Der Ochsenkrieg : ELTeC ausgabe Ganghofer, Ludwig (1855-1920) ELTeC conversion Leonard Konle 212235 500 COST Action "Distant Reading for European Literary History" (CA16204) Zenodo.org ELTeC ELTeC release 1.1.0 ELTeC-deu ELTeC-deu release 1.0.0 Der Ochsenkrieg Ganghofer, Ludwig Ludwig Ganghofer: Der Ochsenkrieg. Roman aus dem 15. Jahrhundert, Berlin, Darmstadt, Wien: Deutsche Buchgemeinschaft, 1959.Erstdruck: Stuttgart (Bonz) 1914 in 2 Bänden.

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Erstes Buch
1

Er nahm den Zügel straffer und versetzte dem schnaubenden Gaul einen Hieb mit der Reitpeitsche. Das Tier zuckte zusammen, bewegte aber keinen Huf, stierte mit vorgequollenen Augen auf die grauen Tümpel des Sumpfbodens und fing zu zittern an.

Dem jungen Reiter brannte der Zorn im Gesicht. Wieder hob er die Peitsche. Doch er schlug nicht, ließ die Gerte sinken und schob sie hinter den Ledergürtel. Während er unter beruhigendem Zureden dem Pferde den Hals tätschelte, sah er prüfend an dem Tier hinunter.

Der schlanke Pongauer Rappe hatte ein reichlich Teil seiner glänzenden Schwärze eingebüßt. Die Beine waren bis an den Bauch herauf in das Grau des zähen Schlammes gewickelt, durch den der Weg des Tieres gegangen war.

Die Hand auf die Kuppe des Pferdes stützend, sah der Reiter hinter sich. Zwischen Moosbüscheln konnte er auf eine weite Strecke, bis hinüber zum Waldsaum, die Spuren seines Rittes gewahren, diese tiefen, schon mit Wasser vollgelaufenen Stapfen des Pferdes. Die fernsten dieser kreisrunden Wasserlöcher glänzten in der späten Sonne des Sommertages wie blanke Goldstücke.

Umkehren? Der Reiter schüttelte den Kopf. Er guckte über die unruhig bewegten Ohren des Pferdes hinüber. Da vorne war der Boden nicht besser als da hinten. Aber nur vierzig, fünfzig feste Sprünge müßte der Pongauer machen, dann wäre der gute, grüne Almboden da! Und wie zum Hohn für den ratlosen Reiter schritt da drüben das Weidevieh gemütlich umher: junge, blökende Kalben, Kühe mit schwer schlenkernden Eutern, mächtige Ochsen mit blechig rasselnden Glocken. Der diese heiseren Schellen gehämmert hatte, das war kein guter Glockenschmied.

Der Reiter machte einen gütlichen Versuch, das Pferd in Gang zu bringen. Doch der Pongauer zitterte und wollte die tragende Insel, die er nach seinem grauenvollen Einsinken gefunden hatte, nicht verlassen. Sie war so klein, daß der Gaul keinen Schritt nach vorne oder rückwärts machen konnte, ohne in dieses linde Grau zu treten, das keinen Boden hatte.

»Moorle«, sagte der Reiter, während er das Pferd an der dicken Mähne zauste, »da wird nichts helfen! Hinüber müssen wir! Oder im Dreck das Jüngste Gericht erwarten!«

Langsam gab er dem Pferd die Eisen, immer schärfer. Der Pongauer keuchte. Doch er stand, als wären seine Beine in Stahl verwandelt.

»In Herrgotts Namen, so tu noch rasten, ich will geduldig sein!«

Der junge Reiter besah sich die Gegend. Hinter ihm lag der stille Waldberg, über den er von der Berchtesgadener Grenzwach am Hallturm herübergeritten war – ein Ritt, so herrlich wie töricht. Aber das ist so: Alles Schönste des Lebens braucht immer als Vater den Leichtsinn, den man schelten möchte.

