigen Gäste sich an ihnen hätten ein Beispiel nehmen können. Der mich bedienende Garçon flüsterte mir in Hoffnung auf ein dafür gebotenes Extratrinkgeld zu:

»Monsieur Fu und Monsieur Tsi aus China. Kommen aus Paris. Sind wahrscheinlich verwandt miteinander.«

»Haben sie sich selbst so eingetragen?« erkundigte ich mich.

»Nein, aber dem Portier so gesagt.«

Er sprach die beiden Worte nicht in der richtigen Weise aus; aber es war klar, daß Fu Vater und Tsi Sohn bedeutete. Im Chinesischen hat dasselbe Wort oft sehr verschiedenen Sinn. Die beiden Gäste hatten ihre Namen nicht genannt und sich einfach als Vater und Sohn bezeichnet. Da hier im Hause Niemand ihrer Sprache mächtig war, so hatte man sie als Monsieur »Vater« und Monsieur »Sohn« in das Fremdenbuch eingetragen und glaubte noch besonders pfiffig zu sein, indem man sie für Verwandte hielt. Sie aber ließen es sich lächelnd gefallen, daß ihr Verwandtschaftsgrad als Namen ausgesprochen wurde. Dem Personale gegenüber sprachen sie französisch, und zwar so vorzüglich, daß eine langjährige Uebung mit Gewißheit anzunehmen war.

Was ihre Gesichter betrifft, so trat der mongolische Schnitt derselben nur wenig hervor. Bei dem Sohne mochte diese Milderung eine Folge der Jugend sein; bei dem Vater aber war es ganz entschieden der Wirkung geistiger Tätigkeit zuzuschreiben, daß ihn fast nur der echt chinesisch gepflegte Bart als einen »Sohn der Mitte« verriet. Man brauchte kein Menschenkenner zu sein, um diesem Manne anzusehen, daß sein Arbeitsfeld wohl kaum jemals ein materielles gewesen sei.

Nach Tische wurde draußen im Flur während des allgemeinen Speech die Tatsache festgestellt, daß die beiden Chinesen erstens aus Canton, zweitens Onkel und Neffe und drittens in Paris gewesen seien, um dort ein Geschäft für Chinawaren einzurichten, dessen Leitung der Neffe übernehmen werde. Er habe den Onkel nur nach Aegypten zurückbegleitet, um die Trennung zu verzögern, werde aber hier von ihm Abschied nehmen und dann, direkt nach Paris zurückkehren. Es war mir gleichgültig wer diese Entdeckung gemacht hatte. Ich konnte mir nicht denken, daß dieser so eigenartig, ich möchte sagen, geheimnisvoll geistreich aussehende »Monsieur Fu« ein Kaufmann sei, dessen Bestreben darin bestehe, billige chinesische Fächer und Vasen in Paris teuer an den Mann zu bringen.

Der Zufall war so gütig, mich schon am nächsten Morgen einen heimlichen Blick in diese Verborgenheit tun zu lassen. Ich logierte, um möglichst viel Luft und Licht zu haben, zwei Treppen hoch und saß, mit Briefen beschäftigt, auf dem Balkon, als ich die Chinesen aus dem Hotel treten und hinüber zu Sejjid Omar gehen sah. Dieser besorgte ihnen zu seinem noch einen zweiten Esel, worauf er mit ihnen davontrabte. Dann hörte ich unter mir klopfen und bürsten. Das störte mich und wollte kein Ende nehmen. Ich bog mich über die Brüstung vor und schaute hinab. Es war nicht, wie ich vermutet hatte, das Zimmermädchen, sondern ein chinesischer Diener, welcher einen Koffer geöffnet hatte, um den Inhalt desselben einer Besichtigung resp. Säuberung zu unterwerfen. Die Chinesen wohnten also eine Treppe hoch grad unter mir. Ich ließ den Mann weiter klopfen und bürsten, ohne den Attentäter, was ich eigentlich beabsichtigt hatte, zur Ruhe zu verweisen.

Dann wurde es still unter mir, doch verriet mir wiederholtes Räuspern, daß der Diener noch da sei. Ich schaute wieder hinab. Er war jetzt mit einem andern, kleinen Koffer beschäftigt, den er geöffnet hatte. Er ordnete da verschiedene Gegenstände mit einer Behutsamkeit, die auf ungewöhnlichen Wert schließen ließ, und versicherte sich von Zeit zu Zeit durch einen Blick nach den benachbarten Balkonen, daß er nicht beobachtet werde. Der Inhalt dieses Koffers schien also Dinge zu enthalten, von denen nicht Jedermann wissen durfte. Eben jetzt hatte er einen Gürtel in der Hand, an welchem eine goldene, mit Rubinen besetzte Schnalle glänzte. Diese Art von Schnallen dürfen nur Mandarinen ersten und zweiten Ranges tragen! Dann sah ich ein Putsu Gesticktes Brust- und Rückenschild. erscheinen, dessen Stickerei einen Storch vorstellte. Nach einer Kugelkette, einer Pfauenfeder und verschiedenen anderen Gegenständen, welche ich wegen ihrer Kleinheit nicht deutlich erkennen konnte, kam einer jener Beamtenhüte zum Vorschein, welche nur im Sommer getragen und darum »warme« Hüte genannt werden. Er hatte einen glatten, roten, ungeblümten Korallenknopf. Kugelketten dürfen nur von Mandarinen ersten bis fünften Grades um den Hals getragen werden. Pfauenfedern sind besondere Auszeichnungen; aber der Korallenknopf ist nur den Mandarinen ersten Ranges erlaubt. Diese sind entweder Zivil- oder Kriegsmandarinen. Die ersteren haben ein Putsu mit Storch, die letzteren ein dergleichen Schild mit dem Bilde des Einhorns zu tragen. Die Zivilbeamten werden mehr als die militärischen geehrt. Ich hatte also erfahren, daß »Monsieur Fu,« denn nur auf ihn konnten sich diese Auszeichnungen beziehen, ein Zivilmandarin allerhöchsten Ranges war, und nahm mir selbstverständlich vor, dies keinem Menschen mitzuteilen. Mehr zu sehen, wurde mir durch meinen Bleistift unmöglich gemacht. Ich hatte ihn hinter das Ohr gesteckt; er verlor dadurch, daß ich den Kopf vor und nach unten gebeugt hatte, den Halt, fiel hinab und traf grad vor dem Diener auf das Balkongeländer auf. Der Chinese stieß einen Ruf des Schreckens aus, raffte Alles schnell zusammen und war im nächsten Augenblicke verschwunden. Auch dieser sein Schreck war ein Beweis, daß seine beiden Herren ihren Stand nicht zu verraten wünschten.

Wir befanden uns im Vorsommer, also in der Zeit, in welcher der Khamsin jährlich gegen fünfzig Tage lang der höchst ungern gesehene Gast Aegyptens ist. Dieser heiße, trockene Südwestwind, welcher den feinen Staub der Wüste mit sich führt, kann, wenn er stark auftritt, so erschlaffend wirken, daß sowohl der Einheimische als auch der Fremde Alles meidet, was mit einer körperlicher Anstrengung verbunden ist. Am Tage nach der soeben erzählten Entdeckung wehte er ganz besonders entkräftend von Gizeh und Aryahn herüber. Man mied die Straßen, und die sonst so gern besuchten Plätze vor den Kaffeehäusern waren noch um die Zeit des Asr, des täglichen Nachmittagsgebetes, unbesetzt. Dies veranlaßte mich, nach dem Dschebel Mokattam zu reiten. Ich war den Khamsin längst gewohnt; er konnte mich nicht belästigen und hielt im Gegenteile andere Leute ab, mich da oben in dem mir lieb gewordenen Genuß zu stören. Der Blick vom Mokattam und dem Dschebel Giyuschi ist unbeschreiblich schön, mir aber doppelt wert, wenn beim Sonnenuntergange die Beleuchtung der Stadt und ihrer Umgegend durch den in der Luft schwebenden Khamsinstaub zu einer, fast möchte ich sagen, märchenhaften wird. Es sind dann alle Härten und Schärfen des Bildes abgemildert, und es liegt ein so undefinierbarer Farbenton rings ausgegossen, daß man meinen möchte, von einer jenseitigen Höhe auf eine ganz andere, un- oder überirdische Welt herabzuschauen.

Eben als ich mich aufmachte, brachte der Kommissioner des Hotels einige Wagen voller Reisende, welche mit dem Zuge angekommen waren. Ich hatte keinen Grund, sie zu beachten, doch fiel mir im Vorübergehen eine junge, blau verschleierte Dame auf, welche einfach in Grau und praktisch knöchelfrei gekleidet war und zu einem mit ihr ausgestiegenen Herrn einige englische Worte sprach. Ich hatte nur selten eine so tiefe, wohlklingende und sympathische Altstimme gehört.

Dann saß ich oben auf dem Berge, in stiller, zunächst ununterbrochener Einsamkeit. Mein Lieblingsplatz war ein Felsensitz in der Nähe der alten, verfallenen Giyuschi-Moschee. Die Sonne hielt sich hinter einem flimmernden, orangefarbenen Dufte halb verborgen. Wie ein im Einschlummern unvollendet gebliebenes Gebet lagen die Mamelukengräber tief zu meinen Füßen. Von der Alabastermoschee bis nach Kasr el Ain hinüber und von der ahnenhaften Amr Ibn el As bis zur früheren ez Zahir hinunter klangen die in Stein gedichteten tausend Strophen der Minarehs zu Allahs Thron empor. Durch Masr el Atika, das einstige Fostat, dampfte, einer Entheiligung gleich, ein Zug hinauf nach Heluan, und hinter den Lebbachbäumen der Dakrurstraße und dem Grün der Kanalfelder lagen am Wüstenrande die Pyramiden – – aus Angst vor der Ewigkeit erstarrte Todesgedanken der Pharaonen. Tod und Leben, Vergangenheit und Gegenwart um und in sich vereinigend, vom Wüstenwinde überweht und doch so jugendschön und jugendwarm, so breitete sie sich vor meinen Augen aus, el Kahira, die Siegreiche, die mir nebst Bagdad und Damaskus so lieb geworden ist wie keine andere Stadt des Orientes.

Es kamen von da unten herauf, von den Königsgräbern da drüben und dem Sinai im Osten hinter mir Gedanken über mich, welche ich nicht verloren gehen lassen wollte; darum zog ich Papier und Blei hervor. Ich begann damals, an meinen »Himmelsgedanken« zu dichten, deren erster Band inzwischen erschienen ist. Dieses Buch war auch einer der Gründe, welche mich zur gegenwärtigen Reise veranlaßt hatten. Wer Gedichte über und für die Menschheitsseele schreiben und den Völkern gerecht werden will, denen diese Seele ihre Jugendbegeisterung widmete, der darf nicht meinen, daß er die Gedanken dazu im kalten, selbstsüchtigen Abendlande finden werde, sondern er muß dorthin gehen, wo einst Gott selbst zur Erde kam und seine Engel sich den Menschen zeigen durften, ohne, wie es allerdings ein einziges Mal, und zwar zu Sodom und Gomorrhas Verderben geschah, für ihre Himmelsliebe schlimmen Erdendank zu ernten.

Da, wo die nackt gewordenen Steine Palästinas wieder zu Brot zu werden haben, wo Memnons Kolosse nicht nur leise erklingen, sondern deutlich sprechen sollen, wo zwischen Pison, Gihon, Phrat und Hidekel noch heut die beseligende Idee des Paradieses wieder auszugraben ist, da muß man sein, da muß man sehen und lauschen, äußerlich und innerlich, und dann, wenn in stiller Mondesnacht aus den Wogen des Niles ganz dieselbe Offenbarung wie aus den Fluten des Tigris steigt und um die Minarehs dasselbe linde Säuseln klingt, welches Elias einst auf dem Karmel hörte, dann wird es der Menschenseele klar, daß auch ganz dieselben Strophen wieder zu ertönen haben, welche der Orient einst zu dichten begonnen, der Occident aber als Hoheslied der Gottes- und der Nächstenliebe zu vollenden hat.

Es war mir eine Lust, diese und ähnliche Gedanken in Worte zu kleiden; aber ich brachte es zu keinem Schlusse, denn ich wurde unterbrochen. Vom Felsenwege her erklang das lebhafte Getrappel kleiner Eselshufe. Mich umschauend, sah ich die erwähnte, grau gekleidete Dame und den Herrn kommen, mit welchem sie gesprochen hatte. Als dritten Reiter bemerkte ich einen jener christlichen oder jüdischen Levantiner, welche jedes von ihnen gehörte, wenn auch gänzlich unverstandene, fremdsprachige Wort in dem Mehlwürmertopfe ihres Gedächtnisses sorgfältig aufbewahren, um sich dann, wenn sie mit diesen Würmern nicht mehr allein fertig werden können, für Dolmetscher auszugeben und sie gegen möglichst hohe Vergütung an den Mann zu bringen. Diese Dragomans sind eine Plage, welcher sich zu erwehren der gewöhnliche Tourist weder genug Erfahrung noch die nötigen Kenntnisse besitzt. Wenn sie sich einmal festgesogen haben, so lassen sie nur selten wieder los, und der von ihnen, den ich hier kommen sah, war eine Klette von der allerschlimmsten Sorte. Er hatte sich vor einigen Tagen auch an mich zu machen versucht, war aber, als nichts Anderes half, durch einen Wink mit der Reitpeitsche dann für immer abgewiesen worden. Diese Levantiner werden von dem ehrlichen, charaktervollen Araber verachtet, und da sie meist Christen sind und er durch sein eigenes Leben belehrt wird, welchen großen Einfluß der Glaube auf den moralischen Wert des Menschen ausübt, so ist er leicht geneigt, nicht bei der Person stehen zu bleiben, sondern seine Geringschätzung über die ganze Christenheit auszudehnen.

Die vierte Person war – – – Sejjid Omar, der Eseltreiber, welcher so gravitätisch, als ob er die Hauptperson der ganzen Truppe sei, neben den Dreien hergeschritten kam.

Als der Dolmetscher mich erblickte, kam er grad auf mich zugeritten, stieg bei mir ab und breitete eine mitgebrachte Decke neben mir aus. Er hatte, als er sich mir anbot, französisch mit mir gesprochen; warum, das wußte ich nicht, sollte es jetzt nun aber erfahren, denn er rief, sich umdrehend, Sejjid Omar zu:

»Dieser Kerl sitzt gerad an der besten Stelle! Er ist ein Franzose, denn er hat ein Bärtchen an der Unterlippe. Komm her, und jag ihn fort!«

»Nimm dich in Acht!« warnte der Eseltreiber. »Wenn er arabisch sprechen kann, versteht er deine Worte!«

»Der? Arabisch sprechen? Siehst du denn nicht, daß ihm die Dummheit aus den Augen blickt? Der spricht nicht einmal seine Muttersprache richtig. Ich weiß das ganz genau, denn ich habe französisch mit ihm geredet. Er wollte mich als Dolmetscher haben; ich bin aber nicht darauf eingegangen, weil ich ihm sofort angesehen habe, daß er ein armer Schlucker und außerdem ein Geizhals ist. Jage ihn fort! Wir brauchen diesen Platz für unsere Leute!«

Da machte der Sejjid eine seiner unnachahmlichen, sprechenden Handbewegungen und antwortete:

»Ich bin nicht dein Diener, und Allah und mein Geschäft verbieten mir, unhöflich zu sein. Wenn du als Christ und Grieche grob sein darfst, so geht mich das nichts an. Ich heiße Sejjid Omar; das merke dir!«

Der Levantiner hätte es vielleicht gewagt, aus Rachsucht mit Hilfe des Eseltreibers mit mir anzubinden; aber es ohne diese Unterstützung zu tun, dazu war er, wie die meisten seinesgleichen, zu feig. Er hatte, nur um mich zu ärgern, die Fremden grad her zu mir geführt, obgleich ich vor ihnen der einzige Mensch war, der sich auf dem weiten Plateau des Dschebel Giyuschi befand, auf welchem Platz für ungezählte Tausende gewesen wäre. Ich aber tat, als ob mir diese Flegelhaftigkeit vollständig gleichgültig sei.

Der Hammahr Eseltreiber. half den Reisenden beim Absteigen. Dann setzten sie sich auf die ausgebreitete Decke, ohne mich zu grüßen oder auch nur mit einem Blicke zu beachten. Das beleidigte mich nicht. Ich kannte ja diese besonders jenseits des Kanales und des Atlantischen Meeres gepflogene Weise, nach welcher fremde Menschen als vollständig abwesend betrachtet werden. Selbstverständlich waren sie nun auch für mich nicht vorhanden, und ich rauchte die Zigarre, welche ich mir angebrannt hatte, ruhig weiter, obgleich ich sah, daß der Wind der Dame den Rauch zuweilen in das Gesicht trieb. Sie saß mir so nahe, daß ich sie mit der ausgestreckten Hand erreichen konnte.

Nun stellte sich der Dolmetscher in Positur und begann, den Fremden das vor ihnen liegende Panorama zu erklären. Er tat dies in einem Englisch, mit welchem ein Bauer, ohne die Hacke nötig zu haben, die stärksten Rüben hätte aus dem Felde ziehen können, und es war den beiden Zuhörern auch mehr als deutlich anzusehen, daß sie sich von dem, was sie anhören mußten, nichts weniger als erbaut fühlten. Eine Weile ließen sie es sich gefallen, dann aber gebot die Dame dem poliglott-schrecklichen Griechen, still zu sein, zog ein rotgebundenes Buch aus der Tasche und sagte zu dem Herrn, zu meiner Ueberraschung in deutscher Sprache:

»Verstehst du ihn, Vater? Ich nicht! Nehmen wir den Baedeker her! Die Karte wird uns mehr sagen, als wir von diesem Araber erfahren können. Und reden wir deutsch, denn das versteht er nicht!«

Der für einen Araber Gehaltene zog sich beleidigt zurück. Gerade diese unwissenden Menschen sind außerordentlich empfindlich, wenn man ihren vermeintlichen Kenntnissen nicht die erwartete Bewunderung zollt. Sejjid Osmar stand, mit dem Ellbogen auf seinen Esel gestützt, unbeweglich wie eine Bildsäule seitwärts hinter uns. Der lange, weite Mantel, den er trug, war nicht imstande, die schöne Plastik seiner Figur ganz unbemerkbar zu machen.

Ich hatte also erfahren, daß die Fremden Vater und Tochter seien. Ich erfuhr noch mehr. Ob sie mir die Kenntnis der deutschen Sprache nicht zutrauten, oder ob ihnen meine Anwesenheit wirklich vollständig gleichgültig war, sie sprachen so ungeniert miteinander, als ob an meiner Stelle nichts als Luft vorhanden sei.

Der Vater war ein ziemlich langer, hagerer Herr mit einem glattrasierten, etwas mehr als nötig in die Länge gezogen Gesicht. Der Stehkragen seines Rockes paßte zu der salbungsvollen, dabei aber harten und schnellen Weise, in welcher er sprach. Er hatte einen seiner Handschuhe ausgezogen, was mir Gelegenheit gab, seine auch sehr lange, doch weiße und sichtbar wohlgepflegte Hand zu sehen. Nicht angenehm berührte der rücksichtslose, schnarrende Ton, in welchen er fiel, so oft es seine Absicht war, eine bestimmte Meinung auszusprechen. Ich pflege über andere Menschen nicht vorschnell zu urteilen, doch war ich, obgleich ich diesen Mann heut zum ersten Male sah und ihn also noch gar nicht kannte, zu der Behauptung geneigt, daß er von einer einmal gefaßten, wenn auch noch so falschen Ansicht nicht leicht abzubringen sei. Vielleicht war er sonst ein ganz vorzüglicher Mann, aber er machte den Eindruck auf mich, als ob er sich für unfehlbar halte, und mit solchen Leuten ist schwer umzugehen.

Die Tochter wurde von ihm Mary genannt. Sie hatte, um besser Umschau halten zu können, den Schleier zurückgeschlagen. Ich hütete mich natürlich, meine Beobachtungen merken zu lassen, doch genügte ein kurzer Blick, mich ein liebes, rosig angehauchtes Gesicht sehen zu lassen, in welchem ein Paar helle, klare, sehr verständige Augen glänzten. Ihre tiefe, schöne Altstimme habe ich schon erwähnt. Wenn sie sprach, so war ihr anzuhören, daß sie es nicht mit dem Munde, sondern mit der Seele tat. Es klang ganz so, als ob über diese Lippen nie ein liebloses Wort gekommen sei oder kommen könne. Vom Vater hatte sie das nicht geerbt; es konnte nur die Gabe einer vortrefflichen, an Herzensbildung reichen Mutter sein.

Der Vater war Amerikaner, und zwar Missionar, nach China bestimmt, wohin die Tochter ihn begleitete; die Mutter war tot, eine Deutsche gewesen, wie es schien. Sie waren über London, Köln, Wien und Triest nach Aegypten gekommen, um einige Zeit hier zu bleiben und sich dann zunächst Indien anzusehen. Große Eile schienen sie nicht zu haben.

Sie kannten die Wirkung des Khamsin noch nicht und waren trotz desselben gleich nach ihrer Ankunft hier herauf geritten, weil Mary gewünscht hatte, zunächst das Gesamtbild von Kairo vor sich zu sehen. Und der Eindruck desselben war, wenigstens bei der Tochter, ein so tiefer, daß der ermattende Wind auf sie ohne sichtbare Wirkung blieb.

Sie hatte die entfaltete Karte auf ihrem Schoße liegen, ohne aber zunächst nach speziellen Punkten zu suchen. Es schien ihr vor allen Dingen um den Totaleindruck zu tun zu sein. Dabei machte sie dann und wann eine Bemerkung, die mich aufhorchen ließ. In diesem Mädchen schien ein seltsames, ungewöhnlich reiches Seelenleben zu pulsieren! Einmal hätte ich beinahe verraten, daß ich ihr aufmerksam zuhörte. Sie nannte nämlich meinen Namen.

»Weißt du, Vater, an wen ich jetzt denke?« sagte sie. »An Karl May. Ich habe seine drei Bände ›Im Lande des Mahdi‹ gelesen, und – – –«

»Lies nicht das dumme Zeug von diesem May!« unterbrach er sie rasch und schnarrend. »Dieser Schriftsteller hat nichts als Phantasie, und du weißt, daß mir seine weichliche Frömmigkeit widerwärtig ist! Wie kommst du dazu, grad jetzt an ihn zu denken?«

»Er nennt Kairo ›Bauwaabe el bilad esch schark, das Tor des Orientes‹, und sagt, dieses Tor sei altersschwach geworden und könne dem Einflusse des Abendlandes kaum mehr widerstehen. Es wird mir schwer, das zu glauben. Ich habe den Orient noch nicht gesehen, aber ich liebe ihn und wünsche, daß er sich stärker erweisen möge, als zum Beispiel du, Vater, mit so vielen Anderen denkst. Er ist für mich ein schlafender Prinz im stehengeblieben Saale einer eingefallenen, morgenländischen Königsburg. Seine Bestimmung ist, von einer abendländischen Jungfrau aufgeweckt zu werden. Wenn dann durch Beide der Osten mit dem Westen in selbstloser Liebe vereinigt ist, werden alle Völker der Erde glücklich sein.«

»Du bist eine Träumerin, ganz wie deine Mutter war! Die Wirklichkeit aber sieht ganz anders aus als so ein Märchentraum. Das Morgenland hat uns um das Paradies gebracht; es hat den Erlöser gekreuzigt und bis auf den heutigen Tag niemals erkennen wollen, was zu seinem Frieden dient. Nun kommen wir, die Himmelsboten, ihm diesen Frieden zu bringen. Nimmt es ihn an, so soll es ihn haben; stößt es ihn aber von sich, so wird es trotz aller unserer Mühe nicht zu retten sein. Schau doch hinab, und sieh, was zu deinen Füßen liegt! Alles, was da noch orientalischen Ursprungs ist, steht im Begriff, im Schmutze zu versinken. Alles Neue, Praktische und Gute aber hat diese Stadt vom Abendlande bekommen. Dein Karl May, von dem ich sonst nichts wissen will, hat also in diesem einen Falle ausnahmsweise einmal das Richtige gesagt. Ist der Orient der Märchenprinz, von dem du sprachst, so ist es nur uns Sendboten möglich, ihn aus dem Schlafe aufzuwecken. Nur wir allein können ihn erlösen; wir fußen in und auf der Wirklichkeit; deine abendländische Jungfrau aber gehört ins Reich der Phantasie.«

»Phantasie! Das ist vielleicht das richtige Wort,« lächelte sie. »Es gibt Leute, welche behaupten, daß die Phantasie hellere und schärfere Augen habe als der alterssichtig gewordene Verstand.«

»Willst du mich belehren?«

»Nein. Dazu bist du mir ja viel, viel zu gelehrt. Aber weißt du, wir klopfen heut beide an das Tor des Orientes, und wenn man irgendwo anklopft, soll man sich nicht nur fragen ›Was willst du hier?‹ sondern auch ›Was bringst du mit?‹ Denn ob man das, was man will, erreichen wird, das ist wahrscheinlich sehr von dem abhängig, was man mitbringt. Und mitbringen muß und wird Jeder Etwas, und wenn es nichts weiter als seine Persönlichkeit wäre. Fragen wir uns also heut, indem wir an diese Pforte klopfen, was wir für die, welche hinter ihr wohnen, mitbringen!«

»Well, mein Kind! Ich bringe ihnen meinen Glauben. Das ist mehr als genug!«

»Und ich bringe ihnen meine Liebe, meine ganze, ganze, volle Liebe! Ob das genug ist, weiß ich nicht; aber ich besitze ja nichts weiter, was ich geben kann. Und diese Liebe gebe ich so gern, so unendlich gern. Was habe ich gewünscht! Wie habe ich geträumt, gehofft, geschwärmt! Mein Herz ist mir nach hier vorausgeflogen. Es ist mir, als sei mein bisheriges Leben eine Weissagung gewesen, welche von heute an beginne, in Erfüllung zu gehen. Der Orient ist die Heimat des Menschengeschlechtes. Fühlst du nicht auch, was es heißt, am Tore unserer Heimat zu stehen? Im Osten geht der Welt die Sonne auf. Ist es nur dein Glaube, welcher ihr entgegen geht? Bringst du ihr gar, gar nichts anderes mit?«

»Schwärmereien!« antwortete er überlegen. »Das sind nun die Folgen meiner Schwäche, deine Lektüre nicht strenger zu überwachen. Die Gestalten aus ›Tausend und eine Nacht‹ und anderen Büchern spuken in dir; du bist noch ein Kind; ich aber bin ein Mann; ich darf nicht schwärmen wie du, denn ich habe ernste Pflichten zu erfüllen. Denke an meine Wette mit Reverend Burton in London, im Laufe des ersten Jahres fünfzig erwachsene Chinesen zu bekehren und ihm die Beweise darüber vorzulegen!«

»Was diese Wette betrifft, Vater, so wünschte ich, du wärst sie nicht eingegangen. Ich habe das Gefühl, daß es eine Entheiligung ist, die Seligkeit Anderer zum Gegenstande einer Wette zu machen.«

»Nicht über diese Seligkeit, sondern über meinen Erfolg haben wir gewettet, Kind! Und ich werde gewinnen, weil mir die Gabe der überzeugenden Rede verliehen ist. Ich begreife nicht, wie ein Mensch einen anderen Glauben haben kann als den meinigen, welcher doch der einzig richtige, der einzig wahre ist. Schau dir da den Eselsjungen an! Sein Allah ist ein falscher Gott und sein Muhammed ein Lügner. So viele Türme da unten ragen, in so viele Moscheen möchte ich treten, um laut auszurufen, daß es kein anderes Heil als das unsere gibt. Warum werden so wenig Heiden bekehrt? Weil uns der Mut fehlt. Ich werde in China keinen Tempel betreten, ohne mich offen hinzustellen und den Ungläubigen zu sagen, daß sie Heiden sind, denen die ewige Verdammnis sicher ist, wenn sie sich nicht bekehren. Ich werde – – – doch, sieh hin! Was tut dieser Mensch?«

Er hatte sich mitten in der Rede unterbrochen und zeigte auf Sejjid Omar, welcher jetzt Etwas tat, was die Aufmerksamkeit des Amerikaners auf sich zog, weil er es noch nie gesehen hatte. Der Eseltreiber schickte sich nämlich an, sein muhammedanisches Gebet zu verrichten.

Es war zwar jetzt nicht eigentlich Betenszeit, denn das Asr war schon vorüber, und das Moghreb soll erst beim Untergang der Sonne gebetet werden; da aber die Zeit des einen Gebetes bis zum Beginn des nächsten reicht, so kann man die vorgeschriebene Pflicht, wenn man an ihrer Erfüllung verhindert wurde, bis zum Anfang der nächsten Periode nachholen. Sejjid Omar hatte aus irgend einem Grunde das Asr nicht beten können, und da sich ihm hier oben die Gelegenheit bot, seinen religiösen Verpflichtungen völlig ungestört nachzukommen, so tat er dies, ohne sich um den Glauben und die Meinung der Anwesenden zu kümmern.

Er nahm seinen Zeuggürtel ab, faltete ihn auseinander und breitete ihn als Gebetsteppich auf die Erde aus. Nachdem er sich gegen Osten, mit dem Gesicht nach Mekka, gerichtet hatte, hob er die offenen Hände zu beiden Seiten des Gesichts empor, berührte mit den Spitzen der Daumen die Ohrläppchen und sagte:

»Allahu akbar – Gott ist sehr groß!«

Dieser Ruf war es, welcher die Aufmerksamkeit des Amerikaners auf ihn gelenkt hatte. Hierauf ließ er die Hände sinken, legte die linke in die rechte, richtete den Blick auf die Stelle des Teppichs, wo sein Kopf beim späteren Niederwerfen ihn berühren sollte und fuhr fort: »Lob und Preis sei Gott, dem Weltenherrn, dem Allerbarmer, der da herrscht am Tage des Gerichts. Dir wollen wir dienen, und zu dir wollen wir flehen, auf daß du uns führest den rechten Weg, den Weg derer, die deiner Gnade sich erfreuen, nicht aber den derer, über welche du zürnest, und nicht den Weg der Irrenden.«

Das war die heilige Fatcha, das erste Kapitel des Korans, welches jedem Gebete vorauszugehen hat. Dann folgte das kurze 112. Kapitel, welches lautet:

»Sprich: Gott ist der einzige und ewige Gott. Er zeugt nicht und ist nicht erzeugt, und kein Wesen ist ihm gleich!«

Hierauf legte er die Hände auf die Kniee, neigte den Kopf, verbeugte sich dreimal und sagte:

»Allahu akbar! Ich preise die Vollkommenheit meines Herrn, des Großen. Gott erhöre den, der zu ihm betete. Preis sei dir, o Herr!«

Nachdem er Kopf und Körper wieder aufgerichtet hatte, kniete er langsam nieder, legte seine Hände vor den Knieen auf den Boden und berührte mit Nase und Stirn die zwischen den Händen liegende Stelle. Dann hob er den Körper wieder empor, wobei aber die Knie sich nicht vom Boden trennten, sank rückwärts auf die Fersen und legte die Hände auf die Schenkel. Während dieser streng und genau vorgeschriebenen Bewegungen betete er:

»Allahu akbar! Ich preise die Vollkommenheiten meines Herrn, welcher der Allerhöchste ist. Gott ist sehr groß.«

Nun erhob er sich ganz, um stehend fortzufahren, kam aber nicht dazu, denn der Amerikaner sprang jetzt auf und zu ihm hin, zog ihn beim Arme vom Teppich zurück und rief dem Dolmetscher fragend zu:

»Dieser Mensch betet wohl?«

»Ja,« antwortete der Gefragte.

»Muhammedanisch?«

»Ja.«

»Sagen Sie ihm, daß ich das nicht dulde! Sagen Sie ihm, daß ich ein Christ bin, ein Missionar, welcher zu den Heiden geht, um sie zu bekehren. Ich kann und darf nicht dulden, daß in meiner Gegenwart anders als christlich gebetet wird. Er hat sofort aufzuhören, sofort!«

Es gilt bei den Muhammedanern schon für eine Sünde, an einem Betenden nahe vorüber zu gehen. Ihn mit Worten zu unterbrechen, ist gar nicht denkbar. Ihn aber in der Weise zu stören, wie der Yankee es tat, das würde man nur einem Wahnsinnigen oder einem Todfeinde zutrauen, welcher eine Beleidigung plant, die nur mit Blut abzuwischen ist. Dabei ist es ganz gleich, wes Standes der Betende ist. Beim Besuche der Moschee und auch während der Gebete außerhalb derselben wird der niedrigste dem höchsten und umgekehrt dieser jenem vollständig gleich geachtet. Sejjid Omar war zunächst starr vor Erstaunen, doch seine Augen blitzten. Dann fragte er den Dolmetscher, was der Fremde ihm gesagt habe. Der Levantiner berichtete es ihm mit hämischer Genauigkeit. Da hob Omar die Arme, um den Beleidiger anzufassen, beherrschte sich aber schnell, ließ sie wieder sinken, trat einen Schritt zurück, maß den Amerikaner mit einem unaussprechlichen, halb verächtlichen, halb mitleidigen Blick, warf die Hand leer in die Luft, was ein Zeichen der größten Geringschätzung ist, und richtete an den Dolmetscher die Worte:

»Ich wollte ihn hier vom Felsen hinunterwerfen, und sein Widerstand wäre gegen die Kraft meiner Arme nichts gewesen; aber ich bin Sejjid Omar und will mich nicht durch die Berührung mit einem so großen Schmutz besudeln. Jeder Heide hat mehr Verstand als dieser Nasrani Christ.; sage ihm das. Wehe Jedem, der zu dem Glauben und zu den Sitten eines so rücksichtslosen Verächters und Störers des Gebetes übertritt! Ich habe nichts mehr mit ihm zu schaffen. Das Geld für meinen Esel schenke ich ihm. Ich mag es nicht berühren!«

Er hob den Teppichgürtel auf, schwang sich auf sein Grautier und ritt im Trabe davon, indem er den Gürtel in vielsagender Weise hinter sich her ausschüttelte. Dem Levantiner war es ein Vergnügen, die Worte Omars in einer Weise zu übersetzen, welche an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Als die Tochter, welche von ihrem Platze aufgestanden war, das hörte, rief sie dem Vater vorwurfsvoll zu:

»Was hast du getan! Ich wollte dich zurückhalten; du warst mir aber zu schnell. Dieser Araber gefiel mir so sehr! Er war so ernst, so still und so bescheiden. Sein Gebet rührte mich. Hieltest du dich wirklich für verpflichtet, es zu unterbrechen?«

»Natürlich!« antwortete er. »Du sollst keine andern Götter haben neben mir, gebietet die heilige Schrift. Elias hat die Pfaffen Baals geschlachtet. Sein Eifer soll ein Vorbild sein für jeden, der als Glaubensbote zu den Heiden geht!«

»Meinst du nicht, daß unser Gott und Allah ganz derselbe sei?«

»Wer einen anderen Glauben hat, hat auch einen andern Gott! Und andere Götter zu haben, ist verboten; das hast du ja gehört!«

»Aber die Liebe, von welcher ihr predigen sollt, macht es euch doch – – –«

»Sei still mit dieser Liebe, von der du nichts verstehst!« unterbrach er sie schnarrend. »Erst glaube ich; dann liebe ich. Wir haben hinaus in alle Welt zu gehen und alle Völker zu belehren. Von dem Worte aber, welches wir verkünden, sagt die Bibel, daß es ein Hammer sei, der Felsen zerschmettert. Nur dadurch, daß wir diese Macht des Wortes zeigen, können wir den Heiden imponieren. Und dann, wenn sie die Unseren geworden sind, werden wir ihnen unsere Liebe schenken. Wir haben endlich eingesehen, wie weit man mit der Liebe allein kommt. Es ist erwiesen, daß in neuerer Zeit der Islam mehr Fortschritte macht als das Christentum. Das Heidentum wird dem gehören, der es zum Gehorsam zwingt!«

Das klang so entschieden und so hart, daß sie es vorzog, still zu sein. Sie setzte sich wieder nieder, schien sich aber vergeblich zu bemühen, die frühere Stimmung zurückzurufen. Das, was sie vorher begeistert hatte, war ihr gleichgültig geworden, und da der Vater sich übel gelaunt und wortkarg zeigte, so bat sie ihn schließlich, aufzubrechen.

»Sehr gern!« stimmte er ihr bei. »Es ist eine drückende Hitze hier oben, und wie du es neben der qualmenden Zigarre dieses ungebildeten, rücksichtslosen Menschen aushalten konntest, habe ich mir nicht erklären können.«

»Es ist freilich nichts so widerwärtig wie der Tabaksgeruch; für ihn aber scheint es ein Genuß zu sein; ich habe nicht darauf geachtet.«

Dieser Ausdruck der Herzensgüte und Selbstüberwindung ließ es mich bereuen, daß ich mich nicht so verhalten hatte, wie ich nun wünschte, es getan zu haben. Später fand ich eine erfreuliche Veranlassung, mich an diese ihre jetzigen Worte lebhaft zu erinnern.

Sie ritten fort, wie sie gekommen waren: ohne mir irgend eine Beachtung zu schenken. Der Levantiner mußte laufen, da nun nur noch die beiden Esel da waren, die er besorgt hatte. Es tat mir um der Dame willen leid, daß sie nicht länger blieben, denn die Sonne stand bereits dem Horizonte nahe, und ich hätte den Anblick ihres heutigen Unterganges dem lieben, freundlichen Wesen herzlich gern gegönnt.

Ich war seinetwegen hierher gekommen, hatte mich auf ihn gefreut und machte aber dann, als er eintrat, die Bemerkung, daß ich heut nicht fähig sei, ihn so, wie früher stets, auf mich wirken zu lassen. Die häßliche Szene, deren Zuschauer ich gewesen war, hatte mein Inneres auch überschattet. Das Vorgefallene machte es mir unmöglich, mich dem Eindrucke des herrlichen Naturschauspieles frei und gänzlich hinzugeben. Der Amerikaner hatte einige Aeußerungen getan, welche geistig unterzubringen oder zu überwinden ich mir erfolglos Mühe gab.

So oft ich mich hier auf dieser Höhe befand, sah ich zwei Welten vor mir liegen, die aber in ihrem Zusammenhange doch nur eine einzige waren, und ebenso sah ich zwei Zeiten, welche durch Jahrtausende getrennt zu sein scheinen, im jetzigen Augenblicke zu einer wunderbaren, ergreifenden Vereinigung zusammenfließen. Die Gegenwart ist unsere Vergangenheit gewesen und wird auch unsere Zukunft sein. Wer das begreift, der hat nicht nötig, das Innere der Pyramiden zu durchforschen, und braucht auch nicht vor den Rätseln der Sphinx zu bangen, deren Lösung er klar und deutlich in seinem Herzen trägt. Die Menschheit gleicht der Zeit. Beide schreiten unaufhaltsam vorwärts, und wie keiner einzelnen Stunde ein besonderer Vorzug gegeben worden ist, so kann auch kein Mensch, kein Stand, kein Volk sich rühmen, von Gott mit irgend einer speziellen Auszeichnung begnadet worden zu sein. Eine hervorragende Periode ist nur das Produkt vorangegangener Zeiten, und es gibt in der Entwicklung des Menschengeschlechtes keine Geistesrichtung oder Geistestat, welche aus sich selbst heraus entstanden wäre und der Vergangenheit nicht Dank zu zollen hätte. Die Weltgeschichte, welche wir ja das Weltgericht nennen, hat bisher noch jedes Kapitel der Selbstüberhebung mit einem bestrafenden Schluß versehen und diesen Akt der Gerechtigkeit zur Warnung für spätere Generationen in der ernsten, eindringlichen Sprache der Ruinen aufbewahrt. Und diese sprechenden, ja predigenden Ruinen haben uns die Lehre zu erteilen, daß, was im Oriente für uns gestorben ist, im Abendlande für ihn wieder auferstehen soll.

Das war ganz derselbe Gedanke, dem die Tochter des Amerikaners nur einen andern Ausdruck gegeben hatte, als sie von dem schlafenden Prinzen sprach, welchen eine abendländische Jungfrau aufzuwecken habe. Und wie einverstanden war ich mit ihrer Frage: »Was bringe ich mit?« Wollen wir ehrlich sein, so müssen wir zugestehen: Wer nach dem Morgenlande kommt, der will ihm nicht etwa dankbar sein, sondern noch mehr, immer mehr von ihm haben, als er schon von ihm bekommen hat. Der Osten hat gegeben, so lange und so viel er geben konnte. Wir haben uns an ihm bereichert fort und fort; er ist der Vater, der für und an uns arm geworden ist. Denken wir doch endlich nun an unsere Pflicht!

Wir ahnen gar nicht, welche geistigen Summen wir ihm schuldig sind. Wir werden sie ihm, und zwar mit Zinsen, zurückzahlen müssen, gleichviel, ob wir wollen oder nicht. Die Vorsehung ist gerecht. Sie gibt Kredit, doch nicht für ungezählte Generationen oder gar für Ewigkeiten, und wird weder die Backschischgaben zudringlicher Touristenströme noch die Kurspapiere europäischer Geldgeschäfte, am allerwenigsten aber die aus unseren sogenannten Interessensphären erhofften materiellen Werte als gültige Zahlung anerkennen.

Was haben wir dem Orient bis heute gebracht? Was für Schätze glauben wir überhaupt ihm bringen zu können? »Ich bringe ihm meine Liebe, meine ganze, ganze, volle Liebe,« hatte die Amerikanerin gesagt, ohne sich dabei bewußt zu sein, daß nur und grad diese Liebe die erlösende Jungfrau ist, welche den schlafenden Prinzen zu neuem Leben zu erwecken hat. – –

Die Sonne war untergegangen; es drohte, schnell dunkel zu werden, und der Weg nach dem Bab el Karafe hinab ist kein angenehmer zu nennen. Darum trat ich nun auch den Heimweg an, der mich durch die Scharia Mohammed Ali und die Tahir-Straße nach dem Hotel führte.

Die öffentlichen Laternen brannten; die Hitze begann, sich zu mildern, und so hatten die Straßen sich belebt. Auf dem Platze Ibrahim Pascha erklang schrille, arabische Musik. Von der Wallfahrt nach Mekka zurückgekehrte Pilger hielten einen Umzug durch die Stadt. Je weiter entfernt von Kairo die Heimat dieser Leute ist, desto lieber geht man ihnen aus dem Weg. Sie haben sich, oder werden auch, in eine fanatische Erregung hineingearbeitet, durch welche sie für Andersgläubige gefährlich werden können. Ich hütete mich also, mich quer durch diesen Zug zu drängen, und wartete lieber, bis er vorüber war. Später am Abende war zu hören, daß am Meidan Abdin einige nicht so vorsichtige Europäer von diesen Leuten halb totgeschlagen worden seien. Ich erwähne das, weil ich noch Weiteres von ihnen zu berichten habe.

Als der Gong die Gäste des Hotels zum Abendessen rief, fand ich den bisher leer stehenden Tisch zu meiner linken Hand besetzt. Der Amerikaner hatte mit seiner Tochter daran Platz genommen. Als ich mich setzte, hörte ich ihn in deutscher Sprache sagen:

»Da ist der unangenehme Mensch ja wieder! Glücklicherweise darf hier nicht geraucht werden!«

»Aber, Vater, ist es nicht möglich, daß er deutsch versteht?« warnte Mary.

»Das fällt ihm gar nicht ein. Der Dolmetscher sagte doch, als wir vom Mokkatam herunterritten, daß der Fremde, der da oben saß, ein Franzose sei, und einem Franzosen kommt es bekanntlich gar nicht in den Sinn, deutsch zu lernen.«

»Ich würde mich aber doch lieber bei dem Kellner erkundigen. Du weißt ja, wie wenig man sich auf das, was dieser Dolmetscher sagt, verlassen kann. Ich möchte nicht, daß der Fremde von uns beleidigt wird.«

»Hast du eine Schwachheit für ihn?«

»Nein; aber man hat überhaupt mit jedem Menschen möglichst gut zu sein, und dieser hier im besonderen hat ein so – so – so – ich finde den passenden Ausdruck nicht und will daher sagen, er hat ein so loyales Aussehen, daß es mir leid tun würde, wenn er sich durch uns gekränkt fühlen sollte.«

»Ich finde, daß du heut ungewöhnlich zart und ängstlich bist. Daran ist vielleicht der Khamsin schuld, auf den wir leider zu spät aufmerksam geworden sind. Doch, da ist die Suppe!«

Es wurde ihnen serviert und dann auch mir. Während ich das Menu studierte und also auf die Karte sah, hörte ich, daß der Missionar einen Ausruf des Erstaunens ausstieß:

»Heavens! Ein Chinese! Noch einer! Zwei Chinesen, zwei ächte, wirkliche Chinesen, hier in Kairo, in Aegypten! Wer hätte das gedacht! Wo werden sie Platz nehmen?«

»Monsieur Fu« und »Monsieur Tsi« kamen langsam durch den Saal gegangen und schritten ihrem Tische zu. Zwei Kellner eilten herbei, um ihnen die Stühle bequem zu rücken; der eine von ihnen ging dann nach dem Tische der Amerikaner, um dort die leer gewordenen Suppenteller wegzunehmen. Das benutzte der Missionar zu der Erkundigung:

»Sind das dort Chinesen oder vielleicht nur Japaner?«

»Chinesen,« lautete die Antwort.

»Woher?«

»Aus China.«

»Das ist nicht sehr geistreich von Ihnen. Ich meine natürlich, aus welcher Stadt.«

»Aus Canton.«

»Sind Ihnen vielleicht die Namen bekannt?«

»Monsieur Fu und Monsieur Tsi.«

»Fu heißt Mann, auch Mensch, auch Vater. Tsi ist Abkömmling, auch die Folge von Etwas. Sonderbar! Kennen Sie den Stand?«

»Kaufleute. Onkel und Neffe. Sind in Paris gewesen. Machen in Chinawaren.«

»Es ist dort Platz für vier Personen. Wir werden uns zu ihnen hinübersetzen. Hier ist meine Karte, die Sie ihnen hinübertragen!«

»Hm! Ich weiß nicht, ob ich darf!«

»Darf? Warum nicht?«

»Sie wollen allein sein, ganz ungestört speisen.«

»Das geht mich nichts an! Ich bin Missionar, gehe nach China und werde die Gelegenheit natürlich sofort ergreifen, diese für mich hochinteressante Bekanntschaft zu machen. Also ich bitte, geben Sie meine Karte ab!«

Der Kellner bewegte den Kopf bedenklich hin und her, überlegte ein Weilchen und entschied dann:

»Ich kann das nicht auf mich nehmen und werde Ihnen also den Herrn Direktor schicken.«

Als er sich entfernt hatte, hörte ich, daß die Tochter im Tone der Besorgnis fragte:

»Aber, Vater, ist das nicht vielleicht ein gesellschaftlicher faux-pas von dir?«

»Wieso faux-pas?« erwiderte er. »Ist es ein Fehler, Jemand kennen lernen zu wollen?«

»Aber auf diese ungewöhnliche Weise! Das ist schon bei uns und in Europa verboten, und in China soll man in Beziehung auf neue Bekanntschaften noch viel strenger sein!«

»Du vergissest, daß wir nicht in China, sondern in Kairo sind. Hier gelten die Regeln aller und also eigentlich keiner Welt. Ferner bin ich Missionar, und sie sind Heiden. Ich denke an meine Wette mit Reverend Burton. Welch ein Erfolg, ihm schon von hier aus berichten zu können, daß ich zwei Chinesen bekehrt habe, noch ehe ich in China angekommen bin!«

»Aber, wir sitzen hier so gut, so allein, so ungestört. Ich bitte dich!«

»Die Unterhaltung mit ihnen steht mir höher als unser Alleinsein!«

»Aber ich, was werde ich sagen, die ich kaum hundert Worte chinesisch kenne?«

»Du wirst schweigen, was für euch Damen bekanntlich das Allerbeste ist.«

»Ich befürchte doch, daß wir zudringlich sind!«

»Zudringlich? Pshaw! Sie sind Kaufleute, handeln mit Chinawaren. Es ist also eine Ehre für sie, wenn wir uns zu ihnen setzen.«

Der Direktor kam. Das Verlangen des Amerikaners schien auch ihm ungelegen zu kommen, doch nahm er schließlich die Karte, um sie dem älteren Chinesen zu geben. Dieser las den Namen, hörte das, was der Direktor ihm sagte, an, ohne eine Miene zu verziehen, und gab dann seine Einwilligung durch ein kurzes Neigen seines Kopfes zu erkennen. Das hatte ich nicht erwartet. Doch als er hierauf seine beiden kleinen, seinen Hände an den tief herabhängenden Spitzen seines Bartes herniedergleiten ließ, leuchtete aus seinen Augen ein kurzer, fast unbemerkbarer Blick zu seinem Sohne hinüber, den dieser mit einer leisen, zitternden Bewegung seines Fächers erwiderte. Ostasien kam dem Wunsch der Vereinigten Staaten jovial entgegen.

Der Direktor überbrachte die Antwort. Mary erhob sich, wie sie nicht verbergen konnte, nur höchst ungern von ihrem Platze; ihr Vater aber schritt einem Sieger gleich mit ihr an meinem Tisch vorüber, den Chinesen zu, welche langsam und feierlich aufstanden und ohne irgend eine Bewegung der Höflichkeit ihnen stumm entgegenblickten. Der Missionar verbeugte sich vor ihnen und redete sie in einer Sprache an, welche er wahrscheinlich für gutes Chinesisch hielt. So sehr ich aufpaßte, so verstand ich nur den Namen Waller, welcher jedenfalls der seinige war, und dann noch das Wort tschui, welches »sich an Jemand anschließen« bedeutet. Als er geendet hatte, schienen die Chinesen grad auch so viel oder so wenig verstanden zu haben, denn sie gaben zunächst keine Antwort, sondern Fu deutete an Stelle derselben auf die beiden Stühle, welche Vater und Tochter einnehmen sollten. Sie setzten sich, Mary in außerordentlicher Verlegenheit. Da die Chinesen beharrlich schwiegen und unbeweglich wie Statuen saßen, so begann der Missionar, eine zweite Rede zu halten, deren Wirkung keine andere als die der ersten war, denn als er mit ihr zu Ende war, fragte Fu in einem weit besseren als dem gewöhnlichen Canton-Englisch:

»Bitte, mir zu sagen, in welcher Sprache Sie soeben zu uns gesprochen haben!«

»Es ist ja chinesisch!« antwortete der Gefragte, ganz erstaunt über diesen unvermuteten Erfolg seiner Sprachfertigkeit. »Ich habe gehört, daß Sie Chinesen sind, und hoffe sehr, daß man mich nicht falsch berichtet hat!«

»Ja, wir sind aus China; aber dieses Land ist ungeheuer groß. Wir haben es noch nicht in allen seinen Teilen bereist und sind also wohl noch nicht in der Gegend gewesen, wo man den Dialekt spricht, den Sie sich angeeignet haben. Darf ich fragen, in welchem Teile des Landes diese Gegend liegt?«

Im ersten Teile dieser Rede war Fu so rücksichtsvoll gewesen, für die Unkenntnis des Amerikaners nach einem Grunde der Entschuldigung zu suchen. Aus seiner letzten Frage aber sprach der Schalk. Ohne dies zu bemerken, antwortete der Missionar:

»Ich bin noch nicht in China gewesen und reise jetzt zum ersten Male hin.«

»So haben Sie sich diesen Dialekt auf einer Universität der Vereinigten Staaten angeeignet?«

»Nein, sondern auf eine viel leichtere und bequemere Art. Sie wissen wahrscheinlich wohl, daß wir Amerikaner praktisch sind, und es ist Ihnen auch nicht unbekannt, daß sehr viele Chinesen, fast mehr, als uns lieb ist, in unseren Staaten wohnen. In meinem Hause waren zwei beschäftigt, der eine als Wäscher und der andere als Barbier. Der Wäscher stammte aus Nord- und der Barbier aus Südchina, und da ich nicht wünschte, in Beziehung auf die Sprache einseitig ausgebildet zu sein, habe ich von Beiden Unterricht genommen.«

Hierauf trat eine momentane Stille, ja, eine Mäuschenstille ein. Die Gesichtszüge der Chinesen blieben vollständig unbewegt; aber Mary errötete bis an die Stirn hinauf. Sie ahnte wohl, wie unsterblich sich ihr Vater soeben blamiert hatte; dieser aber wendete sich ganz heiter und unbefangen dem Kellner zu, welcher ihm jetzt den nach der Suppe folgenden Gang servierte.

»Sie sind also Missionar, wie ich auf Ihrer Karte gelesen habe?« fragte Fu nach einer Weile.

»Allerdings«, antwortete der Gefragte. »Ich hoffe, daß Sie wissen, was das heißt!«

»Das heißt, Sie kommen zu uns, um unsere Religion zu studieren und sie dann in den Vereinigten Staaten zu verbreiten?«

Da legte Waller – denn dies war allerdings der Name der Missionars – schnell das Messer und die Gabel weg, warf einen Blick der Ueberraschung auf den Sprecher und antwortete:

»Ich gestehe, daß ich noch nie in meinem Leben eine so unbegreifliche Frage gehört habe! Ich bin ein Christ und habe also denjenigen Glauben, welcher der einzig wahre und richtige ist. Sie aber, der Sie sehr wahrscheinlich Confucianer sind, sollten dem Ihrigen, der ein falscher ist, entsagen und sich entschließen, ein Christ zu werden!«

»Ich bin ja Christ,« antwortete der Chinese, indem über sein Gesicht ein ungemein höfliches, ja verbindliches Lächeln glitt.

»Sie – – sind – – – Christ – – –?!« wiederholte der Amerikaner die Worte des Andern mit dem Ausdrucke des Erstaunens. »So sind Sie also schon bekehrt?«

»Bekehrt? O nein! Wozu das? Eine Aenderung des Glaubens würde vollständig überflüssig sein. Wer etwas tut, was gar nicht nötig ist, der verdient, ein Tor genannt zu werden.«

»Ich verstehe Sie nicht. Sie sind nicht bekehrt, also noch Confucianer, und behaupten doch, ein Christ zu sein. Wollen Sie mir dieses Rätsel lösen!«

»Es ist kein Rätsel, sondern eine Sache, welche in China Jedermann schon längst begriffen hat. Ich bitte Sie, mir die Summe des christlichen Glaubens zu nennen!«

Mr. Waller setzte sich auf seinem Stuhle zurecht und begann zunächst, vom Sündenfalle zu sprechen. Während dessen brachte der Kellner den Chinesen die Suppe. Fu wies sie mit der kurzen Bemerkung zurück, daß er mit seinem Begleiter später oben im Zimmer speisen würde. Dann wendete er seine Aufmerksamkeit dem Yankee wieder zu. Er ließ ihn eine lange, lange Zeit sprechen, ohne ihn zu unterbrechen, und erst dann, als sich nach der Verheißung Abrahams eine Pause einstellte, sagte er:

»Ich bat Sie nicht um eine ausführliche Geschichte, sondern um die kurze Summierung Ihres Glaubens!«

»Aber Sie kennen doch unseren Glauben nicht; Sie würden mich also nicht verstehen, wenn ich Ihnen anstatt seiner ganzen Entwicklung nur eine kurze Aphorisme brächte!«

»O bitte! Was deutlich ist, kann vielleicht auch wohl von einem Chinesen begriffen werden. Christus ist der Gründer Ihres Glaubens, und Petrus wurde mir als derjenige Apostel bezeichnet, welchem die größte Macht des Christentums, das Amt der Schlüssel, übergeben wurde; Sie werden also das, was diese Beiden sagen, anerkennen. Christus gibt uns die Summe im Evangelium Johannes, wo er sagt, daß das ganze Gesetz und die Propheten in dem Gebote enthalten seien: Liebe Gott, und liebe deinen Nächsten! Und Petrus befiehlt in seinem ersten Briefe: ›Fürchtet Gott; habt die Brüder lieb, und ehret alle Menschen!‹ Das ist es, was ich von Ihnen hören wollte.«

Es war interessant, jetzt das Gesicht Wallers zu sehen. Das Erstaunen über die unerwartete Belesenheit des Chinesen lag nicht nur in seinen Zügen, sondern auch in seiner ganzen Haltung deutlich ausgedrückt. Er öffnete zwar den Mund, antwortete aber nicht. Fu tat, als ob er diesen Eindruck seiner Worte gar nicht bemerke, und fuhr fort:

»Das war also die Summe Ihres Glaubens nach den Worten Christi und seines obersten Apostels. Die Summe unseres Glaubens aber lautet: ›Die wahre Glückseligkeit kommt uns vom Himmel hernieder, und die Menschen sollen sie neidlos und friedlich unter sich verteilen.‹ Das ist doch genau dasselbe. Ihr Glaube und unser Glaube sind einander also gleich. Wenn ich dem meinigen gehorche, handle ich, wie ein Christ zu handeln hat, und wenn Sie tun, was der Ihrige gebietet, so sind Sie das, was Sie vorhin einen Confucianer genannt haben.«

Diese Art der Auffassung brachte dem Amerikaner die Sprache wieder.

»Bitte sehr!« rief er aus. »Ich, ein Confucianer! Welch eine Logik! Zwar scheint Ihnen unsere Bibel nicht unbekannt zu sein, aber Sie können unmöglich eine Ahnung von den zahllosen Verschiedenheiten haben, welche zwischen Ihrem Glauben und dem christlichen vorhanden sind!«

»Das tut nichts!« lächelte Fu. »Diese Verschiedenheiten müssen vorhanden sein, weil die Menschen verschieden sind. Ihr Christen liegt ja untereinander selbst im Streit! Es kommt nur auf den Ertrag, auf das Ende, auf den Abschluß, auf die Summe an. Wenn zwei Rechnungen genau dieselbe Summe ergeben, so ist das ein Beweis, daß beide richtig sind. Vielleicht sind einzelne Posten anders benannt, einige hier zusammengezogen, dort aber auseinander gehalten worden; die eine ist mit lateinischer Schrift, die andere in chinesischen Zeichen geschrieben; man hat die eine von links nach rechts, die andere aber umgekehrt zu lesen. Das ist Alles, Alles zwar nicht gleichgültig, aber doch nur Nebensache. Die Hauptsache ist, daß die Summen stimmen. Und wenn sie gleich sind, so ist die eine Rechnung genau so viel wie die andere wert, und keiner von Denen, die sie geschrieben haben und dem Himmel präsentieren, darf behaupten, daß die Buchführung des Anderen eine falsche sei. Sie haben gesehen, daß unsere Religionen ganz genau dieselbe Summe ergeben. Daß die einzelnen Posten geschichtliche oder nationale Verschiedenheiten zeigen, gibt der Berechnung Leben und Interesse, und es darf nicht außer Acht gelassen werden, daß die Richtigkeit der einen Rechnung gar nicht ohne die Richtigkeit der anderen zu beweisen wäre. Indem Ihr Glaube ganz dieselben Früchte wie der unsere bringt, beweisen Sie uns, daß er auf keinem Irrtume beruht, und wir würden ebenso unhöflich wie unklug handeln, wenn wir behaupteten, daß es für Sie notwendig sei, ihm zu entsagen und sich zu dem unsern zu bekehren.«

Der Missionar war den Worten des Chinesen mit einer Aufmerksamkeit gefolgt, welche sich nach und nach immer mehr in Verwunderung verwandelte. Er hatte nicht für möglich gehalten, daß der Spieß auf eine solche Weise herumgedreht werden könne, und da es ihm an Gedanken und also auch an Worten zu einer Entgegnung fehlte, so wandte er sich in seiner Verlegenheit an seine Tochter:

»Hast du es gehört, Mary? Man ist so höflich und so klug, mich nicht bekehren zu wollen! Diese ›Summe‹ der Religionen kommt mir ungemein verdächtig vor. Man hat darüber nachzudenken!«

»Das können Sie sich ersparen«, bemerkte der Chinese. »Christus sagt im Matthäus zweimal kurz hintereinander: ›An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen!‹ Die Früchte aber ergeben doch die Summe von des Baumes Tätigkeit und Wert. Sie hören, daß ich als Christ zu Ihnen spreche!«

»Aber woher kommt Ihnen denn diese Kenntnis unserer heiligen Schrift?«

»Aus dem Gehorsam gegen unsere heiligen Schriften, welche es mir zur Pflicht machen, alle Wege kennen zu lernen, die zum Heile führen. Ueberall, wo ein Tempel oder eine Kirche steht, ist ein solcher Weg geöffnet. Der Eine geht ihn von dem Tempel, der Andere von der Kirche aus; Beide aber wandern nach derselben Stelle, wo die Ernte abzuliefern und die Rechnung vorzulegen ist.«

»Sie meinen den Tod? Aber das ewige Leben nach demselben? Die Seligkeit? Was wissen Sie von dieser?«

»Wir wissen, daß unsere Ahnen sich dort befinden, und wir verehren sie. Sie glauben, daß Ihre Seligen, Ihre Heiligen dort wohnen, und senden ihnen Ihre Gebete zu. Ist das nicht ganz dasselbe?«

»Was das betrifft, so werden Sie auf diese Ihre Ahnen wohl verzichten müssen, denn – – –«

»Müssen? Müssen?« fiel ihm da Fu schnell in die Rede.

Er sah aus, als ob er zornig aufspringen wolle. Es war gewiß, daß der Amerikaner gar nicht ahnte, wie viele Fehler er gemacht hatte. Waren ihm denn die Sitten der Chinesen wirklich so unbekannt, wie man aus seinem Verhalten schließen mußte? Dann hätte er zu Hause bleiben sollen! Oder fühlte er sich von seinem Berufe in der Weise begeistert, daß es außer seinen Bekehrungswünschen keine anderen Rücksichten für ihn gab? Oder gehörte er zu der gar nicht seltenen Sorte von Kaukasiern, welche meinen, daß die Angehörigen anderer Rassen nicht nur gegen körperliche, sondern auch gegen seelische Mißhandlungen weniger empfindlich sind als wir? Daß er in dieser Weise über die Ahnen sprach, war eine Rücksichtslosigkeit, die gar nicht größer sein konnte, und ich war überzeugt, daß die Chinesen entweder ihn von ihrem Tische weisen oder sich selbst entfernen würden, zumal sie von ihm infolge ihrer Gebräuche gezwungen worden waren, auf das Essen zu verzichten, was er aber gar nicht beachtet zu haben schien. Doch geschah nicht, was ich vermutet hatte. Fu beherrschte sich. Er fuhr in demselben freundlichen Tone, in welchem er früher gesprochen hatte, fort:

»Wer auf seine Verstorbenen verzichtet, der ist nicht wert, daß sie für ihn gelebt haben. Er würde ja dadurch auf sich selbst verzichten, weil er sein Dasein nur dem ihrigen verdankt.«

Da traf ihn ein warmer Blick aus Marys Augen. Es war ihr wahrscheinlich nicht entgangen, daß es ihm Ueberwindung gekostet hatte, ruhig zu bleiben, und es drängte sie, ihm ein zustimmendes Wort zu sagen:

»Wer könnte einen solchen Verzicht verlangen! Wie wäre es mir möglich, der verstorbenen Mutter zu vergessen, deren Liebe mir eine ganze Welt gegeben hat! Ich kann sie mir nicht tot denken. Ich weiß, sie ist noch heut bei mir, wie sie stets bei mir gewesen ist. Der Unterschied ist nur, daß ich sie früher sah, jetzt aber nicht mehr sehen kann. Aber ich fühle sie. Seit ihrem Scheiden wohnt und wirkt in mir Etwas, was vorher nicht vorhanden war. Die, welche der Sprachgebrauch so fälschlich Tote nennt, haben vielleicht größere Macht über uns, als wir uns denken können.«

»Mary, du sprichst sehr sonderbar!« antwortete ihr Vater in verweisendem Tone.

Tsi, welcher aus Hochachtung vor seinem Vater bisher noch kein Wort gesprochen hatte, hielt die Augenlider halb gesenkt und den Kopf ihr leise zugeneigt, als ob er wünsche, daß sie weitersprechen möge. War es nur der tiefe Wohllaut ihrer Stimme oder auch der Inhalt ihrer Worte, der dies bewirkte? Fu, welcher sie nur einmal mit einem flüchtigen Blick gestreift, dann aber nicht mehr beachtet hatte, wendete ihr jetzt sein Gesicht voll zu, betrachtete das ihrige mit offenem Interesse und sagte dann in einer Weise, mit welcher er wohl noch kein chinesisches Mädchen ausgezeichnet hatte:

»Ich danke Ihnen, Miß Waller! Nichts kann so falsch sein, wie die Vorstellungen, welche man sich bei Ihnen über unsern ›Ahnenkultus‹ macht, der aber gar kein ›Kultus‹ ist. Man legt dabei die abergläubischen Gepflogenheiten unserer untersten Volksklasse zu Grunde, doch ist das grad und genau so falsch, als wenn wir Ihre Seligen und Heiligen mit den Augen des Gespensterglaubens betrachten wollten, der in den niederen Kreisen Ihrer Bevölkerung vorhanden ist. Es kann uns nicht einfallen, an Sie die Forderung zu stellen, auf den Himmel dieser Seligen zu verzichten; aber ebensowenig wird uns eine Macht der Erde dazu bringen, der beglückenden Ueberzeugung abtrünnig zu werden, daß auch unsere Abgeschiedenen nicht gestorben sind. Was Sie von ihrer Mutter sagen, das klingt in meinem Herzen freudig wieder. Auch wir Chinesen haben Mütter, die in unserer Liebe noch nach dem Tode weiterleben, und ein Volk, welches seine Mütter, seine Väter, seine Ahnen nicht vergißt, wie der Europäer sie vergißt, der oft die Vornamen des Großvaters seines Vaters oder seiner Mutter nicht mehr kennt, ein solches Volk schlägt seine Wurzeln so tief in die Vergangenheit, aus der es Kraft und Nahrung zieht, daß es um seine Zukunft nicht zu bangen braucht. Nur der, welcher den geistigen Boden nicht kennt, auf dem wir leben, kann von der ›Greisenhaftigkeit des gelben Mannes‹ sprechen. Sie sehen, der Ruf, in dem wir stehen, ist mir nicht unbekannt. Aber wer die Vergangenheit nicht achtet, der hat für die Zukunft keinen Wert. Die Stammbäume auch Ihrer alten Geschlechter sind nicht nur von genealogischer Bedeutung, sondern es steigt ein sich stets verjüngendes Leben in ihren Zellen auf und nieder, und in ihrem Schatten können sich alle Jene sammeln, welche ihren inneren Zusammenhang mit der Nation verloren haben, weil sie ihre Zugehörigkeit zum Stamm nicht pflegten und nun nur verwehte Blätter längst entlaubter Bäume sind, Völkerhumus, in welchem das Gedächtnis so manches edlen Geistes und so mancher schönen Tat den Erstickungstod gefunden hat. Eines solchen Todes haben wir Chinesen das Andenken Derer, von denen wir stammen und deren geistige Hinterlassenschaft wir zu pflegen und zu wahren haben, nicht sterben lassen. Wir sind uns des Zusammenhanges mit ihnen bewußt; wir gedenken ihrer; wir feiern ihre Erinnerungstage, und wenn dies von dem gewöhnlichen Manne, der für geistige Opfer und Liebesgaben kein Verständnis hat, in mehr materieller Weise geschieht, als es eigentlich im Sinne dieser Ehrung der Vorfahren liegt, so wird doch nur Jemand, dem es an Einsicht fehlt, behaupten können, daß es sich um eine abergläubische Verirrung oder gar um eine Abgötterei handele, durch welche unsere Intelligenz sich bis auf unter Null herabgesunken zeige. Sie sind eine Dame, Miß Waller, und halten das Andenken Ihrer Mutter heilig; ich bin ein Mann und sage, wir bleiben dem Gedächtnisse unserer Väter treu. Ist das nicht ganz dasselbe? Wollten Sie mich verurteilen, so müßte ich auch Ihnen Unrecht geben, und ich denke doch, daß weder Sie noch ich eine Ursache haben, uns in dieser Weise wehe zu tun!«

Er hielt ihr seine Hand hin, und sie legte, froh über diese Vertraulichkeit errötend, die ihrige hinein. Ich muß gestehen, daß der Chinese mich, so zu sagen, gefangen genommen hatte. Nicht nur Alles, was er tat und was er sagte, sondern auch wie er es tat und wie er es sagte, war so aristokratisch, so vornehm, ohne jedoch gekünstelt oder überhaupt gemacht zu sein. Er hatte jene seltene Art, zu sprechen, welche bei dem Zuhörer die Ueberzeugung erweckt, daß es gar nicht anders und besser gesagt werden kann, als es gesagt worden ist. Ich stand nicht an, ihn für einen Mann zu halten, welcher im stande war, das, was er beabsichtigte, mit kühlster Ueberlegung zu berechnen, und doch hatte er auch einen so warmen, so aufrichtigen Herzenston, daß mir es gar nicht als schwer erschien, ihm Liebe und Vertrauen zu schenken. Er war Krystall. Ich finde kein Wort, den Eindruck, den er auf mich machte, deutlicher zu bezeichnen. Und was für Kenntnisse mußte dieser Mann besitzen! Wenn ich jemals einen Menschen getroffen hatte, welcher genau wußte, was er wollte, und auch des Zeug dazu hatte, es zu wollen, so war es dieser Chinese hier, der sich so einfach Fu nennen ließ!

Als er der Dame seine Hand gereicht hatte, erhob er sich, um den Speisesaal zu verlassen. Sein Sohn folgte dem Beispiele des Vaters, der Miß seine Rechte hinzustrecken.

»Ich danke Ihnen auch,« sagte er. »Halten Sie uns nicht für gelber und für sonderbarer, als wir wirklich sind!«

Vor ihrem Vater verbeugten sie sich nur; dann gingen sie fort. Er sah ihnen nach, bis sie verschwanden; dann meinte er, mit der Hand über das Tischtuch streichend:

»Weg! Aufgeblasenheit und Mangel an Einsicht! So, genau so sind die Völker kurz vor ihrem Untergange! Wie soll man solche Leute fassen? Wenn der Heide behauptet, ein Christ zu sein, ist jedem Versuche, ihn zu bekehren, die Kraft genommen!«

»Ich fürchte, Vater, daß Fu nicht der einzige Chinese sein wird, von dem du diesen Einwand hörst«, bemerkte die Tochter.

»Pshaw! Laß uns nur erst in China sein! Ich werde von Tempel zu Tempel ziehen und meine Stimme erschallen lassen, daß die Götzen, die rings an den Wänden stehen, zittern! Du weißt ja, daß mir die Macht des Wortes gegeben ist, welches Felsen zerschmettert! Man wirft uns Amerikanern in neuerer Zeit den Cäsarismus vor. Nun wohl, wir bekennen uns zu ihm. Und wie auf äußerem Gebiete, so wollen wir auch auf dem Gebiete des Glaubens Herrscher sein! Schau in die Weltgeschichte der neuen Zeit! Ueberall, wo eine Eroberung gemacht worden ist, sind ihr die Boten des Christentums vorangegangen. Wir sind die kühnen Pioniere der geistlichen und infolgedessen auch der weltlichen Macht. Die Diplomatie der Vereinigten Staaten richtet schon seit einiger Zeit ihren Blick über den Stillen Ozean. Wir haben uns auf Inseln festgesetzt; es gilt, nun auch in China besser Position zu nehmen, als es bisher geschehen ist. Ich werde an dieser Aufgabe arbeiten und glaube, nicht der unrichtige Mann dazu zu sein!«

»Aber, Vater, Liebe, bitte, mehr Liebe mußt du zeigen!«

»Bemühe dich nicht, klüger zu sein als dein Vater ist! Es haben die Tempel der Heiden in aller Welt zu fallen. Ihre Säulen müssen zerstört und ihre Mauern eingestürzt werden. Es darf keinen Allah und keinen Muhamed, keinen Zoroaster, keinen Brahma, keinen Confucius und Mencius mehr geben!«

Er sprach erregt, erregter, als der öffentliche Ort, an dem er sich befand, es eigentlich erlaubte. Sie legte ihm begütigend die Hand auf den Arm und bat:

»Sprich leiser! Du bist so unruhig jetzt, gar nicht so still und heiter, so überlegend und bedächtig, wie du warst, so lange die Mutter lebte. Ich hoffte, daß die Reise dich zerstreuen werde; aber die ›Heidentempel‹ kommen dir fast gar nicht mehr aus dem Sinn.«

Sie sprach so eindringlich und so ernst, und ihr Auge hatte dabei einen so tiefen, dunklen Blick. Sie schien noch besorgter zu sein, als sie sich merken lassen wollte. Die Wirkung ihrer Worte war keine nachhaltige. Ein Weilchen war er still oder sprach wenigstens in so gedämpftem Tone, daß ich ihn nicht verstehen konnte. Aber bald war er wieder so deutlich wie vorher geworden. Und, sonderbar, die Heidentempel bildeten das Thema, auf welches er so oft wie möglich zurückzukommen strebte, obgleich Mary sich Mühe gab, ihn immer wieder davon abzubringen. War dies nichts Anderes zu nennen, als nur ein bevorzugter Gesprächsgegenstand? Ließ es sich einfach nur aus seinem Beruf als Missionar erklären, daß dieses Wort sich in seinem Ideenkreise so fest eingenistet hatte? Oder sollte – –? Nein! Den Gedanken an eine geistige Störung mußte ich in Rücksicht auf eben diesen Beruf von mir weisen. Wer nach China geht, um »Heiden zu bekehren,« bei dem ist doch wohl eine vollständig gesunde Psyche vorauszusetzen. Jedenfalls aber war im Verlaufe dieses Abendessens mein Interesse nicht nur für die beiden Chinesen, sondern auch für den Amerikaner und seine Tochter um ein Bedeutendes gesteigert worden.

Nach Tische ließ ich mir den Kaffee, wie gewöhnlich, hinaus auf den elektrisch beleuchteten Vorplatz bringen und saß noch kaum einige Minuten da, als Waller und Mary das Hotel verließen, um einen Spaziergang zu machen. Sie kamen nahe an mir vorüber und – ob ich mich irrte, weiß ich nicht, aber es war mir, als ob er schon wieder über irgend einen Tempel mit ihr spreche.

Sejjid Omar, der Eselsjunge, stand drüben auf seinem Platze. Nach einiger Zeit band er seinen Esel an und kam herüber bis an die breiten Aufgangsstufen, welche Dienstpersonen, die nicht in das Hotel gehören, nicht ohne Erlaubnis betreten dürfen. Als er den dort befindlichen zweiten Portier um diese Erlaubnis bat, sah ich, daß er nach mir herüberzeigte. Sie wurde ihm gewährt, und dann kam er auf mich zugeschritten, langsam und würdevoll wie ein Ambassadeur des Padischah von Stambul. Vor mir stehen bleibend, kreuzte er die Hände auf der Brust, verbeugte sich und grüßte:

»Guttakk!«

Ich sah ihn fragend an und antwortete nicht.

»Guttakk!« wiederholte er, und als ich auch dann noch nichts sagte, besann er sich eines Besseren und fügte noch eine Silbe hinzu: »Guttertakk!«

Er hatte »Guten Tag!« gemeint.

»Jis'id masak!« antwortete ich, ihm dadurch andeutend, daß er arabisch sprechen solle, weil meine Sprachkenntnisse für sein Deutsch nicht ganz ausreichend seien. Da er hörte, daß ich seiner Muttersprache mächtig war, holte er erleichtert Atem und erkundigte sich:

»Ich bin Sejjid Omar. Welchen Titel soll ich dir geben, wenn ich mit dir spreche?«

»Man hat mich stets Sihdi »mein Herr.« genannt,« antwortete ich.

»Nun wohl, Sihdi; ich hörte von dem Kellner, der dich auf deinem Zimmer bedient, daß du eine sehr lange und sehr weite Reise machen willst und einen arabischen Diener brauchst, der dich begleiten soll. Es haben sich schon Viele gemeldet, doch Keiner hat dir gefallen. Wenn Allah will und du stimmst bei, so gehe ich mit dir.«

Es war so, wie er sagte. Ich wollte zunächst nach dem Sudan hinauf, und deshalb mußte der Betreffende arabisch sprechen können.

»Wie kommst denn du dazu, dich mir anzubieten?« fragte ich. »Bringt dir dein Esel zu wenig Geld ein? Gefällt es dir nicht mehr in Kairo?«

»Ich habe mein gutes Auskommen und bin mit dieser meiner Vaterstadt zufrieden. Ich wäre nie von hier fortgegangen, aber mit dir möchte ich gern reisen, weil ich dich liebgewonnen habe.«

»Liebgewonnen? Weshalb?«

»Aus vielen Gründen. Ich sah, daß du mich beobachtetest, und erkundigte mich nach dir. Einer kannte dich. Du bist nicht zum ersten Male hier und nennst dich im Hotel ganz anders, als du heißest, weil du Bücher schreibst, die von den Leuten gelesen werden, welche dann zu dir gelaufen kommen und dich stören. Das willst du nicht. Ich soll den, der mir das sagte, nicht verraten; er reitet oft auf meinem Esel und hat gemeint, du seist zwar ein Christ, müssest aber ein besonderer Liebling Allahs sein; er wisse das genau, denn er habe alle deine Karten gelesen; die Briefe dürfen leider nicht geöffnet werden.«

»Ach! Es ist der alte Ibrahim Effendi auf der Post, der mich freilich schon seit langer Zeit kennt.«

»Maschallah Wunder Gottes!! Wie kannst du das erraten?«

»Du hast von Karten und Briefen gesprochen; er pflegt sie mir gern selbst zu bringen. Was deinen Wunsch betrifft, so komm morgen früh um acht Uhr auf mein Zimmer. Ich werde dir Bescheid sagen. Jetzt kannst du gehen.«

Er verbeugte sich, grüßte und ging, kehrte aber nach einigen Schritten wieder um und sagte:

»Sihdi, ich will dir meine Bedingungen lieber gleich jetzt sagen!«

»So? Du hast Bedingungen?«

»Ja. Ich werde dir ein treuer, zuverlässiger Diener und du wirst mir ein strenger, aber guter Herr sein. Ich weiß das ganz genau, denn ich will dir gestehen, daß Ibrahim Effendi mir mehr von dir erzählt hat, als du denkst. Du zahlst mir, was du willst; ich bin zufrieden. Du kannst von mir verlangen, was du willst, ich werde es tun. Aber verlange nichts, was gegen meinen Glauben ist; laß mich keines meiner Gebete je versäumen, und sprich nie von deiner Religion! Ich liebe dich, aber ich liebe nicht das Christentum. Leletak sa'ide – deine Nacht sei gesegnet!«

Nach diesen Worten drehte er sich um und entfernte sich. Man denke ja nicht, daß ich die Pflicht gehabt hätte, ihm wegen der an mich gestellten Wünsche zu zürnen. Sie waren nicht so unbegründet, wie man vielleicht denken mag. Um dies einzusehen, muß man wissen, von welcher Art die Christen sind, auf die sich Omars Worte bezogen.

Da sind zunächst die Touristen. Man gehe einmal durch die Scharia Bab el Hadid nach dem Bahnhofe, um diese Leute bei ihrer Ankunft aussteigen zu sehen. Sie kommen eigentlich nicht, sondern sie werden gebracht; sie steigen nicht aus, sondern sie werden ausgestiegen. Sie bilden Cook- oder Stangen-»Herden«, welche sich jeder Selbständigkeit begeben und ihren Hirten zu parieren haben. Sie sind nicht mehr Personen oder gar Individualitäten, sondern einfach Gegenstände des betreffenden Reisebureaus. Im Bahnhofe aus- und vor den Hotels wieder abgeladen, haben sie die Zimmer zu nehmen, die man für sie bestimmt, zur vorgeschriebenen Zeit zu essen und zu schlafen, um zwischen diesen Zeiten truppweise auf die touristische Weide getrieben zu werden. Sie machen den Eindruck der Unwissenheit und der Hilflosigkeit, und jeder Eingeborene, dessen Dienste sie in Anspruch nehmen müssen, hält es für sein gutes Recht, ihre Unkenntnis möglichst auszubeuten. Sie mögen sich nun gegen ihn verhalten, wie sie wollen, höflich oder grob, freigebig oder nicht, auf alle Fälle betrachtet er sie als Personen, die sich mit ihm nicht messen können und deren Heimat eine so traurige ist, daß sie weite und kostspielige Reisen machen müssen, um einmal etwas Schöneres und Besseres zu sehen. Er sieht und hört ihre laute Bewunderung für Alles, was für ihn zu den Alltäglichkeiten gehört; er wird von ihnen als halbes Wunder photographiert; er steht dabei, wenn sie bei ihren Einkäufen für Dinge, welche aus Deutschland kommen und dort eine Mark kosten, vielleicht den zehnfachen Preis bezahlen; kurz, was sie ihm einflößen, ist nichts weniger als das Gefühl der Hochachtung, und wenn sie von Jedermann mit den Worten »Bakschisch« angerufen und verfolgt werden, so dürfen sie sich nicht etwa denken, daß man unter dieser »Gabe« ein unverdientes Almosen versteht, sondern sie als einen Tribut betrachtet, welchen der Einheimische zu fordern berechtigt und der Fremde aber zu geben verpflichtet ist. Ich habe noch keinen Wirt, Händler, Führer, Dolmetscher und Eselsjungen gesehen, der nicht überzeugt gewesen ist, diesen ihrem Erklärer immer hilflos nachlaufenden Christen weit, weit überlegen zu sein. Und dieses Urteil ist stets ein verallgemeinerndes. Der Orientale braucht nur einen einzigen Punkt zu bemerken, in Beziehung auf welchen er dem Abendländer über ist, so steht sofort in ihm die Ueberzeugung fest, daß dieser Vorzug auch in jeder anderen Hinsicht vorhanden sei. Natürlich wird diese falsche Annahme vor allen Dingen auch auf den Glauben ausgedehnt. Der Tourist, besonders der sogenannte »Herdentourist«, hat seine Individualität daheim gelassen und bringt nichts als nur seine Neugierde und seinen Geldbeutel mit; er ist ein personifiziertes Bakschisch, welches das Abendland dem Morgenlande bringt. Dieses Bakschisch zieht dort den Betrug, die Habsucht und die Lüge groß, fließt meist in die Kassen nicht einheimischer Geschäftsleute und bringt dem eigentlichen Oriente wohl keinen, am allerwenigsten aber einen geistigen Nutzen. Seine Seele aber bleibt nicht unberührt.

Das Sträuben Sejjid Omars war nichts, als eine Aeußerung dieser Seele, welche sich dagegen empört, ihre Heiligtümer der fremden Neugierde gegen ein Trinkgeld von einigen Halbpiastern preiszugeben. Und es fand seine mehr als genügende Begründung in dem moralischen Werte oder Unwerte desjenigen Christentums, welches er kennen gelernt hatte.

Wer ein scharfes, offenes Auge besitzt, der wird von Alexandrien und Port Said oder Suez an bis nach Assuan hinauf in unzähligen Fällen die Behauptung bestätigt finden, daß überall, wo von einem Gewinn um jeden Preis die Rede ist, ein Christ die Hand im Spiele hat. Zwar handelt es sich da meist nur um griechische, levantinische oder überhaupt morgenländische Christen, aber dem Mohammedaner ist dieser Unterschied nicht geläufig; Christ gilt als Christ bei ihm, und der abendländische hat es sich zunächst gefallen zu lassen, daß er genau so wie der orientalische beurteilt wird. Sejjid Omar war kein dummer Mensch; er hatte sogar, wie ich später erfuhr und was bei den dortigen Verhältnissen selbst für Eselsjungen möglich ist, einige Jahre lang in der Azharmoschee Theologie studiert, doch mangelte auch ihm die nötige Einsicht, Christ von Christ zu unterscheiden. Lernte er in einem Christen zugleich auch einen guten Menschen kennen, so lag die einzige Lösung dieses Rätsels für ihn in der Annahme: »Er muß, obgleich ein Christ, ein Liebling Allahs sein, denn Allahs Sonne scheint ja auf die, die sich von ihm gewendet haben.« Die Bedingungen, welche er mir gestellt hatte, konnten mich keineswegs abhalten, ihn zu engagieren; sie bildeten vielmehr eine Empfehlung für ihn. Wer das, was ihm heilig sein soll, nicht achtet, wird höchst wahrscheinlich kein treuer, zuverlässiger Diener sein. Ich nahm mir vor, zunächst seine Sattelfestigkeit auf dem Pferde zu prüfen und zu diesem Zweck morgen mit ihm nach Gizeh und dann nach Sakkara zu reiten. Mancher Eselsjunge, welcher wahre Kunstreiterstückchen ausführt, ist aber, so lange er lebt, nicht auf ein Pferd gekommen und mit der Behandlung desselben vollständig unbekannt. Ich brauchte einen Diener, der sich vor monatelangem Reiten auf jeder Art von Pferden nicht zu fürchten hat.

Kurz nachdem Omar bei mir gewesen war, ging ich auf mein Zimmer, um noch ein Stündchen zu arbeiten, brachte aber nichts fertig, denn die vier Personen an meinen Nachbartischen kamen mir nicht aus dem Sinne. Meine Gedanken kehrten immer wieder zu ihnen und ihrem Gespräch zurück, und besonders war es der Missionar, der mich in Anspruch nahm, weil ich mir das unerlaubt selbstbewußte Gebaren eines Mannes nicht erklären konnte, dessen Beruf ihn das Wort des Jesaias hätte beherzigen lassen sollen, daß die Schritte der Boten, welche auf den Bergen Gottes den Frieden predigen und das Heil verkündigen wollen, leise und lieblich zu klingen haben. Ich ließ also Papier, Tinte und Feder sein und legte mich schlafen.

Ich schlief auch bald ein; aber die Gedanken waren nicht auch eingeschlafen; sie beschäftigten mich im Traume fort. Ich sah diesen Mr. Waller die verschiedensten und unglaublichsten Arbeiten verrichten, die aber alle zerstörend waren. Er riß Häuser ein, stürzte Pfeiler um, schlug Bäume nieder und hatte stets und stets eine Axt, ein Brecheisen oder sonst ein derartiges Werkzeug in der Hand. Ich sah Kruzifixe stehen, Kapellen, Kirchen, griechische, indische, assyrische Tempel, Moscheen, Statuen von heidnischen Göttern und christlichen Heiligen; er schlug sie alle, alle nieder, ohne das Christliche zu schonen. Er arbeitete wie ein Verrückter, im Schweiße seines Angesichts, bis eine Stimme donnernd rief: »Saulus, Saulus, warum verfolgst du mich!« Da brach er zusammen, und ich erwachte.

Der Mond schien so hell, daß alle Gegenstände, auch die kleinsten, zu unterscheiden waren, zur offenen Balkontür herein, und ich war so froh, daß ich nur geträumt und nicht etwas Wirkliches gesehen hatte. Dennoch dachte ich darüber nach. Der Saulusruf paßte nicht für einen christlichen Missionar, aber wer kann von einem Traume die Ueberlegung verlangen, ob das, was er bringt, auch passend sei! Ich hoffte, bald wieder einzuschlafen, und schloß die Augen wieder zu, mußte aber gleich wieder an den Traum und seine zertrümmerten Tempel und Kirchen denken. Da stieg ein warnendes Wort und noch eins in mir auf; beide gestalteten sich zum Verse, dem sich ein zweiter, dritter und dann auch vierter zugesellte; sie fügten sich zur gereimten, vierzeiligen Strophe zusammen, und ich stand auf, um sie niederzuschreiben. Ich hielt diese Strophe für geeignet, den Anfang eines Gedichtes zu bilden, welches später in meine »Himmelsgedanken« aufgenommen werden konnte. Als ich im Mondscheine die Zeilen auf das Papier geworfen hatte, legte ich mich wieder nieder. Die Nachtluft war nach dem Khamsin des vorigen Tages so erquickend kühl, ein Hochgenuß, den man im Schlaf nicht mehr bewußt genießen kann, und so nahm ich mir vor, zu der aufgezeichneten Strophe noch eine zweite, dritte und vierte zu schreiben. Ich zerlegte den Hauptgedanken in seine Teile und sann über die Verbindung zwischen ihnen nach, um zu einer festen, logisch klaren Disposition zu kommen; aber der unverwüstliche, alte und wohlbekannte Papa Morpheus schien sich aus den Tempeltrümmern meines Traumes heraus- und über mich hergemacht zu haben, und er wurde mit mir eher fertig, als ich mit meiner Disposition. Und er gab mich für dieses Mal nicht eher frei, als bis ein lautes Klopfen an meiner Tür ihn zwang, von mir hinweg und nach Griechenland zu eilen, wo im »hohen Olymp« noch einige unbeschädigte Tempel stehen sollen, welche die Nachwelt als Auszüglerwohnungen oder Altenteil der einst dort Thronenden zu respektieren hat.

Ich sah nach der Uhr. Punkt acht! O wehe! Wahrscheinlich stand Sejjid Omar schon draußen!

»Istan'ni schubai'je – warte ein wenig!« rief ich so laut, daß er es hören konnte, und machte mich schnell fertig, ihn hereinzulassen.

Obgleich ich mich im Zimmer befand, bemerkte ich, daß der Khamsin heut noch schärfer wehte als gestern, wenn auch jetzt am Vormittage noch nicht mit der erst später zu erwartenden Hitze. Als ich das Zeichen gab, daß der Wartende kommen könne, trat er ein. Ja, es war Sejjid Omar. Er hatte sein bestes Gewand angelegt und den Turban aufgesetzt, während er für gewöhnlich den roten Tarbusch So wird in Aegypten der Fez genannt. trug. Das geschah in der Absicht, mir zu zeigen, daß die zu besprechende Angelegenheit für ihn eine ungewöhnlich wichtige sei. Nach Art der Araber, welchen bei dem hiesigen Klima ein Verschließen der Wohnräume nicht geläufig ist, ließ er, als er hereingekommen war, die Tür weit offen stehen. Draußen auf dem Korridore stand wahrscheinlich ein Fenster auf, und da meine Balkontür auch offen war, so entstand ein Luftzug, dessen plötzlicher Stoß so stark war, daß er die auf dem Tisch liegenden Papiere emporhob und eines derselben hinaus auf den Balkon führte, wo es zwar zunächst liegen blieb, aber so lebhaft bewegt wurde daß es jeden Augenblick weiter fliegen konnte. Omar sprang sofort dienstfertig hinaus. Er hob es auf, betrachtete es und warf es dann in die Luft, die es wirbelnd mit sich nahm.

»Es stand wohl nichts darauf?« fragte ich.

»O ja, es war beschrieben,« antwortete er.

»Aber, warum hast du es da nicht hereingebracht, sondern weggeworfen?«

»Es war ja nicht arabisch!«

Er sagte das im Tone der unendlichsten Selbstverständlichkeit, daß alles nicht arabisch Geschriebene für das ganze Reich der Schöpfung vollständig gleichgültig und wertlos sei. Dabei lag auf seinem Gesichte eine solche Befriedigung, als ob es für mich gar keine Möglichkeit gebe, hierüber anders als er zu denken.

»Höre, Omar,« belehrte ich ihn, »ich schreibe deutsch, aber trotzdem ist Alles, was ich geschrieben habe, mehr wert, als wenn zum Beispiel du es arabisch geschrieben hättest. Auch das Papier kostet Geld, und dieses Blatt gehörte mir, aber nicht dir. Wie kommst du dazu, es wegzuwerfen? Wenn ein Franzose dich mit einem goldenen Napoleon bezahlt, wirfst du diesen auch weg, nur weil die darauf zu lesende Schrift nicht arabisch ist?«

Er errötete, was seinem Gesichte bei dessen dunklem Teint eine eigentümliche Färbung gab, ließ die Arme wie ganz kraftlos sinken und hielt den Blick zu Boden gerichtet. Er besaß ein sehr stark entwickeltes Ehrgefühl, und mein Verweis wirkte bei ihm tiefer, als er bei einem Andern gewirkt hätte.

»Sihdi, was soll ich sagen!« stieß er hervor. »Es ist der Wunsch meines Herzens, dein Diener werden zu dürfen, und jetzt, wo ich es noch gar nicht bin und dich noch nicht einmal begrüßt habe, mache ich mich schon eines solchen Fehlers schuldig! Kannst du denn deine Bücher nicht arabisch schreiben, damit ich, wenn ich die Blätter liegen sehe, gleich lesen kann, ob sie wichtige sind oder ob ich sie wegwerfen darf?«

»Du hast in Zukunft nichts, gar nichts wegzuwerfen, sondern grad die von mir beschriebenen Blätter mit der größten Sorgfalt zu behandeln! Sie sind mehr Geld wert, als du denkst!«

»Maschallah! So habe ich Geld weggeworfen?«

»Wahrscheinlich. Ich werde dann nachsehen, was mir fehlt.«

»So verzeihe mir, Sihdi! Oder, ich werde auch etwas auf ein Blatt schreiben; das wirfst du weg, und dann sind wir quitt!«

Das war im vollsten Ernst gesagt. Ich konnte natürlich gar nicht anders, ich mußte herzlich lachen. Das gab ihm wieder Mut. Er hob die Arme und den Blick wieder empor und fragte:

»Was hast du über meinen Wunsch, mit dir zu gehen, beschlossen?«

»Kannst du reiten?«

»Ja.«

»Auch zu Pferde?«

»Ja; prüfe mich! Ich weiß vom alten Ibrahim Effendi, was für Ritte du schon hast machen müssen. Du wirst mich brauchbar finden.«

»So komm am Nachmittag um drei Uhr wieder. Ich werde Pferde besorgen. Wir reiten nach Gizeh und morgen nach Sakkara, Bedraschehn und vielleicht auch nach Heluan. Aber denke nicht, daß wir uns auf Touristenwegen halten werden! Wie du reitest, und wie bald oder spät du ermüdest, davon wird es abhängen, ob dein Wunsch erfüllt wird oder nicht.«

Da holte er tief Atem und versicherte in frohem Tone:

»Hamdulillah! Allah sei Dank.. Ich werde dein Diener sein; ich weiß es ganz gewiß! Hast du jetzt noch einen Befehl für mich?«

»Nein. Du kannst gehen.«

»Allah jesallimak – Gott segne dich!«

Er griff nach meiner Hand, beugte sich zu ihr nieder und drückte sie an seine Lippen. Das geschah in einer Weise, der man es ansah, daß ihm diese herzliche Art der Ehrenerweisung ganz und gar nicht geläufig sei. Ich war geneigt, sie ihm hoch anzurechnen. Wenn ein Araber, der so wie dieser Sejjid Omar um die Erfüllung seiner religiösen Pflichten besorgt ist, einem Christen die Hand küßt, so ist ganz gewiß sein Herz dabei im Spiele. Daß Omar ein gewöhnlicher Eseltreiber war, kann nichts an dieser Sache ändern; da gibt es keinen Unterschied, sondern da handelt der Niedrigste genau so wie der Höchste. Aber wie kam gerad ich, der ich doch vor gestern abend nie mit ihm gesprochen hatte, zu dieser ganz besonderen Zuneigung? Der alte Ibrahim Effendi kannte mich ziemlich genau und mochte viel von mir erzählt haben; aber auch das war für mich noch kein hinreichender Grund. Wahrscheinlich lag dieser in irgend einem Umstande, den ich gar nicht beachtet und also wohl vergessen hatte.

Als er fort war, sah ich nach den Papieren auf dem Tische. Zunächst glaubte ich, daß kein beschriebenes fehle; dann aber dachte ich an die vier Zeilen, welche ich heute Nacht geschrieben hatte, und bemerkte nun, daß diese fehlten. Das war mir fatal, denn ich konnte nun nachdenken, so viel ich wollte, so war es mir unmöglich, mich der Strophe so, wie sie gewesen war, genau zu entsinnen. Ich erinnerte mich zwar des Hauptgedankens, daß es dem Christen nicht zieme, Tempel zu entweihen, da selbst auch dem heidnischen Götterdienste eine von der Erde emporhebende Idee zu Grunde liege, welche zu achten sei und nicht entheiligt werden dürfe; aber dieser Sinn wollte absolut nicht so leicht, ungezwungen und rein in die Reime fließen, wie er es in den verloren gegangenen Zeilen getan hatte.

Ich trat also hinaus auf den Balkon, von welchem man den ganzen, großen Vorplatz übersehen konnte; aber es war leider nirgends ein Papier zu sehen. Der kräftige Wind hatte es wohl in die Scharia Kahmel oder hinüber nach dem Platze Ibrahim Pascha getrieben.

Nun ging ich hinunter, um das Frühstück einzunehmen. Im Bureau ließ ich nach dem Menahouse-Hotel in Gizeh um das Zimmer telephonieren, welches ich zu bekommen trachte, so oft ich draußen bin. Es führt aus demselben eine gut verschließbare Türe direkt ins Freie, so daß man zu jeder Tages- und auch anderer Zeit nach den Pyramiden gehen kann, ohne von den anderen Gästen beachtet zu werden, oder den Schließer belästigen zu müssen. Es wurde mir zugesagt.

Im Speisesaale angekommen, sah ich, daß die Chinesen schon gefrühstückt haben mußten. Sie waren nicht da, aber das gebrauchte Geschirr stand noch auf ihrem Tische. An dem zu meiner andern Hand saß Mr. Waller ganz allein. Er hatte die leere Tasse vor sich, sah höchst gelangweilt aus und schien auf seine Tochter zu warten. Als der Kellner mich bediente und dabei an ihm vorüberging, fragte er ihn nach Monsieur Fu und Monsieur Tsi.

»Stehen eben im Begriff, abzufahren,« lautete die Antwort.

»Was? Sie reisen ab?«

»Nein. Sie bleiben noch für längere Zeit hier, um die Umgebung Kairos ebenso genau wie die Stadt selbst kennen zu lernen. Heut wollen sie nach Gizeh. Sie schlafen in Menahouse und gehen morgen nach den Pyramiden von Sakkara.«

Das interessierte nicht nur den Missionar, sondern auch mich. Ich hatte also Gelegenheit, sie heut und morgen an den angegebenen Orten zu sehen, und nahm mir vor, einer etwaigen Gelegenheit, mit ihnen dort zu verkehren, nicht aus dem Wege zu gehen.

Nach einiger Zeit kam Mary, und ihr Vater ließ servieren. Ich erfuhr, ohne die Absicht zu hegen, sie zu belauschen, daß die Miß von einem Ausgange zurückkehrte. Sie hatte einige kleine Einkäufe gemacht. Als die Gegenstände betrachtet worden waren, teilte ihr der Vater mit, daß die Chinesen nach den Pyramiden seien, und fragte sie, ob sie nicht Lust habe, heut auch hinauszufahren. Sie schien nicht sehr dafür gestimmt zu sein, vermutlich aus Rücksicht auf Fu und Tsi, auf welche es ihr Vater wahrscheinlich wieder abgesehen hatte; aber sie war gewöhnt, sich seinen Wünschen zu fügen, und so beschlossen sie, seinen Gedanken auszuführen und gleich nach Tisch und trotz der dann großen Hitze hinauszufahren.

Die üble Laune Mr. Wallers schien durch diese Fügsamkeit der Tochter gehoben worden zu sein. Er begann, gesprächiger zu werden, und nun, wo ich meine Aufmerksamkeit nicht zu teilen brauchte, wie gestern, fiel mir an ihm ein eigentümliches, nervöses, ich möchte fast sagen ängstliches Springen von einer Idee auf eine andere, ihr völlig fremde, auf. Es war, als ob sich seine Psyche auf der Flucht vor einer anderen, aber auch in ihm lebenden, befinde. Das war ein ruheloses Haschen und Jagen von einem Gegenstande zum andern. Er erwähnte seine verstorbene Frau, die er sehr lieb gehabt zu haben schien, auffällig oft und unterließ es natürlich nicht, auch von seiner zukünftigen Missionstätigkeit zu sprechen. Als ihn das mit unfehlbarer Sicherheit auf die einzustürzenden Säulen und Tempel brachte, fiel ihm die Tochter in die Rede. Sie griff in die Tasche, zog ein zusammengefaltetes Papier heraus und sagte:

»Ich habe dir etwas mitzuteilen, was hierauf Bezug hat, lieber Vater. Du sagst, daß Alles, was an eine andere Verehrung als unseres christlichen Gottes erinnere, fallen müsse, und magst vielleicht Recht haben. Mir ist, wie du weißt, dieser Gedanke als zu streng erschienen, denn ich halte diesen Dienst für das ganz natürliche und noch unbewußte Lallen der Menschheit in ihrem frühesten Kindesalter. Nun habe ich hier einige Zeilen, die sich in ganz eigener Art und Weise mit dieser unserer Streitfrage beschäftigen.«

»Wer hat sie geschrieben?«

»Das weiß ich nicht.«

»Also wohl gedruckt? Ein Blatt aus einem Buche?«

»Nein. Es ist geschrieben; eine vierzeilige Strophe, welche ich für den Anfang eines Gedichtes halte.«

»Du mußt doch wissen, von wem du sie hast!«

»Vom Winde!« lachte sie mit ihrer lieben, tiefen Stimme, indem sie das Blatt hoch emporhob und die Bewegungen nachahmte, mit denen ihr das Papier zugeflogen war. »Als ich vorhin fortging, brachte er es mir zugetrieben und legte es mir fast gerad vor die Füße hin. Ich hob es auf, da es so rein und sauber war, und las die Zeilen, welche darauf stehen. Denke dir meine Verwunderung, als ich sah, daß sie sich gerad mit deinem Hauptthema beschäftigen.« »Willst du sie hören?«

Er nickte und sie las:

»Tragt Euer Evangelium hinaus, Doch ohne Kampf sei es der Welt beschieden, Und seht Ihr irgendwo ein Gotteshaus, So stehe es für Euch im Völkerfrieden!«

Sie hatte langsam und so gelesen, daß man hörte, ihr Herz stimme diesen Worten bei. Dann blickte sie ihren Vater fragend an. Wenn ich der Ansicht gewesen war, daß er aufbrausen werde, so hatte ich mich geirrt. Er saß still, ganz still da und sagte zunächst kein Wort. Dann legte er die Hände auf der Kante des Tisches zusammen und forderte sie in beinahe bittendem Tone auf:

»Lies noch einmal, Mary!«

Sie folgte seiner Aufforderung:

»Tragt Euer Evangelium hinaus, Doch ohne Kampf sei es der Welt beschieden, Und seht Ihr irgendwo ein Gotteshaus, So stehe es für Euch im Völkerfrieden!«

Und wieder wurde es still. Mary sah, daß diese ihr vom Winde zugewehten Zeilen auf ihren Vater eine Wirkung ausübten, die sie wohl nicht erwartet hatte, und hütete sich, diese Wirkung zu unterbrechen. Und er saß mit gefalteten Händen da, ohne sich zu bewegen. Seine Augen sahen geradeaus, wie in eine weite, nur ihm bekannte Ferne. Im Saale ging und kam man hin und her; Tassen und Teller klirrten, Messer und Löffel klapperten; es wurde viel und laut gesprochen, doch das Alles schien ihn nicht zu stören. Er beachtete nicht, daß das Frühstück noch fast unberührt vor ihm stand, denn er hatte bisher weit mehr gesprochen als gegessen oder getrunken. Er hörte es auch gar nicht, daß der Kellner, an ihm vorüberstreichend, ihn nach etwaigen Wünschen fragte. Er schien, mit einem bezeichnenden Worte gesagt, geistig vollständig abwesend zu sein.

War ich überrascht gewesen, das verloren gegangene Blatt in Marys Hand zu sehen, so war ich es nun fast noch mehr über den Eindruck, den es gerad auf den Mann machte, welcher die eigentliche Ursache war, daß ich es beschrieben hatte. Es war ganz selbstverständlich, daß ich schweigen, am allerwenigsten aber es zurückverlangen würde. Ich hatte ja nun seinen Inhalt wieder, den ich mir nicht einmal zu notieren brauchte, denn das zweimalige Vorlesen war mehr als hinreichend, ihn mir so einzuprägen, daß ich ihn nicht wieder vergessen konnte.

Da endlich regte sich der Amerikaner wieder. Er sah sich im Saale um, als müsse er sich besinnen, wo er sei; dann fragte er in einem für ihn gewiß ungewöhnlich weichen Tone:

»Und dies hat dir der Wind gebracht, wirklich nur der Wind?«

»Ja, mein lieber, lieber Vater!«

Ich sah, daß ihre Augen feucht zu werden begannen.

»Ich denke,« fuhr er fort, an den »hundertunddritten Psalm und an das erste Kapitel des Buches an die Hebräer; es kann auch der hundertundvierte Psalm sein; ich weiß es nicht genau. Dort steht geschrieben: ›Er macht seine Engel zu Winden und seine Diener zu Feuerflammen.‹ Steht kein Name auf dem Blatte? Keine Seitenzahl? Gar nichts, woraus man schließen könnte, wem oder wohin es gehört?«

»Gar nichts, Vater.«

»So dürfen wir es also als unser Eigentum betrachten und wollen es aufheben für – – für spätere Zeit, wo wir es vielleicht brauchen.«

»Willst du es haben?«

»Nein; behalte es! Und wenn – – wenn – – – wenn ich wieder einmal lieblos von denen spreche, die ich Heiden nenne, so sage mir die beiden letzten Zeilen: Und seht Ihr irgendwo ein Gotteshaus, so stehe es für Euch im Völkerfrieden. Ich denke, das wird gut für Etwas sein, was in mir ist, was siegen will und doch nicht siegen kann.«

Es trat wieder eine Pause ein, nach welcher Mary die Vermutung aussprach:

»Der Verfasser ist wahrscheinlich ein Deutscher. Und weil ich das Blatt innerhalb der Vorstufen zum Hotel fand, so nahm ich an, daß er hier wohnt und es im Kommen oder Gehen draußen verloren hat. Ich erkundigte mich darum vorhin bei meiner Rückkehr im Bureau, ob vielleicht ein deutscher Dichter hier logiere, und habe eine verneinende Antwort erhalten.«

»Mag der, welcher es geschrieben hat, sein, wer und was er sei, er wird den kleinen Verlust entweder aus dem Konzepte oder aus dem Gedächtnisse leicht wieder ersetzen können. Er bekommt das Blatt nicht wieder, und selbst wenn er mir bekannt wäre, würde ich ihn bitten, es behalten zu dürfen. Ob die Zeilen als Gedicht gut sind, das weiß ich nicht; ich bin kein Kritiker; aber der Inhalt ist für mich von Wert, und im Ausdruck liegt Etwas, dem ich nicht widerstehen kann. Ich bin so alt geworden und habe doch nie und nicht gewußt, wie sich ein schönes, liebes, reines, klares Wort so schnell und tief ins Herz hinunterheimeln kann! Und Eins noch ists, was ich dir sagen muß, mein Kind.«

Aber er sagte es noch nicht, sondern er legte, das Gesicht seiner Tochter zugewendet, den Ellbogen auf den Tisch, den Kopf in die Hand, sah sie liebevoll prüfend an, machte dann die Augen zu, als ob er sich etwas zu vergegenwärtigen habe, und sprach erst hierauf weiter:

»Du bist deiner Mutter so überaus ähnlich, äußerlich und innerlich, und das hat mich über ihren Verlust, wenn auch nicht beruhigt, aber doch getröstet. Sie ist mein Engel gewesen, und du glaubst ja, daß sie heut ebenso wie früher bei uns weilt. Ich weiß, daß ich ein streitbarer Theologe bin, vielleicht streitbarer, als die Bibel will, und es ist stets das Hauptbestreben der Toten gewesen, dieses mein aggressives Wesen zu mildern. Sie warnte mich vor China, und als ich trotzdem meine Absicht, dorthin zu gehen, nicht aufgab, trübte sich die Zeit, welche, für uns so schrecklich unerwartet, die letzte ihres Lebens sein sollte. Als ich an ihrem Todestage zum letzten Male mit ihr allein war, – du hattest draußen mit dem Arzt zu sprechen – mußte ich ihr die Erfüllung ihres Abschiedswunsches geloben. Ich tat es, indem ich ihre Hand in die meine nahm, und dann sprach sie ihn aus: ›Sei stets ein echter Christ, und halte Frieden!‹ Und nun trägt heut der Wind dir fast genau dieselben Worte zu! Deine Stimme gleicht der ihrigen, und als du vorhin diese Zeilen lasest, da tauchte plötzlich ihr Sterbezimmer vor mir auf und – – –«

Weiter hörte ich nichts, oder vielmehr weiter wollte ich nichts hören. Die anderen Gäste saßen drin im eigentlichen Saale und wir, durch Säulen von diesem getrennt, allein im Seitenraum; sie brauchte er also nicht zu beachten. Aber mein Tisch stand dem seinen so nahe, daß ich seine Worte hören mußte, wenn ich auch nicht wollte. Mochte er mich nun wirklich für einen Franzosen halten, der nicht deutsch verstand, oder galt ich als Fremder faktisch für ihn als gar nicht vorhanden, jetzt durfte mir das nicht mehr gleichgültig sein. Er berührte eine Angelegenheit von solcher Diskretion, daß es mir meine Pflicht verbot, noch länger zuzuhören. Ich stand also auf und ging, wobei ich zu meiner Genugtuung bemerkte, daß er nicht die mindeste Notiz davon nahm.

Hatte ich gestern gemeint, daß er vielleicht ein ganz guter Mensch sei, so war mir dieses Vielleicht jetzt zur Gewißheit geworden. Nur wohnte und wirkte leider ein Dämon in ihm, der ihn selbst um den Frieden brachte, den er Andern doch so gern geben wollte; er hatte ihn ganz richtig als Agressivität bezeichnet. Dieser Teufel ist es, der Menschen, Korporationen und Völker immer vorwärts drängt, um neuen Raum zu gewinnen, dabei aber auf dem alten, wohlerworbenen keinen Frieden und keinen Segen aufkommen läßt!

Während des Mittagessens wurde es mir nicht schwer gemacht, diskret zu sein, denn meine Nachbarn sprachen außerordentlich wenig. Später bemerkte ich von meinem Fenster aus, daß sie einen Hotelwagen bestiegen, um den beabsichtigten Ausflug zu unternehmen.

Punkt drei Uhr klopfte Sejjid Omar an meine Tür. Die Pferde wurden schon bereit gehalten; wir konnten aufbrechen. Natürlich beobachtete ich ihn schon beim Aufsteigen. Das ging so leicht und glatt von statten, als ob es seine tägliche Gewohnheit sei. Auch hielt er sich eine volle Pferdelänge hinter mir, was ich dadurch belohnte, daß ich ihn aufforderte, an meine linke Seite heranzukommen. Ich konnte ihn doch nicht beobachten, wenn ich ihm vorausritt. Er hielt sich nun still und ruhig neben mir, ohne, was ein Anderer wahrscheinlich versucht hätte, mir zeigen zu wollen, daß er sein Pferd zu beherrschen verstand. Doch wurde, als wir uns dem Kasr en Nil näherten, der Straßenverkehr trotz der Hitze ein so lebhafter, daß ich leicht Gelegenheit fand, ihn, ohne daß er es bemerkte, auf die Probe zu stellen. Die uns begegnenden Wagen, Reiter, Kamele und Fußgänger bildeten mir willkommene Hindernisse, und ich wich ihnen in einer Weise aus, welche es einem mittelmäßigen oder gar schlechten Reiter sehr schwer gemacht hätte, nicht von mir abzukommen; er aber überwand diese Schwierigkeiten, ohne daß er sie zu bemerken schien.

Nachdem wir die Nilbrücke passiert hatten, ging es im Trab. Er saß wie angegossen. Jenseits des Museums, als wir das bekannte Eckcafé hinter uns hatten, mußten wir wieder langsam reiten, denn es begegneten sich da zwei Reihen aneinander gebundener Lastkamele, zwischen denen, gerad als ein Doppelwagen der Tramway von Gizeh kam, sich eine Schar schwatzender Fellachenfrauen befand, welche Körbe auf ihren Köpfen trugen. Das gab wahrscheinlich einen kritischen Augenblick.

Wie gedacht, so geschehen! Die Tramway erschreckte die Kamele; sie blieben stehen; das eine zerrte nach rechts, das andere nach links; dieses stand lang und jenes quer, und da sie zusammengebunden waren, so entstand für einige Zeit ein straßenbreites Hindernis von blökenden Kamelen und schreienden Weibern, in deren Mitte wir steckten.

»Komm, Omar!«

Mit diesem Rufe drängte ich mein Pferd zwischen zwei Frauen hindurch, hinter denen zwei Kamele so standen, daß sie eine schmale Lücke bildeten, welche durch den sie verbindenden Strick geschlossen war. Ich nahm mein Pferd hoch und kam glücklich über den Strick hinweg. Die Frauen kreischten; die Kameltreiber schimpften; Omar aber lachte fröhlich auf und nahm das Hindernis ganz in derselben Weise. Das war für dieses Mal genug, und es handelte sich nur noch darum, seine Ausdauer kennen zu lernen.

Auf der Straße von Kairo nach den Pyramiden kommt man an zwei Fellachendörfern vorüber, welche links liegen. Rechts dehnen sich grüne Flächen aus, welche von Kanälen bewässert werden. Die Pyramiden hat man gerade vor sich liegen. Sie erscheinen von Weitem als dreieckige Flächen, treten aber, je mehr man sich ihnen nähert, um so plastischer hervor. Das Menahouse-Hotel liegt am Fuße derselben. Es führt von ihm aus ein ziemlich breiter, auch fahrbarer Weg hinauf, welcher, um nicht vom Sande verschüttet zu werden, zu beiden Seiten mit Mauern versehen ist. Er gleicht einem Hohlwege, weil der Sand die Höhe der Mauern erreicht. Auf dieser Höhe gibt es keinen eigentlichen Weg, doch führte aus dem von mir bestellten Zimmer eine Tür heraus auf sie, und man konnte da, allerdings nur über ungebahntes Geröll, direkt nach den Pyramiden kommen, ohne unterwegs von den in dem Hohlwege befindlichen Passanten gesehen zu werden. Es ist nicht ohne Absicht, daß ich diesen Umstand besonders in Erwähnung bringe.

Am östlichen Fuße der Pyramiden liegt das arabische Dorf el Kafr, dessen Bewohner, von den Touristen vollständig verdorben, in rücksichts- und charakterloser Aufdringlichkeit das Menschenmöglichste leisten. Sie halten, vereinzelt aufgestellt, schon in weiter Entfernung von den Pyramiden auf der Straße Wache, um über die aus der Stadt kommenden Fremden herzufallen und, wenn sie auch nicht engagiert werden, doch wenigstens ihre falschen Münzen, geschickt nachgemachten Skarabäen und andere wertlose Imitationen an den Mann zu bringen.

Heut sah ich keinen einzigen von ihnen auf der Lauer stehen. Es mußte irgend ein Grund vorhanden sein, der sie abhielt, ihrer einträglichen Herumlungerei jetzt obzuliegen. Ich erfuhr ihn sogleich, als ich das Hotel erreichte. Die gestern auf dem Platze Ibrahim Pascha beobachteten fremden Pilger waren heut heraus nach den Pyramiden gezogen, um ihnen, die für den Wüstenbewohner noch größere Wunderwerke als für uns zivilisierte Menschen sind, einen Besuch abzustatten. Sie hatten in das Hotel eindringen wollen, waren aber abgewiesen worden, was freilich mit der allergrößten Vorsicht hatte geschehen müssen, um ihre Rachgier nicht herauszufordern. Der mich nach meinem Zimmer führende Kellner teilte mir lachend mit, daß man mit einigen wie zufällig vorübergetragenen, geräucherten Würsten und Schweineschinken diesen Zweck sehr schnell und ohne alle üblen Folgen erreicht habe. Die über diesen Anblick ganz entsetzten Mohammedaner waren schreiend davongelaufen und hatten es nun ganz gewiß aufgegeben, das für sie jetzt für verpestet geltende Haus zu betreten. Sie hatten dann zunächst el Kafr einen Besuch gemacht, um sich Nahrungsmittel zu erbetteln, und waren dann nach dem Granittempel gestiegen, um an der Sphinx vorüber nach der Cheopspyramide zu kommen und diese zu besteigen. Natürlich hatte sich Alles, was in Kafr wohnte und laufen konnte, diesen Pilgern angeschlossen, welche im Bahr bela Ma »See ohne Wasser.« zwischen Setrah und dem Dschebel Burgheh zu Hause waren.

Es verstand sich nun eigentlich ganz von selbst, daß es keinem der Bewohner oder Gäste des Hotels einfallen konnte, nach den Pyramiden zu gehen, solange sich diese fanatischen Menschen oben befanden, doch als ich mich nach den beiden Chinesen erkundigte, erfuhr ich, daß sie hinauf gegangen seien, und Mr. Waller war ihnen mit seiner Tochter später nachgefolgt.

Welch eine Unvorsichtigkeit! Freilich nur von dem Amerikaner, denn als die Chinesen aufgebrochen waren, hatten sich die Pilger noch nicht eingestellt gehabt; Waller aber war erst nach deren Ankunft weggegangen und durch keine Warnung von diesem Wagnisse abzuhalten gewesen. Es war mir ganz, als ob ich ihnen folgen müsse, doch konnte ich dadurch leicht den Anschein erwecken, als ob ich für sie ein größeres Interesse besitze, als sie mir erlauben wollten, und so unterließ ich es. Ich öffnete die erwähnte Tür meines Zimmers; nahm einen Stuhl mit hinaus und saß nun oben auf dem hoch aufgewehten Sande. Der tief in demselben eingeschnittene Weg nach den Pyramiden lag so weit von mir entfernt, daß ich seinen Grund nur an derjenigen Stelle sehen konnte, wo er einer Krümmung nach links herüber folgte.

Der eigentliche Körper der Pyramiden wurde in Stufenform aufgebaut und dann mit einer platten Bekleidung belegt, unter welcher die Stufenform verschwand. Von dieser Bekleidung ist jetzt nur noch an der Spitze der zweiten, derjenigen des Chefren, ein Rest zu sehen, während von der Cheopspyramide die Spitze ganz verschwunden ist, wodurch sich oben eine vielleicht zehn Quadratmeter große Fläche gebildet hat, zu welcher man von der nordöstlichen Kante aufsteigen kann, weil dort die vielleicht einen Meter hohen Stufen am gangbarsten sind. Der Aufstieg geschieht gewöhnlich mit Hilfe dreier Beduinen, von denen zwei stets voran sind, um zu ziehen, während der Dritte schiebend hinterher zu folgen hat.

Ist man oben angelangt, so hat man, in umgekehrter Richtung der Aussicht vom Dschebel Mokattam, nach Osten zu das Grün des kanalisierten Landes in der Nähe, die Stadt aber in ziemlich weiter Ferne liegen. Nach Nordwest, West und Süd dehnt sich die Wüste mit ihren braungelben Sandflächen, aus denen hungernd und dürstend nackte Klippen ragen. Nach Südwest steigen die andern Pyramiden auf; tief unten aber schaut die Sphinx nach Osten, doch kann sie den Aufgang der Sonne nicht mehr sehen, weil der Sand von Jahrhunderten rund um sie her so hoch »gewachsen« ist, daß es für sie einen Morgen nicht mehr gibt.

Der Name Sphinx ist für die ägyptischen Steingebilde falsch angewendet; er ist griechisch, und sie aber hatten mit der thebaischen Tochter des Typhon und der Schlange Echidna nichts zu tun. Sie hießen bei den Aegyptern »Neb«, d.i. »Herr«. Ihre aus dem Felsen herausgewachsene, für unzerstörbar gehaltene und in majestätischer Einfachheit und Größe vor den Tempeln ruhende Vereinigung der Tier- mit der Menschenform sprach wohl auch ein tiefes, schweres Rätsel aus, fügte aber, sie durch sich selbst verratend, sogleich die Lösung hinzu, daß nur die aus dem Geist geborene Kraft die Welt regiere. Materialisten also waren die alten Aegypter nicht, und gerade darum gelang es ihnen, den Stoff selbst in seiner gewaltigsten Schwere mit Hilfe der einfachsten Gesetze zu beherrschen.

Wo Sejjid Omar jetzt war und was er tat, das wußte ich nicht. Er hatte mich bei unserer Ankunft gefragt, was er nun vornehmen solle, und von mir den Bescheid erhalten, daß er die Pferde gut zu versorgen und sich erst am Abend wieder bei mir zu melden habe. Jetzt brauchte ich ihn ja nicht; heut Abend aber sollte er mich begleiten; ich wollte beim Mondschein einen längeren Spaziergang nach den Pyramiden unternehmen.

Da standen sie vor mir, so nahe und doch so fern.

Nur drei Minuten trennten mich von der mir nächsten, der großen, und doch waren es eigentlich nicht drei Minuten, sondern viertausend und neunhundert Jahre. Die Gestalten der Araber, welche ich deutlich an ihr auf- und niederklettern sah, so pygmäisch, so ameisenwinzig, sie gehörten diesen drei Minuten an. Was bleibt nach ihrem Tode von ihnen übrig?! Aber das Andenken derer, welche diese Quadern aufeinander türmten, es ist nach fast fünftausend Jahren noch nicht vergessen. Ihr Leben ist nicht spurlos an der Welt und an den Tafeln der Geschichte vorübergegangen. Und doch sind diese fünftausend Jahre im Verhältnis zu der Ewigkeit auch nichts Anderes als diese drei Minuten, und wenn die große Frage kommt, welche ein Jeder einst zu beantworten hat, wird Cheops wahrscheinlich um keinen Zoll größer sein als einer der Beduinen, welche die Perspektive mir jetzt so zwerghaft erscheinen ließ.

Indem ich zu ihnen hinaufschaute, glitt mein Auge auch über die Stelle des Weges, welche, wie schon bemerkt, die einzige war, die ich sehen konnte. Da kam Jemand sehr eilig herabgelaufen. Obgleich ich ihn nur einen Moment sehen konnte, erkannte ich doch Sejjid Omar in ihm. Er lief so schnell, daß sein langes Gewand hinter ihm her wehte. Es mußte etwas für ihn sehr Wichtiges sein, was ihn, der in allen seinen Bewegungen so gern die ihm eigene Würde zeigte, jetzt veranlaßte, es so außerordentlich eilig zu haben. Nur wenige Schritte nach links von mir ging die Sandhöhe, auf welcher ich mich befand, in das platte Dach eines zum Hotel gehörigen Nebengebäudes über. Von diesem aus konnte ich Omar aus dem tief eingeschnittenen Wege herauskommen sehen. Ich ging hin und schaute hinab. Auf dem Vorplatze saßen und standen viele Herren und Damen, welche diesen Aufenthalt den schwülen, dumpfen Zimmern vorgezogen hatten. Omar hemmte seine Schritte nicht, sondern rannte zwischen ihnen hindurch, ohne daran zu denken, daß ihm seine direkte Abstammung vom Propheten bei dieser Art von Schritten höchst wahrscheinlich nicht angesehen werden könne. Ich ging nach meinem Zimmer und hatte es kaum erreicht, so hörte ich ihn auch schon klopfen. Er wartete meine Antwort gar nicht ab, sondern trat ein, ließ die Tür ganz selbstverständlich offen stehen und sagte, indem er mit dem Atem rang:

»Sihdi, es wird über sie Gericht gehalten. Du mußt sofort kommen und ihren Fakih Advokat, Verteidiger. machen!«

»Von wem redest du?« fragte ich.

»Von den Chinesen. Sie sind gute Menschen und wohnen in demselben Hotel mit dir. Ich hoffe, daß dies genug Gründe für dich sind, ihnen beizustehen!«

»Ich bin kein Fakih. Wer klagt sie an? Was haben sie getan?«

»Sie haben den Amerikaner in Schutz genommen, dem es wahrscheinlich an das Leben gehen wird. Das geschieht ihm recht! Du hast es ja gesehen, wie er mein Gebet unterbrochen hat!«

»Weshalb soll es ihm an das Leben gehen?«

»Das erzähle ich dir unterwegs; komm nur schnell, sonst wird es vielleicht zu spät, dich der Chinesen anzunehmen!«

Er faßte mich am Arm, um mich mit sich fortzuziehen. Ich wehrte ihn ab und sagte:

»Beherrsche dich! Man kann durch zögerndes Ueberlegen weiter kommen als durch übermäßige Eile. Erzähle, wenn auch kurz, aber Alles, was geschehen ist.«

Er versuchte, seinen fliegenden Atem zu beruhigen, und folgte meiner Aufforderung:

»Als ich die Pferde in den Stall geschafft und ihnen Futter gegeben hatte, ging ich hinauf nach den Pyramiden. Ich wollte die fremden Mekkapilger sehen, vor denen ich mich nicht zu scheuen brauche, weil ich weder Christ noch Jude, sondern nicht nur Moslem, sondern sogar Sejjid Omar bin. Ihre Gewänder sind zwar während der weiten Reisen zerrissen und sehr, sehr schmutzig geworden, aber das hindert nicht, daß diese Beduinen vom Bahr bela Ma sehr fromme Männer sind, welche Mekka gesehen haben und viel von ihm erzählen können. Als ich kam, waren sie dabei, die große Pyramide zu besteigen. Da aber auf der Höhe derselben nur gegen dreißig Personen stehen können, mußte dies in Abteilungen geschehen. Es dauerte sehr lange, ehe die erste wieder herunterkam. Mit dieser ging ich nach der Sphinx hinunter, denn sie sollte auch bestiegen werden. Du weißt, daß man da am Granittempel vorüberkommt. Indem wir dies taten, hörte ich Stimmen in dem Treppengang desselben, achtete ihrer aber nicht. Hätte ich gewußt, wer es war, so wäre ich hineingegangen, um sie zu warnen.«

»Wer war es denn?« unterbrach ich ihn.

»Die beiden Chinesen, der Amerikaner und seine Tochter. Wir stiegen alle auf den Rücken des Sphinx, von wo aus einige der jungen Leute von el Kafr gegen ein Bakschisch auch noch auf den Kopf zu klettern pflegen, was so gefährlich ist, daß ich nicht versuchen möchte, es nachzumachen. Einer von ihnen führte dieses Kunststück aus, und der Schech der fremden Pilger behauptete, es ihm nachmachen zu können. Man glaubte es ihm nicht; es wurde hin und her gestritten und ihm schließlich eine Wette angeboten, auf welche er einging. Er zog seinen Mantel aus und nahm auch sein Hamaïl vom Halse, weil es während des Kletterns leicht beschädigt werden konnte. Die Schnur, an welcher es hing, war zu eng, sie über den Kopf zu bringen. Er zog zu sehr; sie zerriß, und da er sie nicht festhielt, flog das Hamaïl seitwärts auf den Boden nieder, wo sich der Fels nach unten rundet. Es glitt weiter und fiel in die Tiefe hinab.«

»Das hat nichts zu sagen. Die Hamaïls werden in Futteralen getragen, und unten gibt es lockeren Sand; das Buch wird also nicht beschädigt worden sein.«

»Das ist richtig; aber höre, was gleich weiter geschah! Der Schech kümmerte sich jetzt nicht um sein Hamaïl, welches er sich dann ja holen konnte; er dachte nur an seine Wette. Es war ausgemacht worden, daß noch einmal Jemand von el Kafr hinaufzuklettern habe, damit der Fremde sich die Stellen merken könne, wo die Finger und die Zehen einzusetzen sind. Diese Bedingung wurde auch erfüllt. Es gab also bis zum Austrag der Wette ein zweimaliges Hinauf- und wieder Herunterklettern. Das dauerte natürlich lange, weil jede Bewegung äußerst vorsichtig unternommen werden mußte, und während dieser Zeit geschah unten Etwas, was wir nicht beachteten, weil unsere ganze Aufmerksamkeit nach oben gerichtet war.«

»Ah, ich errate! Der Amerikaner und das Hamaïl!«

»Ja, so ist es, Sihdi! Die vier Personen hatten den Granittempel verlassen und waren dann auch nach der Sphinx gegangen, obgleich sie sahen, daß deren Körper von Beduinen geradezu wimmelte. Doch hatte dieser Umstand sie wenigstens abgehalten, sie auch zu besteigen; sie waren vielmehr den schmalen Pfad, welcher von ihrem westlichen Teile nach dem östlichen führt, hinabgegangen und hatten dort bei dem Vorderfuße das Hamaïl liegen sehen. Anstatt es nun gar nicht anzurühren, weil sie doch keine Muhammedaner waren, und sich auch gewiß denken konnten, daß es einem oben auf der Sphinx befindlichen Pilger gehören werde, hatten sie es sogar aus dem Futterale gezogen, geöffnet und durchblättert. Inzwischen hatte der fremde Schech, der ein sehr kühner Kletterer ist, seine Wette gewonnen, und wir stiegen von der Sphinx herunter, was, wie du weißt, an ihrem Hinterkörper geschieht. Dort trafen wir mit dem wieder nach hier gekommenen Amerikaner zusammen. Als der Schech sein Hamaïl in den Händen dieses Mannes sah, war er zunächst so erschrocken, daß er kaum sprechen konnte; bald aber verwandelte sich der Schreck in Zorn. Er riß es ihm aus der Hand und fragte, ob er im Menahouse wohne, wo man Wurst und Schinken esse. Als der Gefragte mit einem Ja antwortete, mußte die Heiligkeit des Hamaïl für vernichtet gelten. Du kannst dir nun die Wut des Schechs denken, welcher den Amerikaner am liebsten vernichtet hätte. Dieser war aber nicht etwa so klug, zu schweigen, sondern er verteidigte sich und nannte das Hamaïl ein Lügenbuch.«

»Er kann aber doch nicht arabisch sprechen!«

»Der Dolmetscher war bei ihm, den du auf dem Dschebel Mokkatam mit ihm und mir gesehen hast. Er ist vom Hotel weg zu ihm gefahren, um ihn abzuholen und mitzunehmen.«

»Und dieser Mensch war so unvorsichtig, das Wort Lügenbuch zu übersetzen, ohne ein anderes, weniger beleidigendes an seine Stelle zu nehmen?«

»O, er hat noch ganz Anderes übersetzt! Ich kann dir nicht Alles so ausführlich erzählen, wie es geschehen ist, denn ich habe schon jetzt zu viel Zeit versäumt und will dir nur noch sagen, daß der Amerikaner es in seinem Zorne gewagt hat, dem Schech das Hamaïl wieder zu entreißen und unter schlimmen Ausdrücken, welche auch übersetzt worden sind, ihm vor die Füße zu werfen.«

»Unmöglich!«

»Es ist wahr. Ich stand dabei und habe es selbst auch gesehen. Der Schech riß das Messer heraus, um ihn zu erstechen; die Tochter wollte sich dazwischen werfen; der junge Chinese riß sie zurück und hat den Stich in den Arm bekommen. Der fremde Schech wollte wieder stechen, und seine Leute griffen auch nach ihren Messern. Es wären wenigstens drei Menschenleben zu Grunde gegangen, wenn nicht der Schech el Beled Dorfschulze. von el Kafr eingeschritten wäre. Diesem ist von der Regierung die Aufsicht über das Gebiet der Pyramiden übertragen worden, und er mußte sich sagen, daß die Ermordung von Christen, die überdies noch Ausländer sind, für ihn und die Bewohner seines Dorfes von sehr schlimmen Folgen sein werde. Aber es kostete ihm sehr viel Ueberredung, bis die Fremden ihre Messer wieder einsteckten, doch verlangten sie Sühne, und zwar blutige Sühne, weil eine solche Behandlung eines Hamaïl ein größeres Verbrechen ist, als selbst ein zehnfacher Mord sein würde. Diese Sühne soll auch sofort und ohne Zeitverlust gegeben werden, und darum drangen sie auf das Zusammentreten einer Dschemma Gerichtsversammlung., welche den Fall ohne Zögern zu besprechen und das Urteil zu fällen habe.«

»Sind die Beisitzer dieser Dschemma bereits gewählt?«

»Nein. Es werden lauter Fremde sein, und von den Hiesigen darf ihr nur der Schech el Beled beitreten. Dieser hat einen seiner Leute heimlich nach Kairo um Hilfe geschickt. Bis diese kommt, will er versuchen, die Verhandlung hinauszuziehen; aber ich glaube nicht, daß ihm dies gelingen wird.«

»Ich auch nicht. Die Fremden scheinen den Fall nach dem Gesetz der Wüste behandeln und von der hiesigen Polizei nichts wissen zu wollen. Ja, es kann zwischen dieser und ihnen sehr leicht zum Kampfe und Blutvergießen kommen!«

»Daran dachte ich auch, und darum bin ich zu dir geeilt, um dich zu holen. Du wirst diese Sache auf gutem Wege zu enden wissen!«

»Ich? Wie kommst du zu dieser Idee?«

»Ich habe dir ja schon gesagt, daß mir der alte Ibrahim Effendi mehr von dir erzählt hat, als du denkst. Ich bitte dich um Hilfe. Wirst du sie den Chinesen verweigern?«

»Du sprichst nur von ihnen, obgleich ihnen direkt keine Gefahr droht. Für den Amerikaner bittest du nicht?«

»Nein! Er mag bekommen was er verdient hat! Ich habe ihn auf dem Mokattam verschont; hier aber darf er keine Schonung finden!«

Da legte ich ihm die Hand auf die Schulter, sah ihm ernst in die Augen und sagte langsam, indem ich jedes Wort betonte:

»Du bist Sejjid Omar, aber du bist kein guter Mensch! Und wer kein guter Mensch ist, der kann auch kein guter Anhänger des Propheten sein! Ich wollte dich jetzt mitnehmen, weil du mir helfen solltest, dem Amerikaner beizustehen. Du kannst aber hier bleiben!«

Ich tat, als ob ich gehen wolle; da rief er aus:

»Sihdi, nimm mich mit! Ich will dir beweisen, daß die Güte eines Moslem größer sein kann als sein Wunsch nach Rache. Brauchen wir Waffen?«

»Nein, sondern nur Klugheit und Entschlossenheit. Unsere Pferde sind nicht mehr gesattelt?«

»Nein. Reiten wir denn?«

»Ja, doch haben wir keine Zeit, vorher zu satteln. Ich kenne die Gesetze der Wüste sehr genau. Diese fremden Beduinen werden sich von dem Schech el Beled nichts vormachen lassen. Sie sind auf den Zusammentritt der Dschemma bloß deshalb eingegangen, weil sie derartige Szenen lieben; das Urteil aber wird auf den Tod des Amerikaners lauten, und sie werden es ausführen, ohne sich um die Meinung irgend eines anderen Menschen, sei es auch der Khedive von Aegypten, zu bekümmern. Wo wird diese Versammlung abgehalten?«

»Ein wenig oberhalb der Sphinx.«

»So wird der Missionar diese Stelle nicht lebend verlassen, wenn wir ihn nicht herausholen. Da er zu Fuß nicht entkommen kann, sondern von ihnen eingeholt würde, reiten wir. Merke dir diese Tür, welche hinaus in das Freie führt! Sie ist von Wichtigkeit. Ich lasse sie um eine Lücke offen, und der Schlüssel bleibt von innen stecken.«

»Warum, Sihdi?«

»Das erfährst du unterwegs. Jetzt komm!«

Ich muß bemerken, daß wir sehr schnell sprachen und daß diese Unterredung also nicht halb so lange währte, als wenn man sie vom Papiere liest. Ein Hamaïl ist ein in der Stadt Mekka geschriebener und unter gewissen Feierlichkeiten erworbener Kuran, der nur an solche Pilger verkauft wird, welche nachweislich allen Verpflichtungen getreulich nachgekommen sind. Er gilt als das köstlichste Andenken an die Pilgerschaft, wird für heilig gehalten und darf nie mit irgend Etwas in Berührung kommen, was dieser Heiligkeit nicht angemessen ist. Mr. Waller hatte nach den Begriffen derer, in deren Händen er sich befand, unbedingt ein todeswürdiges Verbrechen begangen. Wenn man hierzu die unter diesen Leuten gewöhnliche Christenverachtung und die durch die Pilgerfahrt bis zur Brutalität gesteigerte religiöse Aufregung rechnet, so kann man sich die Gefahr wohl denken, in welcher der Genannte gegenwärtig schwebte. Eine Dschemma über einen Christen, nebst dem an ihm vollstreckten Todesurteil, ein besserer Schluß konnte nach Ansicht dieser Fanatiker ihrer Reise nach Mekka ja gar nicht gegeben werden!

Wir eilten nach dem Stall hinüber, zogen die Pferde heraus, stiegen auf und ritten den Hohlweg nach den Pyramiden hinauf. Ich hielt es nicht für geraten, im Hotel zu sagen, warum wir diesen Ritt unternahmen. Je weniger Aufsehen erregt wurde, desto größer war für mich die Hoffnung des Gelingens.

Als wir oben bei der Cheops-Pyramide ankamen, war dort kein Mensch zu sehen, denn Jedermann war nach der Sphinx geeilt, um bei der Dschemma anwesend zu sein. Das war mir lieb, weil ich nun, ohne gesehen zu werden und Verdacht zu erregen, Omar unterweisen konnte, was er zu tun hatte.

»Hier trennen wir uns,« sagte ich. »Wenn der Amerikaner reiten kann, ist er zu retten, sonst wahrscheinlich nicht. Ich reite hier links an den kleinen Pyramiden nach der Sphinx hinunter, dränge mich an die Dschemma heran und suche, mit dem Pferde möglichst nahe an den Amerikaner heranzukommen. Dann steige ich ab und spreche mit den Beduinen.«

»Aber du wagst dein Leben!« fiel Omar ein.

»Nein. Da ich heut nicht den Hut, sondern den Tarbusch trage, wird man mich für einen Effendi halten, und ich werde nichts sagen, wodurch ich mich als Christ bezeichne. Während ich die Aufmerksamkeit der Dschemma ganz auf mich ziehe, steigt er schnell auf das Pferd und reitet fort.«

»Sie werden ihm nachreiten!«

»Ich meine, daß sich keine anderen Tiere dort befinden werden, als die kleinen Esel und die langsamen Kamele der Leute von el Kafr?«

»Das ist richtig!«

»Man kann ihn also nicht einholen, aber man wird auf den klugen Gedanken kommen, ihn nicht nach dem Hotel zurückzulassen. Man wird also diesen Hohlweg hier besetzen und ihm die Annäherung auch von den anderen Seiten unmöglich machen. Aber an die Tür zu meinem Zimmer wird Niemand denken.«

»Maschallah! Ich beginne, zu begreifen, Sihdi. Ich soll ihn nach dieser Tür bringen?«

»Ja.«

»Aber wo und wie treffe ich ihn?«

»Du reitest hier an der großen Pyramide entlang, genau nach West, halb über das hinter ihr liegende Totenfeld, und wendest dich dann links nach der Pyramide des Chefren hinüber, an deren Südwestecke du wartest, bis der Amerikaner kommt.«

»Wird er wissen, daß ich dort bin?«

»Ja; ich sage es ihm. Wenn er zu dir gestoßen ist, reitet ihr zurück, quer über das Totenfeld, aber ja nicht her zur großen Pyramide, sondern stets nach Nord, von der Höhe nach der Niederung herab, bis ihr in gleicher Linie mit dem Hotel seid. Es gibt dort keinen Weg; der Sand ist tief; man wird den Flüchtling dort gewißlich nicht vermuten. Dennoch sage ich, daß ihr Begegnungen möglichst zu vermeiden habt, bis das Hotel zu sehen ist. Dann reitet ihr, ganz gleich, ob ihr gesehen werdet oder nicht, schnell auf dasselbe zu, biegt aber ja nach keinem Wege ein, sondern eilt oben auf der Düne bis hin an meine Zimmertür, welche ich offen gelassen habe. Seid ihr drin und habt den Schlüssel umgedreht, so ist nichts mehr zu befürchten. Die Pferde müssen freilich draußen stehen bleiben. Ich hoffe übrigens, daß ich dort bin, wenn ihr kommt. Beeilt euch aber, denn es wird bald dunkel werden!«

»Und was geschieht mit der Tochter des Amerikaners und mit den Chinesen, Sihdi?«

»Das laß meine Sorge sein! Ich rechne auf die ganz gewiß entstehende Aufregung und Verwirrung, welche ich möglichst gut benutzen werde.«

»Aber du selbst, Sihdi! Du begiebst dich wirklich in Gefahr!«

»Das hat nur den Anschein so. Ich werde die Fremden durch eine so große Dreistigkeit verblüffen, daß sie gar nicht daran denken, Etwas gegen mich zu tun.«

»Was wirst du zu ihnen sagen?«

»Das weiß ich noch nicht. Ich habe mich nach den Umständen zu richten, welche ich vorfinde. Wie aber steht es mit der Verwundung des Chinesen?«

»Sie ist nur leicht. Ich sah wohl Blut, doch aber nicht viel. Sein Vater verband ihn eben, als ich ging, mit seinem Taschentuche.«

»So habe ich von ihm keine Störung zu befürchten. Jetzt wird es Zeit, daß wir uns trennen. Mach deine Sache gut!«

»Von dem Augenblicke an, wo er bei mir ist, wird ihm nichts geschehen, darauf kannst du dich verlassen, Sihdi. Du hast von mir verlangt, ein guter Mensch zu sein, und nun macht es mir Freude, ihm seine Beleidigung durch Liebe zu vergelten!«

Nach diesen Worten ritt er in der ihm von mir angegebenen Richtung davon; ich aber nahm meinen Weg zwischen der großen und den ihr gegenüberliegenden kleinen Pyramiden hindurch, welche für Angehörige des Cheops bestimmt gewesen sein sollen. Hinter der letzten von ihnen teilt sich der Weg. Links führt er nach der Sphinx hinab, fast geradeaus nach Campbells Grab hinüber. Ich zog es vor, nach diesem Grabe zu reiten, denn ich hatte von dort aus einen besseren Ueberblick, und ich konnte mir den Anschein geben, als ob ich von dem Vorgefallenen gar nichts wisse und nicht etwa vom Hotel her, sondern von der zweiten oder gar dritten Pyramide komme. Ich wich also nach Westen zu von den durch den Sand führenden Stapfen ab und hielt mich so lange in den Einsenkungen des Terrains, bis ich die unterhalb der Chefren-Pyramide liegenden Tempelreste vor mir hatte. Hierauf wendete ich mich nach links, trieb das Pferd eine steile Schuttböschung hinauf und sah den Ort, den ich erreichen wollte, in nicht allzu großer Entfernung vor mir liegen.

Es genügte ein Blick, die Szene zu erfassen. Die für die Dschemma Ausgewählten saßen an der Erde, einige Schritte davon Mary und die Chinesen. Der Amerikaner stand, und neben ihm der Dolmetscher, welcher mit den Händen gestikulierte, also zu sprechen schien. Hören konnte ich es nicht. Die Stelle, an welcher ich mich befand, lag höher als diejenige, an welcher die Beduinen ihre Beratung hielten. Die Zuhörer hatten die Dschemma nicht ganz eingeschlossen, sondern sie bildeten, was mir außerordentlich lieb war, des abfallenden Terrains wegen nur einen Halbkreis, welcher nach mir zu offen stand; das machte es mir möglich, sofort ganz an die Beratenden heranzutreten.

Man wurde auf mich aufmerksam. Als ich näher kam, hörte ich den verwunderten Ruf: »Ein Reiter ohne Sattel!« Diejenigen, welche von mir abgewendet saßen, drehten sich nach mir um. Man zeigte Neugierde, doch fiel es Keinem ein, seinen Platz zu verlassen.

Die Angelegenheit stand genau so, wie ich vermutet hatte, denn den Schech el Beled von el Kafr ausgenommen, hatten alle Beisitzer der Dschemma ihre Messer vor sich bis an die Hefte in die Erde gesteckt, ein für den Kenner sicheres Zeichen, daß es sich um das Leben des Angeschuldigten handelte. Ich tat, als ob er mir sehr gleichgültig sei, ritt aber fast bis ganz zu ihm heran, sprang ab, legte die Hände, doch nur für einen kurzen Augenblick, um nicht als gewöhnlicher Mann zu gelten, auf die Brust und grüßte die am Boden sitzenden Personen.

Es war leicht zu erraten, welcher von ihnen der fremde Schech war, denn er hatte das Hamaïl, um welches es sich handelte, vor sich liegen. Sein Anzug befand sich, wie auch diejenigen aller seiner Leute, in einem Zustande, den Omar sehr richtig als »schmutzig und zerrissen« bezeichnet hatte, doch war seinem ernsten, sonnverbrannten Gesichte die Gewohnheit des Befehlens deutlich aufgeprägt. Er nickte stolz mit dem Kopfe und ließ nur ein kurzes »Sallam!« als Antwort hören. Wenn ich mir diesen Mangel an Höflichkeit gefallen ließ, so hatte ich von vornherein verspielt. Er mußte mich für einen Mann halten, der sich das nicht bieten zu lassen brauchte, darum sagte ich in strengem Tone:

»Du bleibst sitzen, indem du mit mir sprichst, und siehst doch, daß ich stehe? Ich vermute, daß ihr in Mekka gewesen seid, über welchem das Andenken des Propheten glänzt. Hast du etwa dort deine Höflichkeit im Sand von Chandamah vergraben?«

»Wo liegt Chandamah?« fragte er schnell und erstaunt.

»Geh zwischen dem Suq el Lel und dem Schib el Maulid, wo das Geburtshaus des Propheten steht, vor die Stadt hinaus, so siehst du es zur linken Seite des Dschebel Qubehs liegen.«

Da stand er auf, und alle Andern mit ihm, kreuzte die Hände auf der Brust, verbeugte sich tief und sagte:

»Verzeih! Ich wußte nicht, daß du ein Kenner der Heiligtümer bist. Du wirst mir erlauben, deinen Namen zu erfahren!«

»Allerdings, doch nicht eher, als bis ich dich nach dem deinigen gefragt habe. Vorher aber will ich das Wichtigere wissen. Sind wir bei den Pyramiden von Gizeh, oder befinden wir uns im Wadi Fatimeh, wo das Gesetz der Wüste gilt? Ich sehe eine Dschemma versammelt und Messer in der Erde stecken. Wer hat hier zu richten, und wer soll gerichtet werden?«

Ich sah ihm so scharf und fest ins Auge, daß mir sein Blick nicht ausweichen konnte. Die Erwähnung von Oertlichkeiten, welche nur dem Kenner von Mekka geläufig sind, tat das Ihrige. Er antwortete in nicht ganz sicherem Tone:

»Es ist eine Beleidigung geschehen, welche nur mit Blut gesühnt werden kann. Ich will es dir erzählen.«

Nichts konnte mir willkommener sein als diese seine Bereitwilligkeit, denn sie sagte mir, daß ich ihm imponiert hatte. Er berichtete mir, natürlich in seiner mohammedanisch gefärbten Weise, was geschehen war. Als er geendet hatte, sagte ich:

»Der Kuran ist dir jedenfalls bekannt. Nach ihm und der Sunna muß Recht gesprochen werden. Aber weißt du auch, was Khalil Ibn Ishak, der berühmte Erklärer derselben, über die Pflichten der Dschemma sagt?«

»Nein; das weiß ich nicht,« sah er sich gezwungen, einzugestehen.

»Nicht? Aber ihr habt bedacht, daß dieser Fremde die Heiligkeit des Hamaïl nicht kennt und dich vielleicht gar nicht hat beleidigen wollen? Habt ihr ihm erlaubt, sich zu verteidigen?«

»Er hat es durch den Mund seines Dragoman Dolmetscher. getan.«

»Ist dieser Dragoman gerecht und vorsichtig gewesen? Ich werde das sogleich erfahren.«

Der Dolmetscher stand höchst verlegen da. Er hörte mich arabisch sprechen und wußte nun also, daß ich Alles verstanden hatte, was auf dem Dschebel Mokattan von ihm über mich geäußert worden war. Ob er mich wohl auch jetzt noch für einen Franzosen hielt?

»Imschi, ia Budala – Pack dich, Dummkopf!« fuhr ich ihn an, denn ich wollte ihn nicht hören lassen, was ich dem Amerikaner zu sagen hatte.

Er zog sich erschrocken bis unter die Zuschauer zurück, und nun wendete ich mich an Waller, und zwar in deutscher Sprache:

»Sagen Sie schnell: Können Sie reiten?«

»Ja,« antwortete er, indem er mich verwundert ansah.

»Galopp und ohne Sattel, so daß Sie ja nicht etwa herabfallen?«

»Ich sitze fest. Sie reden deutsch? Good lack! Warum fragen Sie?«

»Es handelt sich um Ihr Leben. Die Situation ist ernster, als Sie meinen, und nur die Flucht kann Sie retten. Wenn Sie das vielleicht bezweifeln, so fehlt mir die Zeit, es Ihnen zu erklären.«

»Ich glaube es,« versicherte er. »Das sind ja ganz desparate Menschen hier!«

»So passen Sie auf, was ich Ihnen sage! Ich werde jetzt zu diesen Leuten weitersprechen. Sobald Sie sehen, daß ihre Aufmerksamkeit ganz auf mich gerichtet ist, springen Sie auf mein Pferd und reiten so schnell, wie Sie können, fort – – –«

»Man wird mich verfolgen,« fiel er ein.

»Allerdings; aber die paar Esel und Kamele, welche hier stehen, haben Sie nicht zu fürchten. Da oben steht die zweite Pyramide. An ihrer linken, hinteren Ecke treffen Sie auf meinen Diener. Er erwartet Sie dort und wird Sie so führen, daß, wenn Sie ihn nur erst erreicht haben, die Gefahr für Sie vorüber ist. Werden Sie tun, was ich Ihnen vorgeschlagen habe?«

»Natürlich! Aber ich habe nicht nur an mich, sondern auch an meine Tochter zu denken. Was soll –«

»Ihr wird nichts geschehen,« unterbrach ich ihn; »ich gebe Ihnen mein Wort. Also, tun Sie, was ich gesagt habe, aber plötzlich, schnell, und ohne daß Sie es etwa durch Blicke oder Bewegungen vorher verraten!«

Ich hatte während dieser kurzen Unterweisung den fremden Schech im Auge behalten und bemerkte zu meiner Beruhigung an ihm kein Zeichen des Mißtrauens. Als ich mich ihm jetzt wieder zuwendete, sagte er:

»Es ist ganz überflüssig, daß du diesen Christen fragst, denn er kann dir nichts Anderes erzählen, als was ich dir schon gesagt habe. Der Schech el Beled will nicht, daß er getötet werde, aber wir sind freie Beduinen, die sich um die Gesetze des Beherrschers von Aegypten und um die Ansichten fremder Konsuln nicht zu kümmern brauchen, und werden also nur nach den Vorschriften handeln, welche jeder Bekenner des Islam zu befolgen hat. Du hast unsere Beratung unterbrochen; wir setzen sie jetzt fort und werden schnell ein Ende machen. Habe die Güte, dich zu setzen, damit auch wir uns wieder setzen können!«

Diese Aufforderung hatte ich nicht erwartet. Sie bewies mir, daß er mich nicht nur unbedingt für einen Mohammedaner, sondern auch für eine Person hielt, nach deren Stand und Namen er nicht wieder fragen könne, ohne gegen die ihr schuldige Achtung zu verstoßen.

Der Araber setzt sich in Gegenwart eines Fremden nicht so kurz und einfach nieder, wie wir es tun, sondern es geschieht mit einer Umständlichkeit, welche um so größer ist und um so mehr Zeit in Anspruch nimmt, je mehr er diesen Fremden ehren und sich selbst als wohlerzogenen Mann betrachtet sehen will. Da vorhin alle seine an der Dschemma beteiligten Stammesgenossen mit ihm aufgestanden waren und nun auch wieder mit ihm Platz zu nehmen hatten, so gab es eine Menge von Verbeugungen, welche ich zu wiederholen hatte, worauf abermals Verneigungen folgten, welche jeder gegen seine Nachbarn richtete und mit einigen höflichen Worten begleitete. Das lenkte die Augen von dem Amerikaner in der Weise ab, daß er schon jetzt den richtigen Augenblick für gekommen hielt, den ihm gegebenen Rat zu befolgen.

Ich kehrte ihm den Rücken zu und hütete mich, mich nach ihm umzudrehen, als mir ein plötzliches Stampfen der Pferdehufe sagte, was geschah; aber der Schech sprang wieder auf und mit ihm Alle, welche sich vorher unter so viel Umständen in die Stellung niedergelassen hatten, welche der Orientale »das Ruhen der Glieder« nennt. Waller war auf das Pferd gesprungen, welches sich nur einige Augenblicke sträubte, seiner Führung zu gehorchen, und dann mit ihm davonschoß, nach aufwärts, der zweiten Pyramide zu. Nun stand ich natürlich auch rasch auf und sah zu meiner Genugtuung, daß er allerdings kein schlechter Reiter war.

Zunächst gab es eine allgemeine Anstrengung, so laut zu schreien, wie es Jedem möglich war; dann folgte der Gedanke, dem Fliehenden nachzueilen. Man riß sich um die vorhandenen Esel und Kamele; die ersteren ließen sich sofort lenken; die letzteren aber wurden durch den vielstimmigen Lärm störrisch gemacht; sie waren nicht von der Stelle zu bringen. Wer einen Esel erwischt hatte, trabte schleunigst fort; den Kamelen versuchte man, durch Schläge Gehorsam beizubringen. Das gab eine Szene, welche nicht weniger lebhaft war, als ich erwartet hatte. Der Schech war am schnellsten gewesen und als Erster dem Amerikaner auf einem Esel nachgeritten; er zeigte sich auch als der Umsichtigste von allen, denn er kehrte schon nach kurzer Zeit wieder um, kam zurück und rief seinen Leuten zu:

»Seid still, und gebt euch keine Mühe! Das sind keine Kamele, wie man sie braucht, um ein Pferd einzuholen. Dieser Hund ist uns entschlüpft, aber nur einstweilen! Sein Ziel ist das Hotel; aber wir lassen es ihn nicht erreichen. Es war eine Torheit von ihm, nicht direkt dorthin zu reiten. Der Bogen, den er macht, ist so groß, daß wir ihm zuvorkommen werden. Vorwärts Alle! Wir laufen!«

Er schwang sich von seinem Esel, ließ ihn stehen und rannte fort, seine Leute alle hinter ihm her. Die meisten der Fellachen von el Kafr folgten; die Besitzer der zurückgebliebenen Tiere wollten diese besteigen und auch fort; ich hinderte sie daran, weil ich nicht wünschte, daß die beiden Chinesen und Mary laufen sollten, und sie waren gegen die gewöhnliche Bezahlung und ein Extrabakschisch damit einverstanden.

Ich hatte den drei Genannten bis jetzt natürlich keine besondere Aufmerksamkeit schenken können; nun war es mir möglich, mich auch ihrer anzunehmen. Da sie nicht arabisch verstanden und sie, als ich mit Waller redete, nicht so nahe gewesen waren, um meine Worte deutlich hören zu können, so befanden sie sich über den Zusammenhang zwischen meinem Erscheinen und seiner Flucht im Unklaren. Mary war leichenblaß. Sie hatte unbeschreibliche Angst um ihren Vater ausgestanden und war auch jetzt noch nicht befreit von ihr. Ich versuchte, sie zu beruhigen:

»Haben Sie keine Sorge! Wir reiten jetzt nach dem Hotel. Ihr Vater wird, wenn wir dort ankommen, entweder schon da sein oder sehr bald eintreffen.«

»Wissen Sie denn, wohin er ist?« fragte sie.

»Ja. Ich habe ihm das Pferd gebracht, damit er fliehen könne, und Sejjid Omar hat an der zweiten Pyramide auf ihn gewartet, um ihn sicher nach dem Menahouse zu bringen.«

»Sejjid Omar, der Eseltreiber, den er so schwer beleidigt hat?«

Sie sah mich an, als ob sie sich dies gar nicht denken könne. Dann fügte sie, indem ihre Blässe einer tiefen Röte wich, hinzu: »Und Sie, Sie sprechen deutsch! Sie haben also gehört und verstanden, was – – was – –«

»Ich habe,« unterbrach ich sie, »nichts verstanden und nichts gehört als nur das Eine, daß Mr. Waller in Gefahr sei und aus derselben herausgeholt werden müsse. Er befindet sich jetzt vollständig in Sicherheit, während aber wir daran zu denken haben, daß wir nicht hier bleiben dürfen, wenn der Zorn der Mekkapilger sich nicht nun auch gegen uns richten soll. Bitte, steigen Sie auf! Wir müssen uns beeilen, heim zu kommen; dann werden Sie Alles erfahren, was Sie jetzt noch nicht wissen.«

Sie folgte dieser Aufforderung. Die Chinesen hatten schon zwei Kamele in Beschlag genommen. Sie sprachen nicht, doch sah ich ihnen an, daß ich für sie nicht mehr bloß der fremde, gleichgültige Tischnachbar war.

Wir schlugen den geraden Weg nach den kleinen Pyramiden ein. Als wir uns ihnen näherten, kam der Schech el Beled von da, wo links die Gräber der fünften Dynastie liegen, herbeigeritten. Er hatte sich den Verfolgern beigesellt gehabt, um nötigenfalls Unheil zu verhüten, und erkundigte sich bei den uns begleitenden Treibern, wo der fremde Schech sei. Sie unterrichteten ihn über die Absicht dieses Mannes, die ihn wieder mit Besorgnis zu erfüllen schien. Er kam an meine Seite, sah mir aus halb zugekniffenen Augen in das Gesicht und fragte, indem er leise lächelte:

»Du bist ein Christ?«

»Ja,« antwortete ich ruhig. Der Wohlstand seines Dorfes hing von den Besuchern der Pyramiden ab, und von Fanatismus konnte bei ihm keine Rede sein. Ich brauchte also nicht heimlich gegen ihn zu tun.

»Und du bist schon öfters hier gewesen?« erkundigte er sich weiter.

»Ja.«

»Ich kannte dein Gesicht, hielt dich aber doch für einen Moslem, für einen vornehmen Effendi. Nun aber habe ich es mir überlegt. Du bist mit Absicht zu Pferde gekommen? Du hast gewollt, daß der Angeklagte auf ihm fliehen soll?«

»Ich leugne es nicht.«

Da reichte er mir seine Hand und sprach:

»So habe ich dir zu danken! Diese Flucht hat mich von einer schweren Sorge befreit. Man hätte den Amerikaner gegen meinen Willen getötet, von der Behörde in Kairo aber wäre die ganze Verantwortung auf mich geworfen worden. Du scheinst ein kluger Mann zu sein, und so darf ich vielleicht deine Einsicht bitten, mir einen Wunsch zu erfüllen?«

»Sprich!«

»Verschweig in der Stadt, was hier geschehen ist und was vielleicht noch geschehen wird! Auch die Leute des Hotels werden nicht davon sprechen, weil das Gerücht, daß die Besucher der Pyramiden ihres Lebens nicht sicher seien, die Zahl der Gäste sehr vermindern würde. Dieser zornige Schech aus dem Bahr bela Ma wird sich zwar nicht ganz bis zum Menahouse wagen, aber seine Leute doch von Weitem so aufstellen, daß der Amerikaner ihm in die Hände fallen muß. Das macht mir schwere Sorge. Konntest du ihm denn nicht sagen, daß er direkt nach dem Hotel fliehen solle?«

»Nein. Als ich mit ihm sprach, hatte ich schon eine andere, bessere Vorbereitung getroffen, welche der Angelegenheit ein ruhiges, unbemerktes Ende geben wird. Ich wollte verhüten, daß dieser Vorfall in den Mund der Leute gebracht werde. Denke dir aber im Gegenteile, welches Aufsehen es erregt hätte, wenn der Flüchtling von seinen Verfolgern gerad nach dem Hotel gejagt worden wäre!«

»Du hast Recht! Schau! Da stehen schon Zwei, welche aufzupassen haben!«

Wir waren an der Cheops-Pyramide vorbeigekommen und lenkten in den nach dem Menahouse führenden Hohlweg ein. Da waren zwei von den Pilgern postiert. Ihr Schech hatte also wirklich seine Absicht ausgeführt und das Hotel, wenn auch nur aus der Ferne, vollständig eingeschlossen. Die beiden Männer sahen uns finster an, sagten aber nichts, als wir an ihnen vorüberkamen. Wir erreichten unbelästigt das Haus, stiegen ab, und ich zahlte den Treibern, was ich ihnen versprochen hatte. Als ich das getan hatte, trat der ältere Chinese zu mir, verbeugte sich sehr höflich und sagte, zu meinem Erstaunen deutsch:

»Mein Herr, ich ahne, daß wir Ihnen Etwas zu verdanken haben, was uns noch nicht ganz bekannt geworden ist. Wir wünschen natürlich, es zu erfahren, und bitten um die Erlaubnis, Ihnen unsern Besuch machen zu dürfen. Kann das geschehen, ohne daß wir unsere heimatlichen Namen zu nennen haben? Ich möchte nicht eine Unwahrheit sagen und wünsche doch nicht, die Namen aussprechen zu müssen. Ich werde hier Fu und mein Sohn wird Tsi genannt.«

Das war höflich und ehrlich zugleich. Es widerstrebte ihm, einen Mann zu täuschen, dem er Dank zu schulden glaubte. Eine echt und wahrhaft vornehme Gesinnung, die mich nach meinen bisherigen Beobachtungen freilich nicht überraschen konnte! Ich sagte ihm, daß er und sein Sohn mir nach dem Abendessen willkommen seien, da grad die Umstände, von denen er gesprochen habe, mich verhinderten, sie eher zu empfangen. Dann trennten sie sich von mir, nachdem ich auf mein Befragen die Versicherung erhalten hatte, daß die Verwundung des Sohnes eine ganz leichte sei und zu keiner Besorgnis Veranlassung gebe.

Die Tochter des Missionars bat ich, mich nach meinem Zimmer zu begleiten, obgleich diese Aufforderung unter anderen Umständen fast so viel wie eine Beleidigung für eine Dame sei; ich wollte ihr aber die Freude machen, die Erste zu sein, von der ihr Vater bei seiner glücklichen Ankunft empfangen werde. Sie zögerte nicht, mir diesen Wunsch zu erfüllen.

Als wir hinaufkamen, stand die Tür genau so weit offen, wie ich sie offen gelassen hatte; es war also noch Niemand von draußen in das Zimmer getreten. Der Stuhl, auf welchem ich gesessen hatte, stand noch im Freien; ich nahm einen zweiten mit hinaus, und wir setzten uns nieder. Die Sonne nahte dem Untergange; es war nur noch kurze Zeit bis zum Eintritt der Dunkelheit, und ich nahm an, daß Omar sein Möglichstes tun werde, mit seinem Begleiter noch vor derselben das Hotel zu erreichen. Es handelte sich dabei auch um die Gefährlichkeit der Bodenverhältnisse in der Nähe der Pyramiden, wo es so viele eingestürzte oder nur schlecht wieder zugeschüttete Gräber und unterirdische Gänge gibt, daß nach Sonnenuntergang ein Ritt für den, der solche Stellen nicht ganz genau kennt, tunlichst zu vermeiden ist.

Wir saßen fast ganz still neben einander. Miß Mary war verlegen, und ich befand mich nicht in der Stimmung, die Zeit mit einem Gespräch über irgend einen gleichgültigen Gegenstand auszufüllen. Ich sagte ihr kurz, daß ich von Sejjid Omar die Bedrängnis ihres Vaters erfahren und was ich ihm hierauf für eine Weisung gegeben hatte. Sie tat, als ob sie durch diese Mitteilungen beruhigt worden sei, war es aber wahrscheinlich nicht, wenigstens nicht ganz, wie mir ja gerad durch ihre Wortkargheit bewiesen wurde.

Wir mochten wohl über eine Viertelstunde, nur zuweilen ein kurzes Wort sprechend, nebeneinander gesessen haben, als wir aus der Richtung, aus welcher die beiden Reiter zu erwarten waren, einen Fußgänger kommen sahen. Er war genau wie Omar gekleidet, war aber Omar nicht, welcher einen gravitätischeren Gang und eine geradere Haltung als dieser Ankömmling hatte. Was hatte er hier oben auf dieser unwegsamen Düne zu suchen, welche zum Hotel gehörte und von den Fellachen nicht betreten werden durfte? Es gab hier gar nichts Anderes; sein Ziel konnte nur die Außentüre meines Zimmers sein!

Die Augen der Kindesliebe waren schärfer als die meinen. Mary sprang auf.

»Mein Vater, ja, mein Vater ists!«

Mit diesem Ausrufe eilte sie von mir fort und ihm entgegen. Er blieb stehen, und als sie ihn erreichte, sah ich, daß er sie mit einer Umarmung empfing und sie küßte. Ich hätte mich so gern entfernt, mußte aber bleiben, weil sie gezwungen waren, durch meine Wohnung zu gehen. Auch mußte ich doch erfahren, wo Omar mit den Pferden steckte, für welche ich um so mehr verantwortlich war, als man sie mir nicht gegen Bezahlung, sondern aus Gefälligkeit geliehen hatte.

Ich sah, daß die Tochter mir den Vater schnell zuführen wollte; aber er hatte zu fragen; sie mußte antworten, und so dauerte es einige Zeit, bis sie zu mir kamen, sie leicht und schnell, mit frohem Lächeln im Gesicht, er langsamer, zögernd und in sich wohl ungewiß darüber, wie er sich gegen mich verhalten solle. Da aber packte ihn seine eigentliche bessere Natur: Er tat einige rasche Schritte auf mich zu, streckte mir beide Hände entgegen und sagte in einem Tone, den ich nicht anders als aufrichtig herzlich nennen kann:

»Ich bitte um Verzeihung! Von Dank will ich nicht sprechen; den brauchen Sie ja nicht. Aber die andere Schuld, in der ich Ihnen gegenüber stehe, die müssen Sie mir abnehmen, wenn Sie mit mir nicht auf halbem Wege stehen bleiben wollen!«

Ich erwiderte den Druck seiner Hand und antwortete, sehr froh über diese liebe, gute Aufwallung seines Innern:

»Sprechen wir jetzt nur von der Gegenwart, zunächst von diesem Tarbusch und von diesem Mantel! Ich vermute, daß beide meinem Sejjid Omar gehören?«

»Ja, sie sind von ihm. Ich habe natürlich kein Wort von ihm verstehen können, aber was ist dieser Eseltreiber doch für ein braver, prachtvoller Kerl!«

»Bitte, kommen Sie mit in das Zimmer, damit man Sie nicht von unten aus in diesem Anzuge stehen sieht!«

Sie folgten beide dieser Aufforderung, und dann erzählte der Amerikaner von seinem Ritte:

»Ich lasse alles Vorhergehende weg; wir sprechen später darüber; aber es ist mir klar geworden, daß dieses Abenteuer ohne Sie ein schlimmes Ende für mich genommen hätte. Dieser aufgeregte Muhammedaner stach ja sofort mit dem Messer zu! Und daß seine Leute die Messer vor sich in die Erde steckten, das hatte Blut zu bedeuten. Ich erinnere mich, darüber gelesen zu haben. Da kamen so plötzlich Sie und fragten mich, ob ich reiten könne. Glücklicherweise habe ich es gelernt. Ich sitze ziemlich fest, auch ohne Sattel. Als ich die zweite Pyramide erreichte, sah ich Sejjid Omar dort halten. Er sagte Etwas, was ich nicht verstand, und deutete mir durch Gesten an, daß ich ihm folgen solle. Es ging nach West; links lag die dritte der großen Pyramiden. Dann wendete er sich mehr nach Norden. Wir kamen an alten, zerstörten Felsengräbern vorüber. Es gab keinen Weg; das Terrain war ungemein schlecht zum Reiten. Er suchte die besten Stellen aus, aber es ging trotzdem nur langsam vorwärts. Gut, daß wir keine Verfolger hinter uns sahen! Dann folgte tiefer, tiefer Sand, in dem wir abwärts ritten. Ich bemerkte, daß Omar einen weiten Bogen nach dem Hotel beabsichtigte. Wir sahen es einige Male liegen, aber immer wieder kehrte er um; ich wußte nicht warum. Als ich ihn fragte, verstand er zwar nicht meine Worte, dafür aber meine Gesten, und als er mir antwortete, brachte ich ihm ganz dasselbe Unverständnis für das, was er sagte, und aber auch dieselbe Einsicht für die sprechenden Bewegungen seiner Arme und Finger entgegen. Er sagte mir durch diese Zeichen, daß das Hotel ringsum eingeschlossen sei, weil ich von den nach meinem Blute dürstenden Pilgern abgefangen werden solle.«

»Sie haben ihn richtig verstanden,« bemerkte ich, als er eine Pause machte. »Diese Leute stehen überall, woher Sie kommen könnten, und werden wohl die ganze Nacht hindurch stehen bleiben, wenn sie nicht durch einen Zufall erfahren, daß Sie entschlüpft sind.«

»Was dieses Entschlüpfen betrifft, so war es gar nicht leicht,« fuhr er fort. »Ich weiß nicht, was für eine Weisung Sie Omar gegeben hatten, aber er schien mich nicht nur überhaupt sondern auch ganz unbemerkt durch die Reihe dieser Posten bringen zu wollen. Einmal, als wir wieder hinter einer Erhöhung hervorlugten und mehrere Wachen stehen sahen, schien ihm ein guter Gedanke zu kommen. Er sprach lange und eindringlich auf mich ein und nahm dabei alle Fremdwörter zu Rate, deren er in seinem Gedächtnisse habhaft werden konnte. Als ich trotzdem so unwissend blieb, wie ich war, stieg er ab und forderte mich auf, dasselbe zu tun. Dann deutete er nach der Gegend, in welcher das Hotel lag, und machte eine Zeichnung in den Sand. Auf einen Punkt dieser Zeichnung deutend, wiederholte er mehrere Male die beiden Worte ›Bab‹ und ›Chambre‹. Daß Chambre das französische Wort für ›Zimmer‹ ist, weiß Jedermann, und aus dem Plan von Kairo ist mir zufällig bekannt, daß Bab soviel wie Tür oder Tor bedeutet. Der Sejjid sprach also von einer Zimmertür, aber von welcher denn? Wie es ihm gelungen ist, mich endlich klug zu machen, das weiß ich nicht, aber es kam doch der Augenblick, an welchem ich ihn mit Hilfe seiner Zeichnung begriff: Ich hatte den Haupteingang zu vermeiden und mich oben nach der von der Cheops-Pyramide abfallenden Sanddüne zu wenden, auf welcher das erste Stockwerk des Hotels auf dieser Seite ein Paterre bildet. Dort gibt es eine offenstehende Tür, nach welcher ich zu gehen hatte. Als ich ihm unter fleißiger Anwendung von ›Bab‹ und ›Chambre‹ klar gemacht hatte, daß er verstanden worden sei, strahlte sein Gesicht vor Freude. Er zog seinen Mantel aus, unter welchem er ein langes, hellbraunes, hemdartiges Gewand trägt, und gab ihn mir um. Dann ballte er meinen neuen Hut zusammen, schob ihn in seine weite Hosentasche und setzte mir dafür seinen Tarbusch auf, an dessen Stelle er sich mein Taschentuch um den Kopf wickelte. Dann stieg er auf sein Pferd, nahm das meinige am Zügel und ritt davon, absichtlich so, daß ihn die Posten bald bemerkten. Sie rannten auf ihn zu, wodurch sie mir den Weg freigaben. Er ließ sie nicht an sich herankommen. Sie schrien ihm zu und verdoppelten ihre Eile, mit ihm zu reden. Dadurch lockte er sie immer weiter fort, und ich ging langsamen Schrittes nach der mir vorgeschriebenen Gegend. Sie sahen mich von Weitem, achteten aber nicht auf mich, weil sie mich infolge des Tarbusch und des Mantels für einen Araber hielten. Ich erreichte die Düne, ging ihr entlang und kam an die bewußte Tür, welche, was ich freilich nicht geahnt hatte, die Tür der Wohnung meines Retters ist.«

Nun hielt der Erzähler inne. Er hatte in einem heiteren Ernste gesprochen, der ihm weit besser zu Gesichte stand als der selbstbewußte, schnarrende Ton, der ihm sonst so eigen war. Er kam mir jetzt ganz anders vor, gar nicht so ungesund fromm und salbungsvoll, wie ich ihn bisher gesehen hatte. Welchen viel, viel bessern Eindruck macht doch der Mensch, wenn in ihm die gute Natur über das künstlich Gemachte siegt!

»Und nun aber der Dank!« erinnerte seine Tochter. »Oder war es wirklich dein Ernst, nicht von ihm sprechen zu wollen?«

Ich wehrte mit der schnellen Bitte ab, dies Wort weder jetzt noch später zu erwähnen. Da klopfte es an, und als ich ein lautes »Fut!« »Herein!« gerufen hatte, kam der Sejjid herein, welcher meldete, daß er glücklich angekommen sei und die Pferde nach dem Stalle geschafft habe. Ich wußte, wie man Orientalen seines Standes und seiner Art zu nehmen hat, reichte ihm meine Hand, was an und für sich schon eine Auszeichnung war, und sagte:

»Du hast deine Sache gut gemacht, Omar. Ich engagiere dich; du wirst mein Diener sein und mich begleiten dürfen. Stände Mohammed, dein Prophet, an meiner Stelle, so würde er dir ganz dasselbe sagen, was ich dir schon gesagt habe: Du sollst vor allen Dingen ein guter Mensch sein, und du bist es heut gewesen. Bleibe stets und immer so, wie du an diesem Tage warst!«

Mr. Waller gab ihm den Mantel und den Tarbusch wieder, wofür er sein Taschentuch und den freilich sehr zusammengedrückten Hut zurückbekam, und bat mich, dem Sejjid die Worte zu übersetzen, die er ihm zu sagen habe. Sie lauteten:

»Ich habe dich um Verzeihung zu bitten. Gieb mir deine Hand!«

Omar befand sich infolge meiner Rede in gehobener Stimmung. Die Bitte des Amerikaners aber schien ihm noch tiefer zu gehen. Seine Augen bekamen einen feuchten Glanz. Er streckte ihm die Hand in bescheiden zögernder Weise hin und antwortete:

»Ich habe dir meine Hand, wenn auch nur die unsichtbare, schon draußen an der Pyramide gegeben, als du geritten kamst, um dich von mir führen zu lassen. Und ich habe dir dann noch mehr gegeben, indem ich dir meine Kleider gab, welche ich wieder anlegen werde, ohne sie reinigen zu lassen, obgleich ein Christ sie getragen hat. Wenn Allahs Hand an die Güte eines Menschen klopft, soll dieser nicht nach dem Glauben seiner Brüder fragen. Das ist es, was ich heut gelernt habe. Und daß ich es gelernt habe, das macht mich so froh, wie ich noch nie gewesen bin!«

Er ging.

Waller sah mich, als ich ihm diese Worte übersetzt hatte, erstaunt an und sagte:

»Der spricht ja genau wie ein Christ! Sollte man das für möglich halten? Uebrigens ein prächtiger Mensch, den man lieb haben muß!«

Ich hütete mich, zu seinen Worten irgend eine Bemerkung zu machen. Es hatte ihn in diesem Augenblicke die Hand eines lieben, von allem Erdenstaube reinen Engels berührt, und solche Momente lassen nur dann die Spur der Engelshand zurück, wenn sie durch keine Störung unterbrochen werden. Er schien von einem Gefühle hierfür geleitet zu werden, indem er aus dem Zimmer hinaus in das Freie trat.

»Bitte, stören wir ihn nicht!« bat seine Tochter. »Ich möchte, daß dieses Erlebnis in dem friedlichen Tone ausklinge, in welchem das – – –«

Sie sprach den Satz nicht aus, sah mir halb verlegen, halb erwartungsvoll in das Gesicht und fragte dann:

»Sie haben wohl Vieles oder gar Alles gehört, was an unserm Tisch gesprochen worden ist?«

»Das Meiste,« gab ich aufrichtig zu.

»Auch die Strophe, welche ich gefunden habe?«

»Auch diese.«

»Nun wohl: So wie diese möchte der heutige Tag für Vater ausklingen! Sie wissen nicht, warum ich mich nicht scheue, Ihnen das zu sagen, und ich weiß es auch nicht. Es ist Etwas in mir, was Sie schon früher gesehen hat. Bitte, lächeln Sie nicht! Ich bin keine Phantastin; aber es ist mir, als ob ich Sie schon irgendwann und irgendwo getroffen und da so recht in vollem Vertrauen mit Ihnen gesprochen hätte. Nehmen Sie dies offene Wort aber ja als eine Seltenheit von mir, als, wenn Sie es nicht abweisen, eine kleine Vergeltung für das, was Sie heut für uns gewagt und getan haben!«

Da kam ihr Vater wieder herein und machte die Bemerkung, daß es ihre Pflicht und nun wohl auch an der Zeit sei, sich nach dem Befinden des verwundeten Chinesen zu erkundigen. Dann lud er mich ein, das Abendessen nicht so allein, wie in Kairo, sondern an seinem Tische einzunehmen, und ich sagte zu.

Als ich mich dann unten im Speisesaale einstellte, waren die Chinesen nicht da; sie speisten in ihrem Zimmer. Es sprach sich durch die Bedienung von Tisch zu Tisch herum, daß mit der Tramway ein Leutnant mit Soldaten aus Kairo angekommen sei, um die fremden Mekkapilger noch am Abend von hier fortzubringen. Das war jedenfalls die Folge davon, daß der Schech el Beled von el Kafr einen Boten in die Stadt geschickt hatte. Die eigentliche Ursache dieser Maßregel schien man noch nicht zu kennen, und wir hatten keinen Grund, gegen Andere von ihr zu sprechen.

Waller verhielt sich überhaupt sehr schweigsam, und das Gespräch wurde nur von Mary und mir in der Weise wach erhalten, daß es nicht ganz zum Einschlafen kam. Doch als ich erwähnte, daß Monsieur Fu und Monsieur Tsi zu mir kommen würden, bat er mich, ihn, wenn sie bei mir seien, zu benachrichtigen, ob auch er sich einstellen könne, ohne uns zu stören.

Als wir nach dem Essen in den Flur kamen, saß der erwähnte Leutnant da. Man machte sich an ihn, um Näheres zu erfahren, doch sagte er weiter nichts, als daß er die Pilger heut hinein nach Bulak zu bringen habe, worauf sie dann morgen früh per Bahn nach Wasta abgeschoben würden. Das war mir lieb, zu hören, weil nun die Tour nach Sakkara unternommen werden konnte, ohne daß Waller eine Fortsetzung der heutigen Fährlichkeit zu befürchten hatte.

Was meinen Besuch betraf, so sollte er nicht im kleinen, dumpfen Zimmer sitzen. Ich ließ einen Tisch mit Stühlen hinaus vor die Tür bringen, um die Genugtuung zu haben, ihnen das Beste zu bieten, was Gizeh demjenigen Besucher bieten kann, welcher das geistige Auge und die seelische Empfänglichkeit dafür besitzt: den von den anderen Gästen nicht gestörten Anblick der Pyramiden beim Mondesschein.

Als die beiden Erwarteten kamen, führte ich sie hinaus, und sie waren herzlich gern damit einverstanden. Der Mond war eben erschienen, und die ernste, schwere Poesie des ägyptischen Altertums stand aus den Gräbern auf, um bleich, doch nächtlich schön von den Riesenbauten vergangener Jahrtausende auf uns, die winzigen Gäste der Gegenwart, herabzuschauen.

Die Chinesen hatten wohl nur einen kurzen Höflichkeitsbesuch beabsichtigt, aber der Eindruck, dem sie sich nicht entziehen konnten, war so gewaltig und so fesselnd, daß sie garnicht daran dachten, diesen besten Platz, den das Menahouse-Hotel besitzt, so bald wieder zu verlassen. Und mir wurde außerdem die Freude, daß sie, als ich ihnen den Wunsch des Amerikaners mitteilte, mir die Erlaubnis gaben, nicht nur ihn, sondern auch seine Tochter zum Kommen aufzufordern.

Dann saßen wir wohl bis über Mitternacht beisammen, China, die Vereinigten Staaten und Deutschland, oder Asien, Amerika und Europa, in Eintracht und Frieden auf afrikanischem Boden, von allem Guten, Edlen, Schönen und Erhabenen sprechend, aber nicht vom Unterschiede der Religionen, von den Gegensätzen der Volksinteressen und von dem Vortrittsrechte besonderer Nationalitäten. Es war ein Abend, den ich nie vergessen werde, und als wir uns trennten, taten wir es in dem Bewußtsein, daß alle Menschen so zusammengehören, wie wir in diesen unvergleichlichen Stunden sowohl äußerlich wie auch innerlich vereint gewesen waren.

Dem Amerikaner drückte ich ganz besonders warm die Hand. Er war so rücksichtsvoll, so mild, so weich gewesen und nicht ein einziges Mal in seinen schnarrenden Ton gefallen.

»Es klingt so aus, wie ich es wünschte,« flüsterte mir seine Tochter zu. »Ich segne die, die heut durch diese Steine so gewaltig und doch so lieb, so wunderbar zu uns gesprochen haben. Jawohl, es ist gewiß und sicher so: Der Tote ist nur dann und darum tot, wenn und auch weil er Niemand hat, zu dem er sprechen kann!«

Am anderen Morgen waren die Pilger fort, und der Ritt nach Sakkara wurde ein ganz anderer, als ich ihn geplant hatte. Wir Fünf schlossen uns zusammen; ein Dolmetscher wurde nicht mehr gebraucht, und mein Sejjid Omar war ganz stolz darauf, der Einzige zu sein, der uns bediente.

So wurde es auch nach unserer Rücklehr nach Kairo gehalten. Wir machten alle Ausflüge gemeinsam, bis ich mich als der Erste gezwungen sah, zu scheiden. Meine Vorbereitungen waren getroffen; es zog mich nilaufwärts, dem Sudan zu.

Als ich den festen Entschluß kundgab, übermorgen abzureisen, machte Fu den Vorschlag, den letzten Abend wieder bei den Pyramiden zuzubringen, und wir Andern stimmten alle bei. Das Hotel war nicht sehr besetzt, und so bekamen wir leicht dieselben Zimmer, welche wir bei unserer vorigen Anwesenheit gehabt hatten. Das Abendbrot nahmen wir auf der hohen Düne vor meiner Wohnung ein.

Der Mond schien dieses Mal nicht; aber das magische Licht der Sterne zeigte uns die Flächen und Konturen der Pyramiden in jener Schärfe, in welcher grad das irdisch Große vom Himmel abzustechen pflegt, und ließ sie also in einer ganz andern, ernsteren Sprache zu uns reden, als diejenige war, in welcher sie jüngst zu uns gepredigt hatten.

Es war keineswegs meine Absicht, in die Geheimnisse der beiden ebenso hochgebildeten wie liebenswürdigen Chinesen einzudringen, aber eine Aeußerung Fu's gab mir Veranlassung, anzunehmen, daß er Diplomat sei. Und Tsi sprach, wenigstens zu uns, ganz aufrichtig davon, daß er längere Zeit erst in Berlin und dann auch in Paris studiert habe, um die Anschauung des Westens mit derjenigen des Ostens vergleichen und über das Verhältnis beider zu einander zu einem klaren Resultate kommen zu können. Er hatte sich besonders, wie auch daheim, mit der Heilkunde beschäftigt; sein Lieblingsfach aber war Psychologie.

Wie kam es wohl, daß Waller, seit er mit uns verkehrte, sein Lieblingsthema fast gar nicht mehr berührte? Er schien vollständig vergessen zu haben, daß es Heidentempel gebe, welche zu zerstören seien. Lag der Grund hiervon nur in ihm allein oder auch in uns? Fu und Tsi waren Personen, in deren Gegenwart es sich ganz von selbst verbot, gehässig zu sprechen. Es fiel von Seite des Amerikaners nichts Peinliches mehr vor. Mary war rührend glücklich hierüber. Und als wir am Schlusse dieses friedlich schönen Abends Abschied von einander nahmen, taten wir es alle mit dem Wunsche, uns irgendwann und irgendwo einmal wieder treffen zu dürfen. Es soll aber Menschen geben, bei denen der Wunsch der Vater der Erfüllung ist! – – –

Zweites Kapitel
Civilisatoren

Mein Sejjid Omar hatte sich bewährt. Er ließ zwar jede Tür, durch welche er ging, mit absoluter Sicherheit offenstehen, war aber ehrlich, wahrheitsliebend, treu, scharfsinnig, zuverlässig und – was ich gar nicht hatte vermuten können – zu Alledem ein wahres Sprachgenie. Im Sudan, in Arabien und so lange wir durch Gegenden gekommen waren, in denen arabisch gesprochen wird, hatte ich von dieser seiner Begabung freilich nichts bemerkt; ja, ich war sogar in Beziehung auf seine spätere Brauchbarkeit bedenklich geworden, weil er nur seine heimische Mundart für richtig hielt und bei jedem anderen Dialekte mit einer wegwerfenden Handbewegung zu sagen pflegte:

»Die halten das für echtes Arabisch! Die können ja gar nicht arabisch sprechen! Das wahre ›hhchchhh!‹ und das wirkliche ›hhkghhh!‹ bringt keiner von ihnen fertig! Nur wer in Kairo geboren ist, kann reden; eine andere, richtige Sprache gibt es überhaupt gar nicht!«

Aber als dann nach ausgedehnten monatelangen Wanderungen jenseits von Bagdad, an der indischen Grenze, das englische Sprachgebiet begann, schien bei ihm, so was man sagt, der Knoten zu reißen. Schon in Kuratschi, wo wir einige Tage ruhten, wunderte ich mich darüber, daß er sich fast gar nicht um mich bekümmerte. Er ließ sich nur für Augenblicke sehen, und als ich ihn darüber zur Rede stellte, erklärte er mir:

»Sihdi, ich habe vorgestern, gestern und heute mit englischen Matrosen zusammengesteckt und mir ihre ganze Sprache aufgeschrieben. Ich muß doch nun englisch reden können, sonst kannst du mich ja nicht mehr brauchen. Ich habe sogar in der Nacht studiert; es ist ganz leicht; nur das ›hhsssshhh‹ und das ›thhhsssshhh‹ bringe ich noch nicht heraus, denn die Engländer können eben auch noch nicht richtig reden. Hier hast du ihre Sprache!«

Er zog ein Paket von mehr als zwanzig vollgeschriebenen Papierbogen aus dem Kaftan und gab es mir. Es enthielt englische Worte und Redensarten mit der arabischen Uebersetzung, natürlich in arabischer Schrift geschrieben, für mein Auge ein wahrer Gallimatthias, in dem ich mich nicht zurechtfinden konnte. Da ich aber dem guten Omar ansah, daß er ein anerkennendes Wort erwartete, so sagte ich:

»Du bist da sehr fleißig gewesen. Kannst du denn diese englischen Worte alle aussprechen?«

Er nickte.

»Und du kennst auch ihren Sinn?«

Er nickte wieder, wobei sein Gesicht vor innerer und äußerer Zufriedenheit förmlich glänzte.

»Wenn dies der Fall ist, so bist du ja ein ganz tüchtiger Kerl!«

Da rief er aus:

»Probiere mich, Sihdi! Darf ich dir sagen, wie du das zu machen hast?«

»Ja. Nun, also!«

»Du bist ein englischer Laden, in welchem Cigarren verkauft werden. Ich bin der englische Sejjid Omar aus Livverbuhl und kaufe für meinen deutschen Sihdi Cigarren ein, weil er nicht englisch reden kann. Bist du einverstanden, und soll ich das so machen?«

»Ja, gut! Ich bin der englische Cigarrenladen, und du bist aus Liverpool. Es kann losgehen!«

Da ging er hinaus, machte die Tür hinter sich zu und klopfte an.

»Come in!« antwortete ich.

Er trat ein, nahm seinen Tarbusch höflich ab und wollte sprechen; ich aber kam ihm zuvor:

»Mach die Tür zu, ehe du sprichst! Ein Engländer läßt keine Tür offen stehen!«

Er war sofort Herr der Situation, zog die Tür zu und sagte:

»Ei bekk juh parrrrd'n, Mister Miehlord owww Tabbakk änd Smooking-Sihgärr! Ei wischsch dhho pörrrtschähß Sihgärr! Giww Sihgärr! Lahrtsch bikk Sihgärr, long Sihgärr, thick Sihgärr, gudd Sihgärr, fein ännd tschihhhhp Sihgärr! Wott häww ei dhho peehh, Mister Miehlord owww inglischhh Smooking-Männ?«

Man denke sich meinen ernsten, gravitätischen Sejjid Omar, und man denke sich dazu, daß, während er diese Rede wie aus einem halb verstopften Wursttrichter hervorquellen ließ, sein Gesicht genau die Züge der unerlaubten Orthographie annahm, deren ich mich in diesen Zeilen bediene! Ich konnte nicht anders, ich mußte laut lachen, mehr über sein Gesicht als über seine Worte. Das entzückte ihn. Er sagte:

»Sihdi, ich sehe, wie sehr du dich freust. Ich habe in diesen drei Tagen und zwei Nächten die ganze englische Sprache auswendig gelernt. Ob du diese Sprache auch verstehst, das ist nun ganz egal. Ich werde für dich reden!«

Das war so seine selbstbewußte, selbstvertrauende Weise. Mir machte die Sache in der ersten Zeit Spaß; aber je länger, desto mehr erstaunte ich. Er machte Fortschritte, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Wo er eines Engländers habhaft werden konnte, der nicht allzu hoch über ihm stand, den hielt er fest, um sprachlich von ihm zu profitieren, und als ich ihm seine Bitte erfüllte, möglichst nur englisch mit ihm zu sprechen, fand ich täglich Gelegenheit, sein unvergleichliches Wortgedächtnis zu bewundern. Nebenbei merkte er sich jedes Wort jeder anderen Sprache, welches ihm vor die Ohren kam. Er saß stundenlang an einer Stelle still, immerfort die Lippen bewegend und sich unausgesetzt übend, um das, was er sich einmal angeeignet hatte, ja nicht wieder zu vergessen. Wenn ich an Hauptorten mit Europäern zusammentraf und in deren Sprache mit ihnen verkehrte, so machte er sich sicher in unsere Nähe, um einige Worte aufzufangen und mich dann über die Bedeutung derselben auszufragen. Und was er so erfuhr, vergaß er nie.

Ganz eigenartig war seine Geschicklichkeit, seinen immer wachsenden Sprachschatz in Anwendung zu bringen. Es geschah das ohne jedes Gesetz und jede Regel, aber in einer Weise, welche mich oft heimlich staunen ließ. Mit Etymologie und Syntax freilich durfte ich ihm nicht kommen. Wenn ich von der Abstammung eines Wortes oder von den Teilen eines Satzes sprach, wehrte er mit beiden Händen ab und sagte:

»Ich esse nicht zwei Datteln auf einmal, sondern eine nach der anderen. So spreche ich auch nicht zwei Worte auf einmal, sondern eines nach dem anderen. So ist es bei uns in der arabischen Sprache, außer welcher es keine richtige gibt, und also darfst du nicht von mir verlangen, daß ich bei einem Worte gleich an mehrere andere denken soll. Sie kommen alle ganz von selbst, und du brauchst keine Angst zu haben, daß ich eines vergesse!«

Seine Liebe zu mir war der Grund, daß für ihn meine Muttersprache gleich nach der seinigen rangierte, und so war seine Freude groß, als ich ihm für einen mir geleisteten Extradienst die belohnende Mitteilung machte, daß ich ihn von jetzt an täglich eine Stunde in der deutschen Sprache unterrichten würde. Die Folge zeigte, daß ich mir keinen besseren Schüler wünschen konnte. Er gab sich die größte Mühe, nach seiner Rückkehr mit den deutschen Touristen deutsch sprechen zu können. Freilich ging er auch hier in einer so regellosen Weise mit den Redeteilen um, daß Wort-und Satzbildungen zum Vorschein kamen, welche um so lächerlicher waren, je größere Wichtigkeit er der ernsten Würde gab, mit welcher sie ausgesprochen wurden.

Seine in Kairo, ehe ich ihn engagierte, in Beziehung auf die Religion ausgesprochenen Wünsche hatte ich respektiert. Ich sprach kein Wort vom Christentum zu ihm, und wenn er einmal, was ja unvermeidlich war, eine sich auf seinen Islam beziehende Bemerkung machte, so ging ich schweigend über sie hinweg. Dies kam in seinen Augen einer Mißachtung seiner Religion gleich und wurde von ihm nach und nach immer mehr als eine Strafe empfunden, welche er verständigerweise als eine unausbleibliche Folge seiner damaligen Bitte zu betrachten schien. Es war mir oft, als ob er in dieser Hinsicht etwas auf dem Herzen habe, und er setzte auch zuweilen an, es mir zu sagen, kam aber nicht dazu, weil ihm solche Gelegenheiten von mir aus guten Gründen stets kurz abgebrochen wurden. Das Zusammenleben mit mir hatte bei ihm die unausbleiblichen Wirkungen hervorgebracht, denn es war ganz selbstverständlich, daß gewisse Anschauungen von mir auf ihn übergehen mußten. Ich ließ das geschehen, ohne ihn darauf aufmerksam zu machen. Es kam immer mehr vor, daß er eines der vorgeschriebenen Gebete ausfallen ließ, weil ihn etwas hinderte, was er früher auf keinen Fall als Hindernis betrachtet hätte. Er unterließ es, die Vorzüge seines Glaubens in der ehemaligen Weise zu betonen, und die Masbacha Muhammedanischer Rosenkranz., welche er früher in müßiger Zeit stets in den Händen gehabt hatte, war jetzt nur sehr selten noch zu sehen. Ich nahm diese Zeichen nicht etwa als Beweise vermindeter Frömmigkeit; o nein; das Herz Omars war noch ganz dasselbe wie vorher; aber er hatte zwischen innerlich und äußerlich unterscheiden gelernt und dabei eingesehen, auf welcher von diesen beiden Seiten man die wahre, echte Religiosität zu suchen hat. – –

Wir kamen jetzt per Dampfer von Bombay und waren froh, den Gefahren dieser von der Pest vollständig verseuchten Stadt glücklich entgangen zu sein. Kap Komorin war dubliert, und wir flogen auf einer wunderbaren See dem herrlichen Ceylon zu. Ich bin gern bereit, bei einer Personifikation der Meere zu einer Schönheitskonkurrenz den ersten Preis dem Roten Meere zuzuerkennen, denn ich habe es, so oft ich es durchfuhr, so schön wie kein anderes gefunden, doch heut wurde von dem glänzendsten Tag des Orientes die Vermählung der arabisch-persischen See mit dem indischen Ozean gefeiert, und der Himmel hatte seine sanftesten Lüfte gesandt und sein reinstes, strahlendstes Licht über diese friedliche Vereinigung ausgegossen.

Blau und wonnig, wie das aus dem Herzen gestiegene Glück in einem selig lächelnden Menschenauge, so sah uns jede, die Wangen unsers Dampfers küssende Woge an, um nach diesem Kusse an die Brust der See zurückzusinken. Ein aus regelmäßigen Maschen bestehendes Brautgewand bildend, zogen diamantene Fäden sich, so weit der Blick nur reichen konnte, über die schwellenden Wasser, welche wie von den leisen Atemzügen eines friedlich Schlafenden sich hoben und sich wieder senkten. Der Morgen war schon angebrochen, und nun ging auch die Sonne auf, nicht langsam, wie hinter Bergen empor, nicht mit Nebeln und irdischen Dünsten kämpfend, sondern plötzlich, mit einem Male, wie einer der Engel des Lichtes, welcher die Tür des Himmels öffnet und in voller, majestätischer Gestalt hervortritt, um der Schöpfung seines Herrn und Meisters den göttlichen Segen zu erteilen. Und da floß er herbei, dieser Segen vom ewig jung bleibenden Osten her, eine unendliche, überwältigende Fülle des Lichtes, eine unerschöpfliche Flut von Strahlen, dem Tage als Erhörung des Gebets der Nacht gesandt! Vom Sonnenpunkt am Horizont beginnend und nach Nord und Süd immer breiter werdend, war für uns eine aus flüssigen Brillanten gegossene, funkelnde Bahn gezeichnet, auf deren Mitte wir der Spenderin dieser Pracht und Herrlichkeit gerad entgegenfuhren. Hatten wir die Erde verlassen, und war Ceylon jene oft besungene und doch so vergeblich ersehnte »Insel der Seligen« für uns? Wie habe ich dich lieb, so unendlich lieb, du See, du Meer, du Ozean! Du ziehst in deine Tiefen, damit ich frei von ihm werde, was an mir schwer und irdisch ist, und trägst mich nach der anderen Welt, nach jenem aus dem Gottvertrauen emporragenden Ufer, wo zwischen den Bergen des Glaubens der Weg empor nach meiner Heimat steigt!

Man bezeichne solche Gefühle ja nicht als überschwänglich! Wer die See nicht kennt, der ahnt nicht, wie mächtig sie auf jeden Menschen wirkt, der seiner Seele noch nicht verboten hat, mit ihr zu sprechen. Und wer da meint, während einer kurzen Fahrt nach Kopenhagen oder Helgoland das Meer kennen gelernt zu haben, der irrt sich sehr. Ich kenne Seekapitäne, welche den Atlantischen nach ihrem eigenen Ausdrucke »wie ihr Waschbecken kannten« und mit voller Wonne für ihn schwärmten, dann aber bei ihrer ersten Fahrt von Suez nach China oder Australien begeistert eingestanden, daß der bisher geliebte »alte Heringsteich« im Vergleich mit jenen südlichen Meeren eben nur als Heringsteich bezeichnet werden könne. Die Wassermasse an sich tut es freilich nicht. Es ist der Süd; es ist der Ost, und es ist die Nähe des Aequators. Auch wirken noch andere Ursachen, denen auf die Spur zu kommen, man sich wohl vergeblich bemühen würde. Aber sie kommt; sie ist da, diese Wirkung, und ich bin so glücklich darüber, daß es mir wiederholt beschieden gewesen ist, mich ihr von ganzem Herzen hingeben zu können.

Ich war nach dem Vorderdeck gegangen, wo die Passagiere dritter Klasse logierten, und hatte mich an das Spriet gelehnt, um den Anblick dieses einzig schönen Sonnenaufganges voll genießen zu können. Als er dann vorüber war und ich mich umdrehte, um nach meinem Deck zurückzukehren, sah ich, daß Sejjid Omar unweit von mir an der Regeling stand und auch bewundernd ostwärts schaute. Als er bemerkte, daß es mich nun nicht mehr störe, erkundigte er sich, wann wir in Colombo ankommen würden. Als ich ihm die Auskunft erteilt hatte, sagte er:

»Das sind alles Dummköpfe oder Lügner! Ich fragte gestern Abend den Kapitän, und er sagte, um zehn Uhr. Dann fragte ich den ersten Offizier, und er sagte, um zwölf Uhr. Hierauf fragte ich den zweiten Offizier, und er sagte, um elf Uhr. Du aber, Sihdi, hast gesagt, halb zehn Uhr, und das ist richtig! Es ist aber immer so und wird auch so bleiben: du weißt Alles richtig, und Andere Leute wissen Alles falsch; manchmal wissen sie es auch gar nicht!«

Der gute Omar hatte nämlich die Eigenheit, mich für allwissend zu halten. Das kam daher, daß ich niemals etwas zu ihm sagte, wofür ich nicht einstehen konnte. Sein Vertrauen zu meinem Worte war geradezu rührend. Er stand jeden Augenblick bereit, auf mich zu schwören. Seine eigene Wahrheitsliebe hatte mich verpflichtet, gegen ihn, selbst im Scherz, auch nur wahr zu sein. Das stach freilich so sehr gegen die orientalische Weise ab, daß er mich verehrte, wie wohl noch Niemand von ihm verehrt worden war. Ich bemerkte oft, wenn ich mich plötzlich nach ihm umdrehte, daß sein stiller Blick mit Liebe auf mir geruht hatte; er fühlte sich dann ertappt und errötete wie ein kleines Mädchen. Andere Herren sagten mir aufrichtig, daß sie mich um die Anhänglichkeit dieses Dieners beneideten. Auf diesem Wege erfuhr ich auch, wie er mich gegen Andere zu nennen pflegte: »Unser Herr!« Waren wir auf einem Schiffe, so war ich in seinem Auge der vornehmste Herr an Bord, und er nannte mich selbst gegen den Kapitän nicht anders als »unser Herr«. Im Hotel mußte es sich der Wirt gefallen lassen, daß Omar nicht ihn, sondern mich als »unsern Herrn« bezeichnete. Und selbst wenn ich Gast des Vizekönigs von Indien gewesen wäre, so hätte dieser hören müssen, daß ich »unser Herr« sei, nicht aber er. So kam es, daß ich überall, wohin wir kamen, sehr bald von aller Welt, natürlich hinter meinem Rücken und in scherzhafter Weise als »unser Herr« angegeben, verkündigt und erläutert wurde. Ich hatte ihm zwar zu verstehen gegeben, daß ich nur sein, nicht aber auch der Herr aller anderen Leute sei, doch vergeblich; er blieb bei seiner Verehrung und also auch bei »unserm Herrn«. Und wie er keinem Andern als nur mir vertraute, so stand es auch jetzt ganz unerschütterlich bei ihm fest, daß wir trotz der Aussagen des Kapitäns und seiner beiden Offiziere und trotz aller ihrer nautischen Berechnungen halb zehn Uhr in Colombo eintreffen würden, und zwar allein nur deshalb, weil ich es gesagt hatte.

Er sah mich forschend an, um zu ergründen, ob er weitersprechen dürfe, und da ich nicht abmahnend dreinschaute, fuhr er fort:

»Sihdi, ist Ceylon die große, schöne Insel, welche arabisch Quelb esch Schark Herz des Ostens. genannt wird?«

»Ja. Sie ist sehr schön, und du wirst viele Orte von ihr kennen lernen.«

»Was für Menschen wohnen da?«

»Singhalesen, Tamilen, eingewanderte Araber, Malayen und Mischlinge. Die Leute, welche hier auf diesem Deck sitzen, sind meist Singhalesen.«

Er schnippste abwehrend mit den Fingern und sagte:

»Ich habe sie beobachtet. Sie sind ja Abadet el Assnam Götzendiener., die man nicht berühren darf, wenn man sich nicht verunreinigen will. Es wird mir keiner zu nahe kommen, und tut er es, so wehre ich ihn mit dem Stocke von mir ab!«

Da legte ich ihm die Hand wie damals auf die Schulter, sah ihn ernst an und warnte:

»Du bist Sejjid Omar, aber noch immer nicht ein guter Mensch. Wer kein guter Mensch ist, der kann auch kein guter Moslem sein. Wir sind alle Brüder. Wohnt der Glaubensirrtum etwa im Körper? Wie kann dich die Berührung des Leibes, der mit dem Glauben gar nichts zu tun hat, verunreinigen?!«

Ich drehte mich um und ging. Ich mußte zwischen den Singhalesen hindurch. Es saßen da mehrere Familien beisammen, liebe, freundliche, saubere Menschen, die Väter, die Mütter und die Kinder. Ein kleiner, fast splitternackter Junge war dabei, dunkeläugig, bausbäckig, vollbäuchig, mit quatscheligen Händen und Füßen. Ich hob ihn zu mir empor, küßte ihn auf die Stirn, setzte ihn wieder hin, drückte ihm ein kleines Silberstück in die Miniaturpatschen und ging.

»O Sahib! Sahib is good! Sahib have thank!« rief es hinter mir her.

Diese Leute sprechen immer einige Brocken englisch. Nach Omar sah ich mich nicht um. Er hatte seine Lehre und seine Strafe weg!

Es war für mich gar nicht schwer gewesen, zu bestimmen, wann wir ankommen würden. Man weiß ja ganz genau, wieviel Seemeilen zu machen sind, und man erfährt, so oft man will, wieviel das Schiff zurückgelegt hat und wieviel Knoten es in der Stunde macht. Aber gewöhnlichen Fragern steht ein Offizier natürlich nicht gern Rede. Er sagt irgend eine Zahl, und damit ist es gut.

Das dunkle, satte Grün der Südwestküste Ceylons tauchte vor uns auf. Wir machten eine Schwenkung. Zur linken Hand erschien die Mutwal-Spitze, rechts der Damm; Masten und hohe Dampferessen ragten auf – – da kam Sejjid Omar gelaufen, hielt mir die Uhr hin, welche ich ihm als Unterstützung seiner Pünktlichkeit geschenkt hatte, und rief:

»Sihdi, du hast wieder Recht: Es fehlen sogar noch vier Minuten an halb zehn! Wirst du als Gast bei Jemand wohnen oder im Hotel?«

»Grand Oriental-Hotel. Zwei Minuten vom Landeplatz. Nenne meinen Namen nicht!«

Mehr brauchte ich nicht zu sagen. Er war gewohnt, Alles ganz allein und auf das Beste zu besorgen. Ich hatte nur auszusteigen und nach dem Hotel zu gehen, was der Kürze des Weges wegen erlaubt war. Sonst aber wird ein Europäer, der in Colombo zu Fuß geht, Jeden, mit dem er verkehrt, blamieren.

Es gab, wie in jedem orientalischen Hafen, einen unbeschreiblichen Lärm, doch vollzieht sich hier die Ausschiffung in langen, bequemen Böten und einer anderorts sehr wünschenswerten Bedachtsamkeit. Mit Paß- und Zollformalitäten hatte ich nichts zu tun. Unter dem Regendach der Landestelle sitzen Geldwechsler, bei denen man alle möglichen Münzen des Ostens haben kann. Ich verweilte mich bei einem von ihnen, um mich mit landläufigem Silber zu versehen, und schlenderte dann dem Hotel zu. Es ist, beiläufig gesagt, das teuerste, welches ich im Orient gefunden habe. Dennoch ging ich, ohne ein anderes zu wählen, jetzt wieder hin, weil ich gern wieder in demselben Zimmer wohnen wollte wie früher. Ich bin in dieser Beziehung ein sonderbarer Kauz. Erinnerungen sind und bleiben mir stets heilig.

Noch ehe ich die zur Tür führenden Stufen betrat, hörte ich die zankende Stimme meines vorangeeilten Sejjid Omar, welche aus dem rechts im Flur liegenden Bureau ertönte. Er sprach sein eigenmächtiges Englisch und war, wie es schien, in Wut. Als er mich kommen sah, klagte er mir seine Not arabisch:

»Denke dir, Sihdi, man will dir kein großes, schönes, sauberes, fein möbliertes, billiges Zimmer geben, eine Treppe hoch und mit der Aussicht in das Freie! Man sagt, es sei Alles besetzt. Wie kann Alles besetzt sein, wenn mein Sihdi kommt! Und wenn Einer drin ist, oder wenn Zehn drin sind oder Fünfzig oder Hundert, so müssen sie alle raus, alle, alle! Sodann soll ich deinen Namen sagen! Habe ich etwa diesen Portier schon nach dem seinigen gefragt? Was tut der Name? Der Glaubensirrtum steckt nicht in dem Körper und mein Sihdi nicht in seinem Namen! Ich habe einfach gesagt, daß du keinen brauchst und also auch keinen hast. Ist das nicht deutlich genug? Willst du einen haben, so kannst du jeden nehmen, den es gibt; du bist der Mann dazu! Und endlich mir, mir will man nicht einmal eine Wohnung geben, weil ich ein Araber bin; denke dir, dieser Portier, dem Allah nicht einmal einen Bart hat wachsen lassen, hat mir gesagt, daß nur eingeborene und andere Dienerschaft hier wohnen dürfe, arabische aber nicht, weil man da wegen Schmutz und Ungeziefer schlechte Erfahrungen gemacht habe. Ich, Sejjid Omar und Schmutz! Ich, Sejjid Omar und Ungeziefer! Dieser Portier spricht auch arabisch, aber so, wie es hier gesprochen wird. Das ist doch keine Sprache! Und dieser Mann, der nicht einmal reden kann, wie man mit Sejjid Omar reden muß, sagt, daß hier überhaupt kein Moslem wohnen dürfe! Er meint, wir machten mit unsern Glaubensgebräuchen nur Störung und seien keine reinlichen Menschen; die Singhalesen aber, diese Götzendiener, seien gerad so sauber wie die Christen! Ist das nicht unerhört? Wenn ein echter und wahrer Bekenner des Propheten hier wegen Ungeziefer nicht wohnen darf, so frage ich diesen Portier, warum dann er keins hat! Doch nur, weil er nichts zum Beißen hat und so unappetitlich ist, daß alles, was zu den Debaib Insekten. gehört, bei seinem Anblicke hier zur Tür hinaus und auf die Straße springt! Komm, Sihdi; wir danken für ein solches Hotel und suchen uns ein anderes!«

Er wollte fort. Ich gebot ihm mit einer Handbewegung, zu bleiben, und wendete mich an den Portier. Dieser war ein ganz höflicher Mann. Ein Zimmer, wie Omar verlangt hatte, war nicht frei; aber ich wollte auch kein solches, sondern gern mein früheres, und dieses war noch unbesetzt. Der Sejjid konnte allerdings keinen Raum zum Schlafen bekommen, doch durfte er sich am Tage zu meiner Bedienung beliebig im Hause aufhalten. Die Verwaltung hatte infolge der erwähnten Erfahrung ganz berechtigter Weise verboten, arabische Diener für die Nacht zu behalten, und meinem islamstolzen Omar konnte es nach seinem verächtlichen Urteile über die »Götzenanbeter« gar nichts schaden, wenn er hier die Beobachtung machte, daß diese Buddhisten erfahrungsgemäß den Muhammedanern vorzuziehen seien. Ich erklärte also, daß ich hier bleiben und das Zimmer nehmen werde. Omar konnte in dem »Pettah« genannten Eingeborenenviertel wohnen, wo ein mir bekannter Deutscher ein Hotel niedrigeren Ranges besaß. Dort gab es für ihn übrigens auch mehr Gelegenheit zu den ihm so am Herzen liegenden Sprachstudien als hier im Grand Oriental-Hotel. Der Portier erhielt für das, was er von des Sejjid Strafpredigt verstanden hatte, als Entschädigung ein Trinkgeld, welches er mit einer Miene zu sich steckte, die mir deutlich sagte, daß er mich von diesem Augenblicke an trotz des arabischen Dieners für einen »Gentleman« halte.

Mein Raum lag auch hier zwei Treppen hoch, nicht nach der See oder nach der Straße, sondern nach dem Hofe zu, bei dessen Anblick mich das Gefühl überkam, daß ich nach langer Zeit nun wieder einmal zu Hause sei. In diesem Hofe kannte ich jeden, auch den kleinsten und verborgensten Winkel, obgleich ich ihn nie betreten hatte. Er war der Bereich der interessantesten ethnographischen Studien gewesen, welche ich von meinem hochgelegenen Söller aus hatte machen können, denn er wurde teils vom Hotel, teils von Geschäftshäusern eingeschlossen und stand mittelst breiter Durchgänge mit den Straßen in Verbindung. Es gab ein immerwährendes Kommen von Gestalten aller Farben und aller Sorten. Am interessantesten war mir ein Tamile gewesen, dessen linkes Bein im Beginne der Elephantiasis gestanden hatte und – – – siehe da, kaum war ich jetzt in das Zimmer getreten und warf nach so langer Zeit den ersten Blick hinab in den Hof, da kam dieser Tamile aus dem hinteren Winkel herbeigehumpelt, älter als damals, doch ganz dasselbe verdrossene Gesicht und ganz derselbe trockene Husten, den er früher schon hatte. Aber die Geschwulst hatte jetzt das ganze Bein bis herauf an den Leib ergriffen und war so stark geworden, daß man sich keiner Uebertreibung schuldig machte, wenn man sagte, daß dieser arme Teufel ein Menschen- und ein Elefantenbein besitze.

Im Zimmer stand derselbe hohe Tisch und dasselbe Bett mit Messinggestell und Fliegennetz, daneben die zwei niedrigen Serviertische, an denen man den Kaffee oder Tee einnimmt. Draußen auf dem Söller gab es noch denselben langen, bequemen, indischen Ausstreckestuhl, welcher vorn zwei verschiebbare Leisten hat, auf denen die Füße hochgehalten werden. Ueber den Söller selbst muß ich aus triftigen Gründen noch eine Bemerkung machen.

Er war aus durchbrochenem Holz gebaut und reichte über die ganze hintere Seite des Gebäudes. Dieses enthielt in jedem Stockwerke eine lange Flucht von Zimmern, von denen aus man auf den Söller treten konnte. Um nun zu vermeiden, daß ein Gast den anderen störe, war der Söller teils durch dünne Holzwände, teils auch durch grobe Stoffvorhänge in so viele Teile geschieden, wie Zimmer vorhanden waren. Es konnte also Jedermann auf seinem Balkon oder Söllerteile sitzen, ohne eigentlich von den Nachbarn gesehen zu werden; aber die Vorhänge hatten mit der Zeit Löcher bekommen und die Zwischenwände waren so schadhaft geworden, daß man oft weit mehr zu sehen bekam, als man eigentlich sehen wollte und auch sehen durfte. Man brauchte sich auch gar nicht anzustrengen, um die trennende Wand so zu beseitigen, daß eine persönliche Ueberraschung des Nachbars möglich war.

Auf alle Fälle aber hatte man die Trennung nur für das Auge, nicht aber für das Gehör berechnet, denn da bei der dortigen Hitze es keinem Menschen einfiel, seine Söllertür zu schließen, so konnte man fast jedes Wort verstehen, welches in den beiden Zimmern rechts und links nebenan gesprochen wurde. Dergleichen Situationen sind im Oriente leider allzu häufig. Oft sind nicht nur die Zimmer, sondern auch die Schränke, Kommoden u.s.w. halb öffentlich eingerichtet, weil entweder gar keine Schlüssel oder nur solche von ganz derselben Nummer vorhanden sind, so daß Jedermann mit seinem Schlüssel die Möbel aller Gastzimmer öffnen kann.

Um summarisch zu verfahren, will ich hier gleich Einiges über Colombo im allgemeinen erwähnen. Ich beabsichtige dabei nicht etwa eine Beschreibung der Stadt, sondern es soll nur gesagt werden, was zum Verständnisse des später Folgenden notwendig ist.

Ihren Namen hat die Stadt von dem hier in die See mündenden Kalani-Ganga erhalten; sie wurde Kalanbua genannt; die Portugiesen haben Colombo daraus gemacht. Ihre Lage ist eine durchaus ebene, und so brauchte in den von den Europäern bewohnten Teilen kein Areal gespart zu werden. Die Bungalows Villen, Wohnhäuser. der Weißen sind von herrlichen Gärten und Parks umgeben, in denen die indische Vegetation zur vollsten, herrlichsten Geltung kommt. Die Dattelpalme kennt man hier nicht; sie will Sand und Wüstennähe haben. An ihre Stelle ist die Kokospalme getreten, welche ein kräftigeres, saftigeres Grün als die erstere zeigt und den Eindruck eines wohlgenährteren, besser situierten Pflanzenwesens macht.

Die von den Eingeborenen bewohnten Stadtteile haben schmale Straßen; die Häuser und Häuschen stehen eng beisammen. Man sieht Laden an Laden, und wer sich vor gewissen Gerüchen scheut, der tut wohl, sich in eine der stets und überall vorhandenen Rickschahs zu setzen und dahin zu fahren, wo es nicht mehr riecht.

Der Name dieser aus Japan eingeführten Fahrzeuge lautet eigentlich Jinrickschah, doch pflegt Jedermann kurz nur Rickschah zu sagen. Man denke sich eine sehr leicht und für die Zugkraft nicht eines Pferdes, sondern eines Menschen gebaute, zweiräderige Kalesche mit vorzuschlagendem Regendach und einer Doppeldeichsel, so weiß man ungefähr, wie eine Rickschah aussieht. Der Singhalese, welcher sie zieht, trägt die leichteste Kleidung, die auf der Straße erlaubt ist, oft nur eine Hose, welche vom Gürtel bis zur Hälfte der Oberschenkel reicht. Aber sein langes, seidenweiches Haar ist wohlfrisiert, zurückgekämmt und hinten in einen Knoten geschlungen, der von einem Kamme zusammengehalten wird. Das gibt dem Manne ein weiches, weibliches Aussehen. Dieser Kamm ist aber ein Zeichen der Männlichkeit; Frauen tragen ihn nicht, und Knaben erst dann, wenn bei ihnen der Bart zu wachsen beginnt.

Also außer mit diesem Kamme und der bescheidenen Hose ist der Rickschahmann vollständig unbekleidet. Warum? Man steige ein! Sobald man sitzt und er erfahren hat, wohin man will, beginnt er zu laufen. Die Luft ist schwül; die Sonne brennt; er läuft! Es geht nicht im Schritt, nicht im Trab, nicht im Galopp, sondern er läuft, aber wie! Es hat den Anschein, als ob er wie ein Torpedobootjäger sechsundzwanzig Knoten in der Stunde machen müsse. Man hat ihn Etwas zu fragen; er antwortet so kurz wie möglich, und er läuft! Die nackten Beine werden nicht müde; die nackte Brust scheint keine Lunge zu bergen; der Atem geht ruhig und regelmäßig, und doch würde ihn eine Droschke erster Güte nicht einholen, denn – – er läuft! Da, da – – man schaue hin! Es beginnt noch Etwas zu laufen! Nämlich unter dem Zopfe quillt ein kleines, einziges Tröpflein hervor, bleibt, wie verschämt darüber, daß es sich so öffentlich zeigen muß, einige Augenblicke im Schatten des Kammes stehen und bewegt sich dann, erst langsam, hierauf sprungweise und hernach schneller und immer schneller über den Hals und den Rücken herab, bis es unter dem oberen Rande der Hose verschwindet. Ein zweiter Tropfen kommt. Dieselbe anfängliche Verschämtheit, dasselbe Zögern, dann dieselben Sprünge und dasselbe vorläufige Ziel. Ein dritter, fünfter, zehnter, zwanzigster, hundertster Tropfen erscheint. Sie folgen sich schneller und schneller, bis sie ein Bächlein bilden, welches von dem Zopfe nach der Hose strebt. Das Bächlein läuft ununterbrochen, aber – – der Mann läuft auch! Der Passagier sitzt hinter ihm, sieht beide laufen und weiß nicht, worüber er sich mehr wundern soll, ob über die Ausdauer seines unermüdlichen Zweibeiners oder darüber, daß aus einem Zopfe eine so unerhörte Menge von Wasser laufen kann. Aber auf der rechten Schulter bildet sich auch ein Tropfen, auf der linken ebenso, beide rinnen herab, dem Rückgrate zu, um sich dort mit dem Bache zu vereinigen. Sie bekommen Nachfolger. Es entsteht hüben und drüben ein zweiter und dritter Bach, nach deren Einmündung der mittlere zu einem Flüßchen wird. Bald treten auch an anderen Stellen Wasserperlen hervor, aus denen Bäche werden, an den Oberarmen, der Brust, den Seiten, und alle eilen der Hose zu, welche naß und immer nässer wird, bis sie die allgemeine Ueberschwemmung nicht mehr fassen kann und in Gestalt von zwei Missisippis an den beiden Beinen niederlaufen läßt. So läuft das Wasser endlich am ganzen Körper, und – – der Mann läuft auch! Der Fahrgast sieht das mit Staunen und wundert sich schließlich darüber, daß er so ruhig sitzen bleibt und nicht von der Rickschah herunterspringt, um – – – auch zu laufen! Es ist ein wahres Glück, daß man dem Kuli gesagt hat, wohin man fahren will, denn wenn man das vergessen hätte, so würde er laufen, laufen und immer weiter laufen und gewiß nicht eher aufhören, als bis er sich ganz in Wasser aufgelöst hätte und zwischen den Deichselarmen der nun stehen gebliebenen Rickschah nur noch die Hose und der Kamm zu sehen wären.

Und wenn das Ziel erreicht ist und er sich mit der freigewordenen Hand über das badende Gesicht streicht, so geht sein Atem so ruhig wie im Augenblicke des Einsteigens; sein Auge blickt so sanft wie eine dunkelsammetne Pensee; er fordert nach deutschem Gelde nur eine Mark für die Stunde, und wenn man ihm noch einige Pfennige zu dem geliebten Siribissen extra gibt, so möchte er nun vor lauter Dankbarkeit so, wie vorher vor lauter Wasser, auseinanderfließen. Das ist die Rickschah und das ist der Rickschahmann!

Mein Sejjid Omar konnte es nicht gut verwinden, daß ich gegen seinen Vorschlag im Grand Oriental-Hotel blieb. Er kämpfte mit sich, ob er schmollen solle oder nicht; ich ließ das unbeachtet. Er mußte meine Effekten nach dem Zimmer bringen und ihnen dort die mir gewohnte Ordnung geben. In Indien spart man nicht mit der Dienerschaft. So standen auch an meiner geöffneten Tür zwei Singhalesen, welche mich eigentlich zu bedienen hatten und dem Sejjid helfen wollten. Das paßte ihm aber, zumal in seiner jetzigen Stimmung, nicht. Er faßte sie Beide, den Einen mit der rechten, den Anderen mit der linken Hand, schob sie, ohne ein Wort zu sagen, weit auf den Korridor hinaus und zog dann die Tür hinter sich zu. Hierauf hielt er mir seine Hände hin, sah mich lächelnd an und fragte:

»Sihdi, das waren Götzendiener? Nicht?«

»Du nennst sie so,« antwortete ich.

»Und ich habe sie angegriffen?«

»Allerdings.«

»Nun sieh, was ich tue!«

Er küßte seine beiden Handflächen und fuhr dann fort:

»Das ist ganz dasselbe, als ob ich diese Singhalesen geküßt hätte, so wie du den Knaben küßtest. Ich werde mir weder die Hände noch den Mund waschen, weil ich mich nicht verunreinigt habe, denn alle Menschen sind ja Brüder! Bist du nun mit mir zufrieden? Hat die Güte meines Islam jetzt nicht ebenso gesiegt, wie sie siegte, als ich den Amerikaner, welcher mich beleidigt hatte, nach dem Menahouse führte?«

»Nein!«

»Warum?« fragte er erstaunt.

»Weil beide Male etwas Anderes gesiegt hat.«

»Was?«

»Das darf ich dir nicht sagen, weil du es mir verboten hast.«

»Maschallah! Ich dir Etwas verboten? Dir? Das ist doch mehr, als zehn Unmöglichkeiten sind!«

»Du hast mir die Bedingung gestellt, nie von meinem Christentum zu sprechen.«

»Was hat das mit meinem Sieg zu tun?«

»Nicht dein Islam hat gesiegt, sondern mein Christentum.«

Er sah mich so verwundert an, daß ich erklärend fortfuhr:

»Wer hat damals und auch heute zu dir gesagt, daß du zwar Sejjid Omar seist, aber kein guter Mensch? Wer hat dich im Menahouse aufgefordert, den Amerikaner zu holen? Und wer hat dir heute durch einen Kindeskuß gezeigt, wie die Güte zu handeln hat, von welcher du soeben sprachst?«

Er senkte die Augen und ließ auch die Arme sinken, bei ihm das sichere Zeichen, daß er sich in Verlegenheit befand. Aber er wurde für diesen Augenblick der Antwort enthoben. Man brachte mir das Fremdenbuch, in welches ich mich einzuschreiben hatte. Ich überflog die Namen der vor mir gekommenen und noch nicht ausgestrichenen Fremden. Es waren mehrere Deutsche und Oesterreicher dabei. Von einem Schiffsarzte wußte ich, daß er mich kannte, und da ich mich an Niemand binden lassen und also gar nicht genannt sein wollte, so schrieb ich meinen Vornamen als Familiennamen ein und sagte dem Sejjid, als wir wieder allein waren, wie er mich hier, falls er gefragt werde, zu nennen habe.

»Und weißt du aber auch, Sihdi, wie du mich zu nennen hast?« sagte er kleinlaut.

»Nun, wie?«

»Omar el Gahil Omar, der Unwissende.. Ich sehe ein, was du gewiß schon längst bemerkt hast, nämlich, daß ich so dumm gewesen bin, deine Liebe für meine Güte und dein Christentum für meinen Islam zu halten. Willst du mir eine Bitte erfüllen?«

»Wenn ich kann, ja, gern.«

»Sprich immerhin vom Christentum mit mir, und erlaube mir, auch von ihm sprechen zu dürfen, wenn ich dich nach ihm zu fragen habe! Ich war in der letzten Zeit gar nicht zufrieden mit mir, daß ich damals im Kontinetalhotel diese Bedingung gestellt habe. Es raubt den Schlaf, wenn man gern Etwas wissen will und doch nicht davon sprechen darf.«

»Gut; wir wollen diese Bedingung also fallen lassen. Jetzt werden wir zwei Rickschahs nehmen und nach dem Gasthause fahren, wo du wohnen sollst.«

Da hob er die gesenkten Augen wieder empor und ließ ein frohes Lächeln sehen. Er fühlte, daß ich ihn nur deshalb nicht zu Fuße gehen ließ und sogar selbst mit fuhr, um ihm zu zeigen, daß ich nun wieder mit ihm zufrieden sei. Er ahnte gar nicht, daß er nur noch mit einem Fuße in der Moschee, mit dem andern aber schon auf dem Wege zur Kirche stand.

Als wir dann hinunter kamen und der Türsteher fragte, ob er nach Wagen oder Rickschah rufen solle, antwortete Omar in zwar höchst fraglichem Englisch, aber mit der ganzen, niederschmetternden Hoheit, die ihm möglich war:

»Wir brauchen nur zu winken. Von Euch übervorteilen lassen wir uns nicht!«

Er vermutete ganz richtig, daß jeder von den Hotelbediensteten besorgte Wagen höher zu bezahlen sei als einer, den man sich selbst besorgt. Ich hatte für dieses Mal gegen seine Eigenmächtigkeit nichts einzuwenden. Er hob zwei Finger in die Höhe, worauf zwei Rickschahmänner herbeigeeilt kamen. Ich stieg ein; er wartete, bis ich saß; dann nahm er auf der zweiten Platz, und zwar in einer Haltung und mit einer Miene, als ob er soeben das Grand Oriental-Hotel gekauft, bar bezahlt und an den ersten besten Bettler sofort wieder verschenkt habe.

Wir fuhren nach dem Pettah, die Straße, welche nach der Markthalle führt. Sie ist erst breit und licht, wird aber später eng. Kurz vor Mittag ist dieses sogenannte »schwarze Stadtviertel« sehr belebt. Es gab Stellen, wo man sich drängte; trotzdem fiel es unsern Rickschahleuten nicht ein, ihre Schnelligkeit zu mindern. Sie haben ein bewundernswertes Geschick, sich überall glücklich durchzuwinden. Aber als wir einen kleinen buddhistischen Pilgerzug erreichten, fielen sie in langsamen Schritt, um nicht zu stören, weil sie die Heiligkeit der Religion achteten, obgleich sie nicht Buddhisten, sondern Christen waren.

Diese Pilger kehrten vom indischen Festlande zurück, wo sie die altehrwürdigen Tempel von Thana, Garapori, Pandsch-Pandu und Adschanta besucht hatten, um Gott in ihrer Weise zu verehren, und zogen nun nach ihrem heimischen Tempel, weil sie es für eine Pflicht hielten, dem, an den sie glaubten, für seinen Schutz während dieser Reise zu danken. Sie taten das in der stillsten, unaufdringlichsten Weise. Ruhige bescheidene Menschen, die nicht das geringste Aufsehen mit ihrer Frömmigkeit erregen wollten! Als sie uns hinter sich bemerkten, wichen sie unaufgefordert nach der Straßenseite hinüber, um uns bereitwillig Platz zu machen. Also wurden wir an ihnen vorübergefahren, wobei ich nach meiner Gewohnheit freundlich grüßte. Ihre sauberen, teils sogar aus Seide gefertigten Anzüge bewiesen, daß sie keineswegs zur sogenannten »Hefe des Volkes« gehörten. Von einem Europäer gegrüßt zu werden, schien für sie beinahe ein Wunder zu sein. Sie staunten über diese ihnen so ungewohnte Höflichkeit und erwiderten meinen Gruß dann aber mit um so größerer Herzlichkeit und Freude.

Wir näherten uns einer Straßenkreuzung. Von jenseits kamen uns Rickschahs, Zebuwagen und dichtgedrängte Fußgänger entgegen; von links und rechts her flutete ein ähnlicher Verkehr, und hinter uns hörten wir plötzlich galoppierenden Hufschlag und ängstlich schreiende Menschenstimmen. Ich sah mich um. Es kam eine Schar Europäer geritten, Gentlemen, und auch einige Ladies dabei, mit wehenden Schleiern an den Tropenhelmen und Hüten. Sie ritten trotz des Gewühles beinahe Karriere, und zwar straßenbreit. Ich kannte die Art dieser von der Zivilisation bevorzugten Kaukasier, die sich um nichts Anderes als um sich selbst, am allerwenigsten aber um die gesunden Glieder tief unter ihnen stehender Völkerschaften kümmern. Da war weiter nichts zu tun, als sich zu salvieren. Wehe Dem, dem es nicht gelang, sich rechtzeitig seitwärts zu retten! Ich ließ schnell halten, stieg ab und sprang nach dem nächsten Hause, um mich an die Mauer desselben zu drücken. Der Sejjid folgte meinem Beispiele. Die beiden Rickschahmänner aber duckten sich hinter ihre Fahrzeuge nieder.

Es war die höchste Zeit gewesen, denn die Gentlemen und Ladies hatten den Pilgerzug erreicht, jagten ihn vor sich her und ritten lachend zu Boden, was nicht entfliehen konnte. In demselben Augenblicke bog eine Rickschah um die Ecke, auf uns zu, in unverminderter Schnelligkeit. Der Passagier schien Eile zu haben, und der vorgespannte Mann, ein Tamile, hatte von der Seitengasse aus die Reiter und Reiterinnen nicht sehen können. Er prallte mit ihnen zusammen und wurde niedergerissen und schwer verletzt; seine Rickschah stürzte um und brach ein Rad; die Herrschaften aber setzten ihren Weg unter lautem Gelächter fort. Der Passagier war unter das Fahrzeug geraten, arbeitete sich aber sehr schnell hervor und sah sich um. Ueberall an die Häuser gedrängte Menschen! Zwischen ihnen auf der Straße eine Menge gequetschter, getretener und beschädigter Personen, die sich unter Schmerzen wieder aufzurichten versuchten. Aber sonderbar! Man war so still dabei! Ich hörte keine einzige räsonierende Stimme! War das Ehrerbietung oder Vorsicht? Achtung oder Verachtung? Gleichgültigkeit gegen Schmerzen oder zum Schweigen gezwungene Verbitterung? Ich war mit Omar zu unsern Rickschahs zurückgekehrt. Der Passagier erkannte mich an der Kleidung als einen Europäer, kam zu mir herüber und sagte in englischer Sprache:

»Das ist eine geradezu unverzeihliche Rücksichtslosigkeit, die ich unbedingt bestrafen lassen werde! Ich muß diesen Menschen nach, um wenigstens einige von ihren Namen zu erfahren, weil die Anzeige sonst nutzlos sein würde. Wem gehören diese beiden Rickschahs?«

»Mir und meinem Diener,« antwortete ich.

»Wollen Sie mir die Ihres Dieners abtreten? Es ist keine andere in der Nähe.«

»Gern.«

»Komm nachher ins Hotel« befahl er dem Tamilen. »Du mußt entschädigt werden.«

Er bestieg Omars Rickschah und eilte den Uebeltätern nach. Den Eindruck, den er auf mich gemacht hatte, war der eines sehr energischen Herrn. Er trug einen, nun allerdings beschmutzten, Anzug vom feinsten, weißen, indischen Stoffe. Fast ebenso weiß war auch der Vollbart, welcher sein Gesicht umrahmte. Die Züge dieses Gesichtes hatten nichts, was auf seine Nationalität schließen ließ. Daß er einen nicht billigen und mit einem grauen Schleier umwundenen Panamahut trug, war noch kein Grund, ihn für einen Amerikaner zu halten.

Was nun tun? Wir waren zwei Personen zu nur einer Rickschah, und es war augenblicklich keine zweite, freie zu sehen. Ich wies Omar an, hier an dieser Stelle zu warten, da ich vorausfahren und ihn dann durch die meinige von dieser Stelle wegholen lassen würde. Dann stieg ich auf. Inzwischen hatten sich die Pilger wieder zusammengefunden. Die Unverletzten nahmen die Verletzten zwischen sich und gingen langsam an mir vorüber. Einer von den Beschädigten schien ein Bein gebrochen zu haben; er mußte getragen werden. Im Vorbeipassieren rief er mir zu:

»Sahib Herr., du bist auch ein Christ, wie diese waren; aber du reitest trotzdem keinen deiner Mitmenschen nieder. Unser Gott ist auch Euer Gott. Er segne dich!«

Als sie vorüber waren, fuhr ich nach dem Gasthofe, dessen Wirt mich zwar wieder erkannte, aber meinen Namen vergessen hatte, was mir nicht unlieb war, weil jetzt nur der Vorname gültig sein sollte. Er hatte Platz mehr als genug und nahm Omar, der sich auch bald einstellte, sehr gern bei sich auf.

Da ich heut eine Menge Briefe zu schreiben hatte und darum nicht ausgehen wollte, so gab ich dem Sejjid bis zum Abend frei; dann sollte er nach dem Hotel kommen und nachfragen, ob es vielleicht Etwas für ihn zu tun gebe. Bis dahin sollte er im Pettah nach alten Münzen und Merkwürdigkeiten, besonders aber nach Büchern suchen und mir dann sagen, wo so Etwas zu sehen und vielleicht zu kaufen sei. Er verstand zwar nichts davon, hatte mir aber schon öfters seine ungemeine Findigkeit für dergleichen Sachen bewiesen.

Hierauf kehrte ich nach dem Grand Oriental-Hotel zurück, speiste auf meinem Zimmer und machte mich dann über die angegebene Arbeit her. Dabei ging ich öfters hinaus auf den Söller, um die Raben zu füttern, welche ich von früher her kannte. Sie bevölkerten die Dächer und Bäume in Scharen und waren so zahm, daß sie sogar in das Zimmer kamen. Ihr beliebtester Trick war, die Butter, welche in Ceylon selten ist und aus Europa bezogen wird, so schön sauber vom Brote zu fressen, als habe ein Kind sie abgeleckt.

Am Nachmittage ging ein echt ceylonesischer Regen nieder: jetzt blauer, vollständig wolkenloser Himmel; plötzlich verdüstert er sich, doch ohne daß man massige Wolkenbildungen bemerkt. Das Wasser stürzt förmlich wie ein ausgeschütteter See hernieder. Dann wieder ebenso plötzlich heiterer Himmel. Diese Regenszene spielt sich oft innerhalb einer halben Stunde ab.

Als es dunkel wurde, was hier regelmäßig kurz nach sechs Uhr geschieht, kam Omar. Ich ließ ihn einige kleine Einkäufe für mich machen, dann konnte er wieder gehen. Er hatte auch schon die Tür in der Hand, als er wieder umkehrte, indem er sagte:

»Bald hätte ich vergessen, Sihdi, dich zu fragen, ob du heut vielleicht ein kleines Buch verloren hast.«

»Wo?«

»Da, wo wir standen, als die Soldaten kamen.«

»Ich habe kein Buch bei mir gehabt.«

»So muß ich es dem Baja Ladenbesitzer, Handelsmann. wiedergeben.«

»Welchem Händler? Du hast es mit?«

»Ja. Als du mit deiner Rickschah allein fortgefahren warst und ich warten mußte, sah ich den Baja aus seinem Laden kommen und ein kleines Buch aufheben, welches im Schmutz der Straße lag, ganz nahe an der Stelle, wo die zerbrochene Rickschah umgestürzt war. Der Händler hatte dich und mich stehen sehen und fragte mich, ob das Buch vielleicht dir oder mir gehöre, und ich sagte nein, weil ich ja Alles kenne, was du hast. Er mußte es also behalten. Als ich nun vorhin zu dir ging, mußte ich an seiner Tür vorüber. Er sah mich kommen und fragte mich, ob ich lesen könne, was in dem Buche stehe. Ich sagte wieder nein, weil es nicht arabisch war. Aber ich kam auf den Gedanken, es dir mitzunehmen, denn es war doch nicht ganz und gar unmöglich, daß es dein Eigentum sei. Oder wenn nicht, so steht vielleicht ein Name darin, der uns sagt, wem man es zu geben hat. Der Baja möchte wahrscheinlich gern einen Finderlohn haben. Darf ich es dir zeigen?«

»Natürlich!«

Es war ein in blaue Seide gebundenes, sichtlich vielgebrauchtes Damennotizbuch, auf dessen Vorderseite ich die beiden goldenen Buchstaben M.W. las. Das Gold war freilich fast verblichen. Beim oberflächlichen Durchblättern sah ich, daß es teils englisch und teils deutsch geschrieben war und Notizen über weibliche und häusliche Angelegenheiten enthielt, denen ich das, was ich wissen wollte, nicht entnehmen konnte. Am hintern Deckel des Einbandes war, wie in solchen kleinen Büchern fast immer, ein Täschchen angebracht. Es enthielt eine Photographie in Visitenkartenformat. Als ich sie herauszog, kam mir zuerst die hintere Seite vor die Augen. Da sah ich in weicher, schöner, regelmäßiger Frauenhandschrift und deutscher Sprache die Zeilen geschrieben:

»Zwei Geister streiten sich um Dich, ein guter und ein böser, der eine nur angeblich, der andre wirklich fromm. Heut bist Du wie der eine und morgen wie der andere. Gott gebe Dir und mir ein frohes Resultat!«

Die andere Seite enthielt das Bild der Schreiberin. Eine schöne, vielleicht vierzig Jahre zählende Frau, die mir bekannt vorkam, um so bekannter, je länger ich die Photographie betrachtete. Wo hatte ich diese warmen Seelenaugen geschaut, deren Blick unablässig um irgend Etwas zu bitten schien? Vielleicht bestand diese Bitte in den letzten der umstehenden Worte: »Gott gebe Dir und mir ein frohes Resultat!«

Als ich das Bild wieder in das Täschchen zurücksteckte, sah ich in der letzteren noch ein zusammengefaltetes Papier, augenscheinlich oft gebraucht. Ich nahm es heraus und faltete es auseinander. Man denke sich die Größe meines Erstaunens, als mein Blick auf die vier Zeilen fiel, welche der Wind der Tochter des Missionars in Kairo zugeweht hatte, nicht etwa in Abschrift, sondern das Original, von meiner Hand geschrieben!

Nun wußte ich auf einmal, daß die beiden Buchstaben den Namen Mary Waller zu bedeuten hatten. War sie etwa mit ihrem Vater hier in Colombo? Die Möglichkeit lag vor, weil sie die Absicht gehabt hatten, sich längere Zeit in Indien zu verweilen. Mochte das nun sein, wie es wollte, das Notizbuch war Marys Eigentum, und sie mußte es wiederbekommen. Hier im Hotel wohnten Wallers nicht; ich hatte ja das Fremdenbuch gelesen. Sie waren nun entweder im Galle Face-Hotel oder ganz draußen im Hotel Lavinia zu suchen, beide Häuser ersten Ranges: in einem anderen wohnten sie gewiß nicht. Ich beschloß also, das Buch zu behalten und morgen Erkundigung einzuziehen. Darum gab ich Omar für den Baja eine Rupie Finderlohn, fügte aber keine weitere Auskunft hinzu.

Als er gegangen war, mußte ich an jenes Erlebnis in Kairo und an den Pyramiden denken. Wir hatten uns im freundschaftlichsten Wohlwollen von einander getrennt, aber es war inzwischen eine ganze Reihe von Monaten vergangen; ich hatte viel, sehr viel erlebt und durfte annehmen, daß auch meine damaligen Gefährten neue Bilder in sich aufgenommen hatten, von denen die alten vielleicht verdrängt worden waren. Auch ist es eine alte, wohlbewährte Regel der Klugheit, Reisebekanntschaften wenn möglich nur als Episoden zu betrachten. Pflegt man sie später fort, wenn die Wanderpoesie verflogen und verklungen ist, so geschieht es nur zu oft, daß man es zu bereuen hat. Ich war zwar überzeugt, daß Waller und seine Tochter sich freuen würden, mich wiederzusehen, aber dieses Wiedersehen mußte ihn an frühere Schwächen erinnern, und das konnte ich ihm ersparen. Uebrigens, wenn ich sie fand, so war ich gezwungen, mich ihnen zu widmen, und es erschien mir sowohl für sie als auch für mich vorteilhafter, auf die persönliche Freiheit nicht so ohne zwingenden Grund zu verzichten.

Diese Betrachtungen brachten mich zu dem Entschlusse, Wallers, wenn sie hier sein sollten, nicht aufzusuchen, sondern ihnen das Buch auf einem anderen, unauffälligen Wege zuzustellen. Wie es auf die Straße im Pettah gekommen war, das brauchte nicht ein Rätsel zu sein, welches gerad ich zu lösen hatte.

Aber in Beziehung auf das Gedicht fühlte ich, daß mir die Finger nach der Feder zuckten. Der Wind hatte es Mary zugeweht. Wie würde sie sich wundern, wenn sie jetzt bei dem Anfange eine Fortsetzung von derselben Hand erblickte! Wie würde sie sinnen und nachdenken, auf welche Weise sich das zugetragen habe! Vielleicht öffnete sie nicht jetzt, sondern erst später, nach Monaten, nach langer, langer Zeit das Blatt; wie groß erst dann das Staunen!

Leider hatte ich damals das Gedicht nicht fertiggeschrieben, weil mir die Disposition nicht ganz klar erschienen war. Ich hatte das Sujet in vier Vierzeiler fassen wollen, war aber zu der Ansicht gekommen, daß die Fassung in zwei Achtzeiler sinnentsprechender sei. Der erste war fertig geworden, der zweite aber nicht, weil ich Anderes und Notwendigeres zu tun gehabt hatte. Aber das war ja vollständig hinreichend zu dem jetzigen Zwecke, die junge Freundin durch dieselbe Handschrift von demselben Verfasser zu überraschen. Ich glättete also die Falten des Papieres möglichst aus, probierte die hiesige Tinte, ob sie von derselben Schwärze sei, und fügte dann vier neue Zeilen hinzu, so daß die Strophe nun folgendermaßen lautete:

»Tragt Euer Evangelium hinaus, Doch ohne Kampf sei es der Welt beschieden, Und seht Ihr irgendwo ein Gotteshaus, So stehe es für Euch im Völkerfrieden. Gebt, was Ihr bringt, doch bringt nur Liebe mit, Das Andre alles sei daheim geblieben. Grad weil sie einst für Euch den Tod erlitt, Will sie durch Euch nun ewig weiter lieben.«

Eben war ich mit diesen Zeilen fertig, als sich im Nebenzimmer rechter Hand ein Geräusch vernehmen ließ. Es war bisher zu beiden Seiten so still gewesen, daß ich geglaubt hatte, die zwei benachbarten Räume seien unbesetzt; dies schien nun aber, wenigstens in Beziehung auf den einen, nicht der Fall zu sein.

Ich unterschied zunächst zwei Stimmen, welche sprachen. Es wurden Stühle gerückt und heraus auf den Söller geschafft. Da klangen die Worte natürlich deutlicher. Ich hörte Jemand sagen, und zwar in englischer Sprache:

»Also mein letzter Abend in Indien, speziell auf Ceylon! Wie freue ich mich, daß ich diese lange und gefährliche Arbeit zum Abschlusse gebracht habe und nun die Heimat wiedersehen darf!«

Wenn ich mich nicht irrte, so kannte ich diese Stimme. Ich hielt sie für diejenige des graubärtigen Herrn, welcher unter die Rickschah des Tamilen geraten war. Er hatte zwar nur wenige Worte mit mir gesprochen, aber ja erst heut, also vor so kurzer Zeit, daß mir der Klang seines Organes noch nicht wieder verloren gegangen war.

»Und dieser letzte Tag auch nicht ganz ohne Gefahr,« bemerkte der Andere. »Unter die Hufe der Pferde zu geraten, das hätte schlimmer enden können, als es glücklicherweise ausgefallen ist!«

»Das ist nicht zu bestreiten, obgleich ich nur unter die Rickschah, nicht aber unter die Hufe der Pferde geraten bin wie die Eingeborenen, die ich verletzt auf der Straße liegen sah. Soll es etwa so weit kommen, daß schließlich der ganze Orient unter den Hufen des Occidentes liegt? Fast scheint es so? Ueberall, wohin ich hier gekommen bin, habe ich zwei dunkle, unheilvolle Mächte an der Arbeit gesehen, diese nichts weniger als christliche Aufgabe zu vollenden, nämlich die religiöse Ueberhebung und den nationalen Hochmut. Wer da behauptet, Gott sei so haarspaltend und pedantisch, daß er nur die weiße Hautfarbe liebe und auf einer ganz bestimmten Art und Weise des Händefaltens bestehe, der lästert ihn, denn er setzt ihn tief unter den gewöhnlichen Durchschnittsmenschen herab. Solche Sünder gegen die Völker- und Menschenrechte gehören eigentlich unter Gewahrsam, weil sie gemeingefährlich sind, und darum freut es mich, daß es mir gelungen ist, die Namen der sogenannten zivilisierten ›Herren‹ und ›Damen‹ zu erfahren, welche sich ein Vergnügen daraus machten, der anderen Rasse zu zeigen, was eigentlich ›Rasse‹ ist. Ich habe ihre Bestrafung gefordert, und der Gouverneur versprach sie mir. Hoffentlich läßt er sich durch meine Abreise nicht verleiten, die Untersuchung einschlafen zu lassen! – Setzen wir uns! Wir haben noch Zeit bis zum Diner, und ich liebe es nicht, der Erste an der Tafel zu sein.«

Die Stühle draußen knackten; es trat eine Redepause ein. Also meine Vermutung bewahrheitete sich; es war der graubärtige Herr, welcher, wie seine Aufforderung zum Setzen erraten ließ, der jetzige Besitzer des Nebenzimmers und also mein Nachbar war.

»Diese lästigen Abschiedsbesuche,« seufzte er. »Immer und immer in full dress, sogar beim Essen! Ungesund und zeitraubend!«

Diese Worte waren für mich scheinbar nebensächlich aber auch nur scheinbar. Da der heutige Abend sein letzter hier auf Ceylon war, so reiste er also morgen ab, und ich folgerte: Er war den Reitern nachgeeilt und dann, während ich mich noch im Pettah befand, in das Hotel gegangen, um für den Gang zum Gouverneur den Gesellschaftsanzug anzulegen. Später hatte er Abschiedsvisiten gemacht und saß nun mit irgend einem Bekannten drüben in seinem Zimmer, um die Zeit bis zum Abendessen zu verplaudern.

Das Gespräch, welches ich nun zu hören bekam, handelte von den Erlebnissen und Erfahrungen, wel che er in Indien gemacht hatte. Er schien Gelehrter, speziellen Berufes, wahrscheinlich Arzt, zu sein und war von Amerika nach dem Oriente gekommen, um die Krankheiten, besonders die Pest, zu studieren. Sein Aufenthalt im Morgenlande hatte fast zwei Jahre in Anspruch genommen, und das, was ich hörte, überzeugte mich, daß seine Studien sich nicht nur auf die materiellen, sondern auf die geistigen Verhältnisse der betreffenden Völker erstreckt hatte. Er war ein sehr scharfsinniger, kluger Mann und dabei ein vorurteilsloser, edel denkender Menschenfreund. Er sprach zuweilen Worte, für welche ich ihm hätte die Hand herzlich drücken mögen.

»Es ist für den Westen gefährlich, sich den Osten als abgetan zu denken und seine Völker als untergehende Nationen zu bezeichnen,« sagte er. »Die Bibel erzählt, daß der Garten Eden im Morgenlande gelegen habe. Die Flüsse dieses Paradieses sind nicht nur für die sogenannten Auserwählten Gottes, sondern für alle Welt geflossen; aber der Mensch, welcher in das Eden gesetzt wurde, es zu pflegen, zu bebauen und seinen Nachkommen zu erhalten, vergaß nur allzu bald, daß dies eine Aufgabe sei, die ihn zwar zum Pfleger, aber nicht zum Herrn des Paradieses machen sollte. ›Er wollte sein wie Gott!‹ sagt die heilige Schrift; das heißt, er wollte bestimmen, ohne nach den göttlichen Gesetzen zu fragen. Der Herr warnte ihn, warnte ihn in seiner Güte nur durch das kleine Verbot eines Apfels, welchen stehen zu lassen bei der unendlichen Früchtefülle des Gartens so leicht war und gar keine Selbstüberwindung kostete. Aber der allbegehrliche Mensch wollte nun gerade diesen, und – – – er hat ihn genommen. Doch diese Habsucht, welche in ihrer Grenzenlosigkeit trotz ihres unendlichen Reichtums nicht auf einen einzigen, kleinen Apfel verzichten, sondern den rechtmäßigen Herrn um Alles bringen wollte, hat sich durch ihre ungehorsame Begehrlichkeit selbst um Alles gebracht; sie bezahlte den einen Apfel mit dem ganzen Paradiese. Das ist die Geschichte des Sündenfalles in Beziehung auf das ganze Menschengeschlecht, auf die Nationen und auf jeden einzelnen Menschen.«

Er hielt inne; der Andere sagte nichts. Es schien mir, als habe der Schluß der Rede nicht das gebracht, was der Anfang versprochen hatte; da aber fuhr der Sprecher fort:

»Jedes Volk hat nicht nur das Recht, sondern auch die volle Kraft, sich auszuleben. Und jedes Volk hat die heilige Pflicht, andere Völker sich ausleben zu lassen. Aber der Teufel der Hab- und Selbstsucht, welcher sich in das Paradies eingeschlichen hatte, um den Menschen aus dem Glücke desselben heraus in das von ihm selbst beherrschte Elend zu locken, hat nicht bloß diesem einen Kain gegen diesen einen Abel die Keule in die Hand gedrückt, sondern ist, zum Brudermorde reizend, an den Thronen und in den Hütten aller Zeiten und aller Völker ein finsterer Gast gewesen und schleicht sich auch durch unsere Gegenwart. Und wie es das Heiligste auf Erden, die Verehrung Gottes war, aus welcher damals die egoistische, liebeleere Faust des Mörders den scheinbaren Grund zu dem Verbrechen zog, so hat von Anfang an bis auf den heutigen Tag jeder Opfernde seinen Altar für den einzigen gehalten, der Gott gefallen müsse. Wo sind die Stätten, deren wohlgefälliger Opferduft geradeauf zum Herrn gestiegen ist? Und wer zählt die angeblichen heiligen Orte, deren schwerer, dunkler Rauch nicht zum Himmel steigen konnte, sondern verderbenbringend weithin auf die Länder fiel? So lange die Erde steht, hat das Heilige dem Unheiligen, die Menschenliebe der Eigensucht, die Zivilisation der Rücksichtslosigkeit als Vorwand gedient, und ich suche vergeblich nach einem sanften, frommen Abel unter den Völkern, den nicht irgend ein Kain gehindert hätte, sich auszuleben. Wer kann die materiellen Summen und die geistigen Reichtümer berechnen, welche für die Menschheit ungehoben blieben, weil Kulturformen von der Erde verschwunden sind, welche nicht nur trotz, sondern gerade wegen ihrer Eigenart für die Allgemeinheit gewiß unermeßlich viel geleistet hätten, wenn es ihnen erlaubt worden wäre, sich bis zur Vollendung ihrer Aufgabe zu entwickeln!«

Er machte jetzt wieder eine Pause, welche der Andere nicht schweigend vorübergehen ließ, denn er sagte, und zwar in einem Ton, dem ich es anhörte, daß er dabei lächelte:

»Ihr Lieblingsthema, lieber Professor! Aber mehr für zartfühlende Frauen als für uns Männer, die wir mitten im rücksichtslosen Leben stehen, welches uns zwingt, uns zu wehren, weil wir eben auch den Wunsch haben, uns ausleben zu dürfen. Wenn Sie in dieser Weise sprechen, ist es mir, als ob ich Miß Mary, Ihren Liebling, vor Ihnen sitzen sähe, um Ihrem Völkerevangelium gerade ebenso zu lauschen, wie einst eine andere Mary zu den Füßen eines anderen und, wenn Sie gestatten, größeren Meisters saß, um ihm zuzuhören.«

»Ja. Fügen Sie aber auch hinzu, daß dieser Meister, Christus, zu der Schwester dieser Mary sagte: ›Mary hat den besten Teil erwählt; der wird nicht von ihr genommen werden!‹ Mary Waller ist körperlich die Tochter ihres Vaters, seelisch das Kind ihrer Mutter, geistig aber das meinige, und ich bin stolz darauf, daß sie das ist. Wollen Sie mir entschlüpfen, indem Sie von ihr sprechen?«

»O nein. Sie wissen ja, daß auch ich zuweilen über solche Dinge nachdenke, wenn ich dabei auch nicht zu denselben Schlüssen komme wie Sie. Für mich sind, wie auch jeder einzelne Mensch, die Völker abgetan, sobald sie nichts mehr leisten.«

»Der einzelne Mensch auch?«

»Ja«.

»Darf Ihr Arbeiter schlafen?«

»Welche Frage! Natürlich, ja!«

»Aber er leistet doch nichts, während er schläft!«

»Er wird, wenn er heut Abend schlafen geht, dann morgen um so mehr leisten, je besser er geschlafen hat. Er holt sich vom Schlafe neue Kräfte.«

»Well! Auch Völker schlafen. Ihr Schlaf währt freilich länger als nur eine Nacht, und wer die Notwendigkeit dieses Schlafes nicht begreift, der kann leicht versucht sein, ihn für den Tod und sie für abgetan zu halten. Aber diese schlafenden Völker wachen wieder auf, wenn ihnen der Atem nicht genommen wird. Sie haben während der Ruhe neue Kraft gesammelt, und wenn ihr Morgen kommt, dann wehe dem, der sie für tot gehalten und sich als lachender Erbe in ihren Rechten eingenistet hat! Ich meine, daß man besonders hier im Oriente vorsichtig zu sein habe. Es gibt da schlafende Riesen, welche man, wenn auch nicht für schon tot, ober doch für sterbend hält. Wenn ein Schlafender zuweilen eines seiner Glieder bewegt, soll man das nicht für Todeszuckung halten. Ein solcher Riese ist der Islam. Er schläft, und darum sehen wir an ihm nur das, was wir positives, unwillkürliches Leben nennen. Wir dürfen ihn berühren, seinem Kopfe, seinem Arme, seiner Hand vorsichtig eine andere Lage geben. Wenn wir keine Mörder sind, wird er erwachen, unbedingt erwachen, und es steht bei uns, ob dieses Erwachen ein freundliches, friedliches sein wird oder nicht. Die Seele kehrt am Morgen in den Körper zurück, mit ihr das Leben aller seiner Glieder, das Selbstbewußtsein und der Wille mit dem Tatendrang. Der Islam ist das Medium der Seelen aller Völkerschaften, die sich zu ihm bekennen. Die Glieder dieses Riesenleibes ruhen jetzt; sie verhalten sich passiv. Wer hat Mut, ihn durch irgend eine Gewalttat aufzuwecken?«

»Ich nicht!« scherzte der Andere. »Lassen wir ihn schlafen, bis er von selbst erwacht. Er wird sich dann freilich sehr verwundert die Augen reiben, wenn er bemerkt, daß er, die Majestät von Muhammeds Gnaden, inzwischen Christ geworden ist. Halten Sie Buddha, Tao, Lao und Konfucius vielleicht auch für solche Schläfer?«

»Nein, denn in keiner der von ihnen gelehrten Anbetungsformen liegt die Aggressivität, welche dem Christentum und dem Islam eigen ist. Hier liegt die Gefahr für uns nicht auf dem eigentlich religiösen Gebiete. Es handelt sich um den friedlichen Ausgleich zweier ganz verschiedener, in vielen Beziehungen heterogen entwickelter Menschenrassen, der weißen und der gelben. Die rote haben wir glücklich hingemordet, denn was von ihr noch übrig ist, das sind nur noch die letzten, ersterbenden Hauche einer vierhundert Jahre langen, ununterbrochenen Todesklage. Aber für die gelbe Rasse wird uns die Weltgeschichte keinen Kortez und keinen Pizarro liefern, und das ist ein Glück für uns, denn diese Weltgeschichte ist zwar langmütig aber auch unerbittlich gerecht, und das Land, in welchem einst ›die Sonne nicht unterging‹, ist durch den Fluch, der auf den Taten seiner einstigen Konquistadoren ruht, und trotz aller seiner berühmten ›Silberschiffe‹ so klein und arm geworden, daß es weder Raum noch trockenes Brot und Wasser für die wenigen noch lebenden Indianer haben würde. Ein gewaltig ernstes Menetekel für uns, die wir uns eben unterfangen, den Besitz der gelben Rasse unter uns aufzuteilen! Es steht im Buche des Schicksals geschrieben, daß wer China erobern will, der muß Chinese werden. Es gibt in dieser Rasse ein Ferment, dem keine Rasse widerstehen kann. Sie wird jeden Feind assimilieren, und wer mit ihr verkehren, dabei aber dieser Aufsaugung entgehen will, der muß beherzigen, daß es nur ein einziges Mittel gibt, nämlich Freund anstatt Feind zu sein!«

»Welch ein Glück für unsern Freund Waller!« erklang es wieder scherzend. »Er wird nicht assimiliert, denn er kommt ja doch als Freund!«

»Irren Sie nicht! Der Chinese schätzt seinen Glauben nicht niedriger ein als wir den unserigen; ja, in Beziehung auf seine mehrtausendjährigen Sitten und Anschauungen wird er uns trotz aller sonstigen Ueberlegenheit doch nicht anders als nur Barbaren nennen. Er wird Jeden, der zu ihm kommt, um ihm für seine Religion eine andere anzubieten, für einen Dummkopf halten, und wenn dieser Ignorant bei seinem Vorsatze bleibt, so ist bis zur Feindschaft nur ein kleiner Schritt. Dazu kommt leider Wallers krankhafte Eigenart. Er ist erblich belastet.«

»Ihre alte Meinung, lieber Professor! Ich aber halte ihn zwar für außerordentlich nervös, doch nicht für geisteskrank.«

»Das habe ich auch nicht gemeint. Erblich belastet kann man auch in anderer als nur ärztlicher Beziehung sein. Erblich belastet ist für uns der Chinese in Hinsicht auf seinen Ahnenkultus, den er von den Vorfahren geerbt hat. Erblich belastet für den Chinesen ist Waller bezüglich seiner religiösen Unduldsamkeit, welche jedem Gliede seiner Familie seit Generationen anerzogen worden ist. Hält er doch sogar jeden Christen, der nur im Geringsten anders denkt oder glaubt als er, für ewig verdammt und verloren! Auf religiöse Kontroversen sich mit ihm einzulassen, ist geradezu unmöglich, weil er jede andere Meinung als Beleidigung behandelt. Und dabei gehört sein Christentum nicht einmal einem gewissen kirchlich abgegrenzten Bekenntnisse an, sondern es beruht auf den Lehrsätzen, welche sich in seiner Famile nach und nach herausgebildet haben und von den Eltern auf die Kinder vererbt worden sind. Dazu kommt, daß er seinem Vater hat versprechen müssen, Missionar zu werden, um durch die Verbreitung dieser religiösen Familientraditionen möglichst viele Heiden zu bekehren und dadurch für sich und seine Vorfahren bei Gott ein Verdienst zu erwerben, welches ihnen im Jenseits angerechnet werden muß.«

»Vorfahren? Das grenzt ja an den chinesischen Ahnenglauben!«

»Natürlich! Und doch wettert er so gegen ihn! Seine verstorbene Frau, eine wahre Engelsseele, milderte, so viel sie konnte. Sie hätte ihn, wenn sie am Leben geblieben wäre, wohl nicht nach China gehen lassen. Es ist ihm gelungen, durch Verbreitung jener religiösen Traditionen so eine Art von Sekte um sich zu bilden, zu welcher sehr reiche Leute gehören. Diese haben es für ein Gott wohlgefälliges Verdienst gehalten, ihn nach dem Tode seiner Frau mit den nötigen Mitteln zum Beginnen seines Missionswerkes auszustatten. Diese Mittel sind so ansehnlich, daß sie ihm sogar erlaubt haben, vorher eine Rekognoszierung durch den Orient vorzunehmen. Als mir seine Tochter das schrieb, war ich auch schon hier im Morgenlande. Später teilte sie mir ihre Abreise mit, und wir bestimmten ein Rendezvous in Cambay, wo wir uns auch glücklich trafen. Sie ist in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten, mit der ich, der Nachbar und entfernt Verwandte, sie erzogen und unterrichtet habe, und ich hoffe für ihn gute Wirkung davon, daß er sie mitgenommen hat. Uebrigens scheint er in neuerer Zeit einen Anstoß erhalten zu haben, seine Lehrsätze nicht so, wie früher, für absolut unfehlbar zu halten. Mary sprach aus Rücksicht auf den Vater nicht davon, und so unterließ ich es, mich zu erkundigen; aber sie unterhielten sich oft von einem Deutschen, mit dem sie in Kairo zusammengetroffen sind. Mit ihm und zwei Chinesen haben sie wiederholt Ausflüge gemacht, und ich glaube, aus ihren Bemerkungen schließen zu dürfen, daß es diesem Germanen gelungen ist, wahrscheinlich aber ohne daß er es beabsichtigt hat, den Vater zu vermögen, über seine religiöse Starrheit nachzudenken. Er kann zwar grad noch so aufbrausend und absprechend wie früher sein und genau noch so gegen heidnische Tempel und Säulen wettern, aber plötzlich wird er still, sinnt nach, und dann kommt eine weiche, friedliche, menschenfreundliche Bemerkung, die aus diesem Munde früher eine Unmöglichkeit gewesen wäre. Ich habe mein Möglichstes getan, diese Augenblicke zu benützen, ihn für solche gute Stimmungen empfänglicher zu machen, glaube aber nicht, viel gewirkt zu haben, da wir uns so bald wieder trennen mußten.«

»Sind sie dann direkt nach China?« hörte ich den Zweiten fragen.

»O nein. Er ist ja Herr seiner selbst und Missionar aus eigener Machtvollkommenheit. Darum kann er reisen, wann, wie und wohin er will. Sein nächster Zweck war, Indien kennen zu lernen und quer durch das Land nach Kalkutta zu gehen. Dort angekommen, hat er mir geschrieben. Der Brief wurde mir nachgeschickt; ich habe ihn heut erhalten. Er wird noch einige Touren an der Ostküste unternehmen und bittet mich, ihm meine Antwort nach Penang zu senden. Ich hatte heut nicht Zeit, zu schreiben, muß es aber dann nach dem Diner gleich tun, denn ich habe Mary ihr Notizbuch zu schicken, welches – – ach, ja, ich habe es nicht hier in diesem vertrackten Salonanzuge, sondern dort in der Brusttasche des Jacketts. Als sie mich zum letzten Male besuchte, notierte sie sich Etwas und vergaß dann, es mitzunehmen; ich fand es zwar später, doch waren sie schon abgereist. Horch! Klang da nicht das Gong?«

»Ja. Man giebt das Zeichen zum Essen.«

»Wir können noch warten!«

Sie verweilten sich noch einige Zeit, doch kam das durch den Tamtam unterbrochene Gespräch nicht wie der auf denselben Gegenstand. Und das war mir sehr lieb, denn wenn Mary Waller wieder erwähnt wurde und dieser Professor abermals an das Notizbuch dachte, so konnte er auf den Gedanken kommen, es aus dem Jakett zu nehmen, in welchem es ja nicht mehr steckte.

Es war ein ganz eigentümliches Zusammentreffen von Umständen, welche sich so miteinander verbanden, als ob ein bestimmter Wille sie gerade so gelenkt hätte und nicht anders hätte lenken wollen. Man pflegt das Zufall zu nennen; für mich aber ist diese Verlegenheitserklärung nicht vorhanden. Der Mensch glaubt, zu schieben, und er wird geschoben. Tritt ihm ein Ereignis nahe, welches er nicht selbstgefällig auf seine eigene Rechnung setzen kann, obwohl sich später zeigt, daß es von großem Einfluß auf sein Leben ist, so geniert es ihn, einzugestehen, daß hoch über ihm eine weise, mächtige Führung waltet, welche ihn nicht um die Erlaubnis fragt, mit ihm tun zu dürfen, was sie für richtig hält, und so hat er das vollständig nichtssagende und inhaltslose Wort Zufall erfunden, mit welchem er zwar seine Ohnmacht eingesteht, weil er nicht anders kann, aber auch keine ihn beherrschende und bewußt handelnde Potenz anerkennt. Mein Leben ist sehr reich an solchen sogenannten Zufällen, welche sich später als für mich außerordentlich wichtig erwiesen, und wenn ich dann auf sie zurückblickte, so entdeckte ich, daß sie mit einer logischen Folgerichtigkeit an mich herangetreten waren, die mich als denkenden Menschen zwang, sie nicht einem willenlosen, blinden Ungefähr, sondern einer außerhalb mir und jenseits dieser Tatsachen existierenden, unendlichen Güte zuzuschreiben. Darum war auch das Ineinandergreifen der gegenwärtigen Umstände kein Zufall für mich, sondern ich nahm diese Tatsachen mit der Ueberzeugung hin, daß sie sich ganz gewiß als jetzige Ursachen späterer Folgen erweisen würden.

Das, was der Professor über Waller gesagt hatte, erklärte mir Alles, was mir an dem Letzteren bisher unverständlich gewesen war. Der Missionar besaß nicht das wahre, echte, allgemeine, sondern ein ganz besonderes persönliches Christentum, welchem gerade deshalb, weil es ein individuelles, durch scharfe, psychologische Konturen eng begrenztes war, die Hauptsache, nämlich die Nächstenliebe fehlte, ohne die es ja gerade das nicht geben kann, was das Christentum der Menschheit bringen soll, nämlich die Erlösung. Waller hatte die Vokation zum Glaubensboten sich selbst erteilt, ohne dazu berufen und geeignet zu sein, und die Lehren Christi ebenso wenig begriffen wie die Unklugheit der Forderung, daß jeder Andersdenkende weiter nichts zu sagen habe als: »Vergieb mir nur, du einzig Auserwählter, daß ich auch vorhanden bin!« Wer sich in dieser Weise mit einer so hohen Mauer umgibt, daß er sie selbst nicht übersteigen kann, der darf nicht erwarten, daß Andere sich die Mühe machen werden, über sie hinweg zu ihm zu kommen. Wer sich mit solcher Ostentation abschließt, wird abgeschlossen bleiben!

Nun wußte ich, wie das Notizbuch auf die Straße des Pettah gekommen war. Es hatte in der Brusttasche gesteckt und war während seines Sturzes von der Rickschah herausgerutscht. Wie bequem für mich, daß er gerade neben mir wohnte! Ich konnte es ihm unbemerkt wieder in die Tasche stecken und hatte gar nicht nötig, zu diesem Zwecke zu versuchen, über den Söller in sein Zimmer zu gelangen. Die Dienerschaft pflegte nämlich, sobald ein Gast seinen Raum verlassen hatte, die Korridortür desselben mit Hilfe einer besondern Vorrichtung so halboffen einzuhaken, daß die Luft hindurchstrich und das Zimmer kühlte. Auf diesen Umstand rechnete ich. Ich wartete, bis er mit seinem Besuche zum Essen hinuntergegangen war; dann klingelte ich, um mir das Diner heraufbringen zu lassen. Meine Singhalesen rannten alle beide fort, um für gleichen Dienst dann gleiches Trinkgeld zu bekommen, und ich war also nun unbeobachtet. Ich trat hinaus auf den Korridor, auf dem sich jetzt Niemand befand, hakte die Nachbartür aus und sah beim Scheine des in dem Hotel gebräuchlichen, im Zimmer brennenden Windlichtes das weiße Jackett am Nagel hängen. Es genügten drei Schritte; ich steckte das Notizbuch in die Brusttasche, eilte hinaus, hakte die Tür wieder ein und kehrte in meine Stube zurück. Niemand hatte Etwas gesehen.

Als der Professor nach Tische wieder heraufkam, war er allein. Er ging einige Male hin und her; dann wurde es still. Er schrieb wahrscheinlich. Ich vermied jedes Geräusch, damit er glauben möge, daß er unbeobachtet sei. Am nächsten Vormittage hörte ich ihn abreisen. Ich ließ mir die Zimmerliste geben und las: Garden, Professor, Amerika. Es war so eigentümlich, fast als sei ein lieber Bekannter von mir fortgegangen. Seine Ansichten waren zwar nicht ganz die meinigen gewesen, ihnen aber doch sehr nahe verwandt, und geistige oder seelische Verwandtschaft ist ein Band, welches nie zerreißt, auch wenn man es nicht pflegt.

In den nächsten Tagen unternahm ich Ausflüge zu Land und zu Wasser, teils um Erinnerungen aufzufrischen, teils auch um neue hinzuzufügen. Sie waren alle hochinteressant; hier aber habe ich nur einen von ihnen zu erwähnen: Ich fuhr mit Sejjid Omar mit der Bahn nach Point de Galle, dem mir unvergeßlichen Schauplatze einer meiner früheren Reiseerzählungen, in welcher ich auch das dortige Hotel Madras erwähne.

Die Bahn geht längs des Meeres, oft auf einem im Wasser liegenden Damme hin, welcher durch Korallenklippen vor Ueberflutung und Zerstörung geschützt wird. Rechts hinaus liegt die entweder blau träumende oder beweglich funkelnde See, die ich hier nie in Erregung gesehen habe, und links die Küste mit dem tiefen Grün ihrer herrlichen Vegetation, aus welcher einzelne Häuser oder zusammenhängende Dorfschaften mit fremdblickenden, verwunderten Augen auf den vorüberrollenden Zug schauen. Die Pflanzenwelt prangt hier in fast noch größerer Ueppigkeit, als drüben auf dem ostindischen Festlande. Bambusgruppen, Jack- und Brotfruchtbäume, riesige Bananen und volltragende Feigen, gelblich leuchtende Pisonien, Borassus-, Caryota-, Corypha-, Calamus- und Arecapalmen bilden die Unterbrechung von Kokospflanzungen, welche kein Ende nehmen. Die dazwischen liegenden Häuser der Wohlhabenden sind mit blumengeschmückten Veranden versehen; der Aermere lebt in einfachen Ziegel- oder Lehmhäusern, deren Dächer meist aus Palmblättern bestehen. Auch diese Wohnungen sind von Gärten umgeben und machen den Eindruck der Sauberkeit, welcher für Jeden, der aus mit Arabern bevölkerten Gegenden kommt, doppelt angenehme Wirkung hat.

Die Eingeborenenstadt von Point de Galle liegt im Niveau der See; die Europäerstadt zieht sich über die hohe, luftige Klippe nach dem wieder tiefer stehenden Leuchtturm hin. Von dem noch oberhalb der Kirche liegenden Hotel aus konnte ich den ganzen Hafen mit den hier ankernden Schiffen fast aller seefahrenden Nationen überblicken. Ich habe Point de Galle und seinen Hafen schon wiederholt beschrieben und will hier nur sagen, daß sich eine Fahrt von Colombo nach diesem Ort und Matara fast überreich belohnt.

Mein diesmaliger Aufenthalt währte nicht länger als von heute früh bis morgen abend, also nur eine Nacht, und diese Nacht war keine angenehme. Da ich gern hoch, frei und licht wohne, wählte ich ein Zimmer in der zweiten Etage, während ich Sejjid Omar in der ersten unterbringen ließ. Die Räume hier oben hatten die Eigentümlichkeit, daß ihnen die Decken fehlten; das Hausdach, welches noch hoch über sie emporstieg, schützte sie gemeinschaftlich vor dem Regen, und da die Zwischenwände diesem Dach nicht folgten, sondern in etwas über Manneshöhe aufhörten, so konnten sich die Bewohner dieser Etage zwar nicht sehen, aber Alles, was in dem einen Zimmer gesprochen wurde und ebenso jedes Geräusch und jeder andere Schall fiel von dem hohen Dache mit verdoppelter Stärke in die andern Räume zurück, so daß es fast nicht möglich war, ein lautes Wort zu sagen oder irgend etwas Hörbares zu tun, was Niemand wissen sollte. Man wohnte da, wenigstens in Beziehung auf das Ohr, in vollster Oeffentlichkeit.

Ich aß auch hier, wie fast stets im Hotel, auf mei nem Zimmer, bekümmerte mich um Niemand und wußte also nicht, was für Gäste noch vorhanden waren. Doch erfuhr ich von Omar, daß eine Anzahl von Europäern per Segelschiff von Pondichery angekommen seien, welche mit der Bahn nach Colombo wollten.

»Das sind keine höflichen Leute,« urteilte er. »Ich habe sie gegrüßt, aber sie dankten nicht, sondern lachten mich aus. Muhammed hat den Gruß geboten, und so grüße ich alle Menschen, auch die, welche nicht Muhammedaner sind, denn gerade weil ich einer bin, muß ich zeigen, daß wir höflich sind. Wenn diesen Leuten ihr Christentum befiehlt, mich auszulachen, anstatt mir zu danken, so sollten sie daheimbleiben und nicht dahin gehen, wo der Gruß geachtet wird.«

Ich sagte nichts dazu, denn er liebte gewisse Leute nicht, und ich fühlte mich nicht berufen, über diese seine Abneigung mit ihm zu streiten.

»Sihdi, was heißt im Englischen tail?« fuhr er fort.

»Schwanz und auch Zopf.«

»Ape und monkey?«

»Affe.«

»So haben sie einem Chinesen nachgerufen, welcher hier wohnt und auch höflich grüßte, als er an ihnen vorüber und nach seinem Tische ging. Wenn sie mich oder einen Andern beleidigen, so bin ich still, weil ich eben Sejjid Omar bin; aber hätten sie das dir getan, so dürften meine Fäuste wohl gute Arbeit bekommen haben!«

Was diese seine Fäuste betraf, so mußte man Respekt haben. Er war nichts weniger als ein Losschläger, aber ein riesenstarker Kerl und kannte keine Furcht. Wo es Krakehl gab, da entfernte er sich stolz; aber es war auch vorgekommen, daß man ihn nicht gehen ließ, und da hatte er sich, ohne die Gegner zu zählen, mit einigen guten Hieben prächtig Luft gemacht.

»Es muß ein Mann hier wohnen, welcher Kun-Yen Der chinesische Kaiser. heißt,« sprach er weiter. »Auch ein gewisser Tuan Der Vater des chinesischen Thronfolgers. und ein Anderer, dessen Name Yung-lu Der Oberfeldherr der Chinesen. ist. Es ist eine große Prügelei, welche beginnen soll. Sie sprechen davon; sie lachen; sie freuen sich und trinken Wein und Schnaps dazu. Es geht mich nichts an, gar nichts; aber meinst du nicht, Sihdi, daß ich diesen Kun-Yen aufsuchen und warnen soll?«

»Er wohnt nicht hier. Du hast diese Leute nicht richtig verstanden. Gehe ihnen aus dem Wege! Das ist das Beste, was du tun kannst,« belehrte ich ihn lächelnd.

Da ich früh einen Ritt nach Paragoda machen wollte, so legte ich mich zeitig schlafen. Aber ich hatte kaum die Augen geschlossen, so kam es die Treppe herauf gepoltert und gebrüllt, als ob die Stiegen lauter Tamtams wären. Es hatte den Leuten unten nicht mehr gefallen; sie kamen herauf in meine Etage, wo sie zusammen zwei Zimmer mit je drei Betten hatten. In dem, welches neben dem meinigen lag, setzten sie sich fest. Sie feierten irgend ein Ereignis, über welches sie in Wonne geraten waren. Der Wirt mußte Champagner und Cognac bringen und sie selbst bedienen, denn sie seien Gentlemen, für welche die singhalesischen oder tamilischen Kellner nicht hoch genug ständen; aus solchen Händen könne man nichts genießen.

Ich weiß gar wohl, daß die sogenannten »Pioneers der Civilisation« nicht immer zur Elite der Gesellschaft gehören, und daß man besonders in den Hafenstädten des Orients nicht erwarten darf, nur auf geistige Nachkommen von Knigge zu stoßen; es flegelt sich sogar in den Salons und auf den Promenadendecks erster Klasse unserer Lloyddampfer so mancher Passagier herum, der seinem rücksichtslosen Benehmen nach eigentlich auf das Zwischendeck gehört, und es kann vorkommen, daß, während ich ein vorüberrauschendes Schiff betrachte, eine Dame sich gerade so und in der Weise vor mich hinstellt, daß sie mich auf beide Füße tritt, obgleich mehr als genug Platz zu beiden Seiten ist; auch weiß ich gar wohl, daß die meisten dieser gesellschaftlichen oder ungesellschaftlichen Gepflogenheiten aus einer ganz bestimmten Gegend stammen und dort großgezogen werden; aber es kann mir doch nicht einfallen, aus dem Grunde, daß einzelne Personen sich für Uebermenschen halten, deren ganzes Volk als Uebernation zu betrachten, sondern ich weiß, daß sie wie jede andere und auch die unserige ein Recht auf Nachsicht und Verzeihung hat, und pflege diese Milde besonders gern an ihren Uebermenschen auszuüben, weil sie ihrer am bedürftigsten sind. Darum war ich auch jetzt entschlossen, den Lärm im Nebenzimmer, welcher immer mehr in Radau ausartete, ohne Gegenwehr über mich ergehen zu lassen.

Aber es wurde mir außerordentlich schwer gemacht, diesem Vorsatze treu zu bleiben. Der Wein heizte, und der Kognak brannte. Die Hilfsgeister eines falschen Patriotismus wuchsen riesengroß; das laute Sprechen, welches vom Dache über uns mit doppelter Stärke zurück und in alle Zimmer geworfen wurde, steigerte sich zum Lärm und drohte zum Skandal zu werden. Man schrie, man schimpfte, man lachte, man sang Trutzlieder; man gröhlte und johlte; man warf Flaschen und Gläser an die Wand, und zwar zu Ehren dieses oder jenes Ministers oder Diplomaten. Da stand ich denn doch auf, zog mich an und ging hinaus, um mir von dem Wirte ein anderes Zimmer geben zu lassen. Er stand in der ersten Etage und sprach mit Sejjid Omar, welcher wegen des wüsten Gebrülls sehr besorgt um mich war und ihn interpelliert hatte. Es gab kein anderes Zimmer. Ein vor kurzem eingelaufener Dampfer hatte neue Gäste gebracht, welche nur mit Mühe unterzubringen gewesen waren. Man fühlte sich im ganzen Hause über das Benehmen dieser Menschen empört, und als ich ihm drohte, nach einem andern Hotel zu gehen, welchem Beispiele wohl auch die andern Gäste folgen würden, entschloß er sich endlich, um Ruhe zu bitten. Er war einer der vielen orientalischen Wirte, auf welche das Wort Gentleman von faszinierender Wirkung ist.

Wir gingen hinauf, Sejjid Omar mit. Er wollte sich persönlich überzeugen, ob sein geliebter Sihdi auch wirklich nun die erwünschte Ruhe finden werde.

Der Lärm schwieg soeben. Es war nur eine einzelne Stimme zu hören, und der welcher sprach, war kein Europäer, denn er bediente sich des in Südchina und besonders in der Gegend von Kanton gebräuchlichen Pitchenenglisch.

»Der Chinese, welcher auf der andern Seite neben ihnen wohnt,« erklärte mir der Wirt.

Ich hörte, daß dieser Chinese in sehr höflichen Ausdrücken bat, doch nun endlich ruhig zu sein, da es außer ihnen auch noch andere Gäste im Hause gebe und die Zeit zum Schlafen jetzt, nach Mitternacht, ja wohl gekommen sei. Ein schallendes Gelächter war die Antwort; man trommelte mit Fäusten auf den Tisch und an seine Zwischenwand und brüllte ihm die beleidigendsten Titel zu. Da ging der Wirt hinein und bat, den Wunsch des Chinesen zu erfüllen.

»Erfüllen?« schrie einer. »Wir, die wir jetzt nach China gehen, um diese Zopfaffen zu zivilisieren, um ihnen Bildung und Klugheit zu bringen, wir sollen hier diesem Kerle Gehorsam leisten? Das ist stark! Das ist beleidigend! Das lassen wir uns nicht gefallen!«

»Das ist stark! Das ist beleidigend! Das lassen wir uns nicht gefallen!« stimmten ihm die Andern drohend bei.

»Und hier nebenan wohnt ein Deutscher, der auch schon Beschwerde geführt hat!« fuhr der Wirt fort.

»Ein Deutscher? Ah der hat vielleicht verstanden, was wir von den Deutschen gesagt haben! Er mag nur warten, denn er wird noch mehr, viel mehr zu hören bekommen! Wenn dieser Mensch schlafen will, so mag er – – –«

»Halt! Der Chinese!« schrie ein Anderer dazwischen. »Holt ihn herein! Er muß Kognak trinken und uns Abbitte tun!«

Der sich ebenso wie ich vergeblich nach Ruhe sehnende »Sohn der Mitte« war nämlich jetzt auch aus seinem Zimmer getreten. Als er uns sah, kam er auf uns zu. Er mußte da an der Tür der Leute vorüber. Der Wirt hatte sie offenstehen lassen, und so kam es, daß der Chinese bemerkt worden war. Die Gentlemen jubelten über den Vorschlag; sie kamen heraus und umringten ihn, um ihn in das Zimmer zu schaffen. Er war ein kleiner, schmächtiger Mann von wahrscheinlich geringer Körperkraft, und sein weites, chinesisches Gewand hinderte ihn, selbst diese ganz in Anwendung zu bringen. Zwei faßten ihn am Zopfe, um zu ziehen; die Andern schoben. Das konnte ich nicht mit ansehen, nicht geschehen lassen! Der Wirt ließ kein weiteres Wort hören; er fürchtete sich; darum sagte ich in ernstem, doch nicht unhöflichem Tone, daß es wahrscheinlich eines Gentlemen würdiger sei, den Chinesen nicht seiner personlichen Freiheit zu berauben.

»Wer ist dieser freche Mensch?« fragte der, welcher vorhin den Vorschlag gemacht hatte, den Wirt.

»Der Deutsche,« antwortete der Gefragte.

»Muß auch mit herein, um Abbitte zu tun!«

Er faßte mich am Arme. Ich hatte es keineswegs mit Betrunkenen, sondern nur mit Aufgeregten zu tun; es ist fast unglaublich, welche Mengen von Alkohol dazu gehören, derartige Menschen wirklich betrunken zu machen.

»Nicht anrühren!« warnte ich. »Laßt mich los, Sir!«

Da packte mich ein zweiter am Halse. Wir standen unweit der Treppe, welche eine gebrochene war und also nicht in gerader Linie aufwärts, beziehendlich abwärts führte. Ich stieß ihm die Faust in die Magengegend, daß er von mir weg und an die Wand flog, und riß mich von dem, der mich am Arme hielt, los. Da brüllten die anderen Vier, denn es waren ihrer sechs, wütend auf und drangen auf mich ein. Ich versuchte, sie mit den Fäusten von mir abzuhalten. Da ertönte hinter mir Sejjid Omars Stimme arabisch:

»Soll ich, Sihdi? Erlaubst du es?«

»Ja,« antwortete ich. »Wir werfen sie die Treppe hinunter, alle Sechs. Dann wird hier oben Ruhe!«

Indem ich das sagte, unterlief ich den mir am nächsten Gekommenen. Er hatte das nicht erwartet, und ehe er daran denken konnte, sich von meinem Griffe, mit dem ich ihn über den Hüften packte und emporhob, loszumachen, flog er die Treppe hinab. Und nun war es eine Lust, meinen Sejjid arbeiten zu sehen! Er sprang um die Kerle herum, so daß sie zwischen ihn und die Treppe zu stehen kamen, und packte den ersten Besten am Schenkel und an der Brust. Ein Ruck, ein Schwung, und der Mann flog dem von mir Expedierten nach. Ihm folgte sofort eine zweite Lieferung aus meiner und eine ebensolche aus Omars Hand. Die zwei noch übrigen Gentlemen schlugen auf uns ein. Wir wurden von einigen unschädlichen Fausthieben getroffen, auf die wir gar nicht achteten; dann ging es mit den Beiden ebenso treppab wie mit den andern Vier vorher.

»Das war die Arbeit, von welcher ich heut Abend gesprochen habe,« lachte Sejjid Omar. »Du bist fertig, Sihdi; du sollst sie gar nicht mehr anzufassen haben, denn ich nehme sie auf mich. Ich stelle mich hier an die Treppe, und wehe dem von ihnen, der es wagt, zurückzukehren!«

Sonderbarerweise fiel es ihnen gar nicht ein, auch nur den Versuch dazu zu machen. War das eine Bestätigung der alten Erfahrung, daß Menschen, welche gerne rodomontieren, keinen eigentlichen Mut besitzen, oder hatte die ihnen von uns so kräftig erteilte Lehre in ihnen die Ueberzeugung geweckt, daß es klüger sei, sich fortzuschleichen, als noch einmal mit zwei solchen Desperados, wie wir waren, anzubinden? Wir hörten, daß sie unten auf der ersten Etage noch mit einigen großen, drohenden Worten um sich warfen; dann gingen sie hinab nach dem Salon, wo sie sich auf die Möbel legten, um ihre Niederlage zu beschlafen. Diese Zivilisatoren Chinas waren also abgetan!

»Deutsche Fäuste und arabische Fäuste, denen soll einmal so Einer widerstehen!« meinte mein Sejjid Omar, dessen ganzes Gesicht ein einziges Freudenlächeln war.

Der Wirt hatte still und staunend dagestanden.

»Wie schnell Ihr das fertig gebracht habt! Und was habt Ihr gewagt!« sagte er. »Fürchtet Ihr denn nicht, daß die Gentlemen Euch persönlich oder gerichtlich belangen werden?«

»Hoffentlich tun sie das!« antwortete ich. »Ich bin herzlich gern bereit, sie sowohl persönlich als auch gerichtlich zu belehren, daß kein anständiger Mann jemals so handeln würde, wie sie gehandelt haben. Der wirkliche, echte Gentleman ist ein ganz anderer Mann, und Ihr beleidigt ihn, wenn Ihr solchen Radaubrüdern dieselbe Achtung zollt, auf welche nur er allein berechtigten Anspruch hat!«

Der Chinese stand von fern und winkte meinen Diener zu sich heran, um ihm Etwas zu sagen. Dann verneigte er sich sehr zeremoniell und sehr tief vor mir und kehrte in sein Zimmer zurück.

»Er läßt dich um die Erlaubnis bitten, dir morgen früh seine Karte schicken zu dürfen,« erklärte mir Omar. »Mehr konnte ich nicht verstehen, weil seine englische Sprache gar keine Sprache ist. Es gibt überhaupt nur zwei Sprachen, welche wahre und wirkliche Sprachen sind, nämlich die arabische und die deutsche. Die andern sind nur Redensarten, die man wohl sprechen lernen, aber nicht liebgewinnen kann! Was tun wir jetzt?«

»Schlafen,« antwortete ich.

»Gut! Und wenn die lärmenden Kerle wiederkommen sollten, so komme ich auch wieder, und wir werfen sie abermals die Treppe hinunter. Leletak sa'ide – deine Nacht sei gesegnet!«

Er ging, und ich war doppelt zufrieden mit ihm, einmal, weil er seine Fäuste so wacker gebraucht hatte, das andere Mal, weil es für ihn jetzt zwei »wahre und wirkliche« Sprachen gab und nicht wie früher nur eine, die arabische. Er wußte freilich nicht, was Alles in diesem seinem Geständnisse lag.

Nun, da der Chinese mir früh seine Karte schicken wollte, konnte ich freilich den beabsichtigten Ritt nach Paragoda nicht machen, denn es stand nach dem Geschehenen zu erwarten, daß er heut länger als gewöhnlich schlafen und sein Besuch also erst spät erfolgen würde. Ich hingegen war schon zeitig wieder munter und machte einen Spaziergang nach dem Leuchtturme. Es führt dort eine Treppe zu den von der Brandung umrauschten Trümmern des Küstenfelsens hinab, zwischen denen allerlei interessante Muscheln, Korallen und andere »Früchte des Meeres« zu finden sind. Von da zurückgekehrt, erfuhr ich vom Wirte, daß die sechs Europäer ihre Zeche bezahlt und das Hotel ohne Sang und Klang verlassen hatten, um nach dem Bahnhofe zu gehen und dort den Zug nach Colombo zu erwarten. Die Zeit bis dahin an dem Orte ihrer Heldentaten zu bleiben, hatten sie also keine Lust gehabt. Es ist ja auch der Fanfaron nicht ohne Ehrgefühl.

Während ich den Kaffee trank, den ich selbst in Indien dem Tee vorziehe, obgleich er dort durchschnittlich sehr schlecht zubereitet wird, schrieb ich Postkarten nach Deutschland. Nach einiger Zeit brachte Sejjid Omar die Visitenkarte des Chinesen, einen langen, schmalen Streifen scharlachroten Papieres, auf welchem mittelst Stempel der Name Fang angebracht war. Es war eine uralte, berühmte Familie, welcher der Besitzer dieses Namens angehörte. Wahrscheinlich existierte sie schon zur Zeit des Kaisers Huang-ti, welcher vor nun fast viertausendsechshundert Jahren die Familiennamen in China einführte. Unter diesem Stempel standen die übrigen Personalien, welche mit Tusche und Pinsel geschrieben waren. Er hatte sich mit dem Titel Tschin Schi Ungefähr unser »Doktor«. die höchste literarische Würde erworben, und aus der Beifügung Tschuan Yüan Der Optimus, der Beste. ersah ich, daß er von sechstausend Examinanden und dreihundertfünfzig Graduierten die Prüfung am besten bestanden hatte. Außerdem laß ich, daß er Beamter des Han Lin Yan Kollegium der Literatur. war, aus welchem der Kaiser die Beamten für die verantwortlichsten Stellen wählt. Hierzu führte er noch den Titel eines Beisitzers im Kuoh Tse Kien, der chinesischen Nationalakademie der Gelehrsamkeit. Und diesen gewiß hervorragenden Mann hatten die »Gentlemen« am Zopfe maltraitiert!

Diese Worte waren alle mit chinesischen Zeichen geschrieben. Hierunter stand in englischer Schrift, doch chinesischer Höflichkeit:

»Der von der Sonne erleuchtete, hoch erhabene und vor Güte strahlende Beschützer aus dem deutschen Lande der edelsten Bewohner möge gnädigst gestatten, daß Fang, der ärmste, geringste und unwürdigste der Chinesen, zu ihm komme, um ihm seinen Dank zu sagen. Es wird dem schon vor zehntausend Jahren in seinen Ahnen lebenden Herrn nicht zugemutet, dem niedrigen Bittsteller eine Karte zu schreiben. Das Wort des Dieners ist genügend.«

Ich beauftragte Omar, mir schnell zwei Tassen Tee zu holen und dann dem Chinesen zu sagen, daß er sofort kommen solle. Die Herren Fu und Tsi in Kairo hatten nach abendländischer Weise gelebt und kein Eingehen auf ihre heimatlichen Gewohnheiten erwartet; hier aber war mir eine Karte geschickt worden, und so wünschte ich nicht, ganz und gar als »westlicher Barbar« zu gelten. Der Tee wurde von der Etikette vorgeschrieben. Man pflegt ihn zwar nicht zu trinken, aber sobald der Besuchte oder der Besucher die Tasse an den Mund führt, ist dies das Zeichen, daß er die Visite zu beenden wünscht.

Der Tee wurde gebracht, aber der Chinese kam nicht. Wollte er mich etwa probieren? Ich schickte ihm Omar noch einmal, und als er auch dann noch nicht kam, so mußte der Sejjid zum dritten Male hin, und ich ging selbst mit, doch nur die Hälfte des Weges. Dort blieb ich stehen, um meinen Besuch zu erwarten. Nun trat er endlich aus dem Zimmer und näherte sich mir mit fortgesetzten, tiefen Verbeugungen. Ich verneigte mich ebenso und führte ihn nach meiner Tür, an welcher ich mich so stellte, daß er auf ihrer linken Seite, der »Seite der Höflichkeit«, eintreten mußte. Dann folgten wiederholte Verbeugungen, ehe ich ihn dazu brachte, sich eher als ich niederzusetzen, worauf dann auch ich Platz nahm, und zwar zu seiner rechten Hand, denn in China ist links der Ehrenplatz. Omar stellte die Tassen vor uns hin und ging dann hinaus.

Bisher war kein Wort gesprochen worden, und ich verhielt mich auch jetzt noch still, weil der Höherstehende das Gespräch zu beginnen hat. Es gab nun einen schweigsamen Wortstreit zwischen der morgen-und der abendländischen Höflichkeit, und ich war fest entschlossen, Sieger zu sein. Es vergingen drei, vier, fünf Minuten, welche unter anderen Verhältnissen höchst peinlich gewesen wären; hier aber machten sie mir Spaß. Er schien ebenso wie ich sich fest vorgenommen zu haben, der Höflichere zu bleiben, und so könnten wir als charakterstarke Männer noch heute miteinander dort in Point de Galle sitzen, ohne den Mund aufgetan zu haben, wenn ich nicht unwillkürlich mit der Hand nach der vor mir stehenden Tasse gegriffen hätte. Das geschah, wie gesagt, ganz ohne Absicht, nur um irgend Etwas zu tun. Aber er sah mich an, ob ich wohl trinken würde. Als ich das nicht tat, legte er die Hand auch an seine Tasse und trank aber auch nicht. Da kam mir ein köstlicher Gedanke. Wer den Andern sprechen läßt und selbst aber schweigt, ist der Höflichere. Wie nun, wenn ich diese Visite beendete, ohne überhaupt gesprochen zu haben?! Aber da mußte ich trinken, um den Besuch zu beenden, und das war doch wohl nicht höflich! Jedoch, er hatte auch schon die Hand an seiner Tasse. Wollte etwa er der Unhöfliche sein? Jedenfalls nicht. Oder aber hatte er etwa meine Bewegung nachgemacht, um mit mir zu gleicher Zeit zu trinken? Wenn er das beabsichtigte, so ging diese Visite ohne irgend ein Wort zu Ende, und da Keiner das Zeichen des Aufbruches allein gegeben hatte, so war jeder von uns Beiden ein wahrer Ausbund der allergrößten chinesischen Höflichkeit! Ich versuchte es, indem ich die Tasse ein Wenig hob; er tat sogleich dasselbe. Ich führte sie zum Mund, er auch. Ich trank, er ebenso, mit mir zu gleicher Zeit. Dann stand ich auf, und er in demselben Tempo mit mir. Dann verneigten wir uns gegenseitig so lange, bis er, der sich nach rückwärts »dienerte«, das Zimmer verlassen hatte.

Ich bekam ihn dann während des Vormittages nicht wieder zu sehen. Am Nachmittage kam er mir da, wo die breite Hauptstraße der Eingeborenenstadt sich in zwei schmälere spaltet, in einer Rickschah entgegen. Als er mich sah, ließ er halten, stieg aus und verneigte sich, indem ich an ihm vorüberfuhr, so tief, daß ihm sein kleines, schwarzes Käppchen vom Kopfe fiel. Hier, außerhalb der Heimat, trug er weder Hut noch Mandarinenknopf. Ein Glück für sein gesellschaftliches Gewissen, daß ich kein Chinese war, weil sonst in dieser, wenn auch unverschuldeten Entblößung seines Hauptes eine schier unverzeihliche Beleidigung für mich gelegen hätte!

Warum aber diese Höflichkeit gegen mich, die nach europäischen Begriffen fast als übertrieben bezeichnet werden konnte? Warum vor mir extra aus dem Wagen steigen? Der Aufschluß hierüber sollte mir später werden.

Es war ihm und mir ein schnelleres Wiedersehen bestimmt, als er wohl ebenso wie ich gedacht hatte. Nämlich als ich dann am Abend in Colombo auf mein Zimmer kam, lagen die inzwischen eingegangenen Briefe da, unter ihnen einer, dessen Inhalt mich bestimmte, die von mir geplante Reiseroute dadurch zu verlängern, daß ich ihr die Strecke Ceylon-Sumatra einfügte, und diese Fahrt mußte möglichst sofort, mit dem nächsten Schiffe, unternommen werden. Auf Befragen erfuhr ich, daß heute ein deutscher Lloyddampfer nach Singapore abgegangen, übermorgen aber ein Oesterreicher fällig sei, welcher auch in Penang anlege. Ich beschloß, auf diesem Passage zu nehmen.

Am nächsten Tage teilte ich meinem Sejjid Omar diesen Entschluß mit, sagte ihm, wie weit Sumatra von Ceylon liege und um welche Zeit unsere Reise verlängert werde, und fragte ihn, ob er mitfahren wolle; wenn nicht, so könne er heimkehren; die Seereise nach Suez würde ich ihm natürlich bezahlen und auch das Gehalt für die Zeit bis zu seiner Ankunft in Kairo. Da antwortete er:

»Sihdi, tue mir das nicht an, daß ich dich verlassen soll! Ich gehe mit dir durch die ganze Welt! Nur bitte ich dich um fünf Pfund, die ich meinem Vater schicken will.«

»Ja, weißt du denn, wieviel ich dir schuldig bin?«

»Nichts bist du mir schuldig, gar nichts. Ich merke mir auch nichts, denn du bist kein falscher, sondern ein richtiger Christ und wirst mich nicht betrügen.«

Ich muß nämlich bemerken, daß er nur dann einmal Geld von mir forderte, wenn er welches nach Hause schicken wollte. Ich hatte schon öfters mit ihm abgerechnet und ihm seinen Lohn vorgezählt; aber sobald er die vielen Goldstücke liegen sah, bekam er Angst und bat mich, sie ihm aufzuheben. Er bekam pro Tag fünf Mark, und da ich kein Pfennigfuchser bin, so brauchte er fast gar nichts für sich auszugeben und konnte den ganzen Lohn sparen. War ich ja einmal mit ihm unzufrieden, so konnte ich ihn nicht härter strafen als dadurch, daß ich ihm sein Geld hinlegte. Der Angstschweiß trat ihm sofort auf die Stirn, und ich werde nie vergessen, mit welcher Miene er bei unserer Trennung über zweitausend Frank in Goldstücken in sein Taschentuch einknotete.

»O Sihdi,« sagte er. »Nimm es wieder; ich schenke es dir; aber laß mich bei dir bleiben!«

Diese Liebe war ja später durch unser langes Beisammensein erklärlich; aber er hatte sie mir gleich vom ersten Augenblicke an gezeigt, ohne daß ich den Grund entdecken konnte. Hier in Colombo erfuhr ich ihn endlich. Nämlich die Postanweisung an seinen Vater mußte englisch geschrieben werden, und da er das nicht konnte, so tat ich es für ihn. Dann gab ich ihm die fünf Pfund und machte ihm die Bemerkung, daß seine Fürsorge für den Vater mich stets sehr gefreut habe. Da drückte und drückte es in ihm so lange, bis es herauskam:

»Sihdi, ich muß dir Etwas von ihm sagen. Er kennt dich; ja, er kennt dich ganz genau, obleich er dich nie gesehen hat.«

»Wie soll er mich da kennen?«

»Das ist es eben, was ich dir sagen will. In Kairo gibt es zahllose Blinde. Sei aufrichtig: bist du einmal an einem von ihnen vorübergegangen, ohne ihm Etwas zu schenken?«

»Nein; das ist meine Eigenheit.«

»Aber eine Eigenheit, für welche unser Islam sehr gute Augen und ein dankbares Herz hat. Sein Hauptgebot ist, Almosen geben, und wenn ein Christ so oft und so gern gibt wie du, ohne sich darum zu kümmern, daß der Empfänger andern Glaubens ist, so wird er in der kürzesten Zeit bekannt, obgleich er das nicht bemerkt. Schon einige Tage nach deiner Ankunst im Hotel Continental warst du von der Scharia el Faggala bis zum Medan Abdin und vom Kantaret el Bulak bis zum Derb el Gamamis nur ›der Almani, der allen Blinden gibt.‹ Darum schaute ich stets zu dir hinüber, wenn du im Freien deinen Kaffee trankst, und als es hinter dem Bab el Ghoraib die jährliche Dschemija el Imjahn Versammlung der Blinden. gab, da wurde von dir gesprochen und erzählt, und da wurde auch für dich zu Allah gebetet, laut und gern gebetet, obgleich Jeder wußte, daß du ein Christ seiest. Die Liebe macht ja alle Menschen gleich! Da wollte mein Vater dich kennen lernen; er wünschte, dich wenigstens einmal sprechen zu hören. Darum kam er zu mir und saß halbe Tage lang an meinem Stand, denn er dachte, du würdest einmal kommen und meinen Esel nehmen und dabei einige Worte reden. Aber du gingst stets vorüber, und da habe ich dich auch stets gegrüßt.«

»Ja, höflich warst du immer, Sejjid Omar. Doch einmal bin ich nicht vorübergegangen. Du hast es nicht gesehen, denn du warst nicht da.«

»Ja, aber der Blinde hat es mir erzählt!«

»Er saß in der Nähe deines Standes, am Gitterzaun der Ezbekije, ein alter, sauber gekleideter Mann mit grauem Bart. Ich gab ihm Etwas, und er wollte es nicht nehmen, weil er kein Bettler sei. Ich nahm es wieder zurück und so kamen wir ins Gespräch.«

»Ja, gerade daß du es wiedergenommen hast, das hat ihn so gefreut. Es war ein großes Silberstück. Und noch größere Freude hat er über deine Worte gehabt: ›Ich gab es dir, da war es dein; nun gibst du es mir, und ich danke dir, denn ich habe dich und du hast mich beschenkt!‹ Dann bist du nicht gegangen, sondern du hast dich neben ihn auf den hohen Gitterstein gesetzt und mit ihm gesprochen. Du hast von der Blindheit geredet, die noch schlimmer als die körperliche ist, und von dem Auge der Seele, welches grad bei den Blinden schärfer und heller blickt als bei den Sehenden. Du hast ihm von einem Himmel und von Sternen erzählt, von denen er bisher keine Ahnung hatte, denn sie wohnten in seinem Herzen, und er wußte es nicht. Und als du dann nach wohl einer Stunde ihm die Hand gedrückt und dich entfernt hast, hat er deinen Schritten gelauscht, bis sie verklungen waren, und ihm ist gewesen, als sei er sehend geworden, denn der Himmel und die Sterne, von denen du sprachst, sind in ihm aufgegangen, und er sieht noch heutigen Tages ihre Herrlichkeit, obgleich es außerhalb seiner Augen dunkel ist!«

Der gute Sejjid war ja ganz poetisch geworden. Er schien sich für diesen Blinden besonders zu interessieren. Darum machte ich die Bemerkung:

»Ich habe ihn dann leider nicht mehr gesehen; er saß nie wieder an dieser Stelle.«

»Er kam nicht wieder, weil nun sein Herzenswunsch erfüllt war, dich einmal sprechen zu hören, oder – – dieser Blinde sagt immer, sprechen zu sehen.«

»Ich denke, diesen Wunsch hat ein Anderer gehabt, nämlich dein Vater; du sagtest es ja!«

»Ganz richtig! Aber mein Vater war eben dieser Blinde! Als er erfuhr, daß du einen Diener suchtest, befahl er mir, mich zu melden. Es bedurfte gar nicht eines Befehles, denn ich tat es selbst so gern! Und wie glücklich war er, als ich ihm nach unserer Rückkehr von den Pyramiden sagte, daß unser Wunsch erfüllt sei! Du glaubtest, ich bemerke es nicht, aber ich habe es wohl gesehen, wie du mich wegen des Reitens auf die Probe stelltest. Mein älterer Bruder, der nun gestorben ist, war Saïs Vorläufer, Stallbediensteter. beim Khedive; ich durfte wochenlang draußen bei ihm sein und auf den schönen Pferden sitzen. Da habe ich das Reiten gelernt. Nun schreibe ich von überall, wohin ich mit dir komme, einen Brief an den Vater, welcher ihm vorgelesen wird. Da ist er froh, wenn ich ihm von dir erzähle und ihm sage, daß du mit mir zufrieden bist. O, Sihdi, wenn du ihm doch auch einmal eine Zeile senden wolltest; welch eine Freude wäre das für ihn!«

»So trag das Geld jetzt noch nicht zur Post, sondern warte! Ich werde gleich jetzt einen ganzen Brief, nicht bloß eine Zeile, an ihn schreiben. Die Adresse sagst du mir dann.«

Da ergriff er, wie damals in Kairo, meine Hand und küßte sie, ehe ich es verhindern konnte. Wie leicht ist es doch, gut und freundlich zu sein; wie schwer fällt das manchen Menschen, und wie noch mehr andere haben kein Geschick dazu! Und wie belohnt sich so ein Bißchen Güte und Menschenliebe! Ich hatte einem Blinden eine Gabe angeboten, die von ihm nicht einmal angenommen worden war. Und der Lohn? Ein Diener, wie ich ihn mir treuer, aufopfernder und besser gar nicht wünschen konnte. Aber so reicher Lohn kommt nur dann, wenn man an keine Belohnung denkt! – – –

Der österreichische Dampfer kam ohne Verspätung; er hatte wenig Fracht und wenig Passagiere und sich also nicht durch aufhaltende Hafenarbeiten verspäten können. Alle Welt fährt lieber mit dem Norddeutschen als mit dem Triester Lloyd. Mir war es sehr lieb, daß es so viel Platz gab, denn ich gehe gern ungestört spazieren, auch auf – – der See.

Aber eine Anzahl Passagiere kam doch mit an Bord, nämlich Fang, der Chinese, die sechs Gentlemen, welche wir in Point de Galle zur Treppe herabgeworfen hatten, und auch mehrere von den Europäern, von denen in Colombo die Eingeborenen niedergeritten worden waren. Sie dampften der Gegend zu, welche mit Sehnsucht erwartete, von ihnen zivilisiert zu werden. Warum sie es vorgezogen hatten, nicht mit einem deutschen Schiffe zu fahren, konnte ich mir denken. Leider sah ich mich gezwungen, an derselben Tafel mit ihnen zu speisen.

Wie es schien, hatten sie sofort, als sie mich als Mitpassagier erkannten, beschlossen, sich an uns zu rächen. Sie begannen nicht mit mir, sondern mit Omar. Dieser nämlich war, wie sich ganz von selbst versteht, nicht Passagier erster, sondern dritter Klasse, hielt sich aber zu meiner Bedienung viel auf dem Deck und in den Räumen der ersten Klasse auf. Hierüber hatten sie sich beim Kapitän beschwert und ihm sehr energisch zu verstehen gegeben, daß sie einen Passagier dritter Klasse nicht in der ersten dulden würden. Es war ihnen der Bescheid geworden, daß sie da gar nichts machen könnten. Es sei auf allen, auch auf den englischen Linien, so eingeführt, daß die reisenden Herrschaften des Tages über ihre Dienerschaft bei sich haben könnten, dafür aber für sie ein erhöhtes Passagegeld zahlen müßten. Das hätte ich auch getan, und also sei mein Araber in vollem Rechte, zu mir zu kommen, so oft es mir und ihm beliebe. Omar, der sich an die meist italienisch sprechende Schiffsbemannung angevettert hatte, um sprachlich so viel wie möglich zu profitieren, war von dieser Beschwerde unterrichtet worden und teilte mir es mit.

»Diese Leute sind ganz unerfahrene Knaben,« sagte er, »die noch nicht einmal wissen, was auf einem Schiffe gebräuchlich ist. Sie halten sich für bessere Menschen als wir Araber sind; früher hätte mich das geärgert; aber jetzt bin ich Sejjid Omar und bedaure sie!«

Damit war die Sache für uns abgemacht.

Mit Fang kam ich nicht zusammen. Er lag seekrank in seiner Kabine und ließ sich nicht sehen. Auch mochte die Scheu vor den Gentlemen das Ihrige dazu beitragen, daß er so beharrlich unten blieb. Diese Vermutung war nicht falsch; ich erfuhr es in der letzten Nacht. Was mich betrifft, so ergingen sich diese Herren in unzähligen Sticheleien und legten mir alles Mögliche in den Weg; ich achtete aber nicht darauf.

Unser Dampfer brauchte fünf Tage, um von Colombo nach Penang zu kommen. Sonnabend waren wir abgefahren; Donnerstag kamen wir an. In der letzten Nacht ging ich nicht schlafen, sondern blieb an Deck und schrieb. Der Kapitän hatte meinetwegen den Befehl gegeben, das Licht nicht auszudrehen. Er war ein großer Vogelfreund und hatte neben seiner Kajüte eine Anzahl heimischer Vögel in hübschen Käfigen untergebracht. So oft es seine Pflicht erlaubte, ließ er sich einen Tisch zu diesen Käfigen stellen, um unter seinen Lieblingen zu sitzen und sich mit ihnen zu beschäftigen. Auch ich liebe die geflügelte Welt. Er bemerkte das sehr schnell, und so kam es, daß er bald nicht mehr allein am Tische saß. Daher auch die Gefälligkeit, mich während der letzten Nacht mit Licht zum Schreiben zu versehen.

Es war eine wunderschöne, südliche Meeresnacht. Man muß so Etwas erlebt haben. Beschreiben kann man es nicht. Und wenn man es könnte, so hätte es doch keinen Zweck, weil eine Beschreibung nie so wirken kann, wie das, was man beschreibt. Der südliche Himmel hat weniger sichtbare Sterne als der nördliche, aber sie scheinen größer und darum der Erde und mit ihr dem Menschen näher zu sein; die See erstrahlt in hellerem astralischen Glanze, und die Rätsel der Nacht, die man daheim nicht lösen konnte, treten hier viel deutlicher mit der Bitte an den Menschen heran, gelöst zu werden. Aber all sein stolzes Wissen und all sein scharfes Denken ist diesen Geheimnissen gegenüber ein Nichts; er kann nur ahnen und hoffen, und wenn der Engel des Glaubens zu ihm tritt und ihm zuflüstert, daß dieses Ahnen zur Wahrheit und dieses Hoffen sich erfüllen werde, so soll diese Stimme ihm ebenso heilig sein, als ob Gott selbst zu ihm gesprochen hätte.