Und vor ihm, in der Ferne da drüben, stiegen die blauen Bergriesen auf, die Mühlsturzhörner, der Hochkalter und der Steinberg. Da mußte in dem sonnendunstigen Tal dort draußen der Hintersee liegen.

Und gleich da drunten, wo sich die lange Waldschlucht gegen halbversteckte Felder weitete, blitzte eine große, weiße Wassersichel, von Röhricht umstanden. Der Taubensee? Dann mußte der böse Boden, auf den er da geraten war, das verrufene Hängmoos sein, auf das sich die Berchtesgadener Herren bei ihren Pirschgängen nicht gerne verirrten.

Verrufen? Und da drüben lag die schönste Weide, die eine Herde von Kühen und Ochsen nährte! Und aus einer Grasmulde des tieferen Almgehänges stieg wie ein feiner, blauer Strich der Rauch eines Herdfeuers zum Himmel auf.

Mit klingender Stimme schrie der Reiter nach dem Hirten. So ein Viehhirt kennt doch die Wege im Sumpf, wie Gott das Gute kennt im Herzen eines schlechten Menschen.

Doch niemand antwortete. Und hinter den westlichen Bergen ging schon die Sonne hinunter.

»Moorle! Jetzt müssen wir vorwärts.«

Der Pongauer war anderer Meinung. Kein Zureden, kein Zorn, kein Eisen, keine Peitsche half. Da gab es keinen andern Rat mehr als absteigen und das Moorle führen.

Der Reiter tappte gleich beim ersten Schritt hinunter bis übers Knie; mit Widerstreben gehorchte das Pferd der ungeduldigen Kraft, die den Zügel straffte; unsicher trat es über den Moosbuckel hinaus, versank bis an die Gurten, schlug verzweifelt mit den Hufen, machte kehrt und kletterte, den am Zügel hängenden Menschen hinter sich herreißend, wieder empor, auf die tragende Insel. Und der Reiter, bis an die Hüften mit Schlamm behangen, schwang sich in den Sattel, um von der Unruhe des Pferdes nicht in den Sumpf gestoßen zu werden. Während der Pongauer heftig zitterte, drehte er den Kopf mit einem Blick, der zu fragen schien: »Wer war jetzt der Klügere von uns beiden?« Dann schüttelte sich der Gaul, daß die abgeschleuderten Schlammflocken weit hinausflogen über das sumpfige Gehäng.

Irgendwo ein Lachen.

Der junge Reiter drehte flink das Gesicht. Oberhalb des Bruchbodens sah er zwischen dicken Wacholderbüschen einen roten Fleck – zu groß für eine Blume. Da drüben hockte wohl die Hirtin? Und die saß wohl schon lange da und guckte zu? Und lachte?

In Zorn wollte der junge Reiter da hinüberschreien. Aber da klang bei den Wacholderbüschen eine Stimme: »Tu warten, Mensch! Ich komm.« Eine kräftige Stimme war's – gleich dem Laut eines halbwüchsigen Buben, der noch immer auf dem Kirchenchor den Engel singt, aber schon mannen will.

Leichtfüßig kam die Hirtin über den Sumpf herüber, von einem Moosbuckel zum andern springend. Die mußte fest und gesund sein! Sie bewegte sich, wie frohe Menschen tun. Die Füße waren nackt. Ein grauer Zwilchkittel hing bis zu den halben Waden hin. Sie trug kein Wams, kein Mieder; über dem groben Hemde war nur mit Lederriemen und kleinen Hirschhornknebeln ein roter Tuchstreifen um die Brüste geschnürt, die leise zitterten, sooft das Mädchen von einem Moosbuckel zum nächsten hinübersprang. Das straff gezopfte Schwarzhaar lag wie eine dicke, schwere Haube um das strenge, sonnverbrannte Gesicht, in dem die blauen, wunderlich ruhigen Augen sich ansahen wie verläßliche Sterne.

»Beim Wald da drüben«, sagte sie mit ihrer herben Knabenstimme, »wo der Weg ausgeht, da hättest umwegs gegen den Berg hin müssen. Der grade Weg ist nit allweil der beste.« Sie sprach so bedächtig, wie kluge Menschen reden, die schon in Jahren sind.