Es war schon nach Mitternacht, als ich ein Räuspern hinter mir hörte. Ich schaute mich um und sah Fang, welcher leise die nach den Kabinen führende Treppe heraufgekommen war. Er verbeugte sich und wartete dann, ob ich ihn anreden werde. Ich grüßte ihn in englischer Sprache. Er verbeugte sich noch einmal und antwortete:

»Daß Sie diese Sprache wählen, ist für mich ein Fingerzeig. Stört es Sie, wenn ich hier oben bin und mir Bewegung mache?«

»Nein.«

Er verneigte sich zum dritten Male und wendete sich ab, um leise auf dem Decke hin und her zu spazieren. Das tat er wohl eine Stunde lang, dann schien er wieder hinuntergehen zu wollen. Er mußte an mir vorüber und tat das mit so zögerndem Schritte, als ob er mir gern Etwas sagen möchte. Ich legte also die Feder weg und sah ihn fragend an. Da erkundigte er sich:

»Sie arbeiten, und ich störe. Nicht wahr?«

Ich stand also auf und antwortete:

»Ja, ich arbeite allerdings, aber eine Unterbrechung durch Sie würde mir eine Erholung anstatt eine Störung sein.«

»Das ist höflich gesagt, aber dennoch wahr; ich höre es Ihnen an. Wir erreichen früh den Hafen, und mein Herz gebietet mir, Ihnen vor der Trennung zu sagen, daß Sie mich abgehalten haben, in den Büchern, die ich daheim schreiben werde, ein doch vielleicht falsches Urteil über die Völker des Abendlandes und ihre internationalen Umgangsformen zu fällen. Was ich bisher erlebte, beobachtete und erfuhr, war keineswegs geeignet, mich für sie sympathisieren zu lassen; Ihr Auftreten in Point de Galle aber hat mir gezeigt, daß es bei dem hier bei uns überfließenden, europäischen Schaume auch klare, reine Tropfen gibt, die auf Besseres schließen lassen, als ich dachte.«

Diese Einleitung ließ ein längeres Gespräch vermuten. Darum führte ich ihn nach einer Bank, welche an der Deckbrüstung stand, nicht im grellen elektrischen Lichte, sondern im milden Scheine der Sterne. Indem wir uns da beide ohne alles Zeremoriell niedersetzten, erwiderte ich:

»Die Geschichte Ihres Landes ist allerdings nicht imstande, Ihnen Liebe für uns zu predigen. Aber Sie dürfen überzeugt sein, daß nicht alle Abendländer Runners, Loafers und Rowdies sind, welche den Osten nur zu dem einzigen Zwecke aufsuchen, ihn für sich auszubeuten. Hier im Morgenlande wurde einst unsere christliche Liebe geboren. Es kommt gar manch ein Abendländer nach dem Osten, um ihren Stapfen nachzuforschen. Und wer das tut, der achtet vor allen Dingen jedes Menschenrecht und ist ehrlich und gewissenhaft selbst gegen seinen allerfernsten Bruder. Ich glaube, nicht zu lügen, wenn ich sage, daß ich zu diesen Letzteren gehöre. Ich liebe Ihre Nation. Ich liebe sie nicht weniger als jede andere Rasse. Auch mein Beruf ist, Bücher zu schreiben, ganz so, wie der Ihrige. Und ich versichere Ihnen, daß ich niemals imstande sein werde, ohne vorherige, genaue Prüfung mein eigenes Volk auf Kosten anderer Völker herauszustreichen!«

»Sie lieben meine Nation!« wiederholte er meine Worte. »Ist es denn wirklich wahr, daß Jemand, der kein Chinese ist, dies gesprochen hat? Jede, jede, aber auch jede Nation erfreut sich irgend einer Sympathie, nur die chinesische nicht! Womit haben wir das verdient? Was haben wir den andern Völkern zu leid getan? Die Kaukasier schlachten heut einander ab und küssen sich morgen freundlich die gestern noch zürnenden Lippen. Haben jemals wir ihr Blut vergossen? Haben wir sie jemals beleidigt, befeindet, übervorteilt und betrogen, wie sie es untereinander tun? Nie! Befehden wir ihren Glauben? Verlachen wir ihre Voreltern? Spotten wir über ihre Geschichte? Nein! Trachten wir nach den Schätzen ihrer Bergwerke, nach den Früchten ihrer Felder, nach den Erträgnissen ihrer Industrie? Nein! Brauchen wir überhaupt Etwas von ihnen? Nein und wieder nein und dreimal nein! Also frage ich: woher nehmen sie das Recht, wie Bazillen durch alle leiblichen und geistigen Poren in den Körper und in die Seele unserer Nation einzudringen und an dem sogenannten ›gelben‹ Manne denselben Rassenmord zu verüben, an welchem der ›rote‹ auch schon zugrunde gegangen ist?«

Er hatte ruhig, kalt, langsam und halblaut gesprochen, wie zu sich selbst. War es in seinem Innern auch so kalt und ruhig? Da ich nicht antwortete, fuhr er fort:

»Ich weiß, was Sie sagen werden: die Völker haben mit einander zu verkehren! Das ist ein großes, wahres Wort. Aber der ärmste und niedrigste Mann besitzt bei Ihnen sein sogenanntes Hausrecht. Das Gesetz schützt ihn gegen Jeden, der ohne seine Erlaubnis bei ihm eindringen will. Dieses Recht hat jeder Mensch, jedes Dorf, jede Stadt, jedes Land, jeder Verein, jede Gemeinde, jedes Volk. Haben wir es etwa nicht auch? Ja, wir haben es! Und es ist eine geschichtliche Lüge, zu behaupten, daß wir dieses Recht mißbraucht hätten. Wir haben asiatische Völkerschaften bei uns aufgenommen, welche noch heut bei uns wohnen, obgleich sie anderen Glaubens sind. Wir haben auch mit den Christen den Versuch gemacht. Sie wurden willkommen geheißen und mit hohen Würden und Aemtern bekleidet. Wie aber dankten sie uns? Heut hatten wir sie bei uns aufgenommen, und schon morgen griffen sie gierig in unsere Herzen, um sich nicht nur in unserm Lande und in unsern Städten sondern auch in unserm Himmel einzunisten. Sie, die wenigen Fremden, die sich daheim ihres Glaubens wegen selbst bitterlich hassen und bekämpfen; sie die ihre gepriesene Zivilisation seit Anbeginn bis auf den heutigen Tag mit dem Blute ihrer eigenen Brüder düngten; sie, deren angebetete Weltweisheit nicht weitergekommen ist, als nur zu der Behauptung, daß kein Gott die Welt regiere; sie, deren so laut ausposaunte Humanität nichts als nur der verkappte Egoismus ist; sie, deren staatliche Konstitutionen so vom Anarchismus, Nihilismus, Sozialdemokratismus und anderen Krankheiten, von denen wir uns frei gehalten haben, zerfressen sind, daß sie sich ihrer kaum erwehren können: sie kommen zu uns, die wir Hunderte von Millionen zählen und eine fünftausendjährige Geschichte und Kultur besitzen, und wollen uns zwingen, unsere Religion ihren haßerfüllten Konfessionen zu opfern; sie legen mit ihren Kanonen unsere Türme, Mauern und Häuser in Trümmer, um uns ihre bessere Bildung und Gesittung beizubringen; sie verlangen von uns, an Stelle unserer bewährten Philosophie die ihrige zu setzen, welche, ohne zum selbständigen Manne zu werden, noch gegenwärtig an den vertrockneten Brüsten heidnischer Ammen saugt; sie muten uns die sträfliche Befangenheit zu, ihrer Versicherung zu glauben, daß sie es mit der Erfindung ihrer ›Interessensphären‹ und ›offenen Tür‹ nur auf unser Heil abgesehen haben; sie tragen uns den Ungehorsam der Untertanen gegen ihre Vorgesetzten und die auflehnende Verachtung altehrwürdiger, heilig gewordener Gebräuche zu; sie nennen uns Heiden, ohne zu bedenken, daß unser Recht, auch sie als solche zu bezeichnen, viel größer als das ihrige ist, denn ganz abgesehen davon, daß sie nicht nach Christi Liebe und Lehre gegen uns handeln, haben sie das unerforschliche, unbegreiflich allgütige Wesen, welches der Urgrund alles Daseins ist, durch irdische Gestaltung und menschliche Ausstattung aus der Unantastbarkeit seines Himmels gerissen und zum Götterbilde gemacht, während wir es so verehren und für so rein und über uns erhaben denken, daß wir nicht einmal unserer Sprache erlaubt haben, uns ein Wort zu geben, welches wir als seinen Namen nennen! Aber gerade weil wir keinen Namen haben, ist dieses Wort als Geist bei uns, und wenn die irdische Form, in welche wir diesen Geist nicht zu fassen und zu zwingen wagen, einst auch für uns in Staub zerfällt, so haben wir einen Schritt zu ihm empor getan und nehmen die Ehrfurcht und die Liebe derer mit, welche uns nie vergessen dürfen, weil sie uns nachzufolgen haben. Und wenn die Christen dieses zum Himmel hebende Verlangen, die Vorangestiegenen nicht aus den Augen zu verlieren, weil uns mit ihnen auch der Weg zum Himmel verloren sein würde, als sündhaften, götzendienerischen Ahnenkultus bezeichnen, so beweist dies nur, daß sie in den Geist unserer Religion nicht eingedrungen sind und nicht eindringen konnten, weil sie den Geist der ihrigen noch nicht begriffen haben. Er kann sich nur der Liebe offenbaren, und diese, die besitzen sie noch nicht!«

Hier hielt er wieder inne. Erwartete er eine Antwort von mir, ein Eingehen auf diesen für mich so heiklen Gesprächsgegenstand? Ich räusperte mich, unschlüssig, ob ich sprechen solle oder nicht. Da sagte er schnell:

»Bitte, schweigen Sie! Ich erwarte keine Antwort. Ich habe die Religion und die Kultur der Christen studiert. Ich weiß also, daß Sie sich jetzt in der höchst fatalen Lage befinden, als wahrer Christ die Scheinchristen verteidigen zu sollen und doch nicht zu können, weil es gerade der Wahrheit unmöglich ist, den Schein als Wahrheit hinzustellen. Werden wir uns klar! Die Strömung, welche jetzt gegen die Küste Chinas brandet, ist eine doppelte, nämlich eine religiöse und eine politische, und beide werden uns von einem und demselben Winde zugeführt, dem Egoismus. Fallen Sie mir nicht mit ›Kulturaufgaben‹, ›zivilisatorischen Pflichten‹ und ›Sendboten des Christentums‹ in die Rede! Das sind Fiktionen, mit denen ein Kenner der Verhältnisse nicht irre zu machen ist! Wer von seiner Religion und von seiner Kulturform behauptet, daß sie die allein seligmachende und er also ein Auserwählter Gottes sei, der ist eben ein Egoist in der höchsten Potenz, und Religion und Politik sind für ihn nur die Mittel, seine Selbstzwecke zu erreichen. Als Christ will er den ganzen Himmel und als Kaukasier die ganze Erde nur für sich allein haben. Sprechen wir nicht von der ›Beglückung der Chinesen!‹ Das ist Dekorationsmalerei, die nur in die Ferne wirkt, in der Nähe aber die Pinselarbeit um so häßlicher zeigt! Die chinesische Frage ist eine religiöse und eine Rassenfrage. Um von der religiösen zuerst zu sprechen, so ist sie für uns abgetan. Ich sagte bereits, daß die Christen, welche wir gestern bei uns willkommen hießen, schon heut die Torheit begingen, uns in Beziehung auf unsere Religion gute Lehren geben zu wollen. Sie waren so unwissend, daß sie gar nicht ahnten, was eine solche Beleidigung der Gastfreundschaft einem Volke gegenüber, dem die Höflichkeit der Umgangsformen über Alles geht, zu bedeuten hat. Und sie sind auch heut noch so unwissend, nicht zu erkennen, daß ihre Mission trotz jahrhundertelanger Arbeit bei uns so viel wie nichts gewirkt haben, weil der Chinese die Behauptung, das Christentum sei die einzig seligmachende Religion, als eine krasse Unhöflichkeit, als persönliche Beleidigung auffaßt. Ueber dreihundert Millionen Menschen sollen mit allen ihren Ahnen viertausend Jahre zurück nichts als Dummköpfe gewesen sein! Und diese Beleidigung wird uns von Leuten in das Gesicht gesagt, welche ihren eigenen christlichen Brüdern wegen einer anderen Auslegung eines Bibelwortes im Leben die Kirchen- und dann selbst noch im Tode sogar die Gottesackertür verschließen! Welch eine Ungeheuerlichkeit! Haben sie es denn wirklich nicht gewußt, daß wir, das Volk der höchstentwickelten Umgangsform und Rücksichtnahme, die Mission zunächst und vor allen Dingen von diesem Standpunkte aus auffassen? Ein unhöflicher Mensch wird bei uns nie etwas erreichen, und der Missionar begeht gegen uns und unsere Ahnen die allergrößte und unverzeihlichste Unhöflichkeit, die sich ein Chinese denken kann! Und dabei weiß er nicht einmal, daß er nur oder meist aus diesem Grunde keine Erfolge hat! Er will uns belehren und ist doch selbst nicht über unsere Art, zu denken und zu fühlen, belehrt! Ja, es hat einige verständliche christliche Sendboten gegeben, welche uns studierten und kennen lernten und dann einsahen, daß der Chinese zwar Christ, wenn man seine Eigenart gelten läßt, aber niemals Europäer werden könne. Sie handelten darnach, wurden von unserm Kaiser hoch geehrt und konnten über die Früchte ihrer Arbeit glücklich heimberichten. Da aber verbot man ihnen diese Rücksichtnahme, und die Früchte blieben liegen und verfaulten. Meint man etwa, die bald hier und bald da emporlodernde Empörung gegen die Missionare richte sich gegen ihren Glauben? O nein! Selbst der ungebildetste Chinese hat wenigstens den einen Vorzug, in Beziehung auf die Religion tolerant zu sein. Diese Ausbrüche des angesammelten Zornes werden vielmehr durch die Art und Weise hervorgerufen, in der man diesen Glauben hoch über den unsern stellt und mit rücksichtslosen Sohlen unsere heiligsten Sitten und Gefühle niedertritt. Ich behauptete: und wenn zehntausend Missionare so lange lebten, daß sie zehntausend Jahre lang ihre Religion bei uns verkünden könnten, so würde doch keiner von ihnen mehr erreichen, als was der einzelne bisher erreicht hat, wenn sie nicht ihr jetziges Verhalten ändern und uns als Menschen gelten lassen, die ihre eigenartige Entwicklung und also auch ihre eigene Art, zu denken und zu fühlen haben. Ich gebe zu: es ist keineswegs ausgeschlossen, daß der Chinese ein Christ wird, aber er wird es nur dann, wenn er dabei Chinese bleiben kann!«

Er hob bei diesen Worten die Hand wie zum Schwur empor. Ich hörte ihm an, wie ernst ihm Alles, was er sagte, war. Zeit zu einem Einwurfe oder einer Bemerkung fand ich nicht; er wartete nicht darauf, sondern sprach weiter:

»Und nun die Rassenfrage, die ich eigentlich schon damit erledigt habe, daß ich sagte, der Chinese will Chinese bleiben. Ein gelehrter Christ, den man geistreich nennt, hat kürzlich China besucht und ein Buch über uns geschrieben. In diesem steht zu lesen: ›Ein Dichter oder Künstler soll auf dem Höhenpunkte seines Schaffens sterben. Tut er das nicht, so geht es mit ihm bergab, und der Schatten seiner späteren Jahre verdunkelt seine Werke. So steht es auch mit den Nationen, und der Chinese hat vergessen, zu sterben, als die geeignete Zeit dazu gekommen war!‹ Das mag für europäische Ohren geistreich klingen; es ist aber das grundfalsche Urteil eines Mannes, welcher glaubt, uns in zwei Worten ebenso abtun zu können, wie er in zwei Monaten das Studium unsers Landes und Volks vollständig abgetan zu haben glaubt. Wenn sich der Dichter überanstrengt hat, so soll er nicht sterben, sondern tüchtig essen und dann so lange wie möglich schlafen, um neue Kraft zu gewinnen. Tut er das, so wird er nach seinem Erwachen im neuen Vollgefühle seiner selbst frisch weiterschaffen können. Der Chinese ist so klug gewesen, nicht zu sterben, sondern sich schlafen zu legen. Die Zeit, in welcher er erwacht, kann gestern gewesen sein, kann heut oder morgen kommen. Ich meine nun, für die weiße Rasse sei auch die Zeit nun da, sich von ihren zivilisatorischen Anstrengungen auszuruhen, denn es mehren sich die Zeichen, daß sie des Nachdenkens und der Sammlung bedarf. Ihr Körper hat gelitten; die einzelnen Glieder versagen ihr den Dienst; ihre Gedanken verwirren sich; ihre Empfindungen werden hart; ihr Auge hat sich getrübt, und ihr Ohr vernimmt nicht mehr die Stimmen, die es früher gern und willig hörte. Sie sollte ihre Aufmerksamkeit nicht so sehr nach außen, sondern mehr nach innen richten, um die Schäden zu heilen und die Schwächen zu beseitigen, welche die Folge der Ermüdung sind. Wenn es im Westen Nacht geworden ist, wird es im Osten Tag. Dort steht der Mensch jetzt vor dem müden Abend; hier aber bricht der frische Morgen an. Wenn die ruhebedürftige Rasse die Gereiztheit ihrer angestrengten Nerven für Stärke und den Schlaf der andern Rasse für ein Zeichen der Schwäche hält, so ist es für sie ein Wagnis, die Schläferin gewaltsam aufzuwecken. Man gönne ihr doch ein friedliches Erwachen. Schon graut der Tag. Wir, die wir dazu verpflichtet sind, wir forschen und suchen, und wer mit Liebe und mit Eifer sucht, der muß die Wahrheit finden. Wir gehen zu den westlichen Völkern, um sie und ihre Kräfte und Absichten kennen zu lernen. Ein Jeder von uns hat sein besonderes Land und seinen besonderen Zweck. Der meine ist erreicht. Erreichen die Andern den ihren in derselben Weise, so werden vielleicht, ja wahrscheinlich die niedrigen Wolken des Morgens blutig erglänzen, aber dann, wenn sie verschwunden sind, wird Friede sein auf Erden, wenigstens bei uns! Beherzigt dann der Christ, was ihm von seinem Herrn befohlen ward, so wird er uns als gleichbegabt und gleichberechtigt anerkennen und unser Bruder sein. Dann mag er zu uns kommen, um bei uns zu wohnen und zu lehren. Den Glauben und die Liebe eines Bruders weist man nicht zurück!«

Jetzt stand er von seinem Sitze auf und wartete eine kleine Weile, ehe er hinzufügte:

»So bin ich also bei Ihrem eigenen Worte angekommen, bei der Liebe. Der Kaukasier lehre uns, ihn zu lieben, ehe er uns belehre, nach seiner Art zu beten! Das ist die Antwort, welche wir ihm auf seine ›chinesische Frage‹ geben, die wir bei uns gar nicht kennen! Ich bin fertig mit dieser ›Frage‹ und hoffe zu seinem eigenen Besten, daß er in derselben Weise mit ihr zu Ende kommen werde. Er möge einsehen, daß eine friedliche Wechselwirkung zwischen unsern beiderseitigen Kulturformen in seinem eigenen Interesse liege. Dazu gehört aber, daß er aufhört, sich als den alleinigen Spender und uns als die alleinigen Almosenempfänger zu betrachten. Wir wissen, daß wir nicht ärmer sind, als er. Betrachtet er sich aber auch fernerhin als den reichen Mann und den Chinesen als den armen Lazarus, so kann es kommen, daß dieses Gleichnis sich an ihm und uns in der Weise zu Ende lebt, wie Christus es einst erzählte. Und selbst wenn es ihm gelänge, aus dem von ihm gegen uns herbeigeführten Kampfe als Sieger hervorzugehen, würden ihn die Folgen sehr bald über die uralte Wahrheit belehren, daß die Seele eines in einem Eroberungskampfe siegenden Volkes niemals die Siegerin, sondern stets und immer die Ueberwundene ist!«

Er trat einige Schritte von mir zurück und bat, indem er sich tief verneigte:

»Verzeihen Sie mir, daß ich den Wunsch hatte, Ihnen zu sagen, was und wie ein Chinese über diese Religions- und Rasseangelegenheiten denkt und spricht! Grad Sie sollten die nackte, unverfälschte Meinung meines Volkes kennen lernen, weil es mir ist, als ob uns nach der Landung und Trennung in Penang ein Wiedersehen beschieden sei, und weil ich ahne, daß Ihr deutsches Volk uns schneller und besser verstehen lernen werde als diejenigen Völker, deren Seelen anders als die deutsche fühlen. Wenn ich Sie nicht zu Worte kommen ließ, so tat ich das nicht aus Unhöflichkeit. Was Sie als Christ und Abendländer mir entgegnen würden, das weiß ich ebenso genau, wie Sie es wissen, und wollte Ihnen eine Rechtfertigung ersparen, welche zwar volltönend beginnt, aber schließlich doch nur zur Entschuldigung wird. Der Kaukasier befindet sich in einem doppelten Irrtum: er glaubt, uns zu kennen, und er denkt, daß wir ihn nicht kennen. Aber China und die Chinesen sind ihm trotz der europäisch gefärbten Bücher, nach denen er uns beurteilt, fast ebenso unbekannt geblieben, wie sie es waren, als er sie zum ersten Male sah. Er hat die Eigenart des Geistes nicht begriffen, der treu und schützend, wie der Drache alter Sagen, über unseren Ländern und Gewässern schwebt. Da haben Sie die Bedeutung unseres Nationalsymboles! In Ihren Augen eine Häßlichkeit, ist dieser Drache für uns ein Hüter tief vergrabener Schätze, dessen wahre Gestalt, jetzt noch unter seltsamer Form verborgen, sich nur dem Auge desjenigen Fremden zeigen wird, welcher nicht kommt, diese Schätze für sich allein zu stehlen, sondern sie mit liebe- und verständnisvoller Hand zum Segen Aller an das Tageslicht zu ziehen. Dann, aber auch erst dann wird man beginnen, China kennen zu lernen. Uns aber ist Ihr Westen längst kein Rätsel mehr. Wir haben Augen hingesandt, unerbittlich scharf und unbefangen blickende Augen, und diesen Augen ist nichts entgangen, was sie sehen mußten, um die uns drohende Gefahr in ihrem ganzen Umfange zu erkennen, aber auch die Schwächen derer, die uns meistern wollen, alle zu durchschauen. Und wer bei gleicher Kraft im Kampf den Andern besser kennt, der braucht sich nicht zu fürchten!«

Ich war natürlich auch von der Bank aufgestanden. Schon hob ich die Hand, um sie ihn zum Abschiede zu reichen; er nahm sie aber noch nicht, sondern fuhr fort:

»Sie wollen mich in europäisch-herzlicher Weise entlassen. Wissen Sie, daß Sie das schon einmal noch viel herzlicher, und zwar chinesisch getan haben? Das war bei meinem Morgenbesuche in Point de Galle. Sie ahnten wahrscheinlich gar nicht, wie hoch Sie mich durch Ihr Schweigen stellten. Hoch über jede Klage, und ebenso hoch über jeden Dank! Wie kam es, daß Sie es taten? Etwa weil Sie es wußten, oder weil Sie es wollten? O nein. Die Menschenliebe ists, die immer vornehm handeln läßt, selbst in den unbekanntesten Verhältnissen! Ja, geben Sie mir Ihre Hand. Ich will sie Ihnen in deutscher Freundesweise drücken!«

Als er gegangen war, nahm ich meine Arbeit wieder auf, die mich bis zum Morgen beschäftigte. Da sah ich, daß wir uns in der Straße von Malakka befanden. Am südlichen Horizonte trat die Diamantspitze von Sumatra hervor; wir näherten uns Penang.

Die Passagiere kamen alle an Deck, wie es ja immer ist, wenn man sich einem Hafen nähert. Sejjid Omar brachte schon unser Gepäck getragen; er liebte es, stets als der Erste bereit zu sein, und es gehörte bei ihm zu den Unmöglichkeiten, irgend einen Aufbruch oder eine Abfahrt zu versäumen.

»Was wohnen für Leute in Penang, Sihdi?« fragte er mich, indem er ein pfiffiges Gesicht zog. Er schien Etwas im Hinterhalte zu haben.

»Europäer, aber sehr wenig, ferner Hindu, Parsen, Chinesen, von diesen sehr viel, und Malaien.«

»Also wirklich Malaien?«

»Ja. Interessiert dich das? Du kannst ja nicht mit ihnen sprechen!«

»Ich? Nicht sprechen?« rief er aus. »Darf ich als Malaie kommen und bei dir anklopfen?«

»Ja.«

»Gut! Du bist ein Schneider und heißest Kadaja. Paß auf!«

Er machte die Bewegung des Anklopfens und Hereinkommens und sagte dann:

»Salamat paga tuwan! Apa kowa ada tukang mendjahit namanja Kadaja – guten Morgen, Herr! Sind Sie der Schneider Kadaja?«

»Saja tuwan – ja,« antwortete ich.

»Apa kowe bisa mendjahit satu tjelana – können Sie mir eine Hose machen?«

»Saja tuwan – ja.«

»Brapa kowe minta terri satu tjelana – wieviel verlangen Sie für eine Hose?«

»Tiga ratus rupiajah wolanda – dreihundert Gulden holländisch,« antwortete ich, indem ich das Lachen verbiß.

Da sagte er zunächst nichts, sann sehr ernst nach, legte die Zeigefinger zählend auf einander, murmelte halblaut die Zahlen dazu, dann lachte er plötzlich laut und rief aus, indem er aus dem Malaischen in das Arabische fiel:

»Nein, Sihdi, das kannst du nicht von mir verlangen. Für eine Hose gebe ich dir nicht dreihundert Gulden. Das ist mir doch zu viel!«

»Gut, also mache ich dir keine! Wo hast du denn diese malaischen Worte her?«

»Von zwei Schneidern, welche Malaien waren und in Colombo neben meinem Gasthause wohnten und flickten. Ich habe viel mit ihnen gesprochen. Aber die malaische Sprache hat auch nur Redensarten, die man auswendig lernen muß, wenn man sie sprechen will. Und diese Leute gefallen mir nicht; sie zanken sich so gern!«

In diesem Augenblicke ertönte von der anderen Seite unsers Deckes her ein Schrei.

»Mann über Bord!« brüllte ein Matrose drüben.

Wir eilten hinüber und erfuhren, daß es sich um einen der sechs Gentlemen handelte. Diese waren aus ihren Kojen auch herausgekommen und hatten verlangt, daß man die Sonnengardinen niederlasse. Jedes diese südlichen Meere befahrende Schiff ist nämlich nicht nur mit einem Sonnendache, sondern auch mit Back- und Steuerbordleinwand versehen, welche man auf der Seite, wo die Sonne steht, niederläßt, um Schatten zu haben. Nun war es aber heute noch so früh am Tage, von Hitze keine Rede, und außerdem hatten wir bis nach Penang nur noch eine Stunde; es wäre also schade um die Arbeit gewesen, ganz abgesehen davon, daß die Matrosen jetzt, so kurz vor dem Hafen, mehr zu tun hatten, als des überflüssigen Wunsches launenhafter Passagiere wegen auf der Reling herumzuklettern. Die Leinwand ist des Windes wegen natürlich sehr fest angeknotet, und es erfordert Zeit, sie loszubekommen. Aber die Zivilisatoren hatten sich nun einmal in den Kopf gesetzt, daß sie heruntergelassen werden müsse, und da ihnen kein Matrose gehorchte, so setzten sie ihren Willen eigenmächtig durch, indem sie, was übrigens den Passagieren verboten war, auf die Regeling stiegen, um die Leinwand loszubinden. Der Lauteste von ihnen, derselbe, welcher in Point de Galle den Vorschlag gemacht hatte, den Chinesen in ihr Zimmer zu zerren, hatte dabei die Balance verloren und war in die See gestürzt. Auf den Schrei, der hierauf erfolgte, war der Quarterdienst sofort nach dem Bug geeilt, um den dort hängenden Rettungsring hinabzuwerfen, und der Offizier vom Dienst erteilte ebenso schnell den Maschinisten die nötigen Befehle. Das Schiff hat an die Unglücksstelle zurückzukehren, was dadurch geschieht, daß es einen Bogen steuert. Aber die Kraft der Beharrung ist nicht plötzlich zu überwinden, und man hat selbst im allergünstigsten Falle zwei bis drei Minuten zu rechnen, ehe es den betreffenden Punkt wieder erreicht. Inzwischen wird der über Bord Gestürzte, wenn er kein guter Schwimmer ist und die Rettungsboje nicht ergriffen hat, ertrunken sein. Es gilt aber, zu bedenken, daß das Schiff von dem Augenblicke des Unfalles an, bis diese Boje geworfen wird, einen so bedeutenden Weg zurücklegt, daß der Verunglückte sich weit hinter dieser Boje im Wasser befindet und sie, falls er nicht Schwimmer ist, auch nicht erreichen wird.

Dieser Fall lag hier vor. Gerade als wir hinüberkamen, flog der Korkring über Bord, aber der in die See Gestürzte tauchte weit, weit hinter ihm aus dem Wasser auf, warf die Arme in die Luft und verschwand dann wieder.

»Er kann nicht schwimmen?« rief ich seinen Gefährten zu.

»Nein. Er ist verloren!« antworteten sie alle.

Da warf ich meinen Hut weg, riß den Rock herunter und – –

»Nein, du nicht, sondern ich, Sihdi! Soll Einer von uns ertrinken, dann lieber ich als du!«

Indem Sejjid Omar dies sagte, schleuderte er die Pantoffel von den Füßen, warf den Kaftan ab und schwang sich auf die Regeling.

»Kannst du denn schw – – –«

»Ja!« rief er, noch ehe ich die Frage ganz ausgesprochen hatte.

»Nimm dich vor den Haifischen in Acht!« konnte ich ihn noch warnen. Gerade jene Küstenwässer sind dieser gefräßigen Tiere wegen berüchtigt.

»Labbehk, Allah, labbehk – hier bin ich, o Gott, hier bin ich!«

So rufen die muhammedanischen Pilger, wenn sie Mekka vor sich liegen sehen; so ruft der Moslem, wenn er eine Gefahr, ein Wagnis auf sich nimmt; so rief auch mein Sejjid Omar; dann stürzte er sich hinunter in die Flut. Ein Schwung brachte nun auch mich auf die Regeling. Ich war entschlossen, nachzuspringen, falls sich nicht herausstelle, daß er ein ganz vorzüglicher Schwimmer sei.

Das Gewicht des Sprunges hatte ihn natürlich unter Wasser gebracht; jetzt tauchte er wieder auf. Er gab sich eine Viertelwendung und schwamm auf der rechten Seite, weit und sicher ausgreifend, kräftig und ruhig nachstoßend. Ich sah, daß ich keine Angst um ihn zu haben brauchte. Die Wendung ermöglichte es ihm, mich stehen zu sehen.

»Bleib oben, Sihdi!« erscholl seine Stimme. »Allah ist bei mir!«

»Schau auf das weiße Tuch, und schwimm so, wie ich es dir zeige!« Das konnte ich ihm noch zurufen, dann kam er außer Hörweite.

Ich sprang wieder herab, hin zu den Vögeln, wo der Tisch des Kapitäns stand. Es lag auf ihm ein weißes Tafeltuch. Ich nahm es und eilte wieder an die Brüstung. Der Sejjid war klug; er schwamm ganz genau im Sog, dem Wasserstreifen, den die Bewegung der Räder oder der Schiffsschraube hinter sich zurückläßt. Es schwimmt sich da zwar schwerer als auf ruhigem Wasser, aber dieser Streifen bot Omar die einzige Möglichkeit, sich zu orientieren und nach der betreffenden Stelle zurückzufinden.

Jetzt hatte er den Rettungsring erreicht und zog ihn an sich. Aber den Gentleman konnte er nicht sehen. Selbst wenn dieser hätte schwimmen können, wäre es Beiden unmöglich gewesen, einander zu erblicken. Auch ich sah ihn nicht. Hatte die Tiefe ihn schon hinabgezogen?

Der zweite Offizier stand neben mir, das Glas in der Hand. Ich nahm es ihm, ohne mir Zeit zur Bitte zu lassen, weg und sprang nach den Mittelwanten, das Tuch natürlich mitnehmend. Schnell hinauf nach dem Ausguck, der sich von den Herren Landratten »Mastkorb« nennen lassen muß! Da oben stand ich nun hoch genug. Ich sah Omar, und er mußte auch mich, wenigstens mein weißes Tuch sehen. Sein heller Kopfbund stach von dem dunkeln Wasser ab. Nun richtete ich suchend das Glas weiter auf das Sog hinaus, welches sich dort zu beruhigen und zu verbreitern begann. Da sah ich einen Gegenstand, welcher mehr bewegt wurde, als daß er sich selbst bewegte. Hoffentlich war das der Verunglückte! Ich wehte mit dem Tuche nach der Richtung, in welcher sich dieser Gegenstand von dem Sejjid befand, und sah, daß ich von ihm verstanden wurde; er folgte dieser Richtung; zwar wich er, da die Wasserfläche seinem Blicke keinen Anhalt bot, einige Male von ihr ab, verbesserte aber diese Irrtümer infolge meiner Winke, und so gelang es ihm, den Körper zu erreichen, der sich in größter Gefahr befand, denn er verschwand so oft unter Wasser, daß jedes Wiederuntertauchen das letzte sein konnte.

Nun darf man nicht meinen, daß wir während dieser Zeit Omar und den Andern immer hinter uns hatten. Der Dampfer war ja umgekehrt und machte einen Bogen; daher kam es, daß wir auf dem letzten Teile dieses Bogens gerade auf sie zuhielten. Inzwischen war das auszulegende Boot in den Daviden klar geworden, und der Dampfer stoppte, um es niederzulassen. Omar hatte den Kopf durch die Leine des Rettungsringes gesteckt, so daß er diesen unter dem Rücken hatte und mit dem Gesicht nach oben schwamm – ein lobenswert pfiffiger Gedanke! Der Gentleman lag quer über ihm, vollständig bewegungslos. So kam der Brave auf uns zugeschwommen. Man nahm Beide in das Boot auf, welches wieder emporgewunden wurde, ohne einen Ruderschlag getan zu haben. Es hätte also auch das Fallreep genügt. Das Schiff nahm die unterbrochene Fahrt wieder auf.

Natürlich stand Alles, was auf dem ersten Platze Zutritt hatte, da, um den aktiven und passiven Helden dieses Vorkomnisses zu empfangen. Der passive, welcher tot zu sein schien, wurde unter Aussicht des Schiffsarztes sofort heruntergeschafft; um den Sejjid aber entstand ein bewunderndes Gedränge, dem er sich jedoch schnell entzog. Er holte seinen Kaftan und seine Pantoffel und verschwand nach dem Vorderdeck, um ein trockenes Unterkleid anzulegen. Dann kehrte er zurück. Der Kapitän und die Offiziere drückten ihm die Hände. Fang, der Chinese, eilte herbei, um dasselbe zu tun. Die Matrosen nickten ihm mit vertraulichem Lächeln ihre Bewunderung zu; aber die fünf Gentlemen, denen der Arzt verwehrt hatte, ihren Genossen hinabzubegleiten, standen ganz ebenso wie die übrigen »Zivilisatoren« von fern und schienen gar nicht zu begreifen, daß man sich mit einer so tiefstehenden Persönlichkeit in dieser Weise beschäftigen könne.

»Nun, Sihdi, kann ich schwimmen?« fragte mich der Sejjid, als er endlich Zeit fand, auch zu mir zu kommen.

»Vortrefflich, Omar, vortrefflich!« antwortete ich. »Du hast es im Nil gelernt?«

»Ja. Aber so oft ich nach Port Saïd kam, bin ich im Meere weit über den Franzosen hinausgeschwommen. Es ist so schön, zu wissen, daß man nicht untergeht!«

Mit diesem »Franzosen« meinte er das über lebensgroße Standbild, welches man Lesseps, dem Schöpfer des Suezkanals, dort mitten in brandenden Wogen errichtet hat.

»Aber gefressen kann man werden! Nimm dich später in Port Saïd in Acht! Mir selbst ist es mitten im Hafen zweimal passiert, daß ein Haifisch an meinem Boote vorüberschwamm.«

»O, Sihdi, wenn Allah nicht will, so darf sogar der Haifisch nicht! Der Islam glaubt an zwei Engel, die stets bei jedem Menschen sind. Dieser sieht sie zwar nicht, aber sie schützen ihn in jeder Not und Gefahr, und ihr Schutz hat nur dann keine Kraft, wenn der Mensch aufgehört hat, gut zu sein. Weißt du, Sihdi, ich denke, diese beiden Engel sind es, die den Gentleman aus dem Wasser geholt haben; nicht ich bin es gewesen. Sie haben es durch meine Hand getan, weil ich schwimmen kann. Ob er gerettet ist, weiß ich nicht. Als ich ihn erreichte, war kein Leben mehr in ihm; er wurde vom Wasser wie ein Stück Holz hin und her geworfen. Aber ich würde mich sehr freuen, wenn er erwachte!«

»Unser Feind!« warf ich ein.

»Das ist er nicht mehr. Wir haben ihn die Treppe hinuntergeworfen; das war die Strafe. Und wenn die Strafe vorüber ist, so ist auch die Tat vorüber; man darf nicht mehr an sie denken. Wozu wäre denn die Strafe, wenn die Tat noch bliebe? So denke ich, Sihdi! Denkt ihr Christen etwa anders? Werft ihr einem Manne, welcher bestraft worden ist, die Strafe und die Tat später noch vor? Und nun ich diesem Fremden nachgeschwommen bin, um ihn zu retten, ist es mir, als ob das Andenken an seine Ungezogenheit da draußen im Wasser ertrunken sei. Kann man einem Menschen Gutes erweisen und dann noch bös über ihn denken?«

Ich gestehe offen: als er das sagte, schämte sich etwas in mir, dem Europäer und Christen, vor ihm, dem Araber und Muhammedaner. Und dieser so richtig fühlende und edel denkende Afrikaner war – – – »ein Eselsjunge!«

Der Arzt kam nicht eher wieder herauf, als bis wir im Hafen von Penang Anker warfen. Es waren eine ganze Stunde lang künstliche Bewegungen notwendig gewesen, um den Atem wieder zu beleben, doch nun erfuhren wir, daß der Patient gerettet sei.

»Jetzt schläft er und wird in einigen Stunden an das Land gehen können,« meinte der Doktor. »Aber es steht außer allem Zweifel, daß er sein Leben Ihrem Araber verdankt. Das habe ich ihm gesagt, als er für kurze Zeit erwachte. Omar hat ihn solange über Wasser gehalten, bis wir kamen; hätte er das nicht getan, so wären wir eben – – – zu spät gekommen.«

Als der Sejjid mich fragte, wo wir wohnen würden, zeigte ich ihm das »East and Oriental Hotel«, welches wir im Schatten hoch- und vollwipfeliger Bäume von unserm Ankerplatze aus am nahen Strande liegen sahen. Aber trotz dieser Nähe mußten wir nach der Landung per Rickschah einen weiten Umweg durch einen großen Teil der Stadt machen, um nach diesem Hause zu gelangen.

Mein Abschied vom Kapitän war herzlich. Es ist nun einmal so, ich habe ein Faible für jeden Oesterreicher, und wer das für einen Fehler hält, der mag ihn mir verzeihen! Freilich, wenn man mich fragte, für welche Nationalität ich kein Faible habe, so käme ich wohl in Verlegenheit, denn ich bin ihnen allen, allen gut. Und das soll man ja wohl auch!

Ich hatte gedacht, Sejjid Omar würde wohl nicht gern eher vom Schiffe gehen, als bis sich der Engländer sehen ließ. Einen Dank hatte er verdient, und es wäre ganz menschlich gewesen, solange an Bord zu bleiben, bis er ihn bekommen würde – – ein freundliches, anerkennendes Wort, nichts weiter. Aber er schien gar nicht daran zu denken und war von allen Passagieren der erste, welcher nach einem der vielen eigenartig gebauten, bunt bemalten Landungsboote rief. Daß er dies malaisch tat, versteht sich ganz von selbst; er hatte die dazu nötigen Worte auswendig gelernt.

Hier waren unsere Rickschahmänner nicht Singhalesen oder Tamilen, sondern Indochinesen, die er mit einem kräftigen »Tsching tsching« »Heil, heil!« der chinesische Gruß., was er aber »Tsing tsing« hätte aussprechen sollen, begrüßte. Es waren echte, kräftige untersetzte Kuligestalten mit riesigen Hüten auf den Köpfen, doch hatten sie beileibe keine kompliziertere Toilette als unsere Rickschahleute ceylonischen Angedenkens. Nur darf ich nicht vergessen, zu erwähnen, daß dort in Colombo der Zopf sehr elegant mit einem Kamme auf den Kopf befestigt war, während er hier in Penang in Gestalt eines von den Motten verheerten Meerkatzenschwanzes hin- und herpendelte.

Das East and Oriental Hotel besteht aus zwei Abteilungen, einer einheimischen und einer europäischen. Die letztere habe ich, den Speisesaal ausgenommen, gar nicht betreten, denn ich lasse mich nicht gern zwingen, jeden Tag volle vierundzwanzig Stunden lang nur immer »Lord« und gar nichts Anderes zu sein. Die andere Abteilung, eine sehr in Ruhe gelassene Dependence, liegt seitwärts, lang gestreckt an einem schmalen Garten hin, den herrlich bewipfelte Bäume einfassen. Gleich hinter diesen Schattenspendern rauscht Tag und Nacht die See am Strand empor, und es ist so wunderbar, so wenige Schritte von ihr im Wachen und im Traume unausgesetzt das mächtige Recitativ »Ihn preisen alle Meere« aus dem von Gottesengeln komponierten Oratorium »Das Halleluja der Schöpfung« erklingen zu hören. Die Natur spricht nicht in artikulierten Worten zu uns, weil ihre Sprache nicht für das Ohr, sondern für das Herz berechnet ist; ihre Laute sollen in die Tiefe dringen, weil sie aus der Höhe kommen; wer ihnen aber die Tiefen seines Innern verschließt, für den werden jene Höhen, aus denen sie erschallen, nicht vorhanden sein!

Die Dependence war so wenig besetzt, daß es mir freistand, unter den vorhandenen Wohnungen nach meinem Belieben die Wahl zu treffen. Jedes einzelne Logis nimmt einen Querschnitt durch das ganze Gebäude ein und besteht aus mehreren Räumen. Vorn liegt der Garten, von dem aus man in das orientalisch ausgestattete Vorzimmer tritt; dann folgt das geräumige, immer kühle Wohngemach, aus welchem man nach hinten in einen Flur kommt, der auf der einen Seite nach der Badestube und auf der andern nach den Toilettenräumen führt. Hieran schließt sich ein wohlgepflegter Blumengarten, innerhalb dessen Einfassung sich die lieblichen oder auch stolz-schönen Vertreterinnen der hinterindischen Flora durch die Augen in die Herzen schmeicheln. Das Alles steht jedem einzelnen, für sich wohnenden Gaste zur Verfügung. Man sieht, es wird mit den Quadratmetern nicht gespart, und wem das zu splendid erscheint, den kann ich durch die gewichtige Versicherung beruhigen, daß später durch die Rechnung Alles ausgeglichen wird. Es steht im Buche der »Gesunden Vernunft« geschrieben, daß kein Hotelbesitzer mehr liefert, als er sich bezahlen läßt.

Dieses Nebengebäude hat ein Stockwerk mit ganz ebenso angeordneten Räumlichkeiten. Es stand vollständig leer, und da ich unten keine Nachbarn neben mir hatte, so wohnte ich so still und ungestört, wie ich nur wünschen konnte. Für Sejjid Omar brauchte ich keinen besonderen Raum, denn er erklärte, in meinem Vorzimmer schlafen zu wollen. Er tat dies aus Anhänglichkeit zu mir; die Leitung des Hotels aber hatte das, wie ich später bemerkte, als eine nach ihrer Ansicht übel angebrachte Sparsamkeit aufgefaßt, infolge deren sie nun nicht recht wußte, woran sie mit mir war. Mit einem eigenen arabischen Diener kann doch wohl nur ein wohlhabender Mann reisen; aber wenn für das Logis dieses Dieners nichts ausgegeben wird und nur so wenig Gepäck vorhanden ist, wie ich besaß, so hat man in einem englisch dirigierten Hotel allerersten Ranges Veranlassung, dem betreffenden Gaste ja nicht zu viele Verbeugungen zu machen. Mir aber war das eben recht. Es ist mir niemals eingefallen, nur um im Gasthause zu imponieren, eine Menge überflüssigen Gepäckes mit mir herumzuschleppen.

Der erste Beweis, daß ich nicht als erstklassig galt, wurde mir zu Mittag geliefert. Man unterließ es, mir zu melden, daß zur Tafel gegangen werde. Das Zeichen, welches mit dem Gong gegeben wird, war wegen der Entfernung nicht zu hören. Omar aber war eben in dem Hauptgebäude gewesen und benachrichtigte mich.

»Die Herren sind alle unten schwarz und oben weiß, mit einer Spitze hinten,« sagte er, »und die Damen haben ihre Koffer leer gemacht und Alles an sich aufgehängt.«

Man geht nämlich in Indien gern in schwarzer Hose und kurzer, weißleinener Jacke, deren schößeloser Rand eng an der Taille liegt und hinten eine Schneppe hat, zum Frühstückstische. So knabenhaft das aussieht, es wird von den Touristen nachgemacht. Man gibt auf solche Aeußerlichkeiten sehr viel, und wer sich von ihnen ausschließt, der darf nicht erwarten, als »fair« behandelt zu werden; es wird über ihn hinweggesehen wie über eine leere Stelle, an welcher sich Niemand befindet.

Es gab keine langen Tafeln, sondern nur einzeln stehende Tische im Speisesaale; das »my house is my castle« wird gerade von Denen, welche keine anderen als nur ihre Koffer-Schlösser besitzen, am augenfälligsten zur Schau gelegt. Jeder Tisch wurde von zwei Eingeborenen bedient, welche in lange, weiße Gewänder gekleidet waren und rote Shawls um die Hüften gewunden hatten. Das sah sehr sauber und außerdem sehr vornehm aus. Es war mir nicht eingefallen, meinen bequemen, weißen Reiseanzug abzulegen; man beachtete mich also nicht, und das war mir eben recht. Ich ging dorthin, wo es zwei leere Tische gab, und setzte mich an einem derselben nieder.

Eben als ich mit dem Essen begonnen hatte, traten vier Personen in den Saal, die sich dem neben mir stehenden Tische näherten, um an demselben Platz zu nehmen. Es waren zwei Herren und zwei Damen. Der eine der Herren war der Kapitän des Schiffes, welches uns gelandet hatte. Er trug Paradeuniform, wahrscheinlich wegen der Herrschaften, bei denen er sich befand. Diese waren jedenfalls Vater, Mutter und Tochter, der Erstere alt, doch militärisch gerade und stramm, sehr einfach gekleidet, aber jeder Zoll an ihm den vornehmen Mann verratend. Man kannte ihn im Hotel; die Dienerschaft flog herbei und zeigte eine Ehrerbietung, die man nur hochgestellten Personen zu widmen pflegt. Der Kapitän trat zu mir heran, gab mir die Hand und flüsterte mir eilig zu:

»Ist General – – ich hatte ihm geheime Papiere zu bringen – – persönlich – – lud mich ein, mit ihm zu speisen – – mußte also meinen Aufenthalt hier um einige Stunden verlängern.«

Dann ging er wieder zum andern Tisch hinüber. Da er mich gegrüßt hatte, wurde mir auch von den andern Drei eine höfliche Verbeugung, ehe sie sich setzten. Dann unterhielten sie sich in jenem ungezwungenen aber gedämpften Tone, welcher die Worte zwar nicht hören, doch deutlich ahnen läßt.

Nicht lange hierauf wurde die Tür von außen dröhnend aufgerissen, und wer kam mit überlauter Rücksichtslosigkeit hereingestürmt? Die lieben Zivilisatoren und Gentlemen, welche also demselben Hotel die Ehre gegeben hatten, sich den Trägern der abendländischen Kultur öffnen zu dürfen. Sie hatten mehrere zusammengeschobene Tische für sich bestellt und stürzten sich nach ihren Plätzen, als ob sie es gar nicht erwarten könnten, ihren Tropenkoller auch an dieser Stelle auszulassen. Der von meinem Omar Gerettete war auch mit dabei. Er hieß Dilke und schien sich vollständig wieder erholt zu haben, denn er gab sich die größte Mühe, der Lebhafteste von ihnen zu sein, und forderte sie in übermütiger Weise auf, die »heutige, gloriose Schwimmpartie« auf seine Rechnung mit ihm zu feiern und zunächst mit einem ebenso gloriosen, steifen Grog zu beginnen.

Als die Kellner das Getränk brachten, wurde es sofort hinuntergestürzt und in zweiter Auflage gleich nochmals bestellt. Dann ließ man verschiedene Rums, Arraks und Kognaks kommen, um »den Appitit zu stärken«, worauf man bei der erscheinenden Suppe zum schweren Weine überging. Das geschah Alles so laut, so unmanierlich, als ob die andern Gäste der Beachtung gar nicht würdig seien. Ich sah, daß man allgemein empört hierüber war. Die Elite des Occidentes schien dies aber gar nicht zu bemerken. Sie hatte nur Augen für sich, für ihre Flaschen und Gläser, bis der Blick Eines von ihnen so gütig war, über den Saal hinüber auf mich zu fallen und mich zu erkennen. Er teilte den Andern mit, wen er gesehen hatte. Da gab es zunächst ein kurzes, heimliches Flüstern, dann erfolgte das, was mir auf dem Schiffe gelungen war, zu verhüten – der Angriff gegen mich. Man fragte laut, ob es einem Deutschen erlaubt sei, hier in Penang mitten unter Gentlemen zu wohnen und zu speisen. Es sei Einer da, der nicht einmal die vorgeschriebene Toilette gemacht habe. Das müsse man als eine Beleidigung der öffentlichen Sitte, der ganzen, hier anwesenden Gesellschaft auffassen. Hierauf wagte man es sogar, von mir auf Deutschland überzugehen. Man sprach von meinem Vaterlande in Ausdrücken, welche mich zu dem Entschlusse brachten, jetzt zwar noch zu schweigen, nach Tisch aber diese Leute coram populo vorzunehmen. Doch sollte es hierzu nicht kommen, denn es trat ein Anderer für mich ein, der General.

Er saß so, daß er sie alle genau beobachten konnte. Sein Gesicht hatte sich vor Zorn gerötet. Ich sah, daß er mit dem Kapitän von ihnen sprach. Dieser antwortete in langer zusammenhängender Rede. Wahrscheinlich erzählte er, wie sich diese Herren schon auf dem Schiffe betragen hatten und was es mit der »heutigen, gloriosen Schwimmpartie« eigentlich für eine Bewandtnis habe. Jetzt fingen sie sogar von meinem Araber an. Ich sei mit diesem Kerl so sehr verbrüdert, daß man gar nicht wisse, wen man als den Herrn und wen man als den Diener zu behandeln habe. Es sei aber eben Deutschlands einzige, und noch dazu nur eingebildete Größe, daß es mit jeder Rasse pokuliere, um ihr den Floh der Menschenwürde in das Ohr und den Ungehorsam gegen andere, höhere Nationen in den Kopf zu setzen. Ich hätte mich mit meinem ungezogenen Araber sogar der frech gewordenen Chinesen angenommen, und wenn man sich das nicht gefallen lassen wolle, so sei Germania sofort mit rohen Fäusten da, um mit Prügel darzulegen, was es auf andere, gebildete Art niemals beweisen könne.

Die Mannschaften und Offiziere des Schiffes, also wohl auch der Kapitän, hatten von Omar erfahren, daß die sechs Gentlemen von uns die Treppe hinabgeworfen worden waren. Der General hatte es nun auch gehört. Er sagte so laut, daß ich es deutlich verstand:

»Sie hatten noch viel Schlimmeres verdient, als diese ›gloriose Treppenpartie‹. Wenn sie nicht augenblicklich tun, was ich ihnen befehlen werde, stürzen sie dieses Mal noch tiefer!«

Er stand auf und ging zu ihnen hin, langsamen Schrittes, hoch aufgerichtet. Jedermann sah, daß diese vornehme, gebieterische Gestalt sehr wahrscheinlich mit einer Katastrophe nahte. Dennoch rief einer der Gentlemen spottend aus:

»Wer kommt denn da? Im armseligen Straßenrock! Also auch ein Deutscher, der kein Geld zur weißen Frühstücksjacke hat! Will mit uns reden, wie es scheint! Steht auf! Erhebt Euch von den Sitzen! Achtung, dem Achtung gebührt!«

Sie sprangen alle empor und sahen dem General laut lachend entgegen. Dieser kam heran, blieb vor ihnen stehen, griff in die Tasche und sagte:

»Hier meine Karte!«

Er warf sie auf den Tisch. Einer nahm sie weg, las sie und gab sie seinem Nachbar. Und wie sie nun von Hand zu Hand weiterging, so wurde die Szene eine ganz andere. Die Gesichter zeigten sehr deutlich den Schreck, der Jeden beim Lesen des Namens ergriff. Die erst ironische Achtung war plötzlich ernst, sehr ernst geworden. Da fuhr der General fort, indem er sich halb wendete und auf mich zeigte:

»Ihr habt dort den deutschen Gentleman und sein Vaterland verhöhnt. Jetzt marschiert Ihr hin zu ihm und bittet um Verzeihung, alle, ohne Ausnahme! Wer nicht gehorcht, den schicke ich mit dem nächsten Schiffe heim! Wir brauchen allerdings Gentlemen, aber keine Renommisten! Vorwärts – – marsch!«

Keiner wagte ein Wort der Entgegnung. Er hielt den Arm noch ausgestreckt, und sie setzten sich in Bewegung, um zu gehorchen. Da stand ich auf und sagte:

»Ich danke Ihnen, General! Die Beleidigten verzichten auf die Abbitte und erklären sich für befriedigt!«

Er nickte mir halb verwundert zu und antwortete:

»Dann haben nicht Sie mir zu danken, sondern ich Ihnen im Namen dieser unvorsichtigen Leute. Gestatten Sie, daß Ihr Diener hieher zu Tisch geladen wird?«

»Ja,« sagte ich, indem ich mich wieder niedersetzte.

Er drehte sich den Blamierten wieder zu und fragte:

»Welcher von Euch heißt Dilke?«

»Ich,« antwortete der Betreffende.

»Ihr schickt jetzt auf der Stelle nach Sejjid Omar, und wenn er kommt, so bittet Ihr ihn, mit Euch zu speisen! Ihr behandelt ihn mit der Hochachtung und Dankbarkeit, die ihm als Sejjid und als Lebensretter gebührt! Das ist mein Befehl, und ich bin gewohnt, daß man mir gehorche!«

Nach diesen Worten kehrte er an seinen Platz zurück. Als er sah, daß ich abermals aufstand, um mich anerkennend zu verbeugen, kam er bis zu mir heran, gab mir die Hand und sprach:

»Bitte, keinen Dank! Ich tat nur meine Schuldigkeit. Sie wissen, es gibt in jedem Volke derartige Bestandteile, mit denen ohne Kandare nicht auszukommen ist.«

Er hatte das so laut gesagt, daß man es im ganzen, jetzt still gewordenem Saale hörte; dann ging er nach seinem Platze. Man kann sich denken, mit welcher allgemeinen Spannung dem Erscheinen Omars entgegengesehen wurde. Er befand sich drüben in meiner Wohnung; aber es dauerte doch einige Zeit, ehe er kam. Der Grund dieser Verzögerung lag darin, daß er sich von dem nach ihm geschickten Kellner hatte erzählen lassen, um was es sich eigentlich handle. Wie ich ihn kannte, war ich überzeugt, daß sich die Gentlemen nun auf eine zweite Niederlage gefaßt zu machen hatten. Er kannte in Punkto Ehre keinen Spaß!

Endlich stellte er sich ein, in seinem besten arabischen Gewande, mit dem seidenen Unterkleide, nicht den Tarbusch, sondern den Turban auf dem Kopfe. Dilke rief ihm zu:

»Komm her zu uns, und setze dich! Du sollst mit uns speisen.«

Also keine höfliche Einladung, sondern viel eher ein Befehl! Noch dazu per Du! Da hatte er sich in Omar freilich verrechnet! Dieser nahm seine würdevollste Haltung an, ging nur bis zur Hälfte zu ihm hin, blieb dann stehen und fragte englisch:

»Was hast du gesagt? Ich soll mit Euch speisen? Ich soll? Weißt du, ich bin Sejjid Omar, der niemals soll, sondern nur das tut, was er will!«

»Es ist aber befohlen worden!« versuchte Dilke, sich aus der Verlegenheit zu reißen.

»Befohlen? Wem? Jedenfalls nur Euch! Denn Ihr tut das, was sich schickt und was sich gehört, nur auf Befehl. Ich aber tue es freiwillig und weil ich es liebe. Guten Menschen befiehlt selbst Allah nicht, sondern er bittet bloß. Mit solchen aber, die nicht gut sind, esse ich weder freiwillig und noch viel weniger gezwungen. Ich danke für deinen Befehl!«

Er drehte sich um und wollte wieder gehen. Da sprang der General auf und rief ihm zu:

»Sejjid Omar, das haben Sie gut gesagt. Ich achte Sie! Darum bitte ich Sie, hierher zu kommen und mit mir zu speisen. Meine Frau, die Generalin, wird Sie gern an ihrer Seite sehen. Wollen Sie?«

Da kreuzte Omar seine Arme auf der Brust, verbeugte sich und antwortete:

»Mein Sihdi hat mich gelehrt, Old England lieb zu haben, und wen ich liebe, dem schlage ich keinen Wunsch ab, den ich erfüllen kann.«

»So kommen Sie! Den Leuten dort aber habe ich heut noch zu lehren, höflich zu sein, zumal wenn es sich um meine Befehle handelt!«

Die beiden Damen nahmen den Sejjid zwischen sich. Ihre lieben Gesichter glänzten vor Freude über den sonderbaren, aber ganz gewiß herzlich willkommenen Gast, der sich in so höflicher und fehlerloser Weise zu ihnen setzte und schon bei den ersten Griffen nach Messer und Gabel verriet, daß sie sich seiner sicherlich nicht zu schämen brauchten. Uebrigens muß ich sagen, daß Omar zwar am liebsten auf arabische Weise, also mit den zehn Fingern, aß; aber seit er bei mir war, hatte er gelernt, auch mit dem Besteck in der Weise umzugehen, als ob er das von Jugend auf nicht anders gewohnt sei. Die tiefe, ernste Feierlichkeit, welche dann jede seiner Handbewegungen charakterisierte, war für jeden Andern einfach unerreichbar. So auch hier! Er saß in einer Haltung zwischen den Herrschaften, als ob nicht sie ihn, sondern er sie zu Gaste geladen habe, und benahm sich zwar sehr freundlich, aber dabei so gesetzt und würdevoll, daß es ihnen gewiß nicht einfallen konnte, ihn als den Beschenkten zu betrachten. Dem unverdorbenen Orientalen ist jene ungekünstelte Unnahbarkeit eigen, welche auch sein Land, nicht aber der Occident besitzt.

Nur ich allein, der ich ihn genau kannte, konnte bemerken, daß es doch Etwas gab, was ihn genierte, und das war meine Anwesenheit. Darum beeilte ich mich, mit meinem Menu zu Ende zu kommen, und stand dann auf, um den Saal zu verlassen. Da erhob man sich auch an dem andern Tische. Der Kapitän und der General gaben mir die Hände, und ich gestehe aufrichtig, daß ich gerührt war, als mir die beiden Damen dann auch die ihrigen reichten. Die Menschen sind allüberall gut, wenn sie sich damit begnügen, nichts weiter sein zu wollen als eben nur – – – gute Menschen! – – –

Drittes Kapitel
Die »Shen«

Dem mit dem Dampfer nach dem Osten kommenden Reisenden treten hier in Penang zum ersten Male chinesische Gestalten, Formen und Gebräuche in der Weise entgegen, daß sein Auge von ihnen gefesselt wird. Er findet das, was er sieht, so überaus fremdartig, seinem gewohnten Fühlen und Denken so fern liegend, daß er sich unwillkürlich fragt, ob es ihm möglich sein werde, unter diesen neuen Eindrücken der Alte zu bleiben. Und er hat ein Recht, einen schwerwiegenden Grund zu dieser Frage, weil allen diesen Erscheinungen eine Lebensfülle, eine strotzende Kraft, eine überzeugende Selbstverständlichkeit innewohnt, durch welche die Ansicht, daß es sich um altersschwache, kranke Zustände handle, schon in den ersten Stunden arg erschüttert wird.

Freilich, wer ein so groß, dick und fett gepflegtes Vorurteil mit sich bringt, daß sein klares, unparteiisches Urteil von diesem gefräßigen Behemoth vollständig verschlungen worden ist, der wird hier, an der Außenpforte der chinesischen Welt, nichts als den oberflächlichen Eindruck verspüren, daß er jetzt den ersten Schritt in das Land der Bizarritäten getan habe.

Von den ersten Kinderschuhen an hat man durch alle Klassen der Volks- und höheren und höchsten Schulen über die Chinesen nichts Anderes gehört, als daß sie wunderlich gewordene, verschrobene Menschen seien, über welche die Weltgeschichte schon längst den Fluch der Lächerlichkeit ausgesprochen habe. In unzähligen Büchern, Zeitungen und sonstigen Veröffentlichungen wird dieses billige Urteil breiter und immer breiter getreten; man atmet es ein; man schluckt es hinunter; es wird mit in Chymus und Chylus verwandelt; es geht auf die Knochen, in Fleisch und in Blut über und bildet ein so unausrottbares Bestandteil unserer geistigen Existenz, daß wir gar nicht auf den Gedanken kommen, zu fragen, ob es ein wahres und also berechtigtes sei. Ich erlaube mir, meinem Gedankengange durch die Bemerkung vorauszugreifen, daß es den Chinesen ganz in derselben Weise auch mit uns ergeht; sie bekommen von den Kinderjahren an bis in das Greisenalter über uns nur immer die eine, einzige Lehre wiederholt, daß wir wunderliche Narren seien, mit denen die Weltgeschichte nichts mehr anzufangen wisse, weil wir an sie die unerhörte Forderung stellen, uns für ihre Lieblinge zu erklären und die anderen Nationen vollständig fallen zu lassen. Mit andern Worten, die Chinesen halten uns für ganz dieselben Toren, die sie in unsern Augen sind.

Wer mit einer solchen, förmlich in das Wesen übergegangenen Ansicht nach dem Osten kommt, von dem ist nicht anzunehmen, daß er so bald andern Sinnes zu machen sei. Er kann sich jahrelang in China aufhalten und wird nicht nur ganz der Alte bleiben, sondern vielleicht gar noch schroffer als früher denken, wenn seine Voraussetzungen, daß er mit seinen Ideen das weite, fremde Land im Sturm erobern könne, nicht in Erfüllung gehen. Es gibt keiner von Beiden nach, und so bleiben Beide, wie sie sind. Nur Eins ist nicht geblieben: die Erbitterung ist größer geworden! Das ist die einfache Erklärung der sonst unbegreiflichen Tatsache, daß Leute welche ein halbes, ja gar ein ganzes Menschenalter in China zugebracht haben und also wohl mit Recht behaupten, Land und Leute genau zu kennen, dieses Land und diese Leute genau noch ebenso falsch beurteilen wie Einer, der niemals dort gewesen ist. Ihre Kenntnis ist – – – Photographie! Ihr ganzes, vielleicht außerordentlich reiches Wissen besteht aus leb- und seelenlosen Kamerabildern, welche in den aus Europa mitgebrachten Apparaten entstanden sind. Aus dem Vorurteile der kaukasischen Rasse werden die Films geschnitten, denen man die Unmöglichkeit zumutet, uns die chinesische Volksseele in allen, auch ihren tiefsten und geheimnisvollsten Regungen, treu, wahr und aufrichtig darzustellen. Ist es für den Menschen denn gar so schwer, dem Bruder auch eine berechtigte Eigenart, eine gleichwertige Individualität zuzutrauen? Muß denn Jeder, der sich erlaubt, anders zu sein, darum gleich als inferior gedacht werden? Man beobachte den Europäer, wie er aus hochmütigen Augen im fremden Lande um sich schaut! Der Schiffsjunge, welcher jetzt wegen unheilbarer Dummheit vom Maate mit dem Tau verhauen wird, geht eine Viertelstunde später mit dem erhebenden Bewußtsein an das Land, daß alle Malaien und Chinesen Penangs nicht wert seien, ihm die ochsenledernen Stiefel zu schmieren, und zwar nur deshalb, weil er ein Kaukasier aus Dorf Klapperschnalle ist! Ich hatte eine liebe, alte, gute Großmutter, die sagte mir, als ich bereit stand, in die Welt zu gehen: »Bilde dir ja nie ein, daß du besser seist als andere Leute! Hinter jedem Menschen, mit dem du sprichst, steht sein Engel. Du kannst ihn nicht sehen; aber er ist da; er sieht alle deine Gedanken, und wenn sie mißwollend sind, so kränkst du ihn. Und bedenke, daß der Engel des Negers genau so licht, so rein und so dankbar wie der deine ist! – –«

Solche und ähnliche Gedanken beschäftigten mich, als ich nach Tische einen Gang durch Penang machte. In den Straßen und Gassen stieß ein Laden an den andern. Viele hatten gar keine Tür, weil die Vorderwand des Hauses fehlte und es an ihrer Stelle nur Tragpfosten gab. Und vor diesen Läden zogen sich zu beiden Seiten lange Reihen von feilhaltenden Frucht- und an dern Händlern hin. Ich sah weder Polizei noch Militär, und doch herrschte überall eine Ordnung, welche einen erfreulichen Eindruck machte. Von dem Völkerbilde sage ich nichts. Es gab dasselbe Kunterbunt der Nationalitäten wie in jeder östlichen Hafenstadt, nur daß hier Indochina vorherrschend war.

Es war außerordentlich heiß. Plötzlich verdüsterte sich der Himmel; es drohte einer jener plötzlich hereinbrechenden Platzregen, welche der Aequatorgegend eigen sind. Ich blieb stehen und schaute mich nach einem Orte um, der mir und meinem Anzuge Rettung bot. Ein Hotel war nicht in der Nähe. Das sah ein an mir vorübergehender Kuli. Er blieb stehen, deutete die Gasse hinab und sagte:

»Sablah kirri, Pilsen Birr!«

Sablah kiri heißt so viel wie »links«. Also links in dieser Straße gab es Pilsener Bier. Der Mann hatte mich ganz richtig abgeschätzt. Ich drückte ihm vor Freude ein Trinkgeld in die Hand und eilte dann die Gasse hinab. Ja, da stand linker Hand ein europäisch aussehendes, nettes Haus, dessen Paterre eine Restauration enthielt. Die breite Tür hatte keine Flügel, sondern leinene Vorhänge, und das Fenster war bis oben hinauf mit Flaschen besetzt. Da konnte man auch, und zwar in deutscher Sprache, lesen: »Echt Hamburger Pilsener Bier«. Ich hatte keine Zeit, stundenlang über diese sonderbare Echtheit nachzudenken, denn soeben prasselte der Regen in der Weise los, als ob an Stelle des Himmels ein sehr weitmaschiges Sieb vorhanden sei. Ich tat einen schnellen Sprung zwischen die Vorhänge hinein und entging dadurch zwar vorn, leider aber nicht auch hinten dem drohenden Bade. Es traf, wie der biedere Erzgebirgler sich auszudrücken pflegt, der erste »Schwabb« des Regens meinen Rücken noch dergestalt, als ob mir eine Gießkanne voll Wasser nachgeschüttet worden sei. An der »Vorderhand« vollständig trocken, fühlte ich mich an der »Hinterhand« bis auf die Haut durchnäßt und wurde von dem herzlichen Lachen zweier weiblicher Stimmen empfangen, in welches ich sofort einstimmte. Die Beiden saßen am Fenster; die Eine, welche die Mutter war, häkelte an einer weißen Spitze; die Andere, natürlich die Tochter, putzte sich eine Feder auf den Hut. Ihre Gesichtszüge und besonders ihr Lachen paßten so genau in die Gegend, wo man gern so unbefangen lustig ist, daß ich, anstatt zu grüßen, die Frage aussprach:

»Sie sind Oesterreicherinnen?«

»Ja,« antwortete die Mutter. »Kennen Sie uns?«

»Nein.«

»Woher wissen Sie da, daß wir Oesterreicherinnen sind?«

»Weil Sie ausschauen wie Ihre Majestät die Kaiserin Maria Theresia und ein so liebes, cisleithanisches Lachen haben.«

»Cis – – – cis – – cis – –! Wie ist das? Wer lacht cis?« fragte die Tochter.

»Lassen Sie das Cis, und geben Sie mir ein Pilsener! Ist es echt?«

»Ja, aus Hamburg. Das aus Pilsen hält sich nicht bei uns.«

Ich kannte das. Man trinkt dieses echte Pilsener aus Hamburg im ganzen Osten; die Flasche wird mit zwei, oft auch mit drei Mark bezahlt. Die Frau war Witwe. Sie erzählte mir ihre Lebensgeschichte, die aber nicht hierher gehört. Beide waren sehr musikalisch. In der Stube stand eine Pianino. Bald saß ich am Instrumente und spielte. Die Damen sangen heimatliche Lieder dazu. Der Regen ging vorüber; wir musizierten aber weiter. Plötzlich schwiegen sie mitten in einer Strophe.

»Herr Tsi!« rief die Mutter.

Welch ein Name! Ich schaute nach der Tür, welche in das Innere des Hauses führte. Es konnte jeder andere Chinese so heißen, aber er war es, war es wirklich! Er tat, als er mich sah, einige schnelle, fast würdelose Schritte, beinahe waren es Sprünge, auf mich zu und begrüßte mich in einer Weise, welche nicht den geringsten Zweifel übrig ließ, daß er sich aufrichtig über dieses unvorhergesehene Zusammentreffen freute. Die Damen waren aufgestanden und setzten sich nicht wieder nieder. Es sprach aus der Art und Weise, wie sie uns stehend beobachteten, eine Hochachtung, welche Weiße, und besonders wenn sie Frauen sind, einem Angehörigen der gelben Rasse nicht zu erweisen pflegen. Als er einige kurze Worte an sie richtete, war er höflich, weiter nichts; dann bat er mich, ihm zu folgen.

Er führte mich aus dem Gastzimmer durch einen schmalen Hausgang in eine Art von Blumenholz, in welchem ein kleineres Gebäude als Einzelwohnung stand. Die zu ihr gehörigen kleineren Nebenräume sah ich nicht. Das Wohnzimmer war verhältnismäßig groß und halb europäisch, halb indisch eingerichtet. Auffällig waren die vielen Sessel, die es gab. Es sah ganz so aus, als ob Tsi sehr oft Besuch habe. Auf einem Tische stand das Teegeschirr. Wasser brodelte über einem so großen Spiritusbehälter, daß anzunehmen war, es werde den ganzen Tag im Kochen erhalten. Ich nahm Platz. Er bereitete zwei Tassen Tee und sagte dabei:

»Hier wohne ich. Merken Sie auf, lieber Freund, was ich Ihnen sage! Es ist nicht viel, aber für mich außerordentlich wichtig. Mein Vater ist in die Heimat gereist; ich hatte noch an verschiedenen Orten, jetzt auch hier zu tun. Was das ist, bitte, fragen Sie mich nicht! Ich darf es nicht sagen und möchte doch gerade Sie nicht täuschen. Ich gelte als Arzt, bin es eigentlich auch. Wenn Sie mich als solchen bezeichnen, laden Sie keine Unwahrheit auf Ihr Gewissen, denn ich habe in Montpellier cum laude bestanden. Ich habe viel Besuch zu empfangen und deshalb grad diese Wohnung gewählt, weil sie verborgen liegt und die zu mir kommenden Personen von etwaigen Beobachtern für Gäste der Restauration gehalten werden. Wer sich darüber hinaus zu legitimieren hätte, der könnte sagen, er hätte meine ärztliche Hilfe in Anspruch genommen. Ich lasse mich aus Nützlichkeitsrücksichten auch hier so nennen, wie man mich in Kairo mißverständlich genannt hat – – Tsi. Ich bin ganz glücklich, Sie wiederzusehen, und bitte Sie, es zu ermöglichen, daß wir uns nicht so bald wieder trennen. Aber heute und morgen habe ich keine Zeit für Sie. Von übermorgen an stehe ich Ihnen von und mit ganzem Herzen zur Verfügung. Sie sehen, ich bin aufrichtig. Wie ich Sie kenne, entnehmen Sie gerade aus dieser eigentlich rücksichtslosen Mitteilung, daß meine Freundschaft für Sie keine Höflichkeit sondern Wahrheit ist. Werden Sie mir verzeihen?«

»Aber ganz natürlich! Leider werden wir uns doch bald trennen müssen. Morgen kommt der Dampfer ›Coen‹ der ›Koninklijke Paketvaart Maatschappij‹, Kommandant Wilkens, der mein Freund ist, von Padang, um nach Singapore zu gehen. Wenn er zurückkommt, wird er mich für Uleh-leh aufnehmen.«

»Sie wollen hinüber nach Sumatra?« fragte er schnell.

»Ja.«

»Und gerade nach Uleh-leh, also Atjeh? Nehmen Sie sich in acht! Man bereitet dort Dinge vor, welche jedem Europäer, der den Kreis der Stadt verläßt, gefährlich werden können. Ich weiß das ganz genau! Doch davon sprechen wir später. Jetzt trinken Sie Ihren Tee und sagen mir, wie es Ihnen gegangen ist und wo Sie nach Kairo überall gewesen sind!«

»Wollen wir nicht auch das für später aufheben? Sie haben keine Zeit, und meine Erlebnisse sind nicht in der Absicht geschehen, Sie hier mit Erzählungen zu stören. Ich komme ja übermorgen wieder, oder suchen Sie mich im East and Oriental Hotel auf, wo ich mit Sejjid Omar wohne.«

»Was? Dieser ist noch bei Ihnen?«

»Ja. Er hat sich brav bewährt und wird sich außerordentlich freuen, Sie zu sehen. Er hielt ja schon in Kairo große Stücke auf Sie und Ihren Vater, wie Sie ja wissen. Jetzt gehe ich, doch nicht, ohne daß ich eine Frage nach unserm Freunde Waller ausgesprochen habe. Wissen Sie, daß er die Absicht hatte, jetzt hier in Penang zu sein?«

»Nein,« antwortete er schnell und indem sein Gesicht den Ausdruck freudiger Ueberraschung annahm. »Ist er etwa hier?«

»Ich weiß es nicht. In meinem Hotel befindet er sich nicht, sonst hätte ich ihn heut an der Tafel gesehen.«

»Dann vielleicht in einem andern. Man muß schleunigst nachfragen!«

Er sagte das außerordentlich eilig und dringend.

»Allerdings,« antwortete ich. »Ich werde mich gleich jetzt im Crag Hotel, Sea View Hotel und Hotel de l'Europe erkundigen.«

»Und mir sofort, sofort Auskunft bringen oder wenigstens senden?«

»Gern!«

»Wollte Miß Mary mitkommen?«

»Ja.«

»Wissen Sie das genau?«

»Ganz genau. Sie wird ihn ja auf dieser Reise nie verlassen. Sie sind in Indien gewesen und kommen von der Ostküste herüber nach Penang.«

»Bitte, wer hat Ihnen das gesagt?«

Der liebe, junge Mann war ganz begeistert. Ich erwiderte ihm:

»Gestatten Sie mir, daß ich einstweilen auch ein Geheimnis vor Ihnen habe! Was Sie wissen wollen, erfuhr ich auf eine Weise, von welcher ich jetzt noch nicht sprechen kann. Erweisen Sie mir den Gefallen, zu schweigen, falls wir Vater und Tochter hier treffen sollten. Sie dürfen nicht erfahren, daß ich von ihrer Absicht, hierher zu kommen, gewußt habe.«

»Aber wenn Sie sie entdecken, geben Sie mir augenblicklich Nachricht?«

»Sofort!«

»Ich danke Ihnen! Und nun gehen Sie! Ich will Sie nicht abhalten, nachzuforschen, zumal ich gerade jetzt einen sehr wichtigen Besuch erwarte. Also, ich bin Doktor Tsi, der Arzt, weiter nichts!«

Wir drückten einander die Hände, und ich ging.

Als ich wieder in das Gastzimmer kam, saß da ein älterer Chinese bei einer Tasse Tee. Er war durchweg in kostbaren Ghilam Chinesisches Seidenzeug. gekleidet, doch ohne alle Rang- oder Standesabzeichen; aber es schien mir, als ob er auf seinem Hute eigentlich einen Knopf zu tragen habe. Kaum war ich eingetreten, so bezahlte er, ohne auszutrinken, und ging den Weg, den ich soeben gekommen war. Tsi wartete auf ihn.

Was ich von diesem erfahren hatte, das klang so geheimnisvoll. Jedenfalls handelte es sich um wichtige Angelegenheiten. Ich hatte nichts darnach zu fragen und begnügte mich mit der Freude, meinen jungen Freund Tsi hier so unverhofft wieder getroffen zu haben.

Nun nahm ich eine Rickschah und fuhr nach den genannten drei Hotels. Es hatte in keinem derselben ein Missionar Waller nebst Tochter logiert. Aber als ich nach Hause kam und im Bureau nachfragte, erfuhr ich, daß sie allerdings hier gewohnt hatten, doch bereits wieder abgereist seien. Waller war krank gewesen, so krank, daß er zwei Aerzte zu Rate gezogen hatte, und von diesen war ihm dringend geraten worden, so schnell wie möglich die niedere Küstengegend zu verlassen und Bergland aufzusuchen. Das von hier aus nächste Höhengebiet hatte man an der Nordspitze von Sumatra zu suchen, und so war er mit der Tochter und all seinem Gepäck nach Uleh-leh gegangen, von wo aus die Berge schneller und leichter als von einem Orte der Ostküste aus zu erreichen sind. Das war vor nun fast zwei Wochen gewesen; eine Nachricht hatte man während dieser Zeit nicht bekommen.

»Es kam indessen ein Brief aus Ceylon an,« fuhr der Bureauschreiber fort, welcher mir Auskunft gab. »Wir haben ihn mit dem nächsten Schiffe nachgesandt.«

Das war jedenfalls der Brief des Professors Garden aus Amerika.

»Nach welcher Stelle haben Sie ihn geschickt?« erkundigte ich mich.

»Hotel Rosenberg in Kota Radscha, der Hauptstadt von Atjeh; Uleh-leh ist nur der Hafenort.«

»Das weiß ich. Der Atjeh-Fluß führt nach Kota-Radscha, und außerdem ist eine Eisenbahn vorhanden. Doch, Hotel Rosenberg? Das kann nicht der richtige Name sein. Ich kenne Rosenberg persönlich. Er ist ein sehr unternehmender Kaufmann und hat lange Zeit einem in Kota Radscha von ihm selbst gegründeten Geschäft vorgestanden; aber die Rücksicht auf die Gesundheit von Frau und Kind zwang ihn, es später aufzugeben. Er lebt jetzt in Wien.«

»Das stimmt. Aber er kehrt zuweilen wieder und pflegt dann bei uns zu logieren. Jetzt steht ein Schwager von ihm an der Spitze des Geschäftes, welches mit einem Hotel verbunden ist. Wir nennen es jetzt noch immer nach dem Namen des Gründers Hotel Rosenberg.«

Nun erkundigte ich mich nach der Art der Krankheit des Missionars, konnte aber nur erfahren, daß er außerordentlich hinfällig gewesen sei. Der Name eines der beiden Aerzte wurde mir gesagt. Ich suchte ihn per Rickschah auf und fand ihn daheim. Er teilte mir mit, daß es sich um einen besorgniserregenden Fall von Dysenterie gehandelt habe. Als Spezifikum war Ipecacuanha gegeben worden, als Diät nur Reiswasser und Marantaaufguß, durch Rizinus eingeleitet. Das waren genau dieselben Mittel, mit denen man auch in den Nilländern dieser gefährlichen Krankheit entgegentritt. Man sagt, daß Ipecacuanha gegen die Dysenterie ebenso sicher wirke wie Chinin gegen das Fieber; aber einen schon durch die Krankheit so außerordentlich geschwächten Körper durch Rizinusöl, Reiswasser und Aufguß von Arrowroot, denn Maranta ist nichts anderes als Arrowroot, aufhelfen zu wollen, das konnte ich mit meinen Erfahrungen nicht vereinigen. Ich begann, um Waller besorgt zu werden, und ging mit mir zu Rate, was zu machen sei. Sollte ich Tsi benachrichtigen? Ich hatte es ihm versprochen, und er war ja, wie er mir mitgeteilt hatte, Arzt. Aber wer dem Missionar helfen wollte, mußte ihn in Atjeh aufsuchen, und vor Kapitän Wilkens gab es Niemand, der dorthin ging. Man hatte also auf alle Fälle zu warten, und da eine ausführliche Mitteilung an Tsi ihn ganz unnützer Weise aufgeregt hätte, so gab ich ihm durch einige Zeilen nur die kurze Nachricht, daß meine Erkundigungen nach Wallers nicht ganz erfolglos gewesen seien, ich aber bis übermorgen noch Ausführlicheres zu erfahren hoffe.

Mein Sejjid Omar befand sich in sehr gehobener Stimmung; er sagte zunächst nichts, aber ich sah es ihm deutlich an. Er pflegte über solche Dinge nicht eher zu sprechen, als bis er glaubte, sie geistig richtig untergebracht zu haben. Ich konnte überzeugt sein, daß er dann nicht versäumen werde, mir seine Mitteilungen in der ihm eigenen drolligen Wichtigkeit zu machen. Und wie gedacht, so geschah es auch!

Am Abend saß ich im offenen Vorzimmer. Die nahe Brandung predigte zu mir herüber; ein kühler Hauch bewegte die Wipfel der Bäume, zwischen denen die aufgegangenen Sterne zu mir niederfunkelten. Die Fee des Südens stieg aus den Wogen, um in den Gärten Penangs nach offen träumenden Blumen suchen zu gehen. Da gab es nun aber Einen, der die Brandung nicht hörte, die Bäume nicht beachtete, die Sterne nicht sah und von der Fee erst recht keine Ahnung hatte. Dieser Eine war Omar, der siegreiche Held der heutigen Tiffinstunde. In Indien sagt man Tiffin anstatt lunch oder luncheon. Das, womit er gegenwärtig beschäftigt war, hatte freilich mit diesem seinem Heldentume nichts zu tun. Er hatte ein Licht herausgeholt und sich nicht weit von mir auf den Rasen niedergekauert, um meine hellen Schnürstiefel blank zu machen. Er tat dies in ganz ungewöhnlich liebevoller und eingehender Weise. Der Lappen flog nur so, und das Leder stöhnte förmlich. So oft ich glaubte, daß er fertig sei, griff er immer wieder zu der Büchse mit der gelben Salbe, um von Neuem zu beginnen. Dabei war auf seinem Gesichte deutlich zu lesen, daß ihn dieses abwechselnde Schmieren und Reiben, Reiben und Schmieren unendlich glücklich mache. Ein Moslem, der einem Christen mit Wonne die Stiefel schmiert. Man denke!

»Ist es noch nicht gut, Omar?« fragte ich, als er das glänzende Werk zum sechsten oder achten Male wieder zerstören wollte.

»Nein,« antwortete er sehr energisch.

»Aber du reibst die Salbe durch; dann werden meine Strümpfe fett und gelb!«

»So ziehst du andere Strümpfe an, und ich wasche dir die gelben! Heut muß das ganze, ganze Fett hinein!«

»Oho!«

»Jawohl! Und du bist selbst schuld daran, Sihdi! Weißt du, was du getan hast? Wie einen Gentleman hast du mich behandelt, als du mir stillschweigend erlaubtest, mit den Engländern zu speisen. Weißt du, was das heißt? Als Diener habe ich dir die Stiefel nur einmal zu salben; als Gentleman aber salbe ich sie dir so lange, bis ich kein Fett mehr habe. Oder meinst du etwa, daß ein Gentleman undankbar sein darf? Wenn ich dich nicht hätte, so wäre ich noch der alte Sejjid Omar, der ich früher war, und wenn ich dieser wäre, so hätte mich kein General heut eingeladen, mit ihm und seinem Harem zu speisen. Das habe ich doch nur dir, nicht mir zu verdanken!«

»Hoffentlich hast du keinen allzugroßen Fehler gemacht!«

»Fehler? Ich gewiß nicht, denn ich weiß, daß ich nur ein armer Eselsjunge bin; aber der Harem des Generales hat sie gemacht.«

»Wieso?«

»Er wollte mich als Diener haben und hat mir mehr geboten, als du mir gibst. Da habe ich geantwortet, wenn man das noch einmal sage, so müsse ich aufstehen und fortgehen, denn es habe noch niemals einen Diener gegeben, der einen solchen Herrn gehabt hat, wie du bist, Sihdi. Ich sagte ihnen, daß ich dir nicht bloß diene, sondern dich auch liebe; ich bin dir also nicht bloß aus Pflicht, sondern auch aus Liebe treu und werde dich für alles Geld der Erde nicht verlassen. Da drückte mir der General die Hand und forderte mich auf, dir zu sagen, daß er sehr bedaure, daß du kein Engländer seist. Am meisten hat ihm gefallen, daß mir sein Harem gefallen hat. Ich habe ihm das ganz aufrichtig gesagt. Bei den Christen sind die Frauen klüger als bei uns, und ich glaube, das ist der Grund, daß dort auch die Männer mehr wissen, als die unserigen wissen.«

»So meinst du, daß die Männer von den Frauen lernen können?« fragte ich. »Das wäre ja ein Gedanke, der bei einem Moslem ganz unmöglich ist!«

»Ich habe jetzt nicht als Moslem, sondern als Sejjid Omar gesprochen. Ich bin zwar Beides, aber ich kann doch auch einmal nur das Eine oder das Andere sein! Bei uns sind die Frauen so unwissend, daß die Kinder nichts von ihnen lernen können, auch die Knaben nicht, und wenn sie ihre Klugheit nicht von der Mutter bekommen können, so kann der Vater sie ihnen auch nicht geben, denn wer sich einen Harem anschafft, der keine Seele hat, der hat selbst so wenig Verstand, daß er für seine Kinder keinen übrig hat. Du hast einmal in Colombo mit dem deutschen Wirte gesprochen, bei dem ich wohnte, und dabei auch das Wort Mutterwitz gesagt. Ich verstand es nicht; aber ich habe darüber nachgedacht. Ein witziger Mann ist doch wohl ein gescheiter Mann, und wenn diese Gescheitheit Mutterwitz genannt wird, so ist sie ihm höchst wahrscheinlich von der Mutter angeboren worden. Warum aber haben wir kein arabisches Wort für Mutterwitz? Weil wir keine klugen Frauen und Mütter haben! Aber, weißt du, zuweilen gibt es Eine, doch nur zuweilen. Ich kenne nur eine einzige, und die ist meine Mutter! Ich denke oftmals: Wenn ich ein guter Mensch bin, so habe ich das von ihr geerbt; der Vater hat es nur unter seinen Schutz genommen. Ist das dumm von mir?«

»Nein, lieber Omar, ganz und gar nicht dumm. Du ahnst Etwas, was selbst bei uns viele große und gelehrte Männer noch nicht wissen. Du bist fast zu beneiden, daß du, was wir vergeblich suchen, schon so von weitem liegen siehst!«

»Ich werde es wegnehmen, wenn ich vollends hin komme. Meine Gedanken werden nicht abirren, sondern auf diesem Wege bleiben. – – – So, jetzt sind die Stiefel fertig, denn die Salbe ist alle. Hoffentlich gibt es in Penang hier einen Laden, wo ich morgen wieder welche bekommen kann.«

Er hatte seinem lieben, guten Herzen Luft gemacht, trug die Schuhe in das Zimmer und ging dann, eine Wasserpfeife zu rauchen. Das und eine kleine arabische Tasse Kaffee dazu, zusammen für ihn kaum mehr als zehn Pfennige kostend, war die einzige Luxusausgabe, welche er sich gestattete. Wie kommt es wohl, daß nur »unkultivierte« Menschen so bescheiden und zufrieden sind?!

Am nächsten Frühmorgen wurde ein Spazierritt unternommen, von welchem wir erst gegen Mittag heimkehrten. Nach dem Tiffin ging ich nicht aus, sondern blieb daheim. Ich bin ein eigentümlicher Mensch. Ich kann mich einem Gedanken, welcher mich beschäftigt, niemals eigenmächtig entziehen, sondern ich bin so lange sein Eigentum, bis ich ihn vollständig erledigt habe. Es ist, als stehe ein unsichtbares Wesen bei mir, welches auf diese Erledigung warte und, wenn sie erfolgt ist, mich mit einem Gefühle der Befriedigung belohnt, welches mich mehr als Trank und Speise stärkt. Ich fühle mich dann, selbst nach langer anstrengender Arbeit, während welcher ich nichts genieße, nicht nur geistig, sondern auch körperlich so befriedigt, daß ich kein Bedürfnis nach materieller Nahrung habe. Ist es bloß der Magen, der den Menschen ernährt? Oder findet das, was wir Stoffwechsel nennen, auch noch auf eine andere, geheimnisvolle Weise statt? Ich kann, wenn ich geistig beschäftigt bin, recht gut mehrere Tage ohne Essen und auch Trinken sein, ohne Hunger oder Durst zu spüren. Man sollte diese Erfahrung aufmerksam verfolgen; vielleicht käme man dadurch auf eine ganz unerwartete Erklärung des Bibelwortes, daß der Mensch nicht allein vom Brote lebe; denn, offen gestanden, mache ich die erwähnte Beobachtung meist dann, wenn ich von religiösen Fragen beschäftigt werde. Man wird wahrscheinlich über mich lächeln; ich aber würde mich freuen, wenn ich von anderer Seite erführe, daß ich nicht der Einzige bin, der daran zweifelt, daß der Mensch seine körperliche und geistige Entwickelung nur allein dem Verdauungskanale zu verdanken habe.

Die gestrige Beschäftigung mit dem Aufenthalte und der Krankheit des amerikanischen Missionars hatte Alles, was in meinem Innern zu ihm in Beziehung stand, wieder in den Vordergrund gezogen, und da stellte es sich denn heraus, daß ich diesem Gegenstande die Erledigung eines Gedankens schuldig geblieben war. Dieser Gedanke war freilich kein sehr wichtiger, und so hatte es kommen können, daß er einstweilen auf die Seite geschoben werden konnte; jetzt aber machte er sich wieder geltend, und jenes unsichtbare Wesen stand hinter mir und mahnte mich unaufhörlich, diese Lücke auszufüllen. Ich hatte diese Mahnung schon gestern abend in mir gespürt, war während der Nacht einige Male von ihr aufgeweckt worden, und während des heutigen Rittes hatte sie mich hin- und zurückbegleitet, um mich nun daheim festzuhalten, damit ich daran gehen möge, mich von ihr zu befreien oder, was wahrscheinlich richtiger ist, sie endlich wieder freizugeben. Es handelte sich, wie gesagt, um nichts Großes, sondern nur um das Gedicht »Tragt Euer Evangelium hinaus«, und wer nicht weiß, was im Seelenleben ein unvollendeter Gedanke zu bedeuten hat, der wird es nicht begreifen, daß man sich von so Etwas beunruhigen lassen kann. Wer aber gewöhnt ist, seinen geistigen Himmel immer rein, klar und licht zu sehen, dem wird jeder nur halb fertig gedachte Gedanke zu einer Wolke, welche ihn nicht nur direkt stört, sondern auch auf alle seine anderen Gedanken ihren Schatten wirft. Wenn wir von einem Lichte der innern Welt des Menschen sprechen, so meinen wir damit jene Alles durchdringende und das Einzelne zum Ganzen fügende Logik, welche den Geist von der Materie zu scheiden und ihn sich anzueignen hat. Diese Logik duldet nichts Unfertiges, nichts Halbvollbrachtes, weil sie nur aus dem Klargewordenen zu neuer Klarheit schreiten kann. Da gibt es nichts Unwichtiges, nichts Nebensächliches, was man im Dunkel, ohne daß es schadet, liegen lassen darf. Freilich, wer in der Weise nur für das Aeußere lebt, daß er für diese innere Welt keine Zeit und kein Verständnis hat, oder wer gar ein so grasser Materialist ist, daß er nicht ansteht, eine unendlich reiche Schöpfung, die er in sich trägt, zu leugnen, dem kann keine Wolke seinen Himmel stören, weil er eben keinen Himmel hat.

Es war mir, als ob dieses Gedicht ein notwendiger Teil meines Verhältnisses zu Wallers sei, als ob ich es unbedingt vollenden müsse, wenn dieses Verhältnis so, wie sein Anfang es versprochen hatte, sich ausgestalten sollte, und so nahm ich mir vor, heute Nachmittag der fertigen ersten Strophe die noch fehlende zweite hinzuzufügen. Aber ob es mir gelingen werde, das wußte ich freilich nicht, denn ich verstehe unter »Dichten« nicht das, was tausend Andere damit meinen.

Aber, sonderbar, kaum hatte ich das Papier vor mich hingelegt, so war es mir, als ob jenes »unsichtbare Wesen« mir die nötigen Worte zuflüstere. Ich brauchte die erste Strophe gar nicht erst wieder zu zergliedern, um ihr die zweite logisch folgen zu lassen, und es dauerte wohl kaum zehn Minuten, so hatte ich geschrieben:

»Tragt Euer Evangelium hinaus, Indem Ihrs lebt und lehrt an jedem Orte, Und alle Welt sei Euer Gotteshaus, In welchem Ihr erklingt als Engelsworte. Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein; Laßt ihren Puls durch alle Länder fließen; Dann wird die Erde Christi Kirche sein Und wieder eins von Gottes Paradiesen!«

Nicht lange hierauf lief die »Coen« in den Hafen. Ich ließ mich an Bord bringen, um Kommandant Wilkens die Hand zu drücken. Er war ein tüchtiger, viel befahrener Seemann, ein lang und stark gebauter, sehr aristokratisch erscheinender und auch wirklich vornehm denkender »Mijnheer« und last not least, ein seelensguter Mensch, der für seine Passagiere und Untergebenen wie ein Vater sorgte. Er freute sich, als ich mich für die Rückfahrt nach Uleh-leh anmeldete, und bat mich, doch lieber gleich mit nach Java zu gehen. Es sollte aber anders kommen, als ich dachte. Die Einleitung dazu kam, ohne daß ich es ahnte, soeben auf der Route von Laknawa herbeigedampft.

Ich war hinunter in den Speisesaal gegangen, um wieder einmal auf der dortstehenden, prächtigen Orgel zu spielen, welche Wilkens sich aus Amerika hatte kommen lassen. Da unterbrach er mich, indem er durch das geöffnete Oberlicht herunterrief:

»Wenn Sie etwas Schönes sehen wollen, so kommen Sie herauf! Es ist geradezu ein nautisches Ereignis, ein Unikum!«

Ich eilte hinauf. Er stand auf dem Hinterdeck und beobachtete mit bewundernden Blicken ein Fahrzeug, welches leicht und schnell, als ob das Wasser ihm gar keinen Widerstand biete, herbeigeflogen kam. Es war eine Dampfjacht, so scharf und kühn auf den Kiel gesetzt, wie nur die Amerikaner es fertig bringen oder – – brachten, denn wir Deutsche verstehen das jetzt auch! Die Konturen waren zum Erstaunen schön und rein. Die Decklinie stieg vorn und hinten in die Höhe, denn sonderbarerweise war sowohl der Vorder-wie auch der Quarterplatz nach Dschunkenart erhoben, was dem Schiffe etwas Fremdartiges, fast möchte ich sagen, Märchenhaftes gab. Der nach Klipperart schneidig gezogene Bug wurde von einem wunderbar schönen Frauenkopf aus weißem, reinstem Marmor gekrönt, unter welchem auf dunklem Schleier in großen goldenen Buchstaben der Name »Yin« zu lesen war. Hinten wehte die chinesische Flagge mit dem gelben Sonnenball auf rotem Grunde.

»Wahrhaftig ein Unikum!« rief Wilkens begeistert aus. »Macht wenigstens zwanzig Knoten die Stunde! Habe so Etwas noch nicht gesehen! Eine Vermählung des Leichtesten und des Unbeholfensten, der Schoner-und Dschonkenform, und doch nichts als Linien, welche eiligst vorwärts drängen. Diese Dampfjacht ist ein Meisterstück! Aber daß sie einem Chinesen gehört, ist mir unbegreiflich! Was bedeutet das Wort Yin?«

»Es heißt so viel wie Güte,« antwortete ich; »das wird wohl der Name des schönen Wesens sein, dessen Marmorbild vom Bug getragen wird. Es sind chinesische Gesichtszüge, und doch auch wieder nicht. Diese Jacht ist ein Rätsel, und ich wollte, daß ich es lösen dürfte!«

Es war mir beschieden, daß ich es gar nicht zu lösen brauchte, weil es sich mir freiwillig offenbarte.

Schade, daß das Deck mit der Sonnenleinwand verhangen war! Man sah keinen Menschen, als nur den hochstehenden Kommandierenden, und dieser hatte einen so breitkrämpigen, chinesischen Hut auf dem Kopfe, daß die Gesichtszüge nicht zu erkennen waren, zumal die Jacht in ziemlicher Entfernung an der »Coen« vorüberging. Sie tat das so zierlich, so anmutig und doch so kraftgewiß, daß nur eine vollständig ausgewachsene Landratte nicht darüber in Entzücken geraten wäre. Man konnte getrost darauf schwören, daß alle Augen, die es hier im und am Hafen gab, jetzt ausschließlich nur auf die unvergleichliche »Yin« gerichtet seien!

Sie schien gar nicht vor Anker gehen zu wollen, sondern sie drehte nur bei und gab ein Boot mit einem Manne und zwei Ruderern ab, welches Richtung nach dem Lande nahm. Dann dampfte sie wieder mit fast unhörbarer Maschine und vollständig rauchlos atmend, zum Hafen hinaus.

»Wie viele Millionen dieser Chinese wohl besitzen mag!« seufzte Wilkens. »Er selbst aber kommandiert die Jacht jedenfalls nicht! So eine spielende Kurve bei so einer gedankenschnellen Trennung des Bootes, und dann so rund wieder herum und mit Vollkraft hinaus, das bringt kein Chinese fertig; das kann nur Jemand, dem ich die Hand dafür drücken möchte, daß ich es habe ansehen dürfen. Die Jacht kam, gab dem Hafen mit dem Boote einen Kuß und ging dann wieder fort. So ist es, nicht anders. Morgen werde ich denken, daß ich diese Marmor-›Yin‹ nicht gesehen, sondern nur geträumt habe!«

Der Aufenthalt der »Coen« währte nur kurze Zeit. Ihr Kapitän hatte an Land zu tun und bat mich, für diese Zeit bei ihm zu bleiben. Daher mußte ich unterlassen, was ich sonst wohl getan hätte, nämlich mich, um über die »Yin« Etwas zu erfahren, nach dem von ihr ausgesetzten Boote zu erkundigen. Als er seine geschäftlichen Angelegenheiten erledigt hatte, war von seinem Dampfer aus das erste Zeichen für die Abfahrt schon gegeben worden; er mußte sich beeilen; darum begleitete ich ihn nicht wieder an Bord, sondern nur bis an das Wasser. Der Abschied von ihm war nur für einige Tage, darum kurz und ohne überflüssige Worte; dann ließ ich mich in einer Rickschah nach dem Hotel fahren. Dort angekommen, erfuhr ich von Omar eine Neuigkeit, welche er mir in sehr mißbilligender Weise mitteilte:

»Sihdi, ich bin zornig; ja, ich bin sogar wütend! Man hat keine Rücksicht auf dich genommen! Du willst ruhig und ungestört hier wohnen; aber man hat gerade die Zimmer, welche über uns liegen, an zwei Inglis abgegeben, die vor einer halben Stunde hier eingetroffen sind. Man hört hier unten jeden Schritt, den sie oben machen, und sie sprechen so laut, als ob sie ganz allein auf der Erde wären. Soll ich hinaufgehen und ihnen sagen, wie sie sich zu verhalten haben?«

»Nein. Jeder hat das Recht, zu wohnen, wo er will. Wenn ich mich von ihnen belästigt fühle, werde ich ein anderes Zimmer nehmen; es sind ja mehr als genug Wohnungen da. Der Mensch hat nicht stets das zu wollen, was gerade ihm beliebt, denn Jeder ist auf Andere angewiesen. Man muß sich nach der Decke strecken!«

»Decke – – – Decke – – –!« wiederholte er. Das war ein ihm ganz fremdes Gleichnis. Er ging langsamen Schrittes in den Garten hinüber und lehnte sich dort an einen Baum. Seine Lippen bewegten sich. Er lernte die sieben Worte von der »Decke« auswendig und dachte über ihre Bedeutung nach. Das war so seine Weise. Dann pflegte er später nach einer Gelegenheit zu suchen, das Resultat seines Nachdenkens anzubringen.

Als ich in meine Wohnung getreten war, hörte ich allerdings sofort, daß Jemand über mir wohnte. Man ging mit starken, ungenierten Schritten hin und her; Tisch und Stühle wurden gerückt; es fiel etwas Schweres mit lautem Krache um. Ich sah Kellner an meiner offenen Tür vorüber eilen, welche mit Küchengeschirr an der nach oben führenden Treppe verschwanden. Die beiden neu angekommenen Engländer schienen speisen zu wollen. Sie traten jetzt, um der Bedienung Raum zu geben, auf den freien Vorraum heraus, und ich konnte hören, was sie sprachen. Sie sahen den Sejjid stehen.

»Ein prächtiger Kerl dort!« sagte der Eine. »Schaut, Sir, was für ein Körperbau, und was für charakteristische Züge! Kein Bildhauer könnte sich ein besseres Modell wünschen. Jedenfalls ein Muhammedaner vom Himalaja!«

»No!« erklang die Antwort des Andern sehr kurz und sehr bestimmt.

»Nicht? Ich glaube doch, Indien und seine Bevölkerung zu kennen! Nur in den Bergen können solche Prachtgestalten wachsen.«

»No!«

Bei diesem zweiten »No« wurde ich aufmerksam. Der Klang dieses so unendlich bestimmt ausgesprochenen Wortes hatte etwas Bekanntes für mich.

»Nur immer Widerspruch!« tadelte der erste Sprecher. »Woher soll der Mann sonst sein?«

»Aus Aegypten!«

»Kennt Ihr ihn etwa, Sir?«

»No. Habe ihn noch nie gesehen.«

»So habt Ihr Unrecht! Was hätte ein ägyptischer Fellache hier in der Malakkastraße zu tun?«

»Wollen wir wetten?«

»Wieviel?«

»Fünf Pfund, zehn Pfund, hundert Pfund! Mir ganz gleich!«

Jetzt, da gewettet wurde, war ich meiner Sache sicher. Ja, dieser Engländer, der so kurz und so bestimmt sprach und dem hundert Pfund ebenso gleichgültig wie fünf Pfund waren, wenn er nur wetten konnte, dieser Mann hatte nicht nur fünf- und nicht nur zehn- und nicht nur hundertmal mit mir wetten wollen, mich aber nie zu einem Einsatz gebracht. Er war nicht nur ein Bekannter, sondern sogar ein lieber, lieber Freund von mir! Auch die Stimme seines Gefährten mußte ich schon irgendwann und irgendwo gehört haben.

»Lassen wir es bei fünf Pfund,« meinte der Letztere. »Ich weiß, daß ich gewinnen werde, und muß also bescheiden sein.«

»Setzen!« wurde er aufgefordert.

Das war so hochinteressant, daß ich weiter vortrat, um mir kein Wort entgehen zu lassen. Ich hörte Godstücke klingen; dann wurde Omar von oben herab in arabischer Sprache angerufen:

»Chod minni, ia Ibn 'arab! Schu beledak – höre, Araber, wo bist du her?«

Omar sah erstaunt zu dem Frager hinauf und antwortete: »Aus Kairo in Aegypten.«

»Well! Komm her! Bis ganz heran, gerade unter mir!«

Der Sejjid folgte dieser Anforderung.

»Heb den Saum deines Gewandes auf! Ich will dir Etwas hinabwerfen!«

Omar tat, wie ihm geheißen worden war. Er fing fünf Goldstücke auf.

»So! Dieses Geld ist dein, weil du aus Aegypten bist!«

Hierauf folgte ein zweistimmiges Lachen, welches jedenfalls der unbeschreiblichen Verwunderung galt, mit welcher der Sejjid emporschaute. Er stand ganz starr, das Gesicht nach oben gerichtet und den aufgerafften Saum unbeweglich festhaltend. Dann, als man oben von der Brüstung zurückgetreten war, bewegte er sich langsam auf mich zu, hielt mir die Falten, aus denen die Goldstücke flimmerten, hin und sagte:

»Hast du es gehört, Sihdi? Fünf englische Pfund! Das sind fast tausend ägyptische Piaster! Mir geschenkt, weil ich aus Kairo bin! Rechts macht mich das stolz; links aber ärgert es mich! Diesem Inglis da oben ist Aegypten wert; das freut mich; aber er hält mich nicht für einen wohlhabenden Diener meines Sihdi, sondern für einen armen Teufel, welcher das Gewand aufhebt, um sich Piaster schenken zu lassen. Ich werde hinaufgehen, um ihm das Geld wiederzugeben.«

»Ja, du wirst hinaufgehen, aber das Geld behalten, Omar. Dieser Inglis ist unendlich reich, und er hat dir die fünf Pfund nicht gegeben, um dich zu beleidigen. Er hat dich gesehen und dann gewettet, daß du ein Aegypter seist. Und weil du einer bist, hat er das Geld gewonnen und es dir geschenkt.«

»Maschallah! So bin also ich es, der diese Wette gewonnen hat, nicht er! Denn wenn ich nicht Sejjid Omar aus Kairo wäre, so hätte er sie verloren! Und was ich gewonnen habe, das ist mein; ich werde mich also hüten, es ihm wiederzugeben! Aber du sagtest, daß ich hinaufgehen soll?«

»Ja. Sie werden jetzt speisen. Du teilst ihnen sehr höflich mit, daß ich mit ihnen essen will, sagst aber auf keinen Fall meinen richtigen Namen, auch nicht, daß ich ein Deutscher bin, der Bücher schreibt!«

»Gut! Das werde ich schon machen. Du weißt ja, daß du dich auf mich verlassen kannst! Aber diese fünf Pfund mag ich nicht einstecken. Hebe du sie mir auf, denn bei dir ist mir das Geld lieber als bei mir!«

Er gab mir die Münzen und ging. Es dauerte gar nicht lange, so kam er wieder, und zwar mit einem bitterbösen Gesicht.

»Nun, was hat man gesagt?« fragte ich.

»Ausgelacht hat man mich, und beinahe hinausgeworfen,« zürnte er. »Ich könnte diese Inglis gleich mit beiden Fäusten prügeln, aber du weißt ja, Sihdi, daß man sich nach der Decke strecken muß!«

Ich gab mir Mühe, bei dieser so schnell eingetroffenen Nutzanwendung nicht laut aufzulachen. Er fuhr fort:

»Ich sagte deinen Namen nicht, sondern den, welchen du immer in das Fremdenbuch zu setzen pflegst. Ich sagte nicht, daß du ein Deutscher, sondern daß du mein Sihdi seist; das ist doch mehr, als alle Völker zusammengenommen. Ich sagte nicht, daß du Bücher schreibst, sondern daß du Gedichte machst. Das ist keine Lüge und führt, wie ich von unsern arabischen Dichtern weiß, den Menschen zur Unsterblichkeit. Und endlich sagte ich, daß dieser unsterbliche Sihdi ihnen sagen lasse, daß er heraufkommen werde, um mit ihnen zu essen.«

Er machte eine Pause. Die Sache gab mir heimlich Spaß; er aber fügte in seinem grimmigsten Tone hinzu:

»Da lachten sie über mich; das will ich ihnen verzeihen. Aber sie lachten auch über dich, und das kann ich ihnen nicht verzeihen! Der Eine, welcher viel älter als der Andere ist, sagte, wer unsterblich sei, der brauche nicht zu essen, weil der Hunger ihm ja nichts schaden könne. Und der Jüngere befahl mir, dir zu sagen, daß er in der Küche ein Essen für dich bestellen und es dir schicken lassen werde. Das beleidigte mich so, daß ich vor Aerger vergaß, mich nach der Decke zu strecken. Ich wurde auch grob und sagte ihnen, daß ich ihnen ihre fünf Pfund wiederbringen werde. Da gaben sie den Kellnern den Befehl, mich hinauszuschaffen; ich bin aber natürlich selbst gegangen. Gib mir die Goldstücke Sihdi; ich trage sie hinauf!«

»Nein. Du wirst sie behalten und dennoch noch einmal hinaufgehen.«

»Das fällt mir schwer, Sihdi; aber wenn du es willst, so werde ich es tun. Was soll ich sagen?«

»Merke dir die Worte genau! Du sagst folgendermaßen: ›Mein Sihdi läßt Sir John Raffley und die liebe Chair-and-umbrella-pipe grüßen!‹ Hast du das verstanden?«

»Ja: Mein Sihdi läßt Sir John Raffley und die liebe Chair-and-umbrella-pipe grüßen!«

»Und wenn man dich fragt, woher ich ihn und sie kenne, so antwortest du: ›Mein Sihdi war dabei, als sie auf Ceylon verloren ging und auf dem chinesischen Schiffe dann wiedergefunden wurde.‹ Kannst du dir das merken?«

Er wiederholte die beiden Sätze einige Male, bis er sie sich eingeprägt hatte. Dann fragte er in bedenklichem Tone:

»Was tue ich aber, wenn ich wieder ausgelacht oder gar hinausgeworfen werde?«

»Das wird nicht geschehen, denn du wirst ganz im Gegenteile große Freude anrichten. Die Hauptsache ist, daß du auch wirklich hinein zu ihnen kommst, um deinen Auftrag auszuführen. Am besten ist es, du lässest dich gar nicht anmelden, sondern gehst stracks hinein, ohne dich vorher mit den Kellnern abzugeben.«

Hierauf ging er fort. Ich sah ihm nicht nach, war aber überzeugt, daß er unterwegs einige Male stehen bleiben würde, um das, was er zu sagen hatte, für sich zu wiederholen.

Um mein Verhalten begreiflich zu machen, muß ich auf die schon erwähnte Reiseerzählung zurückkommen, welche in Band XI meiner gesammelten Werke unter dem Titel »Der Girl-Robber« zu finden ist. Ich erzähle da von einem Erlebnisse mit Raffley, welches sich auf Ceylon und seinem Küstengewässer abwickelte, und sage von diesem »Englishman ohne Furcht und Tadel« folgendes:

»Neben mir lehnte Sir John Raffley. Er bemerkte von all den Herrlichkeiten, welche ich sah, nicht das Geringste. Die köstlichen Tinten, in denen der Himmel flimmerte und glühte, das strahlendurchblitzte Kristall der See, der erquickende Balsam der sich abkühlenden Lüfte und die bunte, interessante Bewegung auf dem vor uns liegenden Fleckchen der herrlichen Gotteswelt, sie gingen ihm verloren; sie waren ihm im höchsten Grade gleichgültig; sie durften es nicht wagen, seine Sinne auch nur einen Augenblick lang in Anspruch zu nehmen. Und warum? Wunderbare und ganz überflüssige Frage! Was war denn eigentlich dieses Ceylon in seinen Augen? Ein Eiland, eine Insel mit einigen Menschen, einigen Tieren und einigen Pflanzen darauf und rundum von Wasser umgeben, welches nicht einmal zum Waschen oder zur Bereitung einer Tasse Tee geeignet ist. Was ist das weiter! Etwas Sehenswertes oder gar Erstaunliches gewiß nicht! Was ist Point de Galle gegen Hull, Plymouth, Portsmouth, Southampton oder gar London; was ist der Governor zu Colombo, obgleich sein Verwandter, gegen die Königin Viktoria von Altengland, Irland und Schottland; was ist Ceylon gegen Großbritannien und seine Kolonien; was ist überhaupt die ganze Welt gegen Raffley-Castle, wo Sir John geboren worden ist?!

Der gute, ehrenwerte Sir John war ein Engländer im Superlativ. Besitzer eines unermeßlichen Vermögens, hatte er noch nie daran gedacht, sich zu verehelichen, und war einer jener zugeknöpften, schweigsamen Englishmen, welche alle Winkel der Erde durchstöbern, selbst die entferntesten Länder unsicher machen, die größten Gefahren und gewagtesten Abendteuer mit unendlichem Gleichmute bestehen und endlich müde und übersättigt die Heimat wieder aufsuchen, um als Mitglied irgend eines berühmten Reiseklubs einsilbige Bemerkungen über die gehabten Erlebnisse machen zu dürfen. Er hatte den Spleen in der Weise, daß seine lange, knochige Gestalt nur in seltenen Augenblicken einen kleinen Anflug von Genießbarkeit zeigte, besaß aber doch ein außerordentlich gutes Herz, welches stets bereit war, die großen und kleinen Seltsamkeiten, in denen er sich zu gefallen pflegte, wieder auszugleichen. Eine innere Erregung schien bei ihm gar nicht denkbar, und er zeigte nur dann eine lebhaftere Beweglichkeit, wenn er auf eine Gelegenheit stieß, eine Wette einzugehen. Die Wettsucht nämlich war seine einzige Leidenschaft, wenn bei ihm überhaupt von Leidenschaft die Rede sein konnte, und es wäre wirklich geradezu ein Wunder gewesen, hätte er eine solche Gelegenheit versäumt.

Nachdem er aller Herren Länder kennen gelernt hatte, war er zuletzt nach Indien gekommen, dessen General-Gouverneur ebenso wie der Gouverneur von Ceylon ein Verwandter von ihm war, hatte es in den verschiedensten Richtungen durchstreift, war auch schon einige Male auf Ceylon gewesen und im Auftrage des General-Gouverneurs jetzt wieder hergekommen, um sich wichtiger Botschaften an den Statthalter zu entledigen. Wir hatten uns im Hotel Madras kennen gelernt und uns nach und nach geistig zusammengefunden, und obgleich er mich niemals auch nur zur kleinsten Wette vermocht hatte, war ich ihm doch so befreundet und lieb geworden, daß er trotz seiner sonstigen Unnahbarkeit eine wahrhaft brüderliche Zuneigung für mich an den Tag legte.

Also jetzt lehnte er, völlig unberührt von den uns umgebenden Naturreizen, in denen ich sozusagen schwelgte, neben mir und beschielte den goldenen Klemmer, welcher ihm vorn auf der äußersten Nasenspitze saß, mit einer Beharrlichkeit, als wolle er an dem Sehinstrumente irgend eine welterschütternde Entdeckung machen. Neben ihm lehnte sein Regen-und Sonnenschirm, welcher so kunstvoll zusammengesetzt war, daß er ihn als Stock, Degen, Sessel, Tabakspfeife und Fernrohr benutzen konnte. Dieses Meisterstück war ihm von dem Travellerklub, Nearstreet, London, als Souvenir verehrt worden; er trennte sich niemals, weder bei Tag noch bei Nacht, von demselben und hätte es um alle Schätze der Welt nicht von sich gegeben. Diese Chair-and-umbrella-pipe, wie er es nannte, war ihm beinahe ebenso lieb wie seine prachtvoll eingerichtete Dampfjacht, welche unten im Hafen vor Anker lag und die er sich für seinen persönlichen Gebrauch auf einer der Werfte von Greenock am Clyde, den in aller Welt berühmten Schiffsbauwerkstätten, hatte bauen lassen, weil er auch auf der See stets mit eigenen Füßen auf eigenem Grund und Boden stehen wollte.« – –

So schrieb ich vor Jahren über ihn. Wir waren Freunde, ohne Freundschaft geschlossen zu haben; wir hatten einander lieb, ohne von dieser Liebe zu sprechen; wir waren gegenseitig zu jedem Opfer bereit, ohne aber das, was wir für einander taten, für ein Opfer zu halten. Das lag so in seiner wie auch in meiner Weise. Nach der letzten Trennung schrieben wir uns einige Male, und als dann ich keinen Brief mehr von ihm und er auch keinen mehr von mir bekam, fiel es Keinem von uns Beiden ein, zu denken, daß er vergessen worden sei, oder dieses Schweigen gar für eine negative Absage der Freundschaft zu halten. Die Treue ist etwas Geistiges, oder noch richtiger, etwas Seelisches, und wer sie nach der Zahl der Briefbogen mißt, der traut sich selber nicht. Wer meiner Freundschaft zumutet, ihm in ganz bestimmten Zeitintervallen eine ganz bestimmte Zahl von Zeilen zu schreiben, der zwingt das Heiligste ins Briefcouvert und kann nur wenig Freunde haben. Schreibselige Menschen begeben sich sehr leicht in die Gefahr, lästig zu werden, und nur der Backfischfreundschaft ist es erlaubt, von dem hohen Werte der Zeit noch nichts zu wissen.

Nun hatte ich meinen John Raffley vorhin sofort an der Stimme erkannt, und jetzt wußte ich auch, wer der Andere war, nämlich sein Verwandter, welcher da mals die Stelle des Governors von Ceylon bekleidet hatte. Wie kamen sie hierher? Die »Coen« war das einzige Schiff, welches heute Passagiere abgegeben hatte, und ich wußte ja, daß sie mit dieser nicht gekommen waren. Zwar fiel mir da die »Yin« ein, und wie ich Raffley kannte, so war gerade ihm der Besitz einer solchen Jacht wohl zuzutrauen; aber sie trug chinesisches Gewand, während er, wie ich mich sehr wohl erinnerte, nichts weniger als ein Bewunderer chinesischer Verhältnisse gewesen war.

Da hörte ich eilige Schritte draußen von der Treppe her kommen, und eine sehr prestierte Stimme rief:

»Wo denn, wo? Welche Nummer?«

»Zweiunddreißig!«

Das war Omar, der von Weitem antwortete.

»Zweiunddreißig? Well! Also links, hier, gleich da! Wonderful!«

Noch zwei Schritte, einen Sprung auf die Holzlage meines Vorzimmers, und da stand er, vom schnellen Laufen rasch atmend, in Hemdärmeln, barhäuptig und wie früher auch schon immer, den goldenen Klemmer auf der Nase, den er so virtuos bis auf ihre Spitze herunter reiten zu lassen verstand.

»Charley!« rief er aus.

So pflegte er meinen Vornamen auszusprechen. Er stand zunächst ganz still vor mir und betrachtete mich mit Augen, aus denen nichts als Liebe und nichts als Freude strahlte. Seine Lippen zitterten erregt. Dann folgte jenes mir bekannte Spiel der Gesichtsmuskeln, mit welchen er, ohne ihn zu berühren, den Klemmer zwang, langsam bis an das Ende der Nase vorzurutschen und dort so verwegen sitzen zu bleiben wie ein Clown, der auf der äußersten Croupe seines Pferdes hängt. Dann schüttelte er die an der Schnur hängenden Gläser vollends ab, breitete die Arme aus, zog mich an sich und hielt mich, ohne ein Wort zu sagen, fest umschlungen. Hierauf schob er mich von sich ab, betrachtete mich noch einmal von dem Kopfe bis zu den Füßen herab genau und rief dabei aus:

»Ja, ja, er ist's; er ist's in Wirklichkeit! Ein Sihdi, der mit mir essen will! Ein Mensch, welcher Gedichte macht! Stimmt! Daß ich das nicht gleich gedacht und gewußt habe! Charley, wollen wir wetten?«

»Worüber?«

»Daß Ihr nicht ahnt, wen ich bei mir habe!«

»Ich wette nicht, niemals! Das wißt Ihr doch!«

»Also noch immer nicht? Miserabel! Ihr seid ein ganzer Kerl, ja, ein famoser Kerl, in allen Sätteln fest und praktisch auf dem Land und auf dem Wasser, aber das Eine, das Eine, was Euch fehlt, das will noch immer nicht werden: Ihr wettet nicht, und so lange Ihr das nicht tut, ist es nicht möglich, Euch einen vollkommenen Gentleman zu nennen!«

Das war seine alte und einzige Klage über mich, die ich damals unzählige Male hatte hören müssen.

»Ist es ehrlich, zu wetten, wenn man weiß, daß man gewinnen muß?« fragte ich.

»Nein! Aber ich wette ja mit Euch, daß Ihr nicht gewinnen werdet!«

»Ich gewinne! Euer Verwandter, der Governor, ist bei Euch!«

Da trat er zwei Schritte zurück, setzte den Klemmer wieder auf, sah mich erstaunt an und sagte:

»Unbegreiflich! Dieser deutsche ›Sihdi, welcher Gedichte macht,‹ konnte fünf und auch noch mehr Pfund von mir gewinnen und hat nicht mitgetan! Aber – – was sehe ich!« Er streckte beide Arme nach vorn und sah die Hemdärmel ganz betroffen an. »Wie bin ich gekommen? Wie stehe ich da?! Schrecklicher Mensch, der ich bin! Aber es war so schwül und nur der Governor da! Ist auch in Hemdärmeln! Muß ihn warnen! Kommt herauf, Charley, aber schnell, schnell! Habe vor Freude ganz den Rock vergessen! Ich reiße aus! Pardon!«

Er war wirklich im Gesichte rot geworden, der liebe, gute Mensch! Nun lief er so schnell fort, wie er gekommen war. Der Sejjid hatte draußen gestanden und gewartet, jetzt kam er herein und sagte:

»Dieser Inglis hat mich aber doch hinausgeworfen!«

»Was? Hinausgeworfen?«

»Ja, aber nicht aus Zorn, sondern vor Freude.«

»Wieso?«

»Als ich das von der Chair-and-umbrella-pipe sagte, fragte er mich wirklich ganz so, wie du dachtest, woher du sie kennst. Als er dann erfuhr, daß du auf Ceylon und auf dem chinesischen Schiffe dabeigewesen seist, da sprang er auf und rief: ›Das kann nur mein alter, lieber Charley sein!‹ Dann packte er mich an, warf mich zur Türe hinaus, sich selber aber auch mit, und rannte nach der Treppe. Der andere Inglis rief ihm nach, er solle doch erst den Rock anziehen, aber er hörte gar nicht darauf. O, Sihdi, diese Inglis müssen sehr gute Menschen sein, weil sie dich so lieb haben! Ich bin nur froh, daß ich ihnen die fünf Pfund nicht wiedergegeben habe; das hätte sie denn doch vielleicht gekränkt!«

»Es sind zwei Engländer vom höchsten Adel, Omar. Sei also höflich, sehr höflich mit ihnen!«

»Du brauchst keine Sorge zu haben, Sihdi! Mein Adel ist von Muhammed, also weit über tausend Jahre alt, und adelig sein, das kann man bei uns nicht, ohne auch höflich zu sein! Ich weiß nicht, wie das bei den andern Völkern ist!«

Als ich hinaufkam, standen wohl sieben oder acht Kellner da. Meine beiden Gastfreunde waren also im Hotel hoch abgeschätzt. Ich wurde mit einer so aufrichtigen Freude und einer so wohltuenden Güte empfangen, daß ich mich sofort wie bei Verwandten fühlte, bei denen man zu Hause ist. Man stürzte nicht mit Fragen über mich her; es wurde sogleich gegessen. Es lag überhaupt nicht in der Art dieser beiden Männer, viel Worte zu machen. Was man ihnen nicht ungefragt sagte, das gab es für sie nicht. Natürlich erkundigte ich mich nach dem Schiffe, mit welchem sie gekommen seien.

»Schiff?« antwortete Raffley. »Ach, das weiß dieser Charley noch gar nicht. Kommt schnell heraus nach dem vordern Raume! Da seht Ihr es liegen.«

Er zog mich hinaus, wo man zwischen den Baumkronen hindurch den Hafen sehen konnte, was unten bei mir nicht der Fall war. Er deutete mit der Hand in die betreffende Richtung, und da sah ich, weit entfernt von der Stelle, an welcher der Platz der »Coen« gewesen war – – die »Yin« vor Anker liegen.

»Also doch, doch, doch, die ›Yin‹!« rief ich voller Freude aus. »Ich habe es mir gedacht und konnte es doch fast nicht glauben!«

»Ihr kennt den Namen?«

»Ja. Ich sah sie in den Hafen kommen, hell und leicht und schön wie eine Nymphe! Ein Fahrzeug, wie ich noch keins gesehen habe!«

»Freut mich, freut mich, Charley! Ist ganz nach meinen eigenen Angaben entworfen und gebaut!«

»Aber es wurde doch nur ein Mann im Boote abgegeben; dann gingt ihr wieder fort!«

»Weil ich den Ankerplatz nicht kannte. Mußte mich erst erkundigen, an welcher Stelle ich die Kette fahren lassen konnte, und bin inzwischen wieder hinausgedampft und dann zurückgekehrt. Kommt wieder herein! Müssen auf diese meine ›Yin‹ ein Glas leeren!«

Wir gingen zu dem Governor zurück und stießen mit ihm auf die Jacht an; er tat bereitwillig Bescheid. Raffley füllte die Gläser wieder und sagte:

»Und nun auf das Wohl einer andern ›Yin‹, die mir noch tausend-, tausendmal teurer als diese ist! Ich bitte, bis auf den letzten Tropfen leer!«

Ich folgte natürlich dieser Aufforderung; der Governor aber warf Raffley einen verweisenden Blick zu und rührte das Glas nicht an.

»Well! Ganz, wie Ihr wollt!« meinte dieser entschuldigend und begütigend. »Ich werde meine Wette aber doch gewinnen!«

Was war das für eine »andere Yin«? Und was war das für eine Wette? Es gab da einen Punkt, in welchem Beide nicht übereinstimmten. Und es mußte sich um mehr, um viel mehr als um eine bloße Wette handeln. Wer, wie der Governor, einer solchen Aufforderung nicht Folge leistet, der macht sich einer Beleidigung schuldig, welche nach den Gesetzen der Kreise, denen diese Beiden angehörten, sonst nur einen blutigen Ausgang nehmen kann. Wie kam es, daß Raffley, der in Bezug auf Ehrensachen so außerordentlich empfindliche Edelmann, sie in so ruhiger, ja sogar in begütigender Weise hingenommen hatte? War er sich vielleicht einer Schuld bewußt? Ganz gewiß nicht! Dieser Mann trug trotz aller seiner Eigenheiten nicht eine Spur der Möglichkeit in sich, irgend Etwas zu tun, was im Codex der guten Gesellschaft als unerlaubt bezeichnet wird. Es konnte sich hier nicht um ein Vergehen, sondern nur um eine Verschiedenheit der Ansicht handeln, zumal der Governor, sobald das Quiproquo vorüber war, sich ganz so unbefangen wie vorher zu ihm verhielt.

Und doch konnte es dem scharfen Beobachter nicht entgehen, daß ein unsichtbares Fragezeichen zwischen dem Einen und dem Andern schwebte, und dieses Fragezeichen schien ein chinesisches zu sein. Es verstand sich ganz von selbst, daß wir, die wir uns hier am Tore von China befanden, dieses Land auch im Gespräche wiederholt berührten; dann wurde der Governor jedesmal still; man merkte deutlich, daß er sich Reserve auferlegte. Und Raffley war es anzuhören, daß er sich bemühte, seine Aeußerungen abzumessen. Ich selbst befand mich da in einer ziemlich unbequemen Lage. Der Governor war kein Freund der mongolischen Rasse; das stand fest. Raffley war es früher auch nicht gewesen, schien aber seine Ansicht geändert zu haben; jedenfalls gab es für ihn einen Grund, sich nicht so zu äußern, wie er es zu dürfen wünschte. Und ich mußte mich, um nicht anzustoßen, mit oberflächlichen Bemerkungen behelfen, obgleich es in meiner Natur liegt, jeder Sache gern auf den Grund zu gehen. Darum traten zuweilen Pausen ein, welche selbst durch Liebenswürdigkeiten nicht unbemerkbar gemacht werden konnten.

Ich muß sagen, daß Raffley mir jetzt anders vorkam, als er früher gewesen war. Schon körperlich hatte er sich verändert. Seine hagere, knochige Gestalt war voller geworden; die scharfen Linien seines Gesichtes hatten sich gemildert. Die Nase trat nicht mehr so hervor; es zeigte sich alles runder, sanfter, ansprechender als vorher. Er war, um mich so ausdrücken zu dürfen, jetzt bedeutend »hübscher« als vorher. Seine Physiognomie war früher die eines scharfen Denkers, eines sehr willenskräftigen Mannes gewesen, der mit selbstbewußter Rücksichtslosigkeit seine eigenen Wege geht; nun aber schien der Geist sich mit der Seele vermählt zu haben, und das, das freute mich so sehr. Der Spleen war vollständig verschwunden und mit ihm die unendliche Gleichgültigkeit für Alles, was nicht Old England und den Sport betrifft. Er zeigte ein lebhaftes Interesse für alles Reinmenschliche, und der starre, rechthaberische Dogmenglaube von früher hatte auch ein anderes, freundlicheres Gesicht bekommen. Damals war er nichts weiter als ein Engländer im Superlativ, ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle; jetzt aber war er mehr, viel mehr, nämlich ein harmonisch denkender Mensch und ein zwar nicht sehr schöner, aber dafür bedeutender Mann.

Indem ich das Alles beobachtete, fragte ich mich, durch welche Ursache diese Veränderung wohl hervorgebracht worden sei. Ich hätte wohl recht gern das »ewig Weibliche« zur Beantwortung herbeigezogen, zumal ich an mir selbst erfahren habe, welchen segensreichen Einfluß diese größte Macht der Erde auf unsere sogenannten »männlichen« Schwächen und Härten hat; aber er war stets so unnahbar maskulin gewesen, daß ich diesen Gedanken fallen ließ, zumal wir jetzt bis zum späten Abend beisammen blieben, ohne daß auch nur ein einziges Wort gefallen wäre, welches mir erlaubt hätte, zu vermuten, daß er jetzt verheiratet sei. Ich stand da vor einem psychologischen Rätsel, dessen Lösung ich nicht meinem Scharfsinn, sondern der Zukunft überlassen mußte.

Und diese Zukunft, wenigstens die naheliegende, unmittelbare, schien durch dieses heutige Zusammentreffen eine Direktion zu bekommen, an welche ich bis zum Erscheinen Raffleys in meiner Wohnung nicht hätte denken können. Ich sagte ihm nämlich, daß ich seine »Yin« von der »Coen« aus gesehen hätte, und erwähnte dabei meine Absicht, auf dieser letzteren Passage zu nehmen.

»Passage?« fragte er. »Auf einem Schiffe, welches ›Coen‹ genannt wird? Fällt Euch gar nicht ein, Charley! Ihr nehmt natürlich Passage auf meiner ›Yin‹. Basta!«

»Herzlichen Dank, Sir!« antwortete ich. »Aber ich muß mit der ›Coen‹ nach Uleh-leh.«

»Das ist der Hafenort von Atjeh. Was wollt Ihr dort?«

»Eine Geschäfts- oder vielmehr Geldangelegenheit ordnen. Es betrifft nicht eine eigene Sache; ein Freund hat mich darum gebeten.«

»Ist es notwendig?«

»Sogar eilig. Es handelt sich zwar um kein großes Kapital; für den Betreffenden aber würde der Verlust groß genug sein, ihn zu ruinieren.«

»So müßt Ihr freilich hin, wenn Ihr's versprochen habt. Aber warum mit dieser ›Coen‹? Meine ›Yin‹ kann auch hinüber, und zwar, sobald Ihr wollt! Nur aber müßt Ihr mir versprechen, dann bei uns zu bleiben.«

»Kann ich etwas versprechen, ohne Euer Ziel zu wissen, Sir?«

»Unser Ziel? Hm! Nun, wir gehen nach China.«

»Bis wohin? Wie weit?«

»Hört, Charley, betrachtet Ihr Euch als meinen Freund?«

»Ich bin es von ganzem Herzen!«

»Well, so fragt einmal jetzt nicht! Ihr wißt, daß ich Herr meiner Zeit bin und daß ich meinen Kurs an jedem Tag ändern kann, wie ich Euch jetzt mit Uleh-leh bewiesen habe. Wenn Ihr es so eilig habt, können wir schon in dieser Nacht in See gehen. Ihr sagt, es handle sich um Geld. Was das betrifft, so weiß ich, daß Ihr ein sehr verständiger Mann seid; aber ich bin doch wohl noch verständiger, denn wer mehr Geld hat, der hat auch mehr Verstand. Ihr seid der ›Sihdi, welcher Gedichte macht‹, und dieser mein Verstand sagt mir, daß der Mammon und die Seele eines Dichters zwei Dinge sind, die man als Freund so weit wie möglich auseinander halten soll. Es würde mir eine Freude sein, dies tun zu können. Um was handelt es sich denn eigentlich?«

»Um die Sicherstellung eines Kapitales, welches ein Deutscher drüben in Atjeh stehen hat. Ich habe die briefliche Bitte nebst Einlagen in Colombo bekommen.«

»Und wo steckt jetzt diese briefliche Bitte? Darf ich sie einmal lesen?«

Ich kannte meinen Raffley zu genau; da war nichts zu verweigern, wenn es sich nicht um geradezu persönliche Geheimnisse handelte. Ich mußte hinuntergehen und das Schreiben holen. Er las es durch, auch die beiliegende Vollmacht, steckte Beides in die Tasche und sagte lächelnd:

»Dachte es mir! Ich habe den größeren Verstand! Wir dampfen nicht nach Uleh-leh, sondern gehen morgen früh miteinander hier auf die Bank, sagen wir ›Hongkong and Shanghai Banking Corporation‹. Da kennt man John Raffley ganz genau, und in zehn Minuten ist die Sache abgemacht. Basta! Bitte, kein Wort mehr verlieren. Ihr wißt, wenn ich meinen Willen haben will, so habe ich ihn! Und nun hier meine Hand: Schlagt ein, daß Ihr mit uns auf meiner ›Yin‹ nach China geht!«

Er hielt mir die Hand hin. Das war ja der reine Sturm! Es kam so unerwartet! Sein Wunsch war nicht nur ehrlich gemeint, sondern mir auch außerordentlich sympathisch, aber ich hatte doch vorher Wichtiges zu bedenken und – – – da fühlte ich unter dem Tische eine Berührung; der Governor hatte mich mit dem Fuße gestoßen und nickte mir, als ich ihn ansah, heimlich bittend zu. Auf seinem jetzt von Raffley nicht beachteten Gesichte stand der dringende Wunsch geschrieben, daß ich »ja« sagen möge. Da ließ ich denn alle Bedenken fallen und legte meine Hand in die dargereichte des Freundes, indem ich, halb scherzend und halb ernst, bemerkte:

»Aber, Sir, ich bin nicht allein. Hat die ›Yin‹ auch Platz für meinen Diener?«

»Für diesen Prachtmenschen, der, wie ich gar wohl bemerkt habe, für seinen ›Sihdi, welcher Gedichte macht‹, durch Wasser und durch Feuer geht? Welche Frage! Natürlich habe ich Platz, denn treuer wie er kann selbst mein alter Tom und auch der Bill nicht sein.«

»Leben Beide noch? Sind sie hier?«

»Jawohl! Seit ich die neue Jacht besitze, sind sie avanciert. Ich nenne Tom nicht mehr Steuermann, sondern Kapitän, worauf er ungeheuer stolz ist, und Bill ist Steuerer geworden. Es wird Euch auf der ›Yin‹ gefallen. Ich habe die Photographien ihrer Räume hier; die werde ich Euch zeigen. Ich hole sie.«

Er verließ das Zimmer. Dies benutzte der Governor, mir seine Hand über den Tisch herüber zu reichen, wobei er in herzlichem Tone sagte:

»Ich danke Euch, Sir, daß Ihr eingewilligt habt! Zwischen mir und John steht ein Gespenst, welches denselben Namen wie die Jacht führt, nämlich ›Yin‹. Wir vermeiden, von ihm zu sprechen, und dadurch entsteht zwischen uns eine leere, schmerzende Lücke, welche durch Eure Gegenwart weniger empfindlich wird. John gibt viel, sehr viel auf Euch; das weiß ich, obgleich Ihr Euch so lange Zeit nicht gesehen habt. Ich hoffe, daß Eure Gegenwart mich unterstützen wird, unsere große Wette, von deren Gegenstand wir aber, seit wir sie eingegangen sind, nicht sprechen, zu gewinnen.«

Wieder die Wette! Es schien eine ganz eigene und jedenfalls sehr wichtige Bewandtnis mit ihr zu haben!

Raffley brachte die Bilder. Er sprach mit heller Begeisterung von seiner »Yin«, und der Governor stimmte, so lange sich dieser Name nur auf die Jacht bezog, in dieses Lob mit ein. Da kam auch die Photographie des Marmorkopfes zum Vorscheine. Raffleys Augen bekamen doppelten Glanz; es war ein Blick der innigsten, der rührendsten Liebe, mit welchem er sie betrachtete. Ich hatte noch nie solche weibliche Züge gesehen. Waren sie kaukasisch oder mongolisch? Waren das mandelförmige oder geschlitzte Augen? Jeder einzelne Teil dieses ganz eigenartig schönen Gesichtes war eine Frage, welche kein Pinsel und kein Meißel zu beantworten vermochte, und trotzdem oder wohl grad darum kamen mir die Worte über die Lippen:

»Ist das Porträt oder Phantasie?«

Da sah der Governor mich bedeutungsvoll an, und ich las von seinen sich lautlos bewegenden Lippen:

»Das ist das Gespenst!«

Raffley sah diese Mitteilung seines Verwandten nicht; er schien seinen Blick nicht von dem Bilde trennen zu können, schob es dann aber doch zu den andern hin und sagte; indem er die Hände wie in ihn plötzlich überkommender Andacht zusammenlegte:

»Es ist Yin, die Güte! Wißt Ihr, Charley, was Güte ist? Nein. Niemand weiß es. Oder seid Ihr wissend genug, mir nicht eine kalte Definition des Begriffes zu liefern, sondern mir Eure ganze Persönlichkeit als Offenbarung dieser Güte aufzuopfern?«

Er sah mich, indem er hoch aufgerichtet vor mir stand, an. Dann richtete sein Blick sich zur offenen Tür hinaus in das Freie, wo die Sterne leuchteten und auf den Wogen silberne Lichter fluteten und fügte langsam hinzu:

»Und so eine Offenbarung ist mir geworden! Mein Gott, ich danke dir!«

Der Governor zog die Spitzen seines dichten, grauen Schnurrbartes nervös durch die Finger. Diese Wendung war ihm unangenehm. Vielleicht hatte er ein abermaliges, zurechtweisendes Wort auf den Lippen; aber es wurde nicht ausgesprochen, denn die Kellner kamen und baten um die Erlaubnis, abdecken zu dürfen. Wir hatten eine Stunde auf das Essen verwendet und waren dann noch fast dreimal so lange am Tische sitzen geblieben. Ich hielt es also für an der Zeit, mich zu verabschieden. Der Governor begleitete mich höflich bis an die Treppe; Raffley aber ging mit bis in den Garten hinab.

»Noch einen Augenblick, Charley,« sagte er, mich zu einer Bank führend. »Setzen wir uns!«

Ich nahm an, daß er mir noch eine besondere Mitteilung zu machen habe; er saß aber längere Zeit schweigend da, ehe er begann:

»Ihr habt Fragen auf dem Herzen. Nicht?«

»Aufrichtig geantwortet: Nein!«

»Well! Ihr seid eben so, wie man sich einen Freund wünschen muß. Nicht wahr, Charley, Ihr habt früher gebetet und betet heut auch noch?«

»Ja.«

»Auch für Andere?«

»Wer nicht für Andere beten kann, der soll lieber gar nicht beten.«

»Richtig! So bitte ich Euch, tragt dem Herrgott auch für mich ein gutes Wort hinauf! Zweifelt nicht daran, daß ich es nötig habe! Ich möchte unsere Wette so gern, so gern gewinnen. Es ist wohl kein Wortbruch, wenn ich Euch im Vertrauen sage, daß ich Raffley-Castle mit Allem, was zu diesem Schlosse und zu diesem Namen gehört, an diese Wette gewagt habe.«

»Unmöglich!«

»Nicht unmöglich, sondern wirklich!«

»Aber, Sir, ich kann es doch nicht glauben! Ich weiß, wie gern Ihr wettet. Bei Eurem ungeheuren Vermögen ist dies unter gewöhnlichen Verhältnissen auch mit keiner Bedenklichkeit – – –«

»Pshaw!« unterbrach er mich. »Daran denke ich nicht. Ich habe ja grad dieses ungeheure Vermögen auf eine einzige Karte gesetzt. Wenn ich verliere, bin ich in Beziehung auf das Geld ein armer Mann, aber in anderer Beziehung vielleicht noch reicher als vorher. Aber um Anderer willen will und muß ich gewinnen. Darum betet für mich, Charley! Euer Gebet soll nicht meinem Vermögen gelten, sondern etwas ganz Anderem und viel Höherem. Werdet Ihr?«

»Ja, Sir John.«

»Ich danke Euch! Glaubt nicht, daß etwas Schlimmes zwischen mir und dem Governor liegt! Es ist eine einfache Familienangelegenheit, über die er anders denkt, als ich gedacht habe. Und wenn Ihr mich jetzt vielleicht etwas anders findet, als ich früher gewesen bin, so seid überzeugt, daß ich dadurch nicht verloren, sondern gewonnen habe. So, das ist es, was ich Euch sagen wollte. Mögen der ersten ›guten Nacht,‹ die wir uns jetzt nach dem heutigen Wiedersehen wünschen, die guten Tage folgen, in denen der jetzige John Raffley als Mensch das nachholt, was der frühere als Englishman versäumt hat!«

Er drückte mir die Hand und ging. Ich sah ihn so langsam, als ob er an Gedanken schwer zu tragen habe, die Treppe hinaufsteigen.

Wie hatte er so recht, als er meinte, daß er anders geworden sei! Ihn so lange und so zusammenhängend sprechen zu hören, wie jetzt, das war mir früher nie passiert Er hatte grad durch seine Wortkargheit und Kürze imponiert. Und wie anders hatte er nicht bloß sprechen, sondern auch fühlen gelernt! Es war Etwas erwacht, was früher in ihm geschlafen hatte. Wohl der Hand, die es aus dem Schlafe erweckt hatte!

Am andern Morgen kam er mit seinem Verwandten zu mir herunter, um den Kaffee bei mir einzunehmen. Welchen Grades diese Verwandtschaft eigentlich war, das wußte ich nicht und war auch nicht zudringlich genug, darnach zu fragen. Sie nannten sich nicht thou, sondern you, sprachen sich mit Sir an, und wenn der Ton einmal intimer wurde, so war ein dear uncle oder dear nephew beliebt. Während wir bei mir saßen, kam Tom, der »Kapitän«, um zu melden, daß auf der »Yin« Alles »all right« sei; das war sein Lieblingswort. Er war lang und hager, hatte die ganze Haltung und den schleppenden Gang, der dieser Art von Leuten eigen zu sein pflegt, und besaß zwei wunderbar kluge, kleine Aeuglein, welche höchst scharf und selbstbewußt über die große, scharfgeschnittene Nase hinwegblickten. Raffley hatte ihn gewöhnt, nie anders als nur in den kürzesten Worten zu sprechen. Er erkannte mich sofort, und als er erfuhr, daß ich mitfahren werde, schlug er mit der rechten Faust in die linke Hand und rief dabei aus: »Das ist ein Wort! Macht mir Freude!« Das war sein ganzer Herzenserguß, dafür aber umso aufrichtiger gemeint.

Nach dem Kaffee suchten wir das Bureau der Hongkong and Shanghai Banking Corporation auf. Als Raffley seinen Namen nannte, konnte ich den Eindruck wohl bemerken, den dieser auf alle Anwesenden machte. Er trat auf, als ob er der Chef dieser Filiale sei, und es erfüllte sich, was er gestern Abend vorhergesagt hatte: in zehn Minuten war die Sache abgemacht. Mein Auftraggeber konnte zufrieden sein!

Eben wollten wir gehen, da trat eine Dame ein, deren Anblick mich zu einem Ausrufe freudigster Ueberraschung zwang – – – Mary Waller. Sie war außerordentlich bleich, sah sehr abgespannt aus und schien sich in einer nicht gewöhnlichen Lage zu befinden, denn ihr Anzug zeigte die Spuren einer Vernachlässigung, welche ihr sonst nicht eigen war, jetzt aber von ihr gar nicht beachtet wurde. Sie war so mit sich selbst beschäftigt, daß sie meinen Ausruf gar nicht auf sich bezog, mich überhaupt nicht sah, sondern mit schnellen Schritten auf den Disponenten zuging und ihm die kurze, hastige Frage vorlegte:

»Kennen Sie mich noch?«

Er sah sie an. Ihr zwar seidener, aber sehr zerknitterter und mit einigen Rissen versehener Mantel wollte ihm nicht gefallen; aber Mary war eine Persönlichkeit, welche man nicht leicht vergessen konnte. Er besann sich und antwortete höflich:

»Ja, ich kenne Sie. Sie sind Amerikanerin und haben vor einiger Zeit zweitausend Gulden bei uns entnommen. Ich glaube, Ihr Herr Vater war dabei.«

»Richtig! Heute brauche ich etwas über fünfzigtausend.«

»Gern. Darf ich bitten!«

Selbstverständlich erwartete er, daß sie ihm irgend ein Kreditpapier vorlegen werde, und hielt ihr die Hand entgegen. Sie aber stieß, halb verlegen und halb zornig über ihre gegenwärtige Situation, die Worte hervor:

»Ich bitte, mir diese Summe auf mein Wort und meine Ehrlichkeit zu geben. Ich habe keine Anweisung!«

»Tut mir leid; ist prinzipiell unmöglich!«

»Mein Himmel! Ich muß und muß es haben! Mein Vater befindet sich in der Gefangenschaft der Malaien von Atjeh, drüben auf Sumatra. Sie haben uns überfallen und Alles abgenommen, auch die Kreditpapiere. Sie verlangen fünfzigtausend Gulden Lösegeld und haben mich in dieser Nacht in einer Praue Malajisches Boot. herübergebracht, um diese Summe zu holen. Die Papiere aber verweigerten sie mir!«

Sie hatte diese Worte stoßweise, in wachsender Angst hervorgebracht. Der Disponent schüttelte den Kopf und erwiderte, zwar teilnehmend aber mit geschäftlicher Bestimmtheit.

»Ohne Unterlage wird Ihr Wunsch bei jeder Bank vergeblich sein. Das Unglück, welches Sie betroffen – – –«

Er wurde unterbrochen, denn Raffley, welcher keine Ahnung davon hatte, daß ich die Bittstellerin kannte, stellte sich mit einigen schnellen Schritten an ihre Seite und erklärte:

»Ich eröffne dieser Dame hiermit bei Ihnen einen Kredit über sechzigtausend holländische Gulden, und bin überzeugt, daß ich sie wiederbekomme. Zahlen Sie sofort aus, was sie verlangt!«

Und sich vor ihr verbeugend, nannte er seinen Namen und fügte in seiner, sobald er wollte, herzgewinnenden Weise hinzu:

»Mylady, Sie schreiben Ihren Namen auf irgend einen Zettel, den man Ihnen geben wird, und können ihn wiederbekommen, so bald oder so spät es Ihnen gefällt.«

Sie wendete sich ihm zu und sah ihm stumm in das gütig lächelnde Angesicht. In ihrem glücklichen Erstaunen fand sie keine Worte. Nun sie der Stelle, an der ich mich befand, den Rücken nicht mehr zukehrte, sah sie auch mich. Sie erkannte mich natürlich sofort, doch war die Wirkung eine ganz andere, als ich wohl hätte vermuten dürfen. Der plötzliche Uebergang von der schwersten Sorge zu der Erkenntnis, daß sie nun geborgen sei, hob die übermäßige Anspannung ihrer Nerven aus; die Kräfte verließen sie. Sie ließ einen lauten Schrei erklingen, schloß die Augen, streckte die Arme aus, um nach einem Halt zu suchen, und wäre hingestürzt, wenn Raffley sie nicht gestützt hätte. Ich sprang hinzu. Sie war ohnmächtig geworden.

Da eilte der Disponent hinaus und kam nach noch nicht einer Minute mit einigen Malajinnen zurück, welche Mary auf eine leichte Bambusbank betteten und diese mit ihr hinaustrugen.

»Kannte Euch die Dame, Charley?« fragte mich Raffley, ohne sich um die Aufregung zu bekümmern, in welcher sich sämtliche Bankbeamten befanden. »Fast schien es so!«

»Ja, wir kennen uns,« antwortete ich. »Kommt her; ich muß Euch das erklären!«

Ich führte ihn in das nebenan liegende Wartezimmer, in welchem sich grad jetzt Niemand befand, und klärte ihn so auf, wie die uns nur kurz zugemessene Zeit es mir erlaubte. Ich sagte ihm natürlich auch, daß ich Wallers unter einem andern Namen bekannt geworden sei, und bat ihn, mich ja nicht bei dem richtigen zu nennen.

»Well! Das verleiht Euch einen Anflug von Romantik, den ich Euch nicht rauben werde,« lächelte er. »Ihr seid ja, ›ein Sihdi welcher Gedichte macht,‹ und solche Leute soll man – – –«

»Halt!« unterbrach ich ihn. »Grad daß ich mich auch mit Gedichten befasse, dürfen Wallers am wenigsten erraten. Ich bitte also, besonders auch hier über zu schweigen! Den Grund dazu werde ich Euch mitteilen, sobald wir Zeit dazu haben. Ich glaube, man verlangt jetzt nach uns.«

Ich sah eine der Malajinnen kommen, welche uns mitteilte, daß die fremde Njonja Dame, Herrin. wieder zu sich gekommen sei und bitte, mit uns sprechen zu dürfen. Sie führte uns nach einer gegen den Hof liegenden Veranda, wo Mary, auf einem bequem ausgezogenen Sessel ruhend, uns erwartete.

Ich darf mir wohl erlauben, über die erste Viertelstunde dieses Zusammenseins hinwegzugehen. Sie war der Freude des Wiedersehens und unseren Bemühungen gewidmet, Mary zu beruhigen und sie zu überzeugen, daß für sie und ihren Vater alles nur denkbar Mögliche geschehen werde. Hierauf hielt sie es für Pflicht, zu erzählen, was mit ihr und ihm geschehen war. Raffley aber bat sie in seiner mir so wohl bekannten, rücksichtsvollen Weise, sich zu schonen und uns einstweilen nur zu sagen, wo ihre Wohnung sei. Sie nannte unser eigenes Hotel, worauf er ihr, als sie sich stark genug dazu erklärte, einen Wagen bringen ließ und sie bat, uns nach meinem Zimmer melden zu lassen, wann sie sich ausgeruht habe.

Als sie fortgefahren war, ließ er sich die von ihr gewünschte Summe auszahlen, worauf wir ihr per Rickschahs nachfolgten. Im Hotel angekommen, teilte ich dem Sejjid mit, daß Miß Mary Waller hier sei; er möge sich unauffällig nach ihrem Zimmer erkundigen.

»Die Miß aus Amerika?« fragte er erfreut. »Die liebe ich! Ich werde das sehr schnell erfahren.«

Es dauerte allerdings nicht lange, bis er wiederkam. Sein Bericht lautete:

»Sie ist heut in der Nacht zu Fuß und ganz allein vom Hafen hergekommen und hat sehr lange läuten müssen, ehe man ihr geöffnet hat. Sie ist sehr schwach und elend gewesen, hat weder gegessen noch getrunken, sondern sich gleich auf das Bett geworfen und vor Müdigkeit bis vor einer Stunde geschlafen. Dann ist sie in die Stadt gegangen und vor einigen Minuten in einem Wagen zurückgekehrt. Sie wohnt drüben im großen Hause und hat nach einem Arzte geschickt. An ihrer Zimmertür steht die Nummer Zwanzig.«

»Gut! Geh hin, und warte, bis der Arzt bei ihr gewesen ist; dann bringst du ihn zu mir. Aber sie soll nichts davon wissen.«

Ich vermutete, daß dieser Arzt einer von den beiden sei, welche ihren Vater behandelt und nach Atjeh geschickt hatten, und ich hatte Recht, denn als er kam, war er derselbe, den ich besucht hatte, um mich nach Wallers Krankheit zu erkundigen. Er war von Mary gerufen worden, um über den Zustand ihres Vaters, welcher sich in Atjeh verschlimmert hatte, gefragt zu werden, und wir wollten mit ihm sprechen, um, ohne die Tochter damit belästigen zu müssen, etwas über die gegenwärtige Lage des Vaters zu erfahren.

Er konnte uns natürlich nur sagen, was er von ihr gehört hatte, und das war nichts Zusammenhängendes, nichts Ausführliches gewesen. Wallers waren zunächst nach Uleh-leh und von da hinauf nach Kota Radscha gefahren, wo ihnen der Gouverneur infolge eines Empfehlungsschreibens eine Wohnung im Kratong, der früheren Zitadelle der Eingeborenen, gegeben hatte. Da dort aber die militärische Besatzung der Holländer liegt, so hatte der Kranke dort die ihm so notwendige Stille und Ruhe vermißt. Aus diesem Grund, und weil Kota Radscha immer noch zu nahe an der fieberschwangeren Küstenniederung liegt, hatte er sich durch keine Vorstellung und keine Warnung abhalten lassen, noch höher hinaufzugehen, und war mit seiner Tochter und einigen Trägern nach den wilden Höhen des Barissangebirges aufgebrochen. Was nun Alles unterwegs und dann auch oben unter den für unbotmäßig gehaltenen Bergmalajen geschehen war, das hatte Mary nicht erzählt, wahrscheinlich um nicht sagen zu müssen, wie falsch ihr Vater sich zu diesen Leuten verhalten hatte, welche die Weißen als die Räuber ihres Landes und die Unterdrücker ihres Glaubens betrachten und darum eine unversöhnliche Feindschaft gegen sie hegen. Aber Schlimmes, sehr Schlimmes mußten sie erlebt haben, bis es schließlich zu der Katastrophe gekommen war, deren Folge in der Gefangennahme Wallers und seiner Tochter bestand. Er hatte getötet werden sollen, doch war es ihr gelungen, durch unausgesetzte Bitten und Tränen die Bitjara Beratung der Häuptlinge. zu dem Versprechen zu vermögen, ihn gegen ein Lösegeld von fünfzigtausend Gulden freizugeben. Sie hatte den Auftrag bekommen, dieses Geld zu holen, und war zu diesem Zwecke quer durch das ganze Bergland bis hinunter zur Ostküste geschleppt worden, von wo aus man sie quer über die Malakkastraße gebracht hatte, und zwar in einem malajischen Fahrzeuge, dessen Beschaffenheit und Besatzung ihr geradezu zur Hölle geworden war. Bei der nächtlichen Landung hatte sie noch einmal versprechen müssen, keinen Namen zu verraten, weil man das mit dem Tode ihres Vaters rächen werde.

»Er ist aber trotzdem verloren,« fügte der Arzt hinzu, »denn ich vermute, daß sie ihn trotz des Lösegeldes umbringen werden, wenn sie es nur erst haben. Diese Malaien sind schon zu gewöhnlicher Zeit ganz treu- und gewissenlose Menschen, und jetzt, wo wir wissen, daß sich unter ihnen eine blutige Empörung gegen alle Europäer vorbereitet, werden sie erst recht keinen Pardon erteilen. Und selbst wenn sie ehrlich handelten, was aber ganz ausgeschlossen ist, so könnte man das Leben Wallers nicht mehr retten; er wird der Krankheit und den Anstrengungen und Entbehrungen erliegen, die er so unvorsichtiger Weise auf sich genommen hat.«

»Sie selbst haben ihn aber ja hinübergeschickt!« warf ich ihm, der die Malaien haßte, ein.

»Ich habe vom Bergland gesprochen, aber nicht von den einsamen Höhen und Schluchten des Barissangebirges, wo keiner der feindseligen Malaien ihn aufnimmt, um ihn gesund zu pflegen!« antwortete der Arzt. »Er war so schwach, daß er getragen werden mußte. Denken Sie sich eine solche Tour durch wildes Gebirge! Keine Bequemlichkeit, keine Nahrung, keine Ruhe, kein Trost! Wenn er heute noch lebt, ist es ein Wunder zu nennen! Dieser Herr hat einen fürchterlichen Eigenwillen und scheint von der Gefährlichkeit der Dysenterie nicht eine Spur von Ahnung zu besitzen!«

Er ging. Kurze Zeit später ließ Mary fragen, ob sie zu mir kommen könne, und folgte dem Boten auf dem Fuße. Raffley ergriff ihre Hand, führte sie zu einem Sitze und nahm ihr, ehe sie zu sprechen begann, das Wort aus dem Munde:

»Mylady, schonen Sie sich! Wir brauchen nur sehr wenig zu wissen, und ich bitte um die Erlaubnis, Sie fragen zu dürfen. Es wurde ihnen von den Malaien eine Zeit gesetzt?«

»Ja,« antwortete sie. »Ich habe spätestens mit der ›Coen‹, Kommandant Wilkens, möglichst aber noch eher nach Uleh-leh zurückzukehren.«

»Well! Sie werden eher zurückkehren! Wohin sollen Sie das Geld bringen?«

»Man sagte mir, daß man mich beobachten werde, sobald ich im Hafen angekommen sei. Es werde ein Eingeborener zu mir treten, um mir die Hälfte einer zackig zerschnittenen Betel-Nuß zu geben, deren andere Hälfte ich bekommen und hier in meiner Tasche habe. Wenn ich sehe, daß die beiden Hälften genau zusammenpassen, sollte ich ihm das Geld geben und dabei sagen, wohin man meinen Vater bringen solle. Aber ich möge ja ehrlich sein und keine Hinterlist planen, weil der Häuptling, dem mein Vater übergeben worden sei, sein Wort auch halten werde.«

»Das genügt für jetzt, Mylady. Mehr brauchen wir nicht zu wissen. Ich habe nämlich eine allerliebste, kleine, hübsche Jacht, und auf ihr eine ebenso allerliebste Wohnung für eine Dame. Ich dampfe von jetzt an in vier Stunden nach Uleh-leh. Unser Freund hier geht auch mit, und zwar mit Sejjid Omar, seinem Diener.«

»Wie herrlich!« rief sie aus, für den Augenblick trotz ihrer Lage ganz entzückt.

»In diesen zwei Worten liegt ihre Zustimmung, daß Sie sich uns anschließen wollen,« lächelte er befriedigt. »Diese vier Stunden bieten Ihnen hoffentlich hinreichend Zeit zur Ergänzung Ihrer Toilette. Ich eile, meinen Befehl zur Jacht zu senden und einen Verwandten zu holen, den ich Ihnen vorstellen muß, weil er auch mitfährt.«

Er entfernte sich. Sie sah mich verlegen fragend an. Ich erriet, was sie wollte. Sie war vollständig mittellos, und er hatte von der allerdings sehr gebotenen Ergänzung ihrer Toilette gesprochen.

»Haben Sie keine Sorge, Miß Mary!« bat ich sie. »Dieser Gentleman weiß immer, was er sagt. Und das, was er tut, stimmt stets und ganz genau mit dem zusammen, was er sagt. Das Lösegeld hat er bereit, und was sonst noch nötig ist, wird Ihnen werden, ehe Sie es brauchen.«

»Welch ein Mann! Als er in der Bank so plötzlich entscheidend zu mir trat, war es mir, als habe Gott ihn mir gesandt!«

»Nur durch solche Menschen wirken Engel, weil sie auf Böse niemals wirken können.«

Hierauf benutzte ich dieses kurze Alleinsein mit ihr, über Raffley einstweilen so viel mitzuteilen, wie für sie und die ersten Tage nötig war. Er kam sehr bald zurück und brachte den Governor mit, welcher gegen sie die ganze Liebenswürdigkeit entfaltete, die einem gewesenen Governor von Ceylon nur möglich ist. Wie ich später erfuhr, hatte Raffley trotz seiner kurzen Abwesenheit doch Zeit gefunden, eine Summe in Papiergeld in ein Kouvert einzuschließen und auf den Tisch ihres Zimmers legen zu lassen. Sie ahnte das nicht, und als sie sich erhob, um fortzugehen, tat sie das vielleicht mit schwerem Herzen, weil er kein Wort von dem gesagt hatte, worüber man gegen Damen keine Worte macht, obgleich es doch so wichtig und so nötig ist.

Kaum hatte sie sich entfernt, Raffley und der Governor waren noch bei mir, so kam Omar, um den Chinesen Tsi anzumelden. Er war heut nun frei, und da ich ihn noch nicht aufgesucht hatte, so war er so klug gewesen, sich auf den Weg zu mir zu machen. Zufälligerweise hatte ich den beiden Engländern gestern Abend bei Tische von ihm und seinem Vater erzählt. Sie kannten mein Zusammentreffen mit ihm und seinem Vater in Kairo, und so wurde er, als er kam, wenigstens von Raffley als halber Bekannter behandelt. Der »dear uncle« aber verhielt sich reserviert. Chinesen waren eben in seinen Augen kein gleichwertiges Menschenmaterial.

Ich ließ den jungen Mann nicht lange im Unklaren über Wallers, sondern teilte ihm die Verhältnisse, so weit wir sie kannten, aufrichtig mit. Er erschrak.

»Dysenterie!« rief er aus. »Schon so lange Zeit! Vielleicht gar schon in Indien! Und da oben auf Sumatra keine Kost, die ihn stärkt, statt dessen aber leibliche und seelische Anstrengung im höchsten Grade! Meine Herren, ich muß mit!«

»Muß! Muß?« fragte der Governor tadelnd.

»Ja! Dieses Wort mag nicht wie eine Bitte, nicht höflich klingen; aber ich bin erregt. Wenn Sie Waller retten wollen, so müssen Sie mich mitnehmen! Nur ich allein kann ihn retten!«

»Sie allein? Wieso?«

»Weil nur ich allein ein sicheres, untrügliches Mittel gegen den Würgengel Dysenterie kenne. Wissen Sie, was Ko-su ist?«

»Nein,« antwortete der Governor.

»Oder Sie, Mylord?«

Er richtete die Frage an Raffley.

»Nein,« antwortete dieser.

»Oder Sie?« fragte er mich.

»Ko-su ist Brucea sumatrana, allerdings das Spezifikum gegen Dysenterie,« sagte ich.

»Aber wissen Sie, wie dieses Mittel in so schweren Fällen zu geben ist?«

»Nein.«

»Kennen Sie die Pflanze überhaupt? Haben Sie sie gesehen?«

»Nein.«

»Sie wächst da drüben in Atjeh, stellenweise sogar massenhaft; aber Sie werden Sie niedertreten, ohne zu ahnen, daß Sie das Leben Ihres Freundes mit ihr retten könnten! Ich bitte also, mich mitzunehmen! Tun Sie es nicht, so werde ich mir einen Extradampfer mieten, denn auch ein Chinese kann opferbereit sein. Aber Ihre Jacht ist schneller als jedes Schiff, welches ich bekommen könnte, und wenn Sie mich nur an Bord zu sich lassen, so will ich mit dem äußersten Winkel fürlieb nehmen, und Sie werden mich nicht eher wieder zu sehen bekommen, als bis in Uleh-leh an das Land gegangen wird. Wo es sich um ein Menschenleben handelt, sollte man doch nicht an Rassenfragen denken!«

Er stand hoch aufgerichtet vor dem Governor, der ihn beleidigt hatte. Seine Augen funkelten.

»Na, so nimm ihn mit!« sagte dieser in einem Tone zu Raffley, als ob es ihm schwer werde, diese Einwilligung zu erteilen.

»Aber ganz selbstverständlich!« rief dieser aus. »Sie sind mir sehr willkommen, Mr. Tsi. In drei Stunden dampfen wir ab. Ist das Zeit genug für Ihre Vorbereitungen?«

»Wenn es einen Freund zu retten gilt, habe ich keine Vorbereitungen zu treffen. Ich würde mitfahren jetzt, gleich, so wie ich hierstehe! Ich danke Ihnen, Mylord!«

Er machte ihm eine tiefe Verbeugung. Mir reichte er die Hand. Dann drehte er sich nach dem Governor um. Er ließ den Oberkörper langsam, steif und förmlich niedersinken, aber nur bis zu einem halben rechten Winkel; das tat er dreimal, ohne ein Wort zu sagen; dann entfernte er sich.

»Fataler, gelber Kerl!« meinte der »Uncle«. »Gebärdet sich wie eine Fürstlichkeit!«

Die war er vielleicht auch, wenigstens sein Vater; nur durfte ich es nicht sagen! Da ließ Raffley seinen Klemmer auf der Schärfe der Nase herunterreiten, stieß ein kurzes, heiteres Lachen aus und fragte ihn:

»Wollen wir wetten?«

»Worüber? Etwa über diesen Chinamann?«

»Yes. Ich behaupte, daß Ihr dicke Freunde werdet!«

»Nie!«

»Well! So wetten wir?«

»Einverstanden!«

»Um wieviel Pfund?«

»Zwanzig. Aber eine Zeit setzen!«

»Schön! Ehe er endgültig unsere Jacht verläßt.«

»Das soll ein Wort sein! Ich werde unbedingt gewinnen!«

»Gut, so setze ich noch zwanzig Pfund, daß du nicht gewinnen wirst!«

»Nein! Doppelwetten sind verboten. Du wärst sonst im Stande, deine Einsätze in die Unendlichkeit hinein zu machen. Zwanzig Pfund und damit basta!«

Man kann sich denken, daß ich höchst neugierig auf die Jacht war. Ist es für den Kenner schon eine Freude, ein solches Fahrzeug zu sehen, wie groß muß diese Freude erst dann sein, wenn er mit ihm fahren kann, weil es das Eigentum eines Freundes ist! Schon »Swallow«, die frühere Jacht Raffleys, war ein Muster von Eleganz gewesen, und so war es erklärlich, daß ich mir nun von der »Yin« bedeutende Vorstellungen in Beziehung auf ihre Ausstattung machte; aber Alles, was ich gedacht hatte, wurde von der Wirklichkeit weit, weit übertroffen.

Als wir an Bord kamen, stand die Mannschaft unter Tom, dem »Kapitän«, in Reih und Glied und hieß uns mit einem dreimaligen »Hip, hip, hurra!« willkommen. Raffley wies mir meinen Raum selbst an. Dieser lag hinten am Stern, war hoch, geräumig, luftig und mit allem Komfort der Neuzeit versehen. Elektrisches Licht verstand sich ganz von selbst; die Maschine lieferte es.

Dann zeigte er mir seine eigene Wohnung, welche mittschiffs unter der Kommandobrücke lag. Sie war einfacher ausgestattet. Man sah ihr an, daß ihr Bewohner das Raffinement nicht liebe und diesen Raum nur der Arbeit und der zu ihr erforderlichen Ruhe gewidmet habe. Es gab keine teuern Möbel hier, aber eine kostbare Bibliothek füllte die Wände aus; ein schwer beladener Ständer hatte die besten Karten aller Länder und aller Meere zu tragen, und auf einer Tafel lagen und standen alle erforderlichen nautischen Instrumente wohl geordnet. Der einzige Schmuck, den es hier gab, war ein Gemälde, aber ein wunderbar schönes, ein Meisterwerk allerersten Ranges, schön in Betreff des Sujets, meisterhaft in Beziehung auf die Ausführung.

Es war ein Brustbild jener »Yin«, deren Marmorkopf den Bug des Schiffes zierte. Was der Marmor dort plastisch ahnen ließ, das wurde hier in diesem Farbengedicht entzückend ausgesprochen. Man redet so entschieden von morgen- und abendländischen, von italienischen, englischen, französischen, spanischen, polnischen, deutschen, nordischen, amerikanischen Schönheiten, von Schönheiten aller Länder. Dieses junge Weib hier war unbedingt eine Schönheit und ebenso unbedingt eine Chinesin. Wie kam es doch aber, daß es mir unmöglich war, zu behaupten, daß sie eine chinesische Schönheit sei? Lag der Grund in den Zügen des Originales selbst, oder lag er in der Art und Weise, wie der Künstler diese Züge aufgefaßt und wiedergegeben hatte? War dieser Künstler ein Chinese oder ein Europäer? Beides nicht, und Beides doch! Ein Talent auf jeden Fall, vielleicht noch mehr! Der Rahmen war einfach, aus schmucklosem Holze, und verschwand fast ganz unter der Menge natürlicher, lebender Rosen, Blumen und Blüten, welche ihn bedeckten. Ich sah später den Schiffsraum, in welchem diese Kinder Floras gezogen wurden, um jahraus, jahrein als Schmuck für »Yin« zu dienen.

Das Bild fesselte mich in ganz ungewöhnlicher Weise. Ich stand lange vor ihm, in Anschauen versunken, und sagte nichts. Ich hatte das Gefühl, daß man Worte hier zu vermeiden habe. Als ich mich endlich abwendete, fiel mein Blick auf Raffleys Augen, welche mit einem unbeschreiblich glücklichen Ausdrucke auf das Porträt gerichtet waren. Nun sah er mich an – – und ich ihn. Beide schwiegen wir; dann nickte er mir zu; er hatte mich verstanden.

Als wir wieder auf das Deck traten, legte eben das Boot an, welches Mary Waller geholt hatte. Raffley empfing sie in seiner wohltuenden, dankerweckenden Weise und geleitete sie nach dem für sie bestimmten Logis, welches die ganze Breite des erhöhten Vorderplatzes einnahm. Sie hatte ihre Toilette vervollständigt; eine englisch sprechende Chinesin, welche für diesen Zweck vorhanden zu sein schien, sonst aber in der Küche beschäftigt war, wurde ihr als Dienerin beigegeben.

Der Governor hatte es sich auf einem Liegestuhl bequem gemacht. Er rauchte eine kurze Pfeife von der Art, welche in englischen »Traveller«-Kreisen jetzt so beliebt ist, und schien dieser Beschäftigung seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen.

Tsi war schon vor uns an Bord gekommen. Ich kam an der Kabine, welche ihm von Tom angewiesen wor den war, vorüber und sah ihn hinter dem halbzurückgeschlagenen Vorhang sitzen. Da trat er heraus und fragte mich, wann der Anker gelichtet werde. Soeben zog die Maschine die Kette an; ich brauchte also nicht zu antworten, hielt es aber für geboten, ihm aus einem anderen Grunde eine Bemerkung zu machen.

»Sie meiden das Deck, wie es scheint,« sagte ich. »Sie haben keine Veranlassung, auf freie Bewegung zu verzichten.«

»Ich will den Governor nicht stören,« antwortete er.

»Bitte! Dem fällt es gar nicht ein, sich von irgend einem Menschen stören zu lassen! Seien Sie aufrichtig: er stört Sie! Und das lassen Sie sich einfach nicht gefallen! Habe ich Recht?«

Es kämpfte sich ein halb verlegenes Lächeln auf seine Lippen, und ehrlich, wie er immer war, gab er zu:

»Ja; es ist richtig, was Sie sagen. Ich habe ihm sein Verhalten übelgenommen, und also nicht so edel gedacht, wie unsere Religion es von uns fordert. Verzeihen Sie! Wie kann ich es dem Einzelnen entgelten lassen, daß er nicht anders denkt, als seine Allgemeinheit denkt! Ich werde ihm Abbitte leisten.«

»Abbitte? Das halte ich denn doch nicht – – –«

»Natürlich nicht so, wie Sie es auffassen wollen,« unterbrach er mich. »Der Wunsch nach Verzeihung braucht nicht grad über die Lippen zu gehen, um sich verständlich zu machen. Darf ich fragen, als wen und was mich die beiden Gentlemen kennen? Selbstverständlich sind Sie nach mir gefragt worden.«

»Sie sind Dr. med. Tsi, der in Deutschland und Frankreich studiert hat. Ihr Vater hat Sie dort abgeholt und ist Ihnen, weil Ihr Beruf Sie veranlaßte, hier zu bleiben, nach China vorausgereist. Ich habe Sie und ihn in Kairo kennen gelernt. Hoffentlich stimmen Sie dieser Auskunft, welche ich gegeben habe, bei?«

»Es ist die mir liebste, welche Sie geben konnten. Ein junger Arzt ist ein Mann, mit dem man sich nur dann abgibt, wenn man ihn braucht; ich werde hier also zurückgezogen leben können, und das ist mir lieb. Ich sah Mary Waller an Bord kommen. Weiß sie, daß ich auch mit hier bin?«

»Nein.«

»Sie – – Sie – – – Sie haben ihr nichts, gar nichts davon gesagt?« stotterte er beinahe.

»Kein Wort.«

»Aber, ich bitte Sie! Was soll sie denken, wenn sie sieht, daß ich – – daß – – – daß – – –«

Er sprach den angefangenen Satz nicht aus. Das Lächeln, welches ich nicht ganz unterdrücken konnte, machte ihn irr. Er errötete sogar.

»Ja, was soll sie denken?« fragte ich. »Daß sie Ihnen Dank schuldet, weiter nichts! Sie haben sich keinen Augenblick besonnen, sondern alle Ihre Verpflichtungen liegen lassen, um mit uns zu gehen und Ihren Vater zu retten. Meinen Sie etwa, daß sie darüber zürnen soll?«

»Nein, das nicht; aber ich hätte sie fragen sollen, ob sie es mir erlaubt.«

»Jede gute Tat ist erlaubt; ja, man soll sie sogar ohne Erlaubnis tun! Aber es gab ja auch gar keine Zeit zur Frage. Als Sie zu mir in das Hotel kamen, war Miß Mary soeben von uns gegangen, und wir haben sie nicht eher wiedergesehen, als bis sie vorhin an Bord kam. Es war also unmöglich, ihr zu sagen, daß sie außer mir noch einen zweiten Gefährten aus Kairo hier treffen werde. Wünschen Sie, daß ich sie auf diese Ueberraschung vorbereite?«

»Ich bitte sogar darum! Es würde mir außerordentlich peinlich sein, sie in einer für mich nicht erfreulichen Weise überrascht zu sehen. Auch hege ich meines Namens und Standes wegen gewisse Bedenken. Sie weiß da nicht, woran sie mit mir ist.«

»Nicht? Nun, das soll sie sofort erfahren!«

Mary war soeben aus ihrem Raume getreten, um einen Scheideblick auf Penang zu werfen, denn die »Yin« begann, sich zu bewegen. Ich wendete mich von dem Chinesen ab, um zu ihr zu gehen, und hatte meine Worte selbstverständlich nur im Scherze gemeint; da ergriff er meinen Arm und sagte ängstlich:

»Was wollen Sie? Wie wollen Sie zu ihr, zu – – zu – – – –«

»Ich werde ihr Alles sagen, Alles!« fiel ich ihm in die Rede und machte meinen Arm frei.

»Aber ich bitte Sie um – – –!«

Mehr hörte ich nicht, weil ich mich schnell von ihm entfernte. Mary kam mir auf halbem Wege entgegen. Sie wollte irgend eine Bemerkung, eine Frage aussprechen; ich ließ ihr aber keine Zeit dazu, sondern erkundigte mich bei ihr:

»Haben Sie vielleicht grad jetzt grausam viel zu tun, Miß Waller?«

»Nichts, gar nichts,« lächelte sie.

»Ich möchte Ihnen einen Herrn vorstellen.«

»Welchen, wo?«

»Bitte, kommen Sie!«

Ich führte sie nach Tsis Kabine, in welche er wieder geschlüpft war. Er sah uns kommen und war also gezwungen, wieder herauszutreten. Welch eine Ueberraschung für die Amerikanerin!

»Das ist Herr Doktor Tsi, welcher Medizin studiert hat und ein untrügliches Mittel gegen Dysenterie kennt,« sagte ich ernst und feierlich, als ob ich überzeugt wäre, daß sie einander noch nie gesehen hätten. »Dieser junge Arzt,« fuhr ich fort, »ist auch den beiden Englishmen, deren Gäste wir sind, als Doktor Tsi bekannt. Mehr ist wohl auch nicht nötig.«

Hierauf verbeugte ich mich und ging fort. Ich war mir bewußt, Tsi in eine unendliche Verlegenheit gebracht zu haben, doch aber so vollständig gefühl- und gewissenlos, mir nichts daraus zu machen. Die letztere Bemerkung hatte ich nicht unterlassen wollen, weil Mary Waller doch wissen mußte, als was unser chinesischer Freund hier auf dem Schiffe zu gelten hatte. Nun wendete ich meine ganze Aufmerksamkeit dem letzteren zu.

Raffley kommandierte selbst. Er war der Mann welcher bei der Ankunft der »Yin« den großen Strohhut auf dem Kopfe gehabt hatte; er trug ihn jetzt wieder, um seine Augen gegen die Strahlen der schon schief-stehenden Sonne zu schützen. Es war eine wahre Pracht, wie willig das schöne Fahrzeug jeder Silbe gehorchte, welche er in das Sprachrohr hauchte. Die See war heute ziemlich unruhig, aber diese »Yin« machte sich nichts daraus; sie nahm die Wogen mit solcher Leichtigkeit, daß von einer Erschütterung ihres Körpers fast nichts zu spüren war.

Man pflegt, wenn man von Penang nach Uleh-leh geht, nach Durchquerung der Malakkastraße in Edi, Lo-Semaweh und Segli anzulegen. Das sind Militärstationen, welche an der fieberhauchenden Küste angelegt sind, um bei den Kämpfen gegen den Herrscher von Atjeh den kriegerischen Vorstößen in das Innere als Stützpunkte zu dienen. Infolge dieses dreimaligen Anlegens sind zwei Tage notwendig, um von Penang nach Uleh-leh zu kommen. Unsere kleine »Yin« aber konnte die direkte Linie nehmen, und da sie pro Stunde zehn Knoten mehr als die »Coen« meines Freundes machte, so brauchten wir nicht einmal einen vollen Tag, um hinüberzukommen.

Das Wetter war geradezu herrlich; die Luft stand fest; die See ging in langgestreckten Wogen, von denen die eine genau der andern glich. Unsere »Yin« lag ein wenig auf die Seite geneigt und ging so leicht, so frei, so scharf wie der zur Wirklichkeit gewordene Wunsch ihres Besitzers über die Straße.

In jenen Gegenden, so nahe dem Aequator, wird es regelmäßig kurz nach sechs Uhr Nacht. Als sich nach zweistündiger Fahrt die Sonne zum Untergange neigte, stieg Mary Waller die Stufen empor, welche auf die Decke ihres Salons führten. Ich befand mich in ihrer Nähe, und sie winkte mir, ihr zu folgen. Da oben, beim Marmorkopfe »Yins« sitzend, konnte man den Uebergang des Tages in die Nacht am besten beobachten.

Wir sprachen zunächst über ihre Freude, Tsi so ungeahnt hier wiederzusehen. Sie war gerührt von seiner, kein Opfer scheuenden Bereitwilligkeit, sofort mit nach Uleh-leh zu gehen, vermied es aber, viele Worte darüber zu machen. Dann beschrieb sie mir ihre jetzige Wohnung. Sie tat dies mit wahrem Entzücken und erklärte mir, so Etwas noch nie gesehen zu haben. Die Einrichtung sei echt chinesisch, reich aber schön, voller köstlicher Gedanken, ein Gedicht, unbedingt von einem chinesischen Weibe gedichtet, so klar im Ausdrucke und im Reime so rein, keine Silbe zu viel und aber auch keine zu wenig, jede Falte ein wohlklingendes Wort, jeder Sessel ein traulicher Vers, jeder einzelne Gegenstand ein Zeichen höchsten Geschmacks und in seinem Verhältnisse zum Ganzen ein Beweis zwar angeborener, aber durch die Ausbildung auch vollendeter Künstlerschaft.

»Ich möchte die Frau kennen, welche diese wunderbare Wohnung, die ihres Gleichen nicht findet, gedichtet hat!« wünschte Mary am Schlusse ihrer Beschreibung. »Sie muß ein schönes, wonniges, harmonisch empfindendes und aber doch scharf und ernst denkendes Wesen sein!«

»Tapezierer!« warf ich hin. »Diese Arbeiten machen in China die Männer, welche sogar waschen und plätten.«

»Tapezierer?« wiederholte sie mein Wort. »Ich begreife allerdings, daß Sie das sagen können; aber kommen Sie, und sehen Sie; dann werden Sie anders sprechen. Ich halte es zwar nicht für unmöglich, daß es ein Tapezierer so weit bringt, in Möbelstoff, in Sammet oder Seide dichten zu können; hier dieses Gedicht aber ist so deutlich fühlbar das Werk einer echten, reinen, edlen Weiblichkeit, daß es fast wehe tut, nur daran zu denken, ob von einem Verfasser anstatt einer Verfasserin, also von einem männlichen Wesen die Rede sein könne.«

Jetzt berührte die Sonne das Meer, und da flutete in einem einzigen Augenblicke eine solche Fülle goldenen Lichtes auf den Wassern zu uns her, als ob der Ball dort im Westen sich aus Liebe aufzulösen beginne.

»Erinnern Sie sich noch des Sonnenunterganges auf dem Dschebel Mokattam damals?« fragte Mary.

»Den Sie gar nicht gesehen haben,« antwortete ich. »Sie ritten zu zeitig fort. Das war die Folge des bösen Wüstenwindes.«

»O nein, sondern die Folge von etwas ganz Anderem. Ich fühlte ihn ja nicht.«

Sie blickte in die golddiamantene Glut, welche den ganzen Westen bis zu uns her überflammte. Dann sah sie mir mit ihren lieben, ehrlichen Augen so offen und herzlich in das Gesicht und fügte hinzu:

»Wollen Sie mir jetzt eine Bitte erfüllen?«

»So gern!«

»Aber gleich? Ganz gewiß? Ohne sich zu weigern? Ohne zu fragen und zu zögern?«

»Ja.«

»Nehmen Sie sich eine Zigarre aus dem Etui, welches ich da in Ihrer Tasche sehe. Bitte, brennen Sie an!«

Es war ihr ein Herzensbedürfnis, in Erinnerung an das damalige Verhalten ihres Vaters diese Bitte auszusprechen. Dennoch entgegnete ich:

»Da steht die See in Sonnenglut. Denken wir nicht an das Glühen eines Tabakblattes!«

»Und doch; grad jetzt! Ich bitte Sie; Sie haben es mir versprochen. Es liegt in meinem Wunsche kein Gegensatz zu dieser Schönheitsfülle, die wir sehen!«

Ja, wahrlich nicht; sie hatte Recht! Wie leicht und doch wie schwer ist ein Frauenherz zu verstehen! Was uns Männern als Widerspruch erscheint, kann schönste Harmonie bedeuten, und was wir für oberflächlich halten, stammt vielleicht aus der tiefsten, verborgensten Seelenfalte. Das Weib weiß es selbst wohl nicht, wie also kann der Mann es wissen!

»Jetzt brennt es,« lächelte sie so liebenswürdig zufrieden, als ich ihrem Wunsche nachgekommen war. »Nun erzählen Sie mir, wie Sie mit ihrem braven Sejjid Omar nach hier gekommen sind! Ich schau dabei gegen West, wo Aegypten liegt, und während Sie erzählen, geht hier die Sonne vollends unter, und dort steigt vor meinem geistigen Auge der Mond hinter den Pyramiden auf und zeigt mir fünf Menschen, welche am Wüstenrande rund um den Tisch sitzen, um von dem zu sprechen, welcher Sonne und Mond über Meer und Wüste führt.«

Ich tat es. Sie sah mich nicht an, aber ihre Seele folgte meinen Worten. Ich legte ihr die ganze, weite Route vor, welche ich mit Omar verfolgt hatte und von der ich für die vorliegenden Blätter bisher nur Aegypten und Ceylon herausgegriffen habe, weil die anderen von uns berührten Punkte zu den Personen und Ereignissen dieser Erzählung in keiner Beziehung stehen. Ceylon aber erwähnte ich des Professors Garden und meines Gedichtes wegen nicht. Es war mir, als ob das auch weiter ein Geheimnis bleiben müsse.

Grad als ich fertig war, wurde mit dem Gong das Zeichen zum Abendessen gegeben, welches auf dem freien, luftigen, elektrisch erleuchteten Deck eingenommen werden sollte. Mary saß als einzige Dame natürlich obenan. Tsi zögerte, zu kommen. Ich wollte wieder aufstehen, um ihn zu holen; da fragte mich der Governor, warum ich meinen Platz verlasse. Ich teilte es ihm mit.

»Ist ihm gesagt worden, daß er bei uns speist?« erkundigte er sich bei Raffley.

»Nein,« antwortete dieser. »Selbstverständliches sagt man nicht.«

»So bin ich schuld, daß er es nicht für selbstverständlich hält. Habe ihn also zu holen, kein Anderer!«

Er ging. Raffley warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu; er dachte an seine Wette mit dem »dear uncle,« dessen für Andere verborgene Eigenschaften er gar wohl kannte. Der Letztere kehrte in etwas feierlicher Haltung mit dem Chinesen zurück, den er sogar bis zu seinem Stuhle führte. Der wahre Adel bricht, wenn es geboten ist, durch jede, auch die rauhste Schale!

Ueber das Menu sage ich nichts. Was reiche Leute in jenen Gegenden speisen, das ist ja allgemein bekannt. Hoch über allen diesen Delikatessen stand mir der Ton, in welchem das sehr belebte Gespräch die verschiedenen Gänge begleitete. Besonders hatte ich mich, wenn auch nur im Stillen, über Tsi zu freuen. Er aß nur wenig, aber mit Geschmack, und er sprach auch nicht viel, aber was er sagte, das hatte Hand und Fuß. Ueber China wurde geschwiegen; es lag da ein stilles Uebereinkommen vor. Darum mochte der Governor erwartet haben, daß Tsi die für unsere Unterhaltung nötigen geistigen Fonds nicht besitzen werde. Aber da kam, so was man im Volkston einen »Schlager« nennt, bei nächster Gelegenheit noch einer und hierauf wieder einer! Der »uncle« begann, zu staunen, sagte aber nichts. Er hatte gar keine Ahnung gehabt, daß das materielle Wissen dieses jungen Mannes weit, weit über das seinige ging und daß es dann nur des Geistes bedarf, um das zu sein, was selbstbewußte Menschen bei Andern als »nicht unbedeutend« zu bezeichnen pflegen. Und diesen Geist besaß der Chinese; das bemerkte der Governor immer deutlicher. Sein Benehmen gegen den jungen Mann wurde, ohne daß er es beabsichtigte, immer achtungsvoller. Ich sah, wie Mary sich darüber freute. Sie bemühte sich nach kluger Frauenart, Tsi durch Fragen und Gesprächswendungen Gelegenheit zu geben, zu zeigen, daß er den Andern geistig gewachsen sei, und er benutzte das in so bescheidener und diskreter Weise, daß ich wünschte, sein Vater könne bei uns sitzen, um sich über diese schönen Resultate seiner Erziehung mit mir zu freuen.

Nach Tische steckte sich der Governor sofort wieder seine Pfeife an und spazierte auf dem Decke auf und ab. Als ich mich ihm da für einige Minuten zugesellte, fragte er mich:

»Ist dieser Tsi wirklich nichts als Arzt?«

»Ich weiß nichts Anderes,« antwortete ich ausweichend.

»Schreckliche Menschen, diese Mongolen! Falsch, hinterlistig, treulos, alles Edlen bar und dabei rückständig im höchsten Grade. Kann also gar nicht glauben, daß er einer ist! Habe ihn daraufhin angesehen. Augen nur ganz wenig schief; Backenknochen nur ganz wenig markiert; dazu dieses reiche Wissen und diese Gewandtheit, gradaus zu sagen, was er sagen will, weil Andere es nicht wissen! Bin darum an dieser Rasse ganz irre geworden. Muß mich genau erkundigen, ob er zu ihr gehört. Muß unbedingt einige Tropfen kaukasisches Blut in den Adern haben! Man hört diese Tropfen ja ganz deutlich heraus! Und – – ach, wollte unter vier Augen fragen: haben Sie das Gespenst gesehen?«

»Welches Gespenst?« antwortete ich, obwohl ich wußte, was er meinte.

»Das Bild – – – in der Kajüte.«

»Ja.«

»Wie ist's?«

»Zum Entzücken schön. Sie haben es doch jedenfalls wie oft gesehen!«

»Noch nicht! Komm nie hinein, weil ich weiß, daß es drinnen hängt. Mag es nicht sehen, nie – – nie – – nie! Das heißt, offiziell! Hm! Wollte zwar schon einmal – – –! Werde vielleicht auch – – –! Raffley aber dürfte es nicht wissen – – – dürfte es nicht einmal ahnen! Hm! Ich weiß, Sie können schweigen. Sagen Sie nichts! Kein Wort! Aber auch nicht, daß dieser Mongole mir gefällt! Raffley würde sonst gleich denken, daß er die Wette gewinnen werde! Fällt mir aber gar nicht ein! Nicht einmal im Schlafe! Bin Englishman, Sir. Wette nur dann, wenn ich ganz sicher weiß, daß ich gewinne. Muß Euch also bitten, ja nicht daran zu zweifeln!«

Hiermit wendete er sich von mir ab und ging nach seinem Stuhle. Die Verschiedenheit der Anredeworte bei ihm ebenso wie bei Raffley erklärt sich aus dem Umstande, daß sie sich bald der englischen und bald der deutschen Sprache bedienten. Im Deutschen wurde »Sie« im Englischen aber »you,« also »Ihr« gesagt. Es kam im lebhaften Gespräche sogar nicht selten vor, daß ein Satz in der einen Sprache angefangen und in der anderen zu Ende gesprochen wurde. Man war das so gewöhnt, daß man nicht einmal mehr darüber lächelte.

Vielleicht hatte Raffley darauf gerechnet, daß sich irgend Etwas ereignen werde, was geeignet sei, das Urteil seines Onkels über den Chinesen umzustimmen; aber nach dem, was ich jetzt gehört hatte, schien ein solches Ereignis gar nicht nötig zu sein. Wir befanden uns ja erst einige Stunden in See, und doch sprach der Governor schon jetzt in einer Weise von ihm, welche er selbst gewiß für unmöglich gehalten hatte.

Raffley saß mit Tsi beisammen. Sie waren in ein Gespräch vertieft, welches ich schon aus Höflichkeit und sodann auch aus dem Grunde nicht stören wollte, weil ich wünschte, daß der Englishman den Chinesen nicht nur achten, denn das tat er schon, sondern auch lieb gewinnen lerne. Mary war wieder auf das Deck ihres Salons gestiegen. Sie konnte so hoch und so ganz vorn sitzen, weil sie nicht zur Seekrankheit geneigt war. Ich wollte sie fragen, ob ich mich zu ihr gesellen dürfe, doch forderte sie mich selbst dazu auf, als sie mich kommen sah.

»Ich möchte Ihnen Etwas erzählen,« sagte sie; »Etwas, was ich den Anderen nicht mitteilen will, weil sie meinen Vater vielleicht falsch beurteilen würden.«

»Wohl den Grund, warum man ihn gefangen nahm?« fragte ich, um ihr die Ausführung ihrer Absicht zu erleichtern.

»Ja. Er war so gut, so lieb, so mild geworden, fast ganz so, wie Mutter ihn gern hatte. Da kam die Krankheit, welche ihn mürrisch machte, ihm die Lebensfreude raubte und seine Empfindlichkeit verdoppelte. Je schwächer er körperlich wurde, desto mehr gab er sich Mühe, geistig kräftig aufzutreten. Ich will den Vater ja nicht tadeln; er war ja krank! Er sprach wieder von Heidentempeln und von Säulen. Die vier indochinesischen Träger, welche wir mit in die Berge nahmen, hatten keine Religion. Sie hörten ihn an und gaben ihm Recht, weil sie von ihm bezahlt wurden. Ich warnte ihn; er aber hörte nicht auf mich, weil er überzeugt war, daß er ihre Bekehrung in kurzer Zeit vollenden werde. Die Bergmalaien stellten sich feindlich zu uns. Niemand nahm uns auf. Wir fanden kein Unterkommen, bis wir ganz hoch oben ein Kampong Malajisches Dorf. erreichten, dessen Bewohner mit den Weißen noch so wenig in Berührung gekommen und also so friedlich gesinnt waren, daß sie uns gastfreundlich aufnahmen und uns, nicht für Geld, sondern aus reiner, dort gewohnter Gastlichkeit, Alles boten, was in ihren Kräften stand. Wie froh war ich darüber! Aber diese Freude währte nur einen einzigen Tag.«

»Die Malaien von Sumatra sind in den Küstengegenden und ziemlich weit in das Land hinein Muhammedaner,« bemerkte ich. »Welcher Religion gehörten die Bewohner dieses Kampong an?«

»Der des Konfuzius. Es stand ein Tempel da, nur von Holz gebaut, aber mit mühsamen Schnitzereien verziert und im Innern reich vergoldet, was man der Armut dieser Leute eigentlich nicht zutrauen sollte.«

»Sie sind nicht wirklich arm, sondern nur bedürfnislos. Die überreiche Natur bietet ihnen Alles, was sie brauchen, umsonst. Und was die Vergoldung betrifft, so wird das Gold ja auf Sumatra selbst gefunden. Die Berge des Innern, wo Sie waren, bestehen aus vorkarbonischem Schiefer, welcher von goldhaltigen Quarzgängen durchzogen ist. Aber bitte, erzählen Sie weiter!«

»Ich hatte gehört daß in chinesischen Ortschaften, wo es keine besonderen Gasthäuser gibt, die Fremden in den Tempeln aufgenommen werden. Ganz dasselbe war hier in diesem sumatranischen Kampong der Fall. Man führte uns in den Tempel, welcher zwei Abteilungen hatte, die eine für die Opferungen und die andere für die Besucher. In dieser letzteren sollten wir wohnen. Ich wollte, man hätte uns lieber in die allerkleinste Hütte gesteckt!«

»Ah, ich errate! Heidentempel!«

»Ja. Ihre Vermutung ist leider richtig. Die guten Menschen schleppten Alles herbei, um es uns so bequem wie möglich zu machen; sie brachten mehr als reichlich Speise und Trank, und man sah ihnen an, daß sie es gern taten. Verstehen konnten wir sie zwar nicht, weil wir nicht malajisch sprachen. Unsere Träger übersetzten uns, was gesprochen wurde, so gut sie eben konnten. Aber von dem Augenblicke an, wo wir uns in dem Tempel befanden, bemächtigte sich des Vaters eine Aufregung, welche mir Angst bereitete. Er sprach von nichts als vom Zertrümmern, vom Einreißen, zuletzt gar vom Wegbrennen dieses Tempels; die Lohe dieses Hauses der Abgötterei müsse als ein Gott wohlgefälliges Opfer zum Himmel steigen. Ich gab mir alle Mühe, ihn zu beruhigen; ich bat ihn; ich beschwor ihn, diese entsetzlichen Gedanken, Liebe mit Haß, Gastfreundschaft mit Feuer zu vergelten, fallen zu lassen; aber ich hatte nur den Erfolg, daß er nun gegen mich schwieg. In seinem Innern jedoch schrieen die bösen unchristlichen Stimmen fort. Er konnte ihnen nicht wiederstehen.«

»Er war krank, sehr krank!« erklärte ich.

»Nichts als nur das! Nur ein Kranker kann glauben, das, was ihm heilig ist, durch die Vernichtung dessen, was Andern heilig ist, zu fördern! Das ist stets meine Ansicht gewesen, die ich dem Eifer des Vaters gegenüber mit allen Mitteln, welche einer Tochter erlaubt sind, vertreten habe, und nun ist ihre Wahrheit ihm und mir bewiesen worden. Ich getraute mich nicht, ihn zu verlassen; aber der nächste Tag war ein konfuzianischer Feiertag, der meine Wißbegierde weckte. Die weite Umgegend sandte eine Menge Pilger, welche ihre Opfergaben brachten, in Backwerk, Früchten und einer schier unglaublichen Menge von Blumen bestehend. Der Priester gab uns von Allem überreichlich. Das war so rührend, er, dem feindlich gesinnten Missionar, von dem er doch wußte, was er war, denn unsere Träger hatten es ihm gesagt. Vater schien auch gerührt zu sein; er verhielt sich sehr still, und das machte mich so glücklich. Am Nachmittage schlief er sogar ein, was seit einigen Tagen nicht geschehen war. Da glaubte ich, einmal durch das Kampong gehen zu dürfen, wo die Bewohner mit den Festgästen sich an heiteren Spielen erfreuten. Ich wurde überall so freundlich begrüßt, und Jeder und Jede reichte mir Früchte und Blumen dar, so viel, daß ich sie nicht fassen konnte, sondern wieder an Andere verschenken mußte. Da entstand plötzlich große Verwirrung; ich hörte die beiden Worte ›Panas‹ Feuer. und ›Klinting‹ Tempel. rufen und sah, daß Alles nach der Gegend eilte, in welcher der Tempel lag. Ich wollte vor Schreck zusammenbrechen, raffte mich aber auf, warf alle Blumen weg und lief, so schnell ich konnte, dorthin zurück, woher ich gekommen war. Als ich hinkam, stand der ganze Tempel in hochlodernden Flammen. Die Hitze war so groß, daß man sich ihm nicht nähern konnte. Unweit davon brannte ein kleineres Feuer, aus welchem der Luftzug verkohlte Zeugreste und glimmende Papierblätter in die Höhe trieb. Mein Vater hatte von den Opfergewändern des Priesters und den heiligen Büchern vor dem Tempel einen Scheiterhaufen errichtet und diesen auch in Brand gesetzt. Er selbst war von einer großen, schreienden Menschenmenge umgeben. Wie es mir gelingen konnte, mich hindurchzudrängen, das kann ich nicht sagen, aber die Todesangst verleiht ja selbst dem schwachen Weibe Riesenkräfte. Ich erreichte ihn grad in dem Augenblick, als man ihn angriff und zu Boden riß. Da wurde ich ohnmächtig und fiel neben ihm hin.«

Sie hielt inne. Ihre Gestalt schauderte noch jetzt, infolge der Erinnerung. Ich sagte nichts, kein Wort; ich konnte nur denken – – denken – – – denken!

»Als ich wieder zu mir kam,« fuhr sie nach einer Weile fort, »lag ich auf einer Matte. Neben mir saß der Priester und unweit von ihm einer unserer Träger, um den Dolmetscher zu machen. Fern standen oder saßen viele Leute. Der Geruch des niedergegangenen Brandes wurde von Weitem hergeweht. Den Vater sah ich nicht. Ich fragte voller Angst nach ihm. Der Priester antwortete mir in einem so milden Tone, daß ich ihn nie vergessen werde, und der Träger übersetzte es mir:

›Sei ruhig! Er befindet sich wohl, und es ist ihm bis jetzt nichts geschehen. – – – Was hat euch unser Gott, was hat euch unser Land und was hat euch unser Volk getan? Unser Gott ist auch der eurige! Unser Land hat euch vertraut und euch willkommen geheißen! Und wir selbst, wir haben euch Alles gegeben, was wir geben konnten, obgleich wir wußten, daß ihr gegen unsern Himmel wütet! Und was ist euer Dank? Hochmut – – Verachtung – – Zerstörung! Wir gaben euch Blumen – – und ihr gabt uns – – was? O ihr Toren! Wißt ihr denn nicht, daß Alles, was ihr Andern tut, das tut ihr für die Zukunft an euch selbst?! – – – Fürchte dich nicht vor mir! Ich bin Priester, und ein Priester richtet nicht, sondern er verzeiht! Ich habe für deinen Vater gesorgt, daß ihm einstweilen nichts geschehe. Und ich habe dich hierher bringen lassen, damit du Ruhe habest und ich dir bei deinem Erwachen gleich sagen könne, daß du frei bist. Unser Glaube rächt die Sünde nicht an den Kindern bis in das dritte oder vierte Glied. Einen Gott, der den Unschuldigen straft, kann man sich den wohl denken?‹

Hierauf war er still und sprach nicht weiter, doch bewegte er seine Lippen im Gebete. Von dem Träger erfuhr ich, daß die zum Feste anwesenden Häuptlinge zusammengetreten seien, um über meinen Vater zu Gericht zu sitzen. Die Zeit bis zur Entscheidung wurde mir zur fürchterlichen Qual, denn ich fühlte, daß – – –«

»Bitte, Miß Mary,« unterbrach ich sie, »quälen Sie sich nicht auch noch jetzt. Sagen Sie mir das, was Sie mir zu sagen haben, so kurz wie möglich; es genügt!«

Sie gab sich Mühe, sich zu sammeln; dann fuhr sie eng summierend fort:

»Er wurde zum Tode verurteilt. Ich bat, vor die Häuptlinge geführt zu werden. Der Priester wagte es, mich hinzubringen, aber der Vater durfte mich nicht sehen. Sie hörten mich so ruhig, so verständig an. Sie waren gute Menschen. Welche falsche Vorstellung macht sich doch der, der an die eingewachsenen Vorurteile glaubt, von jenen sogenannten ›wilden Völkern‹! Aber ihre Gesetze forderten den Tod meines Vaters. Welch ein Glück, daß meine Tränen mächtiger als diese Gesetze waren! Man begnadigte ihn zu fünfzigtausend Gulden Schadenersatz für den Tempel, die Gewänder, die Bücher und die Kosten, mich hinunter an die Küste und dann hinüber nach Penang zu bringen. Da aber für einen für reich gehaltenen Mann die Zahlung einer nicht schwer erschwinglichen Summe eine milde Strafe ist, so wurde sie dadurch verschärft, daß ich abreisen mußte, ohne von ihm noch einmal gesehen worden zu sein. Ein Träger begleitete uns als Dragoman. Ich wurde zu Pferde an den nächsten Fluß gebracht, dem wir per Kahn bis an die Küste folgten, um dann für die Fahrt über die Malakkastraße eine größere Praue zu nehmen. Das Übrige wissen Sie. Was ich gelitten habe und noch leide, das ist Nebensache. Ohne Raffley und Sie würde der Vater dennoch sterben müssen. Nun aber ist es mir so frohgewiß, daß er mir erhalten bleibt, wenn – – – wenn ihn nicht die Krankheit inzwischen töten wird.«

»Er wird noch leben, wenn wir kommen,« tröstete ich sie. »Es klingt eine deutliche Versicherung in mir, daß es so ist, und diese Stimme kenne ich. Dann wird Tsi sein Mittel wirken lassen, welches er für untrüglich hält. Ich bin vollständig überzeugt, daß Mr. Waller gerettet wird, nicht nur von dem Spruche der malajischen Richter und nicht nur von dieser zerstörenden Krankheit, sondern auch von ihren seelischen Folgen, auf welche seine Tat und seine jetzige Lage zurückzuführen sind. Werfen Sie alle Besorgnis von sich, und versuchen Sie, zu schlafen! Das ist Ihnen jetzt nötiger als alles Andere!«

Wir sagten uns hierauf »gute Nacht.« Unten winkte mich Raffley zu sich und nahm mich in seine Kajüte. Er hatte uns beobachtet und ganz richtig vermutet, daß sie mitteilsam gegen mich gewesen sei. Ich er zählte ihm, was ich für nötig hielt. Als ich fertig war, sagte er Nichts, sondern öffnete ein Schubfach, aus welchem er nach einigem Suchen ein älteres Zeitungsblatt nahm. Sich mir gegenübersetzend, sprach er dann:

»Ich habe hier eine alte Nummer des ›Handelsblad Padangs‹, in welcher es kurz und bündig, aber auch ungeheuer deutlich heißt: Bis jetzt hat der Krieg der Holländer gegen den Sultan von Atjeh 45600000 Gulden gekostet. Dafür sind über 40000 Eingeborene totgeschossen worden; folglich hat jeder derselben den Holländern 1140 Gulden gekostet. Dazu kommen die holländischen Soldaten, welche im Kampfe fielen, zu Krüppeln wurden oder an den verheerenden Krankheiten des Sumpflandes gestorben sind. Falls wir für die verausgabte Summe Grundstücke zum Preise von 1140 Gulden pro Hektar angekauft hätten, so würden wir auf dem friedlichsten Wege zu mindestens 40000 Hektaren des besten Landes gekommen sein und wären nicht am Tode von gewiß über 60000 Menschen schuld.«

Raffley legte das Blatt wieder an seine Stelle und fuhr dann fort:

»Das wurde von einem auf Sumatra gedruckten holländischen Blatte vor siebenundzwanzig Jahren geschrieben. In welcher Weise sich die angegebenen Summen während dieser Zeit vergrößert haben, wollen wir nicht versuchen, auszurechnen. Wißt Ihr nun, was wir Europäer unter ›zivilisieren‹ verstehen? Es kann mir nicht beikommen, ein einzelnes Land, eine einzelne Nation anzuklagen. Aber ich klage die ganze sich ›zivilisiert‹ nennende Menschheit an, daß sie trotz aller Religionen und trotz einer achttausendjährigen Weltgeschichte noch heutigen Tages nicht wissen will, daß dieses ›Zivilisieren‹ nichts anderes als ein ›Terrorisieren‹ ist! Was ich, nämlich ich, John Raffley, unter ›Zivilisieren‹ verstehe, das werdet Ihr sehen, wenn wir nach China kommen; mehr darf ich jetzt nicht sagen! Was in der großen Welt da draußen eben auch im Großen geschieht, das ist jetzt da drüben im kleinen Atjeh mit Eurem Freunde Waller eben auch im Kleinen geschehen: der Unzivilisierte hat sich seiner im höchsten Grade zivilisiert angenommen, und er, der Hochzivilisierte, hat sich dafür im höchsten Grade unzivilisiert bedankt! Und wie er nun verloren wäre, wenn wir ihn nicht retteten, so wird auch für unsere Zivilisation einst die Zeit kommen, in welcher sie um Hilfe aus einer Not schreit, die sie selbst verschuldet hat! Und noch mehr: wie es hier auf meiner guten ›Yin‹ eine von überall her zusammengetroffene Gesellschaft ist, welche Hilfe bringt, Engländer, ein Deutscher, ein Araber, ein Chinese, genau so werden einst die Wohlmeinenden aller Nationen sich zu vereinigen haben, um die unausbleiblichen Folgen dieses ›zivilisatorischen‹ Terrorisierens wieder gut zu machen. Denn gut gemacht muß alles Schlimme werden, vollständig gesühnt und bis auf die letzte Ziffer abgebüßt, so will es die göttliche Gerechtigkeit. Dieses scheinbar harte und doch so tröstliche Gesetz gilt für die Gesamtheit des Volkes ebenso wie für den einzelnen Menschen, und wen es nicht schon in der Gegenwart trifft, dem mag für seine Zukunft bange sein! Es gibt für den Schuldigen ein fürchterliches, ein ganz entsetzliches Wort, und das lautet: Sündige ja nicht auf Gottes Langmut hin, denn du rechnest ihm nicht einen einzigen Heller ab! Und nun, mein lieber Charley, wollen wir uns schlafen legen; wir wissen nicht, wie lange wir morgen wachen müssen. Mein alter Tom hält für uns diese Nacht seine Augen offen, und auf ihn können wir uns verlassen.«

Die Nacht verging. Ich schlief sehr gut und lange. Als ich früh auf das Deck kam, erfuhr ich, daß wir die Spitze von Tanjong Perlak schon hinter uns hätten und uns also in den Gewässern von Sumatra befänden. Später sah man backbordseits den Goldberg in blauer Ferne liegen. Segli wurde doubliert, und dann dauerte es gar nicht lange, so machte Raffley uns darauf aufmerksam, daß wir dem Ziele nahe seien.

Uleh-leh ist nicht groß, fast durchweg nur aus Holz gebaut. Der Stil der Häuser ist darauf berechnet, möglichst luftig zu sein und doch genügenden Schutz gegen die sehr kräftigen Monsumregen zu gewähren. Ein breiter, aus starken Bohlen zusammengefügter Landungssteg reicht in die See hinein. Große Fahrzeuge können sich ihm nicht nähern. Bei der Ankunft von Passagierdampfern entwickelt sich auf ihm ein außerordentlich buntes, hochinteressantes Treiben, bei welchem man die verschiedensten Typen Sumatras in Bewegung sehen kann. Wir kamen unerwartet; darum war er ziemlich menschenleer.

Es war beschlossen worden, uns im Hafen gar nicht aufzuhalten, sondern mit der Bahn hinauf nach Kota Radscha zu fahren, um womöglich, ebenso wie vorher Waller, im Kratong Wohnung zu nehmen. Die mit der Hafenbehörde zu erfüllenden Förmlichkeiten wurden Tom anvertraut. Wir booteten aus. Am Landungsstege wurden wir von einem Beamten empfangen, dessen erste Frage war, ob wir Waffen bei uns trügen; wir hätten sie abzuliefern und würden sie dann beim Einschiffen wiederbekommen. Die Revolver hatten wir bei uns; die Gewehre sollten uns nachgebracht werden. Als wir uns nach der Ursache dieser Maßregel erkundigten, sah der Mann uns forschend an und fragte, ob wir vielleicht Engländer seien. Raffley antwortete mit einem summarischen Ja.

»So kann ich Ihnen nur sagen, daß wir uns um Ihre Personen nicht bekümmern werden,« erklärte der Beamte. »Ich frage nicht einmal nach Ihren Pässen und Namen, denn ich sehe, daß Sie Gentlemen sind. Aber wir haben grad jetzt scharfe Differenzen mit den Eingeborenen, und es gibt eine europäische Nation, welche ihnen heimlich Waffen liefert. Sie verstehen mich? Sie haben die Wahl, Ihre Gewehre und Munition entweder hier zu deponieren oder sie auf dem Schiffe zu lassen.«

»Well, so wählen wir das Letztere,« meinte Raffley.

Wir gaben unsern Bootsleuten die Revolver und konnten dann gehen, wohin wir wollten. Nicht einmal nach verzollbaren Gegenständen wurden wir gefragt.

»Holland handelt sehr anständig,« bemerkte Tsi.

»Ja, aber zwischen ihnen und den Eingeborenen scheint gerade jetzt der Ausbruch eines Kampfes zu drohen,« warf der Governor ein. »Wir kommen nicht zu einer für uns bequemen Zeit. Wer weiß, ob wir unsern Zweck erreichen!«

»Unbedingt!«

Tsi sagte dieses Wort in so bestimmtem Tone, daß der Governor sich ihm voll zuwandte und mit einem zwar nicht unfreundlichen, aber überlegenen Lächeln fragte:

»Wie kommen gerade Sie zu dieser mutigen Ueberzeugung? Die Auslösungssumme ist zwar vorhanden, aber wir brauchen sehr wahrscheinlich mehr als Geld, nämlich Einfluß, Klugheit, Mut und noch Vielerlei, was einem Arzte fernzuliegen pflegt.«

Da schaute Tsi ihn frei und heiter an und antwortete:

»Danke, Mylord! Ich kenne Aerzte, welche auch klug und mutig zu handeln wissen; doch das ist Nebensache. Die Hauptsache ist, daß ich mir versprochen habe, daß Miß Waller ihren Vater wieder bekommen soll, falls er noch lebt, und dieses Versprechen werde ich halten.«

»Auch wenn wir nicht dabei wären?«

»Ja.«

»Wollen wir wetten?«

Da blitzten die Augen des Chinesen auf. Indem der Governor ihm eine Wette anbot, hatte er ihn als gesellschaftlich gleichstehend anerkannt.

»Ja!« erklang die schnelle, kräftige Zustimmung.

»Wie hoch?«

»So hoch Sie wollen!«

Wir hatten im Gehen gesprochen. Der Landungssteg lag hinter uns, und wir befanden uns am Beginn der breiten, links von Häusern und rechts meist von schattigen Bäumen eingefaßten Straße, welche vom Hafen aus linker Hand nach dem Bazar der Eingeborenen und auch nach dem Bahnhofe führt. Da blieb der Governor stehen, musterte den Chinesen wie einen ihm völlig Unbekannten von oben bis ganz unten und fragte im Tone inniger Belustigung:

»Wissen Sie, was Sie da wagen?«

»Ich wage nichts!« antwortete Tsi, wobei diese drei Worte unendlich bescheiden klangen.

»Gut! Sagen wir zwanzig Pfund, fünfzig Pfund, hundert Pfund, tausend Pfund?«

»Zweitausend Pfund, fünftausend Pfund, zehntausend Pfund?« fuhr der Chinese lächelnd fort.

»Mann! Mensch! Chinese, Mongole, du bist verrückt!« rief da der Governor aus.

»Warum gerade ich? Ist nicht bei Jedem, der es tut, ein gewisser Teil von Verrücktheit dabei, auf das Wohl oder Wehe, auf Tod oder Leben eines seiner Mitmenschen einen Geldgewinn zu setzen?«

»Mag sein! Aber diese Sache ist so großartig interessant, wie ich noch nie jemals eine andere gefunden habe. Sie muß ausgefochten werden, wenn Sie nicht geradezu wahnsinnig sind! Wenn wir uns doch setzen könnten!«

Er sah sich um, deutete einige Häuser weit nach vorwärts und fuhr fort:

»Dort ist ein Laden. Ich sehe Flaschen. Es stehen Stühle auf der offenen Veranda. Well! Kommt Alle mit!«

Er war im höchsten Grade begeistert und eilte uns voraus. Wir Andern folgten. Raffley machte ein sehr besorgtes Gesicht und sagte mit unterdrückter Stimme zu mir:

»Soll ich etwa befürchten, Charley, daß Euer Bekannter sich einen Scherz mit meinem Verwandten erlaubt?«

»Das ist ausgeschlossen!« antwortete ich.

»Aber diese Summen!«

»Warten wir es ab! Tsi ist ein Ehrenmann.«

»Well! So ist die Sache allerdings kolossal unterhaltend! Endlich einmal eine anständige Wette, bei welcher nicht geknausert wird! Charley, lieber Charley, tut mir doch den Gefallen und wettet mit, daß Tsi nicht genug Geld hat!«

»Fällt mir gar nicht ein! Ich würde ja gewinnen!«

»Nein!«

»O doch! Dieser Chinese ist kein Faxenmacher!«

»Also Ihr wollt nicht?«

»Nein!«

»Schrecklicher Mensch, der Ihr seid! Aber auch nicht im geringsten bildungsfähig!«

»Hört, Sir, sagt das nicht! Sonst wette ich doch einmal mit Euch, aber so hoch, daß dann höchst wahrscheinlich Ihr es seid, der mir nicht parieren will!«

»Was?« rief er erregt aus. »Mit Euch wette ich um Alles, Alles, Alles, was Ihr wollt!«

»Wirklich?«

»Ja! Ich gebe Euch mein! Denn Euch, Euch, Euch zum Wetten zu bringen, das wäre ja noch viel, viel kolossaler als dieser Pakt zwischen meinem Uncle und Eurem Tsi. Und ich zwinge Euch, Charley; hört, ich zwinge Euch, indem ich jetzt abermals behaupte, daß Ihr ein ganz nutzloser Mensch seid, der keiner Bildung fähig ist!«

»Gut! so wetten wir also!«

»Euer Ernst?« jubelte er auf.

»Ja.«

»Daß Tsi nicht genug Geld hat?«

»Ja.«

»Um was? Schlagt vor! Ich gehe auf Alles, Alles ein!«

»Abwarten! Wollen uns erst setzen!«

Wir waren an dem betreffenden Hause angekommen. Es hatte, wie die andern neben ihm, ein kleines Vorgärtchen, aus welchem man auf Stufen in die hölzerne Veranda gelangte. Von dieser aus trat man in den sehr sauber eingerichteten Laden, in welchem eine Akkuratesse herrschte, als sei er mehr zur Unterhaltung als zum Erwerbe vorhanden.

Der Governor hatte eiligst Stühle um einen Tisch gesetzt. Wir nahmen Platz. Der Sejjid hockte sich draußen auf der Treppe nieder. Wir konnten Limonade bekommen; sie sollte naturell sein, denn wir wollten nicht das fertige, aber fade Brausewasser trinken. Sie mußte also erst zubereitet werden, und da dies der Besitzer selbst übernahm, so waren wir allein und ohne störende Zeugen.

»Also ordnen wir unsere Angelegenheit!« begann der Governor. »Wieviel setzen wir?«

»Soviel Sie wollen!« erwiderte Tsi.

»Gut! Ich will Sie nicht unglücklich machen. Sagen wir also tausend Pfund. Haben Sie – – –«

»Halt! Still!« fiel da schnell Raffley ein. »Bis hierher habt Ihr sprechen dürfen; nun aber komme ich mit Charley an die Reihe.«

»Wieso?«

»Ich werde mit ihm wetten.«

»Fällt ihm nicht einmal im Traume ein!« behauptete der »dear uncle.«

»Ist ihm aber schon eingefallen! Sogar im Wachen!«

»Ich wette aber mit dir, um was du willst, daß er nicht mitmacht!«

Da wollte Raffley schnell zugreifen, um noch eine dritte Wette fertig zu bringen; ich fiel ihm aber dazwischen, indem ich dem Governor erklärte:

»Ich bin allerdings zu einer Ausnahme von der Regel bereit. Es ist aber die erste und zugleich die letzte.«

»Ihr wollt wetten? Wirklich, Ihr wollt?« fragte er ungläubig.

»Ja.«

»Prächtig! Herrlich! Unvergleichlich! Welch ein schöner Tag heut! Fast der schönste meines Lebens! Aber sagt mir da nur nicht, daß dies die erste und zugleich die letzte Ausnahme sei! Wer einmal angefangen hat, der hört nie wieder auf!«

»Pshaw! Dieses Mal nicht! Wer diese unsere Wette verliert, wird niemals wieder wetten; dafür ist gesorgt!«

»Bin sofort bereit, mit Euch zu wetten, daß er wieder wettet! Aber sagt, wie ist das gekommen und worauf bezieht es sich?«

Da antwortete John Raffley an meiner Stelle:

»Das habe ich zu sagen, weil Mr. Tsi es Charley übelnehmen könnte. Ich habe nämlich behauptet, daß Mr. Tsi die Summe nicht setzen kann, und Charley wettet für das Gegenteil. Unsere Wette muß also eher festgestellt werden als die eurige. Also, was setzen wir? Ich bin zu Allem bereit.«

»Kein Geld,« antwortete ich.

»Nicht? Warum?«

»Auf diesem Gebiete stehe ich Euch nicht gleich. Wir müssen uns auf ein anderes begeben, wo der Unterschied nicht so bedeutend ist.«

»Einverstanden! Die Sache wird von Minute zu Minute schöner! Also, weiter!«

»Ja, Ihr strahlt vor Freude am ganzen Gesichte; mir aber ist diese Wette kein Spiel, sondern Ernst. Ich sagte, wer diese Wette verliert, wird nie wieder wetten. Ihr nehmt jeden Einsatz an?«

»Ja. Halte stets Wort!«

»Gut! Setzen wir also Gewohnheit gegen Gewohnheit. Ich fordere nämlich von Euch Eure Gewohnheit, zu wetten!«

Da nahm sein Gesicht schnell einen andern Ausdruck an. Er sah mich einige Zeit lang wortlos an und sagte dann langsam:

»Ah, also ein Attentat, ein echtes, wirkliches, wohlüberlegtes Attentat!«

»Das ist es allerdings.«

»Charley, Ihr wagt da viel! Ihr setzt unsere ganze Freundschaft auf das Spiel!«

»Das weiß ich; ich weiß aber auch, warum!«

»Nun, warum?«

»Das könnte ich Euch höchstens unter vier Augen sagen!«

»Ich will es aber jetzt wissen! Ich befehle Euch, es zu sagen!«

Die vorher so heitere Situation war mit einem Schlage ernst geworden.

»Gut, Ihr befehlt, und ich gehorche, denn – – –«

»Halt, nicht so!« fiel er schnell ein. »Ich danke Euch, Charley, daß Ihr darüber hinweggehen wolltet! Ich habe Euch gar nichts zu befehlen; ich sprach unüberlegt. Aber ich bitte Euch, uns Euern Grund zu sagen!«

»Er lautet sehr einfach: Ihr sollt verlieren, weil diese Wettsucht Eurer nicht würdig ist.«

»So – so – so – – – so! Also doch Attentat!«

»Ja, gewiß! Ihr habt mich gezwungen und müßt es Euch nun gefallen lassen, daß ich das Erzwungene so vollständig tue, daß nichts übrig bleibt. Ich wette nie; das habe ich Euch hundertmal gesagt. Aber wenn ich einmal wette, so will ich nicht nur diese eine, sondern zugleich auch alle zukünftigen Wetten meines Gegners gewinnen.«

»Schauderhaft! Fast teuflisch!«

»Nein, sondern das Gegenteil! Ihr habt mir wiederholt und in vollem Ernst erklärt, daß meine Abneigung gegen das Wetten ein Schandfleck an mir sei. Ich hingegen teile Euch aufrichtig mit, daß es in meinen Augen keinen vollkommeneren Gentleman als Sir John Raffley geben würde, wenn es ihm gelänge, der Gewohnheit zu entsagen, sich bei jeder Gelegenheit gegen den edeln Wert des Geldes zu versündigen. Das Geld ist nicht nur Metall; es stecken in ihm die Arbeiten und Sorgen, die Anstrengungen und Entbehrungen aller Eurer Vorfahren und ihrer Untertanen. In diesen Goldstücken ist der ganze Schweiß und sind alle Tränen verstorbener Generationen materialisiert. Dieses Geld ist Gotteslohn und zugleich auch Teufelslohn, je nach der Weise, in welcher es errungen wurde. Euch allein ist es möglich, es dem Satan zu entreißen und nur allein dem Guten und dem Edlen zu widmen. Ihr könnt die Tränen des Kummers, welche in ihm stecken, in Freudentränen verwandeln. Das tut man aber nicht, indem man wettet. Ich will Euch dieses Wetten abgewinnen, und wenn Ihr es verliert, werdet Ihr in dieser einen Wette mehr gewinnen, als Ihr in Euerm ganzen Leben gewonnen habt und noch gewinnen könntet. Ihr habt Euch Euern Reichtum nicht erworben und kennt also die bösen Geister nicht, die in ihm wohnen. Indem Ihr mit dem Reichtum spielt, spielt Ihr mit diesen Geistern. Ich will Euer Spiel in heilig schönen Ernst verkehren, damit diese bösen Geister sich für Euch in gute verwandeln! Sir John Raffley, Ihr steht vor einem ernsten Augenblicke. Wollt Ihr noch mit mir wetten oder nicht? Ich will Euch erlauben, noch zurückzutreten!«

Da sah er mir mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke in das Gesicht, nickte mir lächelnd zu und antwortete:

»Ich halte Wort; ich wette mit; ich setze, was Ihr fordert. Aber was setzt Ihr dagegen? Natürlich auch eine lieb gewordene Gewohnheit?«

»Mehr als das. Ihr wißt, daß ich ebenso gern rauche, wie Ihr gern wettet; das eine hat für Euch genau denselben Wert, wie das andere für mich; aber ich gebe mehr: ich setze meine Gewohnheit, Bücher zu schreiben. Sie ist mehr als nur eine Gewohnheit, sie ist mein Beruf, der mich ernährt. Verliere ich, so bin ich ein armer Mann. Ich setze also mehr, viel mehr als Ihr, und das muß Euch beweisen, wie sehr mir daran liegt, Euch für den wahren Wert des Geldes zu gewinnen. Es kann und wird in Euern Händen dann zum Segen für Tausende werden.«

»Mein Charley!« rief er aus. »Alter, lieber, guter Kerl! Well! Es gilt! Abgemacht?«

»Ja.«

»Und ohne spätern Zorn?«

»Unbedingt!«

»Einschlagen!«

Wir legten die Hände ineinander. Da hielt der Governor es für an der Zeit, Raffley zu beruhigen:

»Seid unbesorgt, dear nephew; Ihr werdet mit mir gewinnen! Aber es ist heut wirklich wundervoll. Zwei solche Wetten sind noch nie so eng beisammen gewesen. Wollen nun die Bedingungen der unserigen feststellen.«

Jetzt wurden die Limonaden gebracht; sie waren klein, und wir hatten wegen der Hitze Durst; wir tranken aus, bestellten neue und gaben dadurch dem Besitzer des Ladens Ursache, sich wieder zu entfernen. Hierauf wendete sich der Governor an Tsi:

»Also ich setze tausend Pfund.«

»Ich auch,« nickte der Chinese.

»Aber nicht auf Kredit, sondern sofort und bar zu erlegen. Charley macht den Kassierer!«

»Einverstanden!«

»Was? Wie? Wirklich? Ach, Ihr wißt wahrscheinlich nicht, wieviel das in anderem Gelde macht! Also sofort zu erlegen, gleichviel, woher man es nimmt oder bekommt?«

»Ich stimme bei.«

»Well! Und auf welche Bedingungen setzen wir das? Sie behaupteten doch wohl, den Vater von Miß Waller freimachen zu können?«

»Ja, das wollte ich.«

»Ohne unser Lösegeld?«

»Ja.«

»Ohne unsere Hilfe?«

»Ja.«

»Ganz allein?«

»Ja.«

»Bis wann?«

»Schneller, viel schneller, als Sie es können, Mylord!«

Die Zuversicht des Chinesen irritierte den Governor ungeheuer.

»Was für ein sonderbarer junger Mann!« rief er fast zornig aus. »Und darauf wollen Sie tausend Pfund setzen?«

»Gern!«

»Hören Sie, handeln Sie ja mit Bedacht! Ich werde streng auf Erfüllung dieser Bedingungen bestehen! Noch ist es für Sie Zeit, zurückzutreten. Ich will nachsichtig sein? Ich weiß, daß die Chinesen zuweilen ziemlich unüberlegt handeln.«

Das klang beinahe beleidigend; Tsi aber antwortete in seinem höflichsten Tone:

»China bedarf der Nachsicht Englands auf keinen Fall und in keiner Weise!«

»Gut, also abgemacht!« entschied der Governor in strengem Tone. »Jetzt legen Sie das Geld!«

»Nach Ihnen, denn Sie sind Lord, und ich bin Gast Ihres Schiffes!«

Der »dear uncle« fühlte gar wohl, daß er von seinem Gegner Hieb für Hieb geschlagen wurde. Er zog seine Börse heraus und begann, zu zählen. Dann wendete er sich an Raffley:

»Ich habe natürlich nur soviel mit, wie ich glaubte, hier und für heut zu brauchen. Ich bitte um tausend Pfund.«

Da sah der »nephew« den »uncle« erstaunt an, ließ seinen Klemmer vor bis auf die Nasenspitze rutschen und antwortete:

»Was denkt Ihr, Sir? Auch ich habe natürlich nicht den ganzen Inhalt meiner Kasse mit, sondern nur so viel, wie wir für heut und morgen brauchen werden.«

»Well! Aber das Lösegeld? Das habt Ihr doch wohl bar bei Euch!«

»Allerdings; aber es gehört nicht mir, sondern Miß Waller, und von einer Dame borgt kein Gentleman. Und selbst wenn sie es Euch freihändig anbieten wollte, würde ich dagegen sein, denn wir dürfen es nicht angreifen, weil wir es für ihren Vater brauchen.«

»Fatal! Höchst fatal! Und Ihr, Charley?«

»Mir ebenso fatal!« antwortete ich. »Ich kann hier nur mit zweitausend Gulden dienen, und das ist nichts. Mein Zirkular-Kreditbrief ist doch nicht bares Geld!«

Da holte der Governor tief, tief Atem und sagte:

»Da muß ich freilich eingestehen, daß ich nicht setzen kann! Aber Sie, Sie werden es gewiß auch nicht können?«

Tsi, an den diese Worte gerichtet waren, zog sein Portefeuille aus der Tasche, entnahm ihm zweitausend Pfund in Noten der Bank von England, legte sie auf den Tisch und sagte:

»Tausend für mich und taufend für Sie, Mylord, denn ich hoffe, daß Sie mir gestatten, den Einsatz für Sie auszulegen. Wir haben ja ausgemacht, daß es gleichgültig sei, woher man den Betrag bekommt.«

Der gute Uncle schaute ihn mit großen Augen an. Man sah, daß er sprechen wollte; er brachte aber zunächst kein Wort hervor. Da kam der Ladenbesitzer wieder herein, um die Limonade zu bringen; das gab dem Governor die Sprache wieder. Er schob mir das Geld zu und sagte:

»Nehmen sie es, Charley, und machen Sie den Kassierer, bis die Wette entschieden ist! Und Ihnen, Mr. Tsi, sage ich, daß ich den Backenstreich, den Sie mir soeben gegeben haben, ruhig acceptiere, weil ich ihn verdiene. Es scheint doch nicht so leicht zu sein, mit China eine Wette einzugehen!«

»Zumal wenn man nicht der Einzige ist, der den Backenstreich bekommt,« fiel Raffley ein.

»Wieso nicht der Einzige?« fragte sein Verwandter.

»Denkt doch nicht nur an Euch, sondern auch an mich! Mein Einsatz gegen Charley ist ja nun verloren!«

Da sah ihn der Andere zunächst erstaunt an, denn an diese Wirkung seiner eigenen Wette hatte er jetzt noch gar nicht gedacht. Dann kam ihm das Bewußtsein des Verlustes, der John betroffen hatte. Er sprang erschrocken auf und rief aus:

»Es ist ja wahr! Mr. Tsi hat setzen können! Er hat sogar für mich mitgesetzt! Armer, armer John! Nun dürft Ihr nie wieder eine Wette eingehen!«

»Nie, niemals wieder!« nickte Raffley ernst. Und zu mir gewendet, fügte er hinzu: »Ich habe verloren und halte mein Wort. Es wird mir nicht leicht werden, mich in diesen Gedanken zu finden. Ich möchte zürnen und kann doch nicht. Hier meine Hand. Ihr habt mich ja den Gewinn, den dieser Verlust mir bringen wird, schon ahnen lassen. Also, ich wette niemals wieder; Ihr aber dürft weiterschreiben, so lange es Euch beliebt!«

Da fiel Mary Waller ein, indem sie mich zu meinem Schrecken fragte:

»Sie schreiben Bücher? Das habe ich ja noch gar nicht gewußt! Ich staunte, als Sie vorhin beim Eingehen der Wette davon sprachen, daß Sie diesen Beruf haben. Sie sind also Schriftsteller?«

Welch eine Unvorsichtigkeit von mir! Was sollte ich antworten? Das war wieder einmal ein Beweis, daß jede Unaufrichtigkeit wie überhaupt jede Sünde sich ganz von selbst bestraft! Die beiden Engländer begriffen meine Lage. Sie kannten mich; sie wußten, daß ich, falls ich selbst die Antwort übernehmen müßte, nun unbedingt die Wahrheit sagen würde. Darum antwortete der Governor für mich:

»Wie? Was? Schriftsteller? Fällt ihm ja gar nicht ein. Ja, er hat einmal ein Buch geschrieben, ein sehr gelehrtes sogar; ich glaube über – – über – – über irgend eine astronomische Hauptfrage. Dieses Buch bringt ihm in seinen Auflagen so viel ein, daß er zuweilen eine Reise machen kann; das nennt er nun seinen Beruf oder von seinen Büchern leben! Sie wissen ja, wer einmal ein Buch verbrochen hat, der pflegt nichts lieber zu tun, als von seiner ›Feder‹ und von seinem ›Berufe‹ zu sprechen.«

So fadenscheinig diese Hilfeleistung war, sie genügte doch, mich aus der Gefahr, entdeckt zu werden, zu erlösen. Wie groß diese Gefahr gewesen war, das zeigte Marys Antwort:

»So, so ist es? Schon glaubte ich, ohne es zu wissen, mit einem Kollegen meines Lieblingsschriftstellers verkehrt zu haben.«

Sie nannte nun meinen Namen.

»Den lesen Sie? Ich auch!« bemerkte John. »Seine Bände stehen alle in meiner Schiffsbibliothek.«

»Wirklich? Das hätte ich wissen sollen! Ich hätte Sie um einen gebeten, den ich noch nicht gelesen habe.«

»Welcher ist das?«

»›Am Jenseits‹. Man sagte mir, der Inhalt entspreche diesem Titel in einer Weise, daß es gar keiner besonderen Einbildungskraft bedürfe, sich an die Pforte, welche der Engel des Todes uns öffnet, zu versetzen.«

»Sie können diesen Band haben. Sollten wir länger, als ich denke, oben in Kota Radscha bleiben, so werde ich Ihnen das Buch vom Schiffe holen lassen.«

Ich weiß gar wohl, daß es Leute gibt, welche es dem Autor untersagen, in seinen eigenen Werken über diese Werke zu schreiben; aber wie ich als sogenannter Schriftsteller meine eigenen, vorher noch unbetretenen Wege gehe, so lasse ich mich auch in dieser Beziehung durch keinen literarischen Pfändwisch irretieren und bringe ohne Scheu, was ich zu bringen habe. Das erwähnte Buch von mir gehört zur Sache.

Die Wettangelegenheiten waren geordnet. Wir bezahlten also, was wir genossen hatten, und gingen. Es ist von dem Laden gar nicht weit bis zum Bahnhofe, und es fügte sich, daß der Zug, als wir dort ankamen, soeben rangiert wurde. Der Verkehr ist nur bei Ankunft oder Abgang der Dampfer ein größerer. Heut aber waren wir die einzigen Passagiere unserer Klasse.

Man fährt nur sehr kurze Zeit bis hinauf. Unterwegs meinte der Uncle, daß wir nicht alle zugleich zum Governor gehen könnten; er werde ihm diesen Besuch allein machen, und wir könnten im Hotel auf seine Rückkehr warten. Er hatte Recht, anzunehmen, daß man ihm, dem gewesenen Governor von ceylonisch Indien, die Bitte um ein anständiges Unterkommen für uns eher gewähren werde, als jedem Anderen. Wir trennten uns also, als wir in Kota Radscha angekommen waren, von ihm und gingen nach dem sogenannten Hotel Rosenberg.

Es liegt an einem freien Platze und ist mit einem Kaufladen verbunden, welcher bedeutend größer als der unten in Uleh-leh ist, wo wir die Limonaden getrunken hatten. Wir setzten uns in den luftigen Laubengang, welcher rund um den Speisesaal führt, und ließen uns wieder Limonade geben, das beliebteste Getränk jener heißen Gegend. Als sie gebracht wurde, fragte Mary den Bediensteten, ob vor einiger Zeit ein Brief aus Kolombo für Reverend Waller angekommen sei. Er sei nach Penang, East and Oriental Hôtel, adressiert worden, und sie habe dort erfahren, daß man ihn hierher gesandt habe. Der Mann sagte, daß er nachfragen wolle.

Ich hatte geglaubt, sie habe ihn schon erhalten, noch ehe sie mit ihrem Vater in die Berge gegangen war; nun hörte ich aber, daß ich mich geirrt hatte. Es dauerte nur einige Minuten, so kehrte der Diener zurück und brachte den Brief. Er war, was man einen Doppelbrief nennt, und ich sah gleich an seinem Formate und an seiner Stärke, daß er das Notizbuch enthielt. Indem sie ihn öffnete, machte sie die an mich gerichtete Bemerkung:

»Wir trafen in Indien mit einem lieben Bekannten, einem Professor aus Philadelphia, zusammen, bei welchem ich mein Notizbuch liegen ließ. Der Verlust hätte mir nicht nur seines Inhaltes, sondern auch noch eines andern Grundes wegen leid getan. Erinnern Sie sich der vier Zeilen, welche mir im Kontinentalhotel in Kairo vom Winde zugeweht wurden?«

»Ja,« antwortete ich.

»Nun, dieses Blatt steckt mit in dem Buche. Ich habe diese Zeilen geradezu liebgewonnen. Es spricht mich aus ihnen eine Seele an, die mir bekannt sein muß, obgleich ich mich ihrer nicht erinnern kann. Ja, hier ist es noch. Wie freut mich das!«

Sie legte das Blatt, welches sie aus dem Notizbuch genommen hatte, auf den Tisch und las dann den Brief des Professors. Als sie damit fertig war, steckte sie ihn in das Buch und wollte auch das Blatt dazutun. Da aber kam ihr der Impuls, es zu öffnen. Sie faltete es auseinander. Ich beobachtete ihr Gesicht, natürlich unauffällig. Sie war zunächst nur darüber überrascht, acht Zeilen anstatt nur vier zu finden. Dann las sie. Sie sann und sann.

»Sonderbar, höchst sonderbar!« sagte sie. »Hier, bitte, lesen Sie!«

»Ich kenne es ja schon. Sie zeigten es mir später,« antworte ich.

»Lesen Sie es dennoch, und sagen Sie mir dann, was Ihnen auffällt!«

Ich folgte ihrer Aufforderung.

»Nun?« fragte sie.

»Die Strophe hat jetzt acht Verse, während sie früher nur vier hatte, glaube ich.«

»So ist es. Ich kann mir das nicht erklären!«

»Aber ich! Der Professor hat es gelesen und dann die vier Zeilen hinzugedichtet.«

»Der? Dichten? O nein! Sehen Sie übrigens da seine Schrift und diese hier! Es ist ganz, ganz genau dieselbe Hand! Und nicht nur das, sondern auch derselbe Geist, dieselbe Seele, dieselbe Liebe! Professor Garden würde nie, nie in seinem Leben auf die Wendung kommen:

›Grad weil sie einst für Euch den Tod erlitt, Lebt sie durch Euch, um weiter fortzulieben.‹

Er hat auch Seele, aber diese nicht, nein, diese nicht! Es spricht hier eine Stimme zu mir, fast wie die Stimme meiner verstorbenen Mutter. Ich stehe vor einem Rätsel, welches – – –«

Sie wurde unterbrochen. Es kam ein Malaie über den Platz zu uns herüber und bot ihr einen Blumenstrauß zum Kaufe an. Das war hier etwas ganz Gewöhnliches und fiel uns gar nicht auf. Nun aber folgte Etwas, was wir nicht erwartet hatten. Ich gab ihm nämlich eine hinreichende Münze, worauf er den Strauß vor Mary auf den Tisch legte, aber nicht nur ihn, sondern auch die Hälfte einer eigentümlich zerschnittenen Betelnuß!

In diesem Augenblick kam der Governor. Er sah die halbe Nuß, griff hastig nach ihr und forderte Mary auf, ihm die andere Hälfte zu geben. Beide paßten ganz genau zusammen. Da wandte er sich an den Malaien:

»Sprichst du englisch?«

»So viel, wie ich hier brauche,« antwortete der Mann. Er sah furchtlos zu ihm auf.

»Was tust du, wenn ich dich arretieren lasse?«

»Nichts. Ich komme wieder frei, aber der Tuwan Herr. aus Amerika ist verloren!«

Da wendete sich der Governor an Tsi:

»Sie wollen ihn ohne unser Geld und ohne unsere Hilfe befreien. Nun, tun Sie das! Es handelt sich um unsere Wette.«

»Nach Ihnen, Mylord!« lächelte der Chinese. »Ich bitte, diesen Mann auszufragen! Sie müssen doch erst sehen, wie leicht oder wie schwer es ist, Mr. Waller wiederzubekommen.«

Da ergriff Raffley das Wort, indem er den Malaien fragte:

»Woher kennst du die Lady, und wie kommst du hierher?«

»Ich war mit bei dem Brande des Tempels, auch mit bei der Beratung der Häuptlinge und habe die Tochter des Fremden genau gesehen,« antwortete der Eingeborene. »Dann wurde ich hierher geschickt, um sie zu erwarten. Ich wartete in der Nähe des Hauses, wo sie Limonade trank. Ich ging mit nach dem Bahnhofe; ich fuhr mit hierher, und ich kaufte diese Blumen, um sie ihr zu bringen.«

»Wo ist ihr Vater?«

»Das darf ich nicht sagen. Er ist sehr krank; aber er lebt; er sehnt sich nach ihr und wird ihr gebracht werden, wenn ich das Geld bekomme.«

»Du wirst es nicht eher erhalten, als bis du ihn gebracht hast.«

»Das ist nicht möglich. Die Häuptlinge geben mir den Tuwan nur dann, wenn ich ihnen das Geld so hinzähle, daß kein einziger Gulden fehlt.«

»So gehen wir mit dir, um selbst mit ihnen zu sprechen!«

»Es ist mir verboten, Jemand mitzubringen. Ich habe genug gesprochen und sage nun weiter kein Wort. Hier stehe ich und erwarte den Bescheid. In zehn Minuten gehe ich; dann aber wird der Tuwan sterben. Ich sagte die Wahrheit und schweige nun!«

Er trat einige Schritte zurück und steckte die Hand unter seinen Sarong, wo er wahrscheinlich einen Kris Malajischer Dolch. stecken hatte. Der Sarong ist ein langes Stück Zeug, welches wie ein Frauenrock um die Hüften geschlungen wird und bis herunter auf die Knöchel reicht.

Mary hatte Angst bekommen, doch sagte sie nichts.

»Da ist nichts zu machen,« erklärte Raffley. »Wenn wir Mr. Waller nicht in die größte Gefahr bringen wollen, müssen wir das Geld zahlen.«

»Miserable Situation! Aber es geht wirklich nicht anders!« stimmte der Governor bei. »Man sieht es diesem Kerl hier an, daß er kein weiteres Wort sagen und sich nach zehn Minuten entfernen wird. Und wenn das Geld fort ist, so können wir Tausend gegen Eins wetten, daß sie es nehmen, ohne uns ihren Gefangenen auszuliefern. Was sagt Ihr dazu, Charley?«

»Verlassen wir uns auf Mr. Tsi!« antwortete ich.

Der Chinese nickte mir lächelnd zu und fragte den Uncle:

»Wollen Sie diese Angelegenheit also mir nun überlassen, Mylord?«

»Natürlich! Es gilt ja um die Wette!« antwortete der Gefragte.

»So bitte ich Sie, sich über nichts zu wundern. Ich wußte sehr wohl, was ich tat, als ich diese Wette einging. Ich war, sobald ich von der Betelnuß hörte, meiner Sache gewiß. Passen Sie auf, wie schnell man mir gehorchen wird! Wissen Sie bereits, wo wir wohnen werden?«

»Im Kratong. Der holländische Mijnheer war sehr bereitwillig. Wir haben eine ganze, neben einander liegende Reihe von guten Zimmern, die eigentlich nur für eingeladene Gäste sind.«

»Das ist mir lieb. Ich danke!«

Er zog seine Brieftasche wieder hervor, entnahm ihr ein Kärtchen, feuchtete seinen Tuschestift durch Limonade an und legte die Karte auf den Tisch, um zu schreiben. Hierbei sah ich, daß auf der einen Seite derselben drei fettgedruckte, chinesische Worte standen. Die andere, leere Seite beschrieb er mit fremden Charakteren. Dann rief er den Malaien in gebieterischem Tone zu sich her und fragte ihn:

»Ich sehe an der Betelnuß, daß Ihr unsere drei Worte kennt. Kannst Du sie nur sprechen oder auch lesen?«

Da wurde das Gesicht des Mannes ein ganz anderes. Die Kälte wich; es wurde warm.

»Ich kann sie auch lesen,« antwortete er. »Einem, der sie nur sprechen darf, würde man keine solche Botschaft anvertrauen.«

»Richtig! Aber kannst Du aus ihrer Stellung ersehen, was ich bin?«

»Ja, sofort!«

»So nimm, und schau!«

Er reichte ihm die Karte. Kaum hatte der Malaie einen Blick auf sie geworfen, so strahlte sein Gesicht in heller Freude. Er griff nach den beiden Händen des Chinesen, küßte sie, küßte sie wieder und immer wieder und rief dazwischen in froher Erregung aus:

»Unser junger Sahib! Bei den Malaien »Herr« mit militärischen Würden. Der Sohn unsers Wohltäters, der die Leuchte unserer Verehrung und Liebe ist! Wie glücklich ist mein Herz, daß meine Augen Dich erblicken dürfen! Befiehl mir, was Du willst; es wird gewiß geschehen!«

Hierauf verbeugte er sich dreimal so tief, wie es ihm möglich war. Tsi befahl ihm:

»Trag dieses Papier zu den Häuptlingen! Sie werden Dir den fremden Tuwan geben. Wir wohnen im Kratong, und Du wirst ihn uns bringen. Aber Du wirst ihn sehr vorsichtig behandeln, wie einen sehr hohen und sehr kranken Gebieter! Wann können wir Dich mit ihm erwarten?«

Der Malaie verbeugte sich wieder und antwortete:

»Wir haben ihn sehr vorsichtig in einem Tandu Sänfte. von den Bergen heruntergetragen. Er ist nicht weit von hier. Wenn zwei Stunden vergangen sind, werden wir ihn bringen. Diesen weißen Männern hier hätte ich das nicht mitgeteilt, denn wir trauen keinem Europäer, und Du kannst uns das nicht verargen. Der Tuwan hat uns von neuem bestätigt, was wir längst schon wußten. Wir nahmen ihn wie einen Bruder auf, gaben ihm das Beste, was wir hatten, und zwar nicht für Geld, sondern ganz umsonst, und wie dankte er uns dafür? Er legte Feuer an die Stätte der heiligen Verehrung Gottes und der Gastfreundschaft, die er genoß, und verbrannte unserm Priester hierauf noch alle seine Bücher und Gewänder mit seiner ganzen, übrigen Habe! Diese Fremden müssen entweder wahnsinnig sein oder ganz verkommene Menschen!«

»Er ist weder das Eine noch das Andere, sondern krank. Er hat in der Aufregung des Fiebers gehandelt. Ich erkläre den Häuptlingen hiermit, daß ich sein Freund bin, was ich unbedingt nicht sein würde, wenn er ein so gewöhnlicher Mensch wäre, wie Du denkst. Du sollst das Lösegeld in Empfang nehmen.«

»Ja. Ich habe die Weisung, ihn nicht eher auszuliefern, als bis ich es erhalten habe. Aber das ist doch nun anders geworden. Du hast ihn Deinen Freund genannt, folglich ist er auch der unserige. Du hast gesagt, daß er seine Tat im Fieber begangen habe, folglich ist es wahr, denn Du bist kein Abendländer und sagst nie ein Wort, das man zu bezweifeln hat. Was der Mensch aber im Zustande des Fiebers tut, dafür kann er unmöglich bestraft werden. Es ist also unsere Pflicht, ihn ohne Bezahlung freizugeben. Den angerichteten Schaden werden wir zu tragen wissen. In zwei Stunden könnt Ihr ihn begrüßen. Ich eile, ihn zu bringen.«

Er verbeugte sich zum dritten Male und ging dann schnellen Schrittes fort. Tsi stand still und schaute ihm ernst, sehr ernst nach, bis er verschwunden war. Er hatte mehr, viel mehr gegeben, als die Summe des Lösegeldes, nämlich sein Wort! War Waller der Mann, dieses Wort zu achten und es nicht etwa später durch weitere Angriffe zur Lüge zu machen?

Mary war von ihrem Sitze aufgestanden. Sie hatte dem kurzen, aber für sie hochwichtigen Gespräche stehend zugehört. Sie sagte nichts; aber ihre Hand lag auf dem Herzen, und ihr Blick hing leuchtend an der von ihr abgewendeten Gestalt des Chinesen.

Raffley bog sich mir zu und sagte leise:

»Ist ein tüchtiger Kerl, dieser Tsi! Gewinne ihn immer lieber!« Und nach seinem uncle deutend, fügte er hinzu: »Bin überzeugt, daß ich meine Wette gewinnen werde, die letzte, vor der aller-, allerletzten!«

Obgleich dies nur flüsternd gesprochen worden war, schien der Governor es doch gehört zu haben. Er griff in die Tasche, nahm seine Börse heraus, öffnete sie, zählte den Inhalt und sagte dann:

»Habe fünfundzwanzig Pfund. Um zwanzig aber wetteten wir, nicht wahr?«

»Ja,« nickte Raffley.

»So kann ich zahlen. Mr. Tsi hat die Yacht noch nicht endgültig verlassen, und ich erkläre mich schon für besiegt. Ihr habt gewonnen, John, hier sind die Zwanzig. Auch die Tausend scheinen dahin zu sein! Charley, Eure Theorie in Beziehung auf das Wetten ist nicht übel! Vielleicht stimme ich Euch noch bei, und zwar freiwillig, ohne Zwang!«

Raffley steckte die Goldstücke gleichmütig ein, und nun drehte Tsi sich uns wieder zu, denn der Malaie war verschwunden. Der »uncle« sagte halb lachend und halb ärgerlich zu ihm:

»Ihr Orang Malajisch: Mensch. Orang Utan: Waldmensch. scheint ein sehr aufrichtiger Patron zu sein. Er traut uns nicht, weil wir Europäer sind, und sagt das ganz offen in unserer höchst eigenen Gegenwart! Sehr ehrenvoll für uns! Ist das nicht ein wenig unerhört?«

»Nicht dieses Mißtrauen ist unerhört, antwortete Raffley an Stelle des Gefragten, sondern das Verhalten der Kaukasier, die sich für religiös höherstehend halten und daraus mit verwunderlicher Naivität schließen, daß sie den andern Rassen auch in geistiger und moralischer Beziehung überlegen seien. Vollwichtige Menschen darf es nun einmal außer ihnen gar nicht geben! Dieser Malaie hatte vollständig recht, und ich lobe ihn, daß er es uns so offen und ehrlich sagte. Aber, dear Tsi, ich bin erstaunt über die geheimnisvolle Macht, die Sie über diese Leute besitzen. Haben Sie dieses Geheimnis zu bewahren, oder ist es erlaubt, nach ihm zu fragen?«

Da legte sich ein eigenartiges, fast wehmütiges Lächeln um den Mund des Chinesen und er sprach:

»Ich komme aus dem Abendlande. Ich studierte es und weiß darum, daß man dort von einer großen, ausgebreiteten Friedensbestrebung redet. Ich maße mir nicht an, ein Urteil über sie zu fällen, denn ich verstehe die laute Art und Weise nicht, in welcher man dort Etwas versucht, was hier bei uns schon längst in aller Stille wirkt, und zwar mit welchem Segen, das haben Sie soeben hier erfahren. Vielleicht teile ich Ihnen später Ausführlicheres hierüber mit. Für jetzt genügt es, daß ich Ihnen zeige, was für eine Karte ich vorhin beschrieben habe. Ich führe davon stets eine Anzahl bei mir, um jederzeit imstande zu sein, meinen menschlichen Verpflichtungen nachzukommen.«

Er legte eine der Karten auf den Tisch und fuhr dann fort:

»Sie sehen, sie ist auf der einen Seite leer. Auf der andern stehen die Zeichen der drei Worte ›Schin‹, ›Ti‹ und ›Ho‹. Das heißt Humanität, Bruderliebe und Friede. Jeder, aber auch Jeder, der zu uns gehört, hat im Sinne dieser drei Begriffe zu handeln. Wer auch nur ein einziges mal dagegen verstößt, muß als ehrlos aus dem Bunde scheiden. Dieser Bund erstreckt sich weit über China hinaus und wirkt ohne alles Geräusch, in tiefster Stille. Wir fragen nicht, wer oder was der ist, der Hilfe braucht, und bringen sie dem Feinde ebenso gern wie dem Freunde, womöglich ohne daß er es bemerkt. Am allerwenigsten fragen wir nach der Verschiedenheit der Religion. Nicht wer genau so denkt wie wir, sondern ein jeder Mensch, der uns nötig hat, soll unser Bruder sein, der Nächste neben uns, dem wir die Hand zu reichen haben. – So, das sei für heut. Und nun lassen Sie uns gehen, damit wir dann imstande sind, den Kranken aufzunehmen!«

Da reichte ihm der Governor die Hand und sagte:

»Mr. Tsi, wahrhaftig, Ihr seid ein ganzer Kerl! Sagt, raucht Ihr vielleicht?«

»Ja, zuweilen, wenn es paßt.«

»So erlaubt mir, Euch eine meiner Tabakspfeifen zu schenken, sobald wir wieder auf die Yacht gekommen sind. Ich hoffe, wir rauchen mit einander noch manchen Kopf in Stücke!«

Da lachte Raffley lustig auf und rief:

»Aber Uncle, er ist ja ein Chinese! Was habt Ihr da getan!«

»Ach was Chinese!« antwortete der Gefoppte. »Er ist ja gar keiner! Sondern ein Gentleman, der mir gefällt! Nun kommt; wir müssen fort!«

Wir bezahlten unser Getränk und begaben uns nach dem Kratong. Mein Sejjid, welcher in einiger Entfernung von uns auch bei einer Limonade gesessen und unser Gespräch mit dem Malaien beobachtet und gehört hatte, folgte uns.

Als wir die Zitadelle erreichten, kam uns der Gouverneur entgegen, um uns unsere Räume anzuweisen. Der Uncle hatte ihn sehr treffend als »holländischen Mijnheer« charakterisiert. Dieser Offizier war überaus höflich, aber auch überaus kühl und zurückhaltend. Er hatte von dem Governor natürlich erfahren, was mit Waller geschehen war, vermied es aber, hiervon zu sprechen. Wir waren so vernünftig, einzusehen, daß dieses Schweigen ein wohlberechtigtes sei. Er hatte den Missionar gewarnt, die freien Malaien hoch oben im Gebirge aufzusuchen, war aber nicht gehört worden. Nun, da es sich herausgestellt hatte, wie wohlbegründet seine Warnung gewesen war, konnten wir nicht von ihm verlangen, daß er sich Mühe zu geben habe, gerührt und mitleidig zu erscheinen. Es war im Gegenteile schon dankbar anzuerkennen, daß er sich so rücksichtsvoll zeigte, den, der nicht auf ihn gehört hatte, wieder bei sich aufzunehmen, und zwar als Schwerkranken, der von der Gastfreundschaft viel größere Opfer forderte als ein Gesunder.

Die uns angewiesenen Zimmer lagen alle nebeneinander. Zwischen einigen von ihnen gab es innere Verbindungstüren, sodaß wir uns besuchen konnten, ohne erst hinaus auf den Korridor gehen zu müssen. Und ebenso willkommen war uns der Umstand, daß es an Stelle der Fenster Türen gab, durch welche wir aus unsern Wohnungen direkt hinaus in das Freie treten konnten. Ein Jeder von uns bekam einen holländischen Soldaten zur Bedienung zukommandiert. Diese Leute sprachen alle ziemlich gut malajisch, wenigstens den dortigen Dialekt. Sogar meinem Sejjid Omar wurde einer zugesellt. Diese Beiden wurden gleich am ersten Tage »dicke Freunde«, und es bereitete uns Andern ein stillgenossenes Vergnügen, den Araber mit seinem Nederlander holländisch zu malaien oder malajisch holländern zu hören.

Die beste Stube wurde natürlich für den Kranken bestimmt, und ebenso selbstverständlich war es, daß Mary, seine Tochter, neben ihm zu wohnen kam. Die Möbel waren überall zwar einfach, aber höchst bequem, dem Klima und Gewohnheiten dieser Gegend angemessen. Mit einem Worte, wir sahen uns ganz vortrefflich installiert und hatten das nicht etwa uns oder unsern Vorzügen und Verdiensten, sondern nur der noblen Gesinnung des »Mijnheer« zuzuschreiben, zumal wenn wir an den so rücksichtsvoll versteckten Vorwurf der Hafenbeamten dachten: »Wir haben grad jetzt scharfe Differenzen mit den Eingeborenen, und es gibt eine europäische Nation, welche ihnen heimlich Waffen liefert. Sie verstehen mich!«

Nachdem Mary ihres Vaters Wohnung zu seinem Empfange vorbereitet hatte, war es ihr unmöglich, länger im Zimmer zu bleiben. Sie wanderte draußen im Freien ruhelos hin und her. Tsi war, nachdem er gesehen hatte, wo er wohnen sollte, gleich wieder fortgegangen. Als er wiederkam, folgte ihm ein Malaie, welcher einen großen Pack Pflanzen trug. Es war Brucea sumatrana, das Ko-su der Chinesen, welches der junge Arzt in der Nähe des Kratong in hinreichender Menge gefunden hatte. Er ging damit nach seinem Zimmer, um es zum Gebrauche vorzubereiten.

Ich saß inzwischen mit den beiden Engländern beisammen, und es bedarf wohl keiner Frage, wovon wir uns unterhielten. Das Gespräch ging fast nur zwischen mir und Raffley hin und her. Der Uncle warf nur sehr selten ein Wort hinein, denn er war so mit sich selbst beschäftigt, daß er kaum hörte, was wir sagten. Wir ahnten wohl, worüber er so eifrig nachdachte, bekamen es aber auch zu hören, als er endlich ungeduldig aufsprang und in beinahe zornigem Tone sagte:

»Ich werde diese beiden Kerls nicht los! Sie rütteln an mir, immerfort, immerfort!«

Hierauf begann er, im Zimmer auf und ab zu wandern.

»Welche Kerls, dear uncle?« fragte John lächelnd.

»Dieser Omar und dieser Tsi,« antwortete der Governor. »Sie sind beide so höflich, so bescheiden gegen mich, und doch ist es mir, als ob sie hinter meinem Rücken über mich lachen müßten. Das ist ein Zustand, den ich nicht gut vertragen kann! Und worüber haben sie zu lachen? Ueber meine berühmte Kenntnis fremder Völker, natürlich, ganz natürlich! Die haben bisher alle nichts getaugt! Die waren unbildsam, rückständig, dumm und frech! Kaum als ein lohnendes Kanonenfutter zu betrachten! Die ganze Erde gehörte eigentlich uns, nur uns; sie aber waren nur zu dulden, um das Niedrige zu tun, was sich für uns, die Erhabenen, nicht schickte! Da kommt zunächst dieser arabische Sejjid Omar und schaut mich unausgesetzt mit seinen dunkeln Augen verwundert fragend an. Er wichst, schmiert und salbt seinem deutschen Sihdi die Stiefel, obgleich der Islam ihm das auf das allerstrengste verbietet, liebt ihn beinahe wie eine Braut und würde wohl gar für ihn das Leben lassen. Und außerhalb dieser unendlich rührenden Zuneigung ist er stolz wie ein Spanier und hält auf Ehre wie ein britischer Earl! Es hilft nichts, daß ich mich dagegen sträube, ich muß es eingestehen, daß er mir gefällt, daß ich ihn achte, ja, daß ich ihn sogar liebgewonnen habe. Oder gar noch schlimmer, dieser Mensch scheint es darauf abgesehen zu haben, mir auf Schritt und Tritt und so oft er mir vor die Augen kommt, zu imponieren! Er, der Eselsjunge, mir, dem Governor von Ceylonisch Indien!«

»Uncle, Uncle,« lachte Raffley. »Was muß ich von Euch hören! Wer hätte das gedacht!«

»Lacht nur, Sir; immer lacht!« fuhr der Andere fort. »Ihr wißt ja nicht, warum er mir imponiert! Diesem Sejjid ist meine Hautfarbe, meine Nationalität, meine Lordschaft, meine Governorschaft und Alles, Alles, worauf mein ganzer Stolz beruht, schnuppe, vollständig schnuppe! Für ihn bin ich nur Mensch, grad so wie er, nur Mensch, weiter nichts! Und das, grad das gefällt mir von dem Kerl! Ich kann es ihm nicht verdenken, wahrhaftig nicht, denn als ehrlicher Mann muß ich mir sagen, daß ich an seiner Stelle wohl ganz derselbe Sejjid Omar sein würde, aber leider ohne die rührende Liebe, welche dem beinahe angebeteten Sihdi die Stiefel putzt und salbt! Ich sollte eigentlich diesen Sihdi hassen, der es wagt, mir einen Eselsjungen mitzubringen, damit ich endlich einmal kennen lernen möge, was eigentlich ein Mensch ist und was keiner!«

Er stellte sich vor mich hin und drohte mir in halb jovialer, halb zorniger Weise mit der Faust.

»Das ist kein Kompliment für mich, Mylord,« lächelte ich. »Denn ich selbst bin also nicht genug Mensch gewesen, um Euch zu imponieren!«

»Nein, denn Ihr seid ja zivilisiert! Ich fange nämlich an zu glauben, daß mir von jetzt an nur noch unzivilisierte Leute imponieren können. Ich bitte Euch, denkt auch an den Chinesen, diesen Tsi! Er ist der Andere, den ich meinte. Hat die verachtete gelbe Haut und drängt sich doch auf unsere Jacht, ganz gegen meinen Willen! Setzt sich nicht mit an unsern Tisch und zwingt mich dadurch, ihn ganz ergebenst selbst zu holen! Spricht dann nur, wenn man fragt, doch wie ein Weltprofessor, und zwingt mir Wort für Wort das innerliche Selbstgeständnis ab, daß er nicht nur gescheidter, sondern auch besser ist, als ich bin! Ich verliere Wette um Wette, weil ich mich für vornehmer und reicher halte als ihn! Seine kleine Karte mit den drei chinesischen Worten spricht ganze Bände über die Frage, vor welcher wir trotz unserer sogenannten Intelligenz genau so stehen, wie die Kuh vor der verschlossenen Stalltür! Und während ich wunder denke, wer und was ich gewesen und heut noch bin, zeigt er mir durch einige geschriebene Worte, daß er, der junge Mann, weit außerhalb seines Vaterlandes und sogar bei den vermeintlich Wilden eine Achtung, eine Liebe besitzt, die nicht nur über ganz bedeutende Summen, sondern sogar über Leben und Tod verfügt! Dabei zeigt er sich so gelassen, so ehrerbietig, so bescheiden, so einfach, so anspruchslos, daß ich laut hinausrufen möchte: Wenn das nicht die wahre Bildung, die wahre Gesittung ist, so soll einmal ein Europäer kommen, um ihn zu übertreffen!«

Da schaute Raffley ihm verwundert in das Gesicht und rief aus:

»Dear uncle, was ist mit Euch vorgegangen? Ich kenne Euch nicht mehr. Ihr seid ja begeistert von einem Chinesen! Bedenkt doch, was das heißt!«

»Was soll es heißen! Ich bin nicht begeistert, sondern zornig, einfach zornig, und zwar über mich! Aber es mußte heraus, und es mußte herunter, grad hier und grad jetzt! Es braucht zu dem Araber und dem Chinesen nur noch ein Malaie zu kommen, der mich ebenso beschämt, so habe ich meine Fehler dem ganzen Asien abzubitten! Ich mußte es Euch sagen, damit Ihr Euch nicht über mich wundert, wenn ich Dinge tue, die mir früher fremd gewesen sind.«

»Wieso?«

»Weil davon gesprochen worden ist, daß Waller, Mary und Tsi mit uns auf unserer Jacht nach China gehen sollen. Wenn das geschieht, so will ich vorher Klarheit über mich haben. Darum sprach ich mich aus, um mit eigenen Ohren zu hören, was ich sage. Und nun dies geschehen ist, habe ich mich durchschaut und weiß, woran ich bin!«

»Das ist sehr weislich gehandelt; aber bitte, uns das Ergebnis mitzuteilen! Wir fahren nämlich auch mit, wenn Ihr nichts dagegen habt, und möchten darum gern wissen, woran auch wir mit Euch sind.«

»Das sollt Ihr erfahren, sofort! Ich will, wenigstens auf dieser Reise, auch einmal nur Mensch sein! nichts als Mensch. Nicht Lord, nicht Governor, sondern nur Uncle, höchstens einfach Sir! Ich möchte nämlich sehen, ob ich als Mensch so ganz und gar nichts bin, daß man gezwungen ist, sich auf meinen Stammbaum und auf meine Titel und Würden zu besinnen, wenn man mich achten will. Man hat sich dieser Äußerlichkeiten ja geradezu zu schämen, wenn man so nach und nach erfährt, was für wirkliche Vorzüge und Verdienste alle hinter dem kleinen, einsilbigen Wörtchen Tsi verborgen liegen!«

Da sprang John auf, umarmte ihn, gab ihm einen herzhaften Kuß auf den Mund und sagte:

»Uncle, alter, lieber, prächtiger Uncle, wenn du wüßtest, was du mir da für eine Freude machst! Es bedarf ja dessen eigentlich gar nicht, denn wir Alle wissen ja, daß du der beste, der allerbeste – – –«

»Still, still!« unterbrach ihn der Alte, indem er sich mit der Hand über die feucht gewordenen Augen fuhr. »Ich mag das jetzt nicht hören. Ich will auch nicht der reiche vornehme ›Uncle‹ sein, das Familienoberhaupt, sondern nur die Person, das Individuum, der Mensch, den man ganz unwillkürlich und aus freiem Herzen Uncle nennt, weil – – – Horch!«

Er hielt inne, denn es war draußen ein jubelnder Schrei erklungen. Mary hatte ihn ausgestoßen. Wir traten an die Fenstertür und sahen hinaus. Vier Träger brachten einen großen, bequemen, malajischen Palankin getragen, aus leichtem Holz gefertigt und mit buntem Kellam-Kellam-Stoff verhangen. Diese Träger waren Malaien, schöne, schlank, aber kräftig gewachsene Gestalten, deren stolzer Haltung man es ansah, daß sie diesen Dienst nur ausnahmsweise verrichteten. Hinter ihnen ging der Bote, mit dem wir gesprochen hatten. Voran schritt ein Greis mit lang herabwallendem, silberweiß glänzendem Haar, hoch aufgerichtet wie ein Jugendlicher. Sein Kopf war unbedeckt. Die einfache, ja fast ärmliche Kleidung, die aus Sarong Lendentuch. und Badju Schultertuch, Rock. bestand, unterschied ihn nicht von andern Leuten seiner Rasse, aber man sah ihm doch gleich bei dem ersten Blicke an, daß er gewohnt sei, Achtung, vielleicht gar Ehrfurcht zu erwecken. Der Ausdruck seines faltenlosen Gesichtes war ernst, doch mild und gütig. In der Hand hielt er einen langen, weißen Stab, an welchem oben ein federbuschartiger Strauß von wohlriechenden Binarablättern und weißblühenden Kalessirispen befestigt war, zum Zeichen, daß man im Frieden zu uns gekommen sei. Dieser Mann war der heidnische Priester, der sich Miß Wallers so freundlich angenommen und dem christlichen Brandstifter das Leben gerettet hatte. Die Güte seines Herzens hatte ihn getrieben, den weiten, beschwerlichen Weg trotz seines Alters mitzumachen, damit der Missionar des religiösen Schutzes und der Pflege nicht entbehre. Mary eilte auf ihn zu und küßte ihm die Hand. Sie tat dies im schönen Drange nun auch ihres Herzens, obgleich der Kuß bei den Malaien Sumatras etwas vollständig Ungebräuchliches ist.

Die Sänfte wurde niedergesetzt, und Mary schlug die Vorhänge schnell zurück, um ihren Vater zu begrüßen. Wir gingen hinaus, um dasselbe zu tun, und trafen da mit Tsi zusammen, der dasselbe gesehen hatte, wie wir. Die Amerikanerin kniete jetzt, als wir kamen, mit gefalteten Händen und leichenblaß vor ihrem Vater. Er lag starr wie ein Toter, hatte die Augen fest geschlossen und machte nicht die geringste Bewegung, Tsi trat an die andere Seite des Palankin, um den Kranken zu untersuchen. Er brauchte hierzu kaum eine Minute; dann sagte er:

»Ich darf Sie beruhigen, Miß Waller. Er lebt. Er ist nur schwach, unendlich schwach. Ich werde ihm zunächst ein Mittel geben, welches ihn belebt. Dann werden wir, so hoffe ich, weiter sehen, daß wir ihn retten können.«

Er befahl den Trägern, die Sänfte in das Haus und nach dem Korridor zu tragen. Sie taten es. Mary ging mit. Tsi aber blieb noch für einige Augenblicke da, um den Priester zu begrüßen. Er verneigte sich vor ihm wie vor einer hochgestellten Persönlichkeit und fragte:

»Dein Bote kannte unsere drei menschenfreundlichen Worte. Darf ich daraus schließen, daß auch du ein Sohn der großen ›Shen‹, also ein Bruder Aller bist, die uns der Himmel als Bedürftige sendet?«

»Würdest du mich hier sehen, wenn ich es nicht wäre?« antwortete der Gefragte. »Ich kenne sogar deinen Vater; ich hatte das Glück, mit ihm zu sprechen. Als wir hier oben in den Bergen beschlossen hatten, Kinder Eurer ›Shen‹ zu werden, war ich der von allen Stämmen Auserwählte, der nach Kuang-tscheu-fu Kanton. geschickt wurde, ihre Lehre zu studieren und ihre Einrichtungen hier auf dieser Insel einzuführen. Die dortigen Schüler deines Vaters wurden meine Lehrer, obgleich ich älter, viel älter war als sie. Einst kam er, sie zu besuchen. Da durfte ich an seinem linken Fuße sitzen und stundenlang nach Allem fragen, was ich noch nicht kannte. Als er dann ging, umschlang ich diesen Fuß mit meiner Hand und drückte ihn an meine Stirn, denn es war der Fuß der ewig gütigen, barmherzigen und duldsamen ›Shen‹, welche mit dem ersten der Menschen vom Himmel niederkam und mit dem letzten wieder zu ihm aufwärts gehen wird. Wie freute ich mich, als ich von meinem Boten und deiner Karte erfuhr, daß du, sein Sohn, in Kota Radscha seist, und zwar um des Mitonare Missionar. willen. Ich machte mich sofort mit ihm auf den Weg und bin mit meinem ganzen Volk bereit, dem Sohne zu danken, was der Vater an uns tat. Befiehl, und ich gehorche!«

»Befehlen? Für dich hat die ›Shen‹ keinen Befehl, sondern nur die Bitte: Bleib heute hier bei uns! Du hast den Kranken begleitet und bist der Einzige, der mir ein Bild über die Entwickelung seines gegenwärtigen Leidens ermöglichen kann. Ich brauche es, um ihn zu retten.«

»So bleibe ich! Sollte mein Malajisch hier deinen Freunden unbekannt sein, so kann ich englisch mit ihnen sprechen. Ich habe es während der drei Jahre gelernt, die ich in Kuang-tscheu-fu und Hiang-Kiang Hongkong. gewesen bin, um neben der ›Shen‹ auch den ›Segen‹ zu studieren, den die Fremden dorthin brachten.«

Er hatte das in einem so zufriedenstellenden Englisch gesagt, daß der Uncle ganz erstaunt in die Worte ausbrach:

»Habt Ihr es gehört, dear John? Dieser Mann kennt unsere Muttersprache! Das ist ein Wunder, welches man schleunigst beim Schopfe nehmen muß! Einverstanden?«

Raffley ergriff als Antwort die Hand des Priesters und bat ihn, mit herein zu uns zu kommen. Da sagte Tsi:

»Ich danke Ihnen, Sir! Sie machen es mir damit möglich, nun dorthin zu eilen, wohin meine Pflicht mich ruft.«

Er begab sich also schnellen Schrittes der Sänfte nach. Raffley und der Governor nahmen den neuen Gast in die Mitte, um ihn nach unserer noch offenstehenden Tür zu führen. Ich aber folgte ihnen nicht, sondern verließ den Kratong, um während eines kurzen Spazierganges die Umgebung desselben kennen zu lernen. Ich wurde ja nicht gebraucht, weder von den beiden Englishmen noch von dem Kranken und seinem Arzte.

Als ich nach ungefähr einer Stunde zurückkehrte, wollte ich direkt nach meinem Zimmer gehen; aber Raffley öffnete das seinige und forderte mich auf, zu ihm zu kommen. Er war allein; aber im Nebenzimmer hörte man sprechen. Dort wohnte der Governor. John machte mir ein Zeichen, nicht zu laut zu reden, und sagte in gedämpftem Tone:

»Tsi war soeben hier. Er brachte Nachricht über Waller. Es steht mit dem Patienten nicht gut. Nur die äußerste Aufmerksamkeit kann ihm das Leben erhalten. Miß Mary darf das natürlich keinesfalls erfahren. Tsi hat ihr Hoffnung gemacht, so weit es möglich war, ohne gradezu zu lügen. Der anstrengende Weg in die Berge hätte unbedingt unterbleiben sollen. Nun sind wir gebeten, uns so wenig wie möglich um den Kranken zu bekümmern, weil seine Tochter sich durch viele Nachfrage beunruhigt fühlen würde. Tsi wacht mit ihr am Lager und ersucht uns, es zu entschuldigen, daß er sich jetzt nur zuweilen sehen lassen könne. Unser Aufenthalt in Kota Radscha wird also von längerer Dauer sein, als wir dachten. Wir haben uns hierauf einzurichten, und so schlage ich vor, nicht hier, sondern auf der Jacht zu speisen und dort Alles einpacken zu lassen, was wir für unsere besondere Bedürfnisse hier oben nötig haben. Wenn Sie einverstanden sind, werde ich es dem Uncle mitteilen.«

Ich stimmte bei. Da öffnete er die Tür zum Nebenzimmer und machte diesen unsern Entschluß dem Governor bekannt, der, wie ich lächelnd bemerkte, den alten »Heiden« eng neben sich auf dem Sofa sitzen hatte.

»Sehr gut, lieber John, sehr gut!« antwortete er in deutscher Sprache. »Fahren wir wieder mit der Bahn?«

»Nein; wir nehmen Wagen.«

»Dann aber zwei. Einen für Euch Beide und einen für uns Beide. Außer Ihr wollt diesen meinen neuen Bekannten nicht mitnehmen. Dann bekommt Ihr aber auch mich nicht mit!«

»So lade ihn höflich ein, und kommt uns nach. Wir gehen hinüber nach dem Platze wo vis-a-vis vom Hotel Rosenberg die malajischen Droschken halten, und nehmen zwei von ihnen.«

Es gibt in Uleh-leh und Kota Radscha eine Art sehr leichter Fiaker, welche mit kleinen, aber sehr schnellen, edlen Batak-Ponies bespannt sind. Diese Pferdchen laufen wie ein Wetter und sind von einer Ausdauer, die fast unbegreiflich wäre, wenn man nicht sähe, mit welcher Liebe so ein Malaie an seinem Tiere hängt. Ich habe später von Padang aus mit solchen niedlichen Tieren ganze Tagestouren von doppelter Länge, als man in Deutschland gewöhnt ist, gemacht, und wenn wir des Abends nach Hause kamen, so waren sie noch so frisch und mutig wie am frühen Morgen. Aber welche Behandlung auch gegen die bei uns daheim für richtig gehaltene!

Der Uncle kam mit dem Priester schnell hinter uns her und stieg mit ihm in eine der beiden Kaleschen. Wir taten dasselbe und erreichten den Hafen in weniger Zeit, als der Zug gebraucht hatte, der viel kürzeren Eisenbahn zu folgen. An der Landungsbrücke nahmen wir ein Boot, welches uns nach der »Yin« zu bringen hatte. Dort angekommen, bestellte Raffley das Essen und bezeichnete die Gegenstände, welche uns sodann hinauf nach Kota Radscha geschickt werden sollten. Ich fügte die meinigen bei und der Governor die seinigen. Der Letztere vergaß die für Tsi bestimmte Tabakspfeife ebenso wenig wie John den Band meiner Werke, den er Mary versprochen hatte.

Dann saßen wir, auf das Servieren des Mahles wartend, oben an Deck, noch immer in zwei Paare getrennt, denn der Uncle hatte den ehrwürdigen Malaien so ganz für sich genommen, als ob er das einzige und wirkliche Eigentumsrecht an ihm besitze. Ihre Unterhaltung war eine sehr eifrige, und sie hielten sich dabei so nahe beisammen, als ob sie gute Bekannte aus alten, liebgewordenen Zeiten seien.

»Was da herauskommen wird!« lächelte John, indem er zu ihnen hinüberschaute. »Ich habe fast noch kein einziges Wort mit diesem ›Heiden‹ sprechen können. Der Unkle hatte entdeckt, daß es ein unbewohntes Zimmer nebem dem seinen gab, und wies es dem Priester mit einer Selbstverständlichkeit an, als ob er es sei, der im Kratong zu gebieten habe. Ich aber war so vorsichtig, es dem Mijnheer zu melden und um seine nachträgliche Zustimmung zu bitten, die ich auch erhielt. Seitdem haben die Beiden in Einem beisammengesessen, und es soll mich verlangen, das Resultat dieser ebenso plötzlichen wie engen Verbindung so heterogener Elemente zu erfahren!«

»Mir gefällt er ungemein, dieser alte, freundlich ernste, achtunggebietende Sumatraner,« gestand ich ein.

»Mir nicht nur er! Wissen Sie, Charley, als Sie fortgegangen waren, kamen noch einige Malaien nach, die auch zu ihm gehörten, sich aber verspätet hatten, weil ihre Lasten zu schwer gewesen waren. Sie brachten das Gepäck, welches Waller und Mary mit oben im Gebirge gehabt hatten. Der Priester versicherte dem Uncle, daß nichts fehle, keine einzige Stecknadel. Welch eine Ehrlichkeit! Zumal unter den gegebenen Verhältnissen, und nach Wallers Tat, die, wie wir uns aufrichtig zu sagen haben, in den Augen der armen Leute da oben eine ruchlose ist! Doch, kommen Sie, lieber Freund; man winkt zum Essen!«

Es gab nur kalte Speisen. Darum hatte die Tafel keine längere Vorbereitung erfordert. Wir setzten uns, an jeder Seite eine Person, und griffen ohne Weiteres zu, nämlich wir Drei. Der Malaie aber sah uns verwundert an, legte dann die Hände zusammen, nicht gefaltet, sondern glatt an einander, senkte das weiße Silberhaupt und ... betete! Wir schlugen beschämt die Augen nieder, ließen dieses Beispiel aber unbefolgt. Denn es nun hinterdrein dem Heiden nachzumachen, dagegen sträubte sich unsere ganze, europäische Superiorität. Es ist jawohl die allgemeine Regel, daß nur der Niedrigerstehende dem Höherstehenden nachzufolgen hat, nicht aber umgekehrt!

Infolge dieses doch nicht ganz angenehmen Lapsus ging das Essen zunächst sehr still vor sich. Es lag etwas zwischen uns, was nicht schnell weichen wollte. Endlich aber durchbrach der Uncle diese unsichtbare, seelische Barrière mit der an uns gerichteten Frage:

»Lieber Charley, glaubt Ihr, daß es intelligente und gute Menschen nur allein bei uns Weißen gibt?«

»Sonderbare Frage!« antwortete ich. »Sonderbar schon deshalb, weil Ihr sie grad mir vorlegt, der ich doch, so zu sagen, der Hecht im Karpfenteiche Eurer Vorurteile gewesen bin, noch heute bin und immer bleiben werde!«

»Ja, grad Euch sollte ich am allerwenigsten fragen. Ich habe es aber dennoch getan, weil ich da der wohlverdienten Zurechtweisung am sichersten war. Ich sage Euch, ich habe in Beziehung auf die Beurteilung anderer Menschenrassen in den letzten zwei Tagen mehr gelernt, als während der ganzen Zeit meines vorherigen Lebens. Und warum? Weil ich eben lernen wollte. Das gab es früher aber nicht! Wer sich für vollkommen hält, dem könnt ihr mit Engelszungen predigen; er glaubt Euch doch kein Wort. Er bleibt höchstens still und lacht Euch dabei aber heimlich aus. Doch mir sind glücklicherweise nun endlich die Augen und Ohren geöffnet worden. Wie habe ich bisher über die Malaien gedacht, und wie denke ich jetzt! Sie sind die prächtigsten Menschen, die es geben kann, stolz, klug, einsichtsvoll, mild, versöhnlich, uneigennützig, gerecht und über alle Maßen liebenswürdig. Ich werde immer mehr überzeugt, daß wir alle Ursache haben, sie uns zum Muster zu nehmen!«

Schon wollte ich antworten, da kam mir der heidnische Priester zuvor. Er saß so bescheiden zwischen uns, aber doch wie Einer, der sehr wohl weiß, daß er dazu berechtigt ist. Man sah, daß er nicht gelernt hatte, auf europäische Weise zu speisen, doch brachte ihn das nicht im Geringsten in Verlegenheit. Er paßte auf, wie wir es machten, und ahmte es in so geschickter, intelligenter Weise nach, daß nichts geschah, was einem Fehler glich. Und wenn er sprach, so tat er es in jenem unaufdringlichen und doch keinesweges befangenen Tone, welcher gebildeten Personen eigen ist, die zwar eine ganz bestimmte, feste Lebensansicht haben, sich aber sehr wohl hüten, sie Andern aufdrängen zu wollen. So machte er auch jetzt dem Governor, als dieser gesprochen hatte, eine höfliche Verneigung und sagte, indem ein verbindliches Lächeln sein Gesicht überflog:

»Ich danke Euch im Namen aller Derer, die dieses Lob verdienen, Sir! Aber leider verdienen es nicht Alle, ja, nicht Alle! Es ist hier bei uns wohl ebenso wie dort bei Euch: Das Niedrige kämpft gegen das Höhere; der Eine neigt zu diesem und der Andere zu jenem, und nicht etwa das schönklingende Wort, sondern nur das lebendige Beispiel des Edlen kann bewirken, daß die Tiefe nach und nach zur Höhe emporgezogen wird. Ich sage, nach und nach. Denn das Steigen aus dem Tale zur Höhe empor ist nicht so leicht und geht nicht so schnell, wie man es wünschen möchte. Viele, Viele stürzen dabei wieder ab. Ja, es gibt sogar Welche, die entweder gar nicht wissen oder gar nicht wissen wollen, daß menschliche Höhen vorhanden sind. Ihr freut Euch darüber, daß Euch einige edeldenkende Personen unserer Rasse begegnet sind. Das macht Eurem guten Herzen große Ehre. Dieses Herz breitet nun sofort die beiden Arme aus, um die ganze Nation zu umfassen und an sich zu drücken. Ich möchte Euch dafür umarmen, Sir. Aber die Wahrheitsliebe gebietet mir, zu sagen, daß der Durchschnitt bei uns ganz derselbe ist wie auch bei Euch. Ich liebe alle Menschen, und von ihnen allen steht mir natürlich der Malaju Malaie. am allernächsten. Ich möchte so gern, daß ich ihn derart loben könnte, wie Ihr es tatet, aber das würde Selbstüberhebung sein und wohl auch Ungerechtigkeit gegen Andere. Wie ein Mensch von dem andern zu lernen hat, so soll auch jedes Volk auf das andere, jede Nation und jede Rasse auf die andere schauen, um ihre Fehler zu vermeiden, ihre Tugenden aber sich anzueignen. Indem wir dieses tun, gestehen wir der großen Menschheit unsere eigenen Fehler ein und erlangen durch ihre Verzeihung die innere und äußere Kraft, sie in das Gegenteil, in Tugenden zu verwandeln. Sobald ein Mensch sich überschätzt, sich für groß, für unereichbar hält, wird er nicht mehr steigen können, sondern zu sinken beginnen. Die Würdigkeit wird sich in Unwürdigkeit, der Wert in Unwert verwandeln. Das Eine ließ ihn steigen; das Andere läßt ihn fallen. So auch beim Volk, bei jeder Allgemeinheit. Darum wollen und müssen wir uns Alle ja hüten, uns zu preisen oder gar auf Andere herabzusehen. Ihr werdet bei uns nicht weniger Böses finden, als wir bei Euch entdecken würden, wenn wir kommen wollten, um nachzuforschen. Darum habe ich Euch zwar gedankt für Euer liebes Wort, halte es aber für meine Priester- und meine Menschenpflicht, Euch vor Enttäuschung zu warnen. Wir sind Sünder, wir Alle, Alle, ohne Ausnahme, und keines Ruhmes wert. Das sagt ja wohl auch die Bibel, Eure heilige Schrift, Sir!«

Es war im höchsten Grade interessant, das Gesicht zu sehen, welches der Uncle jetzt machte. Er hatte den Mund halb offen, schaute den Malaien an, dann John, dann mich, dann wieder den Malaien und rief dann aus:

»Aber Mann, Mensch, Ketzer und gar Heide, was sind das für Gedanken! Wo habt Ihr sie eigentlich her? So wie Ihr spricht man bei uns ja nur in den gebildetsten Kreisen! Hierzu gehört der Besuch der höchsten, humanistischen Anstalten, der Gymnasien und Universitäten! Wo habt Ihr das gelesen? Wo habt Ihr das gehört? Und wo steht es bei Euch in Sumatra geschrieben?«

Da war es der Priester, welcher nun Erstaunen zeigte.

»Nur in den gebildetsten Kreisen? Nur in den höchsten Lehranstalten?« fragte er. »Ja, was lehrt man denn bei Euch sonst außerdem? Nicht Humanität? Nicht Menschenliebe und Menschenachtung? Womit belebt, womit beseelt Ihr alles Andere, was Ihr zu lernen habt, wenn nicht mit diesen Beiden? Doch nicht etwa grad mit dem Gegenteil! Womit füllt Ihr die Körper Eurer Wissenschaften aus, wenn nicht mit jenem Geiste, der in den heiligen Büchern aller Völker lebt, auch in den Euren? Bei uns wird schon dem Kinde dieser menschenfreundliche, erlösende Geist gezeigt, der Jedem sagt, daß keiner über dem Andern stehe, sondern alle Welt berufen sei zum Aller-, Allerhöchsten! Dieser Geist ist bei uns vollständig frei; er kann wirken, wo er will. Wir legen ihm keine Fessel an, weder im Hause noch in der Schule noch im Tempel. Darum fühlen wir uns allen Menschen brüderlich verwandt und achten jede Religion, sie heiße, wie sie heiße. Wir schmähen keinen andern Glauben, denn jeder Glaube führt, wenn auch in seiner Weise, doch nirgend hin, als nur empor zu Gott. Ja, wir halten es sogar für unsere Pflicht, der Wahrheit, welche andere Religionen lehren, auch unsere Tür zu öffnen, um uns an ihr zu unterrichten. In meinem eigenen Tempel stand bei andern heiligen Sprüchen in großer, goldener Tobaschrift geschrieben: ›Kurna dumkianlah halnya Allah tulah mungasihi orang isi dumia ini, sahingga dikurni akannya Anaknya yang tunggal itu, supaya barang siapa yang purchaya akan dia tiada iya akan binasa, mulainkan mundapat hidop yang kukal!‹ Soll ich Euch das übersetzen, Sir?«

»Ich bitte darum,« nickte der Governor.

»Das heißt: ›Gott hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn hingab, damit Alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben!‹ Ich brachte dieses unendlich tiefe und ebenso unendlich erhabene Wort aus Kuang-tscheu-fu mit, wo ich es in einer englischen Bibel fand, die ich während vieler Nächte las, die Sprache zu erlernen. Ich nahm es mit nach Sumatra, hinauf in unsere Berge. Ich lehrte und erklärte es meinen Malaien und ließ es dann an die beste Stelle unsers Tempels schreiben. Denn wenn Gott der Menschheit eine so große Liebe zeigt, daß er für sie ein so unaussprechliches Opfer bringt, so hat er damit kund getan, daß auch der Mensch zum Menschen nichts Anderes zu sein habe, als nur Liebe. In dem Augenblicke, in welchem Gottes Sohn zur Erde kam, wurde die Gottesliebe als Menschenliebe incarniert. Das sollten meine Malaien wissen; das sollten sie merken; darnach sollten sie leben, und darum sollten sie es täglich und stündlich im Tempel lesen können. Es verging kein Tag des Gottesdienstes, an dem ich nicht von diesem Worte sprach. Es war mir teuer, unendlich teuer, und auch sie hatten es liebgewonnen und beherzigten es in Allem, was sie taten. Da aber kam der fromme Missionar und vernichtete es, indem er unser Heiligtum verbrannte! Wißt Ihr, was mein Volk mich nun zu fragen hat, und was alle mir unterstellten Priester mich bei der nächsten Zusammenkunft fragen werden? ›Wie konntest du uns eine Liebe bringen, die sich als Haß mit eigener Hand vernichtet!‹ So, so wird es von allen Lippen tönen, und nun bitte ich Euch, Sir, sagt mir, was ich antworten soll!«

Er hatte schon, während er sprach, nicht mehr gegessen; jetzt schob er den Teller weit von sich. Sich von uns abwendend, schaute er auf die weite See hinaus, und es schien mir, als beginne es, in seinen Augen feucht zu werden. Nach einiger Zeit hatte er sich überwunden, drehte sich uns wieder zu und sagte:

»Wir haben mehr verloren, als ihr denkt! Nicht mir, denn ich stehe fest, aber allen denen, welche meinen Worten glaubten, wurde nicht etwa bloß der Tempel vernichtet, sondern mit ihm auch das Vertrauen zu der göttlichen Liebe, die so groß war, daß sie ihren eingeborenen Sohn dahingab, auf daß kein Mensch, kein einziger, verloren gehe. Wir werden einen neuen Tempel bauen; aber darf ich diesen Spruch wieder an eine seiner Wände schreiben? Nein! Denn er ist ein christlicher, und ein christlicher Priester hat ihn ausgelöscht in allen, allen Herzen, außer dem meinen! Ich sagte ja schon: Nicht das Wort, sondern das lebendige Beispiel wirkt und erhebt. Und dieses Beispiel hat zwischen uns und Euch entschieden. Wir geben Euch Eure schönen Worte zurück. Wir brauchen sie nicht, denn wir haben mehr als Ihr; wir haben – – unsere Shen!«

Er machte eine Armbewegung, als ob er etwas wegwerfe, und erhob sich von seinem Sitze. Da standen auch wir auf. Die Lust zum Weiteressen war uns vergangen. Um nur Etwas zu sagen, griff der Governor nach dem zuletzt gehörten Worte und fragte:

»Shen? Wer und was ist denn eigentlich diese Shen?«

»Wißt Ihr das noch nicht? Hat es Euch der Sohn noch nicht gesagt? Es ist die Menschheitsverbrüderung, der große Bund aller Derer, die sich verpflichtet haben, nie anders als stets nur human zu handeln.«

»Wer kann beitreten?«

»Jeder! Doch hat er Allem zu entsagen, was gegen die Menschen- und die Nächstenliebe ist.«

»Herrlich, herrlich! John, das ist Etwas für uns! Werden wir Mitglieder! Nicht?«

Da hob der Priester die Hand empor, als ob er abzuwehren habe, und sagte:

»Das ist nicht so leicht und geht nicht so schnell, wie Ihr denkt, Mylord! Man würde Euch prüfen, und diese Prüfung würde strenger sein als jede Selbstprüfung. Seid Ihr überzeugt, sie bestehen zu können?«

»Ich hoffe! An wen hat man sich zu wenden, um aufgenommen zu werden?«

»An Niemand. Ihr habt den Wunsch geäußert, und das ist genug. Das Leben wird Euch prüfen. Vergeßt das nicht. Denkt allezeit daran! Jede einzelne Inhumanität gegen Freund oder Feind, Christ oder Heide, die vor das Auge oder vor das Ohr des Lebens kommt, würde Euch ausschließen. Die ›Shen‹ sieht mehr und hört mehr, als Ihr denkt. Erweist Ihr Euch aber als würdig, so wird Euch die Aufnahme zugehen, wann und wo Ihr es am allerwenigsten denkt. Der Wind sogar kann sie Euch vor die Füße wehen. Oder Ihr findet sie in dem kleinen Täschchen Eures Notizbuches und könnt Euch nicht erklären, wie sie da hineingekommen ist. Unser herrlicher Bund hat tausend und abertausend Wege, zu tun, was er beschließt. Er hat seine Brüder und Schwestern, seine Söhne und Töchter überall, sogar in den Schulen der Knaben und der Mädchen, die in schöner, stolzer, jugendlicher Begeisterung sich zur ›Shen‹ bekennen und Alles vermeiden, was ihre Ausschließung herbeiziehen würde.«

»Sogar die Jugend, die Schüler?« rief der Governor aus. »Ein köstlicher Gedanke! Warum gibt es nicht auch bei uns so Etwas wie diese ›Shen‹? Sobald ich heimkomme, soll es mein Erstes sein, mich an dieses menschenfreundliche, segensreiche Werk zu machen! Nur Humanität, Bruderliebe und Friede! Alles Andere aber, was zum Streite führt, soll ausgeschlossen sein! Ich meine, was die Heiden können, das können wir Christen auch! Gerecht und billig sein! Kommt, Ihr Lieben! Gegessen wird nicht mehr wie es scheint. Aber hier steht eine volle Flasche. Sie ist vom besten Tropfen, den unsere Jacht in ihrem Keller hat. Den trinken wir auf Shen!«

Er füllte die Gläser, hob das seine empor und fuhr fort:

»Also auf ›Shen‹! Sie lasse sich von uns heim nach dem Abendlande führen! Sie werde dort nicht Gast, nein, sondern Bürgerin! Sie kehre ein in jeder Stadt, auf jedem Dorf, selbst in dem kleinsten Hause! Sie werde auch bei uns zum großen Bunde, der überall, wo eine Menschheitswunde blutet, sie liebevoll verbindet und dann heilt! Hip, hip, hurra!«

Er leerte sein Glas auf einem Zuge und warf es dann über Bord in die See. Man tut das, um damit zu sagen, dieser Toast sei so wichtig und so heilig, daß das Glas zu keinem andern Zwecke mehr von irgend einer Lippe berührt werden dürfe.

»Hip, hip, hurra!« riefen auch John und ich, tranken aus und schleuderten unsere Gläser ebenso weit über die Regeling hinaus in die Flut.

»Hip, hip, hurrah!« sagte ebenso der Priester. Er trank in kurzen, bedächtigen Zügen, behielt aber das geleerte Glas dann in der Hand, betrachtete es, indem er es rundum drehte, und sprach: »Nein, nicht verschwinden sollst du mir; dich darf die Woge des Meeres und der Vergessenheit mir nicht entreißen! Ich nehme dich mit. Du sollst mir teuer sein, denn du gehörst der, ›Shen‹, die aus dir trank, obgleich mit meinen Lippen! Und kommt zu uns ein Mensch, den sie uns schickt, daß wir an ihm die Herzen im Erbarmen üben mögen, so sei du ihm gereicht zum ersten, heiligen Trunk, gleich einem Schwur, daß wir ihm Brüder seien!«

Da nahm Raffley eine der köstlich in Gold gestickten indischen Servietten vom Tische, reichte sie ihm hin und bat:

»Schütze es durch diese weiche Hülle! Du hast auch hier das Bessere, das Richtige getroffen. Wir werfen weg; du aber, du bewahrst! Ich danke dir, und zwar im Namen derjenigen, an deren Stelle du jetzt mit uns trankst!«

Da hob der Malaie überrascht den Kopf empor und sah ihn forschend an. John hielt diesen Blick lächelnd aus. Nun lächelte der Andere auch, und wie von einer einzigen Bewegung getrieben, reichten beide einander die Hände. Dem Governor fiel das, wie es schien, gar nicht auf; mir aber kam sofort die heimliche Frage: Warum nannte er ihn bei diesen Worten ›du‹? Ist Freund Raffley vielleicht schon Mitglied dieses brüderlichen Bundes? – – –

So hatte das Frühstück, dessen Beginn ein beinahe verlegener gewesen war, ein allerseits befriedigendes Ende genommen. Besonders angeregt zeigte sich der liebe, alte, stets impulsive Uncle, der sich so gern und schnell für jede Idee enthusiasmierte, bei welcher auf sein gutes Herz zu rechnen war. Er nahm den Priester sofort wieder für sich allein, saß bei der Rückkehr nach der Landungsbrücke neben ihm im Boote und schob ihn dann so demonstrierend vor sich in den Wagen, als ob einer von uns beiden Andern die Absicht geäußert hätte, mit dem Malaien fahren zu wollen. So saß ich also auch während der Heimfahrt mit John beisammen.

»Eine seltsam schnell geschlossene Freundschaft!« sagte dieser, indem er auf die zwei Voranfahrenden deutete. »Der Uncle ist jetzt wirklich ein ganz Anderer als vorher. Kommt diese Sinnesänderung Ihnen nicht als eine zu rasche vor?«

»Nein,« antwortete ich. »Er lebte bisher ganz ausschließlich hinter der Mauer seiner National-, Standes- und sonstigen Vorurteile. Da er aber eigentlich nicht für sie geschaffen ist, hat er sich in diesem Gefängnisse niemals wirklich wohl gefühlt und mußte gleich bei der ersten Bresche heraus in die Freiheit treten.«

»Diese Bresche wurde von Ihrem Sejjid Omar geschossen, nicht?«

»Ja, Tsi aber schoß noch erfolgreicher. Er legte fast die ganze Fronte in Trümmer.«

»Und dann kam dieser Priester, dieser Malaie – – – Oh, besinnen Sie sich da einmal auf Uncles Worte: ›Es braucht zu dem Araber und dem Chinesen nur noch ein Malaie zu kommen, der mich ebenso beschämt, so habe ich meine Fehler dem ganzen Asien abzubitten!‹ Ist das nicht sonderbar? Der Malaie, der das fertig bringt, scheint sich eingestellt zu haben! Und was für einer! Der Mann ist jedenfalls Oberpriester. Seine Bescheidenheit verbietet ihm, dies zu sagen; aber es entfuhr ihm absichtslos, als er die andern Priester seine Untergebenen nannte. Er wurde auf drei Jahre nach Kanton berufen, vor allen Andern auserwählt! Das dokumentiert für mich seine Intelligenz zur Genüge! Und was hat er dort gelernt! Wir hören es ja! Kein leeres Wortgeplärr, sondern stets Gedankentiefe! Keinen einzigen Anspruch für sich selbst, für seine Kaste, seine Rasse, aber für das Menschentum nichts weniger als Alles, Alles, Alles! Das fordert zum Vergleiche auf. Doch, schweigen wir!«

Er legte die Hände zusammen, senkte den Kopf und war von nun an still, bis wir nach Kota Radscha kamen, wo wir vor dem Kratong ausstiegen. Als wir durch den Hof gingen, mußten wir an einer langen Bank vorüber, auf welcher Soldaten saßen, mein Sejjid Omar mitten unter ihnen. Als er mich sah, waren wir ihm schon nahe. Er stand schnell auf, und ich hörte ihn sagen:

»Daar komt onze Mijnheer – da kommt unser Herr!«

Sie sprangen ebenso auf wie er und machten ihr Honneur. Also auch hier schon »unser« Herr! Für ihn gab es keinen andern!

Wir traten zunächst in Raffleys Zimmer. Kurze Zeit später kam Tsi herein. Er hatte uns gehört und hielt es für seine Pflicht, uns über Wallers Zustand zu benachrichtigen. Der Kranke hatte Arznei genommen, doch nicht gesprochen. Der Zustand der Lethargie war in Schlaf übergegangen, ein Zeichen, welches Hoffnung schöpfen ließ. Mehr war jetzt nicht zu sagen.

»Hoffentlich gelingt es Eurem Ko-su, ihn uns zu erhalten!« wünschte der Governor. »Aber wenn auch nicht, was ich allerdings nicht hoffe, so habt Ihr doch wenigstens unsere Wette gewonnen. Charley, bitte, gebt einmal das Geld heraus! Es ist sein eigenes. Und ich habe mir vom Schiff die verspielte Summe mitgebracht. Da ist sie!«

Er legte sie auf den Tisch, und ich gab die mir anvertrauten Zweitausend dazu. Tsi sah das Geld zwar an, berührte es aber nicht. Sein Gesicht bekam einen ganz eigenartigen Ausdruck, den ich nicht beschreiben kann.

»Nun, so greift doch zu!« forderte ihn der Uncle auf.

Da antwortete der Arzt:

»Sir, darf ich Euch sagen, wie ich zu dieser Wette gekommen bin?«

»Natürlich! Aber ich weiß es ja bereits!«

»Nein; Ihr wißt es nicht. Euer Gegner war nicht ich, sondern ein Anderer.«

Er richtete sein Auge groß, voll und fest auf den Governor und fuhr dann fort:

»Aus welchem Grunde setztet Ihr gegen mich und meine Zahlungsfähigkeit? Ich frage Euch! Etwa als Gentleman? Nein, sondern als Europäer! Als Gentleman hättet Ihr ganz unbedingt gefühlt und gewußt, daß das Angebot einer solchen Wette und die Voraussetzung meiner Insolvenz eine Beleidigung für mich sein mußte, deren sich kein Mann von wirklicher Ehre schuldig macht. Da ich Euch aber schonen wollte, weil ich Euch achte, so forderte ich Euch nicht, sondern nahm Euch als Europäer anstatt als Ehrenmann. Infolgedessen stand auch ich Euch nicht als der Euch vollständig ebenbürtige Tsi, sondern als Asiat, als Chinese gegenüber. Das Vorurteil des Westens warf dem Osten diese Wette ins Gesicht. Der Osten hielt sie fest, denn es war seine Pflicht. Er hatte zu zeigen, daß er kein Maulheld und kein Prahler sei, der sich vermißt, mehr leisten zu wollen, als er kann, und mit Summen um sich wirft, die Andere verdienten, aber keineswegs er! Nicht ich, nicht Tsi, sondern der Osten hat gewonnen. Aber es war ihm nicht um den Gewinn von armseligen tausend Pfund zu tun, sondern um den Beweis, daß er in keiner Art und Weise dem Westen gegenüber rückständig ist, am allerwenigsten in Beziehung auf Eure sogenannte Ehre. Dieser Beweis ist erbracht, und meine wirkliche Ehre verbietet mir also, den vorgeschobenen Wettpreis anzunehmen. Ich verzichte!«

Er nahm nur seine eigenen zweitausend Pfund, steckte sie zu sich, machte dem Governor eine sehr tiefe und sehr höfliche Verneigung und verließ hierauf das Zimmer.

»Das hatte ich erwartet!« lachte John vergnügt und laut. »Genau das und nichts Anderes! China hat gehandelt, wie es als Ehrenmann gar nicht anders handeln konnte!«

Der Governor stand eine ganze Zeitlang starr, wie eine Bildsäule. So Etwas war ihm noch niemals widerfahren! In seinem Gesichte kamen und gingen die Ausdrücke der verschiedensten Gefühle. Da endlich rief er aus:

»Fürchterlich! Entsetzlich! John, soll ich diesen Hallunken nur erschießen oder gar beohrfeigen? Oder soll ich diesen ausgezeichneten, goldigen Menschen bloß umarmen oder auch noch küssen? Soll ich ihm in das Gesicht spucken, oder soll ich ihn um Verzeihung bitten? Wer ist der Lump und wer der Gentleman? Ich fühle einen Teufel in mir, doch aber auch einen Engel! Ungeheure Blamage, ganz ungeheure! Vielleicht sind es auch zwei Engel und bloß ein halber Teufel! Oder noch richtiger drei Engel und nur ich selbst! Muß es mir überlegen! Wartet inzwischen! Ich gehe; aber ich komme bald wieder!«

Er verschwand in seinem Zimmer.

»Alter, lieber, lieber, guter Uncle!« sagte Raffley. »Jetzt kämpft er gegen sich selbst. Ich weiß, daß die drei Engel siegen werden. O, er hat nicht bloß drei, sondern viele, viele! – Aber unser Freund hier wird gar nicht wissen, um was es sich handelt. Wir sind verpflichtet, es ihm zu erzählen.«

Er tat es. Der Priester hörte ihm aufmerksam und, wie es schien, im Stillen verwundert zu. Eben als dieser Bericht zu Ende war, ging die Tür zum Nebenzimmer auf, und der Governor trat wieder herein, ernst, fast feierlich, als ob es sich um eine wichtige Staatsaktion handle.

»Charley,« sagte er zu mir. »Ich halte Euch für meinen Freund und werde es Euch nie vergessen, wenn Ihr jetzt das Opfer bringt, mir eine Bitte zu erfüllen. Ich muß mit Tsi sprechen, sofort und zwar hier. Geht zu ihm, und macht den Versuch, ihn hierherzubringen! Vielleicht gelingt es Euch.«

Ich war natürlich sehr gern bereit. Er nahm die Angelegenheit genau so, wie er sie nehmen zu müssen glaubte. Man durfte ihre Bedeutung nicht verkleinern. Tsi befand sich in seiner Stube. Er lächelte mich befriedigt an und weigerte sich nicht im Geringsten mitzugehen. Als ich ihn brachte, verneigte sich der Governor sehr tief vor ihm und sprach:

»Sir, ich habe Euch hiermit vor diesen Zeugen zu erklären, daß ich ein Faselhans gewesen bin, ein Faselhans, wie er im Buche steht, aber keineswegs etwas Schlimmeres! Was Euch selbst betrifft, so seid Ihr ein Gentleman, wie – wie – nun, auch wie er im Buche steht. Das kann ich wohl beschwören! Und in Beziehung auf Eure Nation oder Rasse sehe ich von Tag zu Tag mehr ein, daß ich sie falsch, grundfalsch beurteilt habe. Es wird mir gar nicht etwa leicht, dies zu bekennen; aber ich weiß, daß es mir immer leichter werden wird, wenn ich die Ehre habe, noch länger mit Euch verkehren und Euch meinen Freund nennen zu dürfen. Darum verhehle ich nicht, daß mir sehr viel an Eurer Verzeihung gelegen ist, und bitte Euch, mir als Zeichen derselben Eure Hand zu reichen. Hoffentlich seid Ihr nicht abgeneigt, Euch mit mir auszusöhnen.«

»Uncle, Uncle, die Engel, die Engel!« rief John Raffley aus.

Der Chinese aber ging auf den Alten zu, ergriff seine beiden Hände, küßte erst die eine und dann die andere und sagte:

»Mylord, ich bin der Jüngere von uns Beiden. Darum beleidige ich meine Ahnen nicht, wenn ich Euch dieses Zeichen meiner herzlichen und aufrichtigen Ehrerbietung gebe. Daß ich Euch persönlich für einen Gentleman halte, brauche ich nicht nochmals zu versichern. Und was unsere beiderseitigen Nationen und Rassen betrifft, so schlage ich vor: Sehen wir ruhig zu, was sie miteinander tun! Und hüten wir uns, von Superiorität und von Inferiorität zu reden, bevor die Weltgeschichte ihr endgültiges, letztes Wort gesprochen hat! Dann werden wir uns Beide nicht nur achten dürfen, sondern es wird sich auch Eurerseits noch das hinzugesellen, was ich meine, wenn ich jetzt sage: Ich habe Euch lieb, Mylord, ja, wirklich lieb!«

Da zog der Uncle den jungen Mann an seine Brust, küßte ihn auf die Stirn und fragte:

»Also ausgesöhnt, vollständig ausgesöhnt?«

»Völlig und ganz! Ohne jeden Rückgedanken!«

»Ich danke Euch! Aber das Geld, das Geld! Nehmt Ihr es wirklich nicht!«

»Nein. Ich kann nicht!«

»Ja, ich begreife! Aber ich darf es doch nicht zurücknehmen! Wie ist das nun zu machen? Ah, da kommt mir ein Gedanke! Ich weiß, wohin damit!«

Sein Gesicht strahlte vor Freude, auf diese Auskunft verfallen zu sein. Er nahm die noch auf dem Tische liegende große Note, hielt sie dem Priester hin und sagte:

»Das ist für Euch! Ihr habt kein Lösegeld erhalten; nehmt also dies dafür! Es ist zwar nicht so viel, aber doch Etwas. Ich gebe es Euch gern!«

Er hatte erwartet, daß der Malaie eilig zugreifen werde. Dieser aber sah das Geld gar nicht an, sondern stand von seinem Platze auf, entfernte sich von der spendenden Hand und antwortete:

»Ich danke Euch, Mylord! Geschenke nimmt man nicht zurück. Das ist bei uns nicht üblich.«

»Geschenke? Ihr habt uns doch wohl nichts geschenkt, sondern Tsi hat Euch gezwungen, auf das Lösegeld zu verzichten.«

»Ihr irrt. Die ›Shen‹ kennt keinen Zwang. Was wir tun, das hat freiwillig zu geschehen, ohne daß man es uns gebietet. Jede Wohltat, die man sich später vergelten läßt, sinkt zum gemeinen Handelsartikel herab. Und wenn die Intoleranz dem Körper unsers Bundes solche Wunden schlägt, wie Euer Missionar es tat, so kann die Heilung nicht durch jene Salbe erfolgen, die Ihr im Abendlande Mammon nennt.«

»Aber Ihr habt ja doch Lösegeld verlangt. Die Summe von fünfzigtausend Gulden, die für Eure Verhältnisse eine fast ungeheure ist. Wie stimmt das mit Euren jetzigen Worten?«

»Sehr gut. Die Erklärung liegt in Euerem eignen Worte ›ungeheuer.‹ Als Tsi die Größe dieser Summe hörte und dann später an der Betelnuß den Bund der ›Shen‹ erkannte, wußte er sogleich, daß wir die böse Tat nur mit der hohen Ziffer, nicht aber wirklich mit dem Gelde strafen wollten. Fragt den Missionar und seine Tochter, ob wir von dem Gelde, welche sie bei sich hatten, das Allergeringste weggenommen haben! Es waren über sechzehnhundert holländische Gulden. Wir haben sie nachgezählt und ihm dann wieder in die Tasche gesteckt, wo man sie finden wird. Nein, Geld nimmt die ›Shen‹ niemals! Wir forderten diese Summe, weil wir meinten, daß sie unmöglich aufgebracht werden könne. Durch die Angst, ob man sie bringen würde oder nicht, sollte der Täter sein Verbrechen sühnen, und von Penang aus hatte sich die Kunde zu verbreiten, daß wir noch den Mut besitzen, Forderung gegen Uebergriff zu stellen. Kam dann seine Tochter, wie wir sicher erwarteten, ohne Geld zurück, so sollte sie ihn ohne Lösegeld bekommen. Wir freuten uns darauf, scheinbar streng auf unserer Bedingung zu bestehen und dann der töchterlichen Bitte ein offenes Herz zu zeigen. Das ebenso offene Sir Johns aber hat uns diese Freude vereitelt. Freilich, als er die Summe stellte, konnte er nicht wissen, daß es sich – – –«

»Still!« unterbrach ihn Raffley warnend. »Bitte, nicht weiter!« Und als ob er einen scheinbaren Fehler zu rechtfertigen habe, fügte er hinzu: »Ich hörte, daß seine Tochter an der Tat ganz unbeteiligt war, und sah, daß sie vor Angst fast zu vergehen schien. Ich wünschte nicht, daß auch sie mit leide, und stand ihr bei, um sie zu beruhigen. Aber der ›Shen‹ vorzugreifen, ist keineswegs meine Absicht gewesen. Das habe ich dadurch bewiesen, daß ich die Wette des Uncle gegen Tsi geschehen ließ, ohne ein Wort zu sagen.«

Der Malaie nickte ihm befriedigt zu. Tsi sah ihn überrascht an und lächelte dann leise vor sich hin. Nun war es für mich sicher, daß John zur »Shen« gehörte. Dem Governor aber kam auch jetzt noch kein derartiger Gedanke. Er sagte:

»Ja, dieser weichmütige Nephew bringt es nicht fertig, einen Menschen unverschuldet leiden zu sehen. Er hätte das Geld wohl auch sogar dem Schuldigen gegeben!«

»Das wäre wohl nicht nötig gewesen, denn dieser Schuldige ist reich, unendlich reich,« entgegnete der Priester.