Er sah sie schweigend an und dachte: ›Tut wie ein Altes und ist ein paar Jährlein über die Zwanzig!‹

Sie hatte den letzten Moosbuckel erreicht, blieb mit dem einen Fuße drüben und stellte den andern auf des Pongauers Insel neben den Huf des Pferdes hin.

Da fragte der Reiter: »Bist du die Hirtin auf dem Hängmoos?«

Sie gab keine Antwort. Ihre geschickten Hände lösten flink eine Schnalle des Riemenwerkes und streiften das Zaumzeug über den Kopf des Pferdes herunter. Mit Tieren verstand sie umzugehen. Moorle wurde ruhig, sobald er diese Hände spürte, und drehte schnuppernd die Schnauze gegen die Hirtin hin. Sie zog dem Reiter den Zügel fort, den er noch immer festhielt, hängte das Zaumzeug über die Schulter und sagte: »Absteigen mußt! Lang hab ich nit Zeit. Vor Nacht muß ich meine siebzehn Küh noch melken.«

Der kühle Bergschatten wanderte schon über das Sumpfland hinaus, und im Tale draußen bohrten sich die schwarzblauen Schattenkegel immer tiefer in den gelben Sonnenduft.

»Absteigen? Und der Gaul?«

»Ohne Bürd hat er's leichter, als wenn er tragen muß.«

Während der Reiter auf der andern Seite des Pferdes aus dem Sattel glitt – ein bißchen vorsichtig – zerrte die Hirtin rasch die Schnallen des Gurtes los und nahm den Sattel auf ihren Nacken.

»Nein, du! Den laß mich tragen!«

»Du wirst Augen und Händ für den Weg brauchen.« Sie wandte sich und machte wieder diese raschen, sicheren Sprünge über die grünen Mooskissen im Schlamm.

Ein bißchen lachend, schlüpfte der Reiter unter dem Bauch des Pferdes durch, wobei sein grünes Hirschlederwams über den Rücken hin eine Färbung ins Graue bekam. Nur an der Brust dieses Wamses und auf der Oberseite der mit violettem Tuch geflügelten Ärmel blieb noch die schöne Farbe. Alles andre – die gelb gestülpten Reitschuhe mit den Stachelsporen, die violetten Strumpfhosen und der Ledergurt mit dem Wehrgehenk – alles war grau geworden. Diese Graumannsfärbung wurde auf dem weiteren Wege noch befördert. Die Hirtin hatte richtig prophezeit: Nicht nur die Augen, auch die Hände wurden ihm nötig. Bald lachte er, bald schalt er wieder, wenn er bei einem Sprung daneben trat, und immer warf er einen Blick nach der Hirtin, wie in Sorge, ihr spottendes Lachen hören zu müssen. Aber sie wandte keinen Blick nach ihm, sie sprang und sprang, wobei die Eisenbügel des Sattels leise klirrten, und kümmerte sich nimmer um den Weglosen, den zu führen sie gekommen war.

Moorle, auf seiner kleinen Insel, betrachtete diesen Vorgang mit wachsendem Erstaunen. Er streckte den Hals und wurde ungeduldig. Und als er die Hirtin neben seinem Herrn, der das schlanke Mädchen noch um einen halben Kopf überragte, auf den schönen, grünen Almboden treten sah, stieß er ein Gewieher aus und machte einen verzweifelten Sprung. Bis an die Schultern versank er, schlug und arbeitete, kam in die Höhe, tauchte wieder hinunter, fand eine hilfreiche Insel, zögerte und ließ sein Wiehern klingen, hörte den sorgenvollen Lockruf seines Herrn und machte rasende Sprünge. Und als der Rappe den sicheren Almboden erreichte, bis über den Hals herauf in einen Eisenschimmel verwandelt, begann er wie in bewußter Rettungsfreude ein so irrsinniges Umhertollen, daß die Kühe, Kalben und Ochsen vor Schreck mit gehobenen Schwänzen unter rasselndem Schellenklang davonrannten. Moorles junger Herr begann bei diesem Bilde heiter zu lachen. Auch den strengen Mund der Hirtin kräuselte ein Lächeln. Die Kühe, die vor dem lebensfreudigen Moorle Angst bekamen, liefen ihr zu, und während sie den Weg zur Hütte nahm, war die halbe Herde des Ahnfeldes um sie herum, ein dicker Kranz von fetten Rücken und gehörnten Wackelköpfen.