»Waller? Unendlich reich? Ich denke, er bezieht, was er braucht, von der religiösen Sekte, die es ihm ermöglicht hat, nach China zu gehen?«

»Das mag sein, gehört aber nicht hierher, weil ich nicht ihn gemeint habe. Diese Angelegenheit steht jetzt, am Schlusse meiner Reise ganz anders, als am Anfange derselben. Ich habe mich nämlich überzeugt, daß er unschuldig ist. Wir hätten das Geld also von ihm zurückweisen müssen, selbst wenn es unsere Absicht gewesen wäre, es zu nehmen.«

»Unschuldig?« fragte da der Uncle verwundert. »So hat er Euern Tempel nicht verbrannt? Das Feuer wurde von einem Andern angelegt?«

»Von keinem Andern, sondern von ihm, nur von ihm allein. Er hat das auch ganz offen zugegeben.«

»Und doch nennt Ihr ihn unschuldig? Wie kann er das sein, wenn er der Täter ist!«

»Er handelte als Werkzeug. Seine Tat war nur die Folge. Der eigentliche Täter wohnt im Abendlande.«

»Sehr richtig!« stimmte Tsi ihm augenblicklich bei.

Raffley sagte zwar nichts, gab aber durch eine Handbewegung zu erkennen, daß er derselben Meinung sei. Auch ich wußte, was der Priester meinte. Aber der Governor traute dem Letzteren trotz aller Sympathie für ihn doch nicht die psychologische Denkschärfe zu, welche bei den Taten der Menschen zwischen Ursache und Wirkung zu unterscheiden weiß. Wahrscheinlich auch besaß er diese Schärfe selbst noch nicht, denn er schüttelte den Kopf und sagte:

»Im Abendlande? Der wirkliche Täter? Ich begreife nicht! Wer kann es sein? Und wie soll er heißen?«

»Ein ungeheuer mächtiger Herrscher, dem alle Millionen des Abendlandes gehorchen, nur wenig Kluge und Verständige ausgenommen! Er ist höchst unduldsamer, kriegerischer Natur, ein Verächter aller Welt, nur nicht seiner selbst. Er hält sich ganz allein für gottbegnadet und für den Allerbesten, den es gibt. Seiner Meinung nach ist er der Weiseste, der Intelligenteste, den man sich denken kann. Er glaubt, daß er berufen sei, das, was er denkt, dem Weltkreis aufzunötigen, und fühlt sich berufen, diesen Zwang mit allen Mitteln durchzuführen, sei es die verschlagenste List oder die roheste Gewalt. Er scheut sich nicht im Geringsten, diese Behauptungen allen Menschen in das Gesicht zu schleudern, und wenn sie es sich nicht gefallen lassen wollen, so ballt er beide Fäuste und schlägt augenblicklich drein!«

»Unmöglich! Das ist entweder lächerlich oder verrückt, Eins von diesen Beiden; ein Drittes gibt es nicht! Der sollte mir kommen! Wie würde ich ihm heimleuchten lassen! Und ein Herrscher soll er sein? Ein ganz gewöhnlicher Rowdy ist er! Ein Lügner und Aufschneider, ein Prahl- und Flunkerhans, ein Rebell gegen die Menschenrechte, ein Renommist und Windbeutel, ein unverschämter Händelsucher, ein frecher Raufbold, ein anmaßender Patron, dem man das Handwerk legen muß! Auf welchem kleinen, europäischen Thrönchen sitzt denn dieser blöde Bombardon? Man möchte seinen Stammbaum kennen lernen, seine Eltern und Erzieher! Denn daß ihm dieser Unsinn nur von ihnen beigebracht worden sein kann, das versteht sich ganz von selbst! Man mag ihn uns doch einmal nach Old England schicken, damit wir ihm den Kopf dahin setzen, wohin er gehört! Besser als wir Andern alle! Das ist geradezu monströs! Er mag diese Andern doch nur erst kennen lernen, seine Augen auftun, seine Ohren öffnen, und wenn er – – –«

Da hielt der Uncle plötzlich mitten in der Rede inne und sah uns an, Einen nach dem Andern, die wir das Lachen kaum verbeißen konnten. Er hatte seine Menschenwürde für beleidigt gehalten und sich in einen sehr ehrlich gemeinten Zorn hineingeredet, ohne sich vorher Zeit zu nehmen, über die Sache nachzudenken. Als er nun bemerkte, daß wir mit unserer Heiterkeit kämpften, erkannte er, daß er in eine Falle gegangen sei, die ihm gar nicht gestellt worden war. Er ging also seinen eigenen Gedankenweg wieder zurück, nahm die Worte, die ihn so in Harnisch versetzt hatten, noch einmal vor, schlug sich dann an die Stirn und rief, nun über sich selbst in Zorn geratend, aus:

»Entsetzlich! Habe mich ganz verrannt! Und zwar wohin! Dachte wirklich, es sei so eine Art von – – hm! – – gemeint! Es war aber nur ein Bild. Das habe ich übersehen! Und statt daß ich mich zu salvieren versuche, gebe ich nicht nur Alles zu, sondern rede mich selbst beinahe um den Kopf und halte nicht eher auf damit, als bis ich Euch alle lachen sehe! Nun brauche ich nur noch aufrichtig zuzugeben, daß auch ich ein Exemplar dieses entweder lächerlichen oder verrückten Kerls bin, so kann der Vorhang fallen, denn die Posse ist zu Ende!«

»Eine Posse? Und zu Ende?« fragte da Raffley, schnell wieder ernst werdend. »Es war das Gegenteil, nämlich eine verschwindend kleine aber sehr deutlich sprechende Szene aus der großen Menschheitstragödie ›Das Vorurteil‹. Denn dieses war gemeint, das Vorurteil, unser eigenes Vorurteil gegenüber andern Meinungen und andern Rassen! Und dieses Trauerspiel ist keinesweges zu Ende. Vielleicht fällt der Vorhang erst mit dem letzten Menschen. Denn so lange es mehrere, und wären es auch nur noch zwei, Exemplare dieses Wesens gibt, werden sie sich gegen einander überheben. Und der Letzte wird dann höchst wahrscheinlich vor Aerger darüber sterben, daß er Niemand mehr hat, der wertloser ist als er! Und wenn, wie ich hoffen möchte, das falsch sein sollte, so bin ich doch überzeugt, wenigstens über die Gattung homunculus das Richtige gesagt zu haben!«

»Unser Vorurteil!« sagte der Governor nachdenklich. »Ja; ich beginne, zu begreifen! Ich gab jawohl schon zu, in diesen letzten Tagen mehr gelernt zu haben, als während der ganzen vorherigen Zeit. Dieses Vorurteil wird nicht mit uns geboren, sondern später in uns hineingetragen, und mit uns groß und immer größer gezogen, bis es uns so vollständig ausfüllt, daß in uns nicht das geringste Plätzchen mehr übrig bleibt, an ihm zu zweifeln. Der Vater sagt uns, daß wir ›Weiße‹ seien, und die Mutter macht uns stolz auf diese Farbe. Dann kommen die Lehrer, einer nach dem andern, und überzeugen uns, gesprochen, geschrieben und gedruckt, daß wir die höchste und begabteste, die beste Menschenrasse seien. Wenn wir dann lesen können, so finden wir diese Offenbarung in jedem Buche, in jeder Zeitung. Und wo es nicht besonders erwähnt wird, hat man es doch als unbestreitbares Kriterium vorausgesetzt. Und fließt hernach das persönliche mit dem allgemeinen Leben zusammen, so treten Handel und Wandel, Kunst und Wissenschaft, besonders aber Geschichte, Politik und Geographie an uns heran, um uns täglich und stündlich wieder und wieder zu versichern, daß nur wir allein die Träger der wahren Gesittung und der von Gott gewollten Erlösung aller Menschen seien. Und wie eifrig sind wir bemüht, dir des anderen, minderwertigen Menschheit mitzuteilen! Und wie unbedingt verlangen wir, daß sie es glaube und befolge! Nieder mit Euch, Ihr gelben, Ihr braunen, Ihr roten, Ihr schwarzen Gesichter! Denn wir sind weiß, und Weiß ist die Lieblingsfarbe des Schöpfers! Wir sind Euch über in Allem, was es gibt! Ihr seid nichts gegen uns, gar nichts. Wir aber sind Alles, und wir haben Alles, sogar Tausendpfundnoten! Diese Noten brauchen wir nicht etwa zum Leben; nein, o nein; dazu sind wir zu reich, viel zu reich! Sondern wir machen mit ihnen pralerische Wetten, um Euch zu zeigen, wie wenig wir von Euch halten. Und wenn wir ja einmal eine solche Wette verlieren und der Chinese zu vornehm ist, das Geld zu nehmen, so werfen wir es dem Malaien hin, der uns die Hände und Füße küssen wird für diese Gottesgabe!«

Er nahm die Note vom Tische, ballte sie zusammen, warf sie wieder hin, nahm sie abermals weg, warf sie noch einmal hin und fuhr, zu dem Priester gewendet, fort:

»Ich könnte und möchte dieses Papier vernichten, denn es hat mich blamiert, mich und die ganze, weiße Rasse; aber das wäre noch kleiner gehandelt als bisher. Ihr habt mir eine Lehre erteilt, eine große, eine schmerzliche, aber heilsame Lehre, die ich nicht vergessen werde. Darum hebe ich die Note auf. Sie soll mich daran erinnern, daß ich niedrig gehandelt habe und dafür von Euch beiden in hoher Weise zurechtgewiesen worden bin!«

Er nahm sie nun endgültig weg, schob sie zusammengeballt in die Tasche und fügte hinzu:

»Ihr habt einen Sieg über mich errungen, der größer und nachhaltiger ist, als Ihr wahrscheinlich denkt. So wie ich mich überwunden habe, dieses Geld zurückzunehmen, so nehme ich auch das Vorurteil zurück, welches sich für berechtigt glaubte, Euch mit dem Mammon zu beleidigen. Ich fühlte es nur zu wohl; Ihr hattet Recht. Nicht der Missionar war der Schuldige, sondern das Vorurteil, welches der Westen in ihm großgezogen hat. Es kam mir nicht so rasch wie den Andern, zu begreifen, was Ihr meintet; aber nun ich Euch verstanden habe, wird es umso fester sitzen. Leider haben nun nur wir den Nutzen, Ihr aber den Euch zugefügten Schaden. Sagt, fällt auf Waller nicht wenigstens ein kleiner Teil der Schuld?«

»Nein. Ich habe ihn geprüft,« antwortete der Malaie. »Sie kamen grad zur Zeit, als der malajische Herrscher von den Christen verfolgt und gejagt wurde, um ihn gefangen zu nehmen. Diese Jagd ist noch jetzt im Gange. Wir nahmen die beiden Christen trotzdem freundlich auf. Aber wir standen vor unserm großen Feste, welches mir so viel Arbeit machte, daß ich für Anderes keine Zeit übrig hatte. Darum verschwieg ich ihnen meine Kenntnis ihrer Sprache, weil sie mich sonst fortwährend als Dolmetscher in Anspruch genommen hätten. Auch nach dem Brande blieb ich bei diesem Schweigen, welches mir erlaubte, in die Seele der Tochter ganz unbemerkt zu schauen. Ich war sogar dazu still, daß die Träger ihr sagten, ihr Vater sei zum Tode verurteilt, denn ich gönne es ihr, sich später sagen zu können, daß sie ihn von diesem Geschick errettet habe. Als sie den Weg nach Penang angetreten hatte, waren ihre Träger überflüssig geworden. Wir bezahlten ihnen den rückständigen Lohn aus unserer Kasse und schickten sie fort, denn für den Transport des Kranken nach Kota Radscha konnten wir nicht sie sondern nur zuverlässige Leute von uns brauchen. Es sollte einer unserer Häuptlinge mitgehen; aber ich übernahm dieses Amt lieber selbst, weil die Güte der ›Shen‹ mir dies gebot. Ich habe während dieser ganzen Reise kein Wörtchen Englisch mit dem Kranken gesprochen, aber umso mehr gehört. Seine Krankheit ist eine mehrfache, nicht nur eine leibliche. Er sprach sehr viel für sich, oft wie im Fieber, oft vielleicht auch anders, meist englisch, zuweilen aber auch in einer Sprache, die ich nicht verstehe; eine asiatische war es nicht.«

Indem er dies sagte, glaubte ich, annehmen zu müssen, daß er die deutsche Sprache meine.

»Was ich da hörte, gab mir viel zu denken,« fuhr er fort. »Nicht nur sein Körper, sondern auch sein Inneres rang mit höchst gefährlichen Ansteckungsstoffen. Die leiblichen hatte er während seiner jetzigen Reise aufgenommen, die geistigen aber aus seiner Heimat mitgebracht. Es war, als ob zwei unsichtbare Mächte in ihm wohnten, die immerwährend mit einander kämpften. Er sprach wiederholt von einer Wette. Die eine Macht wollte diese Wette unbedingt gewinnen; die andere aber bat ihn flehend, sie zu verlieren. Es schien sich um die Bekehrung einer gewissen Anzahl von Chinesen zu handeln. Heidentempel sollten stürzen! Alle Ungläubigen von der Erde ausgerottet werden! Die gute Macht, die das nicht wollte, war ein Weib. Wenn er mit dieser sprach, wurde er sanft und lieb und gut. Er weinte zuweilen dazu und nannte sie seine Seele. Meist redete er mit ihr in jener Sprache, die ich nicht verstand. Kam aber die andere, die böse Macht, die ihn gewinnen lassen will, so sprach er stets englisch und begann, mit lauter, befehlshaberischer Stimme zu predigen. Dann zerbrach er alle Säulen und Pfeiler, die es in seinen wüsten Krankheitsbildern gab. Das war kein Weib, sondern etwas Männliches, Tyrannisches und über alle Maßen Rücksichtsloses! Er hatte es als Kind nicht gehabt, sondern nach und nach von seinem Vater und von seinen Lehrern empfangen. Das hörte ich. Es bestand in der Verachtung aller fremden Menschenrassen und vorzüglich aller Heiden. Er sprach aber auch davon, daß viele Millionen Christen weiter nichts als Heiden seien, ja, noch viel schlimmer als diese, weil sie nicht ganz genau so glauben wollen, wie er für richtig hielt. Er ging also noch viel, viel weiter, als die Christen gewöhnlich gehen. Sein Urteil war im höchsten Grade streng und ungerecht, das unfreundlichste, das allerunfreundlichste Vorurteil, welches mir jemals zu Ohren gekommen ist! Und damit habe ich den Namen jener bösen, menschenverderbenden Macht genannt, die ihn beherrschte, wenn die andere, die gute, von ihm gewichen war – – das Vorurteil!«

Er wendete sich dem Governor zu, indem er weitersprach:

»Ihr habt dieses Vorurteil vorhin so deutlich beschrieben, als ob Ihr es genau so wie ich bei diesem Kranken beobachtet hättet. Wie Ihr seine leibliche Krankheit nennt, das weiß ich nicht; aber seine geistige besteht ganz unbedingt in diesem Vorurteile, welches eine Macht über ihn besitzt, der er, sobald sie über ihn kommt, unmöglich widerstehen kann. Er ist dann so schlimmer Worte fähig, daß man auch in Beziehung auf die Tat, die aus solchen Worten wächst, zu vermut – – – – –«

Er wurde unterbrochen. Von der Tür her, welche geöffnet worden war, erklang ein lautes, herzbrechendes Schluchzen.

In jener Gegend, so nahe am Aequator, wird es Punkt sechs Uhr Nacht. Die Dämmerung ist außerordentlich kurz. Sie war schon da. Es gab im Zimmer bereits jenes alles Aeußerliche verhüllende Duster, welches die scharfen Linien des Tages verschwimmen und das Unkörperliche, das Seelische um so mehr hervortreten läßt. Draußen im Korridore war es noch dunkler als bei uns. Darum konnten wir die Gestalt Derjenigen, welche da stand, schon nicht mehr erkennen. So hatte auf Grund unsers Gesprächsgegenstandes ihr Schluchzen etwas Unirdisches, etwas außerordentlich Ergreifendes, ja Erschütterndes für uns. Es war, als weine nicht ein Mensch, sondern jene unsichtbare, edle, weibliche Macht, welche in dem Missionar so schwer und so unablässig gegen die bösen Geister seines Vorurteiles zu kämpfen hatte.

Der liebe, alte Uncle handelte am schnellsten von uns allen. Er eilte nach der Tür, nahm die Schluchzende bei der Hand und brachte sie herein, wobei er ganz vergaß, die Tür hinter ihr zu schließen. Es war Mary Waller. Sie hatte Tsi gesucht, des Vaters wegen, und ihn nicht in seinem Zimmer gefunden. Da sie unser lautes Sprechen hörte, nahm sie an, daß er bei uns sei. Ihr mehrmaliges Klopfen war überhört worden, und so hatte sie geöffnet, um sich bemerklich zu machen. Von unserm Gespräche festgebannt, hatte sie sich still verhalten; wie lange, das war nicht zu erörtern.

»Weint nicht, weint nicht!« bat der Governor. »Ich kann das nicht vertragen! Menschentränen tun weher, viel weher als alles Andere!«

Da nahm sie sich zusammen, kämpfte ihre Tränen wacker nieder und antwortete:

»Beruhigt Euch, Mylord! Es war nicht Schmerz, was mich bewegte; ich weinte Freudentränen. Oder meint Ihr, es gebe keinen Schmerz, dem es nicht erlaubt wäre, sich auch einmal zu freuen? Auch in mir gibt es zwei Mächte, welche mit einander kämpfen, grad so, wie bei ihm; nur sind sie anderer Art. Die eine ist eine Teufelin. Sie will mich zwingen, ihn zu verurteilen, ihn für schuldig zu halten. Die andere muß ein Engel sein. Sie versichert mir unablässig, daß er freizusprechen sei. Die Teufelin weiß, daß mich Alles anwidert, was gegen die Nächstenliebe und Menschenachtung spricht, und so oft Vater Derartiges getan hat, dringt sie in mich, ihn zu hassen oder gar ihn zu verachten. Das ist fürchterlich! Der Engel aber flüstert mir dann immer mahnend zu, daß mein Vater ganz unmöglich in dieser Weise sprechen und in dieser Weise handeln könne. Mein Herz gebietet mir, dieser letzteren Stimme zu glauben; aber mein angstvoll suchender Verstand fand bisher keine logische Handhabe, das zu tun, was er so unendlich gern täte, nämlich das Herz zu unterstützen. Es war ein stiller, tiefer Jammer, den ich in mir trug und der umso mehr an mir zehrte, als ich ihn niemals, niemals emporkommen lassen durfte. Da trieb mich jetzt die Angst vom Vater fort. Er war erwacht und doch nicht bei Sinnen. Er wollte auf vom Lager, fort, nur fort. Er behauptete, die Heiden warteten auf ihn; er müsse eilen, ihre Götzen zu vernichten. Ich rang mit ihm. Das Fieber gab ihm Kraft, als sei er ein Gesunder, und nur mit größter Anstrengung gelang es mir, sie zu besiegen. Für eine Wiederholung aber fühlte ich mich zu schwach. Darum ging ich, um nach Doktor Tsi zu suchen, und kam, da ich ihn nicht fand, an Eure Tür. Ich öffnete nach öfterem, vergeblichem Klopfen. Ihr saht mich nicht; was aber hörte ich! War es der Engel meines Vaters, oder war es der meinige, der in Gestalt des Heidenpriesters hier mir so ganz unerwartet Alles, Alles gab, was mein Verstand bisher vergeblich suchte? Rechtfertigung des Vaters! Freisprechung von seiner Schuld! Logisch klarer und deutlicher Hinweis auf den eigentlichen, wirklichen Täter! Ich fühlte mich erlöst, erlöst von aller meiner Qual. Sie stieg in mir empor, weil sie das nun doch endlich, endlich durfte. Sie floß aus mir heraus, zu Tränen sich gestaltend – – Freudentränen!«

Warum waren wir still, als sie jetzt schwieg, um sich die Augen zu trocknen? War es nur Rührung? Oder war es noch mehr als das? Selbst Tsi, der doch sonst so außerordentlich Umsichtige, fühlte sich der art angegriffen, daß er in diesem Augenblicke nur an die Tochter, nicht aber an den Vater dachte, zu dem sie ihn hatte holen wollen, damit er eine Wiederholung des Paroxysmus verhindere!

Der Priester stand in ihrer Nähe, fast ganz an der Fenstertür. Sein langes, weißes Haar floß ihm wie verwandelter Mondesschimmer von Haupt und Schultern nieder; sein Gesicht aber lag im Dunkel. Und aus diesem Dunkel heraus erklang es jetzt, als ob er beten wolle:

»Ich hörte hier von Engeln sprechen. So ist also der Himmel eingekehrt in diesem Raume. Denn Boten kennt der Himmel nicht; er naht sich uns stets selbst! Wenn wir ihn bei uns fühlen, doch ohne ihn zu sehen, so reden wir von Engeln. Dem Auge sichtbar aber wird er uns, wenn gute Menschen seinen Willen tun und darum sich an uns als Engel erweisen. Mein Kind, mein liebes Kind, ich bin weder der Engel deines Vaters, noch der deinige. Aber ich wünsche, daß mir und Euch und der ganzen Erde der Himmel sichtbar werde: Wir Menschen wollen ihm dienen! Ich fühle es in diesem Augenblicke, daß Höheres herniedersteigt und Heiliges hier waltet. Es geht durch mich ein liebevoller Drang, die Hände auszubreiten. Ich fühle, daß sich diese Hände füllen und daß sie schwerer werden, wie von jenem Segen, der aus der Menschenliebe strömt und darum liebend weitergegeben werden soll von Hand zu Hand. Was nützt aber mir und was nützt der Menschheit alle diese meine Liebe! Ich bin ja ein Heidenpriester und darf also nur Heiden segnen, nur Heiden, keine Andern!«

»Nein, nicht diese allein, sondern auch mich!« rief sie in tiefer Aufwallung aus und ließ sich vor ihm nieder.

Da legte er ihr die Hände auf das Haupt und sprach, indem seine Stimme bebte:

»Ich danke dir, du gutes Kind des fernen Abendlandes! Indem du vor mir kniest, hebst du mich auf zu dir und hebst dich doch nur selbst! Auch deine Heimat sollte dir jetzt danken! Sie trägt die Schuld an deines Vaters Tat, die zwar von unserer ›Shen‹ verziehen wurde, doch nicht von jener andern, großen Shen, die Alles in sich faßt, was menschlich ist und nicht bloß, was menschlich heißt. Du aber sühnst, was die Verachtung tat, indem du mich, den Greis, den Menschen achtest. So sei also die Schuld für ewig ausgestrichen, denn du hast sie getilgt!«

Er sprach so ernst so feierlich, und doch so mild, so tief eindringlich liebevoll. Unsere Aufmerksamkeit war ausschließlich auf ihn gerichtet, daß wir das Geräusch kaum hörten und noch viel weniger beachteten, welches sich jetzt an der noch immer offenstehenden Tür vernehmen ließ. Wir nahmen an, daß es von einem vorübergehenden Diener verursacht worden sei. Der Malaie fuhr fort:

»So segne ich dich denn als das, was ich dir bin, nicht als der Priester, sondern als der Mensch. Und wenn es ein Heil gibt, welches aus eines Menschen Hand und Leben auf eines andern Menschen Haupt und Leben überzufließen vermag, so sei hiermit Alles, Alles dein, was ich an Menschengüte und Erdenglück besitze! Der Himmel hört, daß ich es dir verleihe, nicht mein Himmel allein, sondern auch der deine, denn beide sind Eins!«

Er beugte sich zu ihr nieder und küßte die Stelle, auf welcher seine Hände gelegen hatten. Da gellte von der Tür her ein lauter zeternder Ruf:

»Der Heide – – der Heide! Mein Kind, mein armes, armes Kind! Verloren, verloren – – –! Verdammt und verloren für alle Ewigkeit! Für alle Ewigkeit!«

Wir wendeten uns erschrocken um. Es war vollständig dunkel dort; aber wir hörten, daß Jemand niederstürzte. Der Stimme und den Worten nach konnte es nur Waller sein. Mary sprang mit einem Schrei empor und zu ihm hin. Raffley machte schnell Licht. Ja, es war der Missionar. Er lag draußen vor der Tür, lang ausgestreckt, mit weit aufgerissenen, entsetzten Augen. Seine Lippen bewegten sich; er wollte sprechen, brachte aber keinen Laut mehr hervor. Raffley griff sofort zu, ich auch, ihn nach seinem Zimmer zu tragen. Wir hörten kaum noch die Worte, welche hinter uns der Malaie zu dem Uncle sprach:

»Ich habe gesegnet, aber nicht verdammt, und dabei wird es bleiben! Denn der Himmel ist dem Kinde gnädiger, als dieser Vater glaubt!« – – –

Viertes Kapitel
Wahnsinn

Am nächsten Morgen war, als ich erwachte, mein erster Gedanke natürlich Waller. Den Andern erging es ebenso. Ich meine den Governor, Raffley und den Priester. Sie saßen, als ich zu John hinüberkam, schon längere Zeit bei ihm, um auf mich zu warten, weil ausgemacht worden war, das Frühstück gemeinschaftlich einzunehmen. Sejjid Omar wurde beauftragt, es uns zu bringen. Er war sehr stolz darauf, zeigen zu können, daß er nicht nur ausschließlich zu meiner Bedienung ausreiche, sondern auch noch eine ganze Menge anderer Personen mit einem Male zu speisen und zu tränken vermöge. Und er tat dies in einer so fürsorglichen und tief eingehenden Weise, daß wir ihn bitten mußten, doch auch uns etwas dabei tun zu lassen, sonst hätte er uns in seinem Uebereifer den Honig auf den Schinken gestrichen und den hier gebräuchlichen Arrak in die Milch gegossen. Er war also genötigt, sich zurückzuziehen, warf uns aber dabei einen so bedauernden Blick zu, als ob er überzeugt sei, daß nun unsererseits von einem wahren Genusse keine Rede sein könne.

Selbstverständlich machte es uns die Anwesenheit des Malaien unmöglich, über das gestrige Ereignis in der Weise zu sprechen, wie wir es ohne ihn getan hätten. Er selbst erwähnte kein Wort davon, und so konnte auch das, was wir sagten, nur in kurzen, meist einsilbigen Aeußerungen bestehen, durch welche wir zwar unsere Gefühle, aber nicht unsere weiterfragenden Gedanken dokumentierten. Er mußte heut schon wieder fort und sagte uns, daß er gleich nach dem Frühstücke zu dem holländischen Mijnheer gehen werde, um sich für die genossene Gastfreundschaft zu bedanken.

Wir waren noch nicht fertig, so erschien zu unserer Genugtuung Tsi. Er hatte noch nichts genossen, erklärte aber, höchstens ein kleines Brötchen nehmen zu können, weil es ihm ganz unmöglich sei, jetzt an sich selbst zu denken. Er war nur gekommen, um uns in Beziehung auf Waller so viel, wie die Umstände erlaubten, zu beruhigen.

»Er lebt,« sagte er. »Das heißt, der Körper ist nicht tot. Puls und Atmung sind vorhanden, wenn auch nur sehr schwach. Er liegt noch genau so, wie wir ihn gestern abend hingelegt haben. Sein Inneres aber, also das, was Ihr als Geist und Seele bezeichnet, hat sich noch nicht wieder geregt. Hier liegt der Fragepunkt, wenn nicht für jetzt, so doch für später. Denn die gestrige Katastrophe war keine leibliche, sondern eine geistige. Nicht sein Körper brach unter ihr zusammen, denn diesem gebrach es schon vorher an aller Kraft, sondern etwas ganz Anderes, was, wie ich hoffe, sich niemals wieder erheben wird. Dennoch habe ich es zunächst nur mit dem äußeren Leben zu tun. Es ihm zu erhalten, muß für heut und die nächsten Tage mein ganz ausschließliches Bestreben sein. Ich darf ihn nicht verlassen, und es macht mir ein böses Gewissen, daß ich ihn schon drei Minuten aus dem Auge gelassen habe, indem ich hier bei Euch sitze. Miß Mary ist gefaßt. Sie bereut ihre gestrige Regung keinesfalls. Sie würde auch heut und allezeit und genau wieder so um den Segen bitten, selbst wenn ihr Vater in voller Rüstigkeit dabeistände. Das hat sie mir gesagt, um mich und Euch, wahrscheinlich auch sich selbst zu beruhigen. Sie beauftragte mich, ihr Eure Verzeihung zu bringen, daß sie von ihrer Pflicht verhindert wird, Euch heut persönlich zu sehen, und ich schließe mich auch in Beziehung auf mich diesem Wunsche an, weil meine ärztliche Pflicht jedenfalls nicht geringer als diejenige der Tochter ist!«

»Aerztliche Pflicht und Kindespflicht!« meinte da der Governor. »Ich meine, es gibt noch eine dritte, die sich wohl auch mit beizugesellen hat, nämlich die Menschenpflicht, oder, nennen wir sie hier in diesem Falle die Freundespflicht! Wir können zwar weder mit dem Arzte medizinieren, noch dem Patienten die liebevolle Aufmerksamkeit der Tochter ersetzen. Aber Ihr erlaubt es uns vielleicht, mit zu wachen, abwechselnd für die Nacht. Und außerdem versteht es sich ganz von selbst, daß wir Euch drei Leuten auch in jeder anderen Hinsicht zur Verfügung stehen und zur Verfügung bleiben. Ich verspreche Euch, daß wir Kota Radscha nicht eher verlassen werden, als bis wir Waller mitnehmen können, hoffentlich nicht tot, sondern geheilt!«

»Versprecht noch nichts, Mylord!« antwortete der Chinese. »Es ist nämlich möglich, daß ich Euch sogar bitte, diesen Ort ohne ihn zu verlassen, wenn auch nur für einige Zeit. Es handelt sich zunächst nur um Leben oder Tod im allgemeinen. Dabei könnt Ihr alle gar nichts tun, als höchstens ruhig warten. Bleibt ihm das Leben erhalten, so vermute ich, daß ein wochenlanges, körperliches Stillliegen folgt, während dessen seine Psyche sich wieder einzustellen und zu entwickeln hat. Dann könntet ihr Euch wohl beteiligen, an seinem Lager zu wachen. Für die vorhergehende Zeit aber muß ich ein solches Opfer als überflüssig erklären, wahrscheinlich sogar als bedrückend für die Tochter, wie ich Euch in aller Aufrichtigkeit sage. Der Gedanke, Euch ihret- oder ihres Vaters wegen so ganz untätig hier in Kota Radscha zu wissen, müßte sie beunruhigen, ihr peinlich werden. Darum bitte ich, zu überlegen, ob es nicht vielleicht einen Ausweg gibt, dies zu vermeiden!«

Da drückte ihm der Uncle die Hand und sagte:

»Da habt Ihr zwar sehr aufrichtig, aber auch sehr vernünftig gesprochen, junger Mann! Wir werden also überlegen. Vielleicht machen wir einen Ausflug nach irgendwo in der Nähe von Sumatra, denn in dem Lande selbst herumsteigen, das halte ich nicht für passabel. Aber keineswegs eher, als bis es sich entschieden hat, ob Waller stirbt oder nicht.«

»Das hoffe ich, Euch schon morgen, spätestens übermorgen sagen zu können.«

Er stand auf, um zu gehen, wendete sich aber, ehe er es tat, noch an den Malaien, zwar in englischer Sprache, um nicht unhöflich gegen uns zu sein, aber doch in der brüderlichen Weise, wie die »Shen« es ihm gebot:

»Und du, mein Freund? Für welche Zeit ist dein Aufenthalt hier berechnet?«

»Für nur noch eine Stunde,« antwortete der Gefragte, indem er sich auch erhob. »Meine Sendung ist erfüllt. Ich kehre nach meinem entlegenen Kampong zurück, entlegen von der Welt, doch nicht vom Menschentum. Ich tat nur meine Pflicht; gerne aber täte ich noch mehr. Was aber könnte das sein? Ich bin arm. Ich habe nichts, als himmelwärts mein Gebet und erdenwärts meinen Segen. Den Segen gab ich schon. Wohlan, so sag ihnen beiden, dem Vater ebenso wie der Tochter, daß ich auch für sie beten werde, so oft ich ihrer gedenke. Wir werden einen neuen Tempel bauen, und mein Fuß wird der erste sein, der ihn betritt, in stiller Einsamkeit, begleitet von keinem andern. In früher Morgenstunde, wenn die Finsternis der Nacht versinkt und das Licht des Tages steigt. Wenn ich dann denke, daß auch ein anderes Dunkel zu verschwinden und eine andere Klarheit zu erscheinen habe, werde ich meine Kniee beugen, um zu beten für den Mann, der uns den alten Tempel zerstörte, weil er nicht wußte, daß Himmelsgedanken niemals vernichtet werden können, sondern aus der vermeintlichen Unterdrückung nur umso reiner und umso höher emporzustreben haben. Grüße mir sie, und grüße mir auch ihn, sobald er zu neuem Leben erwacht! Möge es seinem Herzen diejenige Güte bringen, welche nie vergißt, daß andere Menschen auch nicht ohne Herz und auch nicht ohne Empfindung sind für das, was man ihnen tut!«

Er ging hinaus, und Tsi schloß sich ihm an, denn sie hatten wohl noch miteinander zu sprechen. Da schlug der Governor mit der Hand auf den Tisch und sagte:

»Das, das ist der Schluß, ja, der Schluß, wie er gar nicht anders kommen konnte, wenigstens für mich! Zu dem Araber und dem Chinesen nun auch noch der vorhergesagte Dritte, der Malaie! Nun muß ich allerdings erklären, daß ich mich zu schämen habe, vor ganz Asien zu schämen habe! Ich fühle mich vor den großen, erhabenen, herrlichen Gestalten der Nächstenliebe und Menschheitsethik, welche Christus lehrte, als vollständig heruntergekommene Persönlichkeit! Ich setzte nicht die Menschheit und die Menschlichkeit, sondern mich selbst obenan. Nicht ich wollte ihr dienen, sondern sie hatte mir alle möglichen Ehren zu erweisen, vor mir im Staube zu kriechen und für die Erfüllung meiner unvernünftigen, maßlos selbstsüchtigen Wünsche zu sorgen. Ich wollte sie, die Unzählbare, zwingen, das für absolut wahr zu halten, was ich, der törichte Einzelne, ihr vorzudeklamieren wagte. Ich verbot ihr, anders zu denken, zu fühlen und zu tun als ich. Ich dünkte mich, das Muster, das Vorbild zu sein, dem sie in allen Dingen, irdischen und überirdischen, nachzustreben habe. Kurz, ich geberdete mich als Summa aller vorhandenen Klugheit und Gerechtigkeit und rasselte sofort mit Säbeln, Flinten und Kanonen, wenn irgend ein Anderer die Kühnheit besaß, mir zu sagen, daß ich verpflichtet sei, auch seine Menschenrechte anzuerkennen! Das habe ich nun sechzig Jahre lang getrieben und mich von Niemand irremachen lassen. Kein Kaiser und kein König hätte mich überzeugen können, daß ich Unrecht habe. Da kommt ein arabischer Eseltreiber und entwickelt sich vor meinen Augen zum lebenden Vorwurf seiner ganzen Rasse. Ich kann den stolz auf mich gerichteten, vorwurfsvoll fragenden Blick dieses Mannes nicht aushalten, muß ihm ausweichen, mich mit dem meinigen verkriechen! Zu ihm gesellt sich ein Chinese, ein zopfiger Kerl, von dem ich glaubte, ihn nicht einmal erriechen zu können. Aber schon nach wenigen Stunden stellt sich heraus, daß er mir über ist, in allen Dingen über, ganz besonders aber in Hinsicht auf die Höflichkeit und Rücksichtsnahme, die wir allen Menschen schuldig sind. Er schlägt mich Wort für Wort und Tat für Tat, und zwar ganz unbegreiflicher Weise so, daß ich ihn nicht etwa dafür hassen, sondern liebgewinnen muß und obendarein ihm auch noch dankbar bin! Dieser Tsi ist doch, fast möchte ich sagen, das Ideal von einem Menschen! Was mag da erst sein Vater für eine Persönlichkeit sein, sein Vater, der jedenfalls noch reiner Abgeklärte, der einer der hervorragendsten Leiter der ›Shen‹ zu sein scheint!«

Er machte eine Pause, um einen Schluck Wasser zu nehmen und dann fortzufahren. Da sagte Raffley:

»Ihr seid mit Euern Bekenntnissen noch nicht fertig, dear Uncle. Ich weiß, Ihr wollt den Malaien auch noch bringen. Aber bitte, quält Euch nicht weiter, und denkt auch daran, daß Ihr nicht der Einzige seid, den Eure Anklagen treffen!«

»Was! Ihr meint, daß ich mich schonen soll? Oder etwa gar die Anderen? Jawohl, einen Araber und einen Chinesen läßt man sich noch gefallen! Denn die Araber haben doch wenigstens in Wissenschaft et cetera einst mitgemacht, und von den Chinesen wissen wir sogar noch mehr, als bloß nur das. Aber wenn ich nun gar auch noch einen Malaien bringe, der besser war und edler dachte als wir, da schüttelt man nicht etwa nur die Köpfe, sondern man lacht mir laut in das Gesicht! Doch sagt erstens einmal, Charley sind die Malaien denn wirklich so ganz bildungslose Barbaren, wie man bei uns daheim behauptet und in den Schulen lehrt?«

»Keineswegs, Sir,« antwortete ich. »Von den malajischen Büchern, die ich selbst besitze, will ich gar nicht sprechen. Aber die Literatur dieser Rasse ist eine sehr selbständige und vielseitige. Es gibt ganz ausgezeichnete Schriften in den Sprachen, welche wir als Tagala, Pampanga, Iloco, Vicol, Ibanak, Visaya, Favorlang, Atschin, Battak, Lampong, Dayak, Java, Sunda, Alfurisch, Makassarisch und Malagasi bezeichnen. Ich könnte sogar noch mehr nennen. Von diesen Werken will ich nur einige erwähnen. Die große Kunstdichtung Bidasari, die fünf Pandawa, Ken-Tambuhan, Indra Laksana, Kalila und Dimnah, Panschatantra, Ardjuna-Sasrabahu, Bharata yuddha, Wiwaha, die kosmogonische Manik-Maya, Padjadjaran, Kartasura, Mataram, Demak, Tana, Djawi, Giranti, Adji, Saka, Damar Wulan, Djaja lenkara, Menak, Radja, Pirangon, Pandji, Lampahlampahannipun – – –«

»Haltet ein, haltet ein, Charley!« rief bei diesem langen Worte der Governor aus. »Ich habe genug gehört, mehr als genug, um nun zu wissen, wie sehr ich mich in diesen Malaien irrte, die ich bisher für geradezu dumm, für bildungsunfähig gehalten habe!«

»Dumm?« fragte ich. »Ich sage Euch, daß sie sogar Bücher über die ›Seerechte‹ besitzen, welche bis achthundert Jahre zurück in die Vergangenheit greifen! Das ist eine rechtliche, eine juridisch geschichtliche Materie, also Prosa. Was die Kunstleistung, also die Poesie betrifft, so steht sie hinter der Prosa keineswegs zurück. Es gibt da berühmte Werke, welche sogar in abendländische Sprachen übersetzt worden sind. Eigentümlich ist, welche Worte der Malaie für Prosa und Poesie besitzt. Im Umgange unterscheidet er sehr streng zwischen der ›vertraulichen‹ und der ›höflichen‹ Rede. Die vertrauliche oder ›duzende‹ heißt Ngoko und die höfliche Krama. Die Prosa ist Ngoko und die Poesie Krama. Nur bei den erzählenden oder beschreibenden Stellen darf die Poesie sich der ›duzenden‹ Redeweise bedienen.«

»Sonderbar! Mir kommt das so allerliebst, so kindlich naiv, so natürlich vor! Im Gegensatze zu unsern tausend Regeln, welche die Pedanten den Dichtern wie Daumenschrauben anlegen, sobald einer der Letzteren die Feder in die Hand genommen hat! Und das ist das Zweite, was ich meinte, als ich vorhin ›erstens‹ sagte: Nämlich die Malaien haben also auch ihre Literatur, ihre Wissenschaft, ihre Kunst und Poesie. Aber selbst, wenn sie das nicht hätten, würde ich doch fragen, ob dieser Mangel sie unbedingt hindern müßte, edel zu denken und edel zu handeln! Ist etwa jeder ›Gebildete‹ ein edler und jeder ›Ungebildete‹ ein unedler Mensch? Ich meine, das, was wir edel nennen, wächst weniger aus dem Wust von Kenntnissen als vielmehr aus der Einfachheit des Herzens heraus. Wenn das nicht falsch ist, so kann der malajische Sundainsulaner wenigstens ebenso leicht ein guter, wohlmeinender Mensch sein wie der hochgelehrte Misanthrop in London, Paris, Berlin oder Wien, der sich von der wahren, kindlich einfachen Menschlichkeit so unendlich weit fortgedüftelt hat, daß sie für ihn überhaupt nicht mehr vorhanden ist. Ich war gar nicht allzu weit davon entfernt, auch so ein ›Mis – – –‹ zu werden, glücklicher Weise aber hat mich das ›Ich bin Sejjid Omar!‹ des Arabers beim Arm gepackt und wieder nach der richtigen Seite herumgezogen! Sagt, wie wird die Krankheit Wallers genannt? War es nicht Dysenterie?«

»Ja,« nickte Raffley.

»Well! Ich litt auch daran, wenn auch nicht mein äußerer, so doch mein anderer Körper, der eigentliche Mensch in mir! Den hatte man vernachlässigt, ihn mit unreifem, aber wohl überzuckertem Obst gefüttert und ihm dadurch die Kraft benommen, den Erregern dieser Krankheit zu widerstehen. Ich trat in das öffentliche Leben und stieg von Stufe zu Stufe. Bei jedem Schritt empor, stieß ich die Menschheit hundert Schritte tiefer. Warum? Die ›Shen‹ in mir war krank! Sie litt immer mehr und mehr, bis sie sich nicht mehr regte. Schließlich war ich nur noch ich, Oberhaupt meiner Familie, Engländer und Kaukasier, nebenbei auch Christ, weiter aber nichts! Alles Uebrige war der Dysenterie verfallen. Nachdem ich das Uebel erkannt habe, meine ich, daß es ungeheuer ansteckend ist. Ich habe, ohne es zu wissen, inmitten einer großen, entsetzlichen Epidemie gelebt. Der Ansteckungsstoff heißt Vorurteil; der Heidenpriester hatte Recht! Kinder, mir wird angst! Suchen wir nach einem Mittel, ihr entgegenzutreten, damit sie wenigstens nicht weiter um sich greife! Wißt Ihr, was ich tue? Ich gehe Ko-su holen! Indem ich den verachteten Chinesen bediene und unterstütze, finde ich zugleich das heilende Ko-su für mich selbst!«

Er ging hinaus. Raffley sah ihm gerührt und mit liebevollen Augen nach.

»Nur noch eine kleine Schar so prächtiger Menschen!« sagte er. »So begeistert, so impulsiv, so aufrichtig, so opferfähig und in ähnlicher Lebensstellung wie er, dann würden dieser häßlichen Epidemie bald engere Grenzen gezogen werden! Aber wie Vielen sind diese hohen Gaben verliehen? Und wer sie besitzt, dem hängt sich jenes Vorurteil der Uebrigen an beide Hände und Füße! Sklaven, Sklaven, Sklaven!«

Bei diesen Worten stand er auf und ging im Zimmer hin und her. Auch ich verließ meinen Sitz und trat an die Fenstertür. Da sah ich die malajische Sänfte draußen stehen und die zu ihr gehörigen Leute. Zu gleicher Zeit klopfte es bei uns an, und der Priester kam herein, um sich von uns zu verabschieden. Er hatte den Mijnheer nicht sprechen können, da er nicht zu Hause sei. Darum versprachen wir, den Dank gewissenhaft auszurichten. Er reichte zunächst mir die Hand. Wie kam es doch, daß ich sie an meine Lippen zog? Dann wendete er sich zu John und sagte:

»Ich gehe fort; Ihr aber bleibt. Noch einige Zeit, so werdet Ihr es sein, der fortgeht, während dann ich zu bleiben habe. So geht der Bleibende, und so bleibt der Gehende, denn es gibt keine – – Zeit! Ob Du oder ich, ob hier oder dort, das ist kein Unterschied, denn es gibt auch keinen – – Ort! Dies aber nur dann, wenn wir Alle, die wir Menschen sind, der Liebe angehören, die Zeit und Raum umfaßt im Kreis der ganzen Erde. So frage ich also nicht, ob wir uns wiedersehen werden. Des Leibes Auge erfaßt nur das, was in der Nähe liegt; für das Weitere ist es blind. Jene Liebe aber leiht uns ihren Blick für die Unendlichkeiten. Dann sieht die ›Shen‹, was sonst verborgen liegt. Ich werde Eurer harren. Und steigt in meines Lebens Abendröte von Westen her ein lieber Gruß empor, umsäumt vom goldenen Lichte dessen, was ich wünsche, so ist es kein Abschied gewesen, den wir jetzt hier nehmen, sondern Ihr seid bei mir geblieben in Eurer Liebe, wie ich Euch begleitet habe mit der meinigen. Vergeßt nicht diese meine Worte, und laßt den Gruß mir steigen! Ich möchte ihn so gern noch sehen, bevor mein Abendrot zur Morgenröte wird!«

Er nahm Raffleys rechte Hand in seine linke, legte ihm die Hand auf das Haupt und schaute ihn mit einem unbeschreiblichen Blicke tief, tief in die Augen. Dann wendete er sich ab und ging hinaus, gleich durch die Fenstertür, die ich ihm öffnete.

Da kam von der anderen Seite mein Sejjid Omar. Er hatte erfahren, daß die Malaien fortwollten, und war zum Händler geeilt. Nun brachte er sein ganzes, hoch aufgerafftes Oberkleid voll Früchte, die er unter sie verteilte. Er, der früher so strenge Moslem, der keinen Heiden auch nur anrühren wollte, hatte sie liebgewonnen und wollte ihnen dies durch seine Gabe zeigen. Sie waren hierüber so erfreut, daß sie ihm ihren Dank in fröhlicher Weise brachten. Nämlich sie faßten ihn, schoben ihn mitsamt seinen Früchten in die Sänfte, trugen ihn unter Absingen eines malajischen Liedes dreimal rundum und dann im Triumph zum Tore hinaus.

Der Priester folgte ihnen langsamen Schrittes, ohne sich noch einmal umzuschauen. Er ging ja doch nicht fort, denn sein Segen blieb zurück!

»Kommt, Charley!« sagte John. »Im Zimmer zu bleiben, das ist mir jetzt unmöglich. Wir wollen gehen, um zu sehen, ob wir den Uncle finden.«

Wir machten einen stundenlangen Spaziergang, entdeckten aber den Governor nirgends in der Nähe. Als wir heimkamen, war er noch nicht da. Wir wollten Sejjid Omar nach ihm fragen; aber auch dieser fehlte. Er war seit seinem Triumphzuge nicht in den Kratong zurückgekehrt. Das brachte uns auf die richtige Spur. Wir gingen vor die Festung hinaus und fragten den Posten, der an dem Punkte der Außenlinie stand, wo die Malaien vorübergemußt hatten. Richtig! Der Uncle war hierhergekommen und hatte da auf sie gewartet. Man hatte die Sänfte niedergestellt, um Omar aussteigen und seine Früchte verteilen zu lassen. Dann war man weitergegangen, der Araber mit den Malaien und hinterdrein der Governor mit dem Priester. Wir beschlossen, ihnen zu folgen.

Nachdem wir ungefähr eine halbe Stunde gegangen waren, sahen wir die beiden Vermißten kommen. Omar hatte sein weites, faltenreiches Oberkleid ausgezogen und Etwas hineingewickelt, was er auf dem Rücken trug, einen großen, runden Pack. Der Uncle lachte uns schon von Weitem vergnügt entgegen.

»Sorge gehabt um mich?« fragte er, als er uns erreichte. »Bin immer unentbehrlich; daß weiß ich ja!«

»Richtig! Ungeheure Angst um Dich!« stimmte ihm der Neffe scherzend bei. »Aber da fällt mir jetzt nachträglich ein, daß der Priester gar nicht nach Dir fragte, als er sich von uns verabschiedete. Wußte er, daß Du ein Stück mit ihm gehen würdest?«

»Nein. Als ich von Euch fortging, traf ich ihn, grad als er von dem Mijnheer kam, der aber nicht daheim gewesen war. Da nahm er Abschied von mir und ging dann zu Euch. Habt die Güte und lacht mich nicht aus, wenn ich Euch später einmal aufrichtig gestehe, daß – – daß – – nun, daß ich ihn in meine Arme genommen und geküßt habe, fast wie einen Bruder! Dabei sah ich, daß seine Augen naß wurden, und das, das kann ich nicht ersehen; das geht mir in das Herz! Da lief ich fort, spornstreichs fort, hinaus, den Weg entlang, den er dann gehen mußte und wartete auf ihn. Da kamen sie. Sie brachten hier diesen Muhammedaner getragen, der aber ein Heide geworden zu sein scheint, denn wenn er seinen Sihdi nicht hier hätte, so wäre er mit ihnen in alle Berge gelaufen und niemals wiedergekommen. Der Priester freute sich, mich noch einmal zu sehen. Wir haben uns bei den Händen gefaßt und gar nicht wieder losgelassen. Wir haben wie der und immer wieder Abschied voneinander genommen und sind aber trotzdem weiter und immer weiter mit einander gelaufen! Bis er endlich stehen blieb und mir versicherte, daß Ihr in Sorge um mich sein würdet. Da – – da – – na, da mußte es denn notgedrungen geschehen! Und es ist geschehen! Aber ich sage Euch: Wenn mir wieder einmal so ein Heide kommt, so gebe ich mich lieber gleich gar nicht mit ihm ab! Denn wenn er wieder geht, dann, dann – – wie drücke ich mich doch nur richtig aus? Dann – – dann fühlt man, daß er gar kein Heide ist, daß man ihn liebgewonnen hat, daß man ihn braucht, ja, daß man mit ihm in alle Berge laufen möchte, grad wie der Sejjid Omar da, der mein Ko-su in seinen Kaftan gepackt und auf den Rücken genommen hat!«

»Das ist Ko-su? Diese große, große Menge?« fragte John, beinahe lachend.

»Was denn sonst? Die Malaien haben ja alle mitpflücken müssen, unterwegs, wo solches stand! Und ich auch, und der Priester auch, indem wir Abschied nahmen und aber immer wieder neues fanden! Jetzt aber kommt! Wir müssen heim! Es ist viel Gras und anderes Kraut dabei. Das muß ausgelesen werden, sortiert, und Ihr helft mit!«

Wir kehrten also nach dem Kratong zurück, um zuerst zu Mittag zu speisen. Dann ließ der Governor uns keine Ruhe; wir mußten uns zu ihm in sein Zimmer setzen und ihm helfen, das Ko-su zu sortieren. Das hieß eigentlich: Wir hatten diese Heilpflanzen aus einem ganzen, großen Haufen von Gras und Unkraut auszusuchen. Der Uncle entwickelte bei dieser Arbeit eine sehr anerkennenswerte Geduld, denn es war ihm wirklich Gewissenssache, sich selbst zu erziehen. Raffley aber sprang schon nach kurzer Zeit von seinem Stuhle auf und rief lachend aus:

»Zwei englische Lords, mit der Herzogskrone am Stammbaume, als Kräutergewölbelehrlinge die Dornen von den Disteln scheidend! Ist das die Gleichstellung aller Menschen, welche Euch am Herzen liegt, dear Governor? Spendet eine kleine Kupfermünze daran, so macht Euch für diesen Lohn jeder Malaie diese Arbeit viel besser und viel schneller, als wir es können. Einen so jähen und so tiefen Stoß von meiner Würde herab verlangt die ›Shen‹ wohl nicht. Ich reiße aus!«

Er schüttelte sich den anhaftenden Wurzelschmutz von den Kleidern und lief fort. Der Uncle aber sah ihm mit vorwurfsvollem Blicke nach und sprach das große Wort:

»Dem scheint es mit dem Ko-susortieren nicht ganz ernst gewesen zu sein. Es ist also sicher, daß er nicht die geringste Befähigung besitzt, ein Mitglied der ›Shen‹ zu werden!«

Der Schalk in meinem Nacken nickte zustimmend; ich aber dachte mir grad das Gegenteil.

Als wir dann fertig waren, machten wir aus dem Ko-su ein Paket und beauftragten Sejjid Omar, es zu Tsi hinüberzutragen. Wir aber gingen, um uns nach John umzusehen. Er war zum Mijnheer gegangen und von diesem eingeladen worden, sich an einem Spazierritte zu beteiligen.

»Das ist gut; das freut mich!« sagte der Uncle. »Denn nun ist er abgehalten, uns zu überraschen!«

»Wobei?« fragte ich.

»Das sollt Ihr hören und sehen. Hören unterwegs, und sehen auf der Jacht.«

Er führte mich nach dem schon einmal erwähnten Hotelplatze, wo er einen Wagen nahm, um nach Uleh-leh zu fahren. Unterwegs fragte er mich scherzend, und doch zugleich auch ernst:

»Fürchtet Ihr Euch vor Spukgestalten, lieber Charley?«

»Nur am Tage, des Nachts aber nicht,« scherzte da auch ich.

»Das ist schlimm! Denn es ist Tag, und ich will Euch nach einem Orte führen, wo es spukt, bei Tage sogar noch deutlicher als bei Nacht.«

»Ah, wohl Euer Gespenst?«

»Ja.«

Hierauf war er still. Ich auch. Nach einiger Zeit begann er wieder:

»Warum schweigt Ihr? Warum fragt Ihr mich nicht? Glaubt Ihr, ich wisse nicht, was Ihr denkt? Es ist zwar sehr höflich und sehr rücksichtsvoll von Euch, mich nicht mit etwas belästigen zu wollen, was Euch an mir unbegreiflich ist, aber da ich es Euch doch nun einmal zu sagen habe, so wäre es mir lieber, Ihr hättet mich gefragt. Das macht nämlich das Sprechen leichter.«

»So? Nun, da will ich Euch also fragen: Ihr seid so lange Zeit auf der Jacht gewesen und hattet also hundertmal Gelegenheit, das Bild der ›Yin‹ in Johns Zimmer zu sehen. Warum seid Ihr nicht hineingegangen? Offen und ehrlich? Warum wollt Ihr es jetzt sehen? Hinter seinem Rücken?«

»Ganz recht! Diese Frage habe ich erwartet! Sie ist begründet, für jeden andern Menschen, doch eigentlich nicht auch für Euch. Wer so wie Ihr in der Welt herumläuft, um Rassen, Völker und Einzelmenschen auf ihre Psychologie hin anzusehen und sie dann, ihrer sichtbaren Körper entkleidet, in ganz anders gemeinten Gestalten zu beschreiben, der sollte wohl so klug sein, daß er nicht eine so unpsychologische Frage an mich zu richten braucht!«

»Sir!« rief ich da überrascht aus. »Woher kommt Euch diese Ansicht über mich und meine Bücher? Sie ist richtig, vollständig richtig! Aber noch keiner von allen, die mich lesen, ist so scharfblickend gewesen, es zu entdecken!«

»O, doch wohl Einer!«

»Wer?«

»John. Er hat mir von Euch vorgelesen, zuweilen, vielleicht gar oft. Da kamen Stellen, von denen ich dachte, daß sie sehr unwahrscheinlich, sogar ganz unmöglich seien. Ich sagte ihm das. Er aber lachte mich aus und begann, es mir zu erklären. Ja, das war dann etwas ganz Anderes! Zum Beispiel Euer Sejjid Omar! Er lebt; er ist da; er ist Euer Diener. Ihr macht keine Lüge, wenn Ihr das in Euern Büchern schreibt. Und was Ihr von ihm erzählt, ist wahr, ist wirklich geschehen. Aber Ihr habt es nicht auf seinen Körper abgesehen, sondern auf das, was diesen Körper aus der Rasse, dem Stamm und der Familie heraus zum Sejjid Omar gebildet hat. Das ist der Geist, die Seele, also der innere Mensch, der innere Araber, der innere Sejjid Omar. Arabische Körper kann man zu Tausenden sehen. Um aber grad diesen Sejjid herausfinden zu können, hat der Körper zu verschwinden. Dann erscheint Omar sofort in seiner ganz besondern, nur ihm eigentümlichen Gestalt. Und diese, nur diese Gestalt, die geistige, die innere, wird von Euch für die Leser Eurer Bücher materialisiert. Ihr lauft dabei allerdings Gefahr, als Phantast, sogar als Lügner bezeichnet zu werden, aber nicht der Körper, sondern diese materialisierte Gestalt ist der eigentliche, wirkliche Sejjid Omar, und Ihr seid also hundertmal wahrer und tausendmal naturgetreuer als diejenigen, die Euch diese Vorwürfe machen.«

»So! Also das habt Ihr von John! Ja, er ist einer der Scharfsinnigsten, die es gibt. Aber warum sagt Ihr mir dies grad jetzt, grad hier?«

»Fragt doch nicht! Ihr müßt es wissen! Oder habt Ihr nur in Omar geschaut, nicht auch in mich hinein? Auch mein Körper ist Euch Nebensache; das weiß ich ganz genau. Solltet Ihr da meinen innern Menschen so wenig kennen, daß Ihr nicht wißt, warum ich mich bisher gescheut habe, das zwischen John und seiner Familie aufgetauchte Gespenst in Augenschein zu nehmen?«

»Sagt mir die Gründe, weshalb die ›Yin‹ für Euch ein Gespenst ist; dann will ich Euch antworten. Ich kenne nur ihr Bild, nicht aber sie selbst. Ebenso ist es mir vollständig unbekannt, in welchem Verhältnisse sie zu John, zu Euch und zu Eurer Familie steht. Es ist also weder für mein äußeres noch für mein inneres Auge das vorhanden, was Ihr vorauszusetzen scheint. Und aber dennoch könnte ich Euch eine Antwort geben, und zwar die richtige, wenn Ihr mich dazu drängtet.«

»Nun, welche?«

»Soll ich? Wirklich?«

»Ja. Ich bitte!«

»Nun also: Ihr fürchtet Euch!«

»Fürchten?« fuhr er auf. »Wo wäre der Mensch, der mich schon einmal furchtsam gesehen hätte! Es ist ein großer, ein ungeheurer Irrtum von Euch, zu meinen, daß ich – – –«

Er unterbrach sich mitten in seinem Satze. Wahrscheinlich verhinderte ihn der Blick, mit dem ich ihn betrachtete, weiterzusprechen. Er ließ den Kopf sinken, und dachte nach. Dann, eben als wir aus der Hauptstraße schon nach dem Hafen einbogen, sagte er:

»Ehrlichkeit, nur Ehrlichkeit! Gegen sich selbst und gegen Andere! Es muß heraus: Ihr habt Recht, Charley. Ich habe mich gefürchtet. Vor wem oder was, das braucht hier nicht erörtert zu werden; aber ich habe Furcht gehabt; das ist richtig! Und warum bin ich jetzt nicht allein gefahren? Warum habe ich Euch mitgenommen? Furcht, nichts als Furcht! Aber das ist nun nicht zu ändern, denn wir sind schon da!«

Der Wagen hielt an der Landebrücke, und wir nahmen ein Boot, um uns nach der Jacht rudern zu lassen. An Bord angekommen, fanden wir nur Bill mit zwei Matrosen und der weiblichen Bedienung anwesend. Tom war an das Land gegangen, um Proviant einzukaufen, und die andern Hands hatten Urlaub genommen, um den Bewohnern des Hafenortes Etwas »vorzureiten« und dafür sehr wahrscheinlich ausgelacht zu werden. Für Seeleute dieses Stiles ist nämlich das Reiten selbst dann das schönste und beste aller Vergnügen, wenn man alle hundert Schritte zehnmal auf der einen Seite vom Pferde rutscht, um sich auf der andern Seite höchst ritterlich wieder aufzuschwingen.

Der Uncle tat so, als ob wir gekommen seien, uns noch mit einigen notwendigen, aber vergessenen Kleinigkeiten zu versehen und diese Gelegenheit ergreifen wollten, den Nachmittagstee hier an Bord zu trinken. Daß er die Absicht habe, Raffleys Kajüte zu betreten, sollte Niemand wissen. Er behandelte diese Affaire so wichtig und so schwer, als ob sie eine höchst bedeutende Staatsaffaire sei.

Die Chinesin ging in die Küche, um den Tee zu bereiten. Bill wurde mit den beiden Matrosen in den Packraum geschickt, um da irgend Etwas zu suchen, was sich gar nicht dort befand. So waren wir also ganz allein auf dem Deck und gingen nach der Kajüte.

»Warum das Alles so heimlich?« fragte ich. »Es würde ja gar nicht auffallen, wenn wir es ganz offen täten?«

»Weil John unbedingt zu glauben hat, daß es mir gar nicht einfällt, auch nur einen einzigen Blick auf das Bild zu werfen. Die Tür ist natürlich verschlossen, aber ich weiß, wie man sie auch ohne Schlüssel öffnen kann. Er hat davon gesprochen.«

Er drehte den Drücker auf und dann in besonderer Weise wieder zu; es gelang. Wir traten ein. Er blieb zunächst vorn stehen und schaute sich in einer Weise um, als ob er sich in dem Heiligtum einer ihm nicht bloß fremden, sondern auch unsympatischen Verehrung befinde. Hierauf näherte er sich langsam, Schritt um Schritt, beinahe ängstlich, dem Bilde und sah es lange, lange an. Dann ging er, ohne ein Wort zu sagen, zum Eingange zurück, wo ich stehen geblieben war, schob mich hinaus, schlug die Tür hinter sich zu, holte tief, tief Atem und sagte, als er sah, daß man soeben den Tee servierte:

»Trinkt ihn allein, Sir! Mir ist aller Appetit vergangen. Ich habe jetzt mehr, viel mehr zu verdauen, als Tee mit Toasts!«

Ich setzte mich also an den Tisch und ließ es mir schmecken. Er aber ging gesenkten Kopfes und mit langen Schritten auf dem Deck hin und her. Grad als ich fertig war, kam Bill mit den beiden Matrosen nach oben und meldete, daß alles Suchen vergeblich gewesen sei. Nun ließen wir uns an das Land setzen und stiegen wieder in den Wagen, um heimzufahren. Er gab dem malajischen Kutscher den Befehl, dies nicht direkt, sondern auf einem Umwege zu tun, da es sich um eine Spazierfahrt handle. Dann, als wir so eng und traulich neben einander saßen, ergriff er das Wort:

»Charley, was haltet Ihr von Bildern?«

»Sir, was haltet Ihr von Büchern?« antwortete ich.

»Sonderbare Frage!«

»Ganz so, wie die Eure!«

»Aber wie ihr die Frage stellt, kann man sie gar nicht beantworten! Sie ist zu unbestimmt.«

»Habt Ihr bestimmter gesprochen?«

»Hm! Allerdings nicht! Wie konnte ich also eine Antwort verlangen; es ist ja keine möglich!«

»O, doch! Eure Frage war nämlich gar keine Frage, sondern der Angstruf Eures inneren Menschen, der sich bisher gefürchtet hat, das Bild zu betrachten. Nun habt ihr es aber doch getan, und da schreit er auf, weil er die Folgen kommen fühlt.«

Da wandte er sich mir zu, sah mich betroffen an und fragte;

»Bin ich etwa durchsichtig?«

»Ja!«

»Halloh! Das ist stark! Glaubt Ihr, durch mich hindurchschauen zu können?«

»In dieser Beziehung allerdings.«

»Und was seht Ihr da?«

»Die ›Yin‹.«

»Oho!«

»Jawohl! Ganz gewiß die ›Yin‹, obgleich Ihr vielleicht versucht, euch hierüber zu täuschen. Diese ›Yin‹ ist nämlich etwas ganz Anderes, als Ihr denkt; sie besitzt eine Euch vollständig unbekannte und unbegreifliche Macht. Mit dieser Macht hat sie Euch gepackt. Ihr seid ihr Eigentum geworden und werdet es auch bleiben!«

»Entsetzlicher Mensch!«

»Wer?«

»Ihr! Ich habe nämlich nicht gewußt was mich so – – so – – nun, auf eine bisher so unbekannte Weise beunruhigt, seit ich in der Kajüte gewesen bin. Es ist nicht Furcht, nicht Angst, nicht Reue. Es ist auch nichts Betrübendes oder gar Häßliches, sondern es scheint im Gegenteile etwas Gutes, etwas Wünschenswertes zu sein. Und dennoch quälte es mich! Es bohrte in mir. Da kommt Ihr mit Eurer Behauptung, daß ich das Eigentum der ›Yin‹ geworden sei, und richtig! In dem Augenblicke, als Ihr es sagt, da wird sie plötzlich in mir wach; da steigt sie in mir auf, und ich muß Euch sagen, daß ich sie nicht nur sehe, sondern in meinem ganzen Körper fühle, bis an die Fingerspitzen! Oder ist es nicht mein Körper, sondern der Geist, die Seele, und ich kann es nur nicht unterscheiden?«

»Es ist nicht Euer Körper, sondern der innere Uncle und Governor, ganz derselbe, den Ihr vorhin den inneren Sejjid Omar genannt habt. Wollt Ihr mich nun noch einmal fragen, was ich von Bildern halte, nämlich von solchen? Denn nur solche sind Bilder. Alles Andere ist nur Malerei, oft sogar Schmiererei! Das deutsche Wort Bild kommt von ›bilden‹ her. Versteht Ihr mich? Das hat mit dem Ausdrucke ›nachbilden‹ nur den Klang der zweiten und dritten Silbe gemein, weiter nichts. Der wahre Künstler hat stets eigene Gedanken. Er bildet niemals nach, selbst wenn er porträtiert. Er schafft dem vorhandenen Körper Geist und Seele. Er zeigt am dümmsten Bauernkopf die in Wirklichkeit vollständig unsichtbare, aber dennoch vorhandene Intelligenz. Er demonstriert am menschenfreundlich erscheinenden Gesicht des Eroberers die tief in ihm versteckte, stets kampfesfertige Bulldoggennatur. Und ist er nicht bloß Talent, sondern Genie, so schafft er auch die gegebene Gestalt vollständig um, ohne daß gewöhnliche Augen es bemerken, und läßt uns, einem Zauberer gleich, dann Wesen sehen, welche zwar vollständig berechtigt sind, der Wirklichkeit anzugehören, aber in der Sprache ganz anderer, höherer Welten zu uns reden. Diese Sprache ist für den Körper unvernehmbar. Sie klingt nur von Geist zu Geist, von Seele zu Seele. In ihr naht sich die Macht, die Euch ergriff, als Ihr vor der ›Yin‹ standet und sie betrachtetet.«

»So glaubt Ihr, ein Genie habe dieses Bild erschaffen?«

»Unbedingt. Nur das Genie gibt neue Rätsel auf, während das Talent sich mit alten, längst vorhandenen beschäftigt. Und dieses Porträt der ›Yin‹ ist ein Rätsel, ein neues, ein schönes, ein entzückendes Rätsel, an dessen Lösung ich mein Leben setzen würde, wenn ich Maler wäre. Ihr habt zu mir gesagt: ›Ich will Euch nach einem Orte führen, wo es spuckt, bei Tage sogar noch deutlicher als bei Nacht.‹ Mein teurer Freund, diese ›Yin‹ konnte für Euch nur so lange ein Spuk, ein Gespenst sein, als es Nacht in Eurem Innern war. Mir scheint, heut ist es Tag geworden. Wenigstens dämmert es bereits. In diesem Zwielicht erscheint sie bereits klarer, lichter, schöner, doch noch nicht ganz aus der Nacht gelöst, wie ich sagte: noch als Rätsel. Aber wartet nur, Sir; die Sonne wird kommen, ganz gewiß. Dann muß der Vorhang vom Bilde fallen, und das Geheimnis wird für Euch zur Offenbarung werden, denn jede wahre Kunst ist göttlicher Natur.«

»Das sagt Ihr so bestimmt?« schaltete er ein.

»Ja,« antwortete ich. »Ich kenne unsern John. Die ganze Jacht ist, so zu sagen, ein Buch mit sieben Siegeln. Und das Bild ist sicher nicht das geringste dieser Siegel. Oder vergleiche ich die Jacht mit einem Gedichte, so erscheint mir das Bild sogar als die schönste und tiefste seiner Strophen. Glaubt Ihr, daß er, der Dichter, uns die Erklärung vorenthalten wird?«

»Nein. Aber alles das, was Ihr mir da sagt, hat mich nicht klüger gemacht, als ich vorher war. Ich fühle mich im Gegenteile nur noch verworrener. Bitte, laßt mir Zeit; ich habe nachzudenken!«

Er legte sich in die Lehne zurück und fiel in andauerndes Schweigen. Auch als wir oben in Kota Radscha angekommen waren und am Kratong aus dem Wagen stiegen, bezahlte er den Kutscher, ohne ein weiteres Wort zu sagen, und zog sich sogleich in sein Zimmer zurück.

Raffley kam erst zur Zeit der Dämmerung von seinem Spazierritte heim und teilte uns dann beim Abendessen mit, daß der Mijnheer zwar ein Holländer sei, aber dennoch ein Gentleman durch und durch. Sogar wetten habe er wollen, sei aber natürlich abgewiesen worden. Uebrigens scheine sich da oben in den Bergen etwas Kriegerisches vorzubereiten, um die Malaien endlich einmal gründlich zu Raison zu bringen. Der Mijnheer habe ihm einige Züge von Grausamkeiten erzählt, die man allerdings nicht in Schutz nehmen dürfe.

Da fiel ihm der Governor sofort in die Rede, um die Malaien zu verteidigen. Er tat dies in der ihm eigenen Weise, die ihn verführte, wiederholt über das Ziel hinauszuschießen, und kam dabei immer wieder auf seinen »Freund, den Heidenpriester« zurück, wie er ihn nannte. John ließ ihn vollständig aussprechen und antwortete aber dann:

»Alles, was Ihr sagt, in Ehren, dear uncle; aber ich bitte, laßt Euch von Eurem guten Willen nicht verführen, weiter zu gehen, als Ihr dürft. Ihr könnt doch unmöglich behaupten wollen, daß diese Rasse auf gleicher Bildungsstufe mit der unserigen stehe! Und Ideale sucht man doch nicht unten, sondern oben. Ihr kennt meine Ansicht über die Menschenrechte zur Genüge; aber nicht das Gefühl allein, sondern auch der Verstand hat zu Worte zu kommen. Sollen Kinder mitbestimmen dürfen, auf welche Weise sie zu erziehen sind? Habt sie lieb; hebt sie empor, und macht sie zu Männern! Sind sie das geworden, so mögen sie mit raten und mit tun; eher aber nicht! Es ist stets gefährlich, den Unmündigen eine Macht zu gewähren, deren Ausübung klar und überlegt denkende Köpfe verlangt!«

»Well! Zugegeben!« gestand der Governor ein.

»Gut, so sind wir einig! Ihr rühmt das Verhalten der Malaien gegen Waller. Ja, sie haben ihm verziehen, ihn nicht bestraft; aber sind sie nicht um so grausamer gegen seine unschuldige Tochter gewesen, welche von ihnen unter so peinlichen Umständen hinüber nach Penang gebracht wurde? Wie hätte sich diese ganze Angelegenheit wohl gestaltet, wenn der Priester nicht ein so hochdenkender Mann gewesen und unser Tsi nicht ganz zufälliger Weise dazu gekommen wäre? Nur das richtige Maß, das richtige Maß bitte ich!«

Da wurde der Uncle für einige Zeit still; dann sagte er in rührender Aufrichtigkeit:

»Kinder, mir scheint, ich werde immer törichter anstatt klüger. Was früher für mich schwarz gewesen ist, das möchte ich nun gleich vollständig weiß erscheinen lassen. Und was ich bisher verachtet habe, das will ich jetzt im Handumdrehen bewundern lassen. Ich sehe, ich bin auch noch ein Kind, wenn auch ein ziemlich altes. Habt mich also lieb; hebt mich, und macht mich zum Manne! Das war es ja, was Ihr sagtet, lieber John. Wie Ihr das anfangt, das ist Eure Sache. Ich verschwinde!«

Er wollte fort.

»Halt!« rief da John. »Habe Euch noch mitzuteilen, daß der Mijnheer unsere Jacht gern einmal sehen will. Ich schlug ihm für morgen eine Spazierfahrt vor, und er hat angenommen. Die Wagen nach dem Hafen sind für sechs Uhr früh bestellt. Ihr macht doch mit?«

»Selbstverständlich! Kinder fahren immer gern spazieren. Gute Nacht!«

Wir waren infolgedessen am nächsten Tage nicht in Kota Radscha und kehrten erst am Abende heim. Da brachte Tsi uns die frohe Botschaft, daß er überzeugt sei, den Missionar retten zu können. Er brachte hierbei den Gedanken an einen Ausflug wieder in Anregung und holte Mary Waller, um diesen seinen Vorschlag von ihr unterstützen zu lassen. Sie sah sehr angegriffen, aber doch nicht körperlich leidend aus und freute sich, als wir den Entschluß faßten, für eine Woche oder auch noch Etwas länger hinüber nach den Nikobareninseln zu dampfen, für welche wir uns noch von früher her lebhaft interessierten. Dann kehrte sie mit Tsi zu dem Kranken zurück. Wir Drei aber blieben noch länger beisammen.

Ich wollte natürlich den Sejjid mitnehmen, nicht darum, weil ich ihn während dieser Spazierfahrt zu meiner persönlichen Bedienung brauchte, sondern damit er möglichst viel sehen und nützliche Erfahrungen mit heimbringen möge. Ich wollte ihn nicht ausnützen, sondern in ihm den Grund zu einer bessern Zukunft legen. Aber als ich ihm sagte, was ich beabsichtigte und daß er sich mit einzuschiffen habe, bat er mich, bleiben zu dürfen. Nach dem Grunde dieses Wunsches gefragt, antwortete er:

»Wir reisen doch nach China, Sihdi, und da habe ich mich um die Sprache dieses Landes zu bekümmern, wozu ich aber unterwegs auf dem Schiffe wohl keine Gelegenheit finde. Hier in Kota Radscha gibt es einige chinesische Kulis, welche englisch sprechen, und wenn ich während dieser Zeit mit ihnen verkehre, kann ich ihnen zeigen, daß es außer der deinigen und der meinigen keine weitere, ganz vollkommene Sprache gibt.«

Ich hatte nichts dagegen. Es war ja kein Unglück, wenn zu dem babylonischen Gewirr in seinem Kopfe, aus welchem er aber gegebenen Falls stets das Nötige herauszufinden wußte, auch noch ein Beitrag kam, der auf »ing« und »eng« zu enden hat.

Die Vorbereitungen nahmen den nächsten Vormittag in Anspruch. Am Nachmittag gingen wir in See. Erst als wir die Küste nicht mehr sahen, kam mir ein peinigender Gedanke, den ich John mitteilte. Ich wurde aber beruhigt. Er, der ebenso gütig war, wie er umsichtig zu sein pflegte, hatte, bevor wir Kota Radscha verließen, dafür gesorgt, daß den zurückgelassenen Freunden nichts von dem fehlte, was sie voraussichtlich nötig hatten. Ich war schon früher sehr oft in der Lage gewesen, ihn in dieser Beziehung im Stillen mit einer liebevoll besorgten Mutter zu vergleichen.

Wir hatten damals, als wir auf Ceylon miteinander bekannt geworden waren, auf seiner Jacht »Swallow« eine Fahrt nach den Nikobaren unternommen und dort so Interessantes erlebt, daß der Wunsch, diese Erinnerungen bei der jetzigen Gelegenheit wieder aufzufrischen, ein ganz selbstverständlicher war. Da sich aber auf diesem Ausfluge nichts ereignete, was sich auf die vorliegende Erzählung bezieht, will ich nur erwähnen, daß wir, sehr von ihm befriedigt, erst nach vollen zwei Wochen wieder nach Uleh-leh zurückkehrten.

Dieses Mal gab es auf der Landungsbrücke und den in ihrer Nähe liegenden Straßen mehr Leben als bei unserer ersten Ankunft. Es lagen mehrere Dampfer im Hafen, von denen einer Passagiere gelandet hatte und dafür andere zur Reise nach Batavia an Bord nahm.

Wir fuhren nicht mit der Bahn, sondern per Wagen nach Kota Radscha hinauf. Als wir ankamen, war der erste Mensch, den wir sahen, mein Sejjid Omar. Als er uns erblickte, rief er uns vor Freude überlaut entgegen:

»Hamdulillah! Ni tschi la fan la mei yo?«

Hamdullah ist arabisch und heißt »Gott sei Dank!« Das Andere aber war chinesisch und heißt: »Haben Sie schon Ihren Reis gegessen?« Eine sehr beliebte Begrüßungsformel im ganzen Reiche der Mitte. So sehr er sich freute, uns wieder zu haben, so groß war aber auch sein Verlangen, uns möglichst schnell zu zeigen, wie tief er während der verflossenen vierzehn Tage in die Sprache der Chinesen eingedrungen sei.

Wir fanden unsere Wohnungen genau so vor, wie wir sie verlassen hatten. Sie waren nicht belegt worden, obgleich es wiederholt Besuch im Kratong gegeben hatte, besonders Offiziere. Das hing wohl mit den kriegerischen Unternehmungen zusammen, von denen ich bereits gesprochen habe. Grad als sich Jeder von uns in sein Zimmer begeben hatte, stellte Tsi sich ein, um uns zu begrüßen und über Waller Bericht zu erstatten.

»Er ist gerettet,« sagte er, »aber allerdings einstweilen nur erst körperlich. Und selbst da kann mein Urteil noch kein endgültiges sein. Das Ko-su hat gradezu Wunder getan; aber diese fürchterliche Krankheit pflegt schon bei gewöhnlichem Auftreten innere Zerstörungen zurückzulassen, welche später noch verhängnisvoll werden können, und hier hatte sie ja in einer Weise um sich greifen dürfen, welche selbst mich, den immer Zuversichtlichen, am Erfolge fast verzweifeln ließ, obgleich ich das nicht sagte. Aber der Geist, der Geist! Vielleicht ist es ebenso richtig oder noch richtiger, wenn ich sage, die Seele, die Seele! Ich stehe da vor einem Zustande, von dem ich zwar gehört und auch gelesen habe, der mir aber noch niemals vorgekommen ist. Der Psycholog befindet sich da in einer Lage, die ihn mit den Anschauungen und Behauptungen der Wissenschaft in den allerernstesten Konflikt geraten läßt. Jeder abendländische Arzt würde mit der größten Ueberzeugung sagen, daß Waller wahnsinnig geworden sei. Es versteht sich ganz von selbst, daß ich dies Miß Mary verschweige, zumal ich dieser Ansicht ganz unmöglich beizustimmen vermag. Er spricht nämlich grad während der sogenannten Wahnsinnsanfälle überaus klar und richtig. Ja, seine Logik kommt mir dann so scharf, so unwiderstehlich, so erhaben, fast überirdisch vor. Es ist nichts Monomanes, nichts Gestörtes, nichts krankhaft Unsicheres dabei. Diese Anfälle wirken auf sein körperliches Befinden vorteilhaft, anstatt es zu deprimieren. Er scheint in eine Duplizität oder gar Triplizität gespalten zu sein. Jetzt spricht er selbst, mit seiner eigenen Stimme und in seiner gewöhnlichen, uns Allen bekannten Weise. Plötzlich ändert sich sein Ton. Er redet nicht mehr englisch, sondern deutsch. Sein Ausdruck ist ein höherer geworden. Er bringt sogar Reime, die tadellosesten Reime, die man sich denken kann. Und sie klingen sanft, zart, weich, wie aus einem liebevollen, bittenden Frauenmunde. Und ebenso plötzlich fällt ihm ein tiefer, starker Baß in die Rede, während seine Stimmlage doch fast noch höher als Bariton ist. So ist es, als ob er aus sich selbst und noch zwei andern Wesen bestehe, welche sich um sein Denken und Fühlen mit einander streiten. Es ist dies im höchsten, im allerhöchsten Grade interessant. Glücklicherweise stehe ich da nichts Unbekanntem gegenüber. Unsere chinesische Psychologie erklärt uns das mit größter Leichtigkeit als sehr natürlich. Die abendländische Wissenschaft aber besitzt, vermute ich, kein einziges Werk oder Buch, welches diesen Zustand kennt und sich in eingehender Weise und erklärend mit ihm beschäftigt. Darum – –«

Er hielt inne, weil Mary in das Zimmer trat, um uns auch zu bewillkommnen. Sie sah wieder ganz wohl und hoffnungsvoll aus. Die Versicherung des Arztes, daß ihr Vater gerettet sei, hatte ihren Augen den früheren Glanz und ihren Wangen die jugendliche Röte zurückgegeben. Ihr Gemüt war zwar noch nicht frei von jeglicher Sorge, aber doch nicht mehr so schwer bedrückt wie vorher.

Der Missionar war soeben in einen tiefen, festen Schlaf gesunken, und so konnte seine Tochter längere Zeit bei uns bleiben. Es erleichterte sie, uns erzählen zu können, wie angstvoll allerseits der Kampf mit dem drohenden Tode gewesen sei, und wie glücklich sie sich jetzt fühle, zu wissen, daß der Vater sich erholen werde. Sie vermiet es sorgfältig, hierbei zu erwähnen, mit welcher aufopfernden Hingebung Tsi sich des Kranken angenommen hatte, aber ihre Augen sprachen um so deutlicher von dem Dank, den sie für ihn im tiefsten Herzen fühlte. Indem ich dies beobachtete, fiel es mir erst auf, wie hager er geworden war. Und später erfuhr ich von ihr direkt, daß er im Sorgen und Wachen gewiß noch mehr geleistet habe wie sie selbst.

Als beide, Mary und Tsi, diesen ihren Besuch beendet hatten und ich in mein Zimmer ging, um zu schreiben, fand ich, daß mein Papiervorrat fast ganz zu Ende gegangen war. Ich begab mich infolgedessen nach dem mit dem Hotel verbundenen Verkaufsladen Rosenberg, um das Fehlende zu ergänzen. Nachdem dies geschehen war, setzte ich mich auf die Veranda, um ein Glas Bier zu trinken, »Pilsener« aus Hamburg natürlich. Ich war noch nicht lange da, so kam ein Malaie, welcher die Absicht hatte, vorüberzugehen. Er schien nach der Zitadelle zu wollen. Er war jetzt anders gekleidet; ich erkannte ihn aber doch als den, welcher mit uns über die Auslieferung Wallers verhandelt hatte. Er trug ein kleines Paket in der Hand. Ich rief ihn an. Er kam zu mir her, und ich sah ihm an, daß er auch mich erkannte.

»Wo willst du hin?« fragte ich.

»Nach dem Kratong,« antwortete er.

»Zu wem?«

»Zum kranken Tuwan und auch zum Tuwan Governor. Dem Kranken soll ich sein Buch geben und dem Governor einen Brief, den ich in der Tasche habe.«

»Was ist das für ein Buch?«

»Wir haben es auf der Brandstätte unseres Tempels gefunden, in welchem Euer Missionar wohnte. Als wir die Asche fortschafften und die Trümmer auseinander räumten, war der steinerne Altar eingefallen, und unter diesen Steinen lag, von ihnen beschützt, das Buch, so daß es nicht mit verbrennen konnte. Ist das nicht wie ein Wunder? Der Priester hat es sofort sorgfältig eingepackt und einen Brief geschrieben. Ich aber mußte mich auf die Reise machen, um Euch beides zu bringen.«

Er hob das Päckchen empor, um es mir zu zeigen. Da kam mir ein Gedanke. Ich dachte an das Gedicht »Tragt Euer Evangelium hinaus!« Nichts konnte mir da passender sein, als das Erscheinen dieses Eingeborenen mit dem Buche. Das war ja die beste Gelegenheit, der ersten Strophe jetzt die zweite hinzuzufügen! Uebrigens war die Sendung dieses Boten ein abermaliger Beweis der fast beispiellosen Ehrlichkeit der heidnischen Bergmalaien.

»Zeige es einmal her!« forderte ich ihn auf.

Er gab es mir. Es war in große, papierähnliche Pflanzenblätter gewickelt und mit einer Bastschnur fest umwunden. Als ich es geöffnet hatte, sah ich, daß es ein Neues Testament in englischer Sprache war. Ein blauseidenes, miteingeheftetes Band, das Einzeichen bildend, lag bei dem dreizehnten Kapitel des ersten Korintherbriefes, welches bekanntlich beginnt:

»Wenn ich mit den Zungen der Menschen und der Engel redete und hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich wie ein tönendes Erz oder wie eine klingende Schelle« u.s.w.

Ich hatte die auf Seite 219 dieses Buches bereits angeführten acht Zeilen in meinem Notizbuche stecken, nahm dieses Papier heraus, und ließ mir von dem Kellner Tinte und Feder geben. Das Einzeichen ließ mich vermuten, daß die angegebene Bibelstelle diejenige sei, welche man entweder zuletzt gelesen habe, oder überhaupt gern aufzuschlagen pflege. Zudem paßte sie wie fast keine andere zu dem Inhalte des Gedichtes. Darum probierte ich die Tinte auf ihre gleiche Schwärze und gab der Strophe die Ueberschrift »1. Korinther 13.« Als es trocken geworden war, legte ich das Papier in dieses Kapitel und hüllte dann das Neue Testament genau wieder so ein, wie es gewesen war, hierauf gab ich es dem Malaien zurück, fügte ein Trinkgeld hinzu, um seine Verschwiegenheit zu belohnen und sagte:

»Du kannst den Tuwan nicht sprechen, denn es darf Niemand zu ihm, weil er krank ist. Aber du wirst nach seiner Tochter fragen und ihr das Buch geben, nur ihr, keiner andern Person. Verstanden?«

»Ja,« nickte er.

»Es darf Niemand erfahren, daß ich Etwas in das Buch gelegt habe. Du wirst also weder ihr noch einem andern Menschen sagen, daß du mich hier gesehen oder gar mit mir gesprochen hast!«

Er steckte das Trinkgeld ein und versicherte:

»Ich schweige wie ein toter Baum, der keine Blätter mehr hat. Er kann nicht einmal mehr flüstern!«

»Du wirst mich überhaupt gar nicht erwähnen, auch gegen den Tuwan Governor nicht, wenn du ihm den Brief deines Priesters gibst. Und dann, wenn du deine Botschaft ausgerichtet hast, kommst du wieder hierher, um noch eine zweite Belohnung zu erhalten. Ich muß wissen, ob du Alles genau so hast tun können, wie ich es wünsche.«

»Werde ich auch den großen Sahib aus China treffen, dem wir so gern gehorchen, weil wir seinen Vater lieben?«

»Wenn du es wünschest, ja. Aber auch er darf nicht erfahren, daß du hier bei mir gewesen bist und wieder zu mir kommen wirst!«

»Du brauchst keine Sorge zu haben. Ich weiß von unserem Priester, daß Ihr gute Menschen seid, die absichtlich Böses niemals tun. Es ist also nur Erlaubtes, was du von mir verlangst, und ich werde es genau so tun, wie du gefordert hast.«

Er verbeugte sich tief und ging. Es dauerte fast ein Stündchen, ehe er zurückkehrte. Aber er kam nicht allein, sondern mit meinem Sejjid Omar. Sie führten sich Hand in Hand wie Brüder. Er mochte ahnen, was ich dachte, und sagte darum schnell:

»Zürne nicht im voraus, sondern höre erst, was ich sage! Dieser mein Freund hat nichts erfahren, gar nichts, kein Wort. Er sieht erst jetzt, daß du dich hier befindest. Er ist dein Diener, und er ist dir treu; das weiß ich ganz gewiß. Dennoch werde ich auch weiter zu ihm schweigen. Aber ich bitte dich, für jetzt mit ihm zusammenbleiben zu dürfen. Mein Weg war weit; ich habe mich auszuruhen, und er will mir dabei Gesellschaft leisten. Dein Wille ist geschehen, ganz genau so, wie du es mir sagtest.«

»So soll auch der deinige geschehen. Ich sehe, daß ihr eines Herzens seid, und finde es also begreiflich, daß deine Reise meinen Sejjid Omar ebenso ermüdet hat wie dich selbst. Ihr mögt Euch also mit einander stärken.«

Ich reichte ihm das versprochene zweite Backschisch in fürsorglicher Verdoppelung hin, und er steckte es zu sich. Omar aber erklärte:

»Hier brauchst du es nicht, sondern du nimmst es mit heim. Du bist mein Gast, denn ich bin Sejjid Omar, und ich liebe dich!«

Dann schritten sie Hand in Hand mit einander von dannen. Als sie sich entfernt hatten, ging ich nach Hause, wo ich mich bis zum Abendessen mit den erwähnten schriftlichen Arbeiten beschäftigte. Es war Alles still. Keiner der Freunde ließ sich sehen, obgleich doch anzunehmen war, daß die Uebersendung des Buches und des Briefes irgend eine Wirkung hervorgebracht haben müsse. Der Grund lag darin, daß man sich die Mitteilung bis zum Essen vorbehalten wollte, weil wir da Alle beisammen waren.

Tsi kam auch. Nur Mary fehlte. Sie zog es auch jetzt noch vor, sich selbst während des Mahles nicht von dem kranken Vater zu entfernen.

Sobald wir uns an den Tisch gesetzt hatten, bemerkte ich, daß die Freunde innerlich beschäftigt waren. Doch schwiegen sie jetzt noch. Sie wollten das, was sie mitzuteilen hatten, nicht gleich bei Reis und Fleisch, sondern erst später bringen. Aber noch waren wir nicht bei dem letzten Gange, den Früchten, angelangt, so konnte der Governor es nicht länger aushalten. Er sagte:

»Ich hatte Besuch, ganz unerwarteten Besuch. John weiß es schon. Dem habe ich es mitgeteilt. Ihr Andern würdet es nicht erraten. Darum will ich es lieber gleich sagen. Nämlich der malajische Bote war bei mir, welcher die Betelnuß nach dem Hotel Rosenberg brachte und dann auch mit der Sänfte wiederkam. Er hat mir einen Brief von meinem guten Freunde, dem Heidenpriester gebracht und ist dann gleich wieder fortgegangen, ohne zu fragen, ob er Antwort mitnehmen soll.«

»Was hat der Freund geschrieben?« erkundigte ich mich, weil keiner der Andern Etwas sagte.

»Das weiß ich noch nicht ganz genau, doch hoffe ich, es hier zu erfahren. Der Brief ist malajisch geschrieben, und in Beziehung auf diese Sprache bin ich Analphabet. Darum ging ich mit ihm zu John. Der hat herausgebracht, daß von unserm Christus die Rede ist, von Gold, von Weihrauch, von armen Hirten und von dem Frieden, den die Engel auf den Fluren von Bethlehem verkündet haben. Aber wirklich fließend konnte er die Zeilen auch nicht lesen. Es sind Worte und Wendungen darin, welche er nicht kennt. Sonderbarerweise ist der Brief nicht Prosa, sondern ein Gedicht. Denkt Euch, ein malajischer Heidenpriester, welcher dichtet! Ist das nicht fast unbegreiflich?«

»Warum unbegreiflich? Gibt es nicht auch christliche Priester, welche Dichter sind? Der Priesterstand meint doch wohl, Gott am allernächsten zu stehen, und die Poesie ist göttlicher Natur. Die Kunst, die wahre, wirkliche Kunst, ist die edle Schwester des Glaubens. Aus welchem Grunde sollte diese Schwester grad die bevorzugten Jünger ihres Bruders mit Verachtung von sich stoßen?«

»So habe ich es nicht gemeint, sondern anders!« entschuldigte sich der Uncle.

»Anders?« lächelte der Chinese. »So habt Ihr also nicht den Priester, sondern den Heiden betont wissen wollen? Klingt das vielleicht freundlicher, besser? Was würde wohl die ›Shen‹ hierzu sagen, Mylord? Also, daß ein Heide Dichter sein könne, ist Euch unbegreiflich? Denkt doch einmal an Eure alten Griechen, die für Euch noch jetzt die allerhöchsten Ideale sind und Euer ganzes, geistiges Leben in einer Weise beeinflussen, welche man vom christlichen Standpunkte aus doch eigentlich zu beklagen hätte? Wem anders als diesen alten, heidnischen Griechen hat Euer England es zu verdanken, daß es den größten aller späteren Dramatiker besitzt? Wird nicht die Sprache, die Philosophie, die Geschichte dieser Heiden in allen Euern höheren Schulen derart begünstigt, daß Eure Gymnasiasten und Studenten fast alle der Meinung sind, wer nicht Griechisch und Latein getrieben habe, dürfe sich nicht zu den gebildeten Menschen rechnen? Selbst Eure Prediger und Priester müssen diese heidnischen Sprachen verstehen und diese heidnischen Dichter studiert haben, sonst würden sie keine christliche Kanzel und keinen christlichen Altar betreten dürfen! Wie sonderbar klingt das zu dem, was Ihr ›fast unbegreiflich‹ nennt! Ich bitte Euch, Sir, öffnet doch die Augen! Ich habe mich sowohl bei den Christen als auch bei den Heiden umgesehen, und zwar bei beiden mit offenen, freundlichen, vorurteilslosen Augen. Hätte der Himmel mir die Gabe verliehen, das beschreiben und veröffentlichen zu können, was ich da beobachtet habe, so würde ich zwei Bücher schreiben, nichts weiter, denn das wäre genug. Das eine Buch würde betitelt sein: ›Das Heidnische im Christentume‹ und das andere: ›Das Christliche im Heidentume‹. Ihr habt, da wir von malajischen Dichtern sprachen, wahrscheinlich keine Ahnung, wie nahe verwandt und wie oft sogar ebenbürtig sie Euern christlichen Dichtern sind. Man staunt zuweilen über diese Gleichheit des geistigen Pulsschlages. Und was besonders den Mann betrifft, von welchem hier die Rede ist, so muß – – – ah, daß ich mich unterbreche, wißt Ihr denn nicht, daß er noch etwas ganz Anderes ist, als bloß nur Oberpriester seiner Malaien?«

»Nein,« antwortete der Uncle.

»Hat er es Euch nicht gesagt, nicht wenigstens angedeutet?«

»Nein, mit keinem Worte.«

»So! Wie mich das freut! Das ist die wahrhaft königliche Bescheidenheit der wahren Menschengröße! Hätte er wohl ebenso geschwiegen, wenn er ein Europäer gewesen wäre? Er ist nämlich der anerkannt größte der gegenwärtigen malajischen Dichter, eine Berühmtheit, soweit die malajischen, chinesischen und indischen Zungen klingen. Grad darum war er es, der von meinem Vater auserwählt wurde, zu uns zu kommen, um unsere ›Shen‹ zu studieren. Er war der beste und der passendste Mann dazu im ganzen indischen und polynesischen Archipel. Ich bin stolz, ja stolz darauf, daß dieser Mann mich achtet. Der Segen, den er auf das Haupt unserer Freundin Mary legte, war nicht der Segen eines gewöhnlichen Menschen, sondern eines Auserwählten, der nicht bloß leere Worte spendet, sondern wirklich das besitzt, was er geben will, wenn er segnet! Und hat er Euch ein Gedicht geschickt, so ist das sicher keine gering zu achtende Gabe. Er tut das nicht, um Euch nachträglich doch noch zu zeigen, wer und was er ist, sondern aus höheren, reineren Gründen. Er hat über Euch nachgedacht und über Alles, worüber er mit Euch sprach. Wahrscheinlich gibt er Euch nun das Resultat dieses seines Nachdenkens, und wenn Ihr es wünscht, so bin ich gern bereit, es Euch zu übersetzen.«

»Aber natürlich wünschen wir das!« rief der Uncle begeistert aus. »Also ein Dichter, ein großer, ein berühmter Mann ist dieser mein guter Freund, der Heidenpriester! Das wundert mich eigentlich nicht, denn das lag mir schon gleich in den Gliedern; es wird mir nur jetzt erst klar. Hier ist der Brief. Bitte, ihn uns vorzulesen!«

Er gab ihn dem Chinesen hin. Dieser las ihn erst still für sich durch, nickte dann langsam und wiederholt mit dem Kopfe und sagte, indem er lächelnd zu uns herüberschaute:

»Es ist so, wie ich dachte: Eine Dichtergabe. An Inhalt reich und an Gedanken schwer. Ein abschließender Strich unter das, was er hier bei Euch erlebte, und dann die Summe, das geistige Resultat, in großen, runden Ziffern. Wie jammerschade, daß ich kein Dichter bin! Die Wiedergabe in Prosa zerstört ganz unbedingt den Wert und ebenso die Wirkung. Gäbe es doch Einen unter uns, der wenigstens Reime machen könnte, so wäre, wenn auch nicht Alles, so doch die dichterische Form gerettet!«

Da blinzelte Raffley mir von der Seite her mit den Augen zu und sagte:

»Wie steht es mit Euch, lieber Charley? In Euern deutschen Schulen wird ja schon in den untersten Klassen Unterricht über Literatur, Dichtkunst und jede Art von Versfabrikation gegeben. Auch habt Ihr schon einmal ein Buch über Astronomie verbrochen. Zwar gibt mir das noch keine Veranlassung, Euch selbst für einen Stern zu halten, aber vielleicht steht es Euch aus Eurer Jugendzeit noch in Erinnerung, wie man die Worte zu wenden und zu drehen hat, um einen Reim fertig zu bringen?«

»Hm!« brummte ich nachdenklich. »Ich habe allerdings schon als Junge gereimt, nämlich zu Vaters oder Mutters Geburtstag und zum neuen Jahre; aber es war auch danach! Dann später baute ich an einer großen, gewaltigen Ballade. Die hieß ›Der Saïstempel‹ und ist mir über alles Erwarten gut gelungen, denn sie fiel noch viel, viel dunkler aus, als die ganze Saïsgeschichte an und für sich schon ist. Und wenn ich mir Mühe gebe, so ist es mir vielleicht möglich, aus dieser allgemeinen Finsternis einige Reime für heut zu retten.«

»Gut, schön, vortrefflich!« lachte da Tsi. »Versuchen wir es! Es ist eine Versündigung an dem Dichter, seine Gedanken in nüchterne, empfindungslose Worte zu kleiden. Suchen wir also nach einem poetischen Gewande. Finden wir es nicht, so haben wir wenigstens unsere Schuldigkeit getan. Ich werde die Uebersetzung wörtlich zu Papier bringen. Sehen Sie dann, was Sie daraus fertig bringen; aber bitte, deutsch, weil dies Ihre Muttersprache ist, die wir ja alle kennen. In der Muttersprache ist eine solche Aufgabe nicht halb so schwer wie in jeder anderen.«

»Das ist richtig!« stimmte Raffley bei. »Und während hier die Uebersetzung gemacht wird, laufe ich hinüber zum Mijnheer. Da liegt ein Buch, welches ›Nieuw Hollandsch-Maleisch, Maleisch-Hollandsch Woordenboek‹ heißt. Das hole ich herüber, um Charley damit zu unterstützen.«

Er stand auf, um wirklich zu gehen.

»Bitte, sitzenbleiben!« bat ich ihn. »Dieses Woordenboek würde mich nur irre machen. Ich verzichte also darauf.«

Das Gedicht war kurz und Tsi also rasch fertig. Ich nahm beides, Original und Uebersetzung, und ging damit nach meinem Zimmer, um ungestört zu sein. Tsi durfte meine eigentliche, deutsche Handschrift nicht sehen, weil sonst der Dichter von ›Tragt Euer Evangelium hinaus‹ sofort verraten gewesen wäre. Ich wählte also eine recht schlechte, abgenutzte Feder und schrieb einen sehr hohen, von links nach rechts hinüberliegenden, lateinischen Duktus. Es gelang. Als ich wieder hinüber kam, gab ich es Tsi. Er las, wieder erst nur für sich allein. Dann warf er einen langen, nachdenklichen Blick zu mir herüber, sagte aber nichts und las die zwölf Zeilen hierauf zum zweiten Male durch.

»Nun?« fragte der Governor. »Wohl schlimme Reimerei, die wir nicht gebrauchen können? Bitte, doch vorzulesen!«

»Sonderbar, höchst sonderbar!« sagte Tsi so vor sich hin. »Es liegt hier Etwas vor, was ich nicht begreifen kann; ich hoffe aber, es doch noch zu erfassen.«

Und nun las er vor, langsam, laut und mit der erforderlichen Betonung:

»O komm, sei wieder Gast auf Erden, Du gottgesandter Menschheits-Christ. Dein Stern soll nie zur Flamme werden, Die das verzehrt, was heilig ist. Wohl mögen Könige und Weise Sich dir mit Gold und Weihrauch nahn, Du aber hast dich nur dem Kreise Der armen Hirten kundgetan. Der Habsucht sei das Gold beschieden, Der Weihrauch dem, der Weihrauch liebt, Uns Armen aber gib den Frieden, Den uns kein Fürst, kein Weiser gibt!«

Als er geendet hatte, schob er das Blatt vor sich hin auf den Tisch, faltete die Hände, legte sie darauf, schaute über uns hinweg, wie in weite Fernen, und sprach:

»Das, das ist es, was der Dichter, der zugleich auch Priester ist, hat sagen wollen! Gibt es Einen unter uns, der irgend Etwas hinzuzufügen oder irgend Etwas hinwegzustreichen hat? Wenn uns kein irdischer Herrscher und keine irdische Weisheit den Frieden gewährt, den der Himmel uns verkündete, so kann nur Der allein uns helfen, der diese Engel sandte! Sie waren die ersten, die allerersten christlichen Missionare. Dank sei der ewigen Liebe, die ihr Evangelium durch diese, durch solche Boten sandte!«

Hierauf erhob er sich von seinem Platze und trat unter die offene Fenstertür, als ob er das Bedürfnis habe, freie, reine Lüfte zu atmen. Er hatte fast wie betend gesprochen. Wir saßen unter dem Eindrucke seiner Worte still, ganz still. Und als der Governor nach einiger Zeit das Schweigen brach, sprach er nicht laut, sondern flüsternd:

»Mir ist, als ob mein Freund, der Priester, hinter mir stehe, zwar unsichtbar, aber doch deutlich zu fühlen. Es weht und wallt mir vom Kopfe aus über den Nacken und über die Schultern herab, als ob sein langes, silbernes Haar das meinige geworden sei, so lind, so weich, wie das süßeindringliche Flehen eines Kindes, in dessen Augen die Tränen stehen, während es, Wange an Wange, den Vater umarmt, um seine krause Stirn unter zornstillende Locken zu verbergen. Wie das nur kommt? Ich war noch nie im Leben so friedlich, so fügsam und so demütig gestimmt wie jetzt, in diesem Augenblicke!«

Raffley antwortete, ganz unwillkürlich ebenso leise:

»Welcher gute Mensch könnte jetzt wohl anders als nur friedlich fühlen! Auch ich habe eine ganz eigene Empfindung. Wenn ich jetzt nach meinem Kopfe griffe, würde es mich gar nicht wundern, die Hand Eures Freundes zu fassen, die er mir aufgelegt hat, wie er es bei Miß Mary tat. Uncle, Uncle, wir Menschen sind vielleicht doch etwas andere Wesen, als wir denken!«

Da kehrte Tsi zu uns zurück, setzte sich wieder nieder und sagte:

»Das war die eine Botschaft, welche der Malaie brachte. Er hatte noch eine zweite, nämlich an Waller. Ich konnte ihn natürlich nicht zu dem Kranken lassen und habe ihn deshalb zur Tochter geschickt. Der Auftrag, den er auszurichten hatte, besaß an sich gar nichts Wunderbares, zeigte sich aber mit einem Nebenumstande verbunden, den ich fast unglaublich nennen möchte. Man hat nämlich in den Trümmern des niedergebrannten Tempels ein Buch gefunden, welches dem Missionar gehört, ein neues Testament in englischer Sprache, vollständig unversehrt. Das brennend zusammenstürzende Gebälk hat den steinernen, leicht emporstrebenden Altar zusammengeschlagen, und unter diesen zerbrochenen Platten lag das Buch. Wie ist es dorthin gekommen? Das wird nur Waller erklären können. Mir ist, als ob ich ihn dabei schon sagen hörte: ›Dieses Wunder spricht für mich. Grad durch das zusammenbrechende Heidentum wurde das christliche Evangelium beschützt!‹ Für mich aber liegt das Unbegreifliche nicht hierin, sondern anderswo. Ich erinnere an das geheimnisvolle Gedicht, dessen erste Zeilen Miß Mary vom Winde zugeweht wurden, während sie die folgenden dann in dem Täschchen fand, welches sie bei dem amerikanischen Professor vergessen hatte. Denken Sie sich: Nun hat sich auch die zweite Strophe eingestellt!«

»Wo?« fragte John Raffley schnell.

»In dem erwähnten neuen Testamente. Erst ein Windstoß in Kairo; dann ein Brief eines Professors aus Philadelphia, und heut ein Paket, auf das Sorgfältigste verschnürt, aus den Bergen von Sumatra! Das sind die drei Boten, welche dieses Gedicht für Miß Mary oder, vielleicht noch richtiger, für ihren Vater zusammengetragen haben!«

Er sah uns hierbei der Reihe nach an, um sich an unsrem Erstaunen zu weiden. Darum sagte ich einige Worte, in denen ich auch mich verwundert zeigte. Dann fuhr er fort:

»Man könnte fast an ein Mirakel glauben; aber grad darum, weil ich dies nicht tue, fühle ich mich für diesen geheimnisvollen Vorfall doppelt enthusiasmiert. Das Zusammenfinden der ersten Strophe wäre vielleicht zu erklären. Wie aber kommt die zweite hinauf in den so weltentlegenen, malajischen Kampong? Das Buch ist unbedingt Wallers Testament, nicht etwa ein fremdes. Seine Tochter hat noch oben im Tempel darin gelesen und zwar das berühmte ›Kapitel der Liebe‹ im ersten Korintherbriefe. Sie hatte es ganz absichtlich aufgeschlagen, gedrängt von dem Gedankengange, daß die bei den braven Malaien gefundene Güte und Liebe sie verpflichte, ihrerseits dieselbe Liebe zu üben. Sie weiß genau, daß dieses Papier da nicht im Buche gewesen ist. Und nun, heut, liegt es grad bei diesem Kapitel, und nicht nur das, sondern es trägt auch die Aufschrift desselben! Es ist die Handschrift, das Versmaß, der Reim, der Geist, die Seele desselben Dichters, und doch hat sich außer Waller kein Europäer, kein Deutscher dort oben im Malaiendorf befunden. Ich frage, gibt es Jemand, der eine Erklärung hat?«

»Ich nicht!« gestand der Governor aufrichtig.

John Raffley sah still vor sich nieder; ein leises Lächeln spielte um seine Lippen. Dann hob er den Kopf, wobei sein Auge mich mit einem schnellen Blicke streifte, und sprach:

»Dieser Dichter scheint entweder allwissend und allgegenwärtig, vielleicht auch unsichtbar, auf alle Fälle aber ein außerordentlich pfiffiger Patron zu sein! Wenn es sich später fügt, daß man ihn kennen lernt, muß man ihm fleißig auf die Finger sehen!«

»Das sagen Sie natürlich scherzend,« fiel Tsi schnell ein. »Ich weiß, daß ich die Erklärung nicht zu finden vermag, und will mich darum nicht mit vergeblichen Gedanken quälen, sondern die Sache nehmen, wie sie ist. Und wie ist sie? Sie sollen es hören. Die Lady hat mir das Gedicht für Sie anvertraut.«

Er nahm das von mir geschriebene Blatt aus der Tasche und las:

»Tragt Euer Evangelium hinaus, Indem Ihr's lebt und lehrt an jedem Orte, Und alle Welt sei Euer Gotteshaus, In welchem Ihr erklingt als Engelsworte. Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein; Laßt ihren Puls durch alle Länder fließen; Dann wird die Erde Christi Kirche sein Und wieder eins von Gottes Paradiesen!«

Er schaute uns der Reihe nach an, um zu sehen, welchen Eindruck die Vorlesung auf seine Zuhörer gemacht habe. Dann fuhr er fort:

»Mir kommt es vor, als habe ich den Dichter jetzt entdeckt, oder vielmehr die Dichterin, nämlich unsere ›Shen‹, die Menschlichkeit, welcher der Friede auf Erden höher steht als jedes andere, vergängliche Interesse. Aber der Verfasser ist jedenfalls ein Deutscher, welcher von dem Vorhandensein der ›Shen‹ nicht die geringste Ahnung hat. Oder doch? Gibt es auch für ihn eine ›Shen‹? Eine unsichtbare, überirdische, in deren Geist die unserige, die irdische hier waltet?«

Indem er das Blatt jetzt wieder zusammenfaltete, schien es, als ob sein Gesicht ein ganz anderes geworden sei. Es gibt seelische Feinheiten, zu deren Bezeichnung oder Beschreibung selbst das zarteste Wort noch zu plump sein würde. Mir fehlt der Ausdruck für das, was aus dem Gesichte dieses jungen Chinesen jetzt zu uns sprach. Es war eine Klarheit, eine Innigkeit, ein Enthusiasmus, eine Glückessehnsucht und zugleich schon Glückesahnung, es war – – – wahrscheinlich doch er selbst, sein ganzes Wesen, sein Fühlen und sein Denken, aber verklärt, verschönt und vergeistigt durch etwas Anderes, was nicht zu ihm gehörte, sondern von außen her zu ihm gekommen war.

»Ich bin so froh,« sagte er weiter, »so herzlich froh über das, was ich Ihnen da vorgelesen habe. Wären doch wir es nicht allein, wir wenigen Personen, die es kennen lernen! Könnte es doch von jedem Munde zu jedem Ohre klingen! Möchte es doch nicht nur allein gehört, sondern auch verstanden und beachtet werden!«

Da antwortete John, indem ein halb verstecktes Lächeln um seinen Mund spielte:

»Das ist freilich zu wünschen, und ich denke auch, daß wir nicht die Einzigen sein werden, die es kennen lernen. Es hat schon Mancher weit schlechtere Gedichte gemacht, als dieses ist, und dann sofort den Drucker aufgesucht, um sich in einer Auflage von Zweihundert zu verewigen. Es soll auch Dichter gegeben haben, welche diese Auflage nicht selbst zu bezahlen brauchten, sondern sogar noch Honorar dafür bekamen. Um so weniger brauchen wir uns in Beziehung auf den Mann zu sorgen, um den es sich hier in diesem Falle handelt. Wer seine Gedichte auf so ganz ungewöhnlich schwierigen Wegen in Aegypten, Indien und sogar hier auf den Sundainseln an den richtigen Mann zu bringen weiß, der findet wohl auch anderwärts die gewünschte Zahl von Lesern, wenn er will. Wie es scheint, dichtet er nicht, um seinen kleinen, irdischen Namen bekannt zu machen oder gar zu verewigen, sondern um Gedanken zu verbreiten, die er aus den geistigen Strömungen der Gegenwart herausgreift. Was er sagt, hat er also nicht etwa sich selbst zu verdanken; aber wie und wem er es sagt, das ist von ihm erdacht. Habe ich da Recht, lieber Charley?«

»Gewiß! Vollständig recht!« antwortete ich. »Wer da glaubt, der Dichter sei eine kompakte, imporöse Persönlichkeit, die von nichts Fremdem berührt und durchdrungen werden dürfe, der hat vielleicht einmal gereimt, aber sicher nie gedichtet. Selbst der edelste der Steine, der Diamant, strahlt nicht in seinem eigenen, sondern in geliehenem Lichte, und wer eine Biographie über irgend einen berühmten Dichter schreibt, sollte vor allen Dingen nach den jeweiligen Quellen der Ausstrahlungen dieses Edelsteines suchen und weder den Geburts- oder Fundort und die Fabrik, in welcher er geschliffen wurde, in der Weise betonen, wie es fast stets geschieht. Es stammt gar manche Geistesgröße aus so geistig winzig kleinen Verhältnissen, und es hat so mancher hochberühmte Mann auf Gymnasium und Universität so wenig geleistet, daß man die Wege, auf denen der Genius zu ihm kam und ihn an jedem Tage von neuem besucht, doch endlich einmal nicht mehr in sein Heimatsdörfchen oder in die später durchlaufenen Semester verlegen sollte! Darum wird jeder wahre Dichter viel mehr nach oben als nach unten dankbar sein. Er weiß recht wohl, daß er durch die äußeren Verhältnisse zwar Harfe mit so und so viel Saiten geworden ist, daß es aber wohl keine Harfe gibt, die sich selbst zu spielen vermag.«

Da sah Tsi, der Chinese, mich ganz eigentümlich an.

»Harfe!« sagte er. »Dann kommt der Genius, der jede Zeit hoch überragt, mit seinen tausend Engeln und läßt bald hier, bald dort, bald diese und bald jene Saite rühren. Darum kann das geheimnisvolle Gedicht, von dem wir sprachen, und dessen Quell in Deutschland zu liegen scheint, fast ganz genau dieselben Gedanken haben und desselben Sinnes sein wie das, was der Oberpriester der Malaien schrieb! Wären es doch überall nur solche Engelshände und leider nicht auch andere! – – Doch, ich muß mich verabschieden. Ich habe heut zu wachen, bis morgen früh, bei Waller.«

»Ist das unbedingt nötig?« fragte ich.

»Jetzt noch, ja. Wir wechseln ab, Miß Mary und ich.«

»Darf Keiner von uns sich beteiligen? Es würde mir nichts, wirklich gar nichts tun, einmal eine Nacht nicht zu schlafen. Bitte, lassen Sie mich heut Ihre Stelle einnehmen!«

Mein Wunsch schien ihm nicht ganz unwillkommen zu sein, doch entschied er erst nach einigem Zögern:

»Ich nehme Ihr Opfer an, weil ich weiß, daß es für Sie von großem Interesse ist, an meinen psychologischen Beobachtungen teilzunehmen. Kommen Sie noch vor zehn Uhr zu mir! Es ist nötig, daß ich Sie vorbereite.«

Er ging.

Als er fort war, stellte John sich hoch und breit vor mich hin, sah mir mit listigem Augenzwinkern in das Gesicht und fragte mich:

»Es ist Euch doch wohl ein ›Sihdi, welcher Gedichte macht‹, bekannt, Charley?«

»Freilich!« lachte ich.

»Kann dieser Sihdi auch solche Reime machen, wie wir vorhin gehört haben?«

»Er hat sich vorgenommen, es zu versuchen.«

»Ihr wollt mir entweichen. Also gerade und glatt heraus: Hat dieser Sihdi jenes Gedicht gemacht?«

»Nein!« behauptete ich.

»Halloo! Ich kenne Euch als einen streng wahrheitsliebenden Mann; jetzt aber scheint Ihr doch eine Ausnahme machen zu wollen! Ich möchte diese Verse keinem Andern als nur Euch zuschreiben!«

»Nehmt Herzensdank für die gute Meinung, die Ihr von mir habt! Aber ich sagte soeben, daß man zwischen Harfe und Spieler zu unterscheiden habe. Wenn sich der Betreffende nicht nennt, so tut er das jedenfalls aus Gründen, die wir achten müssen. Warum also nach ihm forschen und fragen?«

»Well! Ihr habt in einem so bestimmten Tone ›Nein!‹ gesagt, daß – – –«

»Bitte,« unterbrach ich ihn; »diese Antwort galt nicht Eurem Fragegedanken, sondern Eurer Ausdrucksweise. Ihr fragtet, ob dieser Sihdi jenes Gedicht ›gemacht‹ habe. Es gibt freilich tausende und abertausende von Gedichten, welche ›gemacht‹ worden sind; sie werden für Gedichte ausgegeben, sehen ihnen auch ähnlich, sind aber keine Gedichte. Wahre, wirkliche Gedichte werden nicht gemacht, wenigstens nicht hier bei uns; sie entstehen in jenen Sphären, aus denen die Inspiration auf Engelsflügeln niederschwebt, um dem nach oben lauschenden Poeten die Stirn zu küssen und ihm das Auge und das Ohr für eine Welt zu öffnen, die Anderen verborgen bleibt. Der Dichter ist darum zugleich auch Seher. Das ist das untrüglichste Erkennungszeichen. Wer nicht Seher ist, kann auch nicht Dichter sein! Schaut in die Heilige Schrift! Wie oft beginnen die Reden der Propheten: ›Und ich sah‹ oder ›Und ich hörte eine Stimme.‹ Sie waren Seher, und lest nun ihre Worte, so werdet Ihr erkennen, daß sie als Seher Dichter waren. Das Eine ist nicht von dem Andern zu trennen! Dem wahren Dichter kommt aus einer Welt, die mit der unsrigen zusammenhängt, auf leisen Schwingen schöngebor'ne Kunde; er nimmt sie auf; er gibt sie weiter fort, und wer sie hört, der wird von ihr berührt, als sei sie ein Gedicht aus Engelsmunde. Das ist die Poesie, die aus dem Himmel stammt; kein Geist, kein Mensch kann sie uns niederbringen; dort oben, wo das Meer des Lichtes flammt, muß jeder Strahl in goldnen Reimen schwingen. Und steigt er nieder, nimmt er Formen an, um sich dem Menschensinn zu offenbaren, und diese Formen, sie bestehen dann für unsre Nachwelt noch nach tausend Jahren!«

Raffley und der Governor standen da und sahen mich aus großen Augen an. Es war wie eine Begeisterung über mich gekommen, und ich hatte gesprochen, ohne vorher zu überlegen, oder gar die Worte metrisch abzuwägen.

»Wißt Ihr nun, was ein Gedicht ist?« fragte ich. »Und wißt Ihr nun, wer eigentlich das Recht besitzt, sich einen Dichter zu nennen?«

Da antwortete der Neffe:

»Ich habe es nicht mit der Heimat der inspirierenden Kräfte zu tun, sondern mit der von ihnen auserwählten Persönlichkeit, und diese ist für mich der Dichter. Sagt mir nun noch hundert- oder tausendmal Alles, was ihr wollt, aber das Gedicht, von dem die Rede ist, wird doch mit keinem andern Namen, als nur mit dem Eurigen gedruckt! Ich bitte, mir dann mitzuteilen, in welchem Werke; es muß sofort in meine Bücherei!« –

Es war halb zehn Uhr, als ich zu Tsi ging. Er befand sich in seinem Zimmer und sagte mir, er habe Mary mitgeteilt, daß ich wachen wolle, und sie sei damit dankbar einverstanden gewesen. Dann fuhr er fort:

»Ich hatte die Absicht, Ihnen eine ausführliche Erklärung des Krankheitszustandes zu geben, und dann wollte ich Ihnen für jeden in der Nacht möglichen Fall die betreffenden Verhaltungsmaßregeln vorschreiben; aber ich will doch lieber davon absehen, dies zu tun. Sie sollen Ihres heutigen Amtes in möglichster Unbefangenheit walten. Sie sollen diesen scheinbar Geisteskranken nicht von meinem Standpunkte, sondern von dem Ihrigen aus betrachten, und dann werden wir sehen, welche Differenzen sich zwischen beiden ergeben. Kommen Sie also! Ich führe Sie nach der Krankenstube!«

Er ging voran und öffnete die Tür. Das Zimmer war groß; der schöne Abendhauch hatte ungehindert Zutritt. Auf dem Tische brannte eine halb verhangene Lampe. Der Kranke lag unter einer leichten Decke lang ausgestreckt im Bette, an welchem Mary saß. Als sie mich sah, stand sie auf.

»Wie recht, daß Sie kommen!« sagte sie leise. »Sie werden ihn kaum wieder kennen; aber ich bin nicht mehr traurig, sondern froh, denn Herr Tsi hat mir versichert, daß Vater gerettet sei. Er kennt mich noch nicht, ist aber in den Zwischenräumen tiefer Apathie geistig ungemein beschäftigt. Womit, das werden Sie nicht erraten. Kommen Sie; nehmen Sie Platz!«

Tsi schob mir einen Stuhl an die Seite des ihrigen. Waller hatte allerdings ein fast leichenhaftes Aussehen. Das Gesicht war zum Erschrecken eingefallen. Ich sah das Skelett eines Kopfes vor mir, und die Hände bestanden auch nur bloß aus Knochen, um welche sich die Haut in lockeren Falten legte. Wir sprachen nicht. Es wäre mir schwer geworden, bei diesem Anblicke Worte zu machen.

Der leise, nicht unangenehme Duft des Ko-su erfüllte den Raum, so ähnlich, wie wenn Weihrauch durch die Halle einer Kirche getragen worden ist, und wie dieser Gott geweihte Ort an andere, höhere Welten mahnt, so zog auch hier das Ringen einer zwischen dem Diesseits und dem Jenseits schwebenden Menschenseele unser Denken und Empfinden nach der Grenze hin, an welcher Alles aufzuhören scheint, weil Alles dort beginnt. Seelenäußerungen, an dieser Grenze für die zurückliegende Erde in Menschenworte gekleidet, sollen dem, der diese Worte hört, nicht anders als nur heilig sein!

Es herrschte tiefe Stille im Zimmer; auch draußen regte sich nichts; der Kranke lag wie tot. Nach einiger Zeit gab Mary mit der Hand ein Zeichen. Ich sah, daß er die Lippen bewegte. Dann klang es langsam und leise zwischen ihnen hervor:

»Ich sehe dich, und höre dich, mein Lieb! Du bist nicht tot, du bist in meiner Seele. Du hast es mir gesandt, weil ich's vergessen hatte.«

Er hatte seine Stimme bei diesem letzten Satze in der Weise erhoben, wie man vor einem Doppelpunkte zu lesen pflegt, und fügte nun mit stark und voll niedersinkender Stimme hinzu:

»Tragt Euer Evangelium hinaus, Doch ohne Kampf sei es der Welt beschieden.«

Hier hielt er inne; das also hatte Mary gemeint, als sie sagte: »Womit, das werden Sie nicht erraten.« Er bog nach diesen Worten den Kopf zur Seite, als ob er auf Etwas lausche, und sprach dann ebenso langsam und ebenso leise wie vorher weiter:

»Vergib! Ich war vom Antichrist betört! Er tat, als ob er unser Jesus sei! Ich habe nur auf ihn, auf ihn gehört und glaubte mich von allem Irrtum frei. Du warntest mich; du hattest ihn durchschaut, sahst ihn in seiner ganzen Häßlichkeit; in deiner Stimme ward mein Engel laut, der Engel unserer ganzen Christenheit – – –«

Mary hatte, vielleicht es gar nicht wissend, ihre Hand auf die meine gelegt.

»Er spricht mit Mama,« flüsterte sie mir zu. »Er tat es schon vorhin.«

Sie nahm meine Hand fester, als ob sie für das nun Folgende nach einem Halte suchen müsse. Ihr Vater sprach nach dieser Pause weiter:

»Du gingst von mir – – ich war mit ihm allein, mit ihm, vor dem du mich so oft gewarnt, und darum konnte es nicht anders sein: er hat mich vollends, durch mich selbst, umgarnt. O glaube mir, ich hab es nicht gedacht, daß Christi Wege andere Wege sind; der fromme Dünkel hat mich irr gemacht; er ist der Hölle größtes Lieblingskind – – –«

Hier holte er zum erstenmal tiefer Atem, so daß man seine Brust sich bewegen sah. Seine Züge waren bisher während des Sprechens unverändert geblieben; nun wurden sie von dem Ausdrucke seelischer Pein bewegt, als er fortfuhr:

»Und seht Ihr irgendwo ein Gotteshaus, So stehe es für Euch im Völkerfrieden!«

Nach diesen Worten schlug er die hagern Hände zusammen, riß die Augen auf, starrte über sich empor und sprach, lauter und schneller als bisher:

»Ich sehe, wie die Flamme aufwärts steigt, die ich entfacht mit frevlerischer Hand. Ich sehe, daß sich weinend zu mir neigt der Engel, den du mir herabgesandt. Ich sehe dich; ich seh dein teures Haupt. Wie trauert doch dein liebes Angesicht! Was tat ich doch! Was habe ich geglaubt! Ist Feuerbrand denn wirklich Christenpflicht?«

Jetzt nahmen die scharfen Züge des Missionars einen freundlicheren Ausdruck an; die ängstlich verschlungenen Hände lösten sich, und es erklang in ruhigerem Tone aus seinem Munde:

»Ich danke dir; ich danke dir wie sehr, daß du mir nahst, du lichtes Himmelsbild. O komme doch, o komme zu mir her, und schau mich an wie früher, warm und mild. Bring mir den Segen, den der Himmel gibt, und sage doch, daß mir verziehen ist. Lehr' so mich lieben, wie der Herr uns liebt – – –«

Er hielt inne. Indem er tief, tief Atem holte, breitete sich ein schönes, glückliches Lächeln über sein Antlitz, und mit froh erhobener Stimme fügte er hinzu:

»Dann bin ich, was ich niemals war – – ein Christ!«

Hierauf schloß er die Augen, faltete die Hände auf der Brust und sprach nicht weiter. Er schien zu schlafen. Darum entfernten sich nun die beiden Andern, und ich blieb mit ihm allein.

Ich setzte mich hinaus auf die Veranda. Es war schön sternenhell. Nächtlich sich erschließende Blumen sandten mir ihre Düfte zu. Ringsumher lag tiefe Stille. Ich saß hier nur fünf Grade vom Aequator entfernt; wie weit von der Heimat und wie ihr so nahe! Die Heimat des Körpers ist das Grab; der andere, edlere Teil des Menschen aber ist im Jenseits daheim, aus welchem er stammt. Irdische Orte können ihm, falls er dort Liebe findet, zu einem vorübergehenden Heime werden, doch nur für hier, nicht aber auch für dort. Oder doch vielleicht? Wo habe ich mir dieses Hier und wo jenes Dort zu denken? Sollte es trotz alledem möglich sein, daß der »sogenannte« Tod nicht die Macht besitzt, dem wirklichen Leben Grenzen zu setzen? Weder räumliche noch zeitliche? Hatte nicht soeben da drin im Zimmer Waller mit seiner Frau gesprochen? Ein Lebender mit einer Verstorbenen? Oder war das nicht Wirklichkeit, sondern nur Traum, nur Fieber, nur Wahnsinn?

Da horch! Es gab drin im Gemache ein Geräusch. Ich ging leise hinein. Der Kranke lag im Schatten, doch konnte ich seine Gesichtszüge unterscheiden. Er sprach sehr, sehr leise mit sich selbst. Da setzte ich mich an den Tisch und lauschte. Das Flüstern wurde vernehmbarer. Ich konnte einzelne Worte, dann aber bald ganze Sätze verstehen. Für mich waren sie ohne Zusammenhang, wohl aber nicht für ihn. Doch plötzlich rief er so laut und so deutlich, als ob es Viele, sehr Viele hören sollten:

»Gebt was Ihr bringt, doch bringt nur Liebe mit, Das Andere alles sei daheim geblieben!«

Woher hatte er diese Zeilen? Natürlich von seiner Tochter! Aber auf welche Weise? Kann ein Mensch, der ohne Besinnung liegt, sehen oder hören und sich sogar auch merken, was Andere lesen? Indem ich mich dies fragte, fuhr er mit wieder gesunkener Stimme fort:

»Du stehst bei mir; ich sehe dich im Licht, wie ich dich nie vorher so licht gesehn. Bist du die Liebe? Bist du dies Gedicht? Was ist mit dir, was ist mit mir geschehn? Hab ich an dich, die Liebe, denn gedacht, als meine Seele noch am Eifer hing? O sag, wer hat dich zum Gedicht gemacht, grad als ich mich so schwer an dir verging?«

Er schloß in leisem, klagendem Tone, langsam und ruhig sprechend; nun aber fuhr er hastig fort:

»Wer drückte Petri Schwert mir in die Hand, vor welchem nur der Knecht den Nacken beugt? Wer machte es in ihr zum Feuerbrand, der gegen meinen eigenen Glauben zeugt? Wer gab mir aus der Heimat Alles mit, was christlich heißt und doch nicht christlich ist – – –? War's der etwa, der an dem Kreuze litt – – –?«

Er hob die dürre, skelettartige Hand empor, als ob er eine Vision vor sich habe, und schloß, schwer und wieder langsam sprechend:

»Sag mir, o Christus, sag, ob du es bist!«

Die Hand blieb einige Zeit erhoben; dann sank sie ruckweise, wie zögernd, nieder. Ueber seine soeben noch erregten Züge glitt ein helles, warmes Lächeln; er schüttelte wenn auch nur schwach, doch bemerkbar den Kopf und sprach, sich selbst beantwortend:

»Grad weil sie einst für Euch den Tod erlitt, Will sie durch Euch nun ewig weiter lieben.«

Hierauf legte er die Hände zusammen wie ein Kind, welches sich über Etwas freut, und sprach in frohem Tone weiter:

»O nein, o nein; so weit der Himmel reicht, erklingt noch heut dein großes Liebeswort, und jeder Tag, der aus dem Morgen steigt, verkündet es der Menschheit weiterfort. Du hast gelebt – – zu unserer Seligkeit; du hast geliebt – – geliebt die ganze Welt; im Leben der Geringste deiner Zeit, bist du im Lieben ewig, ewig Held!«

Trotz seiner großen Schwäche hatte er seine Stimme zum Tone der Begeisterung erhoben. Das schien ihn angegriffen zu haben; er schloß die Augen, welche er offen gehabt hatte, und lag längere Zeit ohne Wort und Bewegung da. Dann sah ich, daß er die Hand erhob und sie bewegte, als ob er Jemand zu sich herwinke. Dabei sagte er:

»Gib mir die Hand! Ich will dein Eigen sein; du hast mich früher ja so oft geführt. Ich handle falsch, ich gehe irr allein; das hab ich, als du fehltest, ja gespürt. Du gingst zwar fort, in jenes Christenland, wo auch die seligen Heiden Christen sind, doch ist dir ja der Weg zu mir bekannt; o komm, o komm, du lichtes Himmelskind!«

Wer war es, der ihm in Gestalt seiner Frau vorschwebte? Ein Truggebilde, ihm vom Traume, vom Fieber, vom Wahnsinn vorgetäuscht? Er sprach mit diesem Wesen, in kurzen, abgebrochenen Sätzen, und so leise, daß ich nichts verstehen konnte. In den Zwischenpausen lauschte er, als ob er Antwort höre. War es die Hand des Traumes, des Fiebers, des Wahnsinnes, welche alle Spuren der Qual, des Leides aus dem armen, eingefallenen Gesicht strich? Es lag so rührend ergeben, so zufrieden lächelnd da, fast selbst wie eine Vision, auf dem hellen, weichen Kissen! Erst nach längerer Zeit verstand ich wieder, was er sagte, ein bittendes Wort:

»O, falte mir die Hände jetzt; ich will zum Vater treten. Ich habe sein Gebot verletzt und muß um Gnade beten.«

Ich sah gespannt zu ihm hin. Seine Hände näherten sich einander; sie falteten sich, aber nicht als ob er dies selbst tue, sondern als ob sie ihm, Finger um Finger, von einer mir unsichtbaren Person zusammengelegt würden. Dann flüsterte er:

»Ich danke dir; es ist geschehn; du gabst mir frommes Zeichen und sollst, um beten mich zu sehn, mit mir zum Himmel steigen!«

Nach diesen Worten war es mir, als müsse ich das Flügelrauschen Derer vernehmen, welche, von mir ungesehen, herbeischwebten, um sein Gebet in Empfang zu nehmen und dorthin zu tragen, wo alle Gebete der Menschenkinder zum Herzen des Vaters klingen, um in demselben für ewig aufbewahrt zu werden. Auch ich faltete meine Hände, denn es war ein heiliger Augenblick, so unwiderstehlich ergreifend, daß gewiß auch jeder Andere an meiner Stelle ganz dasselbe getan hätte, was zu unterlassen mir unmöglich war.

»Amen!« erklang es nach einiger Zeit. Er fügte noch ein zweites, lauteres »Amen!« hinzu, und dann – – – habe ich nie in meinem Leben ein Gesicht gesehen, auf welchem der innere Friede sich schöner und deutlicher ausgedrückt hätte, als auf dem seinigen. Von jetzt an lag er still, und die ruhigen, regelmäßigen Atemzüge ließen vermuten, daß er eingeschlafen sei.

Es herrschte die tiefste Stille im Zimmer; auch draußen regte sich nichts; Waller lag wie tot. Auf dem Tisch, an dem ich saß, lag ein Buch. Es war mein »Am Jenseits«, welches John Raffley für Miß Mary von der Jacht mitgebracht hatte. Sie hatte hier während des Wachens sehr oft darin gelesen und, wie ich bald erfuhr, Tsi auch. Ich schlug es auf, denn es gab ja sonst nichts weiter zu tun, und las.

Diese Lektüre versetzte mich in jene meinen Lesern wohlbekannte Wüstennacht, in welcher wir den geheimnisvollen »Sohn des Lichtes« zu uns sprechen hörten. Ich las mich nach und nach vollständig in die Stimmung hinein, aus welcher heraus ich dieses Buch geschrieben hatte. Auch die damalige Szenerie tauchte in meinem Innern auf. Ich las und sah und hörte zu gleicher Zeit, daß der blinde Münedschi mich aufforderte, mit ihm zu gehen; er habe mich zu führen. Ich folgte ihm. Mein Hadschi Halef und der persische Basch Nazyr gingen mit. Von einem Nichtsehenden und aber doch viel mehr als wir selbst Sehenden wurden wir vom Lagerplatze hinaus in die Wüste geführt, auf eine aus ihr aufragende, unwegsame Felseninsel. Oben angekommen, sagte er zu mir:

»Setze dich auf diesen Stein! Ich werde stehen bleiben, denn nur der Leib ermüdet, der Geist aber kennt keine Verringerung seiner Kraft, und nicht mein Körper, sondern dieser mein Geist ist es, den du jetzt zu dir sprechen hören wirst!«

Ich folgte dieser Aufforderung, und Hadschi Halef und der Basch Nazyr ließen sich auch, und zwar eng neben mir, nieder. Hierauf stand der Blinde eine ganze Weile hoch aufgerichtet und unbeweglich da, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, als ob er in die Ferne lausche. Wir befanden uns in einer ganz ungewöhnlichen Spannung, der wir aber keine Worte gaben, denn in der ganzen Situation und wohl auch in uns selbst lag Etwas, was uns das Sprechen verbot. Da begann er:

»Seid mir gegrüßt, Ihr Pilger dieser Erde, gegrüßt in der Sprache dieser Eurer Welt! Wenn ich zu Euch in unserer Weise spräche, Ihr würdet nichts vernehmen, denn Euer Ohr hat nur Empfängnis für den Schall, durch Schwingungen der Luft zu Euch getragen; wir aber sprechen nicht durch dieses Mittel, und unser Wort ist kein Geräusch, ist Tat!«

Hier, grad bei dieser Stelle war ich im Lesen angekommen, da krachten hinter mir die Fugen von Wallers Lager. Ich stand rasch auf und drehte mich um. Er hatte sich aufgerichtet; er saß. Woher hatte er, der Todesschwache, die Kraft dazu erhalten? Er schaute starr vor sich hin, hob drohend die Faust empor und rief mit tiefdröhnender Baßstimme aus:

»Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Samen und ihrem Samen. Dieser soll dir den Kopf zertreten, du aber wirst ihn in die Ferse stechen!«

Er blieb fast eine ganze Minute so sitzen, mit geballter Faust und ausgestrecktem Arm. Dann fiel er hintenüber und lag mit geschlossenen Augen so still, wie er vorher gelegen hatte.

Was war das gewesen?! Woher die tiefe Stimme, dieser volle, schwere Baß, den Wallers Organ gar nicht besaß? Und woher plötzlich diese Lungenstärke, welche die Worte hinausgerufen hatte, als ob sie für eine große, weit ausgedehnte Menge von Zuhörern berechnet gewesen seien?

Ich ging leise zu ihm hin und lauschte. Sein Atem ging fast unhörbar, aber in regelmäßigen Zügen. Ich berührte ihn; er schien es nicht zu fühlen. Ich hob seinen Kopf ein wenig empor, um ihm das Kissen bequemer zu legen; es geschah ohne die geringste Lebensäußerung von ihm. Da kehrte ich an den Tisch zurück und las im Buche weiter.

Stunde um Stunde verrann. Mitternacht war längst vorüber. Die tiefe Stille begann, mich zu ermüden, und das gedämpfte Lampenlicht strengte meine Augen an. Ich stand also von meinem Stuhle auf und ging wieder hinaus auf die Veranda. Da setzte ich mich nieder und dachte über das Gelesene nach. Da, plötzlich erscholl im Zimmer drin dieselbe tiefe Stimme:

»Es ist vollbracht! Da neigte er sein Haupt und ging hinüber!«

Ich wartete ein Weilchen, ehe ich mich wieder in das Zimmer begab. Er hatte sich abermals aufgerichtet gehabt, denn er lag jetzt anders als vorher. Ich schob ihm das Kissen wieder unter, und er regte sich hierbei ebenso wenig wie bei dem vorigen Male. Er war wie tot, wenn auch nicht starr und steif. Da kehrte ich nach meinem Sitze in der Veranda zurück.

Noch glänzte der Sternenhimmel in seiner südlichen Pracht über mir; aber ich achtete heute weniger als sonst auf seine strahlenden Lichter. »Warum? Ich dachte über Wallers Worte nach. Die erste biblische Verheißung – – – und dann das große Schlußwort des Erlösungswerkes! Welche unendliche Fernen liegen oftmals zwischen Beiden, und wie nahe gehören sie doch eigentlich zusammen! Das eine im verlornen Paradies, das andere auf Golgatha gesprochen! Zwischen beiden der Leidensweg aus dem Erdenreiche empor zum Himmelreiche! Wo ist dieses Himmelreich? Etwa im Jenseits erst? Hat Christus nicht durch seine Gleichnisse gelehrt, daß es bereits hier auf Erden sei? Und wenn es so wäre, wo hätte man es da wohl zu suchen? Auf welche Weise wäre es da zu erreichen und zu erlangen?«

Eben legte ich mir diese Fragen vor, da hörte ich, daß Waller sich wieder bewegte, und dieselbe Stimme, die schon zweimal erklungen war, ertönte wieder:

»Wahrlich, ich sage Euch, es sei denn, daß Ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so könnt Ihr das Reich Gottes nicht erlangen!«

Das war im höchsten Grade überraschend. Ein Anderer an meiner Stelle wäre vielleicht gar erschrocken. Eine so laute und sofortige Antwort auf meine nur im Stillen gedachte Frage! Oder lag dieser dritte Bibelvers in der Fortsetzung der logischen Linie, welche die beiden ersten verband? Wenigstens für Waller, in dessen Innern es arbeitete, während sein Körper nur an hervorragenden Stadien mit ergriffen und bewegt zu werden schien?

Ich ging zu ihm hinein. Er hatte sich auch dieses Mal wieder erhoben gehabt und lag nun so, daß sein Kopf weicher zu betten war. Als ich dies getan hatte ging ich wieder hinaus und versuchte, mir den Gedankengang des Kranken zu erklären.

Die christliche Theologie pflegt das, was mich beschäftigen wollte, den »Heilsweg« zu nennen. Aber wer, wie ich, nicht Fachmann ist, der läßt solche Grübeleien am besten den sich dazu berufen Fühlenden über. Darum schob ich diese Gedanken bald wieder fort und beobachtete das Nahen des Morgens, der jetzt hell und immer heller zu werden begann und mich schließlich an die brennende Lampe erinnerte, welche drin auf dem Tische stand. Ich ging hinein, um sie zu löschen.

Waller hatte die Augen zu, doch schien er mich gehört zu haben, denn er bat mich mit schwachklingender Stimme um Wasser. Ich gab es ihm, zwar nur löffelweise, aber er trank doch ein ganzes Glas voll aus. Dann öffnete er die Augen und sah mich an, lange Zeit. Ich stand still und ließ es geschehen. Der Blick seiner Augen wurde immer klarer, aber er erkannte mich trotzdem nicht. Da flüsterte er mir zu:

»Sag, bin ich der Missionar Waller – – – oder bin ich noch der Knabe Waller? Ich weiß es nicht genau.«

Da ging es wie eine leuchtende Erkenntnis in mir auf, ganz plötzlich, wie die Sonne auf dem Meere aufzugehen pflegt, und ich antwortete, ohne mich weiter zu besinnen:

»Der Missionar ist umgekehrt. Hier liegt nur noch das Kind, der Knabe Waller.«

»Das Kind! Der Knabe!« lächelte er beglückt. »Ich danke dir, du lieber fremder Mann!«

Er wollte hierauf die Augen schließen, tat aber gerad das Gegenteil, indem er sie weit öffnete, denn soeben drang der erste Sonnenstrahl zur offenen Verandatür herein und überflutete das Krankenzimmer wie mit flüssig diamantenem Golde. Er schaute hinaus, hinaus ins Freie, faltete die hageren Hände und sprach, indem seine Stimme leiser und immer leiser wurde:

»Ein Knabe – – – ein Kind – – – in solchem Lichte! Ist dies das Leben – – –? Ist es der Tod – – –? Oder ist es beides – – –? So, so will ich sterben und dann leben – – – als Kind – – – in diesem Lichte – – – im goldenen Morgenglanz – – – im ersten Sonnenstrahl – – – als Kind, als Kind!«

Hierauf schloß er die Augen, tat einen tiefen, tiefen Atemzug und schlief ein. Das Lächeln des Glückes aber wich nicht von ihm; es spielte um seine Lippen weiter.

Bald darauf stellte Tsi sich ein. Er winkte mir, auf der Veranda zu bleiben, und kam leisen Schrittes zu mir heraus. Ich berichtete ihm, was geschehen war. Er sagte zunächst nichts, sondern schaute still nach dort hinüber, wo die aufgegangene Sonne stand.

»Wie richtig, wie richtig!« erklang es endlich von seinem Munde, indem er wiederholt bestätigend vor sich hinnickte.

»Was?« fragte ich.

»Daß Sie zu ihm gesagt haben, der Missionar sei umgekehrt. Ich glaubte, Ihnen heute früh eine Menge von Erklärungen geben zu müssen. Mit diesem einen Worte aber haben Sie mich all dieser Mühe enthoben. Wer so antworten kann, den brauche ich nicht erst noch zu unterrichten! Ja, der Missionar ist allerdings umgekehrt, wie es scheint. Oder, um dasselbe mit noch anderen Worten zu sagen, will ich mich eines biblischen Ausdruckes bedienen, welcher außerordentlich bezeichnend ist: Der Missionar ist zu seinen Vätern gegangen, zu den Ahnen, von denen er stammte! Wallers Vorurteil war das Vorurteil seiner Väter; das wissen Sie ja längst. Es ist zu ihnen zurückgekehrt.«

»Als der Letzte ihres Stammes,« fügte ich nachdenklich hinzu.

Da machte er eine Bewegung nicht zu verbergender Ueberraschung und fragte schnell:

»Was wissen Sie hierüber? Ich erstaune, diese Bemerkung aus dem Munde eines Europäers zu hören! Woher haben Sie erfahren, was es für dort bedeutet, hier der Letzte seines Stammes zu sein? Ich habe gedacht, Ihr glaubt, der Tod mache einen Strich nur unter das Leben jedes Einzelnen. Wie wahrhaft christlich, daß Sie diesen Einzelnen entlasten wollen, wenn auch nicht ganz! Und wie wahrhaft gerecht, Diejenigen herbeizuziehen, von Denen nicht nur die menschliche Form, der Körper stammt, sondern mehr, viel mehr! Wenn man im Abendlande doch endlich einmal ernstlicher und besser nachdenken wollte über das, was man so unsinniger Weise als unsern ›Ahnenkultus‹ bezeichnet!«

Er machte mit der Hand eine Bewegung, welche bedeutete, daß er zwar gern hierüber weitersprechen möchte, es aber lieber doch nicht tue. Dann fuhr er fort:

»Wissen Sie, was Sie getan haben, als Sie Waller sagten, der Missionar sei umgekehrt?«

»Ja,« antwortete ich.

»Und glauben Sie, richtig gesprochen zu haben?«

»Ich glaube es nicht nur, sondern ich bin überzeugt davon. Der Mensch ist kein willenloses Stein-, Ziegel- oder Holzgebäude, welches sich gefallen zu lassen hat, wer in ihm wohnt und jeden Winkel für seine besonderen Zwecke auszunutzen trachtet. Wir haben unsern eigenen Willen und sind auch sonst nicht ohne allen Schutz, mein lieber Freund!«

»Ja, das ist es, das! Die Psyche ist etwas ganz Anderes, als man denkt, und den Geist kennt man sogar noch weniger als sie. Und weil man sich der richtigen Erkenntnis verschließt, zieht sich durch unser ganzes Leben eine große, endlose Versündigung, welche ihre Kralle nach jedem neugeborenen Menschen ausstreckt, um ihn sich ja nicht etwa entwischen zu lassen. Sie haben heut Nacht Großes, wahrhaft Großes gehört. Es waren Bibelsprüche. Soll ich sie Ihnen auslegen? Nein! Ich bin ja Heide! Ein Anderer mag es tun, ein studierter christlicher Theolog, der sich hierzu ganz besonders berufen gefühlt hat, nämlich Waller selbst! Er mag Ihnen an seinem Körper, an seinem Geiste und an seiner Seele demonstrieren, was ich Ihnen nur in Worten sagen könnte, die unzulänglich sind. Also lassen wir jetzt alles Reden, alle Theorie, und beobachten wir die Tatsachen; ich meine das, was von nun an geschehen wird!«

»Sind Sie dessen so sicher, was geschehen wird?« fragte ich.

»Ja,« antwortete er. »Sie müssen bedenken, daß ich ihn schon volle zwei Wochen beobachtet habe, während Sie nur eine einzige Nacht bei ihm gewesen sind. Für jetzt nun wollen wir schließen. Schlafen Sie einige Stunden! Ich bleibe hier, bis Mary kommt.«

»Vorher noch eine Frage: Miß Mary sagte, ich würde wohl nicht erraten, womit sich ihr Vater in den Zwischenräumen tiefer Apathie beschäftigt. Was hat sie da gemeint?«

»Das geheimnisvolle Gedicht. Er bringt es sehr oft, natürlich, soweit er es kennt. Und da kann ich Ihnen eine psychologische Bemerkung machen, über die Sie sich wahrscheinlich wundern werden. Sie wissen, daß er offenen Geistes nur die vier ersten Zeilen gehört hat, damals in Kairo. Er interessierte sich für sie, las sie öfters durch und lernte sie auswendig. Die nächsten vier Zeilen fand sie bekannlich in ihrem Taschenbuche, als wir auf der Veranda des Hotel Rosenberg saßen. Ihr Vater hatte also nicht die geringste Ahnung von ihnen. Er sprach im tiefsten, körperlichen Schlafe die erste halbe Strophe so häufig vor sich hin, daß ich anzunehmen hatte, sie beschäftige ihn fast immerwährend. Etwas Unvollendetes quält, besonders einen derartigen Kranken. Darum wartete ich, bis er die ersten Zeilen wieder einmal brachte, und fügte sofort und schnell die folgenden hinzu, indem ich sie vorlas, langsam und deutlich, doch nur ein einziges Mal. Sein Körper war wie tot. Ich bemerkte nicht das geringste Zeichen, daß ich gehört worden sei. Ich berührte ihn an verschiedenen Körperpunkten. Ich machte jede mögliche Probe, ob er wachend sei; doch er schlief, schlief fest und war nicht zu wecken. Aber als er dann einige Stunden später das Gedicht wieder brachte, kannte er die zweite Hälfte so genau wie die erste und hat auch seitdem kein Wort von ihr vergessen. Die eigentümlichen Umstände, unter denen er sie zu bringen pflegt, werden Sie noch kennen lernen. Nun aber gehen Sie! Ich wünsche, daß Sie schlafen, wenn auch nur für kurze Zeit.«

So mußte ich mich denn entfernen, obgleich ich noch einige weitere Fragen auf dem Herzen hatte, deren sofortige Beantwortung mir lieb gewesen wäre.

Es war nicht leicht, mir über das, was ich in dieser vergangenen Nacht gehört hatte, klar zu werden. Besonders störte mich der Umstand, daß er in Reimen gesprochen hatte. Er war kein Poet; aber von Mary erfuhr ich, daß ihre Mutter eine Dichterin gewesen sei und einen Band religiöser Gedichte veröffentlicht habe, nach denen Alles klinge, was ihr Vater jetzt in gebundener Rede sage.

Seine körperliche Genesung schien zwar langsam aber sicher voranzuschreiten, doch geistig blieb er, wie er war. Er kannte uns nicht und auch nicht seine Tochter. Er hatte Alles, Alles vergessen und wußte nur noch das Eine, daß er nicht mehr der Missionar Waller, sondern der Knabe Waller sei.

Tsi vermied es, sich über diesen Zustand völliger Erinnerungslosigkeit näher auszusprechen. Er beantwortete hierauf gerichtete Fragen mit der kurzen Erklärung, daß sich diese Lücke nach und nach ganz von selbst ausfüllen werde; nur Ruhe sei vonnöten, weiter nichts.

Aber grad diese Ruhe erlitt jetzt Störungen, welche immer häufiger wurden. Die kriegerischen Vorbereitungen, von denen ich bereits gesprochen habe, brachten in neuerer Zeit Truppenzuzüge, welche die bisherige Stille in ihr gerades Gegenteil verwandelten. Das wirkte derart störend auf Waller, daß Tsi bedenklich zu werden begann. Als hierauf gar auch militärische Uebungen und Exerzitien vorgenommen wurden, bei denen es lauter als laut herging, konnte es unmöglich mehr in Frage stehen, daß wir nicht nur den Kratong, sondern Kota Radscha überhaupt verlassen müßten. Aber wohin? Unten in Uhleh-leh war es wenigstens ebenso schlimm wie hier oben; ja es trat da auch noch die Gefahr der fieberschwangern Küstenluft hinzu, was eine Verschlimmerung anstatt eine Verbesserung ergeben hätte. Es wurde also zu einer Beratung zusammengetreten, welche folgende Betrachtungen und das aus ihnen gezogene Resultat ergab:

Raffley mußte nach China; der Governor mußte nach China; Tsi mußte nach China; Waller mußte nach China; Mary mußte nach China. Und schließlich mußte auch ich nach China, denn ich hatte versprochen, mitzufahren. Es gab unter uns Keinen, der hier in Kota Radscha eigentlich etwas zu tun hatte; wir alle waren im Gegenteile sehr gern bereit, diesen Ort so bald wie möglich zu verlassen. Allein nur Wallers Krankheit hielt uns fest. Darum war es Tsi, der Arzt, von dem wir das entscheidende Worte zu erwarten hatten. Er sagte:

»Ich habe bei diesem Patienten mehr als sonstwo zwischen dem äußeren und dem inneren Menschen zu unterscheiden. Von dem äußeren hoffe ich, daß er die Seereise wohl vertragen wird, denn ich habe gehört, daß er nicht die geringste Neigung zur Seekrankheit besitzt. Nur gute Nahrung, und zwar möglichst frisch, nichts Eingemachtes oder sonstwie Präpariertes. Den innern Menschen hätte ich gern noch länger hier zurückgehalten. Er braucht Stille, Ruhe, Einsamkeit, ungestörte Beschaulichkeit. Ist das auf der Jacht zu haben?«

»Gewiß,« antwortete Raffley. »Ich werde dafür sorgen, daß es ihm in dieser Beziehung an nichts mangelt.«

»Aber Seestürme, vielleicht gar ein Teifun? Bedenken Sie die Aufregung!«

»Wir haben grad jetzt die stille, von solchen atmosphärischen Ereignissen fast stets freie Zeit. Uebrigens arbeitet meine Maschine beinahe vollständig unhörbar, und die ›Yin‹ liegt selbst bei hoher See so immerfort auf leichter, glatter Linie, daß man bei geschlossenen Augen fast nichts vom Wogengang verspürt. Sie ist eben grad in dieser Beziehung ein vollendetes Meisterstück des betreffenden Architekten.«

»Gut; so können wir es wagen. Welchen Kurs gedenken Sie, zu nehmen?«

»Zunächst Singapore. Bitte, anzugeben, wenn wir die Anker heben können!«

»Nicht vor morgen Vormittag. Ich kann noch nicht auf mein Ko-su verzichten, und da es nicht auf hoher See zu wachsen pflegt, so muß ich den heutigen Tag dazu benutzen, mir einen ausreichenden Vorrat anzulegen.«

»Ich sammele mit, denn ich habe schon die Uebung!« erklärte der brave Uncle schnell. »Aber den Sejjid darf man nicht mitnehmen, denn der rauft nur Gras!«

So war also unsere nächste Zukunft bestimmt, und wir rüsteten uns alle, morgen zur Abreise fertig zu sein.

Der heutige Nachmittag stand infolge dessen, was Tsi gesagt hatte, unter dem Zeichen des Ko-su. Ich wollte nach dem Mittagsessen mich dem Governor anbieten, mit ihm Ko-su suchen zu gehen; er war schon fort. Ich klopfte bei John an; er war Ko-su suchen gegangen. Ich ging zu Tsi; er suchte Ko-su. Nun klingelte ich noch Sejjid Omar; er kam nicht, denn er hatte sich entfernt, um Ko-su zu sammeln. Da ging ich allein, selbstverständlich, auch, um Ko-su zu entdecken.

Ich wanderte ein Stück über den äußersten Militärposten hinaus. Da sah ich zwei Personen, welche tief an der Erde hinkrochen, um Pflanzen zu sammeln. Tsi und Omar waren es. Sie schienen sich während dieser Arbeit in sehr heiterer Laune zu befinden; das hörte ich ihren lauten Stimmen an. Und eben jetzt richteten sich Beide aus ihrer gebückten Stellung auf und stimmten ein so lautes und so herzliches Gelächter an, daß ich, der ich den Grund dieser Lustigkeit doch gar nicht kannte, fast auch mit lachen mußte. Aus ihren Gestikulationen dabei ersah ich, daß der Gegenstand des Juxes kein gemeinsamer war, sondern daß Jeder von ihnen den Andern auslachte, der Chinese den Araber und der Araber den Chinesen. Da sahen sie mich, und indem ich mich ihnen schnell näherte, rief mir der Sejjid entgegen:

»Wie schön, daß du kommst, Sihdi! Da kannst du uns gleich sagen, wer es besser versteht, er oder ich!«

»Was?« fragte ich.

»Das Reden! Er sagt, ich mache zu viel Arabisches in das Chinesische hinein. Und ich sage, daß sich das ja ganz von selbst verstehe. Wenn er das Chinesische so ausspricht, daß kein Mensch weiß, was er will, so muß ich ihm das doch arabisch sagen! Und das hält er für falsch! Denke dir, Sihdi, ich habe, während Ihr Eure Fahrt nach den Inseln machtet, beinahe die ganze, ganze chinesische Sprache auswendig gelernt! Wir haben nur dann in einer andern gesprochen, wenn diese Sprache nicht wußte, was arabisch, deutsch oder englisch war. Dann wird diese ihre Unwissenheit, wie du soeben gesehen hast, von uns beiden so herzlich ausgelacht, wie sie es verdient.«

Tsi hatte allerdings innerhalb der beiden vergangenen Wochen, teils zu seiner eigenen Unterhaltung und teils aber auch aus Interesse für Omars Eigenheiten, täglich einige Stunden mit ihm Chinesisch getrieben und in ihm einen in hohem Grade amüsanten Schüler gefunden. Auch er wunderte sich, wie er mir später sagte, über das außerordentliche Wortgedächtnis des Arabers, beklagte aber ebenso die unformale Weise, in welcher da Alles aufgestapelt wurde. In hohem Grade zutreffend, fügte er die Bemerkung bei:

»Ganz wie der Islam, seine Religion! Ein lieber, guter Mensch, im tiefsten Grunde ernst gestimmt, doch äußerlich stets heiter. Für das Hohe, Edle ungemein empfänglich, und doch stets mit dem Kleinen, Gewöhnlichen beschäftigt. Im Kopfe eine erstaunliche Fülle von Ausdrücken, von Worten, deren Sinn und Geist er aber nicht begreift. Fromm von Geburt – ich betone das ganz besonders –, religiös durch die Gewohnheit, würde er sehr leicht für den einzig wahren Glauben zu gewinnen sein, wenn dieser nicht in abendländisch enge, faltenlose Formen gekleidet wäre. Und wenn ich mich nicht irre, so befindet sich der Sejjid bei Ihnen auf dem rechten Weg dazu. Es sproßt und treibt in ihm. Stören Sie das nicht! Leben Sie ihm, wie bisher, das, was er werden soll, durch Ihr eigenes Beispiel vor! Er wird mit Ihnen bis an das Ende der Erde gehen, wenn Sie nicht von ihm verlangen, die Fäden, welche ihn mit seiner materiellen und geistigen Heimat verbinden, pietätlos zu vernichten. Ein derartiges Verlangen fordert, was unmöglich ist! Auch der Europäer weiß, daß der Mensch ein Kind seiner Scholle ist, nicht nur der Acker-, sondern auch der intellektuellen Flur, welche seiner Jugend Nahrung gab. Kann man, ohne ihn zu töten, ihm das nehmen, was diese Nahrung aus ihm machte? Nein! Nie! Jedermann ist davon überzeugt, sogar Eure Buchstabengläubigen, aber freilich nur dann, wenn es sich um ihr eigenes, liebes Ich handelt. Sie verlangen den Mord aller Individualität, natürlich aller anderen, nur nicht der ihrigen! Gehen Sie doch hin in alle Welt, mein Freund, und sehen Sie die Zerstörungen, welche diese Forderung angerichtet hat! – – – Verzeihung! Ich bin auf untergegangene oder dem Untergange nahe Völkerindividualitäten gekommen und wollte doch nur von Ihrem Sejjid Omar, dem Muhammedaner, sprechen. Es war mir zu verführerisch, an seiner Person nachzuweisen, daß es eben nur des stummen Beispiels, nicht aber der Aggressivität bedarf, um aus einem sogenannten Ungläubigen das zu machen, was Omar unbedingt werden wird, wenn Sie nicht den unverzeihlichen Fehler begehen, seine Eigenart zur Gegenwehr zu zwingen!«

Wie fleißig mußte der Chinese während seiner Studienzeit in Europa gewesen sein; wie herrliche Gaben waren ihm verliehen, und mit welchem Vorbedacht und welcher Treue war diesen Studien daheim von seiten seines Vaters, seiner Erzieher vorgearbeitet worden! Vielleicht hatte das Schicksal den Händen dieses jungen Mannes Aufgaben anvertraut, welche nur auf dem Wege, den es ihn führte, zu lösen sind. Die Vorsehung pflegt sich stets im Stillen den rechten Mann heranzuziehen, um dann, wenn ihre Zeit gekommen ist, mit ihm am rechten Orte hervorzutreten.

Er fuhr im Laufe des Nachmittags mit Raffley hinunter nach der »Yin«, um dort Wallers Ankunft vorzubereiten, für welche aber erst der folgende Morgen bestimmt wurde.

Da wir hörten, daß der holländische Gouverneur am nächsten Tage nicht in Kota Radscha sein werde, so machten wir ihm noch heut unsere feierliche Dank-und Abschiedsvisite, bei welcher wir aber bald herausfühlten, daß dem einfachen, wackeren Mijnheer ein herzlicher Händedruck ohne alle Feierlichkeit viel lieber gewesen wäre. Den materiellen Dank, so was man Bezahlung zu nennen pflegt, in klingenden Münzen auszusprechen, das überließen wir John Raffley, weil er nicht nur das beste Talent, sondern auch mehr »Talente« In Griechenland und Rom eine Geldsumme von 4-5000 Mark. als wir Anderen dazu besaß. In welcher Weise er dieser silbernen oder gar goldenen Verpflichtung nachgekommen war, das sahen wir, als wir am Morgen den Kratong verließen. Die ganze, allerdings nicht sehr imponierende Heeresmacht desselben hatte Aufstellung genommen, und auf jedem einzelnen Gesichte war mit größter Deutlichkeit der wehmütige Gedanke zu lesen: Wenn doch öfters so ein Dysenteriekranker mit solchen Begleitern käme! Die Dysenterie ist leider immer da; aber solche Lords, die sieht man wohl nicht wieder!

Das beste und tiefste Verständnis für dieses Bedauern schien mein Sejjid Omar zu empfinden. Er ging von Mann zu Mann, um Jedem die Hand zu drücken, und tat dies mit hoch aufgerichteter Gestalt und einem so herablassenden Mäcenaslächeln, als ob er sein ganzes, bei mir angesammeltes Diensteinkommen unter sie verteilt habe.

Wir hatten eine leichte Sänfte konstruiert, welche so lang war, daß der Kranke ausgestreckt in ihr liegen konnte. Acht Träger wechselten einander ab. So brachten wir ihn bequem und leicht bis auf den Landesteg, und da die See so ruhig war, wie wir nur wünschen konnten, ging auch die Einschiffung in einer Weise von statten, von welcher Waller nicht im geringsten angegriffen wurde.

An Bord angekommen, sah ich nun, was Raffley und Tsi mir noch gar nicht gesagt hatten. Nämlich John, der liebe, liebe, prächtige Mensch, hatte dem Kranken seine eigene Kajüte überlassen. Sie war ausgeräumt und in ein Pflegezimmer verwandelt worden, wie man es sich besser, bequemer und gesünder gar nicht denken konnte. Nur das Porträt mit seinem duftenden Blumenrahmen war geblieben, eine Aufmerksamkeit oder vielmehr ein Opfer, dessen Größe nur mit der Herzensgüte Raffleys zu vergleichen war. Wo dieser wohnte, sah ich jetzt noch nicht; wir Anderen aber hatten alle dieselben Räume wieder, in denen wir vorher untergebracht gewesen waren.

Als Tsi sich in Penang zu uns gesellt hatte, war nicht daran zu denken gewesen, daß er für eine längere Zeit der Gast der »Yin« sein werde. Er verlor kein Wort darüber, ob seine Bereitwilligkeit ihm Störungen bringe oder gar ihm Opfer auferlege, und bat nur darum, daß wir wieder drüben anlegen möchten, damit er für kurze Zeit an das Land gehen könne, um Briefe auf die Post zu geben und seine dortigen Angelegenheiten zu ordnen. Dieser Wunsch wurde ihm natürlich erfüllt; dann gingen wir sofort nach Singapore, wo eine reichliche Menge Masut, welches in Penang nicht zu haben gewesen war, für die Feuerung aufgenommen wurde. Hierauf ging es auf der Hongkong-Linie dem geheimnisvollen Norden zu.

Ich nenne ihn geheimnisvoll, weil er es für uns war. Außer Raffley wußte Niemand, wohin wir gingen, und dieser zeigte, gegen seine sonstige offene Art, keine Geneigtheit, uns Auskunft zu erteilen. Als Mary Waller zwei Tage, nachdem wir Singapore verlassen hatten, bei Tafel eine hierauf bezügliche Frage an ihn richtete, antwortete er:

»Bitte, Mylady, lassen Sie das für einstweilen noch mein Geheimnis bleiben! Ich werde gewiß dafür sorgen, daß Jeder von uns sein besonderes Ziel erreicht; vorher aber haben wir ein gemeinschaftliches, für welches wir hier wie von einer gütigen Fee zusammengeführt worden sind. Folgen wir ihr mit dem Vertrauen, auf welches solche höhere Wesen Anspruch haben!«

Sein Wunsch wurde natürlich beachtet und dieses Thema also nicht wieder als Gesprächsgegenstand behandelt. Umsomehr wendete sich unsere Aufmerksamkeit dem Befinden des Kranken zu, welches uns ganz selbstverständlich im höchsten Grade interessierte, zumal es sich dabei um ganz eigenartige, rätselhafte Zustände handelte. Nur der junge Arzt schien die Lösung dieser Rätsel zu kennen. Er war so froh, sie in seine Hand gelegt zu sehen, so heiter, so zuversichtlich; er kam mir fast wie eine glückliche Mutter vor, welche mit unendlicher Liebe das körperliche und geistige Werden ihres Kindes überwacht. Sein Vertrauen teilte sich auch Mary mit. Beide waren in der Pflege des Vaters eng vereint; sie schienen unzertrennbar zusammen zu gehören, und der Gedanke, daß sie einander früher nicht gekannt hatten, wollte mir mit jedem Tage fremder werden. Man spricht von Seelen, welche sich, und seien sie räumlich noch so weit getrennt, ganz unbedingt auf Erden finden müssen, von Wesen, welche einst vereinigt waren und sich wieder zu vereinigen haben. Wer kann wohl sagen, ob das ein Aberglaube sei?

Es ist gewißlich wahr, daß um Genesende sich eine Atmosphäre bildet, welche ethisch reinigend und veredelnd wirkt. Es gab an Bord, selbst unter der Schiffsbemannung, keinen einzigen rohen Menschen, und doch fühlte Jeder von uns in sich das Streben, recht lieb und gut zu sein, als ob er es bisher noch nicht gewesen wäre. Ich sah einmal ein Gemälde, welches einen Rekonvaleszenten zeigte, hinter dem, von ihm und seiner Umgebung ungesehen, ein Engel stand, welcher sie alle segnete. Der Künstler hatte es verstanden, der von mir erwähnten Erfahrung so, wie die wahre Kunst es will, Gestalt zu geben. Eine solche segnende Engelshand schien auch über uns zu walten. Wir sahen sie nicht, aber ein Jeder wußte, daß der warme, weiche und Allen bemerkbare Hauch der Liebe und des Friedens von der Stelle ausging, an welcher der im Rauch und Qualm und Ruß des brennenden Tempels verschwundene Geist durch einen neuen, friedlich denkenden ersetzt werden sollte.

Was habe ich da gesagt! Ein Geist sei zu ersetzen! In einem und demselben Körper! Durch einen neuen, einen vollständig andern!

Diese Gedanken beschäftigten nicht nur mich, sondern auch Raffley und den Uncle. Den Letzteren ganz besonders, weil es ihm als unmöglich erschien, sie zu begreifen. Er kannte nur die veraltete Ansicht der Psychologen, daß jeder Mensch einen ganz besonderen, nur ihm zugehörigen und also durchaus individuellen Geist besitze, den er nicht eher als nur erst mit dem Tode »aufgeben« könne. Er wußte zwar, daß es tausende und abertausende von Menschen gegeben hat, die anderen Sinnes, also anderen Geistes geworden sind, war aber überzeugt, daß diese Aenderung mit dem alten, bisherigen Geiste vorgegangen sei, nicht aber darin bestehe, daß sich ein vollständig anderer und neuer eingestellt habe. Er sagte da:

»Das wäre ja eine wunderbar praktische und höchst vortreffliche Einrichtung, wenn sich jeder Mensch nach Belieben einen neuen Geist besorgen könnte, so ungefähr zum Beispiele, wie man sich eine neue Uhr in die Tasche steckt, wenn man sich auf die alte nicht mehr verlassen kann, weil sie nichts mehr taugt!«

Da lächelte Tsi, der bei uns saß, den lieben Alten von der Seite an und fragte:

»Ist Ihnen vielleicht die chinesische Erzählung von der Taucherinsel ›Ti‹ bekannt, Mylord?«

»Nein,« antwortete der Governor, welcher nicht wußte, daß ›Ti‹ das chinesische Wort für ›Erde‹ ist. »Was ist das für eine Insel? Kenne sie nicht. Können ihre Bewohner etwa ihre Geister wechseln und ersetzen wie wir unsere Uhren?«

»Nein; ebenso wenig wie wir. Ob gewechselt werden soll, darüber haben natürlich nicht die Körper, sondern die Geister zu bestimmen. Ich will mich ganz und gar populär ausdrücken: Hat etwa die Uniform zu befehlen, wer sie anlegen soll und wer nicht?«

»Nein!«

»Nun, diese Uniform ist der Menschenkörper! Wenn er glaubt, dem Geiste Vorschriften machen zu dürfen, so irrt er sich. Die Insel ›Ti‹ liegt mitten im großen Weltenmeere. Sie wird von einem Fürsten regiert, welcher jedem seiner Untertanen eine bestimmte Lebensaufgabe stellt, die er zu lösen hat. Diese Untertanen sind Taucher, welche in die Fluten zu steigen haben, um die verschiedenen Schätze des Meeres an das Tageslicht zu heben. Zu diesem Zwecke gibt es eine unzählige Menge von Taucherrüstungen, welche menschliche Gestalt besitzen. Jede dieser Rüstungen wird von einer in ihr wohnenden, sogenannten Anima in Stand gehalten, welche mit ihr entstanden ist und mit ihr wieder untergeht. Die eine Rüstung eignet sich mehr für diese, die andere mehr für jene Arbeit. Mit der einen können edle Perlen, mit der anderen nur Schwämme, mit der dritten gar nur Algen oder gemeiner Tang der Flut entrissen werden. Jede von ihnen wird demjenigen Taucher anvertraut, für dessen Aufgabe sie geeignet ist. Die Arbeit wird überwacht, sehr streng, viel strenger, als die Taucher meinen, obgleich die Regierung eine Regierung der allergrößten Liebe ist. Aber grad weil diese Liebe Alle umfaßt und sich nicht nur auf Einzelne richtet, ist diese Strenge geboten, sobald die Liebe versagt. Zeigt sich ein Taucher seiner Rüstung nicht wert, bringt er Schwämme oder Tang anstatt der Perlen, so wird sie ihm genommen und einem Würdigeren gegeben. Bringt dieser zwar Perlen, aber mit Schmutz und Algen vermischt, so hat ein noch Besserer anzutreten. Und so kommt es, daß es wohl keine einzige Rüstung gibt, von der man sagen könnte, daß sie stets nur im Dienste eines und desselben Tauchers gestanden habe. Es kommt sogar sehr häufig vor, daß ein höherer Taucher sich die Rüstung eines niederen leiht, um ihn zu unterrichten, auf welche Weise er bessere Erfolge erzielen und dadurch zu ihm emporsteigen könne. – – – Haben Sie dieses Bild verstanden, Mylord?«

»Hm!« brummte der Governor. »Die Insel ist natürlich die Erde; die Meeresflut ist das Leben; die Rüstungen sind die beseelten Menschenkörper, und die Taucher sind die unsichtbaren, geheimnisvollen Intelligenzen, welche wir als ›Geister‹ bezeichnen. Ich habe jetzt keine Zeit, denn ich bin nicht allein; aber ich werde mir diese Insel ›Ti‹ merken und über sie nachdenken.«

»Tun Sie das! Aber denken Sie ja nicht so tief nach, daß Ihnen dabei die Sinne vergehen. Sie haben nämlich nebenbei auch aufzupassen! Merken Sie zum Beispiel auf, wenn Sie im Traveller-Klub mit guten, lustigen Freunden Billard spielen; merken Sie auf, wenn Sie am Sarge eines geliebten Verwandten stehen; merken Sie auf, wenn Sie sich auf der Fuchsjagd befinden; merken Sie auf, wenn Sie mit Ihrem Bankier Ihr letztes Jahreseinkommen berechnen, und merken Sie auf, wenn Ihr Freund, der Heidenpriester, seine Hand auf das Haupt Miß Marys legt, um sie zu segnen! Und dann sagen Sie mir, ob – – –«

»Ja, ja,« unterbrach ihn der Governor; »in jedem dieser Fälle bin ich natürlich ganz, ganz anders gestimmt!«

»Gestimmt! Allerdings ein leider sehr gebräuchliches, aber außerordentlich falsches Bild! Uebrigens sprach ich von Taucherrüstungen, nicht aber von Klavieren. Aber ich will auf diesen Ihren Vergleich eingehen. Ihr Körper sei also das Klavier; die Nerven seien die Saiten, und vom Gehirn aus werde es gespielt. Ich brachte Ihnen fünf verschiedene Fälle, in denen Sie sich beobachten sollen, und Sie geben zu, daß Sie jedesmal anders klingen. Sie erklären das damit, daß Sie anders gestimmt worden seien. Mein Freund, welches Klavier würde es wohl aushalten, täglich zehn- bis zwanzigmal umgestimmt zu werden? Und Sie sind jetzt wohl sechzig Jahre alt. Das ergibt, daß Ihr Klavier in dieser Zeit wohl eine halbe Million mal umgestimmt worden ist. Welcher Körper, welche Nerven, welches Gehirn würde das wohl aushalten! Der totalste Irr- oder gar Blödsinn müßte die baldige Folge sein!«

»Richtig! Ganz verteufelt richtig!« rief da der Uncle aus.

»Aber das ist noch das Wenigste dabei!« fuhr Tsi fort. »An die Hauptsache haben Sie gar nicht gedacht. Nämlich wer ist denn eigentlich das geradezu diabolisch gequälte, arme Wesen, welches dazu verdammt worden ist, die unzähligen Nerven Ihres Körpers in jedem Jahre weit über siebentausendmal umzustimmen? Sind Sie das etwa selbst?«

»Ich danke! Fällt mir gar nicht ein!«

»Also nicht Sie selbst? Demnach ein Wesen außerhalb Ihrer eigenen Potenz! Merken Sie, wohin Sie kommen? Es gibt ein außerhalb Ihrer Persönlichkeit stehendes Wesen, welches volle sechzig Jahre lang mit Ihnen herumgelaufen ist, um an jedem Augenblicke bereit zu sein, alle Ihre unzähligen Nerven in Zeit von einer Sekunde herüber- oder hinüber-, hinauf-oder herabzustimmen! Mylord, verlangen Sie von Gott nicht, so wahnsinnig zu handeln, wie Ihre bisherige Psychologie ihm zugemutet hat! Sie befinden sich nämlich nicht allein auf der Erde. Es gibt außer Ihnen noch fünfzehnhundert Millionen andere Menschen, denen der Schöpfer auch fünfzehnhundert Millionen Klavierstimmer zur immerwährenden Verfügung zu stellen hätte! Und damit wären immer erst nur Ihre sogenannten ›Stimmungen‹ erklärt, nicht aber auch die eigentlichen Gefühle, die Gedanken, die Worte und die Taten! Bitte, sehen Sie doch ein, was Sie, der winzige Wurm im unendlichen All, von dem Herrgott Alles verlangen!«

»Das ist freilich horribel, horribel!« gestand der Governor ein.

»Und nun noch Eines: Wenn Sie umgestimmt worden sind, wer setzt sich dann hin, um zu spielen?«

»Ich nicht, denn ich bin ja das Klavier!«

»Nun, aber wer? Es muß doch ein Spieler da sein, für den Sie umgestimmt worden sind! Wer ist das?«

Da stand der Uncle langsam von seinem Sessel auf und antwortete:

»Mr. Tsi, ich erkläre Ihnen, daß es mir unmöglich ist, zu antworten. Mein Verstand will absolut nicht weiter. Lassen wir ihn also hier stehen. Vielleicht besinnt er sich noch! Wenn ich aber ganz aufrichtig sein will, so muß ich Ihnen bekennen, daß ich Sie für Denjenigen halte, der in diesem Augenblicke auf mir spielt. Ich bitte herzlich: Hören Sie einstweilen auf; denn für Das, was Sie weiterspielen wollen, müssen erst neue Saiten aufgezogen werden!«

Die Wirkung dieser seiner Worte war eine ganz andere, als er erwartet hatte. Nämlich Tsi rief aus:

»Gelöst, gelöst, wenigstens beinahe gelöst! Mylord, Sie haben soeben Etwas gesagt, dessen Bedeutung Sie gar nicht ahnen. Ja, warten wir noch! Aber nicht etwa, weil Ihnen die Saiten fehlen, sondern weil es zur Fortsetzung eines ganz andern Spielers bedarf. Ich bin nur Stümper! Bleiben wir also bei dem ersten Gleichnisse stehen, nämlich bei der Taucherrüstung, nicht bei dem Klaviere!«

»In Beziehung auf Waller?« fragte John Raffley.

»Ja,« antwortete der Arzt. »Er liegt am Strand, weiß nichts von Beiden mehr, vom Wasser und vom Land. Seiner Anima ist jede Erinnerung entflogen. Nur ein einziges Wort ist ihr, ist ihm erhalten geblieben, nämlich sein Name, der Name, durch welchen sich diese Taucherrüstung von den andern unterschied. Setzen wir uns hin zu ihm, an den Strand, an welchem Land und Wasser, Begreifliches und Unbegreifliches sich berühren, und merken wir auf! Es wird der Augenblick kommen, an dem sich der neue Taucher dieser Rüstung naht; das weiß ich ganz bestimmt. Ich möchte diesen Moment um keinen Preis versäumen! Er wird die Rüstung nicht sofort anlegen, um mit ihr in die Flut des Lebens zu tauchen. Er wird sie betrachten, berühren, von allen Seiten und an allen Gliedern prüfen. Er wird sich erst am Land mit ihr bewegen, um vor allen Dingen zu untersuchen, ob ihrer Verbindung mit dem Lebensquell, der höheren Atmospäre, zu trauen ist. Und hat er sich hiervon überzeugt, so wird er sich nicht sofort in die tiefste Tiefe wagen, sondern nur in fortschreitender Uebung nach und nach zu ihr hinuntersteigen. Und wenn er endlich der Rüstung so vollständig sicher ist, daß er sein Meisterwerk unternehmen kann, so wird er es vollbringen, eher aber nicht.«

»Welches Meisterwerk?« fragte der Governor.

»Es ist die Aufgabe, welche jeder Taucher der Insel ›Ti‹ zu lösen hat, nämlich zu zeigen und zu beweisen, daß seine Arbeit eigentlich kein Niedertauchen, sondern ein Emporsteigen sei. Sie führt nur scheinbar in die Tiefe, in Wirklichkeit aber in die Höhe.«

»Und wer gelangt hinauf?« fragte John. »Wer wird nach und nach so heimisch dort, daß er schließlich und für immer oben bleibt? Der Taucher nur? Der dies doch wohl auch ohne Rüstung könnte? Was wird aus ihr, aus dem Menschen Waller? Sie haben doch gesagt, daß beide identisch seien!«

Tsi lächelte beinahe vergnügt vor sich hin und antwortete:

»Sie sind natürlich überzeugt, mir hiermit die wichtigste und schwerste aller Endanfragen vorgelegt zu haben. Man meint, sie könne von keinem Sterblichen gelöst werden. Aber bitte, haben wir doch einmal Mut! Versuchen wir wenigstens einmal diese Lösung, obgleich wir auch nichts weiter sind als Sterbliche! Oeffnen wir die Augen, so gelingt es uns vielleicht, den schon erwähnten Taucher von der Insel ›Ti‹ bei seiner Arbeit zu belauschen. Belauschen, sage ich? Wie falsch das ist! Wir haben gar nicht nötig, uns dabei heimlich anzustellen, denn er wird sich ganz im Gegenteile darüber freuen, daß wir ihn kennen lernen wollen. Vielleicht bittet er uns sogar, ihm seine Arbeit durch unsere Hilfe zu erleichtern! Würden Sie ihm diesen Gefallen tun?«

»Mit tausend Freuden!« antwortete der Governor. »Wie das so klingt, Mr. Tsi! Ganz wie in einem Märchen!«

»Das ist es auch! Nehmen wir an, die ›Yin‹ sei unser Märchenschiff, auf welchem wir nach einem Zauberlande steuern!«

»Well! Ein ganzes Schiff voller Rätsel, als deren schwierigstes ich mir jetzt selbst vorkomme. Habe mich noch nie als Taucherrüstung gefühlt, bin aber sehr wahrscheinlich doch auch eine! Komme mir schon ganz ledern vor, mit Bleigewichten an den Füßen, und auf dem Kopfe einen schweren Helm mit festgekitteten, dicken Augengläsern. Habe solche unförmliche Wesen an der Themse gesehen. Sie stiegen in das Wasser, um ein festgefahrenes Schiff wieder flott zu machen. Brrrr! Nehmt es mir nicht übel, daß mich dieses Bild in meine Kabine treibt! Ich muß fort! Ich fürchte mich!«

Er ging. Tsi sah ihm nach und sagte:

»Unser prächtiger Governor ahnt gar nicht, wie fleißig sein Taucher in der letzten Zeit gearbeitet hat. Welche Perlen haben wir schon gesehen! Wo lagen sie verborgen? Etwa in der See? Fragen Sie die Anima, mit welcher der Taucher verkehrt!«

Hierauf entfernte auch er sich, um seinen Kranken aufzusuchen. Nun war ich mit John allein. Er sagte eine ganze Weile nichts. Dann stand er vom Sessel auf und fragte:

»Gehen Sie mit auf die Brücke? Ich komme mir hier unten so klein, so winzig, so nichtig vor. Ich muß hinauf, um wieder zu fühlen, daß ich Etwas bin! Da oben weiß ich, daß ich regiere, daß mir die Jacht zu gehorchen hat, daß das Wohl aller Derer von mir abhängt, die sich auf ihr befinden. Das Bild von der Taucherrüstung kam mir erst beinahe lächerlich vor; Tausende würden auch weiterfort darüber lachen; mir aber ist recht bald sehr ernst dabei geworden! Ich werde es nicht wieder los. Ich sehe die dickköpfige Gestalt vor mir, die es wagt, in ein fremdes Element einzudringen, obgleich der geringste Fehler an der Oberleitung mit dem sichern Tod verbunden ist. Schwerfällig, unbehilflich, ungeschlacht! Immer nur humpelnd und stolpernd, tapsend und tastend! Watend und suchend im Schlamm der Tiefe, nach was? Ich sage Ihnen: das Bild ist richtig, sehr richtig! Genau so hängen wir von oben ab, und genau so watscheln wir nur unten! Mit solchen täppischen Fäusten greifen wir nach dem zartesten Korallengebilde des Geistes. Und mit solchen Hacken und Harken kratzen, scharren und hauen wir in den köstlichsten Perlen herum, die sich auf dem heiligen Grunde des Seelenlebens bilden! Ich mag dieses Gleichnis gar nicht weiter belegen. Wenn ich daran denke, wie leichtsinnig oder gar frivol man sich an dem dünnen Schlauche bewegt, der Luft und Leben geben und auch sofort versagen kann, so wird mir himmelangst. Ich muß auf meine Kommandobrücke, muß meinen Horizont vergrößern, sonst bleibt mir das Gefühl, daß ich an jedem Augenblicke ersticken kann!«

Wir stiegen also hinauf. Es war Niemand oben, weil wir uns bei festem Kurs auf ringsum offener See befanden. Die immerwährende Anwesenheit des Kommandanten hier oben war also nicht nötig. Höchstens konnte ein uns begegnender Dampfer oder Segler für kurze Zeit eine andere Steuerlage nötig machen; das war aber auch vom Deck aus rechtzeitig zu erkennen.

Hier oben umwehte uns nun der frische, kräftige Hauch des chinesischen Meeres, den unten der hohe Bau des Vorderdeckes von uns abgehalten hatte. Er kam von Ost bei Nord, blies uns aber nicht mehr als höchstens einen Knoten auf die Stunde von unserer Schnelligkeit weg. Die See lag glatt, fast ohne bemerkbares Bewegen. Sie war von einem ganz eigenartigen Farbenton, den ich noch nie gesehen hatte. Ein sehr helles Braun, wie klares Wasser mit einer Spur von Kaffee, und da, wo es sich kräuselte, liefen goldig funkelnde Ringe durcheinander. Unser Sog aber, die von der Schiffsschraube erzeugte Wellenlinie, flammte förmlich auf von diesem Golde, während vorn am Bug, nach steuer- und backbordwärts zwei konstante Wogen gingen, die ausgebreiteten Flügeln glichen, und geheimnisvoll, aber deutlich so brillierten, als ob sie über eine Unterlage von lauter geschliffenen Diamanten glitten.

Wir standen Beide stumm, in den Anblick dieser Pracht und Herrlichkeit versunken. Wer ist der, der es so leicht und mit so einfachen Mitteln vermag, jedem Tropfen des Meeres diesen Glanz zu verleihen, den wir nur hier oder da einmal dem edelsten der Steine geben können, und zwar auch nur durch jahrelange Mühe und Arbeit und um den Preis von Millionen? Wir hatten vorhin die »Yin« unser Märchenschiff genannt, und Raffley war der Meinung gewesen, es sei anzunehmen, daß uns eine gütige Fee in diesem kleinen, lieben, auf der See schwimmenden Zauberreiche zusammengeführt habe. Es gibt Wahrheiten, welche sich später als Märchen herausstellen, und Märchen, in denen die heiligsten, die untrüglichsten Wahrheiten verborgen liegen. Wohlan, möge unsere »Yin« so ein köstliches Märchen sein, welches für uns und tausend, tausend Andern zur Wahrheit, zur herrlichen, beglückenden Wirklichkeit zu werden hat! Wer aber das will, der darf nicht unten bleiben, der muß herauf an das Licht und an die Luft, der darf sein Schiff nicht treiben lassen, wie es Anderen beliebt, sondern muß den Mut besitzen, sich auf die Kommandobrücke zu stellen und laut und furchtlos zu bestimmen, wohin die Fahrt zu gehen hat.

Das Lob, welches Raffley seiner Jacht erteilt hatte, bewährte sich: Sie lag selbst bei bewegter See auf glatter, sicherer Linie, und die Maschine arbeitete so leise, daß man die Erschütterung nur dann bemerkte, wenn man mit besonderer Absicht auf sie achtete. Dem Kranken bekam die Fahrt sehr gut. Er aß und trank mit Appetit und lag die meiste Zeit in ruhigem Schlafe, ruhig freilich nur in Beziehung auf den Körper, nicht aber auch auf die Psyche, die Seele. Diese befand sich, wenn er wachte, in unausgesetzter Tätigkeit und schien auch während des Schlafes ohne Unterbrechung beschäftigt zu sein. Man sah das an dem sich sehr oft verändernden Ausdrucke seines Gesichtes und an gewissen Körper- oder Gliederbewegungen, welche keine unwillkürlichen waren. Er öffnete die Augen, ohne einen bestimmten Gegenstand anzusehen, und schloß sie wieder, indem er froh lächelte, als ob ihm etwas Freundliches erschienen sei. Er bewegte die Lippen; man sah, daß er Etwas sagte; aber es war kein Laut zu hören. Oder er sprach Viertelstunden lang leise vor sich hin und sah während der Pausen ganz so aus, als ob ihm Antwort werde. Aber so laut und vernehmlich wie in Kota Radscha hatte er hier auf dem Schiffe noch nicht im Schlafe gesprochen. Als ich Tsi hierüber fragte, antwortete er:

»Beruhigen Sie sich! Es kommt ganz gewiß die Zeit, in welcher er wieder laut sprechen wird, so laut, wie wir nur wünschen können. Sie sehen mich fragend an, weil ich diese Worte in eigentümlicher Weise betone. Betrachten Sie die Heilung, welche ich hier beabsichtige, doch einmal als ein vorbildliches Experiment! Waller glaubte, Christ zu sein, und zwar ein so vortrefflicher, daß er sich berufen fühlte, in alle Welt zu gehen, um Heiden zu bekehren. Er war es aber nicht! Sein Christentum war ein selbst konstruiertes und bestand nur aus dieser leeren, öden Konstruktion, welcher Christi Geist und Christi Liebe fehlte. Er wurde nicht gesandt, sondern sendete sich selbst. Der Glaubensneid machte ihm den Missionserfolg zum Gegenstande der Konkurrenz, denn er wettete. Er fragte nicht, ob er willkommen sei; er drängte sich den ›armen Heiden‹ auf, schon in Kairo meinem Vater und auch mir. Als seine erste Pflicht im fremden Lande galt ihm die Vernichtung alles dort religiös Bestehenden, und für die erste Pflicht der Andersgläubigen dort hielt er die jeder Pietät hohnsprechende Entehrung alles dessen, was ihnen seit Jahrtausenden lieb, teuer und heilig gewesen ist. Solche Forderungen aber kann nur der stellen, dem selbst nichts heilig ist, denn sonst müßte er wissen, daß sie unmöglich erfüllt werden können. Sie sind nichts anderes, als der Ausfluß eines Wahnes, der, wie bei ihm, von den Voreltern großgezogen worden ist, also einer Krankheit, die ihre Opfer nicht in dem Kranken selbst, sondern außerhalb desselben sucht. Dieses Leiden erreichte den höchsten Grad bei ihm, als er Undank und Zerstörung für empfangene Liebe gab. Die Gastfreundschaft ist, so lange die Erde steht, selbst dem wildesten, unzivilisiertesten Heiden heilig gewesen; sie hat Alles, selbst das Leben aufzuopfern. Versündigungen gegen sie werden mit dem Tode bestraft und sind selbst von der Geschichte bis auf den heutigen Tag gebrandmarkt worden. Ich brauche also nicht besonders auszuführen, wie Waller gegen die Malaien gehandelt hat. Oder könnte es Ihnen vielleicht beikommen, sein Verhalten zu beschönigen?«

»Vielleicht Andern, aber nicht mir,« antwortete ich. »Davon sind Sie doch wohl überzeugt!«

»So bedenken Sie, daß dies die Monographie nur dieses einen Christen ist? Verstehen Sie, was ich damit sagen will? Oder ist es notwendig, Ihnen an der Hand jedes einzelnen dieser meiner Sätze die gleichen Sünden der Gesamtheit, welcher er angehört, vor die Augen zu halten? Wünschen Sie vielleicht, besonders aufgezählt zu haben, wo, wann und wie oft diese Gesamtheit die Pflichten der Gastfreundschaft in ganz derselben Weise mit Füßen getreten hat und noch heut mit Füßen tritt?«

Er sah mich an, als ob er eine Antwort erwarte; da ich aber schwieg, so fuhr er fort:

»Die Katastrophe ist für ihn gekommen. Sie wird auch für Andere nicht ausbleiben, für hier oder dort mehr oder weniger verderblich, je nachdem die Machtfrage sich gestaltet. Ob man den Tempel eines kleinen, malajischen Dorfes vernichtet, oder ob man ganz dasselbe mit dem Heiligtümern einer großen Rasse wagt, deren Angehörige nach Hunderten von Millionen zählen, das ist gewiß ein Unterschied! Die halbe Betelnuß, welche für das eine Mal so günstig wirkte, dürfte für den andern Fall gewiß versagen! Unsere ›Shen‹ ist mächtig; aber den Zorn so vieler Millionen niederzuhalten, das darf man auch ihr, die doch nur menschlich ist, nicht zumuten. Auch glaube man ja nicht, daß man uns imponiere! Wir lassen uns nicht zwingen, geistige Größen anzuerkennen, ohne sie geprüft zu haben. Es fällt der gelben Rasse nicht ein, den Fehler zu begehen, an welchem die rote Rasse zu Grunde gehen wird: Die Weißen sind für uns weder Götter noch Uebermenschen. Wir wissen uns ihnen vollständig ebenbürtig und betrachten einen Jeden, der unsere altgeheiligten Institutionen zu beseitigen wagt, für genau so krank und unzurechnungsfähig, wie Waller ist, der Eiferer gegen Alles, was anders war, als er wollte. Und nun hören Sie, was ich Ihnen sage: Unser Patient wird geistig wieder hergestellt werden, er, der Einzelne. Der Weg seiner Gesundung ist ganz genau derselbe, den auch die Gesamtheit zu gehen hat, wenn sie gesunden will vom größten aller Leiden. Das ist es, was Waller zu sagen, zu verkünden hat, ob mit seiner eigenen Stimme oder durch mich, durch Sie, das hat sich noch zu finden. Und darum erklärte ich Ihnen, daß er ganz sicher wieder sprechen werde, und zwar so laut, wie wir nur wünschen können.«

»Hoffentlich nicht nur bildlich, sondern auch in Wirklichkeit?«

»Gewiß, auch das! Nämlich sobald er die zweite Strophe unseres geheimnisvollen Gedichtes kennen gelernt hat. Er arbeitet jetzt noch an dem Inhalte der ersten; ich höre das aus seinen träumerischen Reden. Man darf ihm nichts Neues geben, bevor er das Alte vollständig begriffen hat. In der Entwickelung der Psyche sind dunkle Punkte oder leere Stellen zu vermeiden. Darum habe ich Miß Mary gebeten, jetzt noch zu warten. Wir verwenden die größte Aufmerksamkeit, den geeigneten Augenblick ja nicht unbenützt vorübergehen zu lassen, und ich denke, daß er baldigst erscheinen wird. Waller beschäftigt sich jetzt noch mit der letzten Zeile der ersten Strophe, also mit dem Gedanken, daß Christus nicht gestorben ist, sondern in jedem wahren Christen weiterlebt und weiterliebt. Das hat er, wie ja auch Ihre ganze Christenheit, bis jetzt noch nicht begriffen. Doch arbeitet es fort und fort in ihm, und ich kann jeden Augenblick eine Aeußerung erwarten, welche mir sagt, daß er dieses Wort verstanden hat. Dann lasse ich die nächste Strophe wirken. Ist das nicht im höchsten Grade interessant?«

»O, mehr als interessant; ich bin erstaunt!« antwortete ich der Wahrheit gemäß. »Welch eine schwere, fremdartige und mir fast unbegreifliche Aufgabe haben Sie sich da gestellt!«

Er schüttelte den Kopf und erwiderte lächelnd:

»Sie ist nichts von alledem. Fremdartig kann sie nur dem Christusfremden sein. Nicht unbegreiflich, sondern die einzig richtige und allein erklärliche ist sie für einen Jeden, der die Krankheit kennt, um wel che es sich handelt. Und schwer? Sie ist sogar sehr leicht! Wissen Sie noch, was ich Ihnen von der Behandlung des einzelnen und der Gesamtheit sagte? Ich kenne das Leiden dieser Gesamtheit und weiß genau, auf welchem Wege es zu heben ist. Dieser Einzelne leidet an ganz demselben Uebel; was folgt hieraus? Ich werde ihn herstellen; er wird dann das in Wirklichkeit sein, was er früher nur zum Schein gewesen ist. Und ist er nicht mehr krank, so habe ich an dem Einzelnen gezeigt, auf welchem Wege die Gesamtheit auch gesunden kann. Ich wiederhole diesen schon einmal ausgesprochenen Satz, weil er so sehr, so außerordentlich wichtig ist. –«

Auf den Tag, an welchem dieses gesprochen wurde, folgte eine sehr unruhige See, und als wir am nächsten Tage Hongkong erreichten, waren wir sehr zufrieden damit, daß Raffley hier nur für ganz kurze Zeit Anker werfen wollte, um frischen Proviant einzunehmen. Es regnete. Die Berge, welche die Bucht umschließen, waren umhüllt. Was wir sahen, war so spezifisch europäisch, so nüchtern und so kalt, daß Niemand Sehnsucht fühlte, an das Land zu gehen. Dschunken und Sampans hatten wir schon genug gesehen. Hongkong ist eine englische Schöpfung und zeigt sich von außen her, zumal bei solchem Wetter, so sehr als frostige Lady, daß auch wir ihr gegenüber kalt blieben und nach einigen Stunden ohne Bedauern Abschied von ihr nahmen. Raffley hatte einige Depeschen an das Land besorgt. Auch von Tsi war dem Boten eine mitgegeben worden. Wohin sie telegraphiert hatten, das hielten Beide gleich geheim. Tsi wahrscheinlich an seinen Vater, dessen Stand und Namen er nicht wissen lassen wollte. Niemand fragte, wohin es von hier aus ging, und Raffley sagte nichts. Der Kompaß aber ließ uns sehen, daß wir nach der Fokienstraße dampften.

Der Regen hörte, als ob er uns nur Hongkong habe verleiden wollen, sehr bald wieder auf, und im Laufe des Nachmittags beruhigte sich die See, so daß wir nach der bewegen Nacht einen schönen, stillen Abend hatten. Als wir nach dem Souper vom Tische aufstanden, gesellte sich Tsi zu mir und teilte mir mit, daß er noch gestern abend Veranlassung gefunden habe, dem Kranken die zweite Strophe vorzulesen. Mary hatte das, während sie in der Nacht bei ihm wachte, einigemal wiederholt, und hierauf war Waller über den ganzen Tag hin damit beschäftigt gewesen, immerfort unhörbar vor sich hinzusprechen und dazwischen hinein vor sich hin zu lauschen, als ob er auf eine Antwort höre. Infolge dessen vermutete der Chinese, daß für die kommende Nacht etwas Interessantes zu erwarten sei, und er fragte mich, ob ich mit ihm wachen wolle. Ich war ganz selbstverständlich sehr gern bereit, es zu tun. Tsi meinte, daß jetzt im Innern des Kranken eine heiße Schlacht geschlagen werde, welche der bisherige Beherrscher, der Hyperglaube, zu verlieren habe. Denn nichts sei so schwach als grad dieser Ueberglaube, der Alles nur Gott, nichts aber der Arbeit an sich selbst verdanken will.

»Der gesunde Glaube macht stark,« fuhr er in seiner Rede fort; »der Hyperglaube aber macht nicht stark und auch nicht schwach, weil das letztere unnötig ist, denn er ist ein geradezu untrüglicher Beweis der vorhandenen geistigen Schwäche. Diese Schwäche ist so groß, daß sie träumt, sie habe Gott in allen Taschen und könne jede beliebige Quantität des Himmels an andere Menschen verteilen, natürlich gegen großen Dank und bewundernde Verehrung seitens der Empfänger! Denken Sie nicht, daß ich mich auf Besonderes beziehe; ich spreche im Allgemeinen. Wir haben in China Bonzen, welche derartig mit ihrem eigenen Oele gesalbt sind, daß man sie nicht fassen kann, obgleich man sie in ihrer ganzen nackten Blöße sieht. Und meinen Sie auch nicht, daß ich mit dem Worte Bonzen etwa nur Geistliche bezeichne. Priester Gottes müssen sein; die Menschheit kann sie nimmermehr entbehren. Und je mehr sie in der Erkenntnis Gottes fortschreitet, desto größer wird die Zahl und auch der Einfluß dieser Priester werden. Heil und tausendmal Heil dem Volke, welches so viel wahre Gottespriester besitzt, wie es fromme Väter hat! Aber der Hyperglaube macht sich meist im Laienvolke breit und tritt grad dort am anspruchvollsten auf, weil der Laie glaubt, wenn er nur selbst recht salbungsvoll zu sprechen und zu blicken wisse, so könne er den Priester ganz entbehren. Das ist die Laienfrömmigkeit, die sich über jedes Gotteshaus und Gotteswort erhaben dünkt und, wenn sie einmal guter Laune ist, in den selig atmenden Busen greift, um dem Himmel ein möglichst öffentliches Bakschisch anzubieten!«

Da konnte ich mich nicht halten; ich mußte ihn fragen:

»Wo nehmen Sie, grad Sie diese Gedanken her?«

»Von unsern Vätern!« antwortete er sehr ernst. »Sie haben von Generation zu Generation gedacht, und was sie dachten, wurde uns vererbt. Wissen Sie, was ein Gedanke ist? Wissen Sie, daß er ewig ist, daß er nie verschwinden kann, sondern sich von Geschlecht zu Geschlecht, von Kopf zu Kopf immer weiter entwickelt, immer klarer, immer wahrer, immer mächtiger wird, bis endlich seine Zeit kommt, in der ihm niemand widerstehen kann? Solche Gedanken haben wir, und solche Zeit ist jetzt! Grad weil wir ruhten und uns jahrhundertelang alljährlich einmal rund um die Sonne tragen ließen, ohne zu glauben, daß die übrigen Völker der Erde uns darum bewundern müßten, haben wir Muße gehabt, die Gedanken unserer Väter von Sohn zu Sohn, von Enkel zu Enkel immer mächtiger werden zu lassen. Es sind stille, liebe, hoffnungsfreudige Gedanken, noch nicht in Worte gekleidet und noch nicht in Taten ausgedrückt; aber diese Worte und diese Taten werden kommen, vielleicht von uns selbst, vielleicht von Fremden angeregt, und dann werden wir und dann werden auch die Fremden sehen, daß, was die Väter dachten, nicht auf die Söhne und Enkel übergehen kann, ohne den Segen der Vorfahren mitzubringen und uns zum Heil zu werden!«

Er hatte sehr ernst gesprochen. Jetzt nahm sein Gesicht einen freundlicheren Ausdruck an. Er zog seine Brieftasche heraus, öffnete sie und fragte:

»Glauben Sie, daß ich heut ein Kind gewesen bin?«

»Ein Kind? Wieso?«

»Kinder schreiben einander Albumblätter, welche sie dann im Alter mit kopfschüttelnder Rührung betrachten. Ich habe mir von Miß Waller eines schreiben lassen. Da, sehen Sie!«

Er hielt es mir hin. Es war meine Strophe.

»Ich konnte nicht anders,« fuhr er fort; »ich mußte mir diese Zeilen entweder selbst abschreiben oder abschreiben lassen, und zog natürlich das letztere vor. Es ist das selbstverständlich eine ganz persönliche Ansicht, ein ganz individuelles Gefühl, aber es ist mir, als sei in diesem Gedichte für die Völker eine Brücke allerschönster, allerbester und allersicherster Konstruktion enthalten, um einander besuchen zu gehen und liebe Geschenke nicht nur mitzubringen, sondern auch mit heimzunehmen. Es klingen aus ihm so sanfte, reine Töne, als wehe in ihm ein Hauch aus jenem unbekannten Lande herüber, von welchem uns ein süßes Märchen erzählt, daß dort der Völkerfriede wohne. Ich frage mich vergeblich, ob es von einem Manne oder von einer Frau verfaßt worden ist. Der geistige Aufbau läßt auf eine männliche Logik schließen, aber die Seele, welche aus ihm spricht, kann keine andere als nur eine weibliche sein.«

»Gibt es männliche und weibliche Seelen?« fragte ich.

»Ja, das wissen wir wohl noch nicht,« lachte er. »Man gibt ihnen wohl halb männliche, halb weibliche Züge, malt Flügel dazu und sagt dann, daß sie Engel seien. Machen wir also aus meiner Ungewißheit eine Gewißheit, indem wir sagen, ein Engel hat diese Strophe gedichtet und irgend einem guten Menschenkinde in die Feder gelegt! Dieser Engel hat uns Erdenbewohnern sagen wollen, wie wir miteinander zu verkehren haben, wenn unser Planet jenem unbekannten Lande gleichen soll. Liebe, nichts als Liebe! Warum machen nun grad diese Zeilen einen solchen Eindruck auf Waller, der doch keine andere Liebe kannte als nur die zu seiner Frau und Tochter?«

»Wohl weil die Verstorbene in ganz gleicher Weise zu ihm gesprochen hat,« erwiderte ich.

»Ja. Sie haben das Richtige getroffen. Das macht der warme, freundliche, überzeugende, weibliche Klang der Worte. Es spricht aus ihnen eine Güte, welche Mrs. Waller wohl auch in hohem Grade besessen hat. Darum nimmt er diese Worte hin, als seien sie von ihr zu ihm gesprochen. Bei ihrem Klange sieht er seinen Engel wieder vor sich stehen. Er fühlt sich frei vom Einflusse jenes Andern, dem er als Gast des Heidentempels unterlegen ist. Er ahnt sich gerettet und in guter Hut. Fragen wir nicht, ob er wacht oder träumt, ob er Etwas sieht und hört oder nicht. Forschen wir nicht, ob Hallucination oder Wirklichkeit. Man sagt, daß Sterbenden die Augen geöffnet seien, und er befindet sich ja heut noch unter der Pforte, an welcher die Gewißheit an die Stelle der Hoffnung tritt. Nehmen wir ihn genau so, wie er ist! Seine Gedanken werden denen des Gedichtes folgen. Was dahinten liegt, das ist für ihn vorüber; die Krankheit gibt seiner Seele eine Empfänglichkeit, eine Weichheit, welche jeden lieben, guten Eindruck haften läßt. Die Worte dieser acht Zeilen werden sich tief und unauslöschlich eingraben; der Sinn derselben wird ihm zum geistigen Eigentume, zum Wesen werden, und wenn er genesen ist, wird er ein ganz, ganz Anderer sein, als er vorher war, gleichviel, ob er körperlich ebenso sicher genesen wird wie geistig, oder nicht.«

Diese letztere Wendung klang so, als ob er eigentlich gar nicht beabsichtigt habe, sie auszusprechen. Ich ahnte aber schon längst, daß er Waller in körperlicher Beziehung nicht für einen Genesenden, sondern für einen Sterbenden hielt und dies aber Marys wegen so lange wie möglich zu verschweigen suchte. –

Ich stellte mich schon gleich nach 10 Uhr mit Tsi bei Waller ein. Mary, die bis jetzt bei ihm gewesen war, ging schlafen. Der Kranke lag geschlossenen Auges auf seinen Kissen. Ob er wirklich schlief, konnten wir nicht unterscheiden. Es war, wie bereits gesagt, alles nicht in eine Krankenstube Passende aus der Kajüte entfernt werden. Das Bild der »Yin« aber hing noch an der Wand. Ich hatte von Mary und Tsi gehört, daß es die Augen Wallers, so oft er wache, mit unwiderstehlicher Gewalt auf sich ziehe. Wir legten den Schleier über das elektrische Licht und setzten uns hinaus vor die offene Tür. Es schien außer uns, dem Steurer und der Deckwache auf dem Schiffe sich Jedermann zur Ruhe gelegt zu haben. Der Mond war erst vor kurzem aufgegangen. Er warf den Schatten der Kajüte quer über das Deck und schaute durch die breiten Glasscheiben in das Innere derselben. Sein Schein fiel auf die Füße des Schläfers und rückte langsam an der still ruhenden Gestalt desselben empor. Der auf dem Lichte liegende Schleier konnte die Glasglocke nicht ganz bedecken; es gab da, wo sie gehalten wurde, eine Lücke, durch welche das Licht hinüber auf das Bild der Chinesin fiel und es fast wie ein lebendes Wesen plastisch hell aus dem umgebenden Schatten hervortreten ließ. Das sah so unirdisch aus. Ich dachte unwillkürlich an die Fee, von welcher Raffley zu Mary gesprochen hatte. Tsi schien denselben Eindruck wie ich zu empfinden. Seine Augen hingen an dem Innern der Kajüte, und er flüsterte mir zu:

»Wie das Geheimnis bannt! Ist es Körper, oder ist es Seele? Es scheint, daß hier ein Ort der Offenbarung sei! Der Mond sucht nach dem Angesicht des Kranken. Man sollte ahnen, daß dieses süße, weiche Licht ihm Botschaft bringen wolle!«

Ich antwortete nicht, konnte aber auch den Blick nicht von dieser Szene wenden. Das Bild sah lächelnd auf den Schlummernden nieder und schien die Lippen zu bewegen. Der Schein des Mondes schmiegte sich weiter und weiter an seiner Gestalt empor. Jetzt legte er sich ihm schon auf die Brust; dann berührte er das Kinn, den Mund; er kam bis an das Auge, und nun geschah, was Tsi erwartet hatte: der Kranke begann zu sprechen, erst flüsternd und für uns nicht verständlich; dann aber, als der Mond das ganze Gesicht, auch Stirn und Haar beschien, hörten wir deutlich, was er sagte:

»Sei mir gegrüßt, du lieber Himmelsstrahl, in dem mein Engel zu mir niedersteigt; leg dich verklärend um die Erdenqual, wenn sterbend sie das Haupt am Kreuze neigt! Sei mir gegrüßt! Laß mich im Glauben sehn, daß jene Liebe, welche litt, nachdem die Kreuzigung an ihr geschehn, im neuen Leibe vor die Jünger tritt!«

Als er hierauf schwieg, sagte Tsi leise zu mir:

»Ich vermutete ganz richtig: das Mondlicht hat ihm die Vision gebracht. Wahrscheinlich bringt er jetzt nun das Gedicht.«

Diese Voraussage bewahrheitete sich. Nach einiger Zeit fuhr Waller langsam und jedes Wort betonend, in den beiden Zeilen fort:

»Tragt Euer Evangelium hinaus, Indem Ihrs lebt und lehrt an jedem Orte!«

Hierauf flüsterte er wieder wie vorher. Wir hörten nur den Namen Jesus deutlich. Dann erhob er die Stimme wieder und sprach:

»Er ging durchs Land, wie nur die Liebe geht, die keinen Hader um den Himmel kennt, weil jede Kerze, die am Altar steht, wie alle andern nur nach oben brennt. Er brachte sich der ganzen Menschheit dar, nicht einem auserwählten Volk allein, und weil sein Reich nicht von der Erde war, kann es auch jetzt nicht von der Erde sein!«

Tsi griff nach meiner Hand und drückte sie; ich verstand ihn, obgleich er dazu schwieg. Jetzt wendete der Kranke sein Gesicht dem Fenster zu, durch welches der Strahl des Mondes fiel, so daß es fast tagesdeutlich vor unsern Augen lag. Er lächelte wie Einer, der etwas unendlich Liebes schaut, indem er sich von Neuem hören ließ:

»Er kam und ging wie dieses milde Licht, willkommen, gern gesehn an jedem Ort; ein Evangelium sein Angesicht, sprach er als Vorbild sein Erlösungswort. O du, der selbst den Schächer nicht verwarf, den Mörder, der an deiner Seite hing, wo ist ein Mensch, von dem ich sagen darf, er sei für deinen Himmel zu gering?!«

Es war so unbeschreiblich, ihn zu hören. Nie waren mir Menschenworte so tief wie diese in das Herz gedrungen. Das nun folgende längere Schweigen ließ uns ihren Eindruck ganz und voll empfinden. Dann erklang es wieder langsam und rezitierend:

»Und alle Welt sei Euer Gotteshaus, In welchem Ihr erklingt als Engelsworte.«

Er wartete hier gar nicht, sondern fügte in einer Weise, als ob er nun etwas sehr Wichtiges zu sagen habe, sofort hinzu:

»Wer war's, der sich in Herrlichkeit und Pracht den Tempel der Unendlichkeit gebaut, wo Stern an Stern die Größe und die Macht des Schöpfers in dem Glanz von Sonnen schaut? Wer war's, der auf die Erde niederfuhr auf Allmachtsflügeln am Beginn der Zeit, in jeden Wurm zu legen eine Spur der Weltensehnsucht nach der Ewigkeit? Wer war's, wer ist's, nach dem dies Sehnen bangt in jedes Menschen, jedes Heiden Brust, in der das Herz dorthin zurückverlangt, wo es sich in der Heimat einst gewußt?«

Schon früher hatte ich es bemerkt, und jetzt hörte ich es wieder, daß er immer einen kleinen Teil des Gedichtes und dann die Erklärung hierauf brachte. Was er soeben gesagt hatte, bezog sich auf »alle Welt sei Euer Gotteshaus«. Von dem, was nun kam, war anzunehmen, daß es sich auf »In welchem Ihr erklingt als Engelsworte« beziehen werde. Und richtig; er fuhr fort:

»Der Priester trägt die Liebe wohl hinaus; was aber ist es, was der Andre bringt? Du lieber Mann, bleib immerhin zu Haus, weil deine Liebe doch im Haß verklingt! Du glaubst an deine heilge Mission, jedoch die Welt da draußen traut ihr nicht. Vergeblich klingt dein Wort in Christi Ton, weil Eure Tat in andrem Tone spricht!«

Das klang so schwer, so gewichtig, so vorwurfsvoll, so strafend. Nun war er still, lange, lange Zeit. Eben wollte der Streifen des Mondlichtes, welcher immer weiterstieg, sein Gesicht verlassen; da sahen wir, daß er die Augen öffnete. Sie richteten sich auf das Bild der Chinesin, welches ihm, wie schon bemerkt, gegenüberhing. Er streckte die Arme schnell, als ob er sie fassen wolle, nach ihr aus, zog sie langsam, langsam wieder zurück, breitete sie dann nach beiden Seiten aus, als ob er eine weite, unbegrenzte Fläche bezeichnen wolle, und sagte dann:

»Es liegt die Welt ringsum im Morgengraun; die Nebel wallen, um emporzusteigen. Mein Auge ist bereit, dich anzuschaun; o wolle deine Herrlichkeit mir zeigen! Wo kommst du her? Ich höre dein Gewand. Es rauscht so glückverheißend aus der Ferne, und dieses Rauschen ist mir wohlbekannt: du streifst mit deines Schleiers Saum die Sterne.«

Das, was er jetzt gesprochen hatte, bezog sich jedenfalls nicht auf das Gedicht und seinen Inhalt, sondern auf etwas ganz Anderes. Es tauchte ein neues Gesicht vor ihm auf, welches wahrscheinlich durch den Anblick des jetzt in so eigenartiger Schönheit und Beleuchtung hervortretenden Bildes eingeleitet worden war. Wir hörten seine Worte weiter:

»Ein süßer Duft bereitet deinen Schritt; schon höre ringsum ich die Glocken schlagen. In meinem Herzen tönt die Stunde mit, und deine Zeit beginnt, in mir zu tagen. Vielleicht trittst du jetzt nur in meine Welt, und ich bin es allein, der dich empfindet, doch ist die Uhr für Andre auch gestellt, sobald dein Licht die Dämmrung überwindet. – – – So wie ich wartete auf dieses Licht, so wartet auch das ganze Volk der Erde. Ich ahne dich; du nahst mir im Gedicht. O, daß dies Bildnis doch verstanden werde! Nun bist du da; du schaust mich lächelnd an, als seist du mir schon irgendwo begegnet, und ich, ich sinne zwar vergeblich, wann, doch hast du mich im Himmel einst gesegnet.«

Als er hier inne hielt, fragte mich Tsi in flüsterndem Tone:

»Wissen Sie, wovon er spricht? Seine Augen ruhen auf dieser wunderbar schönen, geheimnisvollen ›Yin‹ und dieser Name ist das chinesische Wort für ›Güte‹. Er spricht mit der Güte, welche zu uns niedersteigen muß, wenn uns geholfen werden soll. Doch, hören Sie!«

Der Kranke fuhr fort:

»O, segne mich nun hier zum zweitenmal und mit mir Alle, die auf Erden wandeln, damit wir, wie der Vater uns befahl, als seine Kinder an einander handeln. Du bringst die Liebe, die von oben quillt, für alle Kreatur zu uns hernieder. Es strahlt die Seele mir aus deinem Bild; die Güte ist's; o nimm sie mir nicht wieder!«

Er hatte die letzten Sätze mit erhobener, fast sehr lauter Stimme gesprochen. Nun war er still. Wir warteten zwar; aber nach längerer Zeit legte er sich, dem Mondschein abgewendet, auf die Seite. Nun war anzunehmen, daß er nicht mehr sprechen, sondern schlafen werde. Wir blieben aber sitzen, doch ohne mit einander zu reden. Es ging dem Chinesen wohl grad so wie mir: der Eindruck dessen, was wir gesehen und gehört hatten, war so tief und gab auch ihm so viel zu denken und innerlich zu ordnen, daß er sich nicht selbst durch laute Worte stören wollte. Ich zog meinen Stuhl aus und legte mich lang auf denselben nieder; wir hatten ja ausgemacht, die ganze Nacht wach zu bleiben.

Es herrschte tiefe Stille um uns her. Die leisen, regelmäßigen Pulse der Maschine konnten nicht als Unterbrechung dieses Schweigens gelten. Da hörte ich ein Geräusch, wie wenn ein Zündholz, welches nicht Feuer fangen will, wiederholt schnell angestrichen wird. Das klang von der anderen Seite der Kajüte her. War etwa Jemand dort, ohne daß wir es gewußt hatten? Dann wurde mir ein feiner Tabaksgeruch von der leise wehenden Nachtluft zugetragen. Ich bin Kenner und roch sogleich, daß es Cumana war, den der Governor ausschließlich rauchte. Ich stand also auf und ging hinüber. Richtig, da saß er auf dem Klappsitze, der an der Holzwand angebracht war! Er hatte Alles sehen und hören können, weil das Fenster hier auf der Leeseite offen stand. Seit wann war er da? Wir hatten ihn nicht kommen sehen, weil unsere Aufmerksamkeit nach dem Innern der Kajüte gerichtet gewesen war, und da wir hier an Bord fast alle Schiffsschuhe mit Gummisohlen trugen, waren seine Schritte nicht zu hören gewesen. Als er mich bemerkte, winkte er mir zu, nicht laut zu werden, und sagte in flüsterndem Tone:

»Wollte schlafen gehen; aber Ihr Buch vom Jenseits kam mir in die Hände. Habe darin gelesen. Diese Gedanken! Wo kommen die Ihnen nur her? Haben mich heraus auf das Deck getrieben. Da sah ich Sie im Mondscheine sitzen und eifrig in die Kajüte schauen. Was gab es da? Ich ging also hierher. War das etwa indiskret?«

»Nein,« antwortete ich. »Was haben Sie gehört, Mylord?«

»Alles, Alles, von den Worten an ›Tragt Euer Evangelium hinaus.‹ Auch gesehen habe ich Alles. Wunderbare Szene! Hat mich tief gepackt! Weiß gar nicht, was ich darüber denken oder gar sagen soll! Erst Ihr Buch, in welchem Sie beschreiben, was in der Sterbestunde vor sich geht, und dann diese Worte des Kranken, die aber nicht im Mindesten krankhaft klingen! Wenn er nie in seinem Leben Missionar war und es auch später niemals sein sollte, in dieser Stunde aber ist er es gewesen, wenigstens für mich; das können Sie mir glauben, und das werden Sie auch sehen. Wird er vielleicht wieder sprechen?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Well! So habe ich hier auf Nichts mehr zu warten. Muß mit mir aufs Reine kommen. Habe viel, viel zu verwalten und zu verantworten gehabt, bin aber auch einer von den Christen gewesen, deren Taten in einem anderen Tone als dem der Liebe sprechen. Habe sogar diesen Prachtmenschen, den Tsi, verachten wollen! Pfui!«

Er tat ein paar kräftige Züge aus der Pfeife und spuckte aus, es so unentschieden lassend, ob diese Interjektion sich auf den Tabak beziehen oder eine Zensur für ihn selbst sein sollte. Dann stand er auf und begann, in langsamen Schritten zwischen Bug und Stern auf und ab zu gehen.

Wie froh war ich über ihn! Diese tiefe Ergriffenheit! Und diese Aufrichtigkeit, mit welcher er sie eingestand; er hätte mir gar keine größere Freude machen können! Wer von solchen Dingen bloß hört oder liest, darf ja nicht denken, daß er zu einem Urteile fähig sei. Und wenn er dennoch kritisiert, so gleicht er jenem Eskimo, der nie seine Schneeeinöde verlassen und nie eine Kirche gesehen hatte, sich aber doch für klug genug hielt, über den Glocken- und Orgelklang zu lachen, als er davon sprechen hörte. –

Waller schlief während der ganzen Nacht ohne Unterbrechung weiter, und als am Morgen Mary kam, überließ ich es Tsi, auf ihre Fragen Antwort zu erteilen, denn der Governor nahm mich in Beschlag. Er interessierte sich ganz plötzlich sehr für psychologische Probleme und gab sich dabei so lernbereit, so mild und weich, wie ich es vorher für gar nicht möglich gehalten hätte.

Die Fahrt verlief äußerlich ereignislos, wenn ich die Begegnungen mit anderen Schiffen nicht als Ereignisse bezeichnen will. Dieser Mangel wurde aber mehr als vollständig durch das ausgeglichen, was sich zu inneren, seelischen Begebenheiten entwickelte. Ich bin überzeugt, es gab da unter uns nicht einen Einzigen, der sich den Wandlungen hätte entziehen können, welche mit Waller schon damals auf dem Dschebel Mokattam begonnen und Jeden, der mit ihm in nähere Beziehung gekommen war, mit in ihren Bereich gezogen hatten. Er fuhr von Amerika nach China; aber während diese große, räumliche Bewegung vor sich ging, machte er innerlich eine Reise, welche von viel größerer Weite und Bedeutung war, denn sie führte ihn in eine solche Ferne, daß es ihm geradezu unmöglich wurde, an den Punkt, von dem sie ausgegangen war, jemals im Leben wieder zurückzukehren. Er hatte eine ihm jetzt vollständig entschwundene geistige Welt für immer verlassen und befand sich jetzt unterwegs nach einer anderen, neuen, besseren und schöneren, und ich schäme mich nicht, zu gestehen, daß wir auch auf diesem geistigen Wege seine Gefährten waren, die an allen seinen Seelenäußerungen den innigsten Anteil nahmen. Ich kann also über unsere Fahrt keine sogenannten »Reiseabenteuer« berichten, an welchen sich doch nur die Oberflächlichkeit ergötzt; wer aber einen Sinn für die unendlich gestalten- und ereignisreiche Seelenwelt des Menschen hat und ein Verständnis für die Tiefe besitzt, in welcher die äußeren Vorgänge des Menschen- und des Völkerlebens geboren werden, der wird nicht mißvergnügt, sondern ganz im Gegenteile mit mir einverstanden darüber sein, daß ich ihn in diese Tiefe führe, anstatt ihn für einen Leser zu halten, der nur nach der Kost der Unverständigen verlangt.

Da gab es denn am dritten Tage, nachdem wir Hongkong verlassen hatten, ein Ereignis, welches ich in psychologischer Beziehung recht wohl ein »Abenteuer« nennen könnte. Wir hatten auf dem Deck gefrühstückt. Mary war auch dabei gewesen, dann aber zu ihrem Vater gegangen. Nun kam sie eiligst zurück und teilte Tsi in ängstlichem Tone mit:

»Ich bin bestürzt; ich habe einen Fehler begangen. Ich hatte in ›Am Jenseits‹ gelesen und ließ das Buch, als das Zeichen zum Speisen gegeben wurde, auf dem Stuhle neben Vater liegen; ich glaubte, daß er schlafe. Als ich jetzt bei ihm eintrat, wachte er und hatte das Buch in der Hand. Er las. Denken Sie, er las in einem Buche des Verfassers, gegen den er stets gesprochen hat, weil er ihn nie verstand! Ich bat ihn um das Buch; er schüttelte nur den Kopf. Ich wiederholte meine Bitte zum zweiten und zum drittenmal. Da sah er mich aus vollständig fremden Augen zornig an, rief mir die Worte ›El Mizan, die Wage der Gerechtigkeit‹ in einer Weise zu, als ob es mir das Leben kosten werde, falls ich ihn noch weiter störe. Darum wagte ich keinen weiteren Einwand und eilte hierher, um zu sagen, wie sehr ich mich ängstige. Denken Sie sich doch: Er, der Todesschwache, noch immer nicht Gerettete, der seine eigenen Gedanken noch nicht zu fassen und festzuhalten vermag, liest jene tiefen, schweren Stellen, die man nur dann verstehen und begreifen kann, wenn – – –«

Da lächelte Tsi sie fröhlich an und unterbrach sie mit den Worten:

»Haben Sie keine Sorge, Mylady! Er hat, als er im Arm des Todes lag, an dieser entsetzlichen Wage der Gerechtigkeit gestanden, und grad ihr Anblick ist's gewesen, der ihn von seinem frühern Irrtümern befreite. Sein Geist hat jenen entscheidenden Augenblick nicht behalten können; das quält ihn, ohne daß er davon redet. Wenn er nun in dem Buche wiederfindet, was seinem Gedächtnisse verloren gegangen ist, wird er innerlich klar und ruhig werden. Sie haben also nichts zu befürchten, sondern nur Gutes zu erwarten.«

Das klang so bestimmt, so überzeugt, daß es ihr unmöglich war, sich weiter zu ängstigen. Und dann, als wir vom Frühstückstische aufgestanden waren und ich mir mit dem Governor auf dem Deck Bewegung machte, sagte dieser:

»Ich will aufrichtig gegen Euch sein, Sir. Noch bis vor Kurzem wäre es mir sehr, sehr schwer geworden, einzugestehen, daß ich, meinen Beruf abgerechnet, auf geistigem Gebiete so viel wie nichts gewesen bin. Jetzt aber mache ich Euch dieses Geständnis in aller Form und Aufrichtigkeit. Nehmt es von mir an! Nach der wundersamen Szene dort in der Kajüte gibt es für mich keine rückständigen Menschen und Nationen mehr. Und von dieser Eurer ›Wage der Gerechtigkeit‹ habe ich gelernt, einzusehen, daß ich den Wert der denkenden Geschöpfe bisher mit vollständig falschem Maß gemessen habe. Dieser Tsi ist mir über, vielleicht in jeder Beziehung außer der Geburt, und das will ja nichts sagen, wenigstens hier. Welche Klarheit und Sicherheit in seinem ganzen Wesen, in jedem seiner Worte! Ich alter Graukopf kann noch von ihm lernen. Und seine Landsmännin, die ›Yin‹, das Bild in der Kajüte! Haben Sie gesehen, wie es im Lichte zu leben und jedes Wort des Kranken zu verstehen schien? Ich habe da begonnen, die wahre Kunst zu begreifen und denke nun auch über den Marmorkopf ganz anders. Diese ›Yin‹ ist mir in den letzten Tagen so lieb geworden, daß es ein Verlust für mich wäre, wenn sie nur als Kunstwerk existierte, ohne auch als Original vor mir stehen zu können. So! Das mußte und wollte ich sagen, zunächst nur Euch. Verratet mich aber nicht. Werde schon selbst sprechen, wenn meine Zeit gekommen ist!«

Von jetzt an hatte Waller, wenn man zu ihm kam und er nicht schlief, das Buch stets in der Hand, und es war ihm anzusehen, daß er es nur ungern aus derselben legte.

Was meinen Sejjid Omar betrifft, so war er auf der Jacht ganz wie daheim. Jedermann hatte ihn gern, und Jedermann erfreute sich seiner Gegenliebe. Es gab für ihn in Beziehung auf meine Person so viel wie nichts zu tun, und das war recht gut, denn er gefiel sich während dieser Fahrt darin, seine Aufmerksamkeit zwischen mir und Tsi und Mary Waller zu teilen. Von Tsi bekam er noch immer Unterricht im Chinesischen; er saß stundenlang allein, um mit lauter Stimme hunderte von auswendiggelernten Wörtern herzusagen, versäumte aber keine Gelegenheit, mir zu wiederholen, daß es nur zwei wirkliche, vollendete Sprachen gebe, die arabische und die deutsche, und daß die chinesische eigentlich gar keine Worte, sondern nur ganz verkehrte Redensarten habe. Und was die Lady betrifft, so widmete er ihr seine unausgesetzte Dienstwilligkeit in einer Weise, welche der Verehrung glich. Das war der Einfluß edler Weiblichkeit auf einen Araber, welcher in der Anschauung aufgewachsen war, daß die Frau nichts weiter als nur des Mannes Dienerin sei.

Als wir uns Shanghai näherten, trat selbstverständlich die Frage an uns heran, ob und wie lange wir in diesem Hafen bleiben würden. Keiner wollte sie an Raffley richten, aber grad darum, weil wir keine Antwort auf sie wußten, beschäftigte sie uns um so mehr. Tsi mußte dabei nicht nur an sich, sondern auch an seinen Patienten denken, und in dieser Beziehung war es sogar seine Pflicht, zu wissen, wohin die Reise ging. Er wendete sich mit seinen Sorgen an mich, dessen Freundschaft mit Raffley auf Vermittlung rechnen ließ, und teilte mir im Vertrauen mit, daß er einen Ort kenne, welcher wie kein zweiter zur Aufnahme eines solchen, oder vielmehr dieses Kranken geeignet sei.

»Dort und nur dort allein,« sagte er, »würde Waller Alles, aber auch Alles finden, was für ihn nötig ist, wenn er nicht nur körperlich gesunden, sondern auch seelisch den wünschenswerten Abschluß seiner jetzigen Entwicklung erreichen soll. Aus diesem Grunde muß ich wünschen, daß nicht Raffley, sondern ich es wäre, der über das Ziel unserer Fahrt zu bestimmen hat.«

Es schien ihm nicht ganz leicht zu werden, weiter zu sprechen; er fuhr erst nach einigem Zögern fort:

»Ich sehe ein, daß ich aufrichtig sein und mein Geheimnis endlich vor Ihnen lüften muß, zumal Sie wohl von allem Anfang an geahnt haben, daß mein Vater etwas mehr ist, als er sich gegen Fremde merken ließ. Doch, wenn ich Ihnen nun die Wahrheit sage, so denken Sie ja nicht, daß ich mit ihr prunken will. Grad die Prahlerei ist das, was uns am fernsten liegt, und was ich Ihnen sage, würden Sie ja ohnehin erfahren.«

Wir saßen miteinander allein. Niemand hörte uns. Ich gestehe, daß ich gespannt auf die endliche Lösung dieses Rätsels war. Er begann sie mit den Worten:

»Kaiser Hoang-ti, welcher fast dreitausend Jahre vor Ihrer Zeitrechnung lebte und den Grund zu unserm Staatswesen legte, gab seinen Kindern Namen, welche auf ihre Nachkommen übergehen sollten und noch heut von keinem Andern getragen werden dürfen. Der Name des Sohnes, von welchem ich abstamme, war Ki. Sie sehen, daß ich mich in Beziehung auf das, was Sie Adel nennen, vor keinem Europäer zu verbergen habe. Mein Stammbaum hat nicht eine einzige Lücke, und auf keinem von allen diesen Namen ruht selbst nach den gegenwärtigen und europäischen Ehrbegriffen die geringste Schande. Mein Vater heißt Ki Tai Schin. Den Ehrennamen Tai Schin hat er direkt vom Kaiser bekommen. Er ist Mandarin der ersten Klasse und Ritter der ›Gelben Flagge‹. Solche Ritter gibt es im ganzen, großen Reiche nur fünf, und mit diesem allerhöchsten Rang ist das Recht über Leben und Tod verbunden. Ich erhielt, auch vom Kaiser, den Namen Ki Ti Weng, doch bitte ich, mich immerhin wie bisher Tsi zu nennen. Wir sind reich; ich kenne Raffleys Vermögen nicht, aber ein Vergleich sogar mit diesem Herrn würde sicher zu unsern Gunsten ausfallen. So, das als Einleitung. Ich mußte es sagen, obgleich es so sehr unbescheiden klingt.«

Es gilt, zu den Namen zu bemerken, daß Tai Schin so viel wie »Große Pflichttreue« oder »Große Humanität« heißt. Vom Kaiser selbst gegeben, war das gewiß ein vielsagender Ehrennamen. Und Ti Weng heißt »Jüngerer Greis«. Nach der chinesischen Bedeutung dieses Wortes Greis, welche auf Wissen, Können und Erfahrung zielt, konnte Tsi mit dieser großen Auszeichnung wohl mehr als nur zufrieden sein. Der junge Mann war aber nichts weniger als eingebildet stolz. Er sprach weiter:

»Als ich in Frankreich war, lernte mein Vater in Peking einen Engländer Namens Blackstone kennen, den ich also nie gesehen habe, obgleich die Beiden sich außerordentlich nahegetreten sind und trotz des Altersunterschiedes einander Brüder nennen. Dieser Blackstone muß ein selten begabter Mann sein, reich, human, tatkräftig, für hohe Zwecke opferwillig, kurz von den edelsten Gesinnungen beseelt. Ich stelle mir ihn wie unsern Raffley vor. Wie es gekommen ist, das möchte ich nicht ausführlich beschreiben, aber Vater war und ist voller Begeisterung für diesen Europäer. Jeder der Beiden liebt sein Vaterland von ganzem Herzen, und während Vater der Ueberzeugung ist, daß China zwar das volle Recht besitze, sich dem Abendlande zu verschließen, aber doch klug daran tue, seine Eigenart im friedlichen Völkerverkehre zur Geltung zu bringen, wird von Blackstone der christlich lieben Anschauung das Wort gesprochen, daß für den Westen im Osten noch ungeahnte Schätze liegen, die man sich aber nicht mit dem Schwerte zu erobern, sondern in freundlicher und redlicher Weise einzutauschen habe. In diesen zwei Männern kommen also Morgen- und Abendland einander in der Weise entgegen, wie es von der wahren Intelligenz, der wahren Humanität und dem wahren Christentum befohlen wird. Sie faßten den Entschluß, diese Harmonie der Gesinnung in die Tat, diese Theorie in die Praxis umzusetzen, und erwarben an der chinesischen Küste eine Landstrecke, welche groß genug und in jeder Beziehung geeignet war, diesem Zwecke zu dienen. Ich weiß nicht Alles, was sie da geschaffen haben, obgleich Vater mir so viel davon erzählt hat, denn er ist ja bis kürzlich fast zwei Jahre lang von dort abwesend gewesen und also über das Neueste selbst noch nicht genau unterrichtet.«

»So ist er wohl jetzt wieder dort?« erkundigte ich mich.

»Ja.«

»Und Blackstone auch?«

»Dieser nicht. Er hat Vater geschrieben, daß er nach England müsse, aber bald zurückkehren werde. Das war vor schon längerer Zeit, so daß er also bald wieder zu erwarten ist. Ich verzichte jetzt auch deshalb darauf, Ihnen Näheres mitzuteilen, weil, wenn sich mein Wunsch erfüllt, Sie ja Alles mit eigenen Augen sehen werden. Vater betrachtet Blackstone als seinem jüngeren Bruder und hat mir so viel Liebes und Edles von ihm erzählt, daß ich mich unendlich darauf freue, ihn kennen zu lernen. Dorthin und nur dorthin möchte ich Waller bringen. Meinen Sie, bei Raffley erwirken zu können, daß er mir den Patienten überläßt?«

»Ich werde es versuchen,« antwortete ich. »Ob ich es erreiche, kann ich freilich nicht sagen. Ich darf ihm natürlich mitteilen, wer und was Sie sind?«

»Ich bitte sogar darum. Dieses Inkognito ist unter den jetzigen Verhältnissen doch nicht länger festzuhalten.«

Es war dann nach dem Abendessen. Raffley kam mit irgend einer Frage zu mir in meine Kabine. Da nahm ich die Gelegenheit wahr und trug ihm vor, was ich von Tsi gehört hatte. Die Wirkung war ganz anders, als ich sie mir vorgestellt hatte. Er machte zunächst ein sehr erstauntes Gesicht; dann lächelte er im höchsten Grade vergnügt; hierauf wurde er wieder ernst, doch war es ein glücklicher Ernst, und als ich fertig war, nickte er befriedigt vor sich hin und sagte:

»Wer hätte das gedacht! Also dieser Tsi ist dieser Ki Ti Weng, auf welchen wir so große Hoffnungen setzen!«

»Wie? Sie haben schon von Ki Ti Weng gehört?« fragte ich überrascht.

»Gehört? Hm! Charley, hören Sie, was ich Ihnen jetzt sage!«

Er trat vor mich hin, legte mir seine beiden Hände auf die Achseln und fuhr fort, indem er die Worte gewichtig auseinanderzog:

»Dieser – – Blackstone – – bin – – nämlich – – ich – –! Ich habe mich nach einem meiner Schlösser, Blackstone Castle, so genannt!«

Natürlich war die Reihe, sich zu wundern, nun an mir, und dies tat ich so gründlich, daß er lachend ausrief:

»Glauben Sie es getrost; es ist die volle reine Wahrheit! Ich werde Ihnen erzählen, wie das so gekommen ist. Aber kommen Sie heraus aus dieser Koje! Wir müssen draußen unter dem freien Himmel sein und die Sterne über uns haben, wenn ich Ihnen berichte, wo, wann und wie mir der Stern meines Lebens aufgegangen ist.«

Wir setzten uns hinaus aufs offene Deck, und da begann er, zu erzählen. Es war eine Liebesgeschichte, aber was für eine! Seelentief, heilig ernst, die Vereinigung zweier, für einander bestimmter Wesen zu einem einzig einen! Nun das Schweigen einmal gebrochen war, sprach er so selig gern und darum so ausführlich von ihr. Er war kein Mann der Phantasie; man hörte jedem Worte an, daß er nicht übertrieb. Was für ein herrliches Weib mußte diese Yin sein, deren Einwirkung ihn so vertieft und so veredelt hatte! Ich muß natürlich kürzer sein, als er es war.

Ihr Vater war droben in Hla-Sa, der Hauptstadt von Tibet, wo der Dalai-Lama thront, Gouverneur des Kaiserreiches China gewesen. Dort wurde sie geboren, und daher kam es, daß ihre Füße nicht zu chinesischen Klumpfüßchen verunstaltet worden waren. Ihr Vater gehörte auch der adeligen Familie der Ki an. Er starb in Tibet. Sie kam mit ihrer Mutter nach Peking zu einem sehr wohlhabenden Bruder der letzteren, welcher ohne Frau und Kinder war und sein Leben nur im Studium der buddhistischen und konfuzianischen Lehren verbrachte. Er gewann das schöne, ganz eigen geartete Kind lieb und beschäftigte sich so viel mit demselben, daß es sich nach und nach in ihn einlebte und an seiner geistigen Tätigkeit den größten Anteil nahm. Das Mädchen lernte lesen und schreiben, bei Chinesinnen eine große Seltenheit, wurde in die Gedankenwelt des Oheims eingeführt und von diesem als Erbin nicht nur seines Vermögens, sondern auch seiner Seelenwelt betrachtet. So wuchs sie heran, immer schöner werdend, doch nichts begehrend, als nur für die Mutter und den Oheim leben zu dürfen. Dieser ahnte in seiner Bescheidenheit gar nicht, daß er ein berühmter Gelehrter war, den sogar Ausländer aufsuchten, um ihn kennen zu lernen. Er war der englischen Sprache mächtig und brachte seine Mußestunden gern damit zu, auch seine Nichte in dieselbe einzuführen. So kam es, daß sie europäische Bücher lesen lernte und vom Onkel die Erlaubnis erhielt, mit den Frauen der abendländischen Gesandtschaft zu verkehren. Was bei einem Manne die ganz gewisse Folge gewesen wäre, nämlich ein innerlicher Zwist zwischen der heimischen und der fremden Anschauung, das wurde bei Yin zum freundlichen Streben beider, in ihr zu einer vollen, friedlich klaren Harmonie zusammenzuklingen. Und wie es ganz gewiß wahr ist, daß die Seele die plastische Entwickelung des Körpers beeinflußt, so wurde es je länger desto schwerer, aus den Gesichtszügen dieses Mädchens die mongolische Abstammung zu folgern. Und grad diese Durchgeistigung des einen von dem andern war es, wodurch Raffley sofort und für immer gefesselt worden war, als er sie bei dem Besuche einer englischen Familie zum ersten Male gesehen und gesprochen hatte. Ein so ungewöhnlicher Mann wie er konnte allerdings auch nur durch ein so seltenes Wesen wie sie zu dem Entschlusse bewogen werden, alles an das große Glück zu setzen, sie sein Eigen nennen zu dürfen. Indem er in dieser Weise von ihr sprach, sagte er:

»Ich fühlte es, als ich sie kennen lernte, doch klar ist es mir erst nach und nach geworden, daß in ihr die Vereinigung zweier Ideale Gestalt und Leben gewonnen hat. Wird die Erde jemals ein einig einziges Schönheitsideal besitzen? Ich weiß es nicht. Aber meine Yin ist es, nach der ich es meißeln oder malen würde, wenn ich Künstler wäre! Und ich meine das nicht nur in körperlicher Beziehung. Die Summe aller seelischen Vorzüge kann nichts Anderes als nur Güte sein, und Yin ist ganz unfähig, etwas Anderes zu sein, als nur die Güte selbst. Ich habe um sie gedient, wie Jakob einst um seine Rahel diente, zwar nicht so lange, aber mit derselben Opferwilligkeit. Sie liebte mich, doch ihr Oheim weigerte sich, sie der Gefahr auszusetzen, sich von einem abendländischen Edelmanne, dessen Verwandte sie nicht anerkennen würden, später vielleicht verlassen zu sehen. Da lernte ich Ki Tai Schin kennen und verkehrte täglich mit ihm, doch ohne ihm auch nur ein einziges Wort über Yin zu sagen. Ich hatte früher die mongolische Rasse tief unterschätzt, wie fast jeder Europäer es tut, doch war es der Liebe gelungen, mir die Augen zu öffnen. Yin lebte in mir. Das gewann mir die Freundschaft dieses so hochgebildeten und weitblickenden Mandarinen. Er erfuhr den eigentlichen Grund meines Handelns nicht, aber wir wurden mit einander einig, das Werk zu schaffen, von welchem Ihnen sein Sohn berichtet hat.«

Raffley hatte sich diesem Werke mit größtem Eifer hingegeben, doch erst als es zu einem überzeugenden Beweise gediehen war, hatte der Oheim ihn benachrichtigt, daß er ihn nun auch persönlich näher kennen lernen wolle. Um diese Zeit war es, daß Fu, wie ich ihn noch nennen will, seine große Studienreise in das Ausland unternahm, um am Schlusse derselben seinen Sohn aus dem Abendlande heimzuführen. Raffley, der sich seiner hocharistokratischen Familie wegen Blackstone nannte, sah endlich seinen Herzenswunsch erfüllt: Yin wurde sein; Mutter und Oheim verließen mit ihr Peking, um sich an Raffleys Arbeit zu betätigen. In dieser ersten Zeit des Glückes wurde die Jacht gebaut, welche natürlich gar nicht anders als nur Yin heißen konnte. Aber einem Charakter wie Raffley konnte ein verheimlichtes Glück kein ganzes, kein volles sein. Er war unendlich stolz auf den Schatz, den er erworben hatte, und wollte ihn von seinen Verwandten anerkannt sehen. Er war es dieser Frau schuldig, daß sie von den Seinen so geehrt und so geachtet wurde, wie sie es verdiente. Darum ging er nach England. Er fand dort nichts als Widerstand. John Raffley, und eine Chinesin, pfui! Es hatte da Szenen gegeben, welche er nicht beschrieb, sondern nur ahnen ließ. Aber da war ganz unerwartet ein glückverheißender Umstand eingetreten: der Governor wettete ebenso gern wie Raffley selbst und hatte während einer derartigen Szene eine Wette vorgeschlagen, welche von allen Beteiligten acceptiert worden war. Er wollte mit nach China gehen, um diese Yin zu sehen. Gefiel sie ihm, so sollte sie anerkannt und als vollständig ebenbürtig betrachtet werden; gefiel sie ihm aber nicht, so hatte Raffley auf Alles zu verzichten, was er war und was er besaß. Diese Bedingungen wurden amtlich festgestellt, beglaubigt und von allen dabei interessierten Personen unterzeichnet. Dann trat Raffley mit dem Governor die Rückfahrt an, vollständig überzeugt, daß er gewinnen werde. Der alte Gentlemann aber forderte, daß unterwegs niemals von Yin gesprochen werden dürfe, weil dies sein Urteil im voraus beeinflussen könne, und Raffley weigerte sich nicht, auch hierzu seine Einwilligung zu erteilen.

Das also war die »große Wette«, von welcher der Governor einige Male vertraulich zu mir gesprochen hatte, und darum war diese schöne Yin für ihn ein »Gespenst«, vor welchem er sich scheute. Je näher er China gekommen war, desto mehr hatte sich in ihm die Befürchtung vergrößert, daß er einer Niederlage entgegengehe.

Als Raffley mir das Alles erzählt hatte, ging er mit mir zu Tsi und teilte ihm mit, daß und aus welchem Grunde ihr beider Reiseziel dasselbe sei. Das Erstaunen des Chinesen war ebenso groß wie seine Freude. Hatte er mir doch so richtig ahnend gesagt, daß er sich diesen Blackstone ganz wie Raffley vorstelle. Nun war mit einem Male Alles glatt und klar geworden, und es sollte für Tsi noch eine ganz besondere Genugtuung geben, denn zufällig näherte sich uns jetzt der Governor, zu welchem Raffley sagte:

»Dear uncle, steht fest, und haltet Euch irgendwo an! Es ist ein Ereignis unterwegs, welches Euch sehr leicht ins Wackeln bringen kann!«

»Ich wackele nie!« behauptete der Onkel.

»Aber jetzt wahrscheinlich doch; wollen sehen!« Er nahm den Chinesen bei der Hand, zog ihn bis vor den Governor hin und fragte diesen: »Wer ist dieser Gentleman? Kennt Ihr wohl seinen Namen?«

»Ah, so! Jedenfalls ein Witz! Well, gehen wir darauf ein! Dieser Gentleman ist mein Freund und heißt Doktor Tsi.«

»Nein, so heißt er nicht, sondern Ki Ti Weng.«

»Ki – – Ti – – Ti – – Ti – –« machte der Uncle, indem sein Gesicht bei jedem »Ti« immer erstaunter wurde. »Ti – – Ti – – – Wang, Wing oder Weng! So heißt doch wohl der Sohn deines Freundes, des Mandarinen Ki Tai – – Tai – – Tai und so weiter?«

»Allerdings. Und dieser Sohn ist eben unser Doktor Tsi. Ich habe natürlich keine Ahnung davon gehabt und es erst jetzt, in diesem Augenblick, erfahren.«

»Ist es möglich? Das soll ich glauben?«

»Gewiß!«

»Der Sohn des Mandarinen mit dem viertausendsechshundert Jahre alten Adel?«

»Ja.«

»So halte mich! Ich wackele!«

Er war im höchsten Grade erstaunt, obgleich er sich bemühte, seiner Verwunderung diese scherzhafte Wendung zu geben. So fuhr er fort:

»Inkognito! Unter andern Namen! Es geht Alles, Alles anders, als man dachte! Meine Wette, meine große, große Wette! Aber ich werde mich rächen! Dieser Doktor Tsi, der eigentlich Ki Ti – – Ti – – Ti und so weiter heißt, soll mir zur Strafe für seine Heimlichkeiten die Namen und Daten aller seiner Ahnen hersagen, welche es in diesen viertausend sechshundert Jahren gegeben hat. Bitte, vorwärts, nach meiner Koje! Heut sieht sie unsern Tsi zum erstenmal als Gast!«

Er zog den Arm des Arztes unter den seinen und ging mit ihm fort.

»Alter, echter Gentleman!« sagte Raffley gerührt. »Könnte doch ein Jeder die alten Vorurteile in so an ständiger Weise überwinden, wie er! Ich bin überzeugt, daß er schon in den nächsten Tagen auch mit meiner herrlichen Yin genau so Arm in Arm promenieren gehen wird!« –

In Shanghai blieben wir einen ganzen Tag, denn es gab für alle Gesunden das Bedürfnis, sich einmal eine anhaltendere Bewegung zu machen, als an Bord möglich war. Es gelang mir, zwei gute Pferde aufzutreiben, um mit meinem Sejjid Omar, der sich sehr darüber freute, einen Ritt über den schattigen »Bund« und durch die jenseits des chinesischen Stadtteiles liegenden Avenuen zu machen. Dann begleitete ich Raffley durch die Läden, in denen er nach Gegenständen für die Geliebte suchte. Es hatte aber den Anschein, als ob ihm nichts ihrer recht würdig sei, obgleich er mir im Tone des Glückes anvertraute, daß sie die Einfachheit liebe und auch gar nicht nötig habe, sich zu schmücken, da sie selbst die köstlichste Perle sei, die man sich nur denken könne.

Am Abende besuchten wir mit Mary Waller den berühmten, wunderbar illuminierten Garten von Chang Su Ho. Tsi hielt es für notwendig, der Lady diese Abwechslung zu bieten, zumal das Befinden ihres Vaters es ihr jetzt erlaubte, sich für einige Stunden von ihm zu beurlauben.

Wir hatten uns in dem erwähnten Garten für uns allein gesetzt und betrachteten mit regem Interesse das vielgestaltete Leben, welches in der prachtvollen künstlichen Beleuchtung vor uns auf- und niederwogte. Da sprang Tsi plötzlich auf und eilte einem kleinen, schmächtigen Chinesen nach, welcher an uns vorübergegangen war, ohne von uns beachtet worden zu sein. Er hielt ihn fest und sprach zu ihm, ohne ihn vorher in der landesüblichen, umständlichen Weise begrüßt zu haben; der Kleine schien also ein näherer Bekannter von ihm zu sein. Dann führte er ihn uns zu, und ich sah zu meiner Ueberraschung, daß es Fang, mein Bekannter von Point de Galle her war. Er stellte ihn uns unter Aufzählung aller Titel und Würden vor und fügte hinzu, daß dieser Mandarin des roten Blumenknopfes früher sein Lehrer gewesen und einer der berühmtesten Aerzte Chinas sei. Ich streckte dem lieben Kleinen nach europäischem Brauche meine beiden Hände hin, um ihn willkommen zu heißen, wodurch die Andern erfuhren, daß wir uns schon kannten. Er nahm selbstverständlich bei uns Platz, und da stellte es sich bald heraus, daß er in der Absicht, zu Tsis Vater zu reisen, hier in Shanghai nach einer Schiffsgelegenheit dorthin gesucht hatte. Raffley beeilte sich, ihn einzuladen, mit uns zu fahren, und es wurde bereitwilligst angenommen.

Im Laufe der Unterhaltung kam die Rede auf unsern Patienten. Tsi begann zu erzählen. Fang hörte mit größtem Interesse, welches sich oft zur Spannung steigerte, zu und unterbrach den Bericht hier und da mit Erkundigungen, welche verrieten, daß er sich hier auf einem Gebiete befinde, auf dem er vielleicht noch heimischer als sein einstiger Schüler sei. Er hielt uns, als Tsi zu Ende war, über das Thema »Vision« ein Privatissimum, welches selbst einem europäischen Gelehrten ersten Ranges Bewunderung abgenötigt hätte, stimmte der bisherigen Behandlung Wallers in jeder Beziehung völlig bei und versicherte uns, daß die abendländische Wissenschaft hier vor einem Felde stehe, welches die Geringschätzung, mit der man es bis heut behandelt habe, nichts weniger als verdiene. Nach einiger Zeit verabschiedete er sich für einstweilen von uns, um sein Gepäck zu besorgen, und als wir dann an Bord ankamen, war er schon da und erzählte uns in heiterer Weise, daß mein Sejjid Omar ihn sogleich erkannt und eine wunderbare chinesische Rede vom Stapel gelassen habe.

Am folgenden Vormittage nahmen wir Anker auf und gingen bei prächtigstem Wetter mit vollem Dampfe weiter. Indem wir uns von der Tschifulinie weit nach Westen hielten, entfernten wir uns von dem Kurse europäischer Fahrzeuge und bekamen nur dann und wann ein chinesisches zu sehen. Auch an Bord schien es weniger Leben als sonst zu geben. Mary war bei ihrem Vater. Tsi saß, wenn er sich nicht mit dem Kranken beschäftigte, mit Fang beisammen; sie hatten ja einander viel zu berichten. Raffley beschäftigte sich mit dem Ordnen der Geschenke, welche er nach unserer Ankunft zu verteilen hatte, und der Governor war heut von einer Nervosität, welche ihn fast ungenießbar machte. Ich versuchte einigemal, ein Gespräch mit ihm zu beginnen; er hielt mir aber nicht Stand. Das war wohl freilich zu begreifen, weil die Entscheidung nun so nahe lag. Bei einem dieser Versuche sah er mich wie ratlos an und sagte:

»Wißt Ihr, Sir, was morgen geschieht, schon morgen? O, diese Yin! Ich wünsche sie ins Pfefferland und freue mich doch fast wie ein Kind auf sie! Ist das nicht verrückt? Werde ich gewinnen oder verlieren? Pshaw! Ich brauche ja nur fest zu behaupten, daß sie mir nicht gefällt, so habe ich den Sieg! Aber erstens wäre das eine Lüge, weil mir doch schon ihr Bild gefällt. Zweitens liegt mir dieser alte, liebe John am Herzen. Sollen wir ihn um Alles, Alles bringen, weil er so klug ist, wirklich glücklich sein zu wollen? Und drittens, hm, drittens kommt mir diese ganze Wette so unsinnig vor, daß ich mich gar nicht begreife. Wie ein vernünftiger Mensch nur wetten kann!«

Das klang grad aus seinem Munde so sonderbar, daß ich ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. Er sah das und fuhr schnell und fast zornig fort:

»Lacht nur, Sir, immer lacht! Wer hat denn diesen Hieb gegen John und mich geführt? Ihr! Jede Wette ging verloren, nur die Eurige nicht. Und Waller wird die seinige auch bezahlen müssen! Nun treibt mich heut die Ungewißheit hin und her, und ich kann mir nicht einmal mit einer Wette Luft machen! Und wenn ich könnte, so würde ich es doch nicht tun, denn ich – – ich – – wette nie in meinem Leben mehr. Hört Ihr es? Nie! Und daran seid Ihr schuld, Ihr fataler, schrecklicher – – guter, lieber Mensch!«

Er drehte sich auf den Hacken um und ließ mich stehen. Der Kampf des Menschen mit sich selbst ist der schwerste, den es gibt. Es gelingt nur Wenigen, ihn bis zum Ende und siegreich durchzuführen.

Am Abende dieses Tages geschah etwas sehr Eigenartiges, sehr Unerwartetes. Der Kranke hatte, ohne die Augen zu öffnen oder ein Glied zu bewegen, dreimal mit starker, befehlender Stimme verlangt, aus der Kajüte hinaus auf das Deck geschafft zu werden. Er wolle den Strahl von oben direkt auf sich leuchten sehen. Mary meldete das Tsi, und dieser war so bedachtsam, erst dann zu bestimmen, nachdem er mit Fang hierüber gesprochen hatte. Beide trafen in der Meinung zusammen, daß man den Wunsch zu erfüllen habe, zumal der Abend ein sehr ruhiger und selten schöner war. Natürlich war Waller nur mitsamt dem Lager zu transportieren. Es wurde herausgeholt und bis nach Yins Kajüte getragen, weil dieser Platz am besten hierfür paßte. Ich stieg mit Fang auf das Verdeck dieser Kajüte, von wo aus wir den Kranken nahe unter uns hatten. Tsi und Mary nahmen ihre Stellung zu seinen beiden Seiten.

Er lag zunächst mit geschlossenen Augen. Erst nach längerer Zeit öffnete er sie und schaute zum Firmamente empor. Er sagte nichts. Seine Seele war nicht nach außen, sondern nur in ihm beschäftigt. In dieser Stille verging eine lange, lange Zeit. Da kam der Mond im Osten aus der See gestiegen. Der Kranke wurde zunächst unruhig; dann lag er wieder still. Und plötzlich, so unerwartet und so laut, daß wir fast erschraken, ertönte seine Stimme:

»Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein; Laßt ihren Puls durch alle Länder fließen; Dann wird die Erde Christi Kirche sein, Und wieder eins von Gottes Paradiesen!«

Wir konnten ihn nur sehen, wenn wir uns von oben vorbeugten, und da wir befürchteten, ihn dadurch zu stören, so wurde es von jetzt an unterlassen. Wir vermieden jedes, auch das geringste Geräusch, und so hörten wir, daß er vor sich hinflüsterte. Dann wurde seine Stimme wieder laut:

»Steigt nieder, die ihr jetzt am Himmel strahlt, zu der, die euch nur aus der Ferne kennt, zur Welt des Scheins, die mit dem Lichte prahlt, obgleich sie nichts als nur Geborgtes brennt! Steig nieder, heilger Stern von Ephrata, der du der Stern der wahren Liebe bist; erscheine, wie's in jener Nacht geschah, und zeige uns wie dort den wahren Christ!«

Ich sah den Sprechenden nicht, und dadurch bekam das, was er sagte, einen ganz eigenartigen, unbeschreiblichen Klang für mich. Es kam wie aus großer Tiefe oder weiter Ferne, ein Ruf, wie aus der Zeit des alten Testamentes. Nun fuhr er fort:

»Wo ist die Liebe, die am ersten Tag der Menschheit Christi arm geworden war, die ohne Dünkel in der Krippe lag und Demut übte stets und immerdar? Wo ist die Liebe, die zum Jünger kam und ihm nur dann die Seligkeit verhieß, wenn er das Kreuz geduldig auf sich nahm und alle Erdengüter von sich stieß? Wo ist die Liebe, welche der geliebt, der jede ihrer Gaben so verstand, daß Alles, Alles, was die Rechte gibt, verborgen bleibt der andern, linken Hand? Wo ist die Liebe, die sich willig bot, als Opferlamm, trotz aller Qual und Pein, durch einen unerhörten Martertod für Freund und Feind ein ewges Heil zu sein?«

Es war ein schwer ernster Ton, in welchem er diese vier Fragen ausgesprochen hatte, ein Grave, welches gar nicht gewichtiger erklingen konnte. Dann hörten wir ihn in eindringlich mahnender Weise weitersprechen:

»Sie ist von Ewigkeit zu Ewigkeit; sie ehrt den Staub und glänzt im Alpensirn. Sie trägt den Raum; sie wohnt in jeder Zeit; warum verschließt sich ihr das Menschenhirn? Es schlägt ihr Puls, wenn auch ihm unbewußt, weil er des Herzens Stimme nicht versteht, sogar in jedes Egoisten Brust, in der ein Odem auf-und niedergeht. Gib ihr doch Raum, du armes Menschenkind, den Raum, den ihr das erste Ostern gab; glaub an die Engel, die gekommen sind; sie nehmen gern den Stein dir von dem Grab!«

Wie wunderbar das zu hören war! Nicht wie eine Rede, noch weniger wie eine Deklamation. Es schien gar keiner Schallwellen und gar keines Ohres zu bedürfen, um das Herz zu erreichen. Es wirkte unmittelbar; kein Sträuben half dagegen. Hierauf erhob er seine Stimme wieder:

»Kling weit hinaus, so weit das Wort nur klingt, du frohe Botschaft, daß der wahre Christ von Herzen gern das größte Opfer bringt, weil es für ihn ja doch kein Opfer ist. Kling weit hinaus, so weit die Erde reicht, du Wort des Heiles, das auch uns bekehrt, und wer als Jünger seinem Meister gleicht, durch den seist du der Heidenwelt beschert! Kling weit hinaus, und wo du auch ertönst, sei Evangelium für Jedermann. Wenn du die Völker einigst und versöhnst, bricht für uns Christi Reich des Friedens an!«

Er hatte die letzten Sätze immer langsamer und langsamer gesprochen; nun war er still. Nach längerer Zeit hörten wir, daß er wieder nach seiner Kajüte verlangte. Er wurde hineingetragen. Wir stiegen von unserm hohen Platze hinab und folgten. Waller schien von der frischen, kräftigen Luft ermüdet und eingeschlafen zu sein. Tsi aber meinte, daß der Kranke wohl noch Etwas zu sagen haben werde. Die Besprechung des Gedichtes Zeile für Zeile sei allerdings beendet; aber weil derselben die Erscheinung von Marys Mutter vorangegangen sei, dürfe man fast mit Sicherheit erwarten, daß er sie auch nun zum Schlusse wieder sehen werde. Diese Bemerkung mochte auf meinem Gesichte eine, wenn auch unausgesprochene, aber doch sehr deutlich lesbare Frage hervorgebracht haben, denn er fügte, indem er dabei lächelte, hinzu:

»Sie wundern sich über die Sicherheit, mit welcher ich das wahrscheinlich Kommende voraussage? Hätten Sie eine Ahnung von der strengen, unfehlbaren Logik, mit welcher sich diese für Sie so geheimnisvollen psychischen Tatsachen entwickeln, so würden Sie nicht staunen. Die Ereignisse auf diesem Gebiete geschehen nach wenigstens ebenso unerschütterlichen Gesetzen wie die Vorkommnisse der nicht metaphysischen Welt. Miß Mary mag hier bleiben und sich still verhalten; wir Beide aber nehmen wieder draußen vor der Thür Platz, wo wir am letzten Male gesessen haben. Sie werden bald hören, daß ich mit meinen Vermutungen das Richtige getroffen habe.«

Bei unserer vorigen Beobachtung Wallers war es früher am Abende gewesen als heut; aber auch die Mondzeit war unterdessen vorgeschritten, und so kam es, daß die Verhältnisse fast genau dieselben waren: der sanfte, weiche Schein des Lichtes fiel durch die großen Glasscheiben auf das Lager und stieg an der Gestalt des Ruhenden langsam empor. Als er das Gesicht erreicht hatte, begann Waller, sich zu bewegen. Er sprach jetzt nur ein einziges Wort; es war der Name seiner Frau. Dann lag er wieder still; es war, als ob er lausche. Hierauf wurde er abermals unruhig und wendete unter leisem Flüstern sein Gesicht hin und her, bis es, dem Mondscheine zugewendet, liegen blieb. Und nun begann er laut und deutlich:

»Du kamst zu mir und gabst mir Augenlicht, in eure liebe, reine Welt zu schauen. Ich sah der Wahrheit in das Angesicht und will der Herrlichen mich antrauen. Wem sie gelehrt, die Täuschung zu besiegen, der soll dem Schein nicht wieder unterliegen. – – – Du kamst zu mir, warst einem Engel gleich, der Liebe brachte und um Liebe bat; es hat ja immer nur das Himmelreich für unser Erdenreich den besten Rat. Es wollte sich mir im Gedichte zeigen, um durch dasselbe in mein Herz zu steigen. – – – Nun ist es da. Es ist die Seligkeit, die schon in diesem Leben mir gehört. O würde doch der Mensch nicht durch die Zeit und durch des Raumes Hinterlist betört, er würde kühn sich an das Ewge wagen und dann als Preis den Himmel in sich tragen!«

Hatte ich schon einmal solche Worte vernommen? Wohl kaum jemals in meinem Leben, wenigstens in dieser Weise nicht. Sich an das Ewge wagen! Ist das vielleicht so verwegen, wie es klingt? Nein; wir sollen es sogar! Aber wir sollen nicht nur an das Ewige denken, sondern auch für die Ewigkeit leben, denn – – wir leben ja schon in der Ewigkeit. Zeit wird ja nur der winzige Teil von ihr genannt, in welchem der Mensch nach seinen Erdenstunden zählt. – Waller hatte hier innegehalten. Nun sprach er im Tone der Liebe weiter:

»Gib mir die Hand, wie du sie mir gereicht, als du, mein Weib und Engel, zu mir kamst. Es hatte sich mir schon der Tod gezeigt, grad als du mich in deine Führung nahmst. Ich bin ihm nur durch dich, durch dich entgangen und hab nun jenes Leben angefangen. – – – Wie dank ich dir! Nun bist du himmlisch mein, die du nur irdisch einst die Meine warst. Laß mich ein Schüler jener Liebe sein, als deren Strahl du dich mir offenbarst. Ich will ihr frei und ohne Falsch gehorchen und sie mir nicht auf andrer Namen borgen.«

Er hatte seine beiden Hände ausgestreckt, dem Mondesstrahle entgegen, und sie dann so ineinander gelegt, als ob er zwischen ihnen die Hand einer unsichtbaren Person festhalte. Jetzt machte er eine Bewegung, als ob er diese Hand wieder freigebe, und ließ die letzten Worte folgen, denen er am Schlusse einen schweren Nachdruck gab:

»Du lächelst froh, indem du von mir gehst. Die Hände faltend, schaust du himmelan. Ich höre, was du uns von dort erflehst: es ist die Seligkeit für Jedermann. Was macht zum Himmelreich denn schon die Erde? Ein einz'ger Hirt und eine einz'ge Herde!«

Das war das Ende seines heutigen Gesichtes. Er wendete sich nach einiger Zeit nach der andern Seite, und Tsi war überzeugt, daß er nun nicht wieder sprechen werde.

Mary, welche drin bei ihrem Vater gesessen hatte, kam jetzt heraus zu uns. Auch sie war tief ergriffen. Wir sprachen noch lange über das, was wir gehört hatten. Kein Wort aber fiel darüber, ob der Zustand, in welchem Waller diese Visionen hatte, für ihn vielleicht gefährlich sei. Wir waren überzeugt, daß Tsi in diesem Falle unbedingt Einhalt getan hätte. Einer andern Frage aber mußte ich Worte geben:

»Glauben Sie, daß Mr. Waller weiß, was er spricht?«

»Alles, Alles weiß er, jedes Wort,« antwortete der Arzt. »Haben Sie es ihm nicht angehört, daß er während des Sprechens überlegt? Er bekommt das, was wir von ihm hören, zunächst nicht etwa für uns, sondern für sich selbst. Er hört es, wie wir hören, wenn gesprochen wird; er könnte es schweigend entgegennehmen; aber er spricht es laut und deutlich aus, weil es ihm dadurch leichter wird, es sich zu eigen zu machen. Er prägt es seinem Gedächtnisse ein, und wenn er es auch nicht wörtlich behält, so nimmt er doch ganz gewiß wenigstens den Sinn aus dem visionären Zustande mit herüber in das körperliche Leben. Hier bewegt und entwickelt er es in sich weiter. Er kann sich dieser Einwirkung des Jenseits nicht entziehen; sie ist für ihn maßgebender und glaubwürdiger, als die Meinungen aller irdischen Autoritäten, und so kommt es, daß seine Ansichten ganz andere werden, als sie früher gewesen sind. Er wird das, was man nicht hier, in dieser Welt der Irrsale, sondern dort in jenem Reiche klar gewordener Geister einen Christen nennt.«

»Geister? Vielleicht auch Seelen?« fragte Mary. »Glauben Sie, daß sie den Menschen sagen können, was meinem Vater gesagt worden ist? Sie befinden sich doch in der Ewigkeit; wir aber sind noch hier auf der Erde!«

»Ewigkeit und Erde schließen einander doch nicht aus,« erklärte Tsi. »Die Ewigkeit ist vor uns, hinter uns, neben und rund um uns. Wir befinden uns in ihr. Unsere Erde ist eines der winzigen, ununterbrochen im Kreise rinnenden Körnchen der nie sich erschöpfenden, nie sich leerenden Sanduhr der Ewigkeit. Es ist einer der größten und unverzeihlichsten Gewohnheitsirrtümer, anzunehmen, daß die Ewigkeit für uns erst nach unserm Tode beginne. Wir leben in ihr und gehören zu ihr, wie die von Ihnen erwähnten Geister und Seelen zu ihr gehören. Wenn Ihr Glaube diese Seelen in die Ewigkeit versetzt, in welcher Sie sich doch in Wirklichkeit schon selbst auch befinden, so sagt er doch weiter nichts, als daß sie hier bei Ihnen geblieben sind. Und ist dies der Fall, so ist es doch ganz selbstverständlich, daß diese Geister nicht nur auf uns wirken können, sondern sogar auf uns wirken müssen, besonders da es für sie keine körperlichen und räumlichen Verhältnisse gibt, durch welche sie daran gehindert werden. Für uns Chinesen ist das etwas so unendlich Selbstverständliches, daß wir mit unsern nur scheinbar Abgeschiedenen in der lieben, dankbaren Weise verkehren, welcher Sie so unberechtigter Weise die Bezeichnung Ahnenkultus gegeben haben. Ich sage Ihnen, daß es für Andere von unermeßlichem Vorteile sein würde, wenn auch ihnen endlich die Erkenntnis käme, daß sie durch ihren Unglauben in dieser Beziehung zu einer lieblosen Entfremdung mit Denen geführt werden, welche sich in diesem Leben für uns opferten und sich auch in jenem weiter für uns opfern, ohne daß wir es ihnen hier danken konnten, es ihnen also nun dort danken sollen! Sie sind da; sie sind hier bei uns; ich schwöre es Ihnen zu! Nun denken Sie sich ihr Herzeleid, ihre Trauer darüber, daß Sie sie von sich verstoßen und nichts von ihnen wissen wollen, und zwar nur aus dem ganz unzureichenden Grunde, daß Ihre materiellen Sinne nicht fein genug sind, das Geistige zu schauen, zu empfinden! Es sind bittere Schmerzen, welche Sie dadurch den teuren Wesen bereiten, welche Ihnen hier in der Zeit nahe gestanden haben und auch hier in der Ewigkeit nahe bleiben sollen. Gibt es denn für Euch doch sonst so kluge Menschen kein Mittel, Euch von dieser geistigen Kurzsichtigkeit zu befreien und den zur Seligkeit Bestimmten diese Seligkeit nicht länger zu vergällen?«

Der sonst so ruhige, junge Gelehrte war erregt geworden; er stand auf und entfernte sich. Darum verabschiedete auch ich mich bald von Mary, um schlafen zu gehen, war aber überzeugt, daß der zur Ruhe gehörige, innere Augenschluß sich heut verzögern werde. Da kam Raffley die zur Kommandobrücke führenden Stufen herunter und auf mich zu.

»Bitte, mir zwei Worte zu erlauben, lieber Charley,« sagte er. Indem er meinen Arm in den seinen zog, um mit mir hin und her zu gehen, fuhr er fort: »Ki-tsching liegt nämlich nur noch diese Nacht und einige Stunden von uns entfernt, und – – –«

»Ki-tsching?« unterbrach ich ihn. »Wie Sie diese Worte betonen, heißen sie ›hoffen‹ und ›vollenden‹. Der Name dieser Ihrer Besitzung bedeutet also ein Land, in welchem die Hoffnung begonnen hat, was die Zukunft vollenden soll?«

»Ja, genau so ist es. Uebrigens legen wir nicht am Festlande, sondern zunächst an der den Hafen beschützenden Insel Ocama an.«

»Ocama? Wahrscheinlich ein zweites Macao, nur daß die Silben anders geordnet sind. Darf ich vermuten, daß dies eine sinnbildliche Bedeutung hat?«

»Eine symbolische und zugleich auch eine erklärende. Ihnen aber brauche ich über die Bedeutung dieses Namens ja wohl nichts mehr zu sagen. Sie verstehen sie auch ohne Worte. Auf Ocama liegt das frühere chinesische Sommerhaus Ihres Bekannten Fu, wo meine Yin uns erwartet. Ich habe ihr von Hongkong aus telegraphiert, während auch unser Tsi, ohne daß ich davon wußte, seinem Vater von dort aus eine Depesche sandte. Dieser Letztere ist bei Yin, und Beide wissen, daß wir morgen kommen. Das ist es, was ich Ihnen jetzt noch gern sagen wollte. Gute Nacht!«

»Gute Nacht!« –

Wie ich vorausgesehen hatte, schlief ich heute sehr spät ein und versäumte mich am nächsten Morgen dann so sehr, daß die Andern, als ich zum Frühstück kam, schon längst damit begonnen hatten. Mir fiel der Governor auf. Er hatte sich schon während der letzten Tage sehr unruhig gezeigt; jetzt aber machte er auf mich nun gar den Eindruck der Beklommenheit. Er genoß fast gar nichts und sprach nur dann, wenn eine Frage direkt an ihn gerichtet wurde. Er mochte wohl bemerken, daß mir dies auffiel, denn nach dem Frühstück zog er mich mit sich fort, und als wir allein mit einander waren, sagte er:

»Hört, Sir, wie es scheint, seht Ihr mir an, daß ich mich in einer höchst bedenklichen Verfassung befinde. Bin wie ein Schulknabe, der ins Examen muß, aber nichts gelernt hat und darum weiß, daß er sitzenbleiben wird! Habe die ganze Nacht nicht geschlafen; kann weder essen noch trinken. Mir ist, als ob ich etwas Großes und Schweres verbrochen hätte, was mir nur diese Yin verzeihen könne! Habe ich mich etwa an ihr versündigt? Oder vielleicht an China im Allgemeinen? Ich sage Euch, daß mir scheint, ich habe kein gutes Gewissen! Fatal, höchst fatal! Ich fühle, diese Yin macht mir mehr zu schaffen, als mir ganz Indien mitsamt Ceylon zu schaffen gemacht hat! Und dabei kenne ich sie noch nicht! Vielleicht aber ist grad diesem Umstande diese innerliche Unsicherheit zuzuschreiben! Ich weiß ja gar nicht, wie ich sie zu nehmen habe, wie ich sie begrüßen und was ich tun und sagen soll! Fühle ich etwa als Vertreter meiner Nation diese sonderbare gelbe Angst vor der früher so verachteten und unterschätzten gelben Rasse? Habt Ihr eine Ahnung, wie mir zu Mute ist?«

»Beinahe!« antwortete ich.

»Nun, wie denn ungefähr?«

»Wie einem braven weißen Gentleman, der einen ebenso braven gelben Gentleman nur dieser andern Farbe wegen nicht als Gentleman behandelt hat und nun wegen der unausbleiblichen Folgen in Besorgnis ist. Oder, da Ihr von Eurer Nation sprecht, es ist Euch zu Mute wie einer Volksseele, welche die vor Gott ganz ebenso berechtigte Seele eines andern Volkes in diesen Rechten schwer gekränkt und geschädigt hat und hierauf befürchtet, von dieser Seele vor Gottes Gericht gezogen zu werden.«

Er sah mir einige Augenblicke starr in das Gesicht und sagte dann:

»Getroffen, ganz genau getroffen! Ja, so sieht es in meinem Innern aus! Ich gebe das aufrichtig zu, denn Ihr wißt, daß ich nie eine Lüge sage. Jene stürmische Familiensitzung mit ihrem zornigen Schlusse, der unvorsichtigen Wette, wie gern möchte ich sie ungeschehen machen! John kannte seine Yin; er wußte, was er tat. Ich aber, der total Unwissende, überhob mich in meinem National- und Familienhochmute, seinen und unsern ganzen Besitz von einer frivolen, dreisten Wette abhängig zu machen. Genau ebenso stellt auch die bewaffnete Hand das Wohl der Völker auf das Spiel und bezahlt mit Menschenblut, was ihr der Friede ganz umsonst und doppelt geben würde. Wenn die Nationen glauben, Wetten mit oder gegeneinander eingehen zu müssen, so sollten sie es doch in anderer Weise und um andere Preise tun. Wo sind heut alle die Gewinne, um deretwillen Jahrtausende hindurch mit Blut gewettet wurde? Wer wird in wieder tausend Jahren die Länder besitzen, um welche die Gegenwart mit blutigen Waffen wettet? Sind solche Gewinne derartige Einsätze wert? Gibt es denn nicht bleibende Gewinne, welche durch Einsätze zu erlangen sind, die weder Angst noch Sorge oder Schmerz bereiten? Ich sage Euch, Sir, es wird auch um dieses China viel Blut, sehr viel Blut fließen, und wenn es geflossen ist, wird es umsonst vergossen worden sein, weil ›Alles, was das Schwert erwirbt, auch durch das Schwert im Kriege stirbt‹. Die Wette, welche ich mit John eingegangen bin, ist keine blutige, aber der Hochmut hat sie mir diktiert, und darum denke ich, daß ich sie wohl verlieren werde. Er aber hat all sein Hab und Gut für seine Liebe eingesetzt, und selbst wenn er verlöre, würde er der Gewinnende sein, weil es für die Liebe, die er niemals verlieren kann, ja doch kein Opfer gibt. Ich ging natürlich diese Wette in der Absicht und in der Ueberzeugung ein, daß ich sie gewinnen werde. Jetzt fühle ich diese Ueberzeugung als eine Schuld, welche ich abzutragen habe, und was die Absicht betrifft, so will ich Euch gestehen, daß ich sie als Bezahlung dieser meiner Schuld betrachte. Ich gebe sie hin! Und warum? Aus Liebe; denkt Euch doch nur, aus Liebe! Und wo kommt diese Liebe so plötzlich bei mir her? Dort aus der Kajüte, in welcher das Bild hängt und wo der Kranke mit seinem Engel sprach. Die Frau, welche ich früher als ›Gespenst‹ bezeichnete, ist mir so vertraut geworden, obgleich ich sie nur erst im Bilde kenne. Ich befürchte, daß ich, wenn sie nun persönlich vor mir steht, diesen unsern guten John sogar um sie beneiden werde, und das wird mich um die eindrucksvolle Haltung bringen, welche ich meiner Nationalität, meinem hohen Stande und meiner persönlichen Würde schuldig bin. Kurz und gut, ich habe aus verschiedenen Gründen Angst vor dieser Yin und befinde mich ihr gegenüber in der Lage eines kleinen, unerfahrenen Bürgers, der vor irgend einer fürstlichen Dame zu erscheinen hat und schon im Voraus überzeugt ist, daß er sich gründlich falsch benehmen werde. Wenn sie mich etwa in der Weise begrüßt, in welcher ich sie gleich beim ersten Zusammentreffen mit meinen Blicken niederschmettern wollte, so fahre ich mit dem allernächsten Schiffe heim und warne jeden Englishman, sich fernerhin für das zu halten, für was er sich bisher gehalten hat! – So, das ist es, was ich Euch sagen wollte, Sir. Und nun bitte ich Euch, nehmt Euch, wenn wir ihr vorgestellt werden, ein wenig meiner an, damit sie meine Verlegenheit nicht allzusehr bemerkt! Ich möchte nämlich so sehr gern haben, daß sie mich für ihrer Achtung würdig hält!«

Ich versprach es ihm, obwohl ich wußte, daß ich nicht dazu kommen würde, dieses Versprechen zu halten. Er wußte gar nicht, daß seine Worte die geistig und seelisch ereignisreiche Geschichte einer innern Umwandlung enthielten, welche sich bei ihm äußerlich friedlich vollzogen hatte, während sie bei andern Menschen wie auch bei Völkern nur unter langen und schweren Kämpfen vor sich geht. Darum stand zu erwarten, daß auch die nun folgenden und letzten Töne in freundlicher Harmonie erklingen würden.

Bald darauf erfuhren wir, daß die Insel in kurzer Zeit zu sehen sein werde, und machten uns also zum Landen bereit. Mein Sejjid Omar brachte meine und seine Sachen mit Fangs Gepäck herbeigetragen. Dann ging er zu Mary, um auch ihr und ihrem Vater seine Hilfe anzubieten. Raffley stand oben auf der Brücke, um die Einfahrt selbst zu leiten. Bill führte das Steuer, und Tom machte sich mit dem Salutgeschütze zu schaffen, um unsere Grüße, die aus dem Herzen kamen, mit ehernem Munde zu bestätigen.

Da ertönte von der Insel ein lauter Böllerschuß zu uns herüber; ein zweiter folgte und diesem ein dritter. Tom antwortete ebenso oft aus seinem Rohre.

Es gab selbstverständlich bei uns kein Auge, welches nicht nach der Küste gerichtet war. Sie hatte sich in schönes Grün gekleidet. Das Innere wurde uns von Büschen verhüllt, aus denen die Wipfel hoher Bäume ragten. Es gab da einen kleinen, freien Platz, auf welchem wir einige Chinesen neben dem Böller stehen sahen, aus welchem sie uns salutiert hatten. Sie riefen und winkten uns lebhaft zu. Später öffnete sich zuweilen das Gebüsch, um uns die dahinter liegenden, vollgrasigen Wiesen und wohlbebauten Felder zu zeigen. Weiter vorn, uns zur Rechten, stieg das Land zu einer bewaldeten Höhe empor, auf welcher das chinesisch konstruierte Dach eines sehr ansehnlichen Gebäudes aus dunklen Blätterkronen ragte.

Die Matrosen unserer »Yin« hatten schon am frühen Morgen die Paradeleinen hervorgeholt und Wimpel an Wimpel gereiht, um die Jacht zur Einfahrt zu schmücken. Diese Leinen hingen jetzt noch leer vom Top herunter, doch bedurfte es nur eines Wortes von Raffley, um sie in Zeit von einer Minute aufzuholen.

Ocama hat eine dem Festlande zugekehrte Bucht mit klarem, tiefem und fast stets ruhigem Hafenwasser. Als wir uns dem südlichen Vorsprunge dieser Bucht näherten, begann das Ufer, sich zu beleben. Wir sahen zwischen dem Gebüsch in Blumengärten Häuser liegen, so nett und sauber, jedes von ihnen eine eigenartige, besondere chinesische Individualität; das Auge konnte sich wirklich immer von dem einen auf das andere hinwegfreuen. Diese Häuser mehrten sich, und als wir in einem weit ausgeholten Halbkreise um die südliche Zunge bogen, entwickelte sich vor uns ein Landschaftsbild, welches, besonders bei dem heutigen schönen, klaren Wetter, selbst das verwöhnte Auge eines Weit- und Vielgereisten befriedigen mußte.

Man denke sich einen halbmondförmigen Busen, von dessen beiden äußeren Enden an das Land sich sanft, aber höher und immer höher erhebt, um, immer von Gärten oder parkähnlichem Gehölz begleitet, in der Mitte einen vom Wasser zurücktretenden Berg zu bilden, an dessen Lehne die mit Pflanzengrün und Blumen geschmückten Häuser des Ortes aufwärtssteigen. Und hoch über ihnen ein hellglänzendes, weißes Landhaus, dessen nur halb chinesischer Stil vermuten läßt, daß sein Erbauer verstanden habe, auch europäischen Gedanken Form zu geben.

Dieses hoch- und langgestreckte, vielräumige Haus gehörte Fu; dort wurden wir erwartet. Sein Dach, welches wir schon vorhin gesehen hatten, wurde, wie landesüblich, aus mehreren geschwungenen und einander tragenden Abteilungen gebildet. Es trat, so weit es reichte, so über die Front des Hauses heraus, daß es allen in das Freie gehenden Söllern und Balkonen mehr als hinreichend Schutz zu bieten vermochte. Wir hatten alle die Gläser vorgenommen und da hinaufgerichtet. Darum war es uns möglich, eine weißgekleidete Frauengestalt zu bemerken, welche auf dem am höchsten gelegenen Balkone stand und, sobald wir in Sicht kamen, sich weit über das Geländer beugend, mit einem Tuche winkte.

»Yin, meine Yin!« rief Raffley auf der Kommandobrücke. »Hoch die Wimpel! Alle Grüße auf! Tom, sage ihr, daß wir sie sehen!«

Die Jacht stand im Nu in ihrem wallenden und wehenden Paradeschmuck; das Geschütz ließ seine Stimme hören, und vom Landungsplatze her ertönte auch nach jedem unserer Schüsse einer. Dort lagen mehrere große Dschunken, welche bewiesen, daß die Insel auch mit dem entfernteren Festlande in Beziehung stand. Zahlreiche Boote bewegten sich hin und her, von denen aus uns laut und freudig zugerufen wurde. Der ganze hohe Uferdamm, an welchem wir anlegen mußten, stand voller Menschen, deren Stimmen uns entgegenschallten. Welche Liebe hatte der früher so kalte, steife Englishman sich hier doch zu erwerben gewußt! Gongs wurden geschlagen; alle möglichen andern chinesischen Instrumente ertönten. Die Häuser waren beflaggt oder sonst wie bunt behangen, und in den Lüften schwebten vielgestaltete Drachen, die entweder durch ihre Form oder irgend ein angehängtes Zeichen der Freude über die Rückkehr Raffleys Ausdruck geben sollten. Dieser aber schien für alle diese Ovationen jetzt weder Augen noch Ohren zu haben. Sein Blick blieb hinauf nach dem Balkon gerichtet, bis die Jacht den Damm erreichte und sich mit Hilfe der vorhandenen Taue und Ringe längsseits an ihn legte. Da kam Tsi aus seiner Koje. Er war jetzt chinesisch gekleidet, und ich darf wohl sagen, daß er uns allen in dieser Tracht noch besser gefiel, als in der europäischen. Sie ließ ihn »bedeutender« erscheinen. Es hat gewiß seine guten Gründe, daß der Orient gern faltige Gewänder trägt.

Grad da, wo wir die Barriere zu öffnen hatten, standen im Hintergrunde die für uns bestimmten Gepäck-und Sänftenträger, vor ihnen die Beamten des Ortes, welche dem Heimkehrenden ihren Respekt erweisen wollten, und ihnen ganz voran kein anderer als – – – Fu, der, allerdings unter einem andern Namen, auch im Auslande weitbekannte Mandarin allerhöchsten Ranges, welcher aber heut und hier so einfach wie ein ganz gewöhnlicher Chinese gekleidet war. Er schien die Begrüßung mit dem Freunde kaum erwarten zu können, denn die Landebrücke lag noch nicht fest, so kam er herüber auf das Deck und auf den ebenso schnell von oben herabsteigenden Raffley zu. Noch ehe er ihn erreicht hatte, rief er aus:

»Endlich, endlich, du Verschwiegener, du Geheimnisvoller! Wie unbeschreiblich hast du mich mit deinem Glück überrascht, von dem ich gar nichts wußte!«

Sie schlangen die Arme umeinander und küßten sich wie Brüder, welchen nichts schmerzlicher ist, als von einander getrennt zu sein. Dann kam er zu mir, zog auch mich an sich und berührte mit den Lippen meine beiden Wangen. Mary küßte er die Hände; dem Sejjid schüttelte er wie einem ihm Gleichstehenden herzhaft die Hand, und Fang wurde in chinesischer Weise, aber ganz mit derselben Herzlichkeit begrüßt. Dann erst ging er zu seinem Sohne. Der Governor hatte sich in seiner innerlichen Beklommenheit etwas abseits gehalten; nun aber brachte Raffley den Mandarinen zu ihm hin und stellte ihn diesem nur mit den zwei Worten »Mein Onkel« vor. Der alte Herr schickte sich an, eine tiefe, zeremonielle Verbeugung zu machen, kam aber nicht dazu, sie auszuführen, denn Fu legte seine Arme schnell auch um ihn, küßte ihm die beiden Wangen, schob ihn dann etwas von sich ab, betrachtete ihn in wohlgelungener, neckischer Weise und sagte dann:

»Ein echter Raffley, well! China freut sich, Old England endlich, endlich hier zu sehen, weil es sicher weiß, daß es in Liebe kommt!« Und sich zu Raffley wendend, fügte er hinzu: »Nun aber Alle schnell hinauf zu deiner – – – nein, zu unserer Yin. Doch vorher muß ich dir, mein Freund und Bruder, sagen, daß dir die reinste, schönste Seele Chinas angehört. Dein Herz hat sich von uns unendlich mehr geholt, als du dir mit der Waffe des Krieges jemals hättest erobern können! Wo ist der Kranke, den du angemeldet hast?«

»Für den sorge ich,« antwortete Tsi an Raffleys Stelle. »Wie ich sehe, sind Träger mehr als genug vorhanden.«

Auf einen Wink von ihm wurden die Sänften herbeigebracht. Einige waren für zwei Personen. Der Governor zog mich zu einer derselben hin, schob mich hinein und kam mir dann nachgestiegen. Die Kulis liefen mit uns sofort von dannen. Da holte der Gentleman tief, tief Atem und sagte, indem er den Kopf schüttelte:

»Sir, ich bin ganz irr an mir! Wahrscheinlich deshalb, weil ich es früher an China gewesen bin! Was für ein Mensch, dieser Fu! Wollte ihn durch meine Würde niederschmettern; machte aber kein langes Federlesen mit mir! Sagt mir da erst, daß ich ein echter Raffley sei, und küßt mir trotz dieser Echtheit sofort beide Wangen! Das kommt mir zwar etwas summarisch vor, ist aber höchst wahrscheinlich imponierend! Und was hat er von dieser Yin gesagt? Sir, wenn sie wirklich die schönste, reinste Seele Chinas ist, so ist John der aller-, allerklügste Englishman, den es jemals gegeben hat und noch geben wird! Sein Herz! Well! Habe auch ein Herz! Jeder Engländer hat eins! Lassen wir von diesem Augenblick an nur die Herzen sprechen!«

So schnell unsere Träger liefen, die von Fu waren doch noch schneller gewesen, denn dieser stand, als wir oben ausstiegen, schon unter dem Tore, um uns als Wirt die Honneurs zu machen. Der Governor schien während dieses kurzen Weges seine Zurückhaltung vollständig aufgegeben zu haben, denn er nahm den Mandarinen vertraulich beim Arme und sagte, indem er auf mich deutete:

»Mylord, ich bin England, und dieser etwas jüngere Gentleman ist Deutschland. Wir kommen zu Euch, um China mit aller uns möglichen Liebe und Güte zu erobern, aufrichtig und ohne Falsch. Wir wollen in diesem schönen Friedenswerke uns aus allen Kräften beistehen und so innig Hand in Hand miteinander gehen, daß wir Euch bitten, uns keine getrennten Wohnungen anzuweisen. Quartiert uns, wenn es möglich ist, derartig zu einander, wie der ›unbewaffnete Friede‹ es erfordert, in dem wir mit uns, mit Euch und mit allen Menschen zu leben gesonnen sind!«

Es war ein eigenartiges, frohes und doch tief gerührtes Lächeln, welches, als er antwortete, das Gesicht des hochgestellten Mandarinen noch sympathischer machte, als es so schon war. Er antwortete:

»Wie gern erfülle ich diesen Wunsch! Ihr sollt in meinem eigenen Flügel wohnen, damit ich Euch das wirklich sein kann, was ich, Euch zu sein, gesonnen bin. Dies Haus, dies Dach wird Euch gehören, so lange es mir selbst gehört! Und wo die Liebe Raum für Euch und mich besitzt, muß sie des treuen Dieners auch gedenken, welcher bewiesen hat, was Freundlichkeit und Güte selbst über Afrika vermögen. Also auch Sejjid Omar sei Euch zugesellt. Dann« – – hier machte er eine unnachahmliche, umfassende Bewegung mit der Hand – – »dann ist die ganze ›alte Welt‹ vereinigt und bereit« – – jetzt deutete er auf den Weg zurück, wo soeben die beiden Sänften Wallers und Marys erschienen – – »nun auch die ›neue‹ zu empfangen, um sich an ihrer Seite wieder jung zu leben!«

Die Art und Weise, in welcher er das gesagt hatte, läßt sich wohl nur durch die Wirkung deutlich machen, die es hervorbrachte. Nämlich der Governor faßte ihn hüben und drüben an, zog ihn an sich, gab ihm einen, zwei, drei herzhafte Küsse und rief, so freudig animiert, wie wohl noch niemals, aus:

»Das soll nicht nur ein Wort sein, sondern ein Kontrakt, den Keiner von uns brechen darf und Keiner brechen wird! Das ist ein Tag, wie ich so schön noch keinen je erlebte!«

Fu konnte uns, weil Wallers eben anlangten, nicht selbst geleiten. Er erteilte den wartenden Dienern den betreffenden Befehl, und so waren wir schon nach kurzem in diesem zimmerreichen Hause so vortrefflich eingerichtet, wie der erste und zweite Teil der »alten Welt« es sich im dritten nur wünschen können. Dann saßen wir auf dem schönsten, chinesischen Seidenpolster des ganz liebreich und gesprächig gewordenen Gentleman und warteten der Dinge, die nun kommen sollten. Es war für uns selbstverständlich, daß man uns zur Vorstellung bei Yin abholen werde. Der Englishman dachte gar nicht mehr daran, auch nur das Geringste zu sagen oder zu tun, um seine »große Wette« zu gewinnen. Aber von seiner Befangenheit war er trotzdem noch nicht frei. Er hatte vor Yin noch immer das, was er Angst zu nennen beliebte, und wenn der Ausdruck auch etwas zu kräftig ist, so will ich ihn doch brauchen: er fürchtete sich vor ihr.

»Wenn ich Etwas zu ihr zu sagen habe und nicht weiß was, so fallt nur gleich ein, Charley!« bat er mich, denn seit wir zusammenwohnten, war ihm mein Vorname geläufig geworden. »Das ist von heut an Deutschlands Pflicht!« fügte er scherzend hinzu. »Dafür komme ich Euch ein anderesmal ebenso gern zur Hilfe! Horch!«

Es klopfte an die Tür. Als wir nicht sofort antworteten, wurde sie um einen schmalen Spalt geöffnet, und eine süße, unendlich wohllautende Frauenstimme fragte:

»Verzeihung! Wohnt hier mein Onkel Governor?«

Der Genannte fuhr von seinem Sitze auf und flüsterte mir, indem sein Gesicht die Farbe verlor, in für ihn schrecklicher Ahnung zu:

»Mein – – mein – – mein Onkel Governor?! Der bin ich wohl! Aber – – aber dieser – – dieser John Raffley hat doch keine solche – – solche Stimme! Sollte – –?«

Ich antwortete ihm nicht, sondern ging zur Tür und schob sie vollends auf. Ja, sie war es – – Yin! Sie kam allein; niemand begleitete sie. War sie so schön, wie ihr Porträt uns hatte erwarten lassen? Was soll ich sagen! Das kam so schnell, so überraschend. Ich sah eine weißgekleidete, engelgleiche Frauengestalt, eine Rose im Haar und ein kleines, duftendes Veilchenbouquet an der Brust, welche nach einem kurzen Blick auf mich an mir vorüber in das Zimmer trat und dann so vor dem Uncle stehen blieb, daß ich nur die schöngezeichnete Wangenlinie ihres Profils sehen konnte.

»Ja, du bist es, mein lieber, lieber Onkel!« rief sie jubelnd aus. »Ich kenne dich aus dem Album meines John! Komm, lege mir die Hände auf das Haupt, und sei mir gut! Ich weiß von ihm, daß du so gerne gütig bist!«

Sie glitt vor ihm nieder, faltete die Hände und schaute bittend zu ihm auf. Er stand zunächst bewegungslos. Die Farbe kam und ging auf seinen Wangen. Ich sah, daß er zitterte. Sein weitgeöffnetes Auge war auf sie wie auf eine wunderbare, überirdische Erscheinung gerichtet. Dann bewegte er die Hände; sie bebten. Indem sie sich langsam auf den Kopf der Knieenden niedersenkten, hob er den seinen empor, schlug die Augen wie zum Himmel auf und sagte, indem er mit den hervorbrechenden Tränen kämpfte:

»Mein Herr und Gott – – – das habe ich nicht verdient! Ich war so schlimm, so bös zu ihr, und sie bringt solche, solche, solche Liebe! Mein Segen ist nichts wert, wenn du nicht selbst ihn gibst. O sende ihn ihr tausendfach und tausendfältig zu und – – –«

Mehr hörte ich nicht, denn ich schlich mich hinaus, schloß möglichst leise die Tür und entfernte mich. Wenn England China in so aufrichtiger und reuevoller Weise segnet, ist Deutschlands Unterstützung überflüssig.

Fünftes Kapitel
Der Shen-Ta-Shi

Die bisherigen Abschnitte des vorliegenden Buches sind, wenn auch in etwas anderer Fassung, bereits einmal im Druck erschienen, und zwar unter dem Titel »Et in terra pax.« Das war vor einigen Jahren, kurz nach der Rückkehr von meiner letzten großen, fast zwei Jahre dauernden Reise, die mich zuerst nach Afrika und dann durch das ganze südliche bis hinter nach dem östlichen Asien führte. Die hierbei gemachten Studien werden mehrere Bände füllen, deren erster hier mit »Und Friede auf Erden« beginnt.

Damals frug ein rühmlichst bekannter, inzwischen verstorbener Bibliograph bei mir an, ob ich ihm ebenso wie zu früheren Unternehmungen nun auch zu einem großen Sammelwerk über China einen erzählenden Beitrag liefern könne. Diese Anfrage geschah telegraphisch, weil ihm die Sache eilte. Ich zögerte nicht, ihm ebenso telegraphisch eine bejahende Antwort zu senden, denn ich hatte vor kurzem »Und Friede auf Erden« zu schreiben begonnen, hoffte, es schnell zu beenden, und kannte diesen Herrn als einen Mann, dem ich diese eine, gelegentliche Ausgabe meiner Erzählung ganz gut und gern überlassen könne. Freilich, hätte er mir mitgeteilt, daß er mit diesem Sammelwerke eine ganz besondere, ausgesprochen »abendländische« Tendenz verfolge, so wäre ihm anstatt des Ja ganz unbedingt ein kurzes Nein geworden.

Da mir nichts Gegenteiliges gesagt wurde, nahm ich als ganz selbstverständlich an, daß es sich um ein gewiß unbefangenes, rein geographisches Unternehmen handle, welches nicht von mir verlange, anstatt bisher nur für die Liebe und den Frieden, nun plötzlich für den Haß, den Krieg zu schreiben. So erzählte ich denn ganz unbesorgt, was ich zu erzählen hatte, bis mit einem Male ein Schrei des Entsetzens zu mir drang, der über mich, das literarische enfant terrible, ausgestoßen wurde. Ich hatte etwas geradezu Haarsträubendes geleistet, allerdings ganz ahnungslos: Das Werk war nämlich der »patriotischen« Verherrlichung des »Sieges« über China gewidmet, und während ganz Europa unter dem Donner der begeisterten Hipp, Hipp, Hurra und Vivat erzitterte, hatte ich mein armes, kleines, dünnes Stimmchen erhoben und voller Angst gebettelt: »Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein!« Das war lächerlich; ja, das war mehr als lächerlich, das war albern. Ich hatte mich und das ganze Buch blamiert und wurde bedeutet, einzulenken. Ich tat dies aber nicht, sondern ich schloß ab, und zwar sofort, mit vollstem Rechte. Mit dieser Art von Gong habe ich nichts zu tun!

Nun ist es heute an der Zeit, den damals ausgelassenen Schluß hinzuzufügen. Das ist eine Arbeit, die mir Freude bereitet, eine Arbeit, die mir jeden Werktag zum Feiertag machen würde. Und es ist doch heut nicht Wochentag, sondern Sonntag. Die Fenster sind geöffnet, und auch meine Balkontür steht offen, grad so gegen Süden, wie damals die Fenstertür im Kratong zu Kota Radscha, als der malayische Priester von uns Abschied nahm. Es ist ein ebenso heller, sonniger Morgen, wie der damals auf Sumatra. Der Altan trägt ungezählte, blühende Pelargonien; auf den Tischen stehen herrlich duftende Reseden und Nelken, denn meine Frau, die immer engelsähnliche, weiß ganz genau, wie lieb mir Blumen sind. Von unten herauf steigen die köstlichen Grüße der Marschall Niel-, La france- und Kaiserin Augusta Viktoria-Rosen. Die Blätter der Oelweide flüstern leise. Im leicht geaserten Baumschlag des Ahorn flötet ein Kehlchen. Das Rankengefieder der chinesischen Glycinen steigt hoch am Hause und zu seiten meiner Fenster bis an das Dach empor, mit genau solchen Ferndurchblicken, wie von meiner Wohnung aus auf der großen Sundainsel. Es ist mir, als ob ich mich heut in dieser Wohnung befände. Ich denke mich in sie zurück. Das Zimmer Raffleys nebenan steht offen. Ich trete hinein. Er sitzt mit dem Onkel und dem alten Heidenpriester am Tische. Der letztere ist gekommen, um uns Ade zu sagen – – –

Da ertönen die Glocken; es wird geläutet. Ich rufe mich aus Sumatra zurück, um mich zu besinnen, daß ich mich körperlich in Radebeul befinde. Ich wohne da in unmittelbarer Nähe der Kirche. Man läutet zum ersten Male. In einer halben Stunde erklingen die Glocken zum zweiten Male, zum Zeichen, daß der Gottesdienst beginne. Da sehe ich die allsonntäglichen Kirchenbesucher an meinem Hause vorübergehen. Gehe auch ich? Ich greife zur Bibel, um nachzusehen, über welche Stelle heut gepredigt wird. Es ist der Text Matthäus 5, Vers 20 bis 26. Da heißt es:

»Denn ich sage Euch: Wenn Eure Gerechtigkeit nicht besser ist als diejenige der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet Ihr nicht in das Himmelreich eingehen. – Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage Euch: Wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder saget: Raka, der ist des Rates schuldig; und wer zu ihm sagt: du Narr, der ist des höllischen Feuers schuldig. Daher, wenn du deine Gabe nach dem Altar bringst und wirst da eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß deine Gabe vor dem Altar dort, und geh zuvor hin, und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfere deine Gabe. – Besänftige deinen Widersacher, so lange du mit ihm noch auf dem Wege bist, auf daß der Widersacher dich nicht einst dem Richter übergebe, und der Richter dich dem Diener überantworte und du in den Kerker geworfen werdest. Wahrlich, ich sage dir, du wirst von da nicht herauskommen, bis du auch den letzten Heller bezahlt hast!«

Das war der heutige Predigttext! So stand da, genau so, in der heiligen Schrift! Christus hat es gesagt, und da wir Christen sind, haben wir es wörtlich zu befolgen! Also, schon wer mit seinem Nächsten zürnet und ihn mit Worten beleidigt, der ist dem Mörder gleich, ist des Gerichtes, des Rates und des höllischen Feuers schuldig! Der Christ soll sich nie zum Gottesdienste wagen, wenn er sich nicht zuvor mit seinen Widersachern ausgesöhnt hat! Und er soll niemals und keinen Augenblick zögern, Verzeihung zu erlangen, denn es wird ihm von seiner Schuld an seinem Nächsten kein einziges Jota und kein einziger Heller abgelassen werden!

Soll ich heut in die Kirche gehen? Oder vielmehr, darf ich? So frage ich meine Widersacher! Wo ist der Christ, der nach diesem Worte seines Heilandes noch würdig ist, die Kirche zu betreten? Wie viele Menschen, die ihren Brüdern zürnen, die ihre Brüder beleidigten, die ihre Brüder hassen, die also des Gerichtes, des Rates und des höllischen Feuers schuldig sind, werden heut in die Kirchen gehen und die Predigt über diesen Text nicht im geringsten auf sich selbst beziehen! – »Du sollst nicht töten!« Wenn schon die Beleidigung dem Morde gleich zu achten ist, was soll man da erst über die Arten und Abarten des wirklichen Mordes sagen! Mir wird angst!

Es läutet zwar jetzt zum zweiten Male, aber ich gehe nicht; ich bleibe daheim! Ich will, während die ersten Töne der Orgel zu mir herüberklingen, das Buch über die Heldentaten der christlichen Krieger auf den chinesischen Schlachtfeldern lesen und dann hierauf den Schluß meiner friedlichen Geschichte erzählen. Ich brauche viel Sonnenschein dazu, viel Liebe und viel Versöhnlichkeit, und das ist nirgends so wie hier bei mir in meinem Heim zu finden.

Ich denke mich also wieder hin nach Kota Radscha, wo ich schon vorhin war, und höre den alten, ehrwürdigen malaiischen Priester zu John Raffley sagen:

»Und steigt in meines Lebens Abendröte von Westen her ein lieber Gruß empor, umsäumt vom goldenen Lichte dessen, was ich wünsche, so ist es kein Abschied gewesen, den wir jetzt hier nehmen, sondern Ihr seid bei mir geblieben in Eurer Liebe, wie ich Euch begleitet habe mit der meinigen. Vergeßt nicht diese meine Worte, und laßt den Gruß mir steigen! Ich möchte ihn so gern noch sehen, bevor mein Abendrot zur Morgenröte wird!«

Indem ich diese seine Worte zum zweiten Male niederschreibe, hier im Abendlande, im Westen, von wo aus er sich einen lieben Gruß ersehnt, bevor sein Geist im Morgenland zur Abendröte steigt, klingt aus der Kirche die Responsorie zu mir herüber: »Der Herr sei mit Euch!« singt der Pfarrer. »Und mit deinem Geiste!« antwortet die Gemeinde. Ja, wüßte dieser Geist den Weg von hier nach dort! Ich wollte ihn bitten, unsere Grüße dem Osten zuzutragen, heute, bald, so lange es noch am Tag des Schaffens ist! Ich wollte ihm sagen, daß auf den fernen Atjeh-Bergen ein liebes, klares Augenpaar allabendlich in die niedersteigende Sonne schaut, ob nicht ein kleines, goldumsäumtes Wölklein sich am Himmel zeige, um den Durst des Morgenlandes zu stillen, wie einst jenes lang ersehnte, handgroße aber dunkle Wölkchen des Elias auf dem Berge Karmel. Und ich wollte ihm alle, alle Liebe mitgeben, die ich in meinem Herzen für die Menschheit trage, damit alle dort Aufschauenden erfahren möchten, daß wir unsere Augen nicht vor ihnen niederzuschlagen haben. Aber nein; das ist ja doch nicht möglich! Warum? Die Grüße, welche wir ihnen senden, riechen nach Pulver. Aus den Wolken, die von uns zu ihnen gehen, brüllt der Donner der Geschütze. Und das ganze, große Reich der Liebe, welches wir bei ihnen gegründet zu haben behaupten, ist in – – – christliche »Interessen«-Sphären eingeteilt!

Wie begann doch gleich das Gedicht des alten Malaiien? »O komm, sei wieder Gast auf Erden, du gottgesandter Menschheitschrist!« Dieser Ruf der gelben Rasse blieb nicht unerhört: Der Christ ist gekommen, in kaukasischer Gestalt und Farbe. Hat er ihnen gebracht, was die Engel bei Christi Geburt der Menschheit verhießen? Den Frieden auf Erden? Damals kamen die Könige und Weisen des Morgenlandes, um den Erlöser Anbetung, Gold und Weihrauch darzubringen, freiwillig, unaufgefordert; es war ihnen nichts so köstlich, daß sie es ihm nicht gern geopfert hätten! Gegenwärtig aber gibt es Leute, welche behaupten: »Das war damals, vor zweitausend Jahren, als ›der Christ‹ noch in den Windeln und in der Krippe lag; da mußte man ihm Alles bringen. Jetzt aber ist er Mann geworden. Da wartet er nicht, bis man zu ihm kommt, sondern er geht, um selbst zu holen, was ihm gebührt: Gold, Gold, Gold! Und den Weihrauch? Auch den streut er sich dann selbst; das ganze Abendland duftet nach diesem ihm doch eigentlich ganz fremden Harze!«

Enthalten diese Behauptungen Wahrheit oder Lüge? Es ist nicht meine Aufgabe, zu antworten, sondern zu erzählen. Und indem ich nun damit beginne, erklingt da drüben in der Kirche die Orgel von neuem. Der Kantor spielt das »Große Halleluja« von Händel. Ich höre es bis zu Ende. Dann aber ist es, als ob jemand hinter mir stehe, wie auf Seite 389 hinter dem Governor. Lind weht es um mich her, und eine leise Stimme spricht in mir:

»Der Habsucht sei das Gold beschieden, Der Weihrauch dem, der Weihrauch liebt, Uns Armen aber gib den Frieden, Den uns kein Fürst, kein Weiser gibt!«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Die letzten Worte meiner Erzählung waren: Mehr hörte ich nicht, denn ich schlich mich hinaus, schloß möglichst unhörbar die Tür und entfernte mich. Wenn England China in so aufrichtiger und reuevoller Weise segnet, ist Deutschlands Unterstützung überflüssig.

Wohin ich ging, das war mir gleich, nur nicht nach meinem Zimmer, weil dies ja neben dem des »uncle« lag. Ich hatte den Korridor noch nicht zur Hälfte durchschritten, da kam mir Raffley entgegen, so schnell, als ob er Eile habe. Als er mich sah, fragte er:

»Ihr seid es, Charley? Habt Ihr vielleicht meine Yin gesehen?«

»Ja, soeben,« antwortete ich.

»Wo?«

»Sie ist beim Governor.«

Er schien erschrecken zu wollen, wechselte aber rasch den Ausdruck seines Gesichtes, über welches nun ein warmes, frohes Lächeln ging.

»Welche Kühnheit von ihr!« sagte er. »Sie hat mich gar nicht erst gefragt. Aber wenn eine solche Frau dem eigenen Herzen folgt, so darf man ihr sehr gern vertrauen. Es ist also gut, da es nun einmal nicht so geschehen soll, wie ich die erste Zusammenkunft zwischen diesen beiden beabsichtigt hatte! Gott lasse es gelingen! Und ich wiederhole: Der Frauen Gefühl ist so unerforschlich richtig, und meine Yin muß immer, immer siegen! Kommt, Charley! Will Euch den Garten zeigen. Mir ahnt, daß sie den ›uncle‹ dann herunterbringt. Sie hat da einen Lieblingsplatz. Da ist sie Blume unter lauter Blumen, und wenn sie fühlt, daß es in ihr zu blühen hat, zur Freude irgend eines anderen Menschen, so führt sie ihn dorthin. Im übrigen aber ist dieses Haus mit seinem Gebiet ihr zwar recht wohl bekannt, doch innerlich fremd. Ihre Heimat ist ja unser Raffley-Castle.«

»Raffley-Castle?« fragte ich, indem wir miteinander weitergingen, der Treppe nach dem Garten zu. »So gibt es hier eine Kopie dieses Stammsitzes Eures Geschlechtes?«

»Das Wort Kopie ist eigentlich falsch, denn mein neues, hiesiges Schloß ist jedenfalls originaler als das alte drüben in der Heimat. Na, Ihr werdet es ja kennen lernen!«

Jetzt traten wir aus dem hintern Tor des Gebäudes in den Garten hinaus. Er war groß, außerordentlich wohlgepflegt und ging in einen Park über, der sich auf der andern Seite den ganzen Berg hinunterzog. Da sah man die hinterasiatische Baum- und Blumenflora in den herrlichsten Exemplaren, aber er war nicht spezifisch chinesisch angelegt, sondern in einem Stile, in welchem auch der europäische Geschmack zur Geltung kam. Sauber gehaltene Wege führten zwischen den verschiedenen Gruppen dahin. Indem wir diesen Wegen folgten, fuhr Raffley fort, zu sprechen. Er wiederholte in kurzem, was er mir bereits von seiner Yin erzählt hatte, und fügte nun eine Menge erläuternder Bemerkungen bei, welche vom größten persönlichen Interesse waren. Dabei kamen wir nach der westlichen Seite der Bergeskuppe, von wo aus wir den Meeresarm überblicken konnten, welcher die Insel von dem Festlande trennte.