Da tauchte hinter einem Steinhügel eine kleine, verkrüppelte Menschengestalt auf. Ein Knabe? Oder ein Greis? Das Gesicht war blaß und runzlig, aber die Augen waren jung – es waren die gleichen blauen Augen, wie sie in dem strengen, sonnverbrannten Gesicht der Hirtin glänzten. Arme und Beine waren mager und kurz, der von schwarzen Haarsträhnen umhangene Kopf saß tief zwischen hohen Schultern, und der Rücken war zu einer häßlichen Krümmung entstellt. Doch dieser Krüppel war besser gekleidet, als sich die Bauernsöhne in den Tälern drunten zu tragen pflegten; fast sah er aus wie ein verzärteltes Herrenkind, das man durch schmuckes Gewand für die Mißgestalt seiner Glieder entschädigen wollte. In der einen Hand hielt er ein kurzes, gebogenes Messer, in der andern ein Stück weißen Lindenholzes, aus dem eine fliegende Schwalbe halb herausgeschnitten war.

Die Hirtin ging mit dem Sattel auf eine hölzerne Hütte zu und machte dem Krüppel, der sich hinter einem Felsblock verbergen wollte, rasche Zeichen mit der Hand. Er schien zu verstehen, schien ruhiger zu werden, nickte, sah hinüber, wo der Fremde stand, und schnitt von dem Lindenholz einen Span herunter. Dann legte er Holz und Messer auf einen Fels, näherte sich mit gaukelndem Säbelgang dem fremden Jüngling und begann, ihm, ohne ein Wort zu sagen, mit der Spankante den grauen Schlamm von den Kleidern herunterzuschaben.

Der Fremde ließ sich das eine Weile lachend gefallen. Dann fragte er: »Wer bist du?« Und weil er keine Antwort bekam, faßte er den Krüppel an der Schulter. »Du! Red doch ein Wort! Wer bist du?«

Das Gesicht erhebend, lallte der Krüppel mit schwerer Zunge ein paar sinnlose Laute und machte mit dem graugewordenen Span ein Zeichen gegen Mund und Ohr. Dann fing er wieder zu schaben an.

Ein Taubstummer?

Schweigend betrachtete der Fremde den kleinen, fleißigen Kobold, und weil er an ihm diese blauen Augen sah, wandte er in fragendem Verwundern das Gesicht zur Hütte hinüber.

Da drüben stand die Hirtin und reinigte am Brunnentrog den Sattel und das Riemenzeug. Dann ging sie auf den grasenden Moorle zu, streckte die Hand und lockte mit leisen Lauten. Das Pferd streckte den Hals und schnupperte, ließ sich an der Mähne fassen, folgte der Hirtin willig zum Brunnentrog und hielt verständig unter den Wassergüssen aus, mit denen ihm die Hirtin den Schlamm von Leib und Gliedern spülte. Und ließ sich trocknen mit einem Tuche, ließ sich satteln und zäumen.

Die Hirtin schien die Tiere liebzuhaben, auch dieses fremde. Unter leisem Schwatzen faßte sie den Moorle an der Schnauze, und in ihrem stillen, strengen Gesicht erwachte eine warme Herzlichkeit, während sie dem Pferd die Nüstern streichelte und ihm die Büschel des dicken Stirnhaars aus den Augen strich. Dann hängte sie die Zügel über den Brunnenstock, gab dem Pferd einen leichten, zärtlichen Schlag auf den schwarzglänzenden Hals und trat in die Hütte.