Er war ungefähr zwei Seemeilen breit und von allerlei vielgestaltigen, hin und her gehenden Booten belebt. Da der eigentliche Hafen hier bei uns an der Insel lag, gab es jenseits drüben nur einen Landeplatz, der nicht sehr breit war, aber außerordentlich geschützt lag und so tief in das Land eindrang, daß er weit mehr Schiffe fassen und weit mehr größeren Baulichkeiten Raum geben konnte, als der Hafen selbst.

»Herrliche Lage für ein Zukunftsprojekt,« erklärte mir Raffley. »Ihr werdet überhaupt sehen, daß wir nur für die Zukunft arbeiten. Vergangenes muß uns nützen, wenn es kann, aber es fast anzubeten, wie Ihr Euer Griechenland und Rom, das tun wir nicht. Jede Zeit besitzt ihre eigenen Ideale, denen sie nachzustreben hat. Ob sie erreicht werden oder nicht, es entwickeln sich unaufhörlich neue, andere aus ihnen, welche dieselben Rechte erlangen, der Gegenwart als Muster zu dienen. Wer seine Ideale aus alten, vergangenen Zeiten holt, der hat sie mit häßlicher Gewaltsamkeit herüberzuzerren und setzt dem Menschengeiste Ruinen, anstatt ihm brauchbare Wohnungen zu bauen. Sprechen wir Europäer ja nicht von ›Heiden‹! Wir nennen uns Christen, ja, aber wir herbergen und schlafen doch allgesamt in den Ruinen der alten heidnischen Götter und Göttinnen, deren Mono- und Biographien wir Wort für Wort auswendig lernen müssen, während wir an ganz denselben Schulen über den wahren Gott und Herrn meist nur in der Weise unterrichtet werden, daß wir fast lieber an ihm zweifeln, als an ihn glauben möchten!«

Als er so sprach, schaute ich ihn verwundert an. Er sah es, lächelte ein wenig und fuhr fort:

»Jawohl, ich bin nicht mehr der Alte. Ich schwieg. Warum? Aus Stolz, dachte ich. Es war aber nicht berechtigter Stolz, sondern Dummheit. Nun ich sehend geworden bin, habe ich auch gelernt, mich auszudrücken, in Worten und in Taten. Die Worte könnt Ihr allezeit hören; ich bin bereit, einem Jeden zu sagen, was ich denke. Und die Taten liegen da drüben, jenseits des Wassers. Schaut hinüber! Was Ihr dort liegen seht, das ist ein heidnisches, ein vollständig heidnisches Land. Denn, glaubt es mir: Kein Einziger von Allen, die da wohnen, hat jemals aus dem Munde eines Christen die Worte gehört, daß sein Glaube, also der Glaube dieses Landes, ein falscher sei! Als ich mit meinem Freunde Fu diese Gegend durchzog, um sie kennen zu lernen, sah ich alle Vorzüge und alle Schattenseiten der chinesischen Kultur. Der Vorzüge waren viele, der Fehler nur wenige. Ein Lügner wäre ich gewesen, wenn ich behauptet hätte, daß diese Kultur eine falsche sei! Ich gab ihr das volle Recht, welches ihr gebührt, und ließ sie dann nach meiner Vereinigung mit Fu sich unter meiner Hand still fortentwickeln. Nun reiht sich Wiese an Wiese und Feld an Feld. Ihr geht auf Wegen und Straßen immerfort zwischen Fruchtbäumen dahin. Der Draht des Telephon und Telegraph begleitet Euch. Ihr kommt an Wagen, Reitern, Sänften, Fußgängern vorüber, und jede dieser Begegnungen ist eine freundliche, ich möchte sagen, herzliche. Teilt sich der Weg, so geht es links nach der Stadt, rechts aber hoch hinauf nach Raffley-Castle. Sähet Ihr nicht an der Kleidung der Menschen, daß Ihr Euch in China befindet, so würdet Ihr annehmen können, in Old England oder Deutschland zu sein. Weit draußen, am fernsten Horizont, ragen Berge, gewaltige Phonolithmassen aus der Tertiärzeit. Auch der Berg, auf dem wir uns jetzt befinden, gehört zu dieser Gruppe, zu deren Füßen die ewig arbeitende See eine unendlich fruchtbare, allmählich ansteigende Ebene abgelagert hat. Auf halber Höhe liegt mein Raffley-Castle, mein Paradies, geschützt vor kalten Winden. Wie freue ich mich: heut abend bin ich dort!«

»Heut abend schon?« fragte ich.

»Ja, selbstverständlich. Die Pflichten der Gastlichkeit veranlassen uns, Ocama fast noch gleich in dieser Stunde zu verlassen, damit wir Euch morgen, wenn Ihr zu uns kommt, ohne Mangel an Vorbereitung empfangen können. Yin bittet mich, es Euch anzuvertrauen, daß wir uns ohne alles Aufsehen, also fast heimlich, entfernen werden. Die Andern kommen dann bereits morgen zu uns nach, weil Fang und Tsi ihren Patienten nicht länger, als unbedingt nötig ist, hier an der Küste bleiben lassen wollen.«

Während er dies sagte, machten wir eine Wendung, um die Stelle, an welcher wir standen, zu verlassen. Da sahen wir zwei Personen aus dem Hause kommen und nach dem Garten gehen – – – der Governor und Yin. Sie schauten nicht nach unserer Seite her und gingen also von weitem vorüber, ohne uns zu bemerken.

»Habt Ihr es gesehen?« fragte John. »Sie hatte bei ihm eingehängt! Was habe ich gesagt? Als auf der Jacht der ›uncle‹ so Arm in Arm mit Tsi verschwand?! Da sagte ich zu Euch: Ich bin überzeugt, daß er schon in den nächsten Tagen auch mit meiner herrlichen Yin genau so Arm in Arm promenieren gehen wird. Und nun ist es geschehen! Stören wir sie nicht! Ich gehe hinab in den Hafen, um unsere Flucht still vorzubereiten. Lebt wohl!«

Wir reichten uns die Hände. Er ging durch das Haus nach vorn, ich aber hinauf nach meinem Zimmer, wo ich den Sejjid beschäftigt fand, meine Habseligkeiten in und unter die verschiedenen Möbels zu verteilen.

»Sihdi,« redete er mich an, »nun sind wir endlich und wirklich in China angekommen! Wie freue ich mich, daß ich nun nur noch chinesisch mit dir reden darf!«

Das hatte er arabisch gesagt; ich antwortete ebenso:

»Wer hat dir verboten, arabisch oder deutsch mit mir zu reden?«

»Ich selbst, Sihdi. Denn schau, was ich dir jetzt zeigen werde!«

Er zog aus der tiefen Tasche seines Kaftans ein Paket hervor und schlug es auseinander. Es war eine ganze Anzahl engbeschriebener Papierbogen.

»Hier steht die ganze chinesische Sprache,« erklärte er mir. »Ich habe sie mir aufgeschrieben. Es sind über vierhundert Worte, die etwas sind, und beinahe fünfhundert Worte, die etwas tun. Auf den hintersten Seiten stehen dann die Worte, die nichts sind und auch nichts tun. Ich werde sie dir vorlesen, alle zusammen! Ihr lest von links nach rechts; wir lesen von rechts nach links, und die Chinesen lesen von oben nach unten. Wie soll ich anfangen? Oben oder unten? Hinten oder vorn?«

»Fang an, wo du willst, aber nur nicht jetzt!« lachte ich. »Uebrigens, sprich mit mir, in welcher Sprache du willst, aber nur vernünftig!«

Da nickte er schnell vor sich hin und meinte:

»Das ist mir lieb, denn ich habe dir Etwas zu sagen, was sehr vernünftig ist.«

»Was?«

»Darf ich reden, ohne daß du es mir übel nimmst?«

»Ja.«

Da legte er die braunen Hände zusammen, schaute mir mit seinen dunkeln, ehrlichen Augen in das Gesicht, lächelte ein wenig verlegen dazu und sprach:

»Ich habe in der letzten Zeit viel, sehr viel nachgedacht, erstens über dich und zweitens über mich.«

»Nun, hast du da Etwas gefunden?«

»Ja.«

»Was?«

»Du bist nicht das, was du bist, und ich bin nicht das, was ich bin, sondern du bist das, was ich bin, und ich bin das, was du bist.«

»So? Das klingt allerdings sehr schön und ist jedenfalls noch viel schöner, als es klingt; aber sag mir vorerst einmal: Wer bist denn eigentlich ich, und wer bin denn nachher du?«

»Du scherzest, Sihdi, mir aber ist es ernst! Höre, was ich meine! Ich bin kein Moslem, und du bist kein Christ.«

»Oho!«

»Ja, so ist es! Sondern du bist der Moslem, und der Christ bin ich! Ich bitte dich, Sihdi, werde nicht darüber zornig, und lache mich aber auch nicht aus. Es ist so, wie ich sage, wenn auch Etwas anders. Es gibt etwas dabei, was ich noch nicht begreife. Denn wenn ich mir ganz Dasselbe auf die andere Seite hinüberdenke, so bist du immer noch der wirkliche Christ, und ich bin immer noch der wirkliche Anhänger des Propheten. Aber es gibt noch eine dritte Seite, welche diese Sache noch viel verwickelter macht. Denn wenn ich uns von ihr aus betrachte, so sind wir weder Christen noch Muhammedaner, sondern Heiden.«

»Das klingt sehr schlimm, Omar!«

»Laß es klingen wie es will; schlimm ist es nicht, denn – – –« er hielt nachdenklich inne und fuhr dann fort: »Wie war das nur, was sie zu mir sagte? Das war kurz, ehe sie ging.«

»Wer?«

»Sie, die – die – – ach, das weißt du ja noch nicht! Nämlich ich war in meiner Stube da vorn und hatte die Tür offen. Da wollte etwas Weißes an mir vorüber. Als es mich sah, blieb es stehen und kam dann näher, herein in meine Stube, um mich anzusehen. Ich wußte nicht, was es war.«

»Natürlich eine Frau!«

»Ja, ein Mann war es nicht, ob aber eine Frau oder ein Mädchen, das war nicht gleich so gewiß, wie du zu denken scheinst. Ich sah einen Schmuck von Rosen und Veilchen und ein ganz unbeschreibliches Angesicht; das hatte den Anschein, wie gar nicht von der Erde. Und da sprach es zu mir. Ich aber stand mit offenen Augen und mit offenem Munde und antwortete nicht, denn ich hörte die Worte nicht, weil ich nur auf den köstlichen Klang der Stimme achtete. Es war, als ob ein Bulbul Nachtigall. sänge, im Schatten einer unter Palmen stehenden Moschee, ganz absonderlich, beinahe heilig! Ich weiß, daß es bei den Christen heilige Frauen gibt, die gestorben sind und als Seele manchmal wieder auf die Erde kommen. War das, was so da vor mir stand, eine solche Seele oder gar ein Engel? Natürlich wollte ich diese Frage bloß nur denken; aber ich habe sie wirklich ausgesprochen, denn ich weiß noch, daß ich über den Klang meiner Stimme erschrak, der gegen den der ihrigen ganz unaussprechlich häßlich war. Ich kann mich auch nicht erinnern, in welcher Sprache ich es gesagt habe; aber ich bin ganz gut verstanden worden, denn es kam ein Lächeln, als ob es plötzlich lauter Sonnenschein und Fröhlichkeit auf Erden gebe, und dann die Worte, die ich meine. Ich könnte sie dir höchst wahrscheinlich ganz genau sagen, wenn ich mich eben auf die Sprache besinnen könnte, in welcher dieser Engel oder diese Seele zu mir geredet hat. Es war kürzer, viel, viel kürzer, aber es wird ungefähr so gewesen sein: die Rassen und Religionen sind verschieden, die Menschenherzen aber sind alle eins und einig. Ich weiß nicht, ob du mich nun verstehst, mich und die Seele, die zu mir in meine Stube kam.«

»Ich verstehe Euch, dich und sie. Weißt du denn nun, wer es war?«

»Ich denke es mir. Sie ging von mir nach dem Zimmer des Governor, aus welchem du dann kamst. Nach einiger Zeit verließ sie es mit ihm; da ging ich hierher, um mich in deiner Wohnung einzurichten. Sie ist der Marmorkopf auf unserer Jacht, und sie ist das stets mit Blumen geschmückte Bild in der Kajüte. Und sie ist aber auch wieder keines von beiden, sondern sie alle drei zusammen sind – – –« wieder hielt er inne, machte eine Bewegung, als ob ihm ein überraschender Gedanke gekommen sei, und fuhr dann fort: »Sihdi, ich habe etwas entdeckt. Nämlich diese drei sind genau so Eines wie wir drei.«

»Deutlicher, Sejjid! Sprich deutlicher, sonst verstehst du dich schließlich selbst nicht mehr!«

»Ich meine: Dieses weißgekleidete Wesen, das Bild in der Kajüte und der Marmorkopf müssen zusammengerechnet werden. Und der Christ, der Mohammedaner und der Heide müssen auch zusammengerechnet werden. Da kommt hier Etwas und dort Etwas heraus, was du vergleichen mußt. Vielleicht ist es Einunddasselbe, vielleicht ist es nicht Einunddasselbe, aber etwas Aehnliches – – – Ich gehe!«

Er drehte sich um, entfernte sich und machte die Tür so schnell hinter sich zu, daß ich gar keine Zeit fand, ihn mit einem Worte, einer Frage zurückzuhalten. Das war so seine Art, wenn er etwas getan oder gesprochen hatte, was er für klug, vielleicht gar für geistreich hielt. Da ließ er mich so schnell wie möglich allein, damit ich Zeit und Raum gewinnen möge, ihn ungestört zu bewundern.

Was hatte er mir sagen wollen, und was hatte er mir gesagt? In seiner eigenartigen, so außerordentlich ernsten und doch fast komischen Weise? Das Mittel ziehen aus einer Frau und ihren beiden künstlerischen Werken! Einen Christen, einen Moslem und einen Heiden addieren und die Summe mit drei dividieren! Wie heißt der Quotient? Das war eine Aufgabe, die mir ein Araber, ein Eselsjunge aus Kairo vorgelegt hatte! Er hatte sich etwas ganz Bestimmtes dabei gedacht, gleichgültig, ob ich ihn begriff oder nicht. Er, der nicht das Allergeringste von Kunst verstand, hatte mir in Beziehung auf die Yin einen geradezu bewundernswerten Wink gegeben. Und er, der sich stets mit so großem Stolze als Sejjid, also als Nachkomme Mohammeds bezeichnet hatte und dem es geradezu gräßlich gewesen war, einen Heiden auch nur anzurühren; er wollte jetzt nicht nur sich, sondern dazu auch mich mit allen möglichen Andersgläubigen zusammenwerfen und hinterher noch dividieren lassen! Warum, wozu? Weil er endlich, endlich zu ahnen begann, daß sein sogenannter »wahrer« Glaube auch nichts Anderes als eben nur eine Art des Glaubens ist.

Eine ganze Fülle von Gedanken stürmte auf mich ein, und ich setzte mich ins Freie hinaus, auf den hohen Söller. Das weit vorspringende Dach beschattete ihn. Vor mir lag beinahe der ganze Ort, der Hafen und der Meeresarm. Jenseits desselben die Küste des Festlandes und der Landeplatz, hinter diesem die weiten, langsam ansteigenden Fluren und Felder, welche den bereits erwähnten dunkeln, sonderbar zacklinigen Bergen zustrebten, auf denen ich Raffley-Castle zu suchen hatte.

Eben als ich mich draußen niedergesetzt hatte und mein Auge hinunter nach dem überaus belebten Hafen richtete, kam Sejjid Omar aus dem Hause und wendete sich nach dem bergabwärtsführenden Wege. Er hatte nichts zu tun und ging darum spazieren, um den interessanten Ort, an dem wir uns befanden, kennen zu lernen. Von unten kam ein Chinese herauf, langsamen Schrittes, wie einer, der auch nur spazieren geht. Sie grüßten einander. Der Chinese blieb stehen und sprach auf Omar. Dieser antwortete. Es entwickelte sich zwischen ihnen ein Gespräch, infolge dessen der Chinese die bisherige Richtung seines Spazierganges aufgab; er drehte sich um und schritt mit Omar den Berg hinab. Aus seinen Handbewegungen schloß ich, daß er dem Araber die umliegende Gegend zeigte und erklärte. Weiter hatte dieser Mann für mich kein Interesse – – – notabene für jetzt. Er sollte mir wichtiger werden, als ich dachte! Es fiel mir an ihm auf, daß er einen ganz eigenartig geformten Hut trug und daß kein Zopf bei ihm zu sehen war.

Nach einiger Zeit hörte ich meine Tür drin gehen.

»Charley!« rief die Stimme des Governor.

»Hier bin ich, auf dem Balkon,« antwortete ich.

Er kam heraus.

»Da sitzt Ihr also, da!« sagte er. »In aller Seelenruhe! Während ich in meiner Seele ein ganzes Schock von Seestürmen zu erleben habe, alle zu gleicher Zeit, ganz auf einmal!«

»Und dabei so außerordentlich gutes Wetter im Gesicht,« warf ich ein. »Ihr steht ja förmlich in Strahlen wie die Sonne!«

»So? Wirklich?« fragte er, indem er sich niedersetzte. »Hab auch allen Grund dazu, daß ich strahle! Bin begeistert, bin elektrisiert, bin entzückt, bin berauscht, bezaubert, fascinirt, bin einfach weg, weg, weg!«

»Hm!« machte ich.

»Was, hm?« fuhr er auf. »Ist etwa Etwas nicht richtig, Sir?«

»Hm!« wiederholte ich.

Da stand er auf, breitete die Arme aus, dehnte und reckte sich nach allen Richtungen, holte tief, tief Atem, setzte sich wieder nieder und sagte dann:

»So! Jetzt will ich mir Mühe geben; aber nun brummt mir auch nicht mehr! Uebrigens, Ihr habt recht, vollständig recht: diese Ausdrücke waren nicht am Platze. Es gibt Gefühls- und Erkenntnissphären, in denen Redensarten wie ›entzückt‹, ›begeistert‹, ›wundervoll‹ u.s.w. nicht nur lächerlich, sondern geradezu verbrecherisch sind. Das war mir bisher fremd; nun aber sehe ich es ein. Ich habe mich von jetzt an mit solchen tief da unten liegenden Dingen nicht mehr zu befassen, denn ich bin gehoben worden, hoch, hoch emporgehoben. Schaut mich einmal an, Charley! Was meint Ihr wohl, wer ich bin?«

»Doch wohl der, der Ihr bis jetzt gewesen seid!«

»Nein! Sondern ein ganz Anderer! Alles, Alles, was ich mir einbildete, ist weg, vollständig weg! Ich war nichts, gar nichts! Erst heut bin ich Mensch geworden, ein wirklicher Mensch! Und erst heut wurde ich geadelt, erst heut! Ich war ein ganz gewöhnlicher Mann. Blaues Blut, na ja, meinetwegen! Aber das Edle, das Edle, das wirklich und vollkommen Edle, für das es keine Werte und keine Beschreibung gibt, das ist erst heute in mir aufgewacht, ganz plötzlich und mit aller Gewalt, als diese unbeschreibliche Yin bei mir erschien und vor mir niederkniete! Ich zähle über sechzig Jahre, habe aber nicht mehr als nur zwei wirklich bedeutende Augenblicke erlebt – – – innerlich bedeutend meine ich. Das war in Kota Radscha, als mein Freund, der Heidenpriester, unsere Mary Waller segnete. Und das war vorhin hier in Ocama, als von der Chinesin eine Segensfülle auf mich überging, die ich sogar auch äußerlich empfand, so ähnlich wie den Strom eines magnetischen Apparates.«

Er hielt inne, schaute in das Weite, über die See hinüber, und setzte dann seine Rede fort, nicht wie an mich gerichtet, sondern als ob er alles nur sich selbst zu sagen habe. Er hatte sich halb von mir abgewendet und sah mich auch nicht an.

»Sonderbar, höchst sonderbar!« Es war einmal ein indischer Brahmane bei mir, mit dem ich viel über ernste Dinge sprach; der erzählte mir Folgendes: Der Mann wurde in Indien erschaffen, das Weib aber in Persien. Da lag zwischen hohen Bergen der »heilige See« und gleich daneben der sumpfige »See der sündigen Gewässer«. Der heilige See trug nur eine einzige, rein weiße, fleckenlose Lotosblume. Keine Fliege und kein anderes Insekt wagte sich in ihre Nähe. In dem Sumpfe aber gab es Blumen in Hülle und Fülle. Sie prangten in allen Farben und schienen schöner zu sein als selbst die Lotos in der klaren, lauteren Flut. Aber sie dufteten wie nach Aas, und dieser Gestank, den sie verbreiteten, zog allerlei unreines Getier in großen Mengen zu ihnen hin. Da kam Ormuzd, der Gute, im Vollmondschein gegangen, bis an den heiligen See, und sah die Lotosblume. »Das ist die Blüte, die aus meinem Himmel stammt,« sagte er bei sich. »Ich werde sie dem Menschen bringen, den ich heute schuf, daß sie an seinem Herzen blühe und ihre reine Seele ihn aufwärts leite nach der Seligkeit. Er winkte ihr; sie kam herbeigeschwommen, und als sie an das Ufer stieg, besaß sie menschliche Gestalt und war – – – das erste Weib! – – – – – – Kaum hatte sich der Herr mit ihr entfernt, so kam auch Ahriman, der Fürst des Bösen. Er ging zum See der sündigen Gewässer und sprach mit arger List: ›Das sind die Blüten, die aus meiner Hölle stammen. Ich werde sie den Menschen bringen, die nun von heute an geboren werden, damit man sie für Lotosblumen halte und darum Gottes Himmel meiden lerne. Verflucht sei fortan Jedermann, der diese Reine liebt, die ich dort gehen sah!‹ Er winkte. Da kamen sie herbei geschwommen, die bunten Blumen aus dem Wasser des Gestankes, und als sie an das Ufer stiegen, besaßen sie die menschliche Gestalt und waren Frauen, viel schöner noch als jenes erste Weib! – – – – – – Wißt Ihr, Charley, wo Ihr die Seele jener Lotosblume, jener von Ormuzd geschaffenen Frau zu suchen habt?«

»In unserer Yin?«

»Ja. Aber warum sagt Ihr es? Ich selbst wollte es doch sagen! Ich habe es entdeckt, aber doch nicht Ihr! – Ich bin heut klein, unendlich klein geworden, und doch auch wieder groß, unendlich groß. Ich habe Euch viel, sehr viel zu sagen. Der Eindruck, den Yin auf mich gemacht hat, ist ganz unbeschreiblich. Es gibt keine Worte, mit denen ich das sagen – – –«

Er unterbrach sich abermals. Es gab ein Geräusch unter unsern Balken. Hinabschauend, sah ich, daß man einen Palankin aus dem Hause brachte und vor dem Tore niedersetzte. Dann erschien Yin. Da sprang der Governor sehr schnell von seinem Stuhle auf und sagte:

»Da ist sie ja! Schon jetzt! Sie will fort! Ich muß augenblicklich hinab, um Abschied von ihr zu neh men.«

»Wo will sie hin?« fragte ich.

»Nach Raffley-Castle hinüber. Aber davon wißt Ihr ja gar nichts. Mir jedoch hat sie es vertraulich mitgeteilt. Seht, da steigt sie eben ein! Ich muß rasch noch hinab, sonst trägt man sie mir davon, ehe ich ihr noch einmal die kleine, unendlich schöne Hand habe küssen dürfen. Wartet! Ich gehe nur hinab zu ihr, sonst weiter nirgendwo hin. Ich bin gleich wieder da bei Euch, und dann – – –«

Was »dann« geschehen sollte, das hörte ich nicht, denn grad bei diesem Worte machte er meine Tür von draußen hinter sich zu. Ich sah, daß er trotz dieser seiner Eile zu spät kommen werde, denn Yin war in die Sänfte gestiegen, welche nun jetzt von den beiden Kulis aufgehoben und mit jener schnellen Art von Schritten fortgetragen wurde, welche den chinesischen Sänftenträgern zur Gewohnheit geworden ist, nämlich ein ausgiebiger, schnell vorwärtsbringender Trab. Als der Governor unten aus dem Hause kam, waren sie schon eine ziemliche Strecke mit ihr den Berg hinunter. Da rannte er hinter ihnen drein und rief dabei zu mir herauf:

»Ich hole sie ein; ich hole sie ein, Charley! Kommt mir nach, in die Stadt, nach dem Hafen! Es gibt vor heut abend nichts zu essen hier oben!«

Das klang sonderbar. Wie kam er auf diese letzteren Worte? Und als ich nun sah, mit welcher Eile er, der vornehmste und bedachtsamste aller Gentlemen, hinter dem Palankin drein rannte und welche Schritte er dabei machte, da brach ich in ein lautes, herzliches Lachen aus. Ich glaubte, mir das gestatten zu können, denn ich war ja allein; aber da hörte ich hinter mir ein Echo klingen. Ich drehte mich um und sah Tsi. Er war in meine Stube gekommen, ohne daß ich es gehört hatte. Nun stand er da an der offenen Balkontür, sah den »uncle« laufen und lachte grad ebenso herzlich wie ich selbst. Daß er die letzten Worte des Governor gehört hatte, bewies er mir, indem er sagte:

»Nichts zu essen bis heut abend? Da hat er mich nicht richtig verstanden. Er eilte gar zu schnell an mir vorüber! Wir gönnen unsern lieben Gästen ihre eigene Zeit und bitten sie darum erst für heut abend in den Speisesaal. Das sagte ich ihm, als er an mir vorüberging. Für außerdem hängt neben jeder Tür die Speisekarte. Er hat es auf die Sänfte abgesehen. Wer sitzt darin? Vielleicht Yin?«

»Ja, Raffley ist schon voran nach dem Hafen. Sie wollen nämlich – – – ah, das darf ich ja vielleicht gar nicht sagen!«

»Warum nicht? Nur immer heraus damit! Sie wollen hinüber nach Raffley-Castle, nicht? Er hat es auch mir mitgeteilt und meinem Vater ebenso, im Vertrauen natürlich! Und Yin hat es meiner Schwester gesagt, meiner Mutter und meiner Großmutter, ebenso nur im Vertrauen! Sie sehen, das Leben beginnt bereits, sich chinesisch zu gestalten: Man behandelt die Vorkommnisse des Familienlebens nicht öffentlich, sondern vertraulich. Uebrigens, wenn Sie speisen wollen, so geben Sie das Zeichen mit dem Gong und sagen Sie dem Diener, was Sie wünschen! Das war es, worauf ich Sie aufmerksam machen wollte. Sonst aber sind Sie Ihr eigener Herr.«

Als er fort war, schaute ich draußen nach. Da hing neben jeder Tür ein kleiner Gong und über ihm ein Verzeichnis der Speisen und Getränke, welche man sich auf das Zimmer wünschen konnte. Das war eine Aufmerksamkeit, die ich sonst noch nirgends gefunden hatte. Ich hatte jetzt weder ein Bedürfnis noch einen Wunsch, sondern nur die Pflicht, dem Governor nach der Stadt zu folgen, da er das sehr wahrscheinlich von mir erwartete. Ich spazierte also ganz denselben Weg wie er, wenn auch bedeutend langsamer, den Berg hinunter, um zu versuchen, ihn dann irgendwo zu treffen.

Aber ich ging nicht allein, sondern ich wurde begleitet. Nämlich als ich zur Treppe hinunterkam, wurde eine der im Parterre liegenden Türen geöffnet, und es trat ein Chinese heraus, der ganz augenscheinlich nicht von gewöhnlichem Stande war. Er wollte auch hinunter nach der Stadt, blieb aber stehen und verbeugte sich sehr höflich, um mich an sich vorüberzulassen. Als ich ebenso höflich zögerte, dies zu tun, sagte er in einem sehr guten Englisch, er vermute, daß ich ein Gast dieses Hauses sei, und als solcher stehe mir der Vortritt vor ihm zu. Da ich das nicht annehmen wollte, entspann sich ein kleines, wohlwollendes Wortgeplänkel, welches zu dem heiteren Ergebnis führte, daß wir Einer dem Andern erlaubten, neben ihm herzulaufen. Dieser Mann war der Pu-Schang Oberster Hafenbeamte. von Ocama. Er war bei dem »hohen Herrn« gewesen, womit er natürlich Fu meinte, um ihm Meldungen zu machen und sich Verhaltungsmaßregeln zu erbitten. Ich war noch kaum hundert Schritte mit ihm gegangen, so fühlte ich mich überzeugt, daß er ein sehr gewandter und sehr energischer Herr sei, doch lernte ich später auch noch manche andere, rein menschliche Tugend von ihm schätzen.

Es war jetzt ungefähr drei Uhr nachmittags. Ich sah das am Stande der Sonne und zog, während wir im Gehen miteinander sprachen, meine Uhr aus der Tasche, um ihre Zeit mit der der Sonne zu vergleichen. Als er das sah, schien ihm ein Gedanke zu kommen. Er schaute auch nach seiner Uhr, hielt seine Schritte bei einer am Wege stehenden Bank an und sagte:

»Es ist drei Uhr nach europäischer Zeit. Wenn Ihr nicht große Eile habt, so bitte ich, hier einige Augenblicke zu warten. Es wird sich etwas zeigen, was Jeden, der es noch nicht gesehen hat, im höchsten Grade überrascht.«

»Was und wo?« erkundigte ich mich, indem wir uns miteinander niedersetzten.

»Da drüben an den Bergen,« antwortete er.

»Wo Raffley-Castle liegt?«

»Ja; eben dieses Castle meine ich. Ihr könnt es nicht sehen, denn es ist zu weit entfernt und liegt im Schatten des vorstehenden, hohen Berges. Dieser Schatten verdunkelt es grad einige Stunden vor und nach der Mittagszeit; sonst aber ist es immer hell zu sehen. Nur noch ganz kurze Zeit, so wird es uns erscheinen.«

Indem er dies sagte, hielt er seine Uhr noch in der Hand. An ihrer Schleife hing eine Betelnuß, auf welcher das eingegrabene und vergoldete Wörtchen »Shen« ganz deutlich zu lesen war. Ein noch dabei stehendes kleineres Zeichen konnte ich nicht erkennen. Ich vermutete also wohl mit vollem Rechte, daß dieser Pu-Schang ein Mitglied des großen, von Fu gegründeten Bruderbundes sei, und ich gestehe, daß diese Vermutung genügte, ihm sofort meine Sympathie zu erwerben.

Er bemerkte nicht, daß mein Blick auf seiner Uhr ruhte, anstatt auf der Gegend, nach welcher er mit ausgestrecktem Arme deutete. Da stieß er einen lauten Ruf aus, der mich veranlaßte, aufzuschauen. Ich stimmte sofort und ganz erstaunt in diesen seinen Ruf ein, denn auf dem dunkeln Grunde der dort im West und Nordwest von uns liegenden Berge flammte jetzt ganz plötzlich das Zeichen eines Kreuzes auf, welches aus lauter strahlenden Diamanten zu bestehen schien und, wenn ich die Entfernung in Erwägung zog, von ganz außerordentlichen Dimensionen war.

»Ein Kreuz, ein Kreuz, das Zeichen des Christentums!« rief ich aus. »So Etwas habe ich noch nie gesehen!«

»Und hier sieht man es tagtäglich, nicht nur das Zeichen, sondern das Christentum auch selbst!« antwortete er. »Dieses Kreuz ist ganz von selbst entstanden, ohne alle Berechnung derer, die es errichtet haben. Und so kam auch das wahre Christentum ins Land. Kein Mensch kann sich rühmen, es uns gebracht zu haben, denn es kam ganz von selbst; es kam – – mit unserer ›Shen‹. Gott läßt sich nicht durch Sterbliche verpflichten; das sollte man doch endlich einmal wissen!«

Es entstand eine Pause, während welcher ich in den Anblick der ganz eigenartigen Erscheinung versunken war. Dann fuhr er mit leiserer, fast andächtig klingender Stimme fort:

»Ihr seid hier fremd, ein Europäer. Ich weiß nicht, ob Ihr so wie wir in Uebung seid, Euch das Aeußerliche nur mit Hilfe des Innerlichen zu erklären. Wo innen nichts ist, bleibt alles Aeußere Schein, denn es ist leer. Wo aber der Glaube innerlich im Menschen lebt und darum tief im Volke mächtig wird, da bricht er sich bald auch nach außen seine Bahn und zwingt sogar, wie hier, die scheinbar toten Berge, ihn durch sein Flammenbild dem Lande kundzugeben!«

»Und das ist Raffley-Castle, wirklich Raffley-Castle?« fragte ich, ohne eigentlich eine Antwort zu erwarten.

»Ja, das ist es,« sagte er. »Der alte, drüben in der Heimat aufragende Burg- und Schloßbau der Raffleys wurde aus Quadern von allerschwerstem Grampiangranit errichtet. Er ist der Leib, dessen Seele Sir John herüberholte, um sie hier in leuchtenden Pai-tang-schitou Weißzuckerstein: Marmor. zu kleiden. Der Urbau dort hatte nur dem Interesse der Familie, des Klan zu dienen. Er war der aufwärts ragende Stamm, der sich von diesen Interessen nicht zu lösen vermochte. Sir John und seine Yin aber machten die Seele hier von diesem Zwange frei, indem sie ihr die Flügel gaben, die sich im Dienste unserer ›Shen‹ nach beiden Seiten regen. Das sind die Gebäude, die sich rechts und links vom Stamme zweigen und ganz ausschließlich nur humanen Zwecken dienen. Hierdurch entstand das Kreuz, denn wo der Einzelne oder die Familie beginnt, sich der hilfsbedürftigen Brüder anzunehmen, da steht das Tor zum Himmelreiche offen, von welchem alle unsere Weisen sprachen, bis Christus kam, um diese Worte in Taten zu verwandeln.«

Wie erstaunt war ich, solche Worte, solche Ausdrücke aus dem Munde dieses Chinesen zu vernehmen! Wo hatte er diese Gedanken, diese inneren Anschauungen her? So wie er konnte doch nur Jemand sprechen, dem geistige Gebiete, wie Aesthetik, Psychologie und Metaphysik nicht nur bekannt, sondern vertraut geworden sind! Mein Gesicht schien ihm das, was ich soeben dachte, zu verraten, denn er lächelte ein wenig vor sich hin, deutete hinaus nach der Stelle, wo das Kreuz erglänzte und erklärte mir:

»Dieser Bau ist allerdings noch nicht ganz vollendet, weil Raffley so lange Zeit abwesend war. Aber vorbereitet ist Alles, und was dort jetzt noch fehlt, das ist in Shen-Fu angelegt, um später nach dem Schloß versetzt zu werden, besonders auch die Schule, der ich es verdanke, daß ich in dieser Weise mit Euch reden kann. Der oberste Professor ist der alte, liebe Pfarrer Heartman von Raffley-Castle drüben, den man eines jüngeren Geistlichen wegen dort pensioniert hatte. Als Sir John dies erfuhr, nahm er sich, ohne seine Verwandten davon zu benachrichtigen, dieses hochehrwürdigen Dieners der christlichen Kirche an, indem er ihn hierher zu uns, also in das Land der sogenannten ›Heiden‹ rief, doch nicht als Missionar, sondern als Leiter der Unterrichtsanstalten unserer ›Shen‹. Ich war sein erster Schüler und lerne noch heut von ihm. Nie hat ein Andersgläubiger ein widersprechendes, verwerfendes oder gar verdammendes Wort aus seinem Munde gehört. Er findet an jedem Glauben so viel Verwandtschaft mit seiner eigenen Religion und weiß das in so außerordentlich gewinnender und überzeugender Weise zu sagen. Und es geht Jedermann genau so wie mir: Je länger man mit diesem herrlichen Gottesmann spricht und verkehrt, desto mehr sieht man ein, daß Christus das wirklich war, als was er sich bezeichnete, nämlich der Weg, die Wahrheit und das Leben. Wir glauben hier alle an ihn!«

»Shen-Fu ist die Stadt, nach welcher die Straße von dem Wege nach Raffley-Castle da draußen links abgeht?« erkundigte ich mich.

»Ja,« nickte er. »Der Name bedeutet, wie Ihr wissen werdet, Hauptstadt der ›Shen‹. Unser großer Mandarin und Sir John haben das Gebiet, auf welchem wir wohnen, zwar Ki-tsching genannt, beliebter und gebräuchlicher aber ist das Wort Shen-Kuo, was ›Land der Shen‹ bedeutet. Unsere Verbrüderung geht über Länder, in denen über siebenhundert Millionen Menschen wohnen, und wir wünschen, daß sie immer weitergreifen möge, hoffentlich auch bis in das Abendland hinüber; aber ihre Wurzeln schlägt sie nur in diese kleine Strecke, für welche dort vom Bergesdunkel das Kreuz der Nächstenliebe leuchtet. Doch, seht, da geht die Wolke über unsern Himmel, und Raffley-Castle ist nicht mehr zu sehen. Setzen wir also den Weg zum Hafen fort!«

Während wir weitergingen, fragte er mich, ob ich Ocama wohl schon kenne. Ich verneinte das, und so machte er mich unterwegs auf alles Wissenswerte aufmerksam, was uns am Wege lag. Ganz auffallend war die Menge der Areka- oder Betelnüsse, die es hier gab. Ich sah große Prauen gefüllt mit ihnen; sie waren in jedem Laden zu verkaufen, und in Kisten lagen sie hoch aufgeschichtet am Ufer, um nach allen Orten, wo es Mitglieder der »Shen« gab, versandt zu werden.

»Wundert Euch nicht hierüber,« sagte mein Begleiter; »sie sind ja unsere Erkennungszeichen, unsere Legitimationen, ohne welche wir niemals erreichen könnten, was wir erreichen wollen. Vielleicht erfahren Sie selbst auch noch, daß es kein einfacheres, billigeres und praktischeres Bindemittel zwischen unsern Hunderttausenden, ja Millionen geben kann, als diese Nuß, die überall zu haben ist und deren Verlust man allezeit und sofort ersetzen kann.«

Das war im höchsten Grade interessant; ganz selbstverständlich aber belästigte ich den Pu-Schang nicht mit zudringlichen Fragen nach dieser Verbrüderung, die mit jedem neuen Tage ein größeres Interesse für mich gewann. Es war also ganz freiwillige Aeußerung, was er noch über sie sprach:

»Ihr werdet bemerkt haben, daß der Ort ein festliches Aussehen zeigt. Der nähere Grund liegt allerdings in Eurer Ankunft heut. Es gibt aber auch noch einen zweiten. Uebermorgen feiern wir nämlich den größten Festtag unsers Landes, den ›Shen-Ta-Shi‹ »Großer Tag der Shen«., auf den wir uns schon jetzt vorbereiten. Da strömen uns aus weit von jenseits unserer Grenzen die Freunde unsers Bundes in Scharen zu, und wohl nirgends auf der weiten Welt gibt es eine Versammlung, in welcher in Beziehung auf Bruderpflicht und Menschlichkeit so Weittragendes entschieden wird, wie hier bei uns an diesem einen Tage. Ihr werdet es ja sehen!«

Wir hatten inzwischen den Hasen erreicht und waren so weit am Wasser hingegangen, daß wir uns grad bei unserer Yacht befanden. Auf dem Deck saß der Governor. Seine Aufmerksamkeit schien nach auswärts, nach der Wasserseite gerichtet zu sein; bei einer unwillkürlichen Bewegung des Kopfes aber fiel sein Blick zu uns herüber; er sah mich und winkte mir, zu ihm zu kommen. Der Pu-Schang wollte sich entfernen, ich lud ihn aber ein, mit mir zu kommen, da Raffleys Onkel sich jedenfalls freuen werde, ihn kennen zu lernen. Das geschah denn auch. Ich stellte die beiden Herren einander vor und sah bereits nach kurzer Zeit, daß der Hafenmeister dem Gentleman sehr wohlgefiel.

Der letztere behauptete, uns gar nicht beschreiben zu können, was das Kreuz, welches jetzt nach Entfernung der Wolke wieder zu sehen war, für einen Eindruck auf ihn mache. Leider habe er es nicht eher bemerkt, als bis John mit seiner Yin im Boote fortgefahren sei. Er fügte hinzu:

»Indem ich diesen beiden nachschaute, sah ich plötzlich dieses diamantene Wunder dort an den Bergen leuchten, und ich versichere Euch, ich finde auch jetzt noch keine Worte, um Euch zu sagen, wie tief es mich ergreift. Doch, lieber Charley, da fällt mir ein: Ich wollte Euch Etwas zeigen. Seht hier; was ist das wohl?«

Das, was er mir reichte, war eine Arekanuß allerkleinster, niedlichster Art, als Knopf-, Schal- oder Gürtelschließer in Gold gefaßt. Auf der einen Seite stand das Wort »Shen« und darunter der Name Yin; auf der andern las ich die drei schon einmal erwähnten Zeichen Schin, Ti und Ho. Die Satzungen der »Shen« waren mir unbekannt; vielleicht gab es überhaupt keine; aber wenn ich an die Karte dachte, mit welcher Tsi damals in Kota-Radscha dem Malajen so imponiert hatte, so mußte die Person, welcher diese kleine Nuß gehörte, für die Bruderschaft eine außerordentlich wichtige und angesehene sein.

»Sir, wo habt Ihr dieses Schmuckstück her?« fragte ich den Onkel.

»Es ist von Yin; aber John hat es mir gegeben,« berichtete er.

»Wann? Darf ich das wissen?«

»Warum nicht? Solange ich England bin und Ihr Deutschland seid, brauchen beide keine Geheimnisse voreinander zu haben. Ich eilte, wie Ihr wißt, unserer Yin nach, um mich von ihr zu verabschieden. Aber die Sänftenkulis liefen so rasch, daß ich hier ankam, als sie bereits ausgestiegen war. John hatte auf sie gewartet und das Boot bemannt, um sich mit ihr hinüber nach dem Lande rudern zu lassen, wo man mit Pferden auf sie wartete. Ich war ganz außer Atem und wollte am Liebsten mit; natürlich wurde ich abgewiesen. Das ging mir aber derart gegen den Strich, daß ich in meiner Aufregung zu schwatzen begann, was ich jetzt gar nicht mehr weiß. Ich erinnere mich nur noch ganz dunkel, mit größtem Nachdruck beteuert zu haben, daß es unbedingt ein wahres Glück für meinen Neffen sei, seine Yin zur Frau zu haben; denn wenn dies nicht der Fall wäre, so würde ich sie heiraten, ich, ich, ich, und zwar gleich auf der Stelle; jawohl, hier von der Stelle weg! Ohne irgend einen dummen Verwandten da drüben in Old England erst zu fragen! Sie lachten beide so herzlich, wie eben nur so ein chinesischer Engländer oder so eine englische Chinesin lachen kann. Ganz selbstverständlich wurde ich da fuchsteufelswild, warf ihnen unsere ganze, schöne, große Wette an die Köpfe, zog sie miteinander an mein altes Herze, küßte sie beide, erst ihn, dann sie und dann sie noch einmal, und schwor ihnen zu, noch heute nach Hause zu schreiben, daß Yin meine Nichte sei, daß ich also meine Wette verloren habe und überhaupt niemals wieder wetten werde. Versteht Ihr mich, Charley? Niemals wieder! Ich sage das freiwillig! Ihr habt mich nicht gezwungen! Wollt Ihr das wohl bedenken?«

»Sehr gern, sehr gern! Das ist ein guter Entschluß und ein gutes Wort. Ich danke Euch!«

»Auch John freute sich darüber. Er sagte, nun sei ja alles ganz und für immer gut, genau so, wie er erwartet habe. Darum wolle er auch mir eine Freude machen, die keine ganz gewöhnliche sei, indem er mir den Adel, den ich soeben gezeigt und bewiesen habe, diplomiere. Er zog seiner Yin diese Nadel, Broche oder was es ist, aus ihrem Schultertuche und steckte sie mir an die Brust. Dann machte er sich so schnell mit ihr hinweg, daß ich gar keine Zeit zu der Frage fand, was es mit dem sogenannten Diplom für eine Bewandtnis habe. Wißt Ihr es vielleicht, Charley?«

Der Pu-Schang war, während der »uncle« dies erzählte, in diskreter Weise einige Schritte rückwärts getreten. Nun reichte ich ihm den Schmuckgegenstand und bat ihn um seine Meinung.

»Sir,« sagte er, indem er sich tief vor dem Governor verbeugte, »Ihr seid durch Ueberreichung dieses Zeichens ein Diener unserer großen ›Shen‹ geworden, und zwar nicht etwa ein gewöhnlicher, sondern ein der höchsten Stellen würdiger. Dieses Zeichen ist ein hohes; es gehörte Yin. Daß sie es Euch, dem Angehörigen Eurer Rasse, Eurer Nation, zu geben wagt, ist eine Auszeichnung, deren Größe und deren Wert nicht ich Euch zu erklären habe. Das hat nur entweder Sir John oder unser großer Mandarin zu tun.«

Der Governor stand unbeweglich, starr.

»Ich, ich – – – Mitglied der – – der – – – der Shen?« fragte er.

»Ja,« nickte der Hafenmeister.

»Und zwar kein – – – kein gewöhnliches, sondern ein – – – ein – – – ein hohes?«

»Ein sehr hohes! Dieses Zeichen berechtigt zu viel, zu sehr viel, Sir! Man wird Euch das noch sagen.«

»Von unserer Yin, von ihr! Ja, ja, sie ist ja Chinesin; da ist es zu begreifen! Und von Fu hat man sogar schon längst gewußt, daß er nicht nur zur ›Shen‹ gehört, sondern ihr Gründer ist! Aber dieser John, mein Neffe, wie konnte der es wagen, sich an diesem Zeichen zu vergreifen, um es seiner Frau wegzunehmen und mir zu geben?!«

»Sir John? Etwas wagen? Ja, wißt Ihr denn das noch nicht?«

»Was?«

»Daß er einer der besten Offiziere, einer der höchsten Generale unserer großen Menschenbruderschaft ist! Sir, ist Euch das wirklich unbekannt?«

Da drehte sich der Governor langsam um, schaute eine Weile aus dem Hafen hinaus, wendete sich uns wieder zu, sah mich an und fragte:

»Charley, besinnt Ihr Euch auf diese meine Albernheit?«

»Auf welche? Wann?«

»Als ich von ihm im Kratong zu Euch sagte: ›Dem scheint es mit dem Ko-su-Sortieren nicht ganz ernst gewesen zu sein.‹ Es ist also sicher, daß er nicht die geringste Befähigung besitzt, ein Mitglied der ›Shen zu werden‹. Das habe ich behauptet! Denkt Euch doch nur! Und während ich eine solche Dummheit rede, ist dieser John bereits einer ihrer besten Offiziere, gar schon ein General! Nehmt es mir nicht übel, Mesch'schurs, ich muß mich setzen!«

Er ließ sich auf die Bank, von welcher er, als wir vorhin kamen, aufgestanden war, wieder nieder, betrachtete die Betelnuß höchst angelegentlich und sprach dabei:

»Eine Freude ist es, ja, und zwar eine große, unbeschreibliche, die mir John damit macht! Aber warum gleich so hoch? Hätte auch von unten angefangen! Sollte doch geprüft werden, beobachtet! Das sagte mir mein Freund, der malajische Priester! Ob es wohl einen zweiten Englishman gibt, der so hoch gestiegen ist wie ich heut, so gänzlich unerwartet?«

»Außer Sir John selbst gibt es keinen. Auch unser Professor nicht, der Pfarrer Heartman,« antwortete der Chinese.

»Heartman? Pfarrer?« fragte da der Governor schnell. »Wir hatten einen Pfarrer Heartman in Raffley-Castle. Der war uns aber zu – – – hm! Er sprach zu den Aristokraten genau so, wie zu dem ganz gewöhnlichen Volke; da wurde er emeritiert und zog, ich weiß nicht mehr, wohin.«

»Den meine ich, Sir, grad den. Er ist der Leiter aller unserer Schulen und erntet Dank von Allen, die ihn kennen. Sir John, den er einst taufte, ließ ihn aus der Heimat kommen, um sich durch ihn mit Yin verbinden zu lassen, denn der Segen eines – – –«

Da sprang der »uncle« wieder von seinem Sitze auf und unterbrach ihn schnell:

»Verbinden? Getraut – – –? Getraut – – –? Sie wurden von ihm getraut, John und Yin – – –? Von einem christlichen Pfarrer – – –? In geordneter – – – kirchlich vorgeschriebener Weise?!«

Da wich der Chinese einige Schritte zurück, machte ein höchst erstauntes Gesicht und sprach:

»Warum alle diese Fragen, Sir? Ich weiß jetzt wirklich nicht, was ich zu antworten habe!«

Da färbte die Verlegenheit das Gesicht des Governors rot bis zum Hals herab. Er fühlte, welchen Fehler er begangen hatte, und lenkte um, indem er sagte:

»Allerdings, das war ja selbstverständlich. Wo wohnt der Pfarrer jetzt?«

»Auf dem Castle. Er kommt aber täglich nach Shen-Fu herüber, um seines außerordentlich wichtigen Amtes zu walten. Wir bitten die Güte des Himmels, ihn uns noch lange zu erhalten, denn er ist trotz seines hohen Alters ein so rüstiger und beinahe unersetzlicher Mann, daß wir nur schwer lernen würden, ihn zu entbehren.«

»Hm! Und so eine Kraft haben wir pensioniert, emeritiert! Eigentlich eine Schande! Wir jagen ihn fort, um seiner Aufrichtigkeit, um seiner Ehrlichkeit willen, bei den Buddhisten und Konfuzianern aber wird er aufgenommen und anerkannt! Doch sagt einmal, mein Freund: Ich hörte, das neue Raffley-Castle sei ganz ähnlich gebaut wie das ursprüngliche, das alte. Wenn das der Fall ist, wie kann es da so in der Form eines Kreuzes leuchten?«

»Ihr seid ganz richtig berichtet, Sir; das neue gleicht dem alten, doch Material und innere Einrichtung sind anders. Die Seele ist geblieben aber zu dem neuen Körper kam auch ein neuer Geist. Die Basis oder der Sockel des Kreuzes wird von den Wirtschaftsgebäuden gebildet, über denen sich die Beamtenwohnungen grad in die Höhe ziehen. Dann kommt das eigentliche Castle, der Mittelpunkt, welcher nach rechts und links die beiden Arme breitet; ich meine die Baulichkeiten für humanitäre, also menschenfreundliche Zwecke. Hinter dem Castle liegt das Paradies, über diesem das herrliche Atelier und wieder über diesem die Kapelle mit der Orgel, die aus Deutschland verschrieben worden ist. Das Alles wurde aus weißem Marmor gebaut, der aus den benachbarten Kreidebrüchen stammt. Wenn die Sonne auf diese Marmorflächen blickt, so beginnen sie zu strahlen; die dunkleren Zwischenräume verschwinden für die Ferne, und so entsteht das Kreuz, welches Jedermann bewundert, der es sieht.«

»Das ist außerordentlich. Ihr sprecht auch von einem Atelier. Gibt es denn dort einen Künstler, einen Maler oder Bildhauer?«

»Nicht einen Künstler, sondern eine Künstlerin, nämlich unsere Yin.«

»Was? Wie? Yin? Sie, eine Künstlerin?«

»Ja, und zwar die größte, die einzigste, die wir hier im Osten haben. Wißt Ihr auch das noch nicht, Sir?«

»Nein, wirklich nicht!«

»Aber der Marmorkopf dort, der sie selbst darstellt, ist ja von ihr gemeißelt! Und auch das Bild in der Kajüte ist von ihrer eigenen Hand!«

»Das wird ja immer interessanter und immer unerhörter! Zuletzt besteht man nur noch aus lauter Verwunderung und wundert sich dann schließlich über gar nichts mehr!«

»Und das Paradies ist von ihr gemalt,« fuhr der Hafenmeister fort, »und für den Bau und die Ausstattung des Schlosses hat sie die vorzüglichsten Bestimmungen mit getroffen!«

»Auch das noch! Aber trotz dieser ihrer Beihilfe war ein Architekt nötig, wie es selten einen gibt, und der kann kein Chinese gewesen sein, sondern ist aus Europa herbeordert worden. Wahrscheinlich ein Engländer, der Raffley-Castle dort natürlich vorher studieren mußte!«

»Verzeihung, Sir; er ist doch ein Chinese. Er studierte in Leeds und London; dann ging er an die Technische Hochschule in Berlin, worauf ich ihn ein Jahr lang reisen ließ, um Studien zu machen. In Neapel traf er mit Sir John zusammen, der ihn mit nach England nahm, um ihm Raffley-Castle zeichnen zu lassen, ohne daß die Verwandten Etwas davon erfuhren.«

»Auch das ist seltsam, und zwar in hohem Grade! Aber sagtet Ihr nicht, Ihr hättet ihn reisen lassen, Ihr?«

»Ja.«

»Warum Ihr?«

»Es ist mein Sohn, Sir, nach dem Ihr mich fragtet, sonst hätte ich nicht von ihm gesprochen.«

Da öffnete der Governor den Mund, um zu sprechen, sagte aber nichts, sondern schaute mir eine ganze Weile lang kopfschüttelnd in das Gesicht, versetzte mir dann einen Rippenstoß und ließ sich endlich hören:

»Ein ganz unbegreifliches Land! Und ein ganz unbegreifliches Volk! Da ist man immerfort blamiert, und niemals hat man Recht! Aber eben das ist es, was mir gefällt! Daheim läßt man sich immerfort in seiner eigenen, wundervollen Sauce braten und glaubt, so appetitlich zu duften, daß Jedermann aufs schnellste anzubeißen habe; hier aber wird man vorerst ganz windelweich geklopft und dann, wenn man grad anfangen will, zu braten und zu duften, als unbrauchbar zum Küchenfenster hinausgeworfen, mitsamt der Kasserolle! Ich kann Euch sagen, lieber Freund, daß mir das imponiert! Es ist gar nicht so ungefährlich, als ›besserer‹ Europäer, sozusagen, mit einem ›bessern‹ Mongolen zusammenzutreffen, weil man da fast stündlich in die Lage kommt, sich selbst für den Mongolen halten zu müssen. Kaum habe ich Unglücksmensch behauptet, daß der Baumeister ganz unmöglich ein Chinese sein könne, so – – –«

Der Fluß seiner Rede wurde von einem Unterbeamten des Pu-Schang unterbrochen, der seinen Vorgesetzten gesucht und im Vorübergehen hier bei uns gesehen hatte. Er kam an Bord, sprach mit ihm und entfernte sich dann wieder, worauf der Hafenmeister uns fragte, ob wir wohl Zeit und Lust hätten, einer für uns wahrscheinlich interessanten Verhandlung beizuwohnen. Von uns befragt, welcher Art sie sei, erklärte er:

»Noch einige Stunden vor Euch kam heute früh ein Huo-Lun-Tschuan Dampfer, wörtlich: »Feuer-Rad-Schiff«. hier bei uns an, dessen Führer sich in größter Unbefangenheit als Opiumverkäufer melden ließ. Ich erteilte den Bescheid, daß dieser Verkauf hier nicht gestattet werde, worauf er mir antworten ließ, daß er sich zwar anzumelden aber nicht um irgend eine Erlaubnis zu fragen habe; er werde hier feilhalten und verkaufen, so lange es ihm beliebe. Wer die verhängnisvolle Wirkung dieses Giftes und unsere chinesischen Verhältnisse kennt, der weiß, warum ein solcher Mensch sich erlaubt, in diesem Tone zu uns zu reden, wird es aber auch begreiflich finden, daß es mir hier auf Ocama gar nicht einfallen kann, irgend eine Schwäche zu zeigen. Ich habe zu tun, was mir unsere ›Shen‹ befiehlt, gab meinen Leuten die nötigen Befehle und ging dann hinauf zum großen Mandarin, um ihm den Fall zu melden. Er war mit meiner Auffassung dieser Angelegenheit vollständig einverstanden. Als ich von ihm ging, traf ich Euch. Mein Diener glaubte, ich sei noch oben, sah mich aber, als er hier vorüber ging, mich zu holen, bei Euch stehen. Man hat dem Händler Einhalt getan, und er wartet nun in meinem Bureau auf mich, um seine Beschwerde anzubringen und Genugtuung zu fordern.«

»Und da sollen wir mit?« fragte der Governor.

»Ja, wenn Ihr diesen Fall für würdig haltet, Euch mit ihm zu befassen.«

»Ganz selbstverständlich, ganz selbstverständlich! Das erinnert ja an den famosen Opiumkrieg, an Kapitän Elliot und Admiral Kuang mit seinen neunundzwanzig Kriegsdschunken, an die zwanzigtausend Kisten mit Opium, die in das Wasser geworfen wurden, obgleich sie vier Millionen Pfund Sterling kosteten!«

»Um solche Größen und Ziffern handelt es sich heut und hier wohl nicht,« lächelte der Pu-Schang; »aber wenn ich damals der Kaiser Tao-Kuang gewesen wäre, ich hätte mich sicher nicht anders benommen, als ich mich jetzt benehmen werde!«

Wir verließen also die Jacht und ließen uns von ihm zu sich führen. Unsere »Yin« lag an dem »Platze der Einheimischen«, der sich durch größere Ruhe und Vornehmheit auszeichnete. Das Schiff des Gifthändlers war am »Platze der Fremden« vor Anker gegangen, und mir mußten an ihm vorüber, um nach dem Bureau des Hafenmeisters zu kommen. Wir sahen, daß es ein kleiner Küstendampfer war, stumpf auf den Kiel gebaut, um keinen großen Tiefgang zu haben und überall anlegen zu können. Er war auch mit Mast- und Leinenzeug versehen, konnte also zur Dampfkraft auch noch den Luftdruck fügen, und führte den Namen Ta-Shen-Tsi-Yang-Shen. Die Schriftzeichen dieser fünf Silben waren zu beiden Seiten des Buges angebracht. Sie heißen zu deutsch »Seine Exzellenz, der Europäer«. Solche und ähnliche Bezeichnungen kann man in den Häfen des Ostens sehr oft sehen oder hören; sie sind zwar nicht nach unserem Geschmacke, aber fast immer sehr bezeichnend.

»Seine Exzellenz, der Europäer« lag hart am Ufer an und war mit ihm durch ein Laufbrett verbunden. An diesem standen zwei Männer, welche nicht anders gekleidet waren als andere Leute auch und je ein dünnes, weißes Stäbchen in der Hand hatten, an dessen Ende sich eine Betelnuß befand. Vis-à-vis von dem Dampfer war am Lande ein Zelt errichtet, vor welchem eine Menge von Opium in allen seinen Gestalten und Zubereitungen nebst den zum Essen und Rauchen dieses Giftes nötigen Gegenständen zum Verkaufe ausgelegt worden waren. Dabei hockte am Boden wohl ein Dutzend sonnverbrannter, bis an den Hals bewaffneter Kerls, denen man die Führung irgend eines berüchtigten Handwerkes gleich beim ersten Blicke ansehen konnte. Vor ihnen aber standen auch zwei Männer mit eben solchen Arekastäben wie dort am Laufbrette »Seiner Exzellenz, des Europäers«. Sonst aber war nichts zu sehen, was auf irgend ein nicht ganz alltägliches Vorkommen schließen ließ. Indem wir vorübergingen, fragte der »uncle« den Beamten:

»Das ist jedenfalls das Giftmischerschiff mit seinem Verkaufsstande. Ich vermute, daß Ihr Beide bewachen laßt. Sind die Männer mit den Stäben etwa Polizisten?«

»Ja,« antwortete der Hafenmeister.

»Natürlich heimlich bewaffnet, mit Revolvern oder so Etwas?«

»Nein.«

»Nicht? Aber die Polizei muß doch eine Waffe haben, um sich Respekt zu verschaffen!«

»Das ist bei uns nicht nötig. Wir achten sie und ehren sie, ohne daß sie unser Leben zu bedrohen braucht. Eigentlich gibt es bei uns gar keine Polizei. Bei denen, die zur großen Brüderschaft der ›Shen‹ gehören, sind Zwangsmaßregeln niemals nötig. Ein Jeder liebt und respektiert den Andern so, daß man keinen Menschen kennt, der irgend eines Schutzes gegen andere Menschen bedarf. Nur wenn es sich, zum Beispiel so wie hier, um Fremde handelt, kann es einmal zu jener Strenge kommen, deren sich jede zivilisierte Nation eigentlich zu schämen hat. Dazu brauchen wir aber nicht einen besonders besoldeten, besonders eingeschulten und besonders ausgerüsteten Stand, sondern es genügt Jedermann, der sich am Platz befindet. Er bekommt das weiße Stäbchen in die Hand und damit die gesetzliche Macht, die für den betreffenden Fall vonnöten ist.«

»Hm! Da bin ich still! Aber es geht so ruhig zu! Kein Auflauf, keine Ansammlung von Menschen! Käme bei uns ein Fall derartiger Maßregelung eines Schiffes vor, so stände der ganze Platz hier so voller Manns- und Weibsleute, daß man gar nicht hindurch könnte. Hier aber scheint Niemand Etwas davon zu wissen.«

»Da irrt Ihr, Sir, denn Jedermann weiß es; aber ist es etwa ehrenhaft, sich um irgend einen Schurken extra zu bekümmern? Ist er schuldig, so schämt man sich dann, ihn überhaupt beachtet zu haben, und ist er unschuldig, so bereut man es, ihn mit zudringlichen Blicken gekränkt zu haben. Fühlt Ihr nicht, Sir, daß es so am richtigsten ist, wie es hier bei uns gehalten wird?«

»Alle Wetter! Ob ich das fühle! Wenn das so weiter geht, so rede ich bloß noch englisch, sonst aber bin ich durch und durch chinesisch! – – – Was ist das für ein Haus und was für eine Schrift über der Tür?«

Er deutete nach dem Gebäude, auf welches wir zuschritten.

»Das ist mein Kung-So Amtsbureau.« antwortete der Hafenmeister. »Die Schriftzeichen sind Kung-Tao zu lesen, was so viel wie ›Gerechtigkeit‹ bedeutet. Daß man sie in Wirklichkeit auch findet, wenn man sie hier bei mir sucht, dafür habe ich zu sorgen. Tretet ein, ganz so, wie es Euch gefällt! Man liebt es hier nicht, die Gäste mit überflüssigem Zeremoniell zu belästigen.«

Wir kamen durch einen geräumigen Vorplatz in einen Raum, den ich nach heimischen Begriffen als »Wartezimmer« bezeichnen möchte. Da saß der Mann, wegen dem der Hafenmeister geholt worden war. Er machte keine Bewegung, uns zu grüßen. Wir gingen in die große Stube nebenan, wo mehrere Schreiber saßen, und kamen dann in das eigentliche Dienstgemach des Pu-Schang, an welches eine Veranda stieß, deren Tür jetzt offen stand. Nachdem wir Platz genommen hatten, ließ der Beamte den Wartenden durch einen der Schreiber zu sich bescheiden.

Als er hereinkam, grüßte er nun allerdings, aber nur ganz flüchtig, und setzte sich sogleich nieder, ohne dazu aufgefordert zu sein. Er war chinesisch gekleidet, aber sicher ein Mischling aus dem hinterindischen Süden, mit einem sonnverbrannten und von den Leidenschaften durchfurchten Gesichte, eine Spitzbubenphysiognomie, wie sie sich kein Schriftsteller erfinden darf, denn die hat es nur in Wirklichkeit zu geben.

Er hatte heute vormittag die Schiffspapiere vorgezeigt, und die hieraus gemachten Eintragungen ergaben, was über ihn zu wissen war. Das Schiff mit der ganzen Ladung gehörte ihm selbst. Der Zweck seiner Fahrt war nur der Opiumhandel, den er, wie er behauptete, schon seit Jahren von seiner Heimat Binh-Dinh an der cochinchinesischen Küste aus bis hinauf nach den koreanischen Häfen trieb. Er gab an, daß es bisher kein Mensch gewagt habe, ihn an der Ausübung dieses seines Gewerbes zu hindern, und er erwarte, daß er jetzt sofort wegen der ihm hier bereiteten unerhörten Belästigung um Verzeihung gebeten werde und dann tun könne, was ihm beliebe. Der Hafenmeister hatte ihn ruhig angehört und gab ihm nun in kurzen Worten seinen Bescheid:

»Ich habe gesagt, daß ich den Handel mit Opium hier verbiete. Man hat es trotzdem gewagt, dieses Gift zum Verkaufe öffentlich auszustellen. Ich befehle hierauf dem Dampfer ›Ta-Shen-Hsi-Yang-Shen‹, unsern Hafen binnen einer Stunde und unsere Gewässer binnen heut zu verlassen. Befindet er sich nach dieser Zeit noch hier, so wird er einfach konfisziert und mit der Ladung draußen auf der See verbrannt!«

Da sprang der Opiumhändler von seinem Sitze auf und rief zornig aus:

»Das wolltet Ihr wagen? Ich würde es Euch heimzahlen lassen, aber wie! Ich kenne meine Gesetze!«

»Und ich die meinigen auch!«

»Ich weiß wohl, was Ihr wollt! Ihr sagt, dieser Platz gehöre Euch. Aber Euer abendländisch gewordener Mandarin ist immer noch Chinese; ich befinde mich also an einem chinesischen Orte, und meine Papiere schützen mich vor der mir zugedachten Konfiskation!«

Da stand auch der Beamte von seinem Sitze auf und entgegnete ihm:

»Armer Teufel, der du bist! Was dich da schützen soll, das würde dich verderben! Er hat sogar die Macht über Leben und Tod!«

»Auch über Europäer?« klang es ihm da höhnisch entgegen. »Konfisziert Ihr etwa auch englische Schiffe? Ich habe nämlich während der jetzigen Fahrt das Schiff und die ganze Ladung unterwegs verkauft! An einen Engländer, sogar Offizier! Hier ist der Kontrakt. Und der Käufer ist auch zu haben. Soll ich ihn etwa holen?«

Er zog aus seinem weiten Taschenärmel die Schrift hervor, faltete sie auseinander und gab sie dem Beamten. Dieser las sie durch, legte sie wieder zusammen, schob sie in ein Fach seines Pultes und sagte:

»Diesen Kontrakt habe ich dem Käufer vorzulegen. Er mag kommen; aber schnell!«

»Er wartet schon darauf. Ich hole ihn!«

Mit diesen Worten eilte der Mann hinaus. Wir sahen ihn mit schnellen Schritten den Weg zurückgehen, den wir hergekommen waren, also nach seinem Dampfer. Wir hatten nicht lange zu warten, sondern sahen ihn schon nach kurzer Zeit wiederkehren, mit einem auch chinesisch gekleideten Zweiten neben sich. Und dieser Andere war ganz unbedingt derselbe Mann, der den Berg heraufgekommen und meinem Sejjid Omar begegnet war. Ich sah das an der eigenartigen Form seines Mao-Tse Chinesischer Hut., die mir aufgefallen war, und an dem Fehlen des Zopfes.

»Da bringt er ihn,« sagte der Pu-Schang. »Jedenfalls kein Offizier, sondern ein Lump, denn der Kontrakt ist Schwindel. Ein Strohmann, für Geld und ohne Ehre, weiter nichts!«

Als die Beiden hereintraten, hätte ich beinahe einen lauten Ruf der Ueberraschung ausgestoßen, denn der angebliche Offizier und Käufer des Dampfers war – – – Dilke, der sonderbare Gentleman, dem mein Sejjid Omar das Leben gerettet hatte. Jedenfalls war er in Penang von dem General nachträglich noch sehr streng coramiert worden, vielleicht gar fortgejagt, und wer weiß, auf welche Weise er es während der inzwischen verflossenen langen Zeit bis zum jetzigen Kumpan eines Giftmischers gebracht hatte! Er sah mich; er mußte mich sofort erkennen, mußte vom Sejjid erfahren haben, daß ich mich hier befand. Und doch ließ er sich nicht das Geringste merken; er sah über mich hinweg, als ob ich eine ihm völlig unbekannte und gleichgültige Persönlichkeit sei. Das hatte jedenfalls einen Grund, aber welchen? Er ging hoch erhobenen Hauptes, als ob hier an dieser Stelle nur er der Gebietende sei, auf den Pu-Schang zu und sagte:

»Man hat mich hierhergebeten. Ich bin Leutnant Dilke.«

»Gebeten?« antwortete der Hafenmeister. »Ist mir gar nicht eingefallen. Beordert seid Ihr worden; befohlen habe ich es. Und wenn Ihr nicht gekommen wäret, so hätte ich Euch holen lassen. Das nennt man dann nicht bitten, sondern arretieren.«

»Alle Teufel! Ich bin Offizier! Verstanden?«

»Daß Ihr es seid, das sollt Ihr eben beweisen!«

»Ihr habt ja den Kontrakt!«

»Der beweist hierfür gar nichts!«

»Wohl weil es das Exemplar des Kapitäns ist? Hier habe ich das meinige. Lest nach! Da steht mein Name, meine Eigenschaft und Charge.«

Er zog nun seinen Kontrakt aus dem weiten Aermel hervor, den der Chinese bekanntlich als Tasche benutzt, und gab ihn hin. Der Beamte las, musterte die Person des vor ihm Stehenden und erklärte dann:

»Auch das ist kein Beweis. Selbst wenn Ihr wirklich Offizier und wirklich Leutnant wäret, so könnte uns das gar nicht imponieren, denn ich schätze Euch schon über dreißig Jahre, und wer es bei uns hier in diesem Alter nicht weiter als nur bis zum Leutnant gebracht hat, der hat bescheiden zu sein, sehr bescheiden, sonst wird er einfach ausgelacht! Und sodann ist dieser Kontrakt keineswegs eine Legitimation, weder in Beziehung auf Eure Person überhaupt noch in Beziehung auf Euern militärischen Charakter. Ihr habt Euch dem Verfasser desselben als Leutnant Dilke bezeichnet und diesen Namen dann unterschrieben; für mich aber genügt das nicht. Ich fordere Euch auf, Euch besser auszuweisen! Ihr habt gewalttätig gehandelt, habt mit Hülfe bewaffneter Leute ein Zelt errichtet, um den hier verbotenen Opiumhandel zu erzwingen! Wißt Ihr, was das heißt?«

»Ich brauche keine Legitimation!« behauptete Dilke, allerdings schon in viel weniger zuversichtlichem Tone. »Jedermann sieht mir an, daß ich Engländer bin; Ihr aber seid Chinese; Ihr habt mir nichts zu sagen!«

»Ich stehe hier an Stelle von Sir John Raffley, der Besitzer dieses Ortes ist, und bin in diesem Augenblicke also Engländer. Ich habe bereits zu viel Zeit mit Euch verschwendet und sage zum letzten Male: Eure Legimation!«

Da drehte sich der angebliche Offizier langsam und sichtlich widerwillig nach mir um, deutete auf mich und sagte:

»Da sitzt sie, meine Legitimation. Dieser Mann kennt mich genau. Er weiß, daß ich erstens Engländer und zweitens Leutnant bin und drittens Dilke heiße!«

»Wie? Ihr kennt Ihn?« wendete sich der Beamte verwundert an mich. »Wollt Ihr ihn legitimieren?«

»Das kann ich nicht,« antwortete ich. »Ich sah ihn an einigen Orten, wo er sich Leutnant Dilke nennen ließ, doch ob er das auch wirklich sei, das wurde nie erwiesen.«

»Wie war da sein Betragen?«

»Ich bin sein Richter nicht!«

»Das genügt! Ich habe ihn also hier zu behalten, bis es ihm gelungen ist, glaubhafte Papiere vorzulegen.«

»Da wäre ich also arretiert?« fuhr Dilke auf.

»Ja.«

»Verfluchte Pest!« und wie knirschend fügte er hinzu: »Und diese vermaledeiete gelbe Bande sollte ich seligmachen helfen! Ich aber komme ihr nun von der andren Seite. Die Zeit ist da!«

Er zog eine Brieftasche hervor, öffnete sie, nahm ein sichtbar schon sehr oft gebrauchtes Papier heraus, warf es dem Pu-Schang hin und forderte ihn in zornigem Tone auf:

»Da, habt Ihr, was Ihr wollt! Aber nur schnell wieder her, damit ich fortkomme aus dieser Bude hier!«

Der Chinese las und sagte dabei, langsam und in überlegendem Tone:

»Ein Paß – – – ein australischer – – – aus Melbourne! Ausgestellt auf Robert Waller, genannt Dilke aus den Vereinigten Staaten von Amerika, Leutnant der freiwilligen Miliz der australischen Kolonie Victoria!« – – – Hierauf sah er lächelnd zu mir herüber und fuhr fort: »Ihr wolltet über sein Verhalten keine Auskunft geben, Sir; aber was hier steht, das ist so deutlich, wie ich nur wünschen kann: Geborner Amerikaner, mit zwei verschiedenen Namen, dann Australier, sogenannter Offizier, von freiwillig zusammentretenden Leuten, plötzlich bei uns auftauchend, sich als Leutnant des britischen Heeres bezeichnend, aber dabei der bezahlte Mitschuldige eines anamitischen Giftmischers aus Binh-Dinh! Dieser Wisch und die beiden Kontrakte bleiben hier, bis ich mir ›Seine Exzellenz, den Europäer‹ einmal genauer angesehen habe. Das werde ich jetzt tun, augenblicklich!«

»Mein Schiff durchsuchen? Das verbitte ich mir! brauste der Kapitän auf, dessen Augen funkelten.«

Und Dilke fuhr schnell herum zu mir und raunte mir zu:

»Diese Blamage habt Ihr zu verhindern! Ich habe erfahren, wer alles sich mit Euch hier befindet. Ich bin der Neffe des Missionars Waller, der Cousin Eures Abgottes, seiner Tochter Mary! Verstanden, Sir?«

»Seid, wer Ihr wollt,« antwortete ich. »Wo habt Ihr Sejjid Omar, meinen Diener?«

»Den Araber, diesen Kerl?« fragte er, sich verwundert stellend. »Was ist mit dem?«

»Ihr traft ihn oben am Berge und seid mit ihm umgekehrt.«

»Davon weiß ich nichts! Ist mir gar nicht eingefallen!«

»Leugnet nicht! Wo habt Ihr ihn gelassen? Ich kenne ihn und müßte ihn schon längst gesehen haben. Ihr habt es selbst verraten, daß Ihr mit ihm gesprochen habt. Denn ›wer alles sich mit mir hier befindet‹, das könnt Ihr nur von ihm erfahren haben.«

»Wie pfiffig!« höhnte er. »Um andre Leute für schlechte Kerls zu halten, braucht man eben nur selbst ein schlechter Kerl zu sein! Wollt Ihr um Waller und seiner Tochter willen die Durchsuchung unsers Dampfers verhindern?«

»Nein,« antwortete ich.

»So hole Euch der Teufel! Denn paßt auf: Uebermorgen abend rechne ich mit Euch zusammen! – – – Vorwärts; schnell, hier hinaus!«

Er nahm seinen »Kapitän« bei der Hand und eilte mit ihm durch die offenstehende Verandatür davon. Ich schaute den Pu-Schang fragend an. Der aber lachte und sagte:

»Laßt sie laufen, Sir! Wenn ich sie haben will, bekomme ich sie auf alle Fälle! Gehen wir langsam nach ›Seiner Exzellenz, dem Europäer‹, der uns höchst wahrscheinlich nicht nur sein Gift allein aufzwingen wollte. Er hat das Feuer ausgehen lassen und kann uns also nicht per Dampf entfliehen.«

Wir verließen also das Bureau der »Gerechtigkeit« und gingen den Weg, den wir gekommen waren, so weit zurück, bis wir den Opiumdampfer wieder vor uns hatten. Die vier Polizisten standen noch an ihren Stellen, zwei bei dem Zelte und zwei an der Laufbrücke. Ihre Weisungen erstreckten sich nur darauf, keinen Opium verkaufen zu lassen; was hiermit nicht in Verbindung stand, das kümmerte sie nichts. Darum hinderten sie es nicht, daß jetzt ein Boot zu Wasser gelassen wurde, und zwar von den bewaffneten Leuten, die vorhin bei dem Zelte gesessen hatten. Sie taten das mit großer Eile, grad eben, als wir kamen. Dilke und sein »Kapitän« saßen schon darin. Als die Leute dann hineingesprungen und vom Schiffe abgestoßen waren, rief uns Dilke zu, indem er die ausgestreckte Faust gegen uns schüttelte:

»Wir gehen nur einstweilen – – – wir kommen wieder – – – übermorgen! Dann machen wir Kontrakt mit Euch – – – auf neunundneunzig Jahre! Und rührt Ihr etwas an, was unser ist, so sollt Ihr uns, die ›Zivilisatoren‹, kennen lernen!«

Hierauf legten sich seine Ruderer ins Zeug, und das Boot schoß schnell über das Wasser hin, doch nicht hinaus nach der See, sondern nach dem Festlande zu.

»Ist dieser Mensch verrückt?« fragte der Pu-Schang. »Man könnte ihn dafür halten, wenn er nicht nach gewissen Mustern handelte, die wir alle kennen. Schauen wir nach, wer sich noch da befindet!«

Wir gingen an Bord, von wo aus man das sich entfernende Boot noch deutlicher als von der andern Seite sehen konnte. Wir zählten seine Insassen. Es waren achtzehn, also wohl alle, die zu »Seiner Exzellenz, dem Europäer« gehörten. Und diese Vermutung war, wie sich herausstellte, richtig. Die ganze Besatzung hatte sich in Sicherheit gebracht, für einstweilen, wie sie dachte. Wir fanden auf und in dem ganzen Dampfer nur einen einzigen Menschen vor, der aber nicht zu ihm gehörte. Wer war das wohl?

Um es kurz zu machen, will ich sagen, daß wir uns in alle Räume begaben, um nachzuschauen, was sie enthielten. Wir fanden Opium in ziemlich großen Mengen, doch auch noch Anderes. Nämlich eine ganz erstaunliche Masse von Militärgewehren europäischen Ursprunges nebst Munition und allem Uebrigen, was zu einem kräftigen Putsch oder der plötzlichen Erhebung eines Landesteiles gegen die Regierung erforderlich ist. Also: Das Schiff war irgendwo und von irgendwem gechartert worden, um einem hier für unsere Gegend beabsichtigten Pronunciamento als Unterstützungspunkt und Rüstkammer zu dienen.

»Ich ahnte es, und Ihr werdet mir das angehört haben, als ich mit diesem Dilke sprach,« sagte der Pu-Schang. »Es mehren sich seit einiger Zeit so ganz besondere Zeichen, und Leuten von der Art wie ›Seine Exzellenz, der Europäer‹ ist nie zu trauen!«

»Sehen wir doch auch einmal im Ballastraum nach!« bat ich. »Sonderbarer Weise sah ich bis jetzt noch keine Luke, die zu ihm führt. Ich habe nämlich eine Idee, die eigentlich lächerlich ist, mir aber keine Ruhe läßt. Ich muß hinunter, unter Umständen bis auf den nackten Kiel!«

Bei näherer Untersuchung stellte sich heraus, daß die Stufen, welche in den Ballastraum führten, mit schweren Kisten zugedeckt worden waren. Wir riefen die Polizisten herbei und ließen die Kisten beiseite schieben. Wer kam da aus dem dunkeln, mit stickiger Luft gefüllten Raum hervorgestiegen? Mein Sejjid Omar! Und nun es sich bewahrheitete, konnte ich, ohne mich zu blamieren, sagen, daß ich das erwartet hatte. Wie ich ihn kannte, wäre er von Dilke weg sofort zu mir geeilt gekommen, um mir zu sagen, daß er diesen Patron hier getroffen habe. Und hätte er mich nicht oben auf dem Berge angetroffen, so hätte er den ganzen Hafenort durchsucht, um mich zu finden. Daß dies nicht geschah, ließ mich vermuten, daß er daran gehindert worden sei, was nur auf gewalttätige Weise geschehen sein konnte, zumal Dilke ja leugnete, ihn gesehen zu haben. An einen Mord zu denken, war mir allerdings nicht eingefallen; für solche Taten hatte sich die Situation noch nicht zugespitzt; aber irgend eine Teufelei, um sich für Penang zu rächen, das war diesem Dilke unbedingt zuzutrauen, und man sah nun ja, ich hatte mich nicht geirrt.

Als Omar herauskam und zunächst stehen blieb, um tief und lang die bessere Luft zu atmen, fragte ich ihn:

»Hast du Angst gehabt, Sejjid?«

»Nein, keine Spur,« antwortete er. »Ich kenne dich ja, Sihdi. Wen du lieb hast, den verlassen deine Gedanken keinen Augenblick, und was du nicht sehen und nicht hören kannst, das läßt Allah dich ahnen. Ich wußte also, daß du kommen werdest. Ich habe dir schnell zu erzählen, wie ich da hineingekommen bin, und dann muß ich rasch hinauf zu Fu, um ihm zu sagen, daß eine Empörung gemacht werden soll und daß man des Nachts bei ihm einbrechen will, um nach den vielen Millionen zu forschen, welche einer gewissen Frau ›Shen‹ zu gehören scheinen.«

»So komm vor allen Dingen herauf an das Tageslicht und an die frische Luft; da kannst du reden.«

Wir stiegen an das Deck, wo wir uns niedersetzten. Er erzählte in der ihm eigenartigen Weise:

»Ich wollte mir, wie überall, wohin ich mit dir komme, diese Stadt und den Hafen ansehen, um dir antworten zu können, wenn du mich nach Etwas fragst. Darum ging ich fort. Unterwegs begegnete mir ein Chinese, der beinahe erschrak, als er mich erblickte. Da ich aber China sehr gut kennen gelernt habe, so konnte mich seine Verkleidung nicht täuschen, und ich sah sogleich, daß es der Engländer Dilke war, wegen dem ich der gute Bekannte des englischen Generales und seines ganzen Harems geworden bin. Er wollte sehr schnell an mir vorübergehen, doch sah ich, daß er sich besann; es fiel ihm etwas Anderes ein. Er grüßte mich höflich; darum war ich auch nicht grob. Er fragte mich, wohin ich wolle; ich sagte es ihm, und da kam ihm der Wunsch, mit mir zu gehen, denn er kannte die Stadt auch noch nicht, weil er ebenso wie wir, erst heut gekommen ist. Ich sage dir, Sihdi, wir wurden gute Freunde, sehr gute Freunde, und gewannen einander außerordentlich lieb; aber es fiel mir gar nicht ein, Vertrauen zu ihm zu haben und ihm alles zu glauben, was er mir sagte. Wir gingen überall miteinander herum, und dabei redete er immerfort. Am liebsten sprach er von einer mir sehr unbekannten Person, die jedenfalls eine Frau oder ein Mädchen ist, denn er nannte sie niemals ›er‹, sondern immer nur ›sie‹. Sie heißt ›Shen‹ und ist ungeheuer reich. Sie hat viele, viele Millionen, und die liegen entweder an drei verschiedenen Orten oder nur an einem von diesen dreien. Kannst du dir das denken, Sihdi?«

»Ich ahne es. Erzähle nur weiter!« forderte ich ihn auf.

»Der eine Ort ist oben, wo wir wohnen, bei Fu. Den nannte er aber anders, mit einem berühmten, chinesischen Namen. Im Parterre unsers Hauses sind die Stuben für die Schreiber, die immer fortwährend an diese ›Shen‹ schreiben und auch immer wieder Briefe von ihr bekommen, denn unser Fu ist das Oberhaupt dieser Frau oder dieses Mädchens. Wer einige von diesen Briefen lesen könnte, der würde sogleich erfahren, an welcher Stelle die Millionen zu finden sind. – Der zweite Ort ist eine Stadt, die Shen-Fu heißt und gar nicht weit von hier zu liegen scheint. Und nun denke dir, Sihdi, in dieser Stadt ist unser Englishman, John Raffley, Bürgermeister und hat da ein Bureau. Da sitzt er mit einem alten, weißhaarigen Pfarrer Heartman und zählt das Geld und schreibt die Millionen in furchtbar dicke Bücher. – Und der dritte Ort ist ein Schloß, nämlich Raffley-Castle, wo eine andere Frau, die grad so heißt wie unsere Jacht, nämlich ›Yin‹, in einem alten und in einem neuen Paradiese sitzt, und unter ihr ist ein Gewölbe, in dem die Millionen eingeschlossen liegen. – Welcher von diesen drei Orten der richtige ist oder ob man an alle drei zu gehen hat, das weiß man nicht genau; aber das Eine weiß man gewiß: Wenn man da oben bei unserm Fu des Nachts, wenn Alles schläft, in die Stuben geht, die im Erdgeschosse liegen, und in den vielen Büchern und Briefen sucht, die es da gibt, so erfährt man ganz genau, wo sich das viele, viele Geld befindet, und kann es sich dann holen. Und wenn ich eine Nacht nicht schlafe, sondern aufpasse, so sehe ich Dilke mit einigen von seinen Leuten kommen. Ich öffne ihnen von innen ganz leise die Tür; dann gehen wir heimlich in die Stuben und lesen so lange, bis wir finden, was wir suchen. Dafür bekomme ich eine ganze Million!«

»Mensch – – Omar – – Sejjid,« rief ich da lachend aus; »hält dieser Kerl dich für dumm!«

»Ja! Ich wollte ihm eigentlich in das Antlitz spucken; aber da hätte er recht gehabt; da wäre ich wirklich dumm gewesen! Darum machte ich ein so albernes Gesicht, weißt du, wie nicht einmal er es bringen kann, und fragte mich immer weiter in seine Freundschaft, in seine Liebe und in sein Vertrauen hinein, bis ich an die Stelle kam, an welcher, ganz genau gezählt, fünfhundert Rebellen stecken. Das ist jenseits unserer Grenze, bei einem Heidentempel, der heißt Ki. Die versammeln sich nacheinander, heut und morgen. Uebermorgen aber ist der richtige Tag, nämlich ein großes Fest, der Geburtstag der Frau ›Shen‹. Da kommen die Rebellen über die Grenze herüber und feiern den Geburtstag mit. Sie tun zunächst, als ob sie diese Shen auch liebten. Sie verteilen sich überall in unserm Lande. Sie hören unsere Festredner an und jubeln ihnen mit zu. Aber nach und nach beginnen auch sie zu reden, erst heimlich und dann öffentlich. Was sie da sagen wollen, das habe ich nicht erfahren, aber es soll große Wirkung haben und alle Welt begeistern. Dann ist es Rebellion. Es werden die Waffen verteilt, die sich in diesem Dampfer hier befinden, und wenn das neue Reich gegründet ist, bekommt Jedermann so viel Opium, wie er braucht, um Allahs sieben Himmel alle zu sehen. Das ist für die dummen Chinesen, die über die Millionen nur Unbestimmtes erfahren. Wir Andern aber, wir Klugen, wir gehen heimlich hin, wo sie liegen, und nehmen uns Jeder sein Teil, welches ihm versprochen worden ist.«

»Wir Andern, sagst du. Wer ist das?« fragte ich.

»Frage nicht mich, sondern ihn, wenn du ihn wieder siehst. Mir hat er es nicht gesagt, und ich habe ihn auch gar nicht gefragt, weil er mich dann nicht bloß für dumm, sondern gar für ganz verrückt gehalten hätte. Was von dem, was er mir vorschwatzte, wahr und was nur Schwindel ist, das habe nicht ich zu entscheiden. Aber es war meine Pflicht, so viel von ihm zu erfahren, wie nur möglich war, und das habe ich getan. Bist du mit mir zufrieden?«

»Sehr, lieber Omar, sehr! Aber war es denn nötig, dich einsperren zu lassen?«

»Nein,« antwortete er. Und lachend fügte er hinzu: »Ich versichere dir, daß es mir gar nicht eingefallen ist, ihn dazu zu ermächtigen. Aber wir waren miteinander zuletzt da unten in seiner Kabine, und da fragte er mich nach meiner Entscheidung. Da geschah der Fehler, den ich mir vorzuwerfen habe: Anstatt zu warten, bis ich wieder hier oben und mit ihm bei andern Leuten war, machte mich der angesammelte Grimm über ihn so unvorsichtig, ihm endlich zu sagen, daß er sich schon wieder in mir geirrt habe, weil er ein Schurke sei, ich aber ein Gentleman. Er hatte sich für diesen Fall wohl vorbereitet. Seine Leute standen auf dem Gange, hinter der Tür. Als wir hinaustraten, wurde ich von allen ihren Armen gleich so fest gepackt, daß ich mich nicht bewegen und noch viel weniger verteidigen konnte. Man band mir die Beine zusammen und die Arme an den Leib und warf mich dann hinunter in den Sand, der den Kiel des Schiffes schwer zu machen hat. Da lag ich in vollständiger Dunkelheit und mußte beinahe ersticken. Es gelang mir nach großer Anstrengung, die Arme frei zu bekommen. Da konnte ich mich der Ratten erwehren und mir auch den Strick von den Beinen lösen. Aber als ich an die Stufen kam, bemerkte ich, daß man Etwas auf das Loch gestellt hatte, was so schwer war, daß ich vergeblich versuchte, es zu entfernen. Ich war also auf dich angewiesen, auf dich allein, Sihdi, und darum wußte ich, daß meine Gefangenschaft nur von kurzer Dauer sein werde. Das ist eingetroffen. Nun muß ich hinauf zu Fu, um ihn zu warnen. Und dann will ich zu erfahren suchen, wo die Frau zu finden ist, die ›Shen‹, auf deren Geld man es abgesehen hat.«

Er stand von seinem Sitze auf; wir Andern folgten diesem seinem Beispiele. Die Art und Weise, wie er sich in einem Gemisch von Englisch und Chinesisch ausgedrückt hatte, war eigentlich belustigend, aber der Inhalt seiner Worte ließ kein Lächeln aufkommen. Der Pu-Schang gab ihm die Hand und sagte:

»Sir, ich sehe Euch zum ersten Male; ich kenne Euch nicht; aber ich vermute, wer und was Ihr seid, nämlich ein guter, braver Mensch, der seine Hand nie dazu bieten wird, einem Andern Schaden zu bereiten. Darum mögt Ihr wohl mit dem hohen Herrn sprechen, der Euch erlaubt hat, ihn bloß Fu zu nennen. Was aber die ›Shen‹ betrifft, so kenne auch ich sie sehr genau und habe das Recht, in ihrem Namen zu sprechen. Sie ist keine Frau, sondern etwas viel Höheres. Dieser Dilke hat Euch absichtlich in Unwissenheit über sie gelassen, doch werdet Ihr sie baldigst kennen lernen, hoffentlich zu Euerm Glück, Euerm Heil und Segen. Ich grüße Euch hiermit von ihr, der Großen, Edlen, Herrlichen, und bitte Euch, zu Fu, wenn Ihr nachher mit ihm sprecht von mir die beiden Silben zu sagen: Hsiung-Ti. Er wird wissen, um was ich ihn da bitte. – – – Und nun bin ich gezwungen, mich zu verabschieden. Dieses Ereignis und das, was soeben erzählt worden ist, machen ein augenblickliches Einschreiten gegen die Pläne nötig, die gegen uns gerichtet sind.«

Er wendete sich an seine Polizisten, um ihnen weitere und jedenfalls andere Befehle zu geben als bisher; wir aber gingen heim. Oben angekommen, suchte ich sofort Fu auf und erzählte ihm das Geschehene. Er hörte mich ruhig an, ohne die geringste Ueberraschung oder gar Erregung zu zeigen, schlug die letzte, gelb eingebundene Nummer des Tsching-pao Pekinger Staatszeitung. auf, und deutete auf die Stelle, die ich lesen sollte. Da stand:

»Achte dieses: Es sind mehrere Fan-Fan Fremde Rebellen. in unser Reich gekommen, um die, welche uns treu sind, zur Empörung zu verleiten. Wer sich von ihnen verführen läßt, hat keinen Lohn, sondern nur die Gefahr, die Mühe und die Strafe, denn den Gewinn, den das Böse bringt, behalten die Fan-Fan für sich allein, indem sie mit ihm verschwinden, sobald sie ihren Zweck erreicht haben. Man hat sie auf dem Wege nach Ki-tsching gesehen. Die dortigen Mandarinen aber sind treu und klug. Wir können ihnen vertrauen!«

»Wir sind also unterrichtet,« lächelte er, »und haben die Augen offen. Auch gingen von den betreffenden Organen schon Berichte ein, von denen ich Euch nichts sagte, um Euch nicht zu beunruhigen. Das mindert aber nicht im Geringsten das große Verdienst, welches Sejjid Omar sich um uns erworben hat. Wir wissen nun plötzlich ganz klar und sicher, was man will; sogar die Zeit, der Tag ist uns bekannt. Ich werde meine Maßregeln treffen; wir drahten ja in Zeit von einigen Minuten durch unser ganzes Gebiet. ›Seine Exzellenz, den Europäer‹ werde ich selbst auch noch besichtigen. Höchst wahrscheinlich machen wir mit ihm sehr kurzen Prozeß. Und da man grad den ›großen Tag unserer Shen‹ gewählt hat, weil man da Zuhörer in Masse zu finden glaubt, so werde ich dieses Fest verschieben, aber so heimlich, daß diese Fan-Fan vorher nichts davon erfahren. Die Vorbereitungen gehen scheinbar weiter. Und unsere Millionen? Hm! Ja, die ›Shen‹ ist reich, fast unermeßlich reich; für Länderräuber, Schurken und Rebellen aber hat sie nicht die geringste Kupfermünze übrig! Seid so gut, mein Freund, und schickt mir jetzt den Sejjid her; ich möchte den Bericht auch noch aus seinem eigenen Munde hören.«

Als ich zu Omar kam und ihm dies sagte, erkundigte er sich sehr angelegentlich:

»Nicht wahr, die beiden Silben Hsiung-Ti soll ich ihm sagen?«

»Ja,« bestätigte ich.

»Was hat das für einen Zweck?«

»Eine Freude für dich, und zugleich eine Ehre, eine sehr, sehr große Ehre. Was für eine, das wirst du dann nicht gleich, sondern nur so nach und nach begreifen. Doch, gehe jetzt; er wartet wahrscheinlich auf dich!«

Hierauf saß ich in meinem Zimmer, allein für mich, und dachte darüber nach, daß der Mensch so gern mit seinem Glauben den Nächsten selig machen will, mit seinen Werken aber diesem Nächsten meist nur Unseligkeiten bereitet. Dabei hörte ich, daß der Governor in seinem Zimmer auf und ab ging, als ob ihn irgend Etwas sehr lebhaft beschäftige. Und da klopfte er an die Verbindungstür.

»Charley, seid Ihr drin?« fragte er.

»Ja,« antwortete ich.

»Darf ich zu Euch?«

»Bitte, jawohl!«

Da kam er herein, mit Yins Nadel in der Hand.

»Das Ding da läßt mir keine Ruhe,« sagte er. »Ich habe erst jetzt Zeit, darüber nachzudenken, und da wird mir von Minute zu Minute mehr klar, was für ein großes, großes Geschenk dieser kleine Gegenstand eigentlich ist, zunächst für mich, und sodann auch, wie ich hoffe, für viele, viele Andere, die nicht hier im Morgenlande, sondern daheim in der alten, lieben, ahnungslosen Heimat wohnen. Könnt Ihr Euch noch erinnern, daß ich einmal von dieser ›Shen‹ sagte, sie sei wert, nach England verpflanzt zu werden? Jeder Schüler dort müsse ein Mitglied der ›Shen‹ werden? Aber was für ein dummer Ausdruck, ›sie sei es wert‹! Umgekehrt ist es richtig: Es würde eine internationale Ehre für jedes Land und für jede Nation sein, die ›Shen‹ bei sich aufgenommen zu haben! Und darum werde ich, sobald ich nach Hause komme, ihren Einzug bei uns schleunigst vorbereiten. Natürlich mit Areka- oder Betelnüssen! Es wird eine ungeheure Menge dieser Nüsse nötig sein, und ich überlege mir schon jetzt, woher ich sie am besten und am billigsten beziehen kann.«

»Alter, lieber Sanguiniker!« scherzte ich.

»Oho! Ich habe gar nicht sanguinisch, sondern bloß nur praktisch zu sein. Ich fange bei der Jugend an, denn aus ihr baut sich das Volk auf, bis hinauf in die höchsten, vornehmsten Kreise. Bedenkt doch, daß wir nur in England und Wales über fünfzigtausend Lehrer und über hundertfünfzigtausend Lehrerinnen an den board schools haben, mit zwanzigtausend Schulen und sechs Millionen Schülern und Schülerinnen! Dann kommen die höheren Privatanstalten und Lehrpensionen, die Stiftsschulen und die proprietary schools! Hierauf weit über vierhundert colleges und grammar schools. Endlich die Universitäten und zahlreichen Fachschulen, für Aerzte und Apotheker, Theologen, Lehrer, Techniker, Polytechniker, Künstler, Offiziere, Ingenieure, Landwirte, Tierärzte, Kaufleute und dergleichen! Ich lasse mich von unserm Fu von Grund herauf über die unendlich segensreiche Bruderschaft der ›Shen‹ belehren, und gebe diese Belehrung weiter, an mein Volk daheim und an dessen Erzieher. Ich bin sogar sehr gern bereit, bis hinauf zur Königin zu gehen, die mich hören wird, so oft ich komme, um für meine herrliche ›Shen‹ zu bitten! Und wenn ich erst die Jugend für diese ehrenvolle und unendlich segensreiche Schüler- und Studentenverbindung gewonnen und begeistert habe, so wird es auch bei den Alten sehr bald und überall heißen, daß ›Shen‹ Couleur geworden sei! Ich sage Euch: Ihr habt gar keine Ahnung, welche Mengen von Betelnüssen ich jährlich brauchen werde! Wäre ich wie Ihr, so versuchte ich es ebenso! Natürlich in Deutschland! Denkt an die Menge Eurer Studenten, Polytechniker, Kunstakademien, Gymnasien, Seminare, Realschulen und wie diese Anstalten alle heißen! Wollen wir wetten, daß unsere ›Shen‹ in Deutschland mit noch viel größerem Enthusiasmus aufgenommen wird als in England?«

»Wetten, Sir? Ich denke – – –«

»Ja, ja,« unterbrach er mich. »Weiß schon! War nur so eine Redensart! Wette ja niemals mehr! Ihr werdet aber hieraus ersehen, wie ernst es mit diesem meinem Plane ist. Habe mir die Sache soeben überlegt und werde sie Euch vortragen.«

Er setzte sich zu mir und teilte mir mit, welche Gedanken ihm gekommen waren. Was er da sagte, das hatte Hand und Fuß. Er besaß Organisationstalent und hatte als Governor Gelegenheit gehabt, sich zu üben und Erfahrungen zu sammeln, und das wendete er nun auf die Art und Weise an, in welcher er mit Leib und Seele, mit Hab und Gut daheim für »seine« Shen, wie er sie nun schon nannte, eintreten wollte.

Da kam der Sejjid von Fu zurück. Sein Gesicht glänzte, und seine Augen strahlten. Er stellte sich vor mich hin, so breit wie möglich, und fragte:

»Siehst du Etwas, Sihdi?«

Dabei schüttelte er den Kopf, damit ich sehen solle, was er meine.

»Ah, die Turban- oder Tarbuschquasten an deinem Fez?« fragte ich.

»Ja,« nickte er.

»Woher hast du sie? Sie waren doch vorhin nicht da!«

»Fu schenkte sie mir. Er hat sie mir sogar mit seiner eigenen Hand befestigt; denke dir! Und diese Quasten sind aus zwei Nüssen gemacht, von denen die eine Areka und die andere Betel heißt. Oder heißt die andere Areka und die eine Betel. Vielleicht heißen sie auch beide Areka und beide Betel; ich weiß das nicht mehr genau, denn es war sehr viel, was er mir sagte und was ich nicht vergessen darf! Es ist etwas daran.«

»Ein Zeichen?«

»Ja, und dieses Zeichen heißt ›Shen‹. Das ist nämlich keine Frau und kein Mädchen, sondern es ist die Gesamtheit von allen, allen Menschen, die auf Erden endlich einmal Frieden haben wollen. Fu hat es mir erklärt; ich sagte aber auch Etwas dazu und darüber hatte er Freude.«

»Was war das?«

»Das war so: Jeder Mensch will glücklich werden; das ist falsch. Jeder Mensch soll glücklich machen; das ist richtig. Weil Jedermann bisher das Glück für sich verlangte, konnte es kein Glück auf Erden geben. Hieraus folgt, daß wir zum Richtigen greifen müssen. Wie das zu machen ist, lehrt uns die ›Shen‹. Ist das wahr oder falsch, Sihdi?«

»Es ist wahr. Kam das aus deinem eigenen Kopf?«

»Ja, und Fu gab mir Recht. Er öffnete einen Schrank, in welchem viele, viele Arekanüsse sind, von allerlei Größe, Form und Farbe, und gab mir diese hier, indem er sie an meinem Fez befestigte. Dabei erklärte er mir sehr viel, was ich begriffen habe. Ich sage jetzt noch nichts, denn es hat in mir erst richtig festzuwachsen. Dann aber, wenn das geschehen ist, wirst du dich über mich freuen! Und als ich von ihm ging, trug er mir auf, dir zu sagen, daß in einer halben Stunde Wan-Fan sein wird. Ich will es Euch übersetzen. Dieses Wort bedeutet nämlich so viel wie Abendessen. Was Ihr bekommen werdet, das weiß ich nicht. Ich aber werde unten mit den Schreibern der ›Shen‹ speisen, und da gibt es heut, wie ich erfahren habe, Wurzeln von Wasserlilien, Bambussprossen und Krebse, worauf gebratene Enten mit Lotossamen und Senfblättern folgen werden. Jetzt gehe ich. Sagen aber soll ich Euch noch, daß Ihr gleich so kommen sollt, wie Ihr seid. Es wird nichts weiter angezogen, weil Ihr hier zu Hause seid, sagte Fu!«

Der Governor lachte herzlich und begab sich in sein Zimmer, um trotz alledem noch einige kleine Veränderungen in Beziehung auf seine Toilette zu treffen. Ich tat dasselbe. Dann gingen wir zur Tafel.

Zur Tafel? Eigentlich nicht! Denn die Diener, welche auf uns warteten, brachten uns nicht nach einem Speisesaal oder Speisezimmer, sondern hinunter in den Garten, und zwar nach der Lieblingslaube unserer Yin. Kann ich vergessen, wen ich da erblickte? Nein!

Wer meine Bücher gelesen hat, der kennt meine Freundin Marah Durimeh, die überhundertjährige Kurdin, das Bild der Menschheitsseele. So, grad so sah ich die chinesische Matrone, dunkel, ernst gekleidet, mit tiefen Falten im Gesicht, doch lieben, herzensguten Zügen, die Augen aus der tiefsten Seele strahlend und um den Mund ein Lächeln, wie es nur dieses eine gibt: das Lächeln wahrer Güte. So saß sie da, umleuchtet von duftenden Rosen, das weiße Haar schmetterlingsartig aufgesteckt, dann aber immer noch so lang, daß es ihr wie ein Schleier von den Schultern niederwallte.

Das war Fu's Mutter, die Ahne. Links von ihr seine Frau und rechts seine Tochter, die Schwester unsers Tsi. Außer Vater und Sohn kam Fang. Der Hafenmeister war geladen und dazu noch einige hervorragende Herren des Ortes. Als die Letzte von Allen stellte sich Mary Waller ein, die ihr Vater so lange beschäftigt hatte.

Aus diesen Angaben ist zu ersehen, daß in diesem Hause die Frauen keineswegs eine so beklagenswerte Stellung einnahmen, wie man sich in Europa von den chinesischen Frauen erzählt. Es wäre ganz im Gegenteile unmöglich gewesen, ihnen eine größere Rücksicht, Aufmerksamkeit und Ehrerbietung zu erweisen, als hier geschah. Es saß nicht Jeder an einem besonderen Tischchen, auch hatte nicht Jeder seinen besonderen Diener. Wir aßen genau so, wie man in Deutschland mit guten Bekannten speist. Nur die Kleidung und der Speisenzettel waren anders, sonst weiter nichts.

Ich sagte, bevor wir Platz nahmen, Fu ganz aufrichtig, daß ich wünsche, neben seiner Mutter zu sitzen. Er drückte mir dafür die Hand und führte mich zu ihr hin. Ich muß die Wahrheit sagen: Wir haben sehr wenig gegessen, aber einander gegenseitig so gern und so fleißig bedient, daß ich sie und hoffentlich sie auch mich immer lieber gewann. Ich blieb sogar bei ihr und den andern Damen sitzen, als nach Tische die Herren einen Spaziergang durch den Garten unternahmen, um, ohne die Frauen zu beunruhigen, über ernste Dinge sprechen zu können. Hierbei fragte ich Mary nach dem Befinden ihres Vaters.

»Er ist ganz wohl,« antwortete sie. »Jetzt schläft er. Er macht auf mich den Eindruck, als ob er hier in eine ganz neue Atmosphäre gekommen sei, auch geistig. Der Transport in dieses gastliche Haus hat ihn nicht im geringsten angegriffen. Als ich es ihm in seinen Kissen bequem gemacht hatte, schaute er sich sehr lange wie suchend um und sagte dann erstaunt: ›Der Knabe Waller ist weg! Wer wird nun kommen? Es muß doch Jemand her!‹«

»Ist das wahr?« fragte ich da schnell. »Diese Worte hat er gesagt? Wirklich, wirklich?«

»Ja,« antwortete sie. »Sie scheinen überrascht zu sein? Warum?«

»Bitte, sagen Sie mir erst: Haben Sie nur das von ihm gehört, oder auch noch etwas Anderes?«

»Zunächst nur das. Hierauf lag er mehrere Stunden lang still. Er bewegte zuweilen die Lippen. Dann hörte ich wiederholt das Wort: Gott. Später das Wort: Mensch. Er schien dabei eifrig nachzudenken, bis er beide Worte zusammenfügte: Gottmensch. Nach längerer Zeit begann dasselbe Spiel, doch mit drei andern Worten, nämlich Liebe, Selbstsucht und Menschlichkeit.«

»Was? Wirklich? Und das sagen Sie so ruhig? Ahnen Sie denn nicht, was das ist, was das bedeutet?«

»Nein. Ich hörte dann noch zwei- oder dreimal das Wort ›Shen‹, dann schlief er ein, und ich ging hierher zum Essen.«

»So wissen Fang und Tsi noch nichts hiervon?«

»Noch nichts. Aber bitte, Sie sind ja aufgeregt; Sie machen mir Angst!«

»Angst? Ich Ihnen? Fällt mir gar nicht ein! Ich bin vielmehr ganz glücklich über das, was ich da von Ihnen höre. Kommen Sie schnell mit mir zu den Aerzten; wir dürfen ihnen diese Ihre Beobachtung keinen Augenblick länger vorenthalten! Die Damen müssen uns entschuldigen!«

Wir baten um Verzeihung, die uns auch sehr gern gegeben wurde, und gingen fort, um die Herren aufzusuchen. Schon nach Kurzem sahen wir einen von ihnen. Das war Tsi, der bei einer interessanten Pflanze stehen geblieben war, die er betrachtete. Als sein Auge auf uns fiel, lächelte er über unsere Eile und fragte nach der Ursache derselben.

»Erinnern Sie sich noch des Gleichnisses von der Taucherrüstung?« sagte ich.

»Ja,« nickte er.

»Mr. Waller ist eine verlassene Rüstung. Wenn wir gut aufmerken, können wir es beobachten, wenn der neue Taucher kommt!«

»So ähnlich habe ich mich ausgedrückt, aller dings!«

»Nun, er ist da, dieser neue Taucher. Er hat die Anima bereits gezwungen, ihm die Sprachwerkzeuge abzutreten. Ich glaube, der kümmert sich nicht um Algen und um Tang, sondern wir werden Höheres und Besseres zu sehen bekommen. Ich vermute die größten und die schönsten Perlen der Tiefe!«

Da machte er ein ernstes, sehr ernstes Gesicht, trat einen Schritt zurück, ließ seine Augen langsam an mir niedergleiten und sprach:

»Herr, wer sind Sie denn eigentlich? Ich bin schon seit einiger Zeit im Stillen irr an Ihnen! Nämlich seit Ihrer Uebersetzung des malajischen Gedichtes. Sie haben da Farben angewendet, die nur der Dichter von ›Tragt Euer Evangelium hinaus‹ auf seiner Palette hat. Ich gestehe Ihnen aufrichtig, daß ich Sie heimlich beobachte. Und jetzt nun gehen Sie auf mein Bild von der Taucherrüstung in einer Weise ein, als ob es von Ihnen stamme, nicht von mir. Heißen Sie wirklich so, wie Sie sich nennen?«

»Ja, bitte, sagen Sie uns das aufrichtig!« schloß Mary sich dieser seiner Frage an. »Denn als damals bei der großen Wette in Uleh-leh gesagt wurde, daß Sie Bücher schreiben, da hatte man sich doch wohl vergaloppiert, und die herbeigezogene Erklärung stimmte nicht so recht. Bedenken Sie, daß Sie uns sich selbst verschweigen!«

»Hm! Zunächst etwas für mich sehr Wichtiges: Ihr Vater hat heut eine Parallele von zweimal drei Worten gebracht. Hieran schloß er das Wort ›Shen‹, und dann hatte er innerlich Ruhe, denn er schlief ein. Wie ist er auf dieses ›Shen‹ gekommen? Kannte er es?«

»Ja. Sogar ich kannte es. Er hat doch Chinesisch getrieben, und als christlichem Pfarrer ist ihm das chinesische Wort für Menschlichkeit doch nahe genug gelegen. Außerdem fiel dieses Wort sehr häufig zwischen Mr. Tsi und mir, wenn wir uns bei Vater befanden und mit einander sprachen. Da hat er es gehört, denn er ist doch nicht immerfort bewußtlos gewesen.«

»Das genügt; ich danke! Nun weiß ich, daß ich mich nicht irrte: Der neue Taucher ist nicht nur schon da, sondern auch schon an der Arbeit. Jetzt bin ich überzeugt, daß Ihr Vater nicht sterben, sondern lebenbleiben wird.«

»O, oh!« rief da Tsi aus, indem er mich abermals ganz erstaunt fixierte. »Woher wollen Sie das wissen, Sie, der Nichtarzt, und der Europäer!«

»Ja, mein Freund, Sie sprachen allerdings die Meinung aus, daß man sich im Abendlande nicht mit diesen hochwichtigen und hochinteressanten Fragen beschäftige, und obgleich hier unsere Freundin gegenwärtig ist, behaupte ich doch, daß ihr Vater für Sie bisher ein Kandidat des Todes war. Sie zeigten Hoffnung, um nicht zu betrüben. Jetzt plötzlich steht es anders. Bleiben wir bei Ihrem Bilde: Der neue Taucher ist da, und er hat sein Werk bereits begonnen. Das würde er aber mit einer hinfälligen, gefährlich defekten Rüstung niemals wagen. Sie ist repariert worden, und zwar von Grund aus, leise, heimlich, ohne daß wir Etwas davon bemerkten. Wenn Ihnen das, was ich sagte, als Rätsel erscheint, so bitte ich Sie: Glauben Sie an dieses Rätsel; es liegt in ihm die Wahrheit! Das, was Sie Geist und was Sie Seele nennen, besitzt mehr Macht über unsern Körper, als Sie denken. Mr. Waller bleibt am Leben und wird auch geistig stärker und gesünder, als er früher je gewesen ist! Und nun gehe ich und lasse Sie Beide allein!«

Ich wollte mich entfernen; sie hielten mich aber fest und drangen auf Beantwortung ihrer Frage.

»Na, so sei es denn; einmal kommt es doch an den Tag!« gab ich schließlich zu. »Damals, als wir uns zum ersten Male sahen, dort oben auf dem Dschebel Mokattam, da sprachen Sie mit Ihrem Vater von mir, und er zeigte sich sehr zornig über Ihren Verkehr mit mir.«

»Zornig?« unterbrach sie mich. »Ueber den Verkehr mit Ihnen? Den gab es ja gar nicht!«

»O doch! Wir verkehrten nicht persönlich, sondern seelisch miteinander, als Verfasser und als Leserin. Er aber war dagegen, und darum habe ich bis heut mit John Raffleys und seines Onkels Unterstützung meine Pseudonymität beibehalten. Nun aber mögen Sie erfahren, wie Sie so stückweise zu meinem Gedicht ›Tragt Euer Evangelium hinaus‹ gekommen sind.«

»Also doch, doch richtig!« rief Tsi aus. »Dachte es mir!«

»Ja, richtig! Also kommen Sie!«

Ich hängte ihre Arme hüben und drüben bei mir ein und erzählte ihnen, indem wir miteinander fortspazierten, was sie wissen sollten. Ich machte es möglichst kurz, und als ich fertig war, hängte ich sie bei mir aus, dafür aber miteinander zusammen und fügte hinzu:

»So; das war meine Beichte. Ich bitte um Ihre Absolution und mache mich hiermit aus dem Staube!«

Bei den letzten Worten drehte ich mich um und lief davon, obgleich sie, hinter mir herkommend, mir zuriefen, daß ich nun erst recht verpflichtet sei, nicht auszureißen, sondern bei ihnen zu bleiben. – – –

Ueber den Rest dieses Abends habe ich nur noch zu sagen, daß Tsi mich vor dem Schlafengehen in meinem Zimmer aufsuchte, um mir mitzuteilen, daß Mary ihm dasselbe wie mir mitgeteilt habe, und zwar noch viel ausführlicher, und daß er ganz derselben Meinung sei wie ich. Waller liege, seit er vor Abend die Augen geschlossen habe, in einem seltsam tiefen und gesunden Schlafe. Es sei, als habe ein Unsichtbarer seine Hände über ihn ausgebreitet und atme ihn mit dem Odem eines zweiten, vollständig neugeschenkten Lebens an. Er selbst, der Arzt, werfe nun alle Befürchtungen beiseite und erwarte nur noch Gutes.

Wir saßen noch lange bei einander, vertraulicher als je. Er war so froh, von jetzt an mit mir über Alles reden zu können, was ihn im Innern bewegte, und gleich das Thema, welches er für die heutige späte Abendstunde zur Sprache brachte, ließ ahnen, was für später an ähnlichen Gesprächsstoffen noch Alles zu erwarten war. Es lautete: Es gibt keinen Tod. Das Leben kann uns weder gegeben noch genommen werden, denn es ist nicht in uns, sondern wir befinden uns in ihm. Und am allerfestesten hält es uns dann, wenn es das, was an uns zerstörbar ist, fallen läßt, den Leib!

Am andern Morgen, als wir den Tee in gemeinschaftlichem Kreise genommen hatten, brachen wir nach Raffley-Castle auf. Es sollte geritten werden, natürlich erst von der Küste drüben aus. Pferde waren telephonisch bestellt worden. Nur für Waller gab es eine Sänfte, denn die Damen blieben daheim, und Mary als die einzige weibliche Person, ritt tausendmal lieber, als daß sie sich tragen ließ. Die Ueberfahrt nach dem Festlande geschah in geräumigen Booten. Waller hatte die ganze, lange Nacht durchschlafen und wachte auch nicht auf, als er von seinem Lager in die Sänfte, aus dieser in das Boot und dann aus diesem wieder in die Sänfte gebracht werden mußte. Es fiel uns aber gar nicht ein, dies für ein bedenkliches Zeichen zu halten, wir waren ganz im Gegenteile sehr froh, daß es so stand. »Er sammelt«, drückte sich Tsi in sehr bezeichnender Weise aus, und hatte damit das Richtige gesagt.

Als wir die Pferde bekamen, war Niemand froher als mein Sejjid Omar. Er schwang sich sofort auf das für ihn bestimmte, um uns zu zeigen, daß er nichts verlernt habe, doch forderte ich ihn auf, von einem chinesischen Reitpferde keine arabischen Kunststücke zu verlangen. Wir hatten mandschurische Paßgänger von durchweg dunkelbrauner Farbe, welche der Chinese für die vornehmste hält, und durften nicht gestreckten Sitzes, sondern mit kurzen Bügeln und weit heraufgezogenen Knien reiten. Da schüttelte der gute Sejjid den Kopf, behielt aber das, was er dachte, bei sich selbst; er war gern höflich.

Gestern hatte ich Fu und den Governor gebeten, gegen Mary Waller zu schweigen, um ihr nicht den Abend zu verderben und dann wahrscheinlich auch noch die Ruhe der Nacht zu rauben. Jetzt nun war es Zeit, ihr einen Wink über diesen »Robert Waller, genannt Dilke«, zu geben, und ich wartete, sie während des Rittes einmal ganz allein an meine Seite zu bekommen.

Der Morgen war ein ziemlich kühler, der Himmel bedeckt, also das Kreuz des Castle nicht zu sehen. Aber nach einiger Zeit erhob sich ein leises Lüftchen, welches hier unten bei uns nach und nach stärker, in der Höhe aber zum Winde wurde und die Feuchtigkeiten zu Wolken ballte. Da kam Bewegung in die graue Schicht, welche sich von dem Strahl der Sonne nicht durchbrechen lassen wollte.

Wir ritten eben zwischen einigen reich tragenden Kauliangfeldern hindurch, welche von fruchtbaren Obstbäumen eingefaßt waren, als sich die Wolken plötzlich hoch oben über uns teilten. Ein Strahlenkegel, wie aus einem in Himmelsnähe stehenden Leuchtturme kommend, brach durch und fiel hinüber auf die Berge, grad dahin, wo das Ziel unsers Rittes lag. Da flammte es augenblicklich auf, das Kreuz der Christenheit. »In hoc signo vinces – in diesem Zeichen wirst du siegen.« Jawohl, das ist richtig. Aber nicht mit kriegerischen Waffen, durch gewappneten Verrat und Ueberfall, sondern durch das Wort der Liebe und durch die friedliche, versöhnende, ausgleichende Tat des Erlösers, welche er wagte, als er öffentlich sprach: »Die Letzten werden die Ersten und die Ersten die Letzten sein!« Gleichen Raum und gleiches Recht für Jeden, der zur Menschheit gehört auf Erden!

Es war wie auf ein lautes Kommandowort, so einmütig hielten wir unsere Pferde an. Aller Augen waren hinaufgerichtet, von wo es zu uns herniederblitzte in unbeschreiblich brillierendem Demantlichte. Laute Ausrufe des Staunens, der Bewunderung erschollen. Wir hatten gar nicht acht, daß die Träger hinter uns auch angehalten und die Sänfte niedergesetzt hatten. Es war eine offene, denn es regnete ja nicht, und nur da, wo der Kopf lag, war ein schmales Schleiertuch angebracht, hinten niederhängend, nach vorn aber aufgeschlagen. Waller war jetzt aufgewacht, wahrscheinlich weil der sehr schnelle Schritt seiner Träger plötzlich stockte. Ich war der Einzige von uns, der das bemerkte, weil ich zufälligerweise der hinterste Reiter gewesen war und man die Sänfte nun fast gleich neben meinem Pferde hingestellt hatte.

Der Kranke öffnete die Augen. Sein aus der vollständigen Bewußtlosigkeit auftauchender Blick fiel auf das im gegenwärtigen Momente fast überirdisch wirkende Kreuz. Wer war er? Und wo befand er sich? Er schien uns gar nicht zu sehen, keinen Einzigen von uns! Er richtete sich auf, so weit er konnte, streckte die beiden Arme aus und öffnete den Mund, als ob er sprechen wolle. Aber er brachte kein Wort, kein einziges hervor. Nur ein Schrei erklang, ein großer, überlauter Schrei der Freude, der Wonne. Dann fiel er nach hinten zurück, schloß die Augen und faltete die Hände. Ein glückliches Lächeln ging über sein Gesicht. Dieser Schrei machte nun freilich auch die Andern aufmerksam auf ihn. Ich winkte aber, daß man ihn nicht stören möge, und so war die Pause, welche wir dem Erscheinen des Kreuzes gewidmet hatten, vorüber; wir setzten den unterbrochenen Ritt nun wieder fort.

Durch das soeben Geschehene wurde mein Wunsch erfüllt, Mary Waller an meine Seite zu bekommen. Sie wollte wissen, was ihren Vater bewogen hatte, einen Schrei auszustoßen. Ich erklärte ihr im Weiterreiten die kurze, vollständig unbedenkliche Szene und hielt es dann für das Beste, auf alle überflüssigen Einleitungen, Umschweife und so weiter zu verzichten und sie lieber gleich direkt zu fragen, ob ihr der Name Dilke bekannt sei. Sie antwortete ruhig, aber wehmütig lächelnd:

»Ich danke Ihnen herzlich, daß Sie mich haben schonen wollen! Aber ich bin bereits unterrichtet. Fu liebt die Seinen so herzlich, daß er ihnen Alles anvertraut. Die Damen erfuhren von ihm, was nur einstweilen verschwiegen bleiben sollte, und da sie über die Seelenkraft der Frau ganz anderer Ansicht sind als meine männlichen Freunde, so teilten sie mir Alles mit und beschrieben mir hierauf die hiesigen Verhältnisse in so eingehender Weise, daß ich über den Schaden, den dieser Mann hier anzurichten strebt, vollständig beruhigt bin.«

»Das ist mir lieb, außerordentlich lieb, Miß Mary. Lassen wir diesen Gegenstand also fallen!«

»O nein! Das beabsichtige ich nicht! Und grad Ihnen gegenüber am allerwenigsten. Ich muß Ihnen sagen, welch ein dunkler Punkt dieser ›Robert Waller, genannt Dilke‹ für uns gewesen ist. Er war der Sohn von meines Vaters Bruder, der ihn zur größten Frömmigkeit erzog, zum Missionar, denn dieser Beruf ist in der Familie traditionell. Seine Mutter, meine Tante, war eine geborene Dilke und – – –«

»Und darum läßt er sich jetzt mit diesem Namen nennen,« unterbrach ich sie. »Sehen Sie: Die Wolke geht. Und darum erscheint nun das Kreuz von Neuem. Bitte, heben wir uns diesen Dilke, falls wir überhaupt gezwungen sind, über ihn zu sprechen, für später auf. Heut ist ein gar so schöner Vormittag. Der soll uns nicht durch ihn verdorben werden. Wollen wir einmal einen schnellern Gang versuchen?«

»Gern. Aber die Sänfte?«

»Die holt uns ein, sobald wir auf sie warten.«

»Tsi mag bei ihr bleiben. Ich bitte ihn darum.«

Der Genannte war sehr gern bereit, ihr diesen Wunsch zu erfüllen, und dann gab es einen Galopp, an den sich alle Andern schlossen. Das regte die Pferde an und ebenso die Reiter. Wir fielen gar nicht wieder in den gewöhnlichen Schritt zurück und hielten auch nicht eher an, als bis wir den Ort erreichten, an welchem das zweite Frühstück auf uns wartete. Fu hatte es bestellt.

Das war ein Erfrischungshaus, im schattigen Walde, an der Stelle, wo die Straßen nach Shen-Fu und nach Raffley-Castle auseinander gingen. Wir stiegen ab und setzten uns unter Bäumen nieder, wo, um mich europäisch auszudrücken, für uns gedeckt worden war. Die Frau des Besitzers hatte den Platz mit Blumen geradezu überschmückt. Die Chinesin ist eine außerordentliche Blumenfreundin. Sie wird ihre Toilette ohne Blumen nie für vollständig halten und jeden »lieben« oder »geehrten« Gast mit »Kindern des Duftes« begrüßen.

Es kann nicht meine Absicht sein, über die Gegend, in der wir uns befanden, hier topographische Bemerkungen zu machen. Es sind ganz andere Fragen zu beantworten, die im Stillen an mich gerichtet werden, und keine der letzten wird diejenige sein, welche sich auf Waller bezieht. Er, der uns zum Schmerzenskind geworden war, bereitete uns jetzt ganz unerwartet eine Freude, die ich nur mit dem Worte unaussprechlich zu bezeichnen vermag.

Nämlich zur Zeit, als wir annehmen durften, daß die Sänftenträger uns einholen würden, kam Tsi allein geritten, ihnen voraus, und rief uns, noch ehe er vom Pferde stieg, strahlenden Angesichtes zu:

»Ich habe Euch vorzubereiten, damit Ihr keine Aufregung zeigt. Freut Euch von ganzem Herzen, aber seid ruhig dabei, nur ruhig! Dankt es dem neuen Taucher: Mr. Waller ist erwacht, vollständig erwacht, unterwegs; darum bemerkte ich es nicht gleich. Dann eilte ich voran. Da kommt er schon!«

Es waren vier Kulis, die ihn trugen, je zwei und zwei zum Abwechseln. Wie staunten wir, als wir sahen, daß er aufrecht saß, nicht etwa zusammengehockt, sondern kräftig und gerade, wie ein Mann, der nichts von langer, abzehrender Krankheit weiß. Er sah uns mit hellen Augen an, musternd, wer wir seien. Als er seine Tochter erblickte, winkte er ihr fröhlich zu und rief, allerdings mit nicht gar starker Stimme:

»Mary, da bin ich! Hilf mir aus der Sänfte! Aber erst anhalten lassen! Ich möchte gern dort im Grase sitzen – – – dort, bei den Blumen!«

Sie nahm alle Kraft zusammen, um das Schluchzen zu unterdrücken, welches mit Gewalt hervorbrechen wollte, und eilte zu ihm hin. Ganz selbstverständlich traten auch wir Andern alle zur Sänfte. Mary kniete bei ihm nieder und griff nach seinen Händen.

»Mein Kind, mein liebes, gutes Kind – – –!« sagte er. »Die Mutter grüßt – – – nur weiß ich nicht, wo ich sie getroffen habe – – –!« Dann schaute er zu uns Uebrigen auf. »Mr. Fu!« lächelte er mit freundlichem Kopfnicken. »Von Kairo und den Pyramiden her – – –! Habe auch Mr. Tsi bereits gesehen. Da ist er ja – – –! Hm! Wo habe ich mich denn später mit ihm unterhalten? Und ihn gesehen – – –? Sehr oft, sehr oft – – –!« Hierauf fiel sein Blick auf mich. »Auch Ihr, auch Ihr?« fragte er, mich sofort erkennend. »Welch ein Abend – – – bei Euch, am Menahouse – – –! Aber – – aber es war dann wieder – – – anderswo – da gabt Ihr mir zu trinken – – –! Nein, nein, ich will nicht heraus aus der Sänfte! Ich bin wieder müde – – –! Ich lege mich nieder!«

Er tat es und schloß die Augen. Es war eine Offenbarung der neu erwachten »Lebensgeister« gewesen, wie wir das zu nennen pflegen. Der Volksmund ist ja sehr oft Gottes Mund! Diese Lebensgeister aber öffneten ihm die Augen noch einmal. Er schaute suchend nach oben, wo die Wipfel der Bäume nur schmale Stellen des Himmels sehen ließen.

»Das Kreuz,« sagte er – – – »wo ist es? – – – Ich sah es leuchten – – –! Es ist das richtige – – – das falsche ist verschwunden!« Und die Augen wieder schließend, fügte er ebenso laut, aber wie in sich hinein, hinzu: »Das wahre Christentum leuchtet für die fernsten Augen – – – doch in der Nähe verwandelt sich dieser Glanz in das stille, warme Licht der Humanität – – –! Das, das ist dieses Kreuz – – – so, so ist es zu verstehen!« – – –

Weil dieses Erfrischungshaus einen wichtigen Knotenpunkt des hiesigen Verkehrs bildete, mußte der Wirt über sein Verhalten für den morgenden Tag genau unterrichtet werden. Nachdem Fu das getan hatte, brachen wir auf und ritten weiter. Waller war wieder eingeschlafen.

Bis hierher war die Bodenerhebung eine langsame gewesen; nun aber merkten wir deutlicher, daß es aufwärts ging. Der Klingstein begann, von Zeit zu Zeit zu Tage zu treten, und zeigte da überall eine weiße, kaolinähnliche, scharf abgegrenzte Verwitterungsrinde. Zuweilen erschienen an seiner Stelle die neugierig aus der Erde schauenden Säulenspitzen von Basalten und Trachyten, und immer war es ein zierblätteriges oder blühendes Gesträuch, mit dem die blumenliebenden Chinesen diese steinernen Grüße aus der Unterwelt zu schmücken und zu verschönern suchten.

Es gab allüberall fleißige Arbeiter auf den Feldern. Meist war man an den Wassergräben beschäftigt, und ich bemerkte, daß die Bewässerung der ganzen, weiten Gegend in gradezu meisterhafter Art betrieben wurde. Der Verkehr auf unserer Straße war ein sehr reger. Jedermann war freundlich, das Grüßen nicht gewohnheitsmäßig, sondern herzlich, aber dabei vollständig ehrerbietig. Keinen Einzigen sah ich hinter uns dann stehen bleiben, um uns nachzustarren; man war eben intelligent!

Je mehr wir uns den Bergen näherten, desto mehr verschwand der Glanz des uns nun nicht mehr unsichtbar werdenden Kreuzes. Es hörte auf, zu leuchten, zu brillieren; ich möchte sagen, daß es nur noch schimmerte. Wir begannen, zu bemerken, daß es Zwischenräume in den beiden sich kreuzenden Balken gab. Diese Zwischenräume wurden immer deutlicher; sie fingen an, mit den hellen Stellen zu kontrastieren. Kurz, was uns von Weitem als etwas Ueberirdisches erschienen war, das stellte sich, je näher wir ihm kamen, einem Jeden von uns als etwas Irdisches dar, aber freilich, freilich nicht als etwas Gewöhnliches, Alltägliches. Wir konnten endlich schon die einzelnen Gebäude unterscheiden.

Der Blick unsers alten, lieben »uncle« hing fast unausgesetzt an dem hellen, carrarischen Weiß, welches aus dem Grün der Vegetation heraus so wohltätig auf uns wirkte.

»Erst blendete es mich fast,« sagte er. »Nun aber ist es so lind und wirkt so gut auf meine Augen. Mr. Waller hatte Recht. Versteht Ihr mich?«

»Ja.«

»Nun, was meine ich?«

»Das stille, warme Licht der Humanität, von dem er sprach.«

»Ja, allerdings. Wir Christen bemühen uns allzuviel, in die Ferne zu glänzen; wie aber steht es mit unserm helfenden, rettenden Licht daheim, in der Nähe? Hier, da an diesem Berge, hat sich das flammende Kreuz nun aufgelöst in die Zeichen der leiblichen, geistigen und ethischen Werktätigkeit des menschlichen Lebens. Wir sehen es ganz deutlich, wie diese Tätigkeit von den unten liegenden Wirtschaftsgebäuden emporsteigt, bis zur Höhe, wo die Kapelle den marmorernsten Fleiß mit Gottes Segen krönt. Und quer, mit diesem Fleiß sich kreuzend, sieht man die Menschenliebe Häuser bauen, die wir erst kennen lernen müssen, bevor wir sagen dürfen, daß wir daheim im Abendlande humaner sind als Alle, die im Morgenlande wohnen! – – Was ist's, Charley? Warum schaut Ihr mich so an? So verwundert?«

»Was ist das plötzlich von Euch für eine Sprache, Sir? Woher kommt Euch diese Ausdrucksweise für so ganz ungewöhnliche Gedanken?« fragte ich.

»Das wißt Ihr nicht? Das kommt davon, daß ich jetzt mit Chinesen verkehre; darauf könnt Ihr Euch verlassen. Und angefangen hat es, als ich Euren Sejjid Omar kennen lernte. Charley, heut früh, als Ihr Euer Zimmer noch nicht verlassen hattet, wollte ich einen Morgenspaziergang machen und traf auf Tsi, der mich mit zu sich nahm, um mir Verschiedenes zu zeigen. Da gab es unter Anderem auch ein zweibändiges Werk über China, von einem Europäer geschrieben, der ein Zeitungsgründer ist und Inhaber mehrer Orden. Was schreibt dieser Mann über die Chinesen? Daß sie Menschenfresser seien! Die größten Leckerbissen der Chinesen seien das Herz und die Leber eines Menschen, dem man sie lebendig aus dem Leibe schneide! Dabei behauptet ganz derselbe Verfasser, daß die Chinesen einen ganz besonderen und stark eingefleischten Abscheu vor dem Sezieren einer Leiche haben, ja, nicht einmal zugeben, daß man bei Krankheiten oder Unglücksfällen das eine oder andere Glied amputiert, weil man dadurch gegen die Vorschriften ihrer Religion verstoße! Und nämlich: Dieses Werk soll die Frucht von zwanzigjährigen, ›vertieften‹ Studien sein! Ich sage Euch: Selbst wenn ich noch der alte Feind der gelben Rasse gewesen wäre, das, was ich da gelesen habe, hätte mich kuriert, auf der Stelle kuriert! Denn es zeigt, wie leichtsinnig und gewissenlos der Kaukasier über die Andersgefärbten urteilt, und für wie dumm wir Christen von unsern lieben Brüdern gehalten werden, daß sie sich ganz unbesorgt den ethnologischen Jux gestatten können, unsere geographische Wissenschaft mit chinesischen Kannibalen zu bevölkern! Und das wird gedruckt! Bei uns in England sogar! In Deutschland höchst wahrscheinlich auch! – – – Werfen wir das weg, und nehmen wir etwas Anderes! Was sind das für riesenhafte Bäume, die man jetzt zerstreut hier stehen sieht? Die müssen doch über tausendjährig sein!«

»Das sind Gingkobäume, die allerdings uralt werden. Man ißt den Kern ihrer Nüsse?«

»Und wofür haltet Ihr die andern Giganten, aus denen dort der ganze Wald besteht?«

»Für chinesische Spießtannen, die ganz außerordentlich nutzbar sind. Die passen hierher auf diesen Boden: Steinerne Pfeiler, von der Urgewalt aus dem Innern der Erde emporgetrieben, und auf ihnen diese kraftstrotzenden, reckenhaften Bäume, uralt, wie die Ahnen Derer, die heut unter ihnen wandeln! Schaut man zu ihnen auf, so hat man das Gefühl, als wachse man selbst auch, im tiefen Innern nämlich. Was aus diesem, dem menschlichen Innern, emporgetrieben wird, hat in der Höhe ebenso auch gewaltige Organismen zu tragen, in deren Schatten die Gedanken der kleineren Geschöpfe Jahrtausende lang zu wandeln haben werden. Wer werden diese Titanen sein? Ob Menschen? Oder ob Geister?«

Er war still, ich auch. Wer kann solche Fragen beantworten? Wir Menschen jedenfalls nicht! Oder doch? Dann jedenfalls nicht heut, sondern später, nach Jahrhunderten, Jahrtausenden! Oder doch schon jetzt – – – – –? Wenn wir wollen – – – und wenn wir glauben!

Bald sahen wir, daß ein Reiter uns entgegenkam. John Raffley war es. Das Gebiet, auf dem wir uns jetzt nun befanden, war sein besonderes, und darum stellte er sich ein, um uns hier zu begrüßen. Er wußte bereits Alles, was wir gestern über die Fan-Fan erfahren hatten, denn Fu hatte es ihm telephonisch mitgeteilt und ihm auch gesagt, in welcher Weise dagegen aufzutreten sei. Es war ihm also wohl bekannt, daß der »große Tag der Shen« nicht morgen, sondern erst später gefeiert werde, aber er hatte trotzdem alle Vorbereitungen für morgen treffen lassen. Darum sahen überall, wohin wir kamen, die mit Fahnen, Flaggen, Wimpeln, Girlanden, Kränzen und Blumen geschmückten Häuser, Gärten und Wege festlich aus.

Raffley-Castle bestand aus einem fast vollständig neu angelegten, großen Dorfe und dem eigentlichen Schlosse. Die Wirtschaftsgebäude des Letzteren lagen unten am Fuße des Berges. Sie wurden isoliert durch einen Halbring von Gärten, auf welchen dann die Häuser des Ortes folgten. Außerhalb dieser lagen zunächst die Felder, dann saftig grüne, wohlbewässerte Wiesen, und endlich kam der hohe, feierlich stille Spießtannenwald, den der Governor erwähnt hatte. Durch diesen Wald ritten wir jetzt. Als uns der Weg aus ihm herausgeführt hatte, ließ unser alter Governor einen lauten Ruf der freudigsten Ueberraschung hören.

»Raffley-Castle! Ganz genau mein liebes, liebes, einzig schönes Raffley-Castle!« jubelte er. »Und zwar nicht nur so schön, sondern noch viel, viel schöner! Wie eine schottische Schloßfrau, die sich ganz unerwartet in eine morgenländische Fee verwandelt hat! Nicht grau, wie daheim, sondern weiß, blütenweiß, oder wie frisch gefallener Schnee! Keine Ecke fehlt, kein Erker und kein Türmchen. Alle Türen sind da, alle Fenster, alle Schornsteine und sogar auch alle Wetterfahnen! John, John, komm her; ich muß dich küssen!«

Er drängte sein Pferd an dasjenige seines Neffen, zog diesen zu sich herüber und gab ihm etwas, was für die zartere Bezeichnung »Kuß« eigentlich wohl ein wenig zu kräftig klang. Auch John schien dieser meiner Ansicht zu sein, denn er gab ihm ganz denselben »kiss« sofort, auf der Stelle, wieder. Uebrigens, der »uncle« hatte Recht; der Anblick dieses in Marmor so treu wiedergegebenen Castle war einzig in seiner Art, weil die übrigen Gebäude alle einen ganz andern, fast möchte ich sagen, ihm widersprechenden Stil besaßen. Bei ihnen war zwischen dem Unter- und dem eigentlichen Bau das chinesische Verhältnis beibehalten, aber die Dächer besaßen nicht die gewöhnliche, drückende Schwere; sie beschützten zwar, aber sie erlaubten sich nicht, zu belasten.

Nun ging es zwischen den Wiesen und den Feldern hinüber in das Dorf. Die Bewohner desselben wußten von unserem Kommen; aber es gab nicht jenes Herandrängen, sich Hinstellen, Gaffen und Starren, welches so ungemein belästigt. Man grüßte uns, als ob man uns schon kenne, und sah und lief nicht hinter uns her, wie hinter blauen Wundern.

Wie reinlich, wie sauber das Alles war! Die Häuser wie die Menschen! Auf den Wegen gab es keine Spur von Schmutz, nicht einmal Staub, denn überall floß Wasser, ihn zu löschen. Die Straße war makadamisiert und außerordentlich wohlgepflegt. Sie leitete aus dem Dorfe nach den herrschaftlichen Meiereigebäuden und dann in bequemen Serpentinen bis zur höchsten Höhe empor. Jede neue dieser Windungen gab eine andere Aussicht und ein schöneres Bild. So ritten wir nach oben, immer an hellweißen Gebäuden vorüber, welche von Weitem den Stamm des Kreuzes bildeten, bis wir das eigentliche Schloß erreichten, zu dessen Tor eine kühn geschwungene Brücke über die tief ausgewaschene Schlucht eines fallenden Wassers führte.

»Das geht zum ersten Hof; der ist für die Knappen und für die Pferde,« sagte der Governor. »Dann folgt der zweite Hof. Der war für die Turniere. Und gegenüber der breiten Treppe steht, achteckig eingerahmt, der große Wasserbrunnen.«

Er sprang vom Pferd, übergab es einem der herbeieilenden Diener und ging mit raschen Schritten über diesen vorderen Hof hinweg. Wir Andern taten so, wie er, und folgten ihm, als er hinter dem zweiten Tor verschwand. Als ich dieses erreichte, sah ich ihn an dem Brunnen stehen.

»Es ist wunderbar, Charley, geradezu wunderbar,« rief er mir zu. »Er ist da; er ist da; mit allen seinen acht Ecken! Und wenn ich da die Treppe hinaufgehe, so komme ich direkt zu – – –«

»Direkt zu mir, zu mir, mein lieber Onkel!« klang eine weibliche Stimme von oben herab, wo über der Treppentür ein steinerner Balkon mit durchbrochener Brüstung ragte. Da stand Yin, weiß, eine Rose im Haar und einen kleinen Veilchenstrauß an der Brust, genau so, wie sie drüben in Ocama auf sein Zimmer gekommen war.

»Yin – – –! Liebling – – –! Engel – – –! Abgott – – –! Es stimmt, denn ich wollte sagen, daß ich da direkt zur Herrin, zur Gebieterin des Schlosses komme, und – – – paß auf! Das wird sofort geschehen, sofort!«

Er sprang vom Brunnen hinweg und eilte die Treppe hinauf. Ich sah ihn erst beim Mittagessen wieder.

Was mich betrifft, so erhielt ich ein Wohnzimmer und ein Schlafgemach, von denen aus ich eine weite, weite Aussicht nach Westen, nach Süden und auch bis hinüber nach dem Meere hatte. Mein Sejjid Omar wohnte neben mir. Wir hatten uns auf einen längern Aufenthalt hier einzurichten und bekamen darum von der Jacht aus unsere Koffer nachgeschickt.

Das soeben erwähnte Mittagessen fand ohne die Schloßherrin statt. Sie wurde von John damit entschuldigt, daß sie von einer Arbeit festgehalten werde, welche ganz unbedingt sofort noch zu vollenden sei. Was für eine Arbeit er meinte, das sahen wir nach Tische, als er uns in Castle herumführte, um uns die Räume desselben zu zeigen. Wir waren dabei alle beteiligt, außer Waller, welcher bei unserer Ankunft für einige Minuten aufgewacht und dann aber wieder eingeschlafen war. Doch, wenn ich sage, daß John Raffley uns geführt habe, so ist das eigentlich nicht ganz richtig, denn der, welcher voranging, um alle Türen zu öffnen und uns, bevor er dies tat, stets sagte, was für einen Raum wir nun zu sehen bekommen würden, das war nicht der Neffe, sondern sein Onkel, der Governor. Es machte diesem nämlich ein herzliches Vergnügen, uns zu beweisen, daß das hiesige Schloß, wenigstens betreffs der Räume und ihrer Bestimmung, dem heimatlichen vollständig gleiche. Wenn er uns sagte, was nun für eine Stube kommen werde, und es stimmte, so war er stolz, es schon vorher gewußt zu haben. So auch, als er sich bemühte, eine hohe, dunkle Tür zu öffnen, in deren Schloß ein altertümlicher, pistolengroßer Hohlschlüssel steckte.

»Das ist der Hauptraum unsers ganzen Schlosses,« sagte er, das »unser« für ganz selbstverständlich haltend, »nämlich der Ahnensaal. Daheim ist er schon so voller Bilder, daß man ihn nun wird vergrößern müssen; hier aber bin ich selbst im höchsten Grade neugierig, was man an die Wände gehangen haben wird. Wir befinden uns zwar im klassischen Lande des Ahnenkultus, aber man kann in China doch unmöglich wissen, wie so ein alter, längst verstorbener Englishman, ein echter, toter Raffley auszusehen hat!«

»Oh!« widersprach sein Neffe. Da klirrte das Schloß, und die Tür ging auf. Da hingen sie, alle, alle, genau dieselben und auch genau so groß wie drüben in der Heimat, freilich nicht in Oel und Farbe, sondern nur in schwarzer Kreide, die Lichter weiß gegeben. Und auf dem langen Mitteltisch lagen die Blitzphotographien, welche John aus England mitgebracht hatte, um seine Ahnen von chinesischen Künstlern nach ihnen zeichnen zu lassen. Die Maler des »Reiches der Mitte« sind bekanntlich grad in Beziehung auf die Genauigkeit des Kopierens unvergleichlich.

Der Governor war zunächst ganz still vor Erstaunen. Er ging von Bild zu Bild und sagte nichts, schüttelte nur immer den Kopf. Aber als er an den Letzten kam, ganz hinten, oder auch ganz vorn, wie man es nehmen wollte, da ließ er einen lauten Ruf der Ueberraschung hören, so daß wir hingingen, wo er eben stand. Es war sein eigenes, und zwar sehr wohlgetroffenes Bild! Eine schmale, hohe Leiter, deren Sprossen gepolstert waren, lehnte in der Nähe. Indem der »uncle« auf diese Leiter deutete, sagte er:

»Ich begreife! Dieses mein Porträt war fertig bis auf das Gesicht. Man mußte da warten, bis ich kam und Yin mich sah. Ich merkte es ihr an, als ich zum ersten Male mit ihr sprach. Sie studierte mein Gesicht, jeden einzelnen Zug besonders. Ich erinnerte mich hieran erst dann, als ich hörte, daß sie male. Dann bist du mit ihr sofort hierher geritten, daß sie das Porträt vollende. Als wir vorhin aßen, war sie noch nicht ganz fertig. Darum fehlte sie. Habe ich Recht, lieber John?«

»Nein, lieber Onkel – – und doch auch ja!« antwortete der Gefragte. »Dieses dein Konterfei ist schon längst fertig, auch nach einer Photographie gemacht. Aber ein anderes war zu vollenden, ganz ebenso nach einem Photo von dir angelegt, und zwar von der eigenen Hand des von dir so gefürchteten ›Gespenstes‹, dem du nicht einmal – – –«

»Schweig, schweig!« unterbrach ihn der Alte, über das ganze Gesicht hin errötend. »Blamiere mich nicht! Ich bitte ihr das noch ganz besonders ab.«

»Tue es! Du hast ihr nur dieses eine Gespenst abzubitten – – dich; ich aber leider alle, alle, die hier hängen. Und sie verzeiht sie mir, diese Schatten, diese Schemen in schwarzer Kreide, von denen keiner, keiner Etwas von ihr wissen wollte. Sie, die immer Gute, die herrlichste Tochter unserer großen ›Shen‹, hat sogar noch mehr getan. Schau sie doch an, diese einst Fleisch gewesenen, irdischen Phantome! Da hängen sie im Tode. Sind sie denn wirklich das gewesen, was du hier abgebildet siehst? Dann gib dir Mühe, stolz auf sie zu sein; ich aber, ich verzichte! Das sind die Larven, welche wir daheim verehren, die Masken, die wir uns vormachen lassen, weil wir zu dumm, zu albern sind, sie zu durchschauen und die Wahrheit zu entdecken. Auch ich war so ein Tropf, der an Skelette, an Gerippe glaubte, bis Yin in diese Leichenkammer trat und meine Hand ergriff, um mir zu zeigen, daß die Toten leben. Sie mag auch dir es zeigen. Oeffne!«

»Oeffnen? Wen, was?«

»Dich selbst!«

»Mich? Mich selbst?«

»Natürlich! Wer seine eigene Larve durchschauen und dann sich selbst kennen lernen will, der muß zu erfahren suchen, was hinter ihr steckt.«

Er deutete nach dem Bild. Der Richtung seiner Hand folgend, bemerkten wir am Rahmen eine Klinke und auf der andern Seite zwei Angeln. Das Bild war eine Tür. Da öffnete der Governor. Ein Fülle von Licht flutete zu uns in den düsteren Raum herein. Er trat hinaus. Wir folgten ihm. Was sahen wir da? Wo befanden wir uns?

In ganz genau demselben Saale, mit ganz genau denselben Bildern. Kein einziges fehlte. Aber die Zwischenräume waren nicht Wand, sondern Fensterscheiben, durch welche der Glanz des lichten Tages trat. Auch diese Bilder waren von schwarzer Kreide, doch hatten sie keine Gesichter, sondern nur Köpfe – – Totenköpfe. Auch den langen Mitteltisch sahen wir, doch nicht mit den Blitzphotographien, sondern es lag das uralte, berühmte Ming-Tsching Buch des Lebens. darauf, aufgeschlagen, und in großer, weithin sichtbarer Schrift war da zu lesen: »Sie legen die Kleider ab, dann kommen sie!« Und an diesem Tische saß Ki, der Himmlische, der die Kraft des niemals endenden Lebens bedeutet, und winkte nach der Tür, die in der vordern Ecke hinunter nach der Gruft der Familie führte. Da stand John Raffley, um diesem Winke zu gehorchen; er öffnete sie. Und nun strömten sie hervor, dem Lichte entgegen, sie alle, die ihre Kleider, die Leiber, da unten abgelegt hatten. Teils jubelnd, jauchzend, teils still, wortlos vor lauter Seligkeit; Einige aber auch zagend, zögernd, als ob sie dieser Auferstehung, an die sie nie geglaubt hatten, ganz unmöglich sogleich vollen Glauben schenken könnten. Sie quollen aus der Gruft und aus der Treppenöffnung heraus und eilten durch den Saal, mit dankenden Gebärden an Ki, dem Himmlischen, vorüber, um durch die offene Tür zu verschwinden, die auf der andern Seite hinaus in den Garten und dann in das Leben führte.

Welch eine unbeschreiblich packende, beinahe überwältigende Szene! Welche Freude, welches Entzücken, welche Wonne in jedem Zug der Gesichter! Und sonderbar: das waren nicht mehr Gesichtszüge von sterblichen Personen; das waren nicht mehr die scharfen Linien und die festgezeichneten Konturen, welche die Körperlichkeit mit sich bringt; und doch besaß jeder und jede dieser Verwandelten die größte Aehnlichkeit mit dem korrespondierenden Bilde im ersten Ahnensaale! Es gab unter ihnen nur einen Einzigen, der nicht hinaus nach der Freiheit strebte, denn er hatte ja die Gruft noch gar nicht kennen gelernt. Er gehörte als ein Raffley zwar zu ihnen, aber er war noch nicht »gestorben« gewesen; er zählte noch zu den »Lebenden«. Er stand von fern und schaute zu, mit ehrerbietigem Staunen, mit seliger Verwunderung. Ihm war, als ob er träume. Aber wohin sah er? Auf die jubelnden Seelen seiner Ahnen oder auf Ki, der die Kraft des Lebens ist? Man konnte das nicht sagen, denn in seinen weit geöffneten Augen fehlten noch die hellen Punkte, durch welche der Blick die Beseelung und Richtung erhält, und Yin, die Meisterin, hob soeben, als wir eintraten, die Hand mit dem Pinsel, um ihnen dieses Licht zu verleihen. Also das war die Arbeit, wegen deren Vollendung sie abgehalten gewesen war, bei Tafel zu erscheinen!

Wäre ich ein Künstler, so würde ich jetzt meine Feder so recht voll von Tinte nehmen, um dieses unvergleichliche Kunstwerk unserer Yin mit den besten Ausdrücken der Begeisterung zu beschreiben und so dann die Künstlerin auch selbst dazu. Denn ich fühle es sehr deutlich, daß ich sogar die Pflicht habe, die schöne Herrin von Raffley-Castle bis auf das kleinste Kräuselhärchen im Nacken genau zu schildern. Aber ich bin leider kein Künstler und habe also zu schweigen. Zu meiner Rechtfertigung möge dienen: Ich besitze nicht einmal den nötigen Verstand, den Begriff »Kunst« definieren zu können, und bin auch weder so weise noch so klug, mir zu sagen: Ja, das ist ja eben die Kunst, daß man nichts von der Kunst versteht!

Aber Eines will ich doch sagen: Wir waren alle still. Niemand sprach. Kein Einziger fand einen hörbaren Ausdruck für das, was er empfand. Wie von derselben Kraft ergriffen, welche diese Seelen aus der Gruft emporzog und durch den Saal der Totenköpfe schnell hinaus in das helle Leben leitete, so ging ich von Figur zu Figur, bis hin zur klarsten Seele an der Tür und dann noch weiter, in den Garten, bis an den äußersten Rand desselben, wo eine starke Mauerbrüstung vor dem Sturz in große Tiefe schützte. Da stehe ich – – ich, ich, der arme Teufel, im hohen Marmorschlosse, bei Leuten, die ihre Ahnen alle aufgeschrieben hatten und ihre Millionen nach Hunderten zählen konnten. Dazu die höchsten Gottesgaben, die es auf Erden gibt: Talent und gar Genie! Und vor mir dieses schöne Land, welches ich überblicken kann auf viele Meilen hin! Von diesem Schlosse aus geht Segen drüber hin, gespendet von so reichen, reichen Händen. Wer bin dagegen ich, und was? Das kleine Deutschland gegen Großbritannien, wie der Governor wahrscheinlich sagen würde!

Da hörte ich leichte Schritte, welche sich mir näherten, und drehte mich um. Da stand sie vor mir, Yin! Sie schaute mich an und sagte nichts dazu. Ich habe niemals wieder solchen Blick gesehen. Er tat mir weh. Als ob ich ihr so viel, viel zu verzeihen hätte! Ich nahm ihre beiden kleinen Hände, hüben eine, drüben eine, und lächelte ihr ermunternd zu, Sagen konnte ich nichts.

»Darf ich – – –?« klang es leise aus ihrem Munde.

»Yin darf nie; sie soll!« antwortete ich.

»Haben wir denn wirklich gleiches Recht, wie John mir immer sagt? Wir armen, gelben Menschen?«

Da kam es wie eine Wut über mich. Dieses wunderbare, gottbegnadete Wesen! Und so verschüchtert durch den Stolz auf ein helleres Menschenfell! Ich bezwang mich aber und sagte in ruhigem Tone:

»Wo steht geschrieben, welche Farbe der Mensch im Paradiese hatte?«

»Ich weiß es,« behauptete sie. Sie sprach englisch.

»Wirklich?« fragte ich.

»Ja. John hat mir viel von Euch erzählt, Sir. Er hat nie Jemand so lieb gehabt. Darum kam ich jetzt hierher, um Euch zu zeigen, wie gerne ich Euch habe. Ihr erwähnt das Paradies, und ich habe es gezeichnet. Ich wünschte, daß Ihr es sehen solltet, ohne daß Euch Andere dabei stören. Die Andern sind noch drin im Ahnensaale, von dem sie sich wohl nicht gleich trennen werden. Darf ich Euch führen, Sir?«

Ich folgte dieser ihrer Aufforderung natürlich nur zu gern. Es gab eine zwar schmale, aber bequeme Stufenreihe, welche, nur für die Herrschaft selbst, von hier, dem Garten aus, nach oben führte. Die stiegen wir empor, zu dem etwas höher liegenden Gebäude, in welchem sich befand, was ich jetzt sehen sollte. Vor demselben saß auf einer zwischen zwei prächtigen Rosenpappeln stehenden Bank ein alter Herr, der, als er uns erblickte, höflich aufstand und sich verbeugte. Ich hatte Mühe, meine Ueberraschung zu verbergen, unsern malajischen Priester aus dem Kratong von Kota Radscha zu sehen. Die chinesische Kleidung, die er trug, glich der malajischen. Sein Haar war ebenso weiß und ebenso lang. Die Gestalt und ihre Haltung war dieselbe; das Gesicht widerstritt dem nicht, und als Yin mit ihm zu sprechen begann und er ihr antwortete, bewahrheitete sich die alte Regel: Wenn sich zwei Menschen ähnlich sehen, sind auch ihre Stimmen einander ähnlich. Kurz, dieser Mann war mir eine Ueberraschung, und zwar eine angenehme, und als ich ihm vorgestellt wurde und also erfuhr, daß er der Pfarrer Heartman sei, da hatte ich ihn schon gleich ganz herzlich lieb.