Moorle sah der Hirtin nach und wieherte.

Sie kam aus der Türe, zwischen den Händen eine hölzerne Schale, die mit Milch gefüllt war, und ging zu der Stelle hinüber, wo der Fremde sich schaben ließ. Bei seinem Anblick mußte sie ein bißchen schmunzeln. Aber dieses leichte Gekräusel ihrer Lippen war schon wieder verschwunden, als sie die Milchschale auf eine Steinplatte stellte mit den Worten: »Wenn dich dürsten tät?« Sie deutete gegen das Waldtal hinunter. »Dort geht der Karrenweg. Da kannst du nimmer fehlen. Jetzt muß ich zur Arbeit. Gottes Gruß!«

Sie wollte gehen.

»Du!« sagte er mit raschem Laut.

Ruhig wandte sie das Gesicht.

»Laß dir Vergeltsgott sagen für alle Treuung an mir und meinem Gaul.«

»Ist gern geschehen. In der Einöd müssen die Leut einander helfen. Wo viel beinander sind, müßten sie's auch. Aber da tun sie's nit. Und keifen und beißen wie die hungrigen Hund bei der Schüssel.«

Er sah sie mit wachsendem Staunen an. Diese seltsamen Worte! Aus dem Mund einer Zweiundzwanzigjährigen! Aber es war in diesen Worten weder Groll noch Bitterkeit. Ganz ruhig hatte sie das gesagt. Und wieder, weil sie gehen wollte, rief er hastig: »Du!« Er hätte noch gern geschwatzt mit ihr. In diese blauen, ruhigen Augen war ein gutes Schauen.

Sie lächelte ein wenig. »Jetzt muß ich schaffen.«

»Da muß ich dich gehen lassen, freilich. Man wär bei dir gut aufgehoben. Der arme, kranke Bub da, der ist wohl bei dir in Pfleg?«

Die Hirtin schüttelte den Kopf, während sie mit einem Blick voll heißer Liebe an dem Krüppel hing. »Das ist mein Bruder.« Dann ging sie davon.

Er blickte auf den eifrig schabenden Krüppel hinunter und sah der Hirtin nach. Wie ist das möglich? Daß aus dem Schoß der gleichen Mutter solch eine Mißform ins Leben fallen kann? Und solch ein festes, helles und aufrechtes Menschenkind?

Freundlich fuhr seine Hand über das Schwarzhaar des Krüppels hin. Er schob den Buben, der immer noch zu schaben hatte, von sich fort und ging, mit einem violetten und einem grauen Bein, zu der hölzernen Milchschale hinüber, tat den Trank eines Durstigen und legte eine Silbermünze neben die Schale. Der Krüppel lallte einen zornigen Laut, griff nach der Münze, schob sie in die Gürteltasche des Fremden und säbelte mit den kurzen Beinen zu dem Stein hinüber, auf dem sein Messer neben der geschnitzten Schwalbe lag.

»Guck nur, wie stolz!« Es war wie Ärger in diesen Worten. Das lange, lichte Braunhaar aus dem erhitzten Gesicht schüttelnd, schritt der Fremde zum Brunnen hinüber und stieg in den Sattel. Moorle benahm sich ein bißchen ungebärdig, mußte aber flink dieser kräftigen Faust und dem Druck dieser festen Schenkel gehorchen.

Bei der Hütte bückte sich der Reiter, um durch die Türe schauen zu können. Er sah einen Raum, in dessen Zwielicht eine versinkende Flamme flackerte. Seine Augen suchten, während er weiterritt. Er gewahrte die Hirtin auf dem höheren Almgehänge. Mit dem kupfernen Milchzuber und einem dreibeinigen Stühlchen ging sie einer aus plumpen Steinen aufgeschichteten Stallung zu. Viele Stücke der Herde trabten ihr mit heiseren Schellen nach. Und aus dem ganzen Almfeld, von überall, zogen die Kühe mit Gebrüll und Schellengerassel dem Steinbau entgegen, zu dem die Hirtin wanderte.