Ich war ihm nur persönlich unbekannt, sonst aber nicht, denn er wußte alles, was ich zusammen mit John erlebt hatte. Als er hörte, daß ich das Paradies sehen solle, aber ungestört, trat er bescheiden zur Seite, um uns die Tür freizugeben, sagte aber, daß er mich dann gern weiterführen möchte, bis hinauf zur Kapelle; ob ich damit einverstanden sei. Ich nahm das selbstverständlich an, und Yin bat ihn, wenn er mich sodann auch allein lassen wolle, doch mit hinein zu gehen, um mir die Sage vom verlorenen Paradiese zu erzählen. Er öffnete also die Tür und trat mit uns in das Innere.

Nun befand ich mich in einem langen, viereckigen Gebäude, dessen Decke ein Glasdach war. Die Längsseiten waren gleich lang, die Schmalseiten aber nicht. Da, wo wir hereingekommen waren, also vorn, war der Saal bedeutend breiter als hinten. Hierdurch wurde schon an sich eine ganz natürliche Perspektive gegeben, also Etwas, was wir Europäer den mongolischen Künstlern einfach abzusprechen pflegen. An der vorderen und der hinteren Wand waren Gruppen schöner Pflanzen angebracht, so was man mit dem Worte Orangerie zu bezeichnen pflegt. Diese Gewächse waren vorn sehr hohe, darunter Bambusschößlinge, die bis zur Decke reichten. Hinten waren sie bedeutend niedriger, gingen aber auch bis an das Dach, weil dieses sich von vorn nach hinten senkte. Dadurch wurde die optische Täuschung erregt, als ob das Auge in eine viel, viel größere Entfernung schaue, als in Wirklichkeit vorhanden war. Die langen Seiten zeigten zunächst nichts; sie waren mit dünnseidenen, aber undurchsichtigen Vorhängen bedeckt.

Als wir eingetreten waren, ging Yin sofort nach hinten und verschwand hinter den Pflanzen. Dort stand ein Instrument, halb »Si« und halb »Yangtschin«, von der Größe einer Harfe und auch ganz ähnlicher Klangfarbe. Vorn gab es unter blühendem Gezweig einige Sitze. Pfarrer Heartman winkte mir, auf einem derselben Platz zu nehmen. Er selbst trat bis fast an die Tür zurück, von wo zwei Drähte in die Höhe und dann nach den Seiten führten. Das war zur Ausschaltung der Gewichte, welche die Vorhänge zu bewegen hatten.

Nun erklang von hinten her ein Akkord, dem einige andre folgten. Yin hatte in die Saiten gegriffen; dann war es wieder still. Und jetzt ertönte hinter mir, aus dichten Pisangs heraus und von ihnen gemildert, die laute, charakteristische Stimme des Geistlichen:

»Im Lande Ti gibt es eine heilige Sage, die von dem Himmel stammt.« Sie ist viel tausend Jahre alt und lautet folgendermaßen: Als Gott, der Herr, zur Erde hinuntergestiegen war und das irdische Paradies geschaffen hatte, sprach er zu seiner »Shen«: »Ich schenke dir dies Land der Menschlichkeit mit allen seinen Bewohnern. So lange der Menschengeist sich von dir leiten läßt und nur in der Liebe handelt, wird Friede sein und dies dein Reich nicht von der Erde schwinden. Behüte es!« – – – – – – Und als der Satanas sich aus der Tiefe herbeigeschlichen und die irdische Hölle geschaffen hatte, sprach er zu seiner »Hen« Selbstsucht, Haß.: »Ich schenke dir dies Land der Rücksichtslosigkeit mit allen seinen Teufeln. Du hast dich nicht zu fürchten, auch vor dem Paradies da drüben nicht, denn ohne seine ›Shen‹ ist dieser Menschengeist ja weiter nichts als eben auch ein Teufel. Er wird uns schon noch kommen! Doch wache dann, daß hier in deinem Reich nie Irgendwer von Nächstenliebe rede! Man sagt, daß in zukünftiger Zeit die ›Shen‹ vor Gottes eigenem Tor ermordet werde; dann aber komme er selbst, der Herr, in menschlicher Gestalt zur Erde nieder, um seine ›Shen‹ vom Tode aufzuwecken und Alles, was da lebt, sogar auch meine Teufel, zur Seligkeit ins Paradies zurückzuführen. Die Zeichen seines Nahens sind gegeben, sobald seine Boten hier in meiner Erdenhölle aufzutauchen und von der Nächstenliebe zu lehren und zu predigen wagen. Vernichte Jeden, der das tut, sonst bist du selbst verloren!«

Die Saiten hatten geschwiegen, während er sprach. Nun rauschte eine Folge von Akkorden durch den Saal, um sich in einzelnen Tönen aufzulösen und hier auf wieder still zu sein. Dann fuhr er fort:

»Der Menschengeist ging durch das Paradies und lernte dessen Seligkeiten kennen. Er wuchs dabei empor zur Riesengröße und konnte endlich gar, wenn er am Tore stand, hinüberschauen in das Reich des Bösen. Da sah er heimlich, wie die ›Hen‹ regierte, und das gefiel ihm wohl. Sie war die Königin, die Oberpriesterin der Hölle; was aber war denn er? Sie gab Gesetze für den Staat; sie richtete; sie strafte, wie es ihr wohlgefiel, und fragte vorher nicht einmal den Teufel! Er aber mußte als Beherrscher seines Paradieses eines jeden armen Teufels Diener sein und sich von ›Shen‹ zu jeder Zeit und bei fast Allem, was er tat, belehren lassen. Indem er dieses dachte und voller Sehnsucht nach dem Nachbarreich hinüberschaute, sah ihn die ›Hen‹ und kam herbei, in ihm den Neid und alle Kinder, die es von diesem gibt, im Herzen zu erwecken. Das gefiel ihm wohl. Er kam am nächsten Tage wieder. Am dritten schloß er schon die Pforte auf und ging hinaus zu ihr, um sich von ihr das Glück der Hölle zeigen zu lassen. Von nun an lehrte sie ihn täglich, heimlich, wie man regieren müsse, und er ließ, was sie sagte, im Paradies geschehen und fragte nicht mehr nach der Menschlichkeit. Das sah die ›Shen‹. Sie folgte seinen Spuren und kam zum Tor, grad als es offen stand. Soeben hatte ›Hen‹ ihn bei der Hand ergriffen, um mit ihm fortzugehn. Da stürzte sich die ›Shen‹ hinaus, um ihn zu retten. Doch in demselben Augenblick erschien der Satanas, aus seinem Abgrund tauchend, erhob die Faust und schlug sie, daß sie tot zu Boden sank. ›Sie trat aus Gottes Schutz heraus, vor seine Pforte,‹ sprach er; ›drum konnte sie von mir vernichtet werden, sonst aber nicht. Scharrt sie hier ein!‹ Und sich hierauf zum Menschengeiste wendend, fuhr er fort: ›Du armer Wurm, der sich so erhaben dünkte, daß ihn nicht einmal das Paradies zu halten wußte! Sag mir einmal, wer bist du denn, und was hast du getan, um das, was du von Gott verlangst, von ihm verdient zu haben? Verdienst, Verdienst! Bei diesem Worte lacht die ganze Hölle! Es werde dir gezeigt, was es heißt, sich auch nur einen einzigen Hauch der Gnade zu verdienen! Du lebtest in dem Wahne, dem Himmel und der Hölle gebieten zu können, und hattest nicht einmal gelernt, dich selbst zu beherrschen, dich und deinen Dünkel! Wohlan, du wirst nun unter Teufeln sein, denn meine Hölle und dein Menschenreich, das ist von heute an für dich dasselbe. Als Teufel werden diese Menschen an dir handeln, weil du als Teufel dort im Paradiese handeln wolltest, und tausend Teufel sollen in deinem eigenen Innern wohnen, mit denen du zu kämpfen hast bei Tag und Nacht, unausgesetzt, bis Der vom Himmel kommt, den wir verfluchen und doch ewig segnen! Hast du gelernt, dieser Hölle in dir selbst ein Herr zu sein, so lausche, ob vielleicht in meinem Reiche der Name »Shen« in Heimlichkeit erklingt. Bis dahin aber sei verflucht von allen denen, welche nun mit dir vertrieben werden, weil sie glaubten, dir gehorchen zu müssen!‹ – – – – – Indem er dieses sprach, geschah ein Blitz, hierauf ein Donnerschlag; die Sonne verschwand vom Himmel; die Erde bebte; die Berge stürzten ein; die Tiefe klaffte auf; das Tor der Seligkeit verschwand mit seinen Mauersäulen, und Tausende und Abertausende drängten sich in wahnsinniger Angst vorüber, um sich aus dem verschwindenden Paradiese in die offenstehende Hölle zu retten!«

Nun schwieg der Pfarrer. Es ging ein leises Geräusch zur Decke empor und nach dem Vorhang hin; dann begann dieser, sich zu bewegen, der auf der linken Seite.

Das, was ich sah, war nicht das Paradies, sondern die letztbeschriebene Szene vor dem eingestürzten Tore. Da standen sie, der Menschengeist, der Satan und die »Hen«. Einige niedrige Wesen bemühten sich, die Leiche der »Shen« auf die Seite zu schleppen. Zwischen den Trümmern des Tores stürzten sie hervor, die Unglücklichen, die weder sahen noch hörten, sondern nur den einen Gedanken hatten, sich in Sicherheit zu bringen. Sie quollen in eng zusammengedrängter Masse heraus, mit verzerrten Gesichtern, heulend und schreiend, sich stoßend, drängend und treibend. In ihrer blinden Angst bemerkten sie die drei am dunklen Felsen Stehenden nicht, denen sie den Verlust des Paradieses verdankten. Nur vorwärts, vorwärts strebten sie, obgleich infolge dieser fürchterlichen Panik Viele in den Abgrund stürzten, der auf der andern Seite gähnte. Da gab es Europäer, Amerikaner und Asiaten, weiße, schwarze, rote und gelbe Menschen, Kaukasier, Mongolen, Indianer, Neger und alle Arten von Mischlingen. Sie alle waren im Paradiese gewesen, und sie alle wurden nun aus demselben vertrieben, weil sie nicht der himmlischen »Shen«, sondern dem von der »Hen« verführten Menschengeiste gehorcht hatten. Ihre Scharen füllten die Wege und breiteten sich nach allen Seiten über das öde, wüste Land, weiter, nur immer weiter, bis sie ganz draußen, da, wo die Hinterwand abschloß, in der dort beinahe undurchsichtbar gewordenen Luft verschwanden.

Denn die Atmosphäre war diejenige eines Unwetters, eines Erdbebens, einer ganz unbeschreiblichen Katastrophe. Da, wo ganz vorn, hinter den Bäumen und Sträuchern der Pflanzengruppe, das Paradies zu vermuten gewesen war, schien Alles in hellen, verzehrenden Flammen zu stehen. Die glühende Hitze schleuderte die zersprengten, schieferigen Reste des Gesteines hoch in den Lüften herum. Schwefelgelb, von orangenen Blitzen durchschossen, schlug die Lohe heraus und warf über die Gruppe am Felsen und die verzerrten Gesichter der Fliehenden ein, ich möchte sagen, alle Hoffnung verzehrendes Licht. Dieses Gelb verwandelte sich in immer tiefer werdendes, diabolisches Rot, welches sich schließlich zu einem häßlich schmutzigen Violett verdichtete, in dem weder Mensch noch sonst etwas mehr zu unterscheiden war.

Bis hierher durfte ich mich in der Beschreibung dieses Bildes wagen, weiter aber nicht; die Gründe habe ich bereits angegeben. Auch über die Wirkung will ich nur das Eine sagen, daß es mir unmöglich ist, sie in Worte zu fassen. Ich hatte unter dem gewaltigen Eindruck dieses Meisterwerkes ein innerlich bohrendes, verzehrendes Gefühl, eine Empfindung, als ob ich selbst auch als einer dieser Unglücklichen dazu verdammt worden sei, die Erde nun für die Hölle und die Menschen für Teufel zu halten. Ich war so ergriffen und innerlich so tief gepackt, daß ich erst nach und nach die Akkorde beobachtete, welche, als ob sie hierzu gehörten und von den Bildern unzertrennlich seien, durch den Saal erklangen. Oder hatten grad sie mit dazu beigetragen, das, was ich sah, zu erfassen und zu vertiefen?

Da wurde dieser eine Vorhang wieder vorgezogen, und der andere bewegte sich von seiner Stelle. Gleich der erste Blick zeigte mir, daß ich mich in ganz genau derselben Gegend befand, in späterer, später, viel leicht gar zukünftiger Zeit. Ein herrliches, reines, orientalisch heiliges Sonnenlicht fiel auf das Land des alten Erdenfluches. Kann man an Luft und Licht erkennen, daß heut nicht Werktag, sondern Sonntag sei? Gewiß, wenn der Maler wirklich ein Künstler ist! Es war hier Feiertag, am Tag des Herrn, in Gottes Morgenfrühe! Und durch das Land der Hölle kamen sie gezogen, die jetzt nun wirklich Menschen waren, in allen Rassen, allen Farben und jeder Tracht, die es auf Erden gibt. Erst einzeln, langsam, zagend, mit bangen Fragen im Gesicht. Dann zu zweien, dreien, ferner mehr und immer mehr, einander rufend, winkend, zujubelnd. Hierauf weiter mehr und mehr, in Gruppen, in Haufen, endlich gar in Scharen. Der Horizont ist dunkel von Unzähligen, die zu entfernt sind, als daß sie sehen könnten, was am Tor des Paradieses geschieht. Aber sie hören, und sie glauben, und der Glaube ist der Weg zur Seligkeit.

Und Allen voran, an der Spitze der noch Zagenden, geht er, der Menschengeist. Wie bescheiden – – wie demütig – – wie gering und arm! Ein Bettler – – doch wohl wissend, daß seine Bitte nicht vergeblich sein, daß sein Gebet Erhörung finden werde. Er schaut zwar still und unterwürfig drein, jedoch auch hoffnungsvoll, fast scheint es, zuversichtlich! Denn gar nicht weit von ihm steht Gottes Pforte offen, das Tor des Paradieses, das neu erstanden ist, und hinter sei nen aufgeschlagenen Flügeln erscheinen die Gestalten heiliger Wächter, die er, der Vater, dem einst verlorenen, nun aber zurückkehrenden Sohne entgegensandte, ihm seine Tür zu öffnen.

Und grad vor dieser Tür, und grad in diesem Augenblick geschah, was jene alte Sage schon seit Jahrtausenden der Welt versprochen hatte: Da stand der Satan, und da stand die »Hen«. Sie hielten sich gefaßt und deckten mit ihren Gestalten den schwarzen Felsen und das Grab, in welches damals »Shen«, die Himmlische, verborgen worden war. Was stand da wohl auf ihren Gesichtern geschrieben? Haß und doch Anbetung, das ganze Entsetzen der letzten, höchsten Angst und dennoch aber die Freude, daß endlich, endlich nun Alles vorüber sei, daß Hölle und Teufel auf ewig verschwinden müsse und die Menschheit nun nicht mehr belogen und betrogen werden könne!

Denn es war Einer sogar dem Menschengeiste vorangeschritten, den Weg zur Seligkeit herauf, und hier bei ihnen stehen geblieben. Der Einzig-Eine, dem niemals Jemand widerstehen konnte und widerstehen wird. Er trug das arme, dürftige Gewand der Nazarener, aber auch die vier Nägelmale, von denen kein Teufel hören kann, ohne zu zittern! Als er die beiden stehen sah, hob er gebieterisch die Rechte gegen sie und deutete mit der Linken nach dem Abgrund, der damals so viele Unglückliche verschlungen hatte. »Fort mit Euch von hier!« gebot er ihnen. »Ich bin der Geist; sie aber ist die Seele; gebt Raum für sie: für meine Nächstenliebe!«

Da geschah, wie damals, ein Blitz und hierauf ein Donnerschlag, so daß die Erde bebte. Der Satan flog mit seiner »Hen« dem Abgrund zu und verschwand in dessen Tiefe; der Felsen aber warf die Steine des Grabes aus, und dann trat sie hervor, die Himmlische, zu dem Erlöser hin, nach dessen Geist die Seele ewig strebt. Der schlug den Arm um sie, wendete sich mit ihr zurück zu denen, die da kamen, winkte ihnen, ihm und ihr zu folgen, und schritt sodann dem offenen Tore zu!

Ich saß noch lange, wie festgebannt, unter dem Eindrucke des Ganzen. Dann stand ich auf und ging das Gemälde ab, um die Schönheiten auch im Einzelnen zu genießen. Die Saiten des Si-Yangtschin hörten jetzt auf, zu klingen, und als ich die hintere, schmale Wand erreichte und dort nach Yin suchte, um mich bei ihr zu bedanken, war sie fort. Es führte da eine Tür hinaus, durch welche sie gegangen war. Zwischen den Pflanzen aber stand das Instrument, mit dem sie sich für mich beschäftigt hatte.

Dann ging ich wieder nach vorn. Der Pfarrer war nicht mehr da. Doch als ich hinauskam, saß er auf seiner Bank, um auf mich zu warten. Er ging erst noch einmal hinein, um nun auch den zweiten Vorhang niederzulassen, und dann führte er mich durch das Castle nach der Straße hinaus, auf welcher wir in kurzer Zeit das höchste Gebäude der Besitzung, die Kapelle, erreichten. Unter ihr lag, wie schon einmal erwähnt, das Atelier. Wir gingen vorüber. Das war, wie der Geistliche sagte, ein Heiligtum, in welchem meist nur geistig Hohes geboren wurde. Darum äußerten selbst bevorzugte Personen niemals den Wunsch, es zu betreten. Yins eigene Aufforderung war der einzige Schlüssel, es für Andere zu öffnen.

Als er mir »seine« Kapelle, wie er sie in rührendem Stolze nannte, gezeigt hatte, setzten wir uns unter eine der Riesentannen, von denen sie flankiert wurde, und hielten ein Gespräch, im Verlaufe dessen er mich einen tiefen Blick in sein reiches Herz und in sein armes Leben werfen ließ. Der Arme war erst dann reich geworden, als die Reichen ihn verwarfen. Jetzt aber galt für ihn das Ideal erreicht, welches ihm von dem Berufe, den Pflichten und den Erfolgen eines christlichen Seelsorgers vorgeschwebt hatte. Er sagte hierüber:

»Nun befinde ich mich endlich, endlich, endlich in dem gelobten Lande. Ich bin in Jebus-Salem, der Stadt des Friedens, angekommen und kann hinüberschauen nach Bethlehem, wo er, der Einzig-Eine, den Ihr vorhin im Bilde sahet, genau so für die Armen geboren wurde wie jetzt und hier in dem Lande der verachteten Mongolen. Dort, in Kanaan, wurde sein Erscheinen Jahrhunderte vorher von den Propheten kundgetan; hier aber hat das stille und doch so große Werk der ›Shen‹ ihm alle Herzen vorbereitet. Wer nicht an die Propheten glaubt, wird nimmermehr den Heiland sehen können. Und wer sich gegen die ›Shen‹ vergeht, dem großen Menschheitsbund der Bruderliebe, der wird den ›gelben Mann‹ niemals zum Christen machen. Das versichere ich Euch bei meinem Priesterwort!«

Er stand auf, ging einige Male hin und her und blieb dann stehen, um hinüberzuschauen, wo am dunkeln Rande des Waldes, an den vom Luftzuge bewegten Zweigen, goldene Sonnenfunken spielten. In seinen Augen schimmerte etwas Aehnliches; es glänzte über sein Gesicht, und es verlieh seinem langen, weißen Haar einen rötlich silbernen Hauch.

»Als ich in dieses Land berufen worden war,« fuhr er fort, »kam ich hier an, als man sich anschickte, den Grundstein zur Kapelle da zu legen. Ich wurde gebeten, mich mit einer kurzen Rede hieran zu beteiligen, und bereitete mich also rasch auf diese vor. Aber als ich kam und die beiden Tafeln sah, welche Sir John und Fu gewidmet hatten, damit sie unter den Grundstein versenkt würden, da verzichtete ich auf alle diese erst aufgeschriebenen und dann einstudierten Sätze und ließ nur ganz allein die Stimme meines Herzens sprechen. Es waren zwei kleine, nur vierzeilige Strophen, die ich auf diesen Tafeln las. Sir John hatte ein altes, christliches Gebetlein meißeln lassen, Fu aber eine eigene Antwort dazu. Ihr wißt wohl, daß er sich im Besitze der höchsten literarischen Ehren befindet und also gar wohl zu dichten versteht. Auf der ersten Tafel stand:

›Christi Blut und Gerechtigkeit Ist mein Schmuck und Ehrenkleid; Damit will ich bei Gott bestehn, Wenn ich in den Himmel werd' eingehn. Amen!‹

Die zweite Tafel war chinesisch; aber man sollte es in alle Sprachen übersetzen, obgleich es Vielen, Vielen nicht gefallen würde. Es lautete:

›Werft von Euch fort den falschen Heil'genschein, Und borgt nicht mehr auf des Erlösers Namen. Laßt uns vor allen Dingen Menschen sein, Damit wir Christen werden können. Amen!‹

Fu hat da nicht etwa allein für sich gesprochen, sondern im Namen seines ungeheuer großen Landes, im Namen der ganzen mongolischen Rasse, wahrscheinlich auch im Namen Aller, die nicht Kaukasier sind, und endlich ganz gewiß im Namen aller Derer, die Christi Gebot noch nicht vergessen haben, daß wir unsern Nächsten lieben sollen wie uns selbst! Alle diese Leute werden das Christentum nicht etwa nur auf sein Verhalten zu Gott hin prüfen, sondern vor allen Dingen dahin, ob es Den, dem es angeboten wird, in seinen angeborenen Menschenrechten schütze und ihn vor innerer und äußerer Vergewaltigung bewahre. Durch diese zweite Tafel wurde ich sofort nach meinem Eintreffen hier in die Anschauung dieses ganzen Reiches und seines Volkes eingeweiht. Wer anders schreibt und anders spricht, der kennt die Chinesen nicht, selbst wenn er Jahrzehnte lang bei ihnen gelebt hat. Die Volksseele offenbart sich nicht Jedermann, aber wenn sie es tut, dann ganz, mit einem Male!«

Als er jetzt wieder schwieg und hinüberschaute nach dem Sonnenspiel am Waldesrande, da schien er mir dem malajischen Priester so genau zu gleichen, als ob sie beide Brüder seien, die Söhne einer und derselben Mutter. Welche Mutter wäre da wohl gemeint? Er trat ganz an den Abhang, hob den Arm gegen Westen und sprach, als ob er da hinauszureden habe zu vielen, vielen Leuten in der Ferne:

»Ich wiederhole es, das ernste, schwere Warnungswort: Werft von Euch fort den falschen Heil'genschein, und borgt nicht mehr auf des Erlösers Namen. Laßt uns vor allen Dingen Menschen sein, damit wir Christen werden können. Amen! Das liegt hier eingemauert unter der Kapelle. Das ist hier in China der einzige, der allereinzige Boden, auf dem Ihr Eure christliche Kirche errichten könnt. Das sollte in riesengroßer, meilenweit zu lesender Schrift über allen Meerengen stehen, durch welche Ihr zu segeln und zu dampfen habt, wenn Ihr vom Westen nach dem Osten kommt, um Eure Seligkeit hier auszubreiten! Nur Menschen können Christen werden. Wer trotz aller seiner äußeren Kultur im Innern doch noch Anthro-Bestie ist, der bleibe ja daheim, denn es würde ihm ergehen, wie es morgen den Fan-Fan ergehen wird: Er macht sich lächerlich; er blamiert und schädigt seine eigene Rasse, sein eigenes Vaterland und seine eigene Religion, das herrliche, das ewig unvergleichliche Christentum!«

Nun wendete er sich mir und der Kapelle wieder zu und sagte unter einem so rührend glücklichen Lächeln:

»Wie habe ich dies mein kleines Bethaus lieb, so lieb! Es ist die Pforte zu meinem großen, großen, unsichtbaren Gotteshaus, dessen Dach sich wölbt, so weit mein altes Auge reicht, und dessen Säulen ragen allüberall, wo ich ein Herz gezeigt und dafür mir ein anderes gewonnen habe. Hier begann ich, über die Gottmenschheit Christi eigentlich erst richtig nachzudenken. Er kam zu uns und ging, um uns ein Beispiel dazulassen. Wir sollen sein wie er, an Liebe, Demut und Erbarmen reich, und stark, wie er es war, an Wundertaten. Genau dieselben Wunder, die er als Gott verrichtete, sind uns ermöglicht durch die Menschlichkeit, die uns das Göttliche im Menschen zeigt und deutet. Hierbei muß ich Euch sagen: Während Ihr beim Essen saßet, war Euer Diener hier, Sejjid Omar, der Muselmann. Was für ein Mensch ist das! An ihm ist auch ein Wunder geschehen – – – durch die Menschlichkeit! Er gibt seinen Kuran und seinen Mohammed gewiß niemals her, aber wie er seinen ›Jesus, Mariens Sohn,‹ verehrt, so weit hinauf reicht ihm sogar der Islam nicht.«

»Ihr habt also bereits mit ihm gesprochen?« fragte ich.

»Jawohl. Fast eine ganze Stunde. Und ihn schnell liebgewonnen! Er hat eine so eigene Weise, die aber überzeugt, obgleich man aufpassen muß, ihn zu verstehen. Er sprang mitten in einer Erklärung auf, die ich ihm zu geben hatte, und bat mich, still zu sein, denn es sei ihm da ein Gedanke gekommen, über den er sofort nachdenken müsse, um ihn seinem Sihdi zu sagen. Damit rannte er in großer Eile fort.«

»So ist er,« nickte ich. »Die Folgen dieses seines Nachdenkens werden mir auf keinen Fall erlassen bleiben.«

Indem ich dieses sagte, hatte ich wohl recht. Denn als ich dann hinab ins Castle kam, hockte er in meinem Zimmer vor dem aufgeschlagenen Koffer, denn die Bagage war soeben angekommen, sprang aber, sobald ich eintrat, auf und sagte:

»Ich habe es, Sihdi!«

»Was?« fragte ich.

»Das wirst du gleich hören! Also, ich habe sie zusammengezählt, den Christen, den Moslem und den Heiden. Das kam mir in den Sinn, als ich mit Reverend Heartman sprach; da lief ich fort. Ich hätte aber auch sitzen bleiben können, denn das Nachdenken ging viel schneller, als ich dachte; dann war ich sogleich fertig!«

»Nun? Was kam heraus?«

»Entweder gibt es gar keine Christen und gar keine Heiden, sondern bloß Menschen. Oder es gibt entweder nur Christen oder nur Heiden, die aber auch alle Menschen sind. Also, ob es Nichts gibt, oder ob es Alles gibt, Menschen gibt es auf jeden Fall!«

»So! –« lachte ich. »Daß es Menschen gibt, und zwar auf jeden Fall, das wußte ich beinahe auch!«

»Ja, aber nicht so, wie ich es meine!« behauptete er. »Ich bitte dich, mich anzuhören, aber nicht dazu zu lachen; das macht mich irr! Du hast mich die Worte von Isa Ben Marryam Jesus, Mariens Sohn. gelehrt, daß wir Gott lieben sollen, das ist das erste und das vornehmste Gebot, und daß wir unsern Nächsten lieben sollen, das ist diesem ersten Gebote ganz gleich. War diese Liebe zu Gott und zu dem Nächsten schon vor dem Erlöser da oder nicht?«

»Es ist gewiß, daß es schon vor ihm Menschen gab, die Gott, und auch welche, die ihren Nächsten liebten.«

»Du sagst es, folglich ist es richtig! Und noch Eines: Wieviel Nächsten muß man lieben, um Christ zu sein?«

»Jedenfalls alle, ohne Ausnahme, auch die Feinde!«

»Ja. Wenn ich sie alle liebe, bin ich ein vollkommener Christ. Wenn ich nur Einen liebe oder nur einem einzigen Feinde Gutes tue, so bin ich auch ein Christ, allerdings nur für diesen Einen! Wenn der Heide auch nur einen einzigen Menschen liebt, einem einzigen Feinde verzeiht, so handelt er christlich. Und wenn der Christ nur einen einzigen Menschen haßt oder sich an einem einzigen Feinde rächt, so handelt er heidnisch. Es gibt keinen Menschen, der nicht wenigstens einmal liebt und nicht wenigstens einmal verzeiht. Und so hat es auch keinen Menschen gegeben und wird niemals einen geben, der nicht wenigstens einmal gehaßt und nicht wenigstens einmal seinem Zorn den Willen gelassen hat. Also die Menschen haben, schon gleich seit es welche gibt, und bis auf den heutigen Tag, alle zusammen, ohne Ausnahme, bald christlich und bald heidnisch gehandelt. Sobald sie Gutes tun, sind sie alle zusammen Christen, und sobald sie Böses tun, sind sie alle zusammen Heiden. Isa Ben Marryam ist gekommen, um uns zu gewöhnen, niemals Böses zu tun, sondern immer nur Gutes. Das Böse kommt vom Teufel; das Gute kommt von Gott. Dazwischen steht der Mensch! Wer nichts als Gutes tut, der ist Gott. Wer nichts als Böses tut, der ist Teufel. Wer bald Böses und bald Gutes tut, der ist Mensch! Hierauf frage ich dich: Sind die Heiden Gottheiten oder Teufel? Keines von beiden! Was folgt hieraus? Daß sowohl die Christen als auch die Heiden bloß nur Menschen sind, die nichts Besseres tun können, als einander Gutes zu erweisen. Dadurch heben sie einander empor. Dadurch werden sie Gott immer ähnlicher. Das ist es, was Isa Ben Marryam wollte und was er lehrte. Dieses Streben, Gott zu lieben und sich ihm immer mehr zu nähern, indem man allen Menschen, sogar den Feinden, unausgesetzt nur Gutes erweist, ist die Religion, die er gründete, und die nach ihm genannt wird: Christentum! – – – So, das kommt heraus, wenn man einen Christen, einen Muhammedaner und einen Heiden zusammenrechnet und dann mit der Drei hineindividiert, nämlich ein Mensch. Und wieviel ist dieser Mensch wert? Das kommt ganz auf die Mischung an. Wenn ich dieses Exempel mache mit einem guten Heiden, einem guten Muhammedaner und einem schlechten Christen, so kommt noch ein Mensch heraus, der wenigstens zweimal besser ist als so ein Christ! Sihdi denke hierüber nach, ohne daß ich dich dabei störe! Ich gehe darum fort und lasse dich hier bei dem Koffer und bei allen diesen deinen Sachen stehen!«

Husch, war er schnell zur Tür hinaus, denn er glaubte, im höchsten Grade klug gesprochen zu haben. Ich wußte, daß er sofort zurückkehren und die unterbrochene Arbeit wieder aufnehmen werde, sobald ich das Zimmer verlassen habe. Darum ging ich fort, um mich bei Doktor Tsi nach Waller zu erkundigen. Fang war bei ihm. Sie waren in ausgezeichneter Stimmung, ihres Patienten wegen. Dieser hatte bald nach Mittag die Augen aufgeschlagen und war seitdem so munter gewesen, als ob er im ganzen Leben nicht wieder einschlafen wolle. Er las in dem früher so verpönten Buche »Am Jenseits«, und wenn er der Augen wegen eine Pause machen mußte, bat er Mary, von da an, wo er aufgehört hatte, laut vorzulesen. Er hatte den Vorsatz ausgesprochen, die Augen nicht eher wieder zu schließen, als bis dieses Buch zu Ende gelesen sei, und so kam es, daß Mary uns Andern sagen und sich entschuldigen ließ, sie könne nicht beim Abendessen erscheinen. Wir hatten ein längeres Gespräch über diesen, uns vorliegenden Fall, und ich fand da wieder einmal Gelegenheit, den Umfang des geistigen Besitzes dieser beiden Männer und die Klarheit ihrer Einsicht zu bewundern. Das Feld, auf dem wir uns bewegten, war die Psychologie, und wenn ich sage, daß sie die Begriffe Geist und Seele scharf zu definieren und den Unterschied zwischen beiden ganz genau anzugeben wußten, so brauche ich nur noch hinzuzufügen, daß sie auch den Mut und die Energie besaßen, aus diesen Ueberzeugungen und Kenntnissen die ganz natürlich sich ergebenden Konsequenzen zu ziehen.

Bei Tafel fehlten dann nicht nur Waller und Mary, sondern auch Fu, welcher telephonisch nach Ocama zurückgerufen worden war, weil der Kapitän des Opiumschiffes aus Binh-Dinh sich wieder eingefunden hatte und für morgen gewisse Vorbereitungen zu treffen begann, welche den Hafenmeister zwangen, ihn und seine Bewaffneten einzusperren. Dilke war nicht mit dabeigewesen. Uebrigens, hätte es sich nur um den verpönten Opiumhandel und nicht zugleich auch um einen Gewaltstreich nebenbei gehandelt, so wäre der Pu-Schang an sich Manns genug gewesen, »Seine Exzellenz, den Europäer« vorausgesagter Weise aus dem Hafen schaffen und draußen verbrennen zu lassen.

Unser Kreis am Tisch war nicht sehr groß. Rechts von mir saß Pfarrer Heartman, links der Oekonom von Raffley-Castle, ein hochgebildeter Chinese, der seine Studien in England, Frankreich und Italien gemacht hatte und sich wiederholt bei mir entschuldigte, daß er nicht auch in Deutschland gewesen sei. Mir gegenüber saß Yin.

Man wird sich erinnern, daß ich auf Sumatra zum Governor sagte: »Dieses Portrait der Yin ist ein Rätsel, ein neues, ein schönes, ein entzückendes Rätsel, an dessen Lösung ich mein Leben setzen würde, wenn ich Maler wäre!« Nun hatte ich das Original des Bildes gerade vor meinen Augen. Wie stand es um das Rätsel? War es noch da? Verdichtete es sich? Oder begann es bereits, sich aufzulösen? Ich will da einmal sehr wichtig tun und den Geheimnisvollen spielen. Bekanntlich ist dem Schriftsteller viel, sehr viel erlaubt; ich aber gehe noch weit über dies hinaus und erlaube mir etwas, was sich noch keiner dieser Herren je gestattet hat, nämlich – – zu schweigen! Ich beschreibe unsere Yin auch heut noch nicht und jedenfalls auch morgen und übermorgen nicht! Und ich habe ein Recht dazu, denn alle meine bisherigen Reiseerzählungen sind nur Vorstudien, Uebungen und Skizzen, bei denen ich lang oder kurz, breit oder schmal sein kann, ganz wie es mir beliebt. Ich habe ja bereits gesagt, daß ich kein Künstler bin, und fühle mich also frei von jedem Zwang, unter dem – – – bald hätte ich gesagt: die Kunst zu seufzen hat. Als ob die wahre Kunst, der wahre Künstler irgend einem Zwange zu gehorchen hätte! Im Gegenteile, die Kunst ist die Bezwingende; sie macht sich alles, alles untertan!

Ich saß ihr heut gegenüber, ihrer schönsten, ihrer überzeugendsten Personifikation – – unserer Yin. Aber man glaube ja nicht, daß sie viel erzählt und viel erklärt und überhaupt viel gesprochen habe! Und man glaube auch nicht, daß ich erzählen werde, wovon wir uns unterhielten! Ich hoffe, nun bald über die Zeit der Vorübungen und Studien hinaus zu sein. Und ich hoffe, daß meine Leser mit mir bis hierher gegangen sind, wo sie mich nun wohl begreifen, oder doch wenigstens begreifen wollen. Dann hören wir mit diesen Etuden und Vorarbeiten auf und gehen an das eigentliche Werk. Die Leinwand wartet ja schon längst darauf. Und Yin, die einzig wahre Kunst, wird uns den Stift, wird uns den Pinsel führen! Sie hat es mir an diesem Abend versprochen, und ich weiß, sie hält ihr Wort!

Wir saßen da wohl bis Mitternacht beisammen. Da wurde John an den Fernsprecher gerufen, um von Fu eine Meldung zu empfangen. Er führte uns dann hinaus auf den Söller und zeigte uns ein Licht, welches weit, weit draußen am östlichen Himmel glühte, fast wie ein Stern, der aber flackerte. Es brannte ein Schiff auf der Reede von Ocama.

»Das ist ›Seine Exzellenz, der Europäer‹, dem es an das Leben geht,« erklärte er. »Fu meinte, daß er wohl kurzen Prozeß mit ihm machen werde, und das ist nun geschehen. Eine Warnung für die Fan-Fan! Wir können unbesorgt zur Ruhe gehen.«

Ich war am andern Morgen soeben aufgestanden, da klopfte es an meine Tür.

»Wer ist's?« fragte ich.

»Ich, dein Sejjid Omar. Kann ich hinein?«

»Ja; es ist offen.«

Er war ganz atemlos, als er eintrat.

»Sihdi, weißt du, was heut ist?« fragte er.

»Dienstag,« antwortete ich.

»Nein, sondern Revolution! Du siehst, daß ich es besser weiß! Das macht, weil ich so gut chinesisch reden kann; ich gattere alles aus! Die ganzen Diener, die es hier gibt, wollen von mir arabisch lernen, weil sie sich nicht so gut chinesisch mit mir ausdrücken können, und da erzählen sie mir alles, was geschieht. Diese Revolution ist aber eine, bei welcher nicht geschossen wird, auch nicht gehauen oder gestochen, sondern es wird nur gelacht, weiter nichts, weiter gar nichts. Begreifst du das?«

»Ja.«

»Was? Das begreifst du?« fragte er verwundert. »Ich habe es nicht begriffen. Bei einer Rebellion muß man doch alles totschlagen! Den Vizekönig, die Pascha's, die Generäle und ganz besonders Jedermann, der im Ministerium ist. Das weiß ich von Aegypten aus, wo sie so gemacht würde, wenn eine wäre. Aber es gibt keine. In Stambul machen sie bloß den Sultan tot; das ist dann eine! Aber hier kommen sie über die Grenze herüber, um große Reden zu halten. Sie werden zum Essen eingeladen und bekommen viel, sehr viel Samschu zu trinken. Das ist ein starker Schnaps, von dem sie einschlafen. Das ist dann eine! Und wir sitzen dabei und lachen! Glaubst du wirklich, daß das eine ist?«

»Ja. Es ist sogar eine sehr vernünftige.«

»Gut, so sehen wir sie uns an! Ich soll dich nämlich bitten, zum Frühstück zu kommen. Dann reiten wir nach Shen-Fu.«

»Wer hat das gesagt?«

»John Raffley. Ich habe dir bereits mitgeteilt, daß er dort Bürgermeister ist. Er muß hin und läßt dich bitten, ihn zu begleiten. Ich darf auch mit. Ich werde nicht den Fez aufsetzen, sondern einen Turban machen, denn das schickt sich bei einer Rebellion. Die Arekanuß und die Betelnuß, die stecke ich vorn, ganz oben, fest. Man soll sehen, daß ich schon zur ›Shen‹ gehöre. Gegen die kommt kein Empörer auf!«

Selbstverständlich ging ich zu John, der mich mit der Nachricht empfing, daß die Aufschiebung des heutigen Festes wahrscheinlich zurückgenommen werden müsse, weil die Anhänger der »Shen« nicht gewilligt seien, sich die Freude durch ein paar hundert Rebellen verderben zu lassen. Er fuhr fort:

»Es gehen aus allen Orten Bitten bei mir ein, jedenfalls auch bei Fu, und ich habe mir schon überlegt, ob ich nicht vielleicht besser – – –«

Er hielt inne, denn er wurde unterbrochen. Fu, der soeben Genannte, rief ihn an den Apparat, welcher sich in einem andern Zimmer befand. Da wurde er längere Zeit festgehalten, weil er das, was ihm jetzt von Ocama her gesagt wurde, an verschiedene andere Orte weiterzugeben hatte. Als er dann wiederkam, erfuhr ich, um was es sich handelte. Er war mit Fu einig geworden, den Festtag für heut doch bestehen zu lassen und diesen Entschluß überall hin kund zu geben. Das ging per Draht sehr schnell. Von jetzt an in zwei Stunden hatten wir im Einkehrhaus am Scheidewege mit ihm zusammenzutreffen, um von da aus nach Schen-Fu zu reiten, wo der Hauptort war, nach welchem Jedermann strebte.

Während wir hierüber sprachen, stellte sich Tsi bei uns ein, um sich nach den Dispositionen für den heutigen Tag zu erkundigen. Als er von John unterrichtet worden war, gab er denen, die sich nicht stören lassen wollten, vollständig Recht, bat uns aber, auf ihn zu verzichten. Waller sei heut früh zum ersten Male gleich mit vollem Bewußtsein aufgewacht. Es scheine äußerlich sowie auch innerlich ein voller, heller Sonnentag werden zu wollen, und so fühle er als Arzt sich verpflichtet, dafür zu sorgen, daß dieser so lange herbeigesehnte Himmel durch nichts getrübt werden könne. Heut falle die Entscheidung für die ganze Zeit, die Waller noch zu leben habe. Vor allen Dingen sei zu verhüten, daß der alte, von ihm gewichene Geist wieder über ihn komme, der starre, blutleere Geist der Wallerschen Familie, welcher den Inhalt einer alten, bigotten Hauspostille hoch über das herrliche Gotteswort der Bibel setze und die ganze Menschheit zwingen wolle, in den engen, harten, mit geistigem Fischtran eingeschmierten Wasserstiefeln einer vollständig unbekannten, schrullenhaften Sippe nach den erhabensten Zielen unseres gegenwärtigen Daseins wettzurennen!

Während er dieses sagte, war ihm anzusehen, daß ihm im Sprechen ein Gedanke kam. Er richtete sein Auge dabei auf mich, und dann auch seine Worte:

»Ich habe da einen Gedanken, der diesen Geist betrifft. Er ist nicht mehr da. Wo ist er hin? Wann wich er von Waller? Er wurde gezwungen, ihn zu verlassen; aber er tat dies nur widerwillig, nur nach und nach. Noch vorgestern bemerkte ich Spuren von ihm. Nun höre ich, daß ein Verwandter von Waller anwesend ist, ein Neffe von ihm, genau in demselben hartnäckigen, unduldsamen Geiste erzogen und mit sogar noch größerer Strenge dressiert, so daß er es nicht mehr aushalten konnte und seinen Peinigern davongelaufen ist. Diese Beiden, Onkel und Neffe, sind einander hier noch nicht begegnet, nämlich körperlich. Auf geistigem Gebiete liegt das jawohl ganz anders. Der Onkel wußte von der Anwesenheit des Neffen nichts; wir verschweigen sie ihm sogar noch jetzt. Der Neffe aber hörte von Eurem Sejjid Omar, daß sein Oheim sich auf Ocama befinde. Dieser Umstand ist mir im höchsten Grade wichtig. Wollte ich selbst den Sejjid fragen, so würde das seine Unbefangenheit stören. Darum bitte ich Euch, es Euch noch einmal erzählen zu lassen. Es kommt mir darauf an, zu erfahren, was für ein Gesicht und was für Bewegungen Dilke machte, als er von Waller hörte, und ob und was für Worte er dabei sagte. Nämlich, es ist ungefähr drei Uhr nachmittags gewesen, da ist Waller plötzlich aus tiefster Ruhe emporgefahren und hat gerufen, doch ohne die Augen zu öffnen: ›Old Saint nennt er mich noch immer! Und kommen will er mir! Well, so werde ich ihm kommen, und Old Saint soll nicht wieder von ihm gehen!‹ Sein Neffe hat ihn nämlich gehaßt und gegen Andere stets nur als den ›alten Heiligen‹ bezeichnet. Ist das nicht im höchstem Grade interessant?«

»Natürlich!« antwortete ich. »Sogar so interessant, daß ich frage, warum ich das erst jetzt erfahre!«

»Ich habe es ja auch nicht gewußt. Mary hat es für ein ganz gewöhnliches, bedeutungsloses Traum- oder Gedankenbild gehalten, wie so häufig, wenn er während seiner Krankheit sprach, ohne wach zu sein. Erst als ich ihr heut, vorhin, ganz dasselbe sagte, was ich Euch mitgeteilt habe, wurde sie aufmerksam und berichtete mir diese seine hochinteressanten Worte. Also bitte, fragt den Sejjid, aber laßt ihn so antworten, daß er keine eigenen Gedanken beimischt!«

»Werde es tun,« versprach ich. »Liest Waller noch?«

»Ja. Gestern wurde er mit ›Am Jenseits‹ fertig. Ihr könnt gar nicht ahnen, was Eure Beschreibung der Todesstunde für einen Eindruck auf ihn hervorgebracht hat! Heut will er die hervorragenden Stellen des Buches zum zweiten Male lesen. Auch will er bitten lassen, Yins Paradies sehen zu dürfen. Fang hat nichts dagegen, daß ich ihn in die Gemäldehalle tragen lasse. Er hat seit gestern einen förmlichen Riesensprung zur Besserung getan. Wenn das so fortgeht, hoffe ich, ihn schon nach kurzer Zeit vom Bette trennen zu können. Uebrigens weiß er schon ebenso wie wir, daß Ihr der Verfasser seid, dessen Bücher er früher verboten hat.«

»Und nun? Was sagt er jetzt dazu?« fragte John.

»Es ist ganz eigentümlich, wie er sich hierüber hören läßt. Gestern abend, als der letzte Satz von ›Am Jenseits‹ gelesen worden war, lag er lange Zeit in stillem Nachdenken. Dann sagte er zu Mary: ›Mein Kind, ich bin sehr grausam gegen dich gewesen, indem ich dir verbot, aus diesem Brunnen zu trinken. Und du hattest doch so großen Durst! Ich hielt es für Brandy und Julep, und es war doch das reinste, das lauterste Wasser! Ich weiß, daß ich krank gewesen bin, lange Zeit. Es war Dysenterie, mit fürchterlichem Verfall der Körperkräfte. Aber ich muß auch vorher nicht recht gesund gewesen sein, nämlich da, da, im Kopfe. Das scheint mir so! Denn wer solch eine Lektüre verbietet, der kennt sie entweder nicht, und dann handelt er unehrlich, oder sein Gehirn leidet an jener andern Art der geistigen Armut, welche selbst ein Christus niemals seligpreisen würde! Diese andere Art scheint mir allerdings sehr wohlbekannt zu sein; ich muß mich nur besinnen!‹ Das war es, was er sagte, und obgleich ich nicht der Verfasser dieser Bücher hin, hatte ich mich doch darüber zu freuen, weil es erwarten läßt, daß die innere Heilung ebenso wie die äußere vor sich gehen wird, ohne Rückstände zu hinterlassen. Was und wie er aber über Euer Gedicht denkt, das mag er Euch selbst sagen. Nun reitet fort, und grüßt mir meine ›Shen‹, für welche ich – – –«

»Für welche Ihr«, unterbrach ich ihn, »schon damals in Penang so viele Sitze in Eurer Wohnung hattet!«

»Ah, die vielen Stühle, die bei mir standen, sind Euch aufgefallen!« lachte er. »Ja, das war für die Beamten der ›Shen‹, die ich zu inspizieren hatte. Und da Ihr wißt, daß nicht nur ich, sondern auch mein Vater in Europa war, so brauche ich Euch wohl gar nicht erst zu versichern, daß es auch dort schon Orte gibt, wo Stühle für sie stehen.«

Er ging, und nach einiger Zeit ritt ich mit John, hinter uns der Sejjid, durch das Dorf und nach dem Spießtannenwald hinüber. Zwischen dem Dorfe und der Schloßmeierei gab es ein erst seit heut früh gezimmertes, hoch aufstrebendes Gerüst, welches noch nicht fertig war. Als ich Raffley nach dem Zweck desselben fragte, sagte er:

»Können Sie sich ein chinesisches Fest ohne Feuerwerk denken? Bekanntlich sind die Chinesen Meister in Allem, was die Pyrotechnik betrifft, und mein Oekonom hat es sich nicht nehmen lassen, für heut abend irgend Etwas vorzubereiten. Was, das weiß ich selbst auch nicht.«

Hoch oben, auf der Kuppe, hinter der Kapelle, stand auch ein Gerüst und auf den Höhen rechts und links davon ebenso je eines. Man hatte also etwas vor, was weit in das Land hinaus gesehen werden sollte. Raffley-Castle war mit allen möglichen Errungenschaften der Neuzeit ausgestattet. Gas gab es nicht; es fehlten dazu die Kohlen. Dafür aber hatte man elektrisches Licht. Ein Wasserfall in der Nähe lieferte die hierzu nötige Kraft. Darum wunderte es mich nicht, als John im Laufe des Gespräches erwähnte, daß eine Illumination des ganzen Schlosses in Aussicht genommen sei.

Als wir das Einkehrhaus erreichten, war Fu noch nicht da; es dauerte aber nicht lange, bis er kam. Weil er sein Pferd ein wenig ruhen lassen wollte, ritten wir nicht sogleich weiter, sondern blieben ein Weilchen sitzen. Hierbei erzählte er, daß heute früh eine Dschunke von Ocama nach Schanghai unter Segel gegangen sei, und diese Gelegenheit habe er benutzt, sich des Kapitäns und der Mannschaft der verbrannten »Exzellenz« zu entledigen. Sie hätten sich zwar gegen diesen Zwang gesträubt, aber selbstverständlich doch gehorchen müssen. Der Kapitän hatte mit schwerer Rache, mit Anzeige bei der Regierung und mit der Klage auf Ersatz des Dampfers und der ganzen Ladung gedroht und hierbei die Bemerkung fallen lassen, daß er sich keineswegs in dieser Weise zu fügen brauchte, wenn Dilke nicht so verrückt gewesen wäre, ganz plötzlich den Kopf zu verlieren. Er habe doch bewiesen, daß er sich Leutnant nennen dürfe; woher da so ganz unvorbereitet die Behauptung, daß er nicht Offizier, sondern Missionar sei.

»Sonderbar!« sagte John. »Ist das nun bloß Geschwätz oder hat es wirklich Grund?«

Der Sejjid stand ganz in unserer Nähe bei den Pferden, mit denen er sich beschäftigte, und hörte, was gesprochen wurde. Er war bescheiden, niemals zudringlich und wußte, daß er sich nicht in unsere Gespräche zu mischen habe. Hier aber hielt er das, was er wußte, doch für wichtig genug, ein Wort zu sagen:

»Es hat Grund. Ich weiß es auch. Es fällt mir soeben ein. Willst du es hören, Sihdi?«

»Ja, Was meinst du? Sprich!« antwortete ich.

»Das mit dem Kopf ist richtig, und das mit dem Offizier und mit dem Missionar auch. Und daran ist Einer schuld, der Old Saint heißt.«

»Wie so?« fragte John da sehr schnell.

»Es war, als wir miteinander sprachen, nämlich Dilke und ich. Er wollte wissen, was wir seit Penang getan haben, und ich erzählte es ihm. Ich erwähnte auch Mr. Waller und Miß Mary. Da horchte er auf und fragte, ob das ein amerikanischer Missionar sei. ›Ja,‹ sagte ich. ›Und der ist hier, in Ocama? Mit seiner Tochter?‹ erkundigte er sich. Ich nickte, und was er nun tat, das habe ich dir gar nicht mit erzählt, weil es so albern und so kindisch war. Er rief nämlich aus: ›Old Saint – – Old Saint – – der Verrückte, der Missionar ist da! Mit Mary, der Vernünftigen! Wart, alter Bursche, dir komme ich, dir komme ich!‹ Kaum hatte er das gesagt, so fuhr er mit dem Kopf zurück, als ob er eine Ohrfeige bekommen habe, und griff sich mit beiden Händen nach dem Gesicht. Es dauerte längere Zeit, bis er die Hände wieder wegnahm, und da war er blaß wie eine Leiche. Er machte ganz sonderbare, dunkle Augen und sagte: ›Ich soll nicht Offizier sein, sondern Missionar! Das ist verrückt! Unsinn! Laßt mich los!‹ Dabei sprang er auf, lief schnell hin und her und schlug mit den Armen in der Luft herum. Dann redete er wieder richtig mit mir, die ganze Zeit, bis ich eingesperrt wurde. Nur einige Male griff er sich an den Kopf und sagte dabei: ›Wie das bohrt, wie das bohrt! Woher das nur kommt!‹ – Das ist es, Sihdi, was mir eingefallen ist, als ich Euch jetzt von seinem Kopfe sprechen hörte. Da dachte ich, daß ich es sagen müsse.«

Da sahen wir einander an, John und ich, und sagten Fu, was wir von Tsi über diesen »Old Saint« gehört hatten. Er war gar nicht verwundert hierüber und gab die auch nicht sehr betonte Bemerkung dazu:

»So also ist es über ihn gekommen, so! Er ist der Letzte dieser seiner Sippe, das Fazit der Familie. Was das für eine Ziffer sein wird, das kann man sich denken. Daß irgend Etwas mit ihm vorgegangen ist, das weiß ich übrigens auch schon von anderer Seite her, nämlich vom Ho-Schang Priester. des Tempel Ki. Dieser Mann hat mir eine ebenso große wie freudige Ueberraschung bereitet. Er hat nicht gewußt, daß wir den heutigen Feiertag fallen lassen wollten, und also angenommen, daß er unbedingt stattfindet. Und er hat nicht gewußt, daß der Herr von Raffley-Castle von seiner Reise wieder heimgekehrt ist. Darum wendet er sich nur an mich. Es kam heute früh, sehr zeitig, ein Bote von ihm zu mir nach Ocama, nicht mit einem Briefe, sondern mit einer mündlichen Benachrichtigung. Du weißt, lieber John, daß wir fast gar nicht mit diesem Manne verkehrten, dessen geistliche Macht ihn zum Rivalen für uns machte. Wir glaubten, einen Feind in ihm zu haben, und er hat nie Etwas getan, die Richtigkeit dieser Annahme zu widerlegen. Das ist wohl auch der Grund, daß die Fan-Fan auf den Gedanken kommen konnten, sich in seinem Bezirk gegen uns zu versammeln. Nun läßt er mir heut sagen, daß er uns im Stillen beobachtet und sich sehr über uns gefreut habe. Er habe einen langen Bericht über uns nach Peking geschrieben und um die Erlaubnis gebeten, seine geistliche Provinz für unsere ›Shen‹ öffnen zu dürfen. Es sei hierauf eine für uns sehr ehrenvoll klingende Antwort eingetroffen, und er bitte um die Erlaubnis, sie mir eigenhändig überreichen zu dürfen, heut, am Feiertag der ›Shen‹, in Shen-Fu, wohin er kurz nach Mittag kommen werde. Er bringe eine ganze, große Menge seiner ›Heiden‹ mit, welche wünschen, bei uns aufgenommen zu werden, und bitte auch für seine eigene Person um Zulassung zur großen Bruderschaft der ›Menschlichkeit‹, von der er wünsche, daß Alle, die auf Erden sind, ihr angehören möchten. Und durch denselben Boten teile er mir mit, daß eine Schar von Fan-Fan sich auf seinem Gebiete herumtreibe, um das unserige am heutigen Festtage zu überfallen und unsere Leute gegen uns aufzuwiegeln. Die Anstifter seien Europäer, die andern aber arme, verführte Chinesen, denen man nur die Augen zu öffnen brauche, um sie auf den rechten Weg zurückzubringen. Diese sollen wir ihm überlassen; die Abendländer aber werde er uns in die Hände führen oder sie durch List verschwinden lassen; wir sollen ihm nur vertrauen! Einer von ihnen habe sich zuerst als Offizier ausgegeben, dann aber als Missionar entpuppt. Der wolle in China sämtliche Heidentempel zerstören; für ihn könne man nicht stehen.«

»Das ist Dilke, unbedingt Dilke,« sagte John. »Des Onkels Geist ist auf den Neffen übergegangen. Sollte man es für möglich halten, daß dies so unvorbereitet, so überaus schnell geschehen kann!«

»Fragen wir nicht nach diesen Dingen,« antwortete Fu, »sondern bleiben wir beim körperlich Gegebenen. Es ist Zeit, von hier aufzubrechen, damit wir noch vor dem Ho-Schang nach Shen-Fu kommen.«

Es muß gesagt werden, daß wir nicht die einzigen Gäste waren, die sich hier an dieser Stelle befanden. Der ganze Garten hatte sich gefüllt; es war ein unausgesetztes Kommen und Gehen. Wir waren schon auf dem Wege nach hier immerwährend Leuten begegnet; von jetzt an fand dies in größerem Maße statt, bis die Straße so belebt wurde, daß es schien, als ob die ganze Bevölkerung unterwegs nach Shen-Fu sei.

Diese Stadt war eine Gartenstadt und nicht von einer Mauer umschlossen, wie es bei chinesischen Bezirksorten der Fall zu sein pflegt; sonst aber ganz chinesisch gebaut, nur mit mehr Platz für jedes Haus, mehr Luft und Licht für die Bewohner. Die Straßenfronten waren mit Vorgärten geschmückt, die Häuser mit Fahnen, Flaggen und allem Möglichen, was Farbe hat und in den Lüften flattert. Auf den Gassen wogten fröhliche Menschen hin und her. Alle Türen standen offen, nicht bloß für Freunde und nähere Bekannte, sondern für Jedermann. Es roch überall nach frischem Gebäck, nach Fleisch und Braten. Das ganze Land ringsum war kameradschaftlich und gastlich gestimmt, so recht und echt und ganz nach dem Herzen unserer »Shen«!

In der Mitte der Stadt, auf einem großen, freien Platze, stand ein sehr ansehnliches Gebäude, nach deutschem Begriff das Rathaus, die Bürgermeisterei. Dorthin ritten wir. Die Art und Weise, wie man uns von allen Seiten grüßte, bewies, wie hoch meine beiden Freunde in der Liebe und Achtung dieser braven Leute standen. Es gab einen Raum, die Pferde einzustellen. Mein Sejjid blieb unten; »weil ich so gut chinesisch kann«, sagte er. Wir Andern aber gingen eine Treppe hoch, wo die Verwaltungszimmer lagen. Dort wartete ein Bote des Ho-Schang. Er war vor kurzem eingetroffen, um mit Fu zu sprechen, und die Beamten Raffleys hatten ihn derart höflich empfangen, daß er sich sowohl geehrt als auch willkommen fühlen konnte. Er war, wie schon seine Kleidung erwies, ein Unterpriester des Ho-Schang, hatte ein intelligentes und wohlwollendes, sehr sympathisches Gesicht und machte seine Meldung, mit tiefer Verbeugung beginnend, in folgender Weise:

»Ich bin der Bote dessen, der das Volk über ›Ki‹ belehrt, über den ›Lebensodem‹, aus dem man Gott erkennt in seiner Allmacht und in seiner Liebe. Er hat gesehen, daß auch Ihr dieser Liebe dient, nicht etwa in leeren Worten, sondern in allen Euren Taten und Werken. Darum wurde Euch von T'ien, dem Himmel, große Macht gegeben, die täglich wächst und Euch die Herzen zuführen wird aus allen Gegenden der ganzen Erde. Auch unser großer, weithin einflußreicher Ho-Schang wünscht, sich mit Euch zu vereinigen, um durch die Gott wohlgefälligen Werke der ›Shen‹ dem Himmel und der Religion der Liebe zu dienen. Nur die Tat beweist, und die Tat, das ist die ›Shen‹! Darum kommt er heut gezogen, mit vielen, vielen Seelen, die er Euch bringen will, hierher, nach Shen-Fu, dem Ausgangspunkt Eurer Menschenfreundlichkeit. Aber er möchte auch noch weiter, nach jenem Schlosse, welches Ihr Raffley-Castle nennt. Dort soll der Ort des Paradieses abgebildet sein und auch der Weg, der durch die Hölle auf zum Himmel führt. Das möchte er gerne sehen und auch uns Andern allen zeigen.«

Als er hier eine Pause machte, nahm Fu das Wort, um in der verbindlichsten Weise zu sagen, was hierauf zu sagen war. Dann fuhr der Priester fort:

»Der erste Bote des Ho-Schang hat Euch bereits von jenen fremden, ›westlichen Barbaren‹ mitgeteilt, von denen leider auch ich jetzt noch zu sprechen habe. Sie nahmen Besitz von unserem großen Tempel und dessen ganzer Umgebung, und wir vertrieben sie nicht, weil im Reiche der Mitte alle Gotteshäuser zugleich auch jedem Gaste, jedem Bedürftigen geöffnet sind. Sie sagten, daß sie Engländer seien; wir aber hielten sie für zusammengelaufene Leute aus allen christlichen Ländern. Sie schienen nämlich bloß anfangs einig zu sein; bald aber entzweiten sie sich. Es sind bei uns einige Leute, die in den östlichen Häfen waren und darum ein wenig Englisch verstehen. Die gaben wir den Fremden als Diener und erfuhren durch sie, was gut zu wissen war. Die Fan-Fan waren lauter Christen, aber fast ein Jeder von ihnen glaubte etwas Anderes, und ein Jeder behauptete, daß grad das, was er glaube, das Richtige sei. Auch warfen sie einander die Verschiedenheit ihrer Länder, ihrer Völker, ihrer Regierungen und ihrer Fürsten vor. Das war so überflüssig, so lächerlich, so unbegreiflich! Nur in Einem waren sie einig, sie alle zusammen, nämlich über Euer Gebiet herzufallen und der ›Shen‹ zu nehmen, was sie besitzt. Denn die ›Shen‹ sei ihre größte Feindin; sie mache die Menschen liebreich gegen einander, folglich zufrieden mit ihrem irdischen Los und greife dadurch ganz unerlaubt in die Rechte der besseren Stände ein. Zu ihnen gesellte sich Einer, den sie erwartet hatten. Er hieß Dilke und brachte eine Schar annamitischer Spitzbuben mit. Er hatte ein Schiff mit Waffen gebracht, die während der Feier des heutigen Festes geholt und verteilt werden sollten. Das erfuhren wir aber nicht sogleich, denn das chinesische Gefolge, welches sie durch ganz unerfüllbare Versprechungen an sich gelockt hatten, wußte selbst nicht genau, um was es sich eigentlich handle. Dieser Dilke ist ein eigentümlicher Mensch. Ich habe ihn Euch ausführlich zu beschreiben – – –«

»Wir kennen ihn bereits,« fiel John da ein.

»Ich danke dir! Da darf ich kürzer sein. Er fühlte sich innerlich krank und ging, ohne daß die Andern davon wußten, zu meinem Freunde, denn Tai-Fu Arzt., der mir erzählte, was er mit ihm gesprochen hatte. Dieser Dilke hat sich in Penang mit einem General überworfen und ist deshalb aus der englischen Armee getreten. Er ging nach Sumatra, nach Uleh-leh und Kota-Radscha, um sich den Holländern anzutragen, wurde aber von dem dortigen Mijnheer abgewiesen. Von da fuhr er mit seinen Begleitern nach Singapore und Saigon, wo sie alle engagiert wurden. Er wurde Superkargo eines Schiffes, welches ›Seine Exzellenz, der Europäer‹ hieß, und hatte mit ihnen und noch Andern, die ihm vorausgingen, hier bei uns wieder zusammenzutreffen, um die ›Shen‹ an ihrer Wurzel zu vernichten. Nun ist ihm aber in Sumatra Etwas mit seinem Kopfe passiert, doch was, das weiß ich nicht, auch nicht, ob in Uleh-leh oder in Kota-Radscha oben. Er behauptet, dort den Geist eines amerikanischen Missionars gesehen zu haben, der dort seinen Körper verscherzt und verloren habe, und nun ihm immer folge, um sich bei ihm einzunisten. Da europäische Aerzte keine Mittel gegen das Nahen dieser Art von Wahnsinn haben, so komme er zu meinem Freunde, um ihn um Rat zu fragen.«

»Es kann ihm nicht geholfen werden!« unterbrach ihn John, und Fu nickte zustimmend.

»Ganz dasselbe hat ihm auch der Tai-Fu gesagt,« bestätigte der Priester, »und das scheint ihn außerordentlich aufgeregt zu haben. Er wurde zusehends immer mehr irr an sich selbst. Er behauptete schließlich, nicht Offizier, sondern Missionar zu sein. ›Seine Exzellenz, der Europäer‹ gehe ihn gar nichts an; der sei nur auf weltlichen Gewinn bedacht; er aber habe die geistliche Macht im Auge und brauche die Flinten und Kanonen höchstens, um die Heidentempel nach und nach zu zerstören, die es in China gibt. Seine Annamiten bekamen Angst um das Gelingen des ganzen Planes; da jagte er sie fort. Sie hatten eine Besprechung mit den übrigen Europäern und verließen dann mit deren Bewilligung die Gegend, um nach Ocama zu gehen. Dilke aber blieb. Er behauptete, seine Aufgabe sei zunächst, beim Großen Feste der ›Menschlichkeit‹ die ganze Stadt Shen-Fu zum Christentum zu bekehren, denn er habe eine Wette gemacht, die er gewinnen müsse. Ist das nicht sonderbar? Eine Wette!«

Ja, das war allerdings im höchsten Grade wunderbar. Ich sah John an und er mich auch, doch sagten wir nichts. Dilke konnte von der Wette, die sein Oheim gemacht hatte, ja gar nichts wissen! Der Chinese fuhr fort:

»Es wurde während der ganzen Nacht keinen Augenblick geschlafen, denn es hatte sich, ich weiß nicht wie und woher, das Gerücht verbreitet, daß das Fest gar nicht stattfinde, sondern untersagt worden sei, weil man in Ocama und auf Raffley-Castle von einer Revolution erfahren habe. Das machte ihnen Sorge; uns aber war das gleich. Unser Zug nach Shen-Fu war nicht nur beschlossen, sondern auch schon vorbereitet, und wir sahen keinen Grund, ihn aufzugeben. Wir bezweckten hierbei ja auch ein Zweites noch: die Auslieferung der ›westlichen Barbaren‹ an Euch. Sie wußten, daß wir uns mit allen unsern Leuten ihrem Zuge anschließen würden, und freuten sich darüber. Sie ahnten nicht, daß wir sie Euch nur bringen wollten. So brachen wir am heutigen Morgen auf, hierher. Die Fan-Fan waren der besten Zuversicht. Da kam uns, als wir Euer Gebiet betreten hatten, die Nachricht entgegen, daß ›Seine Exzellenz, der Europäer‹ mit seiner ganzen Ladung, also auch den Waffen Eurer Feinde, verbrannt worden sei. Das erregte bei den Europäern einen Schreck, der unsern Zug ganz plötzlich stocken machte. Sie mußten erkennen, daß ihre Absichten verraten seien. Sie traten sofort zu einer Konferenz zusammen, die außerordentlich stürmisch verlief, weil dabei ein Jeder sich mit Jedem überwarf. Sie zankten alle auf einander ein, genau so, wie es daheim die Ihren tun, und richteten ihre gesamte Wut sodann auf Dilke, der ihnen aber sagte, daß sie alle zusammen ganz verrückte Kerle seien; nur er allein habe Verstand. Er wisse besser wie sie, wie es hier stehe. Es sei ein Deutscher und ein Araber hier, die eine ganze Bande von europäischen ›Zivilisatoren‹ die Treppe heruntergeworfen hätten, auch ein englischer Lord mit sämtlichen Matrosen seiner Jacht, ferner die Schloßsoldaten von Raffley-Castle, die alte, tapfre Bürgergarde von Ocama, sodann die Landwehr von Ki-tsching und endlich gar die vieltausend Streiter der großen ›Shen‹. Er sei ja in Ocama gewesen und wisse Alles. Es gebe gar keinen Zweifel, daß irgend Jemand den ganzen Plan verraten habe, und nun stelle man sich so außerordentlich zahlreich in Shen-Fu ein, daß man die paar Europäer in einem einzigen Augenblick erdrücken werde. Kein Hahn werde nach ihnen krähen; er allein habe nichts zu fürchten, denn er sei weder Empörer noch Offizier, sondern ein Mann des Friedens, ein Bote der Liebe, ein Missionar, der weiter nichts verlange, als nur die Zerstörung der paar Heidentempel, die es im Lande China gibt. Das sei ganz im Gegenteil eine Forderung, durch deren Erfüllung er das Reich der Mitte nicht nur hier glücklich, sondern auch dort selig machen werde! Während er diese Rede hielt, brachen wir wieder auf und zogen weiter. Sie folgten uns dann zwar, aber mit immer größer werdender Sorge. Denn je weiter wir kamen, desto deutlicher war zu sehen, welch ein Strom von frohen, guten und dankbaren Menschen vor uns, neben uns und hinter uns demselben Ziele wie wir entgegenfloß. Da war mit einigen aufrührerischen Reden nichts getan! Wer da Etwas erreichen wollte, der mußte zu Tausenden und Abertausenden kommen, und auch da stand Hundert gegen Eines, daß es mißlingen werde! Das waren die Gedanken, die man nicht von sich weisen konnte, und sie begannen bald, zu wirken – – – auf die Europäer. Nämlich es wurden ihrer immer weniger. Bei jedem Male, daß ich nach ihnen zurückschaute, war ihre Zahl eine geringere geworden. Als ich dies unserm Ho-Schang sagte, lächelte er still vor sich hin und antwortete mir: ›Ich wußte es! Das wird das Schicksal eines jeden Angriffes gegen die »Shen«, gegen dieses Land und seine Bewohner sein. Man wird sie in Ruhe lassen müssen! Es ist niemals rätlich, der Feind, sondern immer gut, der Freund eines Riesen zu sein! Ist das Abendland klug, so schützt es sich vor diesem Riesen, indem es ihm gewährt, was er begehrt: Neutralität für alle Zeiten!‹ So sagte er, und dann sandte er mich voraus zu Euch, um seine Ankunft anzumelden. Er läßt Euch um eine Erhöhung auf dem großen Platze Eurer Stadt bitten. Da will er sich hinaufstellen und das Gefolge jener Fan-Fan um sich versammeln, um zu ihnen zu sprechen. Er will sie über die Lüge belehren, der sie dienen sollten, und über die Wahrheit, die sie vernichten wollten, und ist überzeugt, daß sie sich ebenso schnell wie gern aus Gegnern in Freunde der ›Shen‹ verwandeln lassen werden.«

»Er wünscht also eine Tribüne,« meinte Fu. »Die steht schon da, genau wie für diesen seinen Zweck gemacht. Da kann er sprechen. Vorher aber wünschen wir, ihn hier zu empfangen. Ich werde ihm die Obersten der Stadt entgegensenden. Du meinst also, daß keiner dieser Europäer sich noch bei ihm befindet?«

»Keiner! Sie sind alle so nach und nach aus dem Zuge verschwunden. Niemand hat sich verabschiedet und für die genossene Gastlichkeit bedankt! Wer weiß, wo sie sich nun von Neuem zusammenfinden werden, um sich über die Verschiedenheiten, Fehler und Gebrechen ihrer Religionen, Völker und Fürsten noch klarer zu werden, als sie es hier bei uns gewesen sind! Wer derart gegen den Glauben, die Nationalität und das Regentengeschlecht seines christlichen Mitbruders spricht und agitiert, wie diese Leute es taten, der mag fortan verschwunden sein; es wird ihn Niemand suchen! Nur Einer ist geblieben, nämlich Dilke, der vollständig überzeugt ist, daß für ihn nicht die geringste Gefahr vorhanden sei. Er trägt sich ganz im Gegenteile so aufrecht und so stolz, als ob er erwarte, daß unser Einzug hier für ihn einen Triumph zu bedeuten habe. – – Nun bitte ich, mich zu entlassen! Ich muß zu meinem Ho-Schang zurück, um ihm zu melden, daß ich seine Botschaft an Euch ausgerichtet habe.«

Er wurde für einstweilen entlassen, mit der Bedeutung, daß er sich als unsern speziellen Gast zu betrachten habe und daß ebenso auch alle andern Unterpriester des Ho-Schang geladen seien, an unserm Mahle, welches vorbereitet werde, teilzunehmen.

Wir hatten von da aus, wo wir uns befanden, eine prächtige Aussicht über den großen, freien Platz und alle die vielen Menschen, die sich auf ihm bewegten. Eine Beschreibung des uns gebotenen Anblickes wäre wohl im höchsten Grade interessant, würde aber über den Rahmen einer altruistischen Studie, die sich mit Höherem zu beschäftigen hat, hinausgehen. Die vorhin von Fu erwähnte Tribüne stand in Hörweite von uns. Wir konnten also während der Rede des Ho-Schang Zuhörer sein, ohne das Lokal, in dem wir uns befanden, verlassen zu müssen.

Nach einiger Zeit war weithinschallende Musik zu hören. Man unterschied die Töne der Glöckchen, der Gongs, der Cymbeln, des Yünlo, Hautung, Lapa, der Paisiao, Titsu, Sona, Kuantsu, der Tschin und Si, der Pipa, Sansien und Yütschien, der Paipan, des Scheng, des Tambourin und anderer Instrumente. Das klang scharf durch die ganze Stadt und sagte uns, daß der Ho-Schang mit seinen Scharen komme. Voran kamen, wie wir später bemerkten, die verführten Leute der Fan-Fan, die angewiesen wurden, sich rund um die Tribüne aufzustellen, und hinter ihnen die geistlichen Untertanen des Priesters. Es waren ihrer so viele, daß der Platz nicht ausreichte; sie füllten außer ihn auch noch die Mündungen der anliegenden Gassen. Während sie sich verteilten, dauerte die Musik fort; dann aber hörte sie auf, und es trat eine Ruhe, eine Stille ein, die in einer europäischen Stadt bei einer solchen Menschenmenge ganz unmöglich gewesen wäre.

Der Ho-Schang saß in einer Sänfte, die in das Haus herein und bis an die Treppe getragen wurde. Da stieg er aus. Wir empfingen ihn an der obersten Stufe und führten ihn in den Saal. Das geschah natürlich ganz in der umständlichen, außerordentlich höflichen Art der Chinesen. Als er aber Platz genommen hatte, unterbrach er ganz unerwartet dieses Zeremoniell durch die Bitte, mit uns in kurzer europäischer Weise verkehren zu dürfen. Das sei weniger anstrengend und führe schneller zum Ziele. Ein sehr vernünftiger Herr!

Auch er war hochbetagt, von ehrwürdigstem Aussehen, doch außerordentlich einfach, anspruchslos. Kein einziges Abzeichen deutete auf seinen Rang; ja, er war sogar noch bescheidener gekleidet als seine Unterpriester, die jetzt noch nicht mit heraufgekommen waren. Sie standen unten an der Tribüne, jeder mit einem Mu-Yü, das ist »hölzerner Fisch«, in der Hand. Dieser hohle, hölzerne Fisch ist ein Musikinstrument und wird fast nur von den Geistlichen gebraucht, für ihre besonderen Zwecke. Warum die »Fische« jetzt, da unten an der Tribüne in Bereitschaft gehalten wurden, das sollten wir baldigst erfahren.

Nämlich, eben als wir hier oben bei uns die Formalitäten beendet hatten und nun auf das Haupthema der Unterhaltung eingehen wollten, ertönte drunten oder draußen auf dem Platze eine sehr laute, weithin schallende Männerstimme. Aber schon nach den ersten Sätzen gaben die Unterpriester mit ihren Mu-Yü's das Zeichen, und sofort ließ sich eine solche Menge von Sona's und Kuantsu's hören, daß ich entsetzt von meinem Stuhle aufsprang und nach dem Fenster eilen wollte. Die beiden genannten Instrumente haben nämlich so fürchterlich quiekende und für einen Europäer geradezu entsetzliche Töne, daß es förmlich schmerzt, sie hören zu müssen. Der Ho-Schang veranlaßte mich aber durch eine beruhigende Handbewegung, mich wieder niederzusetzen, und sagte, indem ein schalkhaftes Lächeln um seine Lippen spielte:

»Das geschieht auf meinen Befehl. Dilke beabsichtigt, heut alle Menschen hier zu Christen zu machen. Er will mehrere große Reden halten, bis die Bewohner von Shen-Fu so für ihn begeistert sind, daß sie ihre Heidentempel ganz von selbst verbrennen und zerstören! Als ich die Tribüne sah, ahnte ich, daß er sie schleunigst benutzen werde. Nun wird er so lange, bis er aufhört, von dem Lärm der schärfsten Instrumente unterbrochen. Man könnte ihn auf andere Weise viel schneller, ja sofort zum Schweigen bringen, aber wer sich so große Mühe gibt, lächerlich zu erscheinen, dem soll man es gestatten und ihn ja nicht ernsthaft nehmen! Horcht; er beginnt von Neuem!«

Ja, so war es: Sobald die kleinen, schrillen, spitztönigen Instrumente schwiegen, erhob Dilke seine Stimme wieder. Die priesterlichen Mu-Yü's gaben augenblicklich das Zeichen abermals, und der gräßliche Lärm der Sona's und Kuantsu's erscholl in einer zweiten, außerordentlich verstärkten Auflage. So ging der Kampf noch eine Weile fort. Bald war Dilkes Stimme und bald der Spektakel zu hören. Dadurch wurde ein Gespräch für uns zur Unmöglichkeit. Ich ging nun doch zum Fenster, und da John Raffley mir folgte, so kam dann Fu und später selbst auch der Ho-Schang mir nach.

Ganz selbstverständlich strengte sich Dilke vergeblich an. Er war so töricht, den Kampf in die Länge zu ziehen, anstatt ihn gleich bei der ersten oder doch zweiten Niederlage aufzugeben. Das bisher still gebliebene Publikum begann, sich dabei zu amüsieren. Man lachte zunächst hier und dort, dann überall, und endlich gab es ein einziges, großes, allgemeines Gelächter, bei dem der arme, beklagenswerte Mensch nun doch zu der Einsicht kam, daß er verloren habe. Er stieg von der Tribüne herab und machte den Versuch, unter der Menge der vielen Menschen zu verschwinden. Er war übrigens in der chinesischen Sprache gar nicht so übel bewandert. Mary Waller sagte mir später, daß er ein sehr gut begabter Schüler gewesen sei und grad für diese Sprache eine besondere Vorliebe besessen habe. Jedenfalls verstehe und spreche er sie bedeutend besser als ihr Vater.

Da hörte ich den Ho-Schang hinter mir sagen:

»Das ist der richtige Augenblick für mich. Ich eile hinab, um die Verführten auf den rechten Weg zu bringen und die noch Unentschiedenen zu überzeugen!«

Er verließ den Saal. Da bemerkte ich, daß auch John nicht mehr da war. Schon wollte ich Fu fragen, wohin er sei, da kam er wieder. Er lachte fröhlich vor sich hin.

»Das war jedenfalls ein guter Gedanke, der mir kam, als ich die Pfeifen da unten so schreien, zetern und quieken hörte. Ich bin sofort hinab und habe dafür gesorgt, daß man ihm folgt, unaufhörlich, überallhin, wohin er sich wendet, immerfort, den ganzen Tag, so lange es nur möglich ist! Man hat ihn nicht aus den Augen zu lassen. Wenn Einer ermüdet, tritt der Andere ein; wir haben hier in Shen-Fu ja Musikanten mehr als genug. So oft dieser Dilke den Mund öffnet, um einen Bekehrungsversuch zu unternehmen, hat man ihn sofort zu unterbrechen. Was sagt Ihr dazu, Charley?«

Die Antwort wurde mir erspart. Ich hätte wohl nicht grad das gesagt, was er erwartete; da aber erklang von der Tribüne die Stimme des Ho-Schang, und wir wendeten uns den offenen Fenstern zu, damit keines seiner Worte verloren gehe.

Ueber die Rede selbst, die er hielt, will ich nichts sagen; aber daß er ein Sprecher war, und zwar was für einer! das zeigte der Erfolg. Es gab einen allgemeinen, zustimmenden Jubel, der gar nicht enden wollte. Und als er zu uns zurückgekehrt war, erschienen von allen Seiten Boten, Abgesandte und Deputationen bei uns, um Dank und Anerkennung auszusprechen und, was besonders Freude machte, den Beitritt ganzer Ortschaften oder Korporationen zu melden. Diese Besuche und Audienzen nahmen mehrere Stunden in Anspruch, so daß wir viel später zum Essen kamen, als es bestellt worden war. Für die Anmeldung Einzelner oder kleinerer Trupps zur »Shen« war unten im Parterre ein besonderes Bureau angelegt worden. Da wurde ein Jeder eingeschrieben und erhielt dann als Erkennungszeichen eine Arekanuß mit dem betreffenden, eingegrabenen Worte. Schon am Nachmittage gab es in ganz Shen-Fu keinen Menschen mehr, der nicht durch eine irgendwie geformte Betelnuß bewies, daß er ein Kind der »Menschlichkeit«, ein Glied der großen, edlen »Shen« geworden sei.

Der »Shen-Ta-Shi«, der große Tag der »Shen«, fiel auf heut; damit ist aber nicht gesagt, daß dieses Fest mit heut zu Ende gehen sollte. O nein! Heut war der Anbeginn; es dauerte mehrere Tage, und das Ende konnte erst dann ersehen werden, wenn die vielen, auf den Plan gesetzten, wichtigen Berichte und Verhandlungen vorüber waren. Die Auslandsreise unsers Fu hatte große, wenn auch noch nicht besprechbare Erfolge gehabt. Man war aufmerksam geworden. Man hatte sich vorgenommen, zu beachten, zu studieren. Da galt es, deutlicher zu werden, bestimmter aufzutreten, das bisherige Feld zu erweitern, den Ahnungslosen die Augen zu öffnen, Jahrtausend alte Vorurteile zu beleuchten und die guten Regungen der Gegenwart mit allem Nachdruck zu unterstützen. Kurz, es lag eine Arbeit vor, die hohe Kraft erforderte, aber auch einen Segen verhieß, der gar nicht zu ermessen war. Wenn ich so still dasaß und zuhörte, stieg das Bild der »Shen« immer größer, immer höher, immer edler, schöner und mächtiger in mir auf. Ich kam mir so klein vor, obgleich ich hier so deutlich sah, was selbst der Kleinste zu wirken vermag, wenn er für Großes sich begeistert!

Zum endlich beginnenden Festmahle waren alle die Personen geladen, welche man im Abendlande als die »Spitzen der Gesellschaft« von Shen-Fu bezeichnen würde. Wir hatten kaum zu essen begonnen, so drängte sich Jemand herein, der sich von der draußen stehenden Dienerschaft nicht zurückweisen ließ, sondern sie zur Seite schob. Das war Robert Waller, genannt Dilke! Im folgten auf dem Fuße fünf oder sechs Chinesen, welche Blasinstrumente in den Händen hatten. Er befand sich offenbar in großer Erregung. Sein Gesicht war wie verstört; sein Anzug hatte gelitten. Er trat mehrere Schritte vor und fragte, sich an uns alle wendend:

»Ich suche den Mandarinen erster Klasse und Ritter der gelben Flagge Ki Ti Weng. Welcher von Euch ist dieser Mann?«

»Ich bin es,« antwortete Fu sofort, fügte aber in strengem Tone hinzu: »Wer wagt es, mich hier zu stören, ohne zu mir befohlen worden zu sein?!«

Dilke hatte chinesisch gefragt und die Antwort also auch in dieser Sprache erhalten. Er behielt sie bei, während er weiter redete. Er sprach nicht fließend, aber deutlich, nicht richtig, aber verständlich, und wendete den nicht sehr großen Wortschatz, den er besaß, nach den Regeln seiner heimatlichen Grammatik an. Also, um ihn ganz begreifen zu können, mußte man der englischen Sprache mächtig sein. Er richtete sich bei den Worten Fu's hoch und stolz auf und antwortete:

»Wagen? Ich bin ein Mann Gottes, ein christlicher Missionar! Für mich kann es also nie ein Wagnis geben! Ich bin gekommen, Euch selig zu machen, indem ich Euch von Eurem Heidentum und seinen Götzentempeln befreie. Ich habe Euch zu belehren, mit Euch zu sprechen, zu Euch zu reden und zu predigen. Aber diese Eure Musikanten lassen mich nie zu Worte kommen. Wohin ich nur gehe, da gehen sie mit, durch die ganze Stadt, durch alle Gassen. Und wo ich nur stehen bleibe, da bleiben sie auch. Und sobald ich den Mund öffne, um zu sprechen, übertäuben sie mich mit dem höllischen Gequieke ihrer teuflischen Instrumente. Meine Nerven sind schon alle vollständig abgerissen; meine Ohren schmerzen, meine Seele zittert, und wenn ich das nur noch eine Stunde lang ertragen soll, so werde ich verrückt. Darum habe ich mich nach dem höchsten Mandarinen dieses Landes erkundigt, und bin gekommen, ihn über dieses unverschämte Verhalten seiner Bevölkerung zur Rede zu stellen. Ich bin nicht etwa ein hiesiger Mensch, sondern der Untertan einer fremden Macht und der Prediger einer fremden Religion. Als dieses Beides habe ich größere und unantastbarere Rechte als Jedermann, den ich hier vor mir sehe! Wer einem heidnischen Volke die einzig wahre Religion und die einzig wahre Bildung bringt, der muß befehlen dürfen; das ist es, was ich fordere. Und darum erkläre ich hiermit – – –«

Er kam nicht weiter. Die Musici hielten ihre Augen auf John Raffley gerichtet. Dieser hob die Hand zum Zeichen, und sofort gab es einen Lärm, als ob zehn Schweinen die Ohren und fünfzig jungen Hunden die Schwänze abgeschnitten worden seien; so viele schändlich quiekende Stimmen schienen zu hören zu sein! Dilke fuhr mit beiden Händen nach den Ohren und machte eine ganz unbeschreibliche Grimasse. Er wartete aber doch, bis der Skandal vorüber war und fuhr dann fort:

»Ich erkläre also Folgendes: Wenn diese satanische Bande nicht auf der Stelle in Strafe genommen wird, so begebe ich mich sofort und direkt hinauf nach Raffley-Castle und – – –«

Hier fiel die Musik wieder ein, mit noch größerem Eifer als vorher. Da brüllte er vor Wut und Entsetzen so laut auf, daß dieser Schrei sogar die Instrumente übertönte, ballte die beiden Fäuste, warf uns eine Drohung zu, die wir aber nicht verstanden, drehte sich dann um und sprang zur Türe hinaus.

Zur Ehre aller Anwesenden muß ich sagen, daß kein Einziger unter ihnen war, der da lachte. Der Eindruck, den er da gemacht hatte, war ein ganz andrer als vorhin bei dem vergeblichen Redeversuch auf der Tribüne. Mir kam sein Verhalten nicht mehr lächerlich, sondern beinahe unheimlich vor, besonders wenn ich an die fast vollständige Gleichheit mit dem früheren Auftreten seines Oheims dachte.

Es wurde bereits gesagt, daß der Ho-Schang heut nicht nur nach Shen-Fu kommen, sondern auch Raffley-Castle sehen wollte. Das war leicht zu ermöglichen, obgleich voraussichtlich erst nach Abends Anfang von Shen-Fu aufgebrochen werden konnte. Die Straße war vortrefflich, und da der geistliche Herr die Einladung annahm, mit seinen Unterpriestern für die Nacht auf dem Schlosse zu bleiben, so gab es keine Verspätung, die als Hinderungsgrund hätte geltend gemacht werden können. John telephonierte heim, um das dort Nötige vorbereiten zu lassen, und gab sodann auch hier die zur Beleuchtung während des Rittes erforderlichen Befehle. Auf diese Weise erfuhr man, was geschehen sollte, und die Folge davon war, daß sich sowohl bei den Hiesigen als auch bei den Auswärtigen eine Bewegung geltend machte, die auf Raffley-Castle zielte. Ueber die Fan-Fan, die »westlichen Barbaren«, konnten wir nichts erfahren; sie blieben verschwunden. Was aber Dilke betraf, so wurde gemeldet, daß es ihm doch noch gelungen sei, seinen musikalischen Verfolgern zu entkommen. Er war ihnen ganz plötzlich so schnell davongelaufen und hatte dabei eine solche Ausdauer entwickelt, daß sie ganz außer Atem stehengeblieben waren und die Verfolgung aufgegeben hatten. Das war aber nicht hier in der Stadt geschehen, sondern draußen auf dem Lande, weit weg von hier, gegen das Einkehrhaus hin, wo die Straße sich nach Raffley-Castle teilt.

Der Tag hatte sich zur Rüste geneigt und dem Abend Platz gemacht, als wir soweit waren, den Heimritt beginnen zu können. Der Ho-Schang hatte auch um ein Pferd gebeten; das war bequemer als die enge Sänfte. Seine Unterpriester wünschten Maultiere; die waren ruhig und bedächtig. So brachen wir auf. Die Straße war belebt, fast wie am Tage. Viele faßten noch jetzt den Entschluß, nach Raffley-Castle zu gehen, weil sich das Gerücht verbreitet hatte, daß es dort eine große Illumination geben werde. Wir wurden von Läufern begleitet, welche Fackeln trugen. Andere liefen freiwillig nebenher, mit leuchtenden Laternen in jederlei Gestalt. Das gab ein hübsches, abendliches Bild für Alle, an denen wir vorüberkamen.

Am Einkehrhause wurden wir für einige Augenblicke angehalten. Fu bekam Meldungen, die für ihn hier abgegeben worden waren; dabei erzählte der Wirt, daß Einer von den Fan-Fan bei ihm gewesen sei und ihn aber nur gefragt habe, nach welcher Richtung und wie lange er zu gehen habe, um nach Raffley-Castle zu gelangen; weiter nichts. Das war Dilke gewesen, der also im Sinne hatte, seine Drohung wirklich auszuführen. Was aber wollte er dort? Wer droht, der beabsichtigt nichts Gutes. Ein klein wenig besorgt, wenigstens um Waller und seine Tochter, ritten wir weiter.

Es wurde schon einmal erwähnt, daß dieses Einkehrhaus im Walde lag. Als wir aus demselben in das freie Feld kamen, wo der Blick nicht mehr gefangen gehalten wurde, ließ Fu anhalten.

»Wir haben dunklen Himmel, fast keinen einzigen Stern,« sagte er. »Ich habe durch den Wirt das Zeichen nach dem Schlosse geben lassen. Das Kreuz wird gleich erscheinen.«

Kaum hatte er diese Worte gesagt, so flammte es auf, nicht langsam, nach und nach, sondern ganz plötzlich, mit einem Male! Hoch und höher, wie eine plötzliche, ganz unerwartete Gotteswundertat, stand es am nächtlich düstern Firmament erleuchtend und erhebend – triumphierend! So weit es in unserer Nähe Menschen gab, erklangen die Rufe der Freude, des Entzückens. Da legte der Ho-Schang die Zügel über den Sattelknopf, faltete seine beiden Hände und sprach:

»Das kommt so wunderbar! Zwar vorbereitet, aber doch erstaunlich! Wie die Erfüllung eines Menschheitstraumes! Auch ich war Träumer – – träume vielleicht noch! Will es der Herr des Himmels, so werde ich erwachen, bei Euch, bei Euch, und seine Wahrheit, seine Klarheit sehn!«

Das ging uns durch und durch; leicht zu begreifen, bei dieser Situation!

Indem wir die Pferde wieder in Bewegung setzten, erschienen noch drei andere Lichtzeichen, über dem Kreuze und rechts und links von ihm. Diese entstanden nach und nach und wurden um so deutlicher, je weiter wir vorwärts kamen. Endlich erkannten wir sie als die chinesischen Schriftfiguren für Schin, Ti und Ho, die Humanität, die Bruderliebe und den Frieden. Das waren die Worte der »Shen«, die wir auf der Karte unseres Tsi in Kota Radscha gesehen hatten.

Wir ritten so, daß Fu und John den Ho-Schang zwischen sich hatten. Hinter ihnen kam ich mit den Unterpriestern, die sehr ernste, aber außerordentlich aufgeweckte, intelligente Leute waren. Und dann folgten die »Spitzen der chinesischen Gesellschaft«, mitten unter ihnen mein Sejjid Omar, der sich, so weit es ging, sehr lebhaft mit ihnen unterhielt. Er schien seine sprachlichen Erfahrungen heut ausgedehnt zu haben, denn ich hörte ihn in seiner Freude über die Gesellschaft, in der er sich befand, behaupten:

»Für Jedermann, der Mitglied unserer ›Shen‹ geworden ist, gibt es nur drei wirkliche, richtige Sprachen, weiter keine, nämlich die arabische, die deutsche und die chinesische; die andern sind alle bloß nur Redensarten. Also ich kann sprechen; mein Shidi kann sprechen, und Ihr könnt sprechen. Was die Andern sagen, das ist mir ganz egal!«

»Und die englische?« fragte ich, indem ich mich nach ihm umwendete.

»Die fiel mir nicht gleich ein,« antwortete er. »Ich werde darüber nachdenken. Aber weil ich Miß Mary, den Governor und Sir John lieb habe, will ich einstweilen sagen: Sie ist zwar nicht bloß eine Redensart, aber doch weiter nichts als nur ein Dialekt. Nur wo man das ganze Volk lieb hat und nicht bloß Einzelne, da gibt es eine Sprache!«

Indem es ihm nicht möglich war, seinen Gedanken einen bestimmteren Ausdruck zu geben, ahnte er nicht, daß es eine unendlich wichtige Wahrheit war, an welche er mit diesen Worten streifte.

Immer das herrliche Kreuz vor uns, sahen wir trotz der sonstigen Dunkelheit nun bald rechts und links die gigantischen Gingkobäume stehen. Dann erreichten wir den Spießtannenwald, in dem es wieder dunkel wurde. Aber als wir aus ihm wieder in das Freie kamen, wurde es umso heller: Der ganze, weite Platz vor uns war ein einziges, ununterbrochenes Meer von Licht, von Flammenstrahlen. So Etwas hatte ich noch nie, noch nie gesehen, selbst nicht an jenem wohlbekannten lichten Abende im Thale meiner lieben Dschamikun Siehe »Im Reiche des silbernen Löwen« v. Karl May Bd. IV., als das »verzauberte Gebet« im Scheine der Riesenflammen stand, die meine »Seele« angezündet hatte!

Erst nun, erst jetzt war das Kreuz zum Kruzifix geworden. Es schwebte nicht mehr in der Luft, sondern es stand, stand auf der Erde fest. Das Dorf war überaus künstlich beleuchtet und illuminiert. Das hohe, breite Gerüst, welches heut früh bei unserm Ausritte noch nicht fertig gewesen war, bildete jetzt das riesengroße Zeichen »Shen« und stand in einer weithin leuchtenden Flut von heiligem Feuer. Aus diesem flammenden Postament der »Menschlichkeit,« der christlichen Nächstenliebe, wuchs es empor, gewaltig himmelan, das Zeichen des Erlösers. Noch über sei nem Scheitelpunkte, der Kapelle, leuchtete die »Humanität«, der »Friede« rechts, die »Bruderliebe« links an seinen beiden Armen. Das waren die drei andern Gerüste, welche wir schon früh da oben in der Höhe gesehen hatten.

Wie das wirkte – – –! Wie es das Herz erhob – – –! Und Tränen des Gebetes in die Augen trieb – – –! Rundum saßen, lagen und standen tausende und tausende von Menschen, dicht bis ganz zu uns heran, die wir noch ganz am Waldesrande hielten. Der Ho-Schang war tief, außerordentlich tief ergriffen. Er sah vor sich viele, viele seiner bisherigen Buddhisten und sprach mit laut erhobener Stimme:

»Herr, deine Sonne leuchtet uns am seligen Himmelstage; in dunkler Erdennacht strahlt uns die Liebe Derer, die unsre Brüder sind. Du hast sie uns gegeben, diese Liebe, damit wir in ihr wandeln bis zum Morgen, wo deine Sonne wiederkommen wird. So mach' uns stark in ihr! Gib Kraft und guten Willen! Und gib auch das, was uns das Höchste ist hierzu im Himmel und auf Erden: Gib deinen Segen. Amen!«

Da kam ein Reiter langsam unter den nächsten Bäumen hervor. Es war Pfarrer Heartman, der hier auf uns gewartet hatte, um unsere Gäste, die in geistlicher Beziehung besonders die seinen waren, zu empfangen. Sein langes, silbernes Haar wallte weit auf dem Talar herab, den er heut Abend trug. Er lenkte sein Pferd bis hin zu dem Ho-Schang und sprach, indem er seinen Arm erhob:

»Er gibt ihn dir durch diese meine Hand und diese meine Worte: Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr erleuchte dir sein Angesicht und sei dir gnädig. Der Herr erhebe dich zu seinem Angesicht und gebe dir Frieden! Der Herr segne dich und all die Deinen, Euer Kommen und Euer Gehen, nun und in Ewigkeit. Amen!«

Und sich an seine Seite lenkend, bat er ihn:

»Gib mir deine Hand, daß ich dich leite! Wir sind ja Brüder. Ich führe dich empor am Stamm des Kreuzes; das ist der Weg zu Christi Paradies. Dort wirst du den Erlöser stehen sehen, an seiner Brust die ›Shen‹. Ja, komm; ich führe dich!«

Er setzte sich mit ihm an unsere Spitze, und so ritten wir nun zwischen den Wiesen und Feldern und durch das Dorf den breiten Serpentinenweg hinauf zum lichtstrahlenden Schlosse, an dessen Tor Tsi bereit stand, die neuen Gäste zu begrüßen. Ich ging so schnell wie möglich nach meiner Wohnung, denn ich hatte das Bedürfnis, zunächst für einige Zeit allein zu sein, um mit der Verarbeitung der heutigen, äußerlichen Eindrücke innerlich fertig zu werden. Ich hatte es mir aber kaum ein wenig bequem gemacht, so kam der Sejjid und sagte:

»Sihdi, ich habe ihn gesehen!«

Das war so seine Art und Weise, mir in das Haus zu fallen. Er nahm an, daß ich stets wisse, was er in Gedanken hatte.

»Wen?« fragte ich.

»Dilke.«

»Ah! Gesehen? Wo? Etwa hier?«

»Ja, hier.«

»Wann?«

»Unterwegs. Weißt du, der Weg geht von unten an immer herüber und hinüber, bis man oben angekommen ist. Wenn man zum dritten Mal herüberkommt, da stehen vier oder fünf dichte Bäume, die auf arabisch jedenfalls anders heißen als chinesisch; darum weiß ich beides nicht. Hinter diesen Bäumen saß Einer, den man nicht sehen sollte und der uns beobachtete.«

»Und du denkst, daß es Dilke war?«

»Ja.«

»Hast du ihn an irgend etwas erkannt?«

»Am Hut. Ich hätte es dir sogleich gesagt; aber es waren zu viel Reiter zwischen mir und dir, und er sollte doch auch nicht bemerken, daß ich ihn gesehen hatte. Darum komme ich jetzt, um es dir zu sagen.«

»Hm! Es ist möglich, daß du dich nicht irrst, Omar. Willst du mir den Gefallen tun, aufzupassen?«

»Natürlich sehr gern, Sihdi! Ich habe sogar schon daran gedacht, wie ich das mache. Ich schleiche mich nämlich wieder hinunter, aber bloß so weit, bis man zum vierten Male von unten herauf herüberkommt. Dort stehen noch mehr Bäume, die ich gar nicht kenne, und ich kann mich da also so gut verstecken, daß kein Mensch mich sieht. Wenn er dann kommt, so schleiche ich mich hinterher und melde es dir.«

Das war eigentlich nicht sehr pfiffig ausgedacht; aber soeben kam Tsi, der, wie es schien, es sehr eilig hatte, und so befahl ich dem Sejjid, daß er sich genau so verhalten solle, wie er es mir soeben vorgeschlagen habe. Als er hinaus war, sprach Tsi:

»Sir, ich habe Euch in aller Schnelligkeit dreierlei zu sagen, wovon das Eine immer wichtiger als das Andere ist!«

»Nun, was?« fragte ich, durch diese Einleitung wißbegierig gemacht.

»Ich weiß nicht, ob Ihr wißt, daß die Mutter und der Oheim unserer Yin nach Peking an den Kaiserhof berufen worden sind, um dort über unsere ›Shen‹ befragt zu werden. Sie sind mit den vortrefflichsten Botschaften ausgestattet worden und haben sich beeilt, noch heut hier einzutreffen, um sie uns an dem Fest-und Ehrentag der ›Menschlichkeit‹ zu überbringen. Das ist das Eine.«

»Wird man die Beiden heut noch sehen?« erkundigte ich mich.

»Ja; doch später; beim letzten Tee, nicht gleich beim Abendmahle. Sodann: Bitte, schaut mich an, ob ich vielleicht erröte!«

»Ich sehe nichts, gratuliere aber doch, und zwar von ganzem, ganzem Herzen!«

»Gratulieren? Wieso?«

»Nun zur Verlobung!«

Da errötete er nun doch, schlug die Hände zusammen und rief:

»Erraten, wirklich erraten! Wie ist das möglich?«

»Hm! Es wäre sogar eine große Kunst gewesen, es nicht zu erraten! Sie erwarten doch nicht, daß ich viel schöne Worte sage, lieber Freund; Sie wissen, wie gut ich es meine!«

»Still, still! Je stiller Andere sind, desto lauter möchte ich jubeln. So ein Glück, so ein Glück! Da ich nun endlich weiß, wer Sie sind, so weiß ich auch, daß Sie mich verstehen. Millionen haben keine Ahnung davon, was es heißt, daß in der Ehe Geist und Seele sich vereinen sollen, um Geist und Seele zu befreien! Es war Alles so schön, so rein, so eigentümlich seltsam heut. Es kam im Sonnenglanz, wie aus der höchsten Sternenwelt hernieder, jede Silbe, jedes Wort, und auch Alles, was geschah! Waller deklamierte Ihr ganzes Gedicht. Er kann sich nicht von ihm trennen. Es ist für ihn die Fahrt, die Leiter, mit deren Hilfe er sich aus dem Irrtum an die Wahrheit rettete. Noch ist er nicht ganz frei, doch hoffe ich, bis zur völligen Gesundung Alles fernhalten zu können, was ihn zurückzuwerfen vermöchte. Er sprach so viel von Ihnen, den er nun nicht nur achtet, sondern auch liebt. Dann fragte er, ob ein Geistlicher hier sei, und ich mußte ihm den Reverend Heartman holen. Wie dieser Mann auf ihn wirkte, kann ich kaum beschreiben. Diese innere und äußere Aehnlichkeit mit dem malajischen Priester brachte erst Schreck, dann Staunen und endlich ruhige Freude. Das Gespräch kam auch wieder auf das Paradies, und Waller bat, es sehen zu dürfen. Fang hatte nichts dagegen. So brachten wir ihn hinunter in die Halle, wo er sich noch befindet. Er sagt, er fühle sich ganz eigenartig wohl und könne sich von dem Anblick Christi nicht trennen, wie Yin ihn aufgefaßt und dargestellt habe.«

Er sprach sehr schnell, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit. Bald deutsch, bald englisch oder chinesisch. Das war das Glück! Indem er zum zweiten Male errötete, fuhr er fort:

»Er war so glücklich, so froh, so hoffnungsvoll, so lieb! Vor uns das ergreifende Bild vom Paradiese! Dieser Erlöser! Diese ›Shen‹! Und da begann er, zu uns zu sprechen, in gesenktem Tone, ruhig, warm, wenn auch noch nicht ganz klar. Es war zum Herzbrechen, und doch so gut, so gut. Wir weinten, erst Mary, dann auch ich, endlich alle drei. Wie kam es doch? Wir sanken uns in die Arme. Er küßte erst sie, dann mich, und gab uns seinen Segen. Hierauf schloß er die Augen, lächelte wie ein Seliger und schlief ein – – – im Paradiese! Durften wir ihn stören? Nein. Er liegt noch dort! Fang und Mary sind bei ihm. Ich aber wurde abberufen, geholt. Es sei Jemand da, der mich sprechen wolle. Könnt Ihr erraten, wer es war?«

»Robert Waller, genannt Dilke?«

»Ja, dieser. Und das ist das Dritte, was ich Euch zu sagen habe. Ich mußte ihn abweisen, natürlich! Dieser Mann ist im höchsten Grade gefährlich; er darf um keinen Preis mit seinem Onkel zusammen! Ich war sehr kurz mit ihm, konnte ihn also nicht prüfen; aber mir scheint, er gehöre in die Beobachtungsstation eines Irrenhauses. Habt Ihr den Sejjid gefragt?«

»Ja; ich erfuhr Folgendes.«

Ich erzählte ihm, was wir heut früh im Einkehrhause von Omar erfahren hatten. Da nickte er sehr ernst und sagte:

»Also wirklich – – –! Der Letzte seines Stammes – – – die Quersumme seiner Ahnen – – –! Drücken wir es einstweilen in dieser Weise aus; es ist aber noch viel anders! Wißt Ihr, wovor wir stehen? Vor einem geistigen Geburts- und einem geistigen Todesfalle. Sorgen wir dafür, daß die Geburt nicht auch eine Leiche ergibt!«

Das, was er mit diesen Worten meinte, war mir keineswegs unverständlich; darum warnte ich ihn vor Dilke, der noch anwesend sei, aber von dem Sejjid beobachtet werde.

»Beobachtet? Nur beobachtet? Das genügt mir nicht!« erklärte er. »Ich werde sofort das Nötige selbst veranstalten. Bitte, habt die Güte, an meiner Stelle nach dem Paradiese zu gehen und Fang zu veranlassen, daß Waller entfernt werde, aber so leise, daß er nicht erwacht. Der Ho-Schang hat gebeten, es mit seinen Priestern noch vor dem Abendessen sehen zu dürfen.«

Er ging, um seine Absicht auszuführen, und ich begab mich nach dem Gemäldesaal, den ich von einigen Bogenlampen erleuchtet fand, fast mehr als tageshell. Waller schlief nicht mehr; er war soeben aufgewacht. Fang war nicht da; er hatte sich entfernt, und ich konnte mich meines Auftrages an ihn also nicht entledigen.

Wie lieb der Kranke mich empfing! Ich mußte mich zu ihm setzen und ihm meine Hand geben. Er hielt sie lange, lange fest, ohne etwas zu sagen. Endlich mußte ich aber doch das Schweigen brechen und den Beiden sagen, daß Leute kommen würden, und wer sie seien.

»Ein Ho-Schang?« fragte er. »Mit seinen Unterpriestern? Also Heiden – – – Heiden!«

»Darf ich dich nach deinem Zimmer tragen lassen, Vater?« fragte Mary.

»Nein,« antwortete er. »Ich bleibe! Diese Heiden sollen mich hier auf meinem Posten finden! Ich kenne meine Pflicht!«

»Um Gottes willen!« rief sie erschrocken aus. »Vater, laß dich erbitten, mir – – –«

»Sei still, mein Kind; sei ruhig!« unterbrach er sie. »Du hast nichts zu befürchten. Und wenn du glaubst, ich sei meiner Sache nicht gewiß, so erinnere mich nur schnell an deine Mutter! Das, was sie mir auf Erden war, werde mir zum guten Geiste, der mich schützt!«

Da kam Fang wieder. Er hatte nichts dagegen, daß Waller blieb. Und wenn ich die hellen Augen und das stille, glückliche Lächeln des Patienten sah, dachte auch ich, keine Sorge haben zu dürfen. Er lag, halb aufrecht sitzend, in einem leichten Feldbette, unter prächtigen, seidenen Decken. Die Vorhänge waren von beiden Bildern weggezogen. Jetzt aber erschien ein Diener, welcher sie wieder vor sie zog, weil die Herrschaften in einigen Augenblicken erscheinen würden, sagte er.

Und so war es allerdings. Es dauerte nicht lange, so traten sie herein, sie alle, alle, von Fu und John, den beiden Höchsten, an, bis herunter auf die letzten »Spitzen der hiesigen Gesellschaft«. Yin ging heut nicht nach hinten, um, wie bei mir, die Saiten erklingen zu lassen. Sie hatte andere Pflichten, die eine Chinesin sonst nicht zu haben pflegt; nämlich man höre und staune: die »Pflichten der Repräsentation«! Ich beeilte mich, Tsi mitzuteilen, warum Waller sich noch hier befand, und erfuhr sodann von ihm, daß weder der Sejjid noch Dilka zu finden gewesen seien. Das berunruhigte mich, doch war jetzt nichts zu machen. Ich setzte mich da, wo ich bisher gewesen war, nämlich an der Seite Wallers, wieder nieder. Dieser raunte mir zu:

»Der Reverend hat mir die Sage auch erzählt, die er wahrscheinlich jetzt nun vorzutragen hat, vom Lande Ti und für das erste Bild. Für das zweite möchte dann ich Etwas sagen. Bitte, sorgt dafür, daß man mich höre! Leider, leider spreche ich nur schlecht chinesisch, der beste Beweis, daß ich verrückt gewesen bin; aber wenn ich langsam sprechen darf und nicht in Müdigkeit versinke, so wird es mir vielleicht gelingen, trotzdem verstanden zu werden.«

Man war so rücksichtsvoll, den Kranken nicht zu belästigen; es war, als ob er nicht vorhanden sei. Er hatte ganz richtig vermutet: Pfarrer Heartman erzählte als Einleitungsrede die Sage aus dem Lande Ti – ich bitte, sie nochmals durchzulesen – und gab sodann das Bild der einen Seite frei, die Darstellung des Sündenfalles, der Vertreibung des Menschengeistes und aller seiner Untertanen aus dem Paradiese. Es war still, man sagt »kirchenstill«, im ganzen, großen Raume. Niemand sprach ein Wort, kein Einziger; aber man sah diesen buddhistischen Priestern allen an, wie tief, wie außerordentlich tief sie von der gewaltigen Predigt ergriffen wurden, die sie hier nicht hörten, sondern sahen. Und ebenso groß war die Wirkung auf die übrigen Chinesen. Einen der Untergebenen des Ho-Schang hatte die unwiderstehliche Kraft dieser Kunst derart gepackt, daß er am ganzen Körper zitterte und es aber doch nicht vermochte, die Augen von dem Bilde abzuwenden.

Während ich den aus dem Paradiese stürzenden Figuren mit meinem Blicke folgte, bis sie ganz draußen in der scheinbaren Ferne im schmutzig dichten Violett verschwanden, gewahrte ich, daß sich da hinten, zwischen den Bäumen der Orangerie, Etwas bewegte. Es gab jedenfalls einen Menschen dort, der aber so hinter den Zweigen stand, daß sein Körper nicht zu sehen war. Vielleicht waren es auch zwei. Ich dachte sogleich an Dilke, wies aber diesen Gedanken gleich wieder zurück. Warum sollte es grad dieser Mensch sein und nicht, was doch im höchsten Grade wahrscheinlich war, Jemand aus der Dienerschaft!

Jetzt ging der Reverend nach der Leitung, um auch das zweite Bild von dem Vorhange zu befreien. Waller bemerkte das. Er richtete sich schnell gerader auf und begann zu sprechen. Natürlich schauten alle Anwesenden sofort zu ihm her. Die Worte kamen ihm langsam, laut und vernehmlich, doch mit hörbarer Anstrengung von den Lippen. Man bemerkte deutlich, daß er zuweilen nach dem richtigen Ausdruck suchte:

»Und in demselben Lande Ti, doch unten in der Hölle, wo alle Menschen Teufel sind, konnte man noch eine andere Sage hören. Auch sie war viele tausend Jahre alt und lautete folgendermaßen: Als der Menschengeist aus dem Paradies gestoßen worden war, begann er, zu erkennen, wie töricht er gehandelt hatte. Er klagte sich an und jammerte, doch immer so, daß es kein Teufel hörte. Da trat die ›Shen‹ im Traume zu ihm hin und sprach: ›Die Reue ist der Engel der Gestürzten; er führt mich her zu dir. Einst kommt der Herr, mich wieder aufzuwecken und Euch ins Paradies zurückzuführen. Dann seid Ihr wieder Menschen, doch nicht schon Selige. Das Paradies der Erde ist nicht das Himmelreich des Welterlösers, doch hat das Letztere zum Ersteren zu kommen. Wann wird das sein?‹ Sie schwieg für einen Augenblick, erhob das Auge wie in weite Ferne und fuhr dann fort: ›Wenn einst die Macht der »Menschlichkeit« im Herzen aller Welt so groß, so stark geworden ist, daß ein Christenpriester einen Heidenpriester segnen darf, ohne darob selbst verflucht zu werden, dann ist die Stunde da, in der das Paradies zum Himmelreiche wird, zum Reiche Gottes hier auf dieser Erde!‹ So sprach die ›Shen‹. Nun nehmt den Vorhang weg! Ihr sollt nicht nur das Paradies, nein, auch den Himmel sehen; denn jene ferne Stunde, von welcher meine Sage sprach, ist keine andere als die jetzige!«

Welch eine Lautlosigkeit im Saale jetzt! Nur von hinten her klang es wie ein Räuspern. Ich schaute hin. Da stand der Sejjid, hinter Pflanzen, und zwar so, als ob er von irgend Jemand nicht gesehen sein wolle. Er hatte sich aber dennoch geräuspert, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er bemerkte, daß ich zu ihm herschaute. Da deutete er nach der Seite und hob den Finger, um mich zu bitten, aufmerksam zu sein. Natürlich wußte ich sogleich, woran ich war; Dilke hatte sich viel eher in das Castle geschlichen, als wir vermutet hatten, und der Sejjid war ihm so heimlich gefolgt, daß weder der Eine noch der Andere von irgend Jemand gesehen worden war. Dem Ersteren kam es darauf an, seinen Oheim zu entdecken. Er kam an der offenstehenden, hintern Tür des Gemäldesaales vorüber, schaute herein und sah ihn da sitzen, sogar mit seiner Tochter, der Cousine. Da schlich er sich im Schutze der Orangerie herein, um zu erfahren, was es hier gebe. Hinter ihm war der Sejjid hereingekommen, sehr leise, von ihm unbeachtet. Sie beide waren es, die ich schon vorhin bemerkt hatte, ohne zu wissen, wer sie seien.

Während ich diese Bemerkungen machte, ließ der Reverend den Vorhang sich von dem zweiten Gemälde entfernen, und Waller rief, sich an die Gruppe der Budhisten wendend, dem Oberpriester zu:

»Komm her zu mir, Ho-Schang! Ich sage dir, daß ich ein Priester bin. Heut soll das Zeichen in Erfüllung gehen, das unsere ›Shen‹ dem Menschengeiste sagte: Ich will dich segnen, ich, der Christ, den Heiden! Auf diesem Bilde hier ist nur der Weg zum Paradies zu sehen; ich aber zeige Euch das Himmelreich, das höher steht, als alle Erdenparadiese. Ich wiederhole es: Komm her zu mir, Ho-Schang, daß ich dich segne!«

Der Angeredete kam auch wirklich näher, Schritt um Schritt, fast wie im Traume; denn was er hier sah und was er hier hörte, das war, als ob es irgendwo anders geschähe, nicht hier in diesem Leben.

»Ich bin bereits gesegnet,« sagte er.

»Von wem?« fragte Waller.

»Von Heartman, dem Reverend, vorhin, als er uns unten am Flammenbild der ›Shen‹ begrüßte. Da segnete er mich wohl mehr als zu dreien Malen!«

»Also war das Himmelreich schon da, schon hier, noch ehe ich es wußte, und es ist mir darum leicht begreiflich, daß ich nun plötzlich benedeien will, wo ich, der frühere Eiferer, nur maledeien konnte. Doch immer komm! Ich segne dich trotzdem, nicht um etwas zu erfüllen, was schon erfüllt worden ist, sondern wegen – – – meiner selbst!«

Schon streckte er seine beiden Hände aus, da erklang von hinten her eine laute, zornige Stimme:

»Halt ein, Abtrünniger! Du willst segnen, wo Elias einst ohne alle Gnade schlachtete! Bist du toll – – –? Verrückt geworden – – –? Apostat – – –? Dann gehst du ein zur Hölle – – – unbedingt!«

Es war Dilke. Er schritt heran, hoch aufgerichtet, stolz, den Kopf im Nacken, mit zusammengekniffenen Lippen und funkelnden Drohaugen, wie Einer, der sich naht, um schreckliches Gericht zu halten! Ohne daß er es merkte, folgte ihm der Sejjid, der ihn nicht aus dem Auge ließ, um bei vorkommender Ursache schnell bei der Hand zu sein. Wie sah dieser Dilke aus! Genau wie das verkörperte Gegenteil von seinen hochtrabenden Worten! Er kam nicht ganz heran. Wohl über zehn Schritte von Waller entfernt, blieb er stehen und sagte, indem er eine verächtliche, wegwerfende Handbewegung machte:

»Da liegt es nun, das ganze, ganze Christentum der Wallerschen Familie! Eine Schande für Alle, die sich die Mühe gaben, es zu errichten, und dann im Stolz auf dies ihr Werk als Heilige sich in die Grube legten! Ich schaue hin und schäme mich des Namens, den ich trage. Dieses Angesicht, das hier vor mir – – – mir – – – mir – – –«

Das Wort erstarb ihm auf den Lippen, langsam, immer schwächer werdend. Von dem Hintergrunde des Saales aus hatte er seinen Oheim nur von Weitem gesehen. Jetzt richtete er sein Auge aus der Nähe auf ihn, und da war es, als ob ihm bei diesem Anblicke die Sprache verloren gehen wolle und mit ihr noch vieles, vieles Andere. Sein Gesicht veränderte sich. Seine Augen wurden starr. Sein Mund öffnete sich, wie bei Jemand, der im Ohre taub ist und doch etwas hören will. Seine Hände fielen nach unten und spreizten die Finger aus – – – aber ich konnte ihn nicht weiter beobachten, weil nun Waller meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

Tsi und Fang, die beiden Aerzte, waren sofort zu ihrem Patienten herangetreten, als sie erkannten, daß ihm jetzt nun die befürchtete innere Aufregung nicht mehr erspart werden könne. Warum sahen sie beide so streng, fast wie unerbittlich aus? Warum hielt besonders Tsi beide Fäuste geballt? So entschlossen sieht nur Derjenige aus, dem ein Kampf auf Leben und Tod bevorsteht! Ich ahnte es. Es galt geistiges Leben und geistigen Tod! Und auch die Andern alle traten dem Eingedrungenen gegenüber zusammen, als ob sie deutlich fühlten, daß ihnen von ihm aus schwerer, innerlicher Schaden drohe.

Waller war vorher in guter Stimmung und ganz wohl gewesen. Dann hatte ihn jedenfalls das laute und längere Sprechen etwas angegriffen gehabt. Jetzt nun schien ein doppelter Einfluß über ihn zu kommen, ein stärkender und ein schwächender, einer, der ihn heben und einer, der ihn niederdrücken wollte. Sein Gesicht fiel plötzlich zusammen, so daß er aussah wie in den schlimmsten Tagen seiner Krankheit. Seine Augen wurden stier; sein Mund öffnete sich, und seine Hände und Finger spreizten sich genau wie bei Dilke. Aber mit kräftiger Stimme und in entschlossenem Tone sagte er:

»Ich muß mich aufrichten – – – ich muß stehen – – – selbst wenn ich wieder zusammenbrechen müßte – – –! Ich bin kein Waller mehr – – –! Haltet mich – – – ich bitte Euch!«

Ich warf einen fragenden Blick auf Fang und Tsi. Beide nickten zustimmend. Da nahm ich Waller unter den Armen, hob ihn vom Lager, stellte ihn aufrecht hin und lehnte ihn an mich fest. Mary schob schnell ihren Sitz heran und schlang ihre Arme ebenso um den Vater. So stand er aufrecht, ohne daß er fallen konnte; Beide nun einander gegenüber.

Das war eine eigenartige, beängstigende, für den Psychologen freilich hochinteressante Situation! Der Eine hatte beinahe denselben Gesichtsausdruck wie der Andere. Das geistig Bewußte trat zurück, fast zusehends, möchte ich sagen; die Sicherheit wich aus den Blicken, und die Stimme Wallers klang ungewiß und doch und doch auch energisch, als er jetzt in unterdrücktem Tone sagte:

»Es soll mich Jemand verlassen und will doch nicht! Ich werde schwächer – – –. Wer steht da drüben, wer? Ich fühle, daß ich es war – – – und dennoch bin ich hier!«

Und drüben sprach der Andere mit grinsendem Gesicht:

»Da nimmt er alle Kraft zusammen und wird doch nur von Andern aufgerafft! Aber wer – – – wer – – – wer ist – – – wer spricht – – – holla! Ich bin ja doch nicht er! Bin ich es etwa, der nun am Boden liegt, weil der da drüben aufgestanden ist?«

Das Letztere hatte er laut, sehr laut gesagt. Da rief ihm Waller ebenso laut zu:

»Wer bist du? Sag es! Der Neffe oder der Oheim?«

Da antwortete Tsi schnell an des Gefragten Stelle, fest, bestimmt und scharf, jede Widerrede abschneidend:

»Beides ist er, Beides! Die beiden einzigen Waller, die es hier gibt, das ist er! Er allein!«

Als ich diese Worte hörte, ging es mir durch und durch. Ich hatte beinahe dasselbe Gefühl wie damals, als mein Hadschi Halef Omar bei den Dschamikun im Sterben lag und der Ustad die bereits fliehende Seele dadurch festhielt, daß er ihn, genau so laut, bestimmt und nachdrücklich wie hier, bei allen seinen Namen und auch nach seinem Titel nannte Siehe: »Im Reiche des silbernen Löwen« v. Karl May, Bd. III pag. 307.. Wie sonderbar! Hier in China ganz dieselbe Ansicht über Geist und Seele des Menschen wie damals dort in Persien.

Die Wirkung war eine sofortige. Drüben erscholl ein Schrei und auch hüben erscholl ein Schrei. Dann starrten sie einander an, ohne Ausdruck in den Gesichtern und ohne Worte. Das war der Augenblick, der entscheidende, der fürchterliche, entsetzliche! Sie standen einander gegenüber, beide: der aus der geistigen Nacht Kommende und der in die geistige Nacht Gehende! Konnten sie aneinander vorüber? War es möglich, den schon fast Geheilten wieder mit hinabzuzerren?

»Vater, lieber Vater,« bat Mary voller Angst, indem sie sich fest an ihn drückte. »Erlaubst du, daß ich Mutter rufe? Bleib hier; bleib hier!«

Da suchte seine Hand nach ihr. Sie ergriff sie und drückte sie in wiederholtem Kuß an ihre Lippen. Das erlöste ihn von den Augen seines Gegenübers. Er konnte den Blick von ihm losreißen und auf seine Tochter richten.

»Mein Kind, mein liebes, liebes Kind!« hauchte er, tief, tief Atem holend. »Das war grad noch zur rechten Zeit; ich hörte dich kaum mehr, so weit war ich schon fort, wieder fort, in die Heidentempel hinein. Schon hörte ich es wieder knistern und brennen. Da riefst du mich zurück, du Seele deiner Mutter! Ich bin wieder da, bei dir. Aber es packt mich Jemand an. Es ist wie eine Faust, die mir im Kopfe wühlt, um meine Gedan ken, die richtig sind, mit falschen zu vertauschen! Ein fremder, und mir aber doch nur zu gut bekannter Geist!«

Er sprach die letzten Sätze lauter als die ersten. Dilke hörte sie und rief ihm zu:

»Ein Geist? Du Narr! Der Glaube ist es, der Glaube, den deine Ahnen dir hinterlassen haben, damit die Heidenwelt durch ihn bezwungen werde. Bist du ein Mann, und hast du Mut, so bekenne ihn. Ich frage dich: Bist du ein Waller oder nicht? Leben oder Tod – – –? Seligkeit oder Verdammnis – – –? Wähle!«

»Ich bin ein Mann,« antwortete Waller. »Ich fürchte mich nicht – – nicht vor dir und will – – will – – – will – – –«

Er wurde irr. Er vergaß, was er hatte sagen wollen. Das war der entscheidende Augenblick. Von drüben schauten zwei scharfe, stechende, diabolisch funkelnde Augen zu ihm herüber, die ihn wieder packen und fassen sollten, um ihn festzuhalten, fest! Da kam die Rettung: Tsi flüsterte ihm zu:

»Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein! Besinnt Euch, Sir; besinnt Euch! Wißt Ihr es noch, wie das beginnt?«

»Ja – – ja – – ich weiß es – – weiß, weiß es noch! Eben, eben kommt es mir!« antwortete Waller, indem sein Gesicht wieder Seele, wieder Spur von Geist, wieder selbständigen Ausdruck bekam. »Der Anfang ist: Tragt Euer Evangelium hinaus!«

Da forderte ihn Tsi mit lauter Stimme auf:

»So werft es ihm doch hinüber! Schleudert ihm diesen Felsen zu, damit er ihn zerschmettere!«

Da richtete Dilke sich so hoch wie möglich empor, breitete die Arme aus, ballte die Fäuste und schrie herüber:

»Ja, wirf, du Knirps, du Sklave deiner ›Shen‹, die nichts als quieken kann, wenn starke Geister sprechen! Wirf zu, wirf zu; dann aber faß ich dich!«

Da griff Waller mit der Linken nach der Hand seiner Tochter, breitete die Rechte aus, zum Zeichen, daß er sprechen werde, und begann:

»Tragt Euer Evangelium hinaus, Doch ohne Kampf sei es der Welt beschieden, Und seht Ihr irgendwo ein Gotteshaus, So stehe es für Euch im Völkerfrieden. Gebt, was Ihr bringt, doch bringt nur Liebe mit; Das Andre alles sei daheim geblieben. Grad weil sie einst für Euch den Tod erlitt, Will sie durch Euch nun ewig weiter lieben.«

Er hatte fast schüchtern und mit unsicherer Stimme begonnen, doch nach und nach klang es immer bestimmter und klarer. Und das war es ja, was Tsi bezweckte. Grad an der Hand dieser Strophen hatte Waller sich während seiner langen Krankheit aus der Tiefe emporgefunden, zwar langsam, langsam, aber doch. Jetzt, da er wieder sinken sollte, jäh und schnell, im Sturze, war Tsi überzeugt, daß sie sich abermals bewähren würden, vielleicht noch mehr und besser, als in der Langsamkeit. Es war auch ganz eigen, was für eine Veränderung mit ihm vorging, während er diese acht Zeilen sprach. Er streckte sich; er schien höher zu werden. Er lag nicht mehr so schwer an meinem Körper, sondern er wurde leichter, von Zeile zu Zeile leichter, also kräftiger. Der Geist hatte sich nicht nur am Rande des Abgrundes festgehalten, sondern er nahm auch schnell die Herrschaft über den Körper zurück und verlieh ihm Kraft zum ferneren Widerstand.

Ganz anders war das Bild, welches sich da drüben ergab, wo der Gegner stand. Er hatte seine herausfordernde Pose nur bis zum Worte »Völkerfrieden« beibehalten. Bei den Worten »bringt nur Liebe mit« ließ er die ausgebreiteten Arme nieder. Die Gestalt sank zusammen. Die Gesichtszüge begannen sich zu verzerren. Und bei den letzten Worten »nun ewig weiter lieben« zog er die Schultern wie unter Schmerzen in die Höhe, fuhr sich mit den Händen nach den Ohren und rief:

»Lieben, lieben, lieben und nur immer lieben! Das ist ja eben die ›Shen‹, die ›Shen‹, die ›Shen‹! Ich höre sie schon von Weitem, die Pfeifen, diese verdammten, verdammten Pfeifen! Verflucht sei dieses Gequieke, dieses ewige, unendliche Gequieke von Liebe, von Liebe, von Liebe! Wenn das hier wieder beginnt und so weitergeht wie bisher, so mache ich es wie der Teufel dort auf dem Bilde: Ich stürze mich in den Abgrund und nehme meine ›Hen‹ mit mir! Dann mögt Ihr Euch lieben, so lange Ihr wollt, meinetwegen in Ewigkeit; ich aber habe dann meine Ruhe!«

Er faßte sich an der Brust und zerrte da am Gewande herum, als ob er sich selbst zerreißen wolle; aber Waller begann nun wieder:

»Tragt Euer Evangelium hinaus, Indem Ihr's lebt und lehrt an jedem Orte, Und alle Welt sei Euer Gotteshaus, In welchem Ihr erklingt als Engelsworte. Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein; Laßt ihren Puls durch alle Länder fließen; Dann wird die Erde Christi Kirche sein Und wieder eins von Gottes Paradiesen!«

Zu dieser Strophe verhielt sich Dilke anders als zu der vorigen. Er wartete mit seinen Einwendungen nicht, bis sie fertiggesprochen war, sondern er brüllte seine Bemerkungen direkt in die Zeilen hinein.

»Lebt, lebt, lebt!« schrie er. »Ich soll mein Evangelium leben! Während alle Andern ihr Leben genießen, soll ich der einzige Heilige sein, ein Fakir, ein Anachoret, ein Büßer, der die Sünden der Andern trägt; ich danke! – – – Alle Welt mein Gotteshaus – – – und dann jeder Mensch und jeder Mongole und Hottentott mein Bruder! Verrückt, verrückt! – – – Engelsworte! Zunächst haben wir über etwas ganz Anderes zu reden! – – – Liebe nur, Liebe allein, Liebe, Liebe, überall nichts als Liebe! Jetzt kommen sie; jetzt sind sie da, die Bläser, die Pfeifer, die Quieker, die Ohren-und die Nervenmörder! Wo soll ich hin, wo soll ich hin?! – – – Christi Kirche – – – Gottes Paradies! Mensch – – Schurke – – Schuft, merkst du denn nicht, daß du wahnsinnig bist, blöde, umnachtet, toll, verrückt, ein Trottel, ein Narr, ein Idiot! Hörst du denn nicht, daß du schon gar nicht mehr vernünftig reden kannst, sondern nur noch quiekst – – quiekst – – – quiekst! Wenn du nicht aufhörst, schlage ich dich nieder – – – hier auf der Stelle!«

Er zog die Finger wie zu Krallen zusammen und wollte sich auf Waller stürzen. Da aber trat ihm Tsi entgegen, bohrte ihn mit den Augen fest und wiederholte in dringender, schwer gewichtiger Weise:

»Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein; Laßt ihren Puls durch alle Länder fließen; Dann wird die Erde – – –«

Er kam nicht weiter, denn Dilke brüllte wutheulend auf:

»Nun auch noch der – der – – der! Das ist die ›Shen‹, die ›Shen‹! Nun wohl, so mache ich es wie der Teufel: Ich stürze mich in die Tiefe!«

Er rannte nach der Tür, nicht nach der hintern, durch die er gekommen war, sondern nach der vordern. Als er sie erreichte, blieb er stehen, drehte sich nach uns um, kam eine ganze Zahl von Schritten wieder zurück, langsam, bedächtig, überlegend, und sagte dann wie heimlich, aber doch so laut, daß wir alle es hörten:

»Wir sind nämlich zwei Raufbolde, ein religiöser und ein zivilisatorischer. Der religiöse bin ich; der zivilisatorische ist er. Ich bin der Oheim, und er ist der Neffe. Ich heiße Waller und er heißt Dilke. Ich muß hinunter in den Schlund. Er weiß nichts davon, obgleich ich es Euch durch seinen Mund gesagt habe; aber er muß mit. Schade um ihn! Er hätte so gut, so außerordentlich gut für mich gepaßt, wenn ich bleiben dürfte! Er war eine bessere, viel bessere Waffe als dort der Alte. Den bin ich los – und er mich auch – – – für alle Ewigkeit!«

Als er dies gesagt hatte, nickte er uns auf ganz eigenartige Weise zu, machte mit dem Arme eine Bewegung, die wir uns nicht deuten konnten, wendete sich nach der Tür zurück und ging hinaus.

»Omar, schnell, ihm heimlich nach,« befahl ich meinem Sejjid; »damit wir erfahren, ob er auch wirklich geht, und wohin!«

Er folgte ihm augenblicklich. Ich ließ Waller nun wieder auf sein Lager nieder, übergab ihn den beiden Aerzten und wollte mich dann schnell entfernen.

»Wohin?« fragte mich Tsi, von Andern ungehört.

»Auch hinaus,« antwortete ich. »Mein Diener ist vielleicht nicht genug.«

»Und wenn Sie tausend Menschen mit sich nähmen, Sie würden doch nichts ändern können. Heute abend wird die alte Wallersche Hauspostille zugeschlagen und versiegelt, für immer und für ewig; darauf können Sie sich verlassen! Doch gehen Sie, damit Sie sich überzeugen. Aber sobald Sie sehen, daß ich Recht habe, so bitte, schweigen Sie, bis Sie mich wieder sprechen können. Heut ist ein Fest- und Freudentag. Der Tod soll ihn Keinem von Denen, die wir lieben, noch in der letzten Stunde zum Trauertage machen.«

»Und schnell noch Eins: Ist Waller gerettet?« erkundigte ich mich. »Er sieht fast munter aus!«

»Sie haben es ja gehört: Er ist ihn los, für alle Ewigkeit. Natürlich ist er nun gerettet. Sie sehen und hören, ich mußte unerbittlich sein. Nun gehen Sie!«

Ja, ich ging. Wie selbstverständlich alle diese Dinge für ihn lagen, die von Millionen noch nicht einmal geahnt worden sind!

Eben als ich draußen die Tür hinter mir zumachte, kam der Sejjid von der Treppe her, auf der mich Yin aus dem Garten des Ahnensaales hier heraufgeführt hatte.

»Nun?« fragte ich ihn. »Schon wieder hier? Du sollst ihm doch folgen!«

»Das habe ich getan, Sihdi. Er ist fort.«

»Wohin?«

»Hinaus, aus dem Schlosse. Nun wird er die Straße hinabgehen nach dem Dorfe. Ich konnte ihm da nicht folgen, weil es zu hell ist; er hätte mich gesehen. Auch hatte ich keine Lust, ihm über die Mauer nachzusteigen. Wäre er durch das Tor gegangen, so könnte ich noch gar nicht wieder hier sein. Aber er hatte es sehr eilig und schwang sich gleich über die Brüstung hinaus auf die Straße.«

»Brüstung? Wo? Wo ist die Stelle?« fragte ich. »Hier im Innern des Schlosses führt doch keine Straße vorüber.«

»Gleich da unten, in dem Garten,« antwortete er.

»Wo du soeben herkommst?«

»Ja.«

»Schnell, führe mich! Ich muß die Stelle sehen!«

Er stieg mir voran, in den Garten hinab. Links sah ich die Tür, durch welche ich aus dem Ahnensaal getreten war. Rechts, ganz vorn, hatte ich dann gestanden und über die Mauer in die ungeheure, senkrecht abfallende Tiefe hinuntergeschaut. Dahin ging Omar.

»Hier ist es,« sagte er. »Er mochte mich gehört haben, denn er machte sehr schnell. Nachgesehen habe ich ihm nicht, weil es hier an dieser Ecke fast vollständig dunkel ist.«

»So danke Allah, daß du ihm nicht nachgestiegen bist, lieber Omar!« sagte ich, indem es mir wie kalter Schauer durch die Glieder ging. »Da draußen ist keine Straße, sondern es gähnt ein Abgrund, in dem ein Jeder, der hinunterstürzt, ganz unbedingt zerschmettern muß. Dieser Dilke ist tot. Aber halte es geheim! Du darfst nicht eher davon sprechen, als bis ich es dir erlaube, zu keinem Menschen!«

Er schüttelte sich vor Grauen, sah still zu Boden und fragte dann:

»Sihdi, darf ich Etwas sagen?«

»Ja. Was?«

»Ich möchte gern wissen, was er nun eigentlich gewesen ist, ein Offizier oder ein Missionar.«

»Ein Mensch war er; das mag dir genügen. Ein armer, unglücklicher Mensch, der falsche Wege ging und darum sich hier in diesen Schlund verirrte.«

»So gehe ich jetzt hinauf in die Kapelle, um für ihn zu beten. Darf ich das, obwohl er Christ gewesen ist und ich aber Muhammedaner bin?«

»Wie du nur erst noch fragen kannst, Sejjid Omar! Das wundert mich!«

»Du wunderst dich? Ich möchte – – – ah, ich weiß, ich weiß; jetzt fällt es mir ein! Ich gehöre ja zu unserer großen ›Shen‹ und darf darum für alle Menschen beten! Wie herrlich das ist, wie herrlich! Ich gehe also hinauf, hinauf!«

Er begab sich nach der Straße hinaus, die zur Kapelle führte. Ich stieg die Stufen wieder empor, um Tsi im Bildersaal zu melden, was ich erfahren hatte. Die Gruppen der dort Anwesenden hatten sich aufgelöst, die Figuren der Bilder einzeln zu betrachten. Yin hatte sich dem Ho-Schang zugesellt, um ihm die Bedeutung dessen, was er nicht begriff, zu erklären. Nur dort bei Waller gab es mehrere Personen. Tsi stand mit Fang bei ihm und Mary. An seiner andern Seite hatte der Governor den Stuhl, auf dem ich saß, jetzt eingenommen. Tsi sah mir an, daß ich zu ihm wollte, und kam mir entgegen, damit Niemand höre, was ich ihm zu sagen hatte. Er nahm es ruhig hin, ohne ein einziges Wort der Verwunderung oder gar des Schreckes.

»Das war die Lösung, das!« sagte er. »Es konnte und durfte gar nicht anders kommen. Daher meine Unerbittlichkeit gegen diesen Abgeschiedenen. Nur so augenblicklich schnell hatte ich es nicht erwartet. Zwei solche Raufbolde in einem einzigen Körper, das ist zu viel!« Und lächelnd fügte er hinzu: »Das ist sogar zu viel für ein ganzes Volk, für eine ganze Nation, für die ganze Menschheit! Und doch haben wir sie Jahrtausende lang ausgehalten und begünstigt, diese beiden unverbesserlichen Händelsucher in unserm Menschheitskörper! Auch sie haben abzustürzen, haben zu verschwinden in der Tiefe, wo das Licht für unsere ›Shen‹ geboren wird! Denn, wissen Sie, was da unten liegt, wohin Dilke stürzte?«

»Etwa Ihr Elektrizitätswerk, wie ich aus Ihren Worten vermute?«

»Ja. Da fällt im sich verengenden Felsenkamin das Wasser in die senkrechte Tiefe und wird unten aufgefangen, um Licht zu erzeugen und dann die Gärten, Wiesen und Felder zu befeuchten.«

»Schrecklich! Also ist an eine Rettung Dilkes gar nicht zu denken?«

»Er ist tot, unbedingt tot. Wir brauchen gar nicht erst zu forschen. Bedenken Sie doch die Kraft des Sturzes und dann des Wasserfalles! Wenn er nicht vollständig zermalmt und zerrieben wird, so hat das höchstens, falls seine Leiche in das Werk gerät, eine kurze Störung des elektrischen Stromes zur Folge. Ich will aber trotzdem gleich den Oekonom und auch den Ti Pao Dorfältesten. verständigen, weil man nicht hiervon reden, mich aber sofort benachrichtigen soll, welches Resultat die Nachforschung ergibt.«

Er eilte fort, um das, was er gesagt hatte, auszuführen, wobei er dem obersten Tschu-Tse Koch. begegnete, welcher in chinesischem full dress hereintrat, um mit lauter Stimme zu melden, daß das Mahl des Abends angerichtet sei. Yin kam sofort herbei, hing bei dem Governor ein und gab das allgemeine Zeichen, ihr zu folgen. Als sie Beide an mir vorübergingen, rief er mir, indem sein Gesicht vor Wonne strahlte, zu:

»Da, schaut her, Charley! Die Wette habe ich verloren, aber meine Yin dafür gewonnen und die ganze, ganze, herrliche ›Shen‹ dazu! Ich tausche mit keinem Menschen, nicht einmal mit Euch!«

Waller hörte das.

»Auch ich habe gewettet und verloren,« sagte er, »aber doch noch viel, viel mehr gewonnen, als dieser alte, prächtige Governor! Nun werde ich wohl nach meinem Zimmer geschafft?«

Er sah Fang bittend an.

»Nein,« antwortete dieser. »Es ist bereits ein Sitz für Euch bereitet. Könnt Ihr auch nicht mit essen, so sollt Ihr doch sehen und hören und Euch mit uns allen freuen. Euer Platz ist zwischen Tsi und Miß Mary. Fu hat das so gewünscht!«

Waller verstand gar wohl, was diese Anordnung des hohen Reichsbeamten für ihn und Mary zu bedeuten hatte. Er lächelte mir unendlich glücklich zu und sagte:

»Verzeiht mir, Sir, daß ich Euch dasselbe sage, wie der Governor! Ich tausche mit keinem Menschen, nicht einmal mit Euch, aber auch nicht mit ihm!«

Da wurde er fortgetragen. Wie gönnte ich ihm diese Freude!

Nun ließ ich die Gäste alle an mir vorüber und folgte erst dem letzten von ihnen, war aber dennoch nicht der allerletzte, denn unterwegs kam Tsi noch hinter mir her. Er hatte in Beziehung auf Dilkes Leiche die nötigen Weisungen gegeben und wußte, daß man nach ihnen handeln werde.

Es wurde in dem großen, vielfensterigen Raume gespeist, den man im alten Heimatsschlosse den Bankettsaal nannte; hier aber war er ein Blumensaal im entzückendsten Sinne des Wortes. Es wurde uns da die große Freude zuteil, die Mutter und den Oheim unserer Yin schon jetzt zu sehen. Sie hatten sich entschlossen, nicht erst bis zum letzten Tee zu warten. Raffley fragte mich, ob ich wohl gern zwischen diesen Beiden sitzen möchte, und es versteht sich ganz von selbst, daß ich noch ganz besonders um diese Ehre bat.

Der Oheim war ein großer Gelehrter; aber sein Wissen war nicht nur aus Büchern, sondern noch vielmehr aus dem praktischen Leben geschöpft. Er wurde sehr bald mitteilsam bis zur liebenswürdigsten Aufrichtigkeit. Die Mutter war eine Seele. Das genügt; mehr brauche ich nicht zu sagen. Den Hauptgegenstand des Gespräches zwischen uns Dreien bildete der Ahnenkultus, und je mehr ich auch hier wieder Aufklärung über ihn bekam, desto mehr taten mir die oberflächlichen Menschen leid, die so falsche Ansichten über ihn haben. Uebrigens erfuhren wir unter der Hand, daß der Ho-Schang nach Tisch das kaiserliche Schreiben überreichen werde, welches er schon in Shen-Fu hatte übergeben wollen. Er hatte die richtige Zeit hierfür wegen Dilke versäumt, und nun gebot ihm der Gebrauch, bis nach der Abendtafel zu warten. Es sollte nicht das einzige »kaiserliche« sein, welches Fu zu erhalten hatte.

Die Speisenfolge mochte bis zur Hälfte vorüber sein, da trat eine interessante Unterbrechung für uns ein. Die große, breite Tür wurde ganz geöffnet, und es kamen zwölf mit Blattgewinden und Blumen geschmückte Chinesen anmarschiert, an ihrer Spitze mein Sejjid Omar, vollständig in grünes Geranke und vielfarbige Blüten gehüllt, in der Hand einen langen Stab, an dessen Spitze eine Anzahl Arekanüsse hingen und über ihnen eine weiße Pappe mit dem Zeichen »Shen«. Er stellte die Chinesen in einer Reihe quer vor uns auf, setzte sich in seine eindrucksvollste Positur, schwang den Stab einige Male hin und her und begann, teils arabisch, teils englisch, malajisch und chinesisch, wie es ihm grad auf die Zunge kam, folgendermaßen zu sprechen:

»Wir sind eine Deputation von Aufwieglern, Rebellen und Empörern. Wir wollten eine große Revolution machen, aus der aber nichts geworden ist, weil wir nichts davon wußten. Und als wir es erfuhren, da machten wir nicht mit. Denn als der Ho-Schang seine Rede auf dem großen Platze in Shen-Fu gehalten hatte, da wurden plötzlich alle gescheit, die dumm gewesen waren. Das darf aber bei einer richtigen Revolution nicht sein, und darum wurde es eben keine! Die Fremden aus dem Abendlande hatten uns über die große, menschenfreundliche ›Shen‹ belogen. Sie hatten sich sogar lustig über sie gemacht und sie als eine Albernheit bezeichnet, die bei ihnen gar nicht vorkommen könne. Aber hier bei Euch erkannten wir dies als die größte Lüge, zu welcher in unserm Lande und in unserm Volke gar Niemand fähig wäre. Darum bereuten wir es, diesen Fremden unser Vertrauen geschenkt zu haben. Wir beschlossen, Euch um Verzeihung zu bitten, und wählten unter uns eine Gesandtschaft von zwölf Männern aus, welche die Macht besaßen, sich als unsere Deputation zu Euch zu begeben, um an unserer Stelle zu Euch zu reden. – – – Sobald wir uns gewählt hatten, gingen wir aus dem Dorfe herauf nach dem Schlosse. Aber als wir es erreichten, war unsere Macht zu Ende, denn wir bekamen Angst und fürchteten uns, vor Euch zu erscheinen. In dieser Not waren wir so glücklich, mich zu finden, weil ich grad von der Kapelle herunterkam und dabei an uns vorüberging. Wir faßten Mut und fragten mich nach Euch. Ich aber antwortete uns sehr freundlich und bereitwillig, weil ich doch zu unserer ›Shen‹ gehöre. Ich erteilte uns den besten Rat, den es gab. Ich sagte uns, daß ich der einzige Mann sei, der uns Hülfe bringen könne, weil ich so gut chinesisch rede. Ich machte ihnen diesen Stab des Friedens und der Verzeihung, und sie putzten mich mit Blättern und mit Blumen an. Dann führte ich uns hierher. Seit ich zum Rädelsführer der Verschwörer ernannt worden bin, haben wir ganz neuen Mut gewonnen, und ich bitte um die Erlaubnis, meine Rede halten zu dürfen, damit ich sagen kann, was wir von Euch und von der ›Shen‹ uns wünschen!«

Diese Einleitung machte einen so vorzüglichen Eindruck auf uns, daß wir gleich alle zusammen antworteten, er solle nur so schnell wie möglich anfangen. Da hielt er uns denn eine Rede, die ich trotz ihrer Mängel als ein kleines Meisterstück bezeichnen möchte. Ja, es ist wahr, wir kamen aus dem Lächeln über seine eigenartige Ausdrucksweise gar nicht heraus, aber auch nicht aus der herzlich tiefen Rührung, in der er uns ohne Unterbrechung festzuhalten wußte. Sie hätten gar keinen bessern Dolmetscher ihrer Reue, ihrer Umkehr und ihrer guten Vorsätze finden können, diese sogenannten Rebellen und Empörer. Daß sie einsahen, verführt worden zu sein und üble Vorsätze gehabt zu haben, das brauchte uns nicht zu wundern, denn sie waren ja denkende Menschen. Aber sie ließen uns bitten, sich oben an der Kapelle versammeln zu dürfen, wo der Reverend im Namen der »Shen« zu ihnen sprechen und ihnen ihre Sünden verzeihen möge! Und nach der Ursache dieses Wunsches gefragt, ließen sie durch den Sejjid erklären, sie seien aus Feinden in Freunde der »Shen« verwandelt worden, sie möchten aber noch mehr werden, nämlich Mitglieder; dies sei aber ohne vollständige Vergebung nicht möglich, und hierzu müsse ihrer Ansicht nach nicht ein gewöhnlicher Mann, sondern ein Priester erforderlich sein. Das war doch mehr als das, was man erklärlich oder gar selbstverständlich nennt!

Der Reverend fragte bei Fu und John mit einem Blicke an. Beide nickten. Darum gab er den Bittstellern den Bescheid:

»Der Tag der Feindschaft gegen uns ist fast vorüber. Nur eine Stunde noch, dann ist es Mitternacht. Bringt Eure Leute her, um diese Zeit des Schrittes in das Neue! Ich will mit einem Gotteswort beim Klang der Orgel Euch hinüberleiten. Ihr ahnt den bessern Morgen. Ihr sollt ihn nicht bloß ahnen, sondern sehen, mit erleben. Jetzt geht!«

Kaum daß sie sich entfernt hatten, wurde Fu abgerufen. Es sei soeben ein Pao-Chin-Ti Eilbote. mit einem kaiserlichen Schreiben angekommen. Er kehrte erst nach einiger Zeit zurück, da dieser Mann in gebührender Weise empfangen und als hoch willkommener Gast behandelt werden mußte. Sein Gesicht war ernst, außerordentlich ernst. Man sah ihm an, daß es sich um eine ungewöhnliche, sehr wichtige Sache gehandelt hatte. Er hielt das Schreiben in der Hand, ging nach seinem Platze, setzte sich aber nicht, sondern blieb stehen und sagte, während Aller Augen an seinen Lippen hingen:

»Dieser erste Tag der ›Shen‹ schließt für mich ernst und schwer. In meiner Hand liegt hier das Schicksal ganzer Völker. Wir alle sind einander eng verwandt. Es ist also nicht nötig, daß ich schweige. Ich darf es nicht nur sagen; Ihr sollt das Schreiben hören, Wort für Wort.«

Er faltete es auseinander und fügte zur Vorbereitung noch hinzu:

»Wir hörten vorhin sagen: Der Tag der Feindschaft gegen uns ist fast vorüber. Nur eine Stunde noch, dann ist es Mitternacht. Ich aber weiß: Der Tag der Feindschaft ist noch nicht vorüber. Vielleicht ist es noch weit bis Mitternacht! Hört, Freunde, was ich lese!«

Wie gespannt wir waren! Er hob das Schreiben zur Augennähe empor und begann. Aber kaum erklangen die ersten Worte, die er las, so erschallte vom Tale herauf und von allen Seiten her ein vieltausendstimmiger Schrei des Schreckes, in den auch wir einstimmten. Es war plötzlich finster, vollständig finster um uns. Wir eilten an die Fenster. Was sahen wir da? Das Zeichen des Christentumes war verlöscht, das herrliche Kreuz, so hoch es war, und in seiner ganzen Breite! Kein Flämmchen war mehr zu sehen, nicht das geringste, kleinste! Doch unten, im Tale, da leuchtete noch immer wie vorher der stille, milde Glanz der »Menschlichkeit« im Zeichen unserer »Shen«. Und droben in der Höhe standen auch die drei andern Symbole, die nicht elektrisches Licht besaßen, noch in ihrer vollen Klarheit. Nur das Kreuz war finster geworden, sonst weiter nichts! Wie ein dumpfes Brausen stiegen die Stimmen der tief unter uns versammelten Menschheit zu uns empor, und auch unsere Lippen öffneten sich, um nach der Ursache dieser plötzlichen Verfinsterung zu fragen. Tsi war mit mir an dasselbe Fenster gekommen. Er beugte sich hinaus, schaute hinab, wendete sich dann wieder nach dem Saal zurück und sagte:

»Die Leiche eines aus dem Paradies Gestürzten fiel in das Licht; da dunkelte es für einen Augenblick. Jedoch verlöschen kann es nicht für immer, weil es ja Licht aus ewiger Quelle ist!«

Da erklang die Stimme Marys, seiner Braut:

»Stürzte wirklich Jemand ab? Oder sprichst du nur im Bilde?«

»Nehmt es als Bild, bis wieder Licht geworden ist,« antwortete er. »Nur Leichen sind es, welche Dunkelheit verbreiten; im wahrhaft Lebenden gibt's keine Finsternis. Welche Botschaft hast du empfangen, Vater? Sage sie uns im Dunkeln, da dir das Licht genommen worden ist, sie vorzulesen!«

Da antwortete Fu, und das, was er sagte, klang in der Dunkelheit wie aus der Tiefe eines noch unenthüllten Geheimnisses heraus:

»Mein Sohn, du hast soeben Großes gesagt, und weil es um mich finster ist, bin ich so kühn, es zu wiederholen: Die Leiche eines aus dem Paradies Gestürzten fiel in das Licht; da dunkelte es für einen Augenblick, und dieser Augenblick ist unser Erdenleben; da herrscht nun die Verwesung dieser Leiche. – – – Meine Brüder, es gibt – – – Krieg!«

»Wo – wo – wo – – – wo?« rief es rundum.

»Hier – – bei uns – – im Lande unserer ›Shen‹! Der Bote brachte mir die Trauerkunde. Fragt nicht, weshalb, und fragt auch nicht, mit wem? Ich aber frage im Namen der Menschheit in dieses tiefe Dunkel, in diese Finsternis hinein: – – –«

Er kam nicht dazu, weiterzusprechen, denn plötzlich wurde es wieder hell, fast heller noch, als es vor her gewesen war, um uns und auch da draußen, im Freien. Die Leiche des verunglückten Dilke war, ob durch Naturkraft oder durch Menschenhand, das ließ sich jetzt nicht sagen, beseitigt worden, und sofort kehrte das Licht in die verfinsterten Körper zurück. Von Neuem stand das Kreuz in weithin leuchtender Glut, und überall ertönten jubelnde Stimmen, seine Rückkehr zu begrüßen. Bei seinem Lichte sahen wir die Scharen der Menschen, welche aus dem Dorfe hinauf nach der Kapelle zogen. Das waren nicht nur die bekehrten Anhänger der Fan-Fan, sondern Hunderte und Aberhunderte mehr, die sich ihnen angeschlossen hatten.

»Noch habe ich die Frage nicht ausgesprochen, so ist schon die Antwort da!« rief Fu. »Ich hoffe, daß wir alle sie verstehen! Ziehen wir jetzt mit nach der Kapelle. Dort fließt uns die Quelle des Lichtes, das zwar verdunkelt werden, doch nie verlöschen kann!«

»Ja, steigen wir mit hinauf,« stimmte der Ho-Schang bei. »Nicht hier, sondern dort oben ist der rechte Platz, die kaiserlichen Worte zu verlesen, die ich Euch mitzuteilen habe. Sie sichern Euch die allerhöchste Gnade und allerhöchsten Schutz; das sollen Alle hören, die sich jetzt dort versammeln. Wir feiern heut den Shen-Ta-Shi, den großen Tag der ›Shen‹, doch reicht er über Tag und über Nacht, geht über Monden, über Sonnen hin und wird auf Erden nie und nimmer enden!«

Da faltete der alte, ehrwürdige Reverend die Hände und sprach:

»Die allerhöchste Gnade und der allerhöchste Schutz! Im Sinne unserer ›Shen‹ also die Gnade und der Schutz des Allmächtigen und Allliebenden, bei dem es ewig Frieden gibt, selbst wenn des Krieges Ruf hier bei uns Törichten sogar am ›großen Tag der Menschlichkeit‹ erklingt. Hinauf zu ihm, zu unserer Kapelle! Gleich ist es Mitternacht; sie soll uns betend – dankend – hoffend finden!« – – –