Während Moorle vorsichtig über den groben, steilen Weg hinunterkletterte, wandte der Reiter immer wieder das Gesicht.

Nun nahm der Wald ihn auf. –

Als er beim Taubensee das offene Feld erreichte, fing der Abend zu dämmern an. In einem gezäunten Wiesgarten war ein Bauer mit seinem Weib dabei, das Gras zu mähen. Der Reiter verhielt den Gaul. »Bauer! Komm her da!«

Die Sense flog ins Gras, der Bauer sprang, und sein Weib fing in dunkler Sorge zu bangen an. Wenn ein Herr befahl, das war für einen Bauern immer ein übel Ding.

»Weißt du, wer die Hirtin ist auf dem Hängmoos droben?«

Der Bauer atmete auf. »Das ist die Jula vom Runotter, den man heuer wieder zum Richtmann der Ramsauer Gnotschaft gewählt hat. Sein Vater ist Erbrechter worden vor dreißig Jahr.«

Sinnend sagte der Reiter: »Die Jula?«

»Die, ja! Könnt's besser haben und müßt nit sennen. Die Jula geht aus Fürlieb almen, um ihres bresthaften Bruders willen. Der mag nit unter Leut sein.«

Ohne zu antworten, ließ der Reiter dem ungeduldigen Pongauer die Zügel schießen. Und der Bauer kehrte zu seiner Sense zurück. In Sorge fragte das Weib: »Was hat er wollen?«

»Von mir kein Hälml. Gott sei Dank! Bloß nach der Jula droben hat er mich ausgefratscht. Aber da wird ihm der g'lustige Herrenschnabel trücken bleiben.«

»Schrei nit so!« tuschelte das ängstliche Weib. »Was war's denn für einer?«

»Ich glaub, der jung Someiner.«

»Dem Gadener Amtmann der seinig?«

»Der, ja! Aber 's Zwielicht kann mich genarrt haben. Es heißt doch allweil, der jung Someiner wär auf der Prager Magisterschul.«

»Was geht uns der Bub des Amtmanns an?« Das Weib bekreuzigte sich. »Gott sei gelobt, daß wir nit Kinder haben. Nit Buben, die Eisen fressen müssen für die Herren, und nit Töchter, die man zu Lustföhlen macht.«

Der Bauer brummte was in den dielten Bart und schwang im sinkenden Abendtau die Sense wieder. –

In gleichmäßigem Takte klang der Hufschlag des trabenden Pferdes.

Der Reiter achtete des Gaules wenig und war nachdenklich.

»Die Jula?«

Hatte er nicht die Jula vom Runotterhof einmal gesehen, vor sieben Jahren, noch als ein halbes Kind? Wie das magere, trutzäugige Ding sich ausgewachsen hatte! Aber so stolz und so sparsam mit Worten wie damals war sie noch immer.

Auf der besseren Straße, in die der Taubenseer Karrenweg einbog, klang der Hufschlag des Pongauers fester und heller.

Die ersten Sterne schimmerten, und es schlich die stahlblaue Nacht um die Berge, als der Reiter zu den Wohnstätten der Ramsau kam. Neben der Straße rauschte die Ache. Und auf der andern Seite des Weges huschten armselige Hütten vorüber, die nicht Zaun und Gärtlein hatten; dann kamen fest umgatterte Höfe mit hohen Dächern, es kam die kleine Kirche und das große Leuthaus, in dem noch Licht war und trunkene Knechte beim Dünnbier sangen. Und dort, auf dem Hügel droben, das große Gehöft mit den starken Planken und dem steilen Moosdach? War das nicht der Hof des Richtmanns Runotter? Dessen Vater einst, als das Stift zu Berchtesgaden unter drückenden Schulden zu leiden begann, das alte Schupflehen um einhundertvierzig Pfund Pfennig als Erbrecht und Eigengut erworben hatte?

Der Pongauer, in dem die Sehnsucht nach dem Stall erwachte, fiel in einen sausenden Trab.

»Die Jula!«

Und daß die schlanke, aufrechte Jula einen Krüppel zum Bruder haben mußte? Die klösterlichen Hofleute, die gut von den Herren redeten, erzählten es so: Die Frau des Runotter mit ihrem vierjährigen Dirnlein wäre eines Tages, als die Erdbeeren reif geworden, im Hochtal des Windbaches hinaufgestiegen zur Ahn ihres Mannes; am selben Tage hätten die Berchtesgadnischen Chorherren dort oben eine Hetzjagd auf Hirsche abgehalten; und ein Rudel flüchtenden Hochwildes hätte die Runotterin, die seit drei Mondzeiten gesegneten Leibes war, zu Boden geworfen und über eine stubenhohe Steinwand hinuntergestoßen; das kleine Dirnlein wäre über den Unfall der Mutter so arg erschrocken, daß ihm durch, lange Zeit ein seltsames Zittern blieb, eine blinde Angst mit atemwürgenden Schreikrämpfen; und nach sechs Monden gebar die Runotterin den taubstummen Krüppel und blieb ein stilles, trauriges Weib und starb.

Aber die Bauern, wenn sie keinen Herrn und Hofmann in Hörweite wußten, erzählten es anders. Und das wußten alle im Land, daß damals ein junger Chorherrr, Hartneid Aschacher, plötzlich nach dem Kloster Chiemsee hatte verschwinden müssen, weil er seines Lebens im Berchtesgadener Lande nimmer sicher war.

Ein dumpfes, donnerähnliches Rauschen in der schönen. Nacht. Das war der Windbach, der seine Wasser herunterstürzte durch die enge Klamm.

In dem jungen Reiter erloschen die Bilder des Erinnerns. Er mußte scharf nach der Straße spähen, die zwischen den hohen, schwarzen Waldmauern kaum noch zu sehen war.

Nun kam die freie Höhe der Strub. Kleine, rötliche Lichter, weit zerstreut durch das finstere Tal hin – große, funkelnde Sterne im tiefen Blau des Himmels; und zwischen den Flammen der Höhe und den trüben Laternchen des tiefen Lebens, das zu schlummern anfing, dehnten sich die schwarzgrauen Wälle der Berge in die Ferne, vom klobigen Untersberg bis hinüber zum scharfen Zahn des Watzmann.

Das erste Haus von Berchtesgaden. Der Reiter mußte den Pongauer zu ruhigem Gange zwingen, weil das Pflaster der Marktstraße begann. Zwischen den groben Steinen drohten Löcher, die für einen Pferdehuf wie Fallen waren.

Die meisten Häuser standen schon in schlafendem Dunkel. Nur selten ein Licht. Bei einer Wende der engen Gasse sah man in lauschiger Ecke ein schmales, hohes Gebäude, aus dessen geschlossenen Läden zu ebener Erde es rötlich herausdunstete, das Badhaus. Im zweiten Stockwerk waren zwei Fenster offen und hell erleuchtet. Da droben war heiteres Lachen. Man hörte das Geklimper einer Laute und eine trällernde Mädchenstimme. Hier wohnte die Pfennigfrau eines Chorherrn. Noch immer war das Stift gelähmt unter schweren Schulden, aber so viel an Einkünften, die aus Holzschlägen, Salzgefäll, Steuern, Holdenzins und Erbrechtskäufen erflossen, hatte es noch immer, daß man sich das Leben heiter machen konnte.

Die Gasse wand sich, und es kam der stille Marktplatz. Schulter an Schulter standen da die schmucken Häuser der Handwerker und Kaufleute, mit schweren Eisenstangen und Hängschlössern vor den Gewölben.

Von den Mauern widerhallte der klirrende Huftritt des Pongauers. In der Tiefe des Marktplatzes, hinter dem schwarzen Umriß eines steinernen Brunnens, flackerte ein Pfannenfeuer vor der Pförtnerstube des Stiftstores.

Es kamen zwei Wächter, die halblaut miteinander schwatzten. Der eine von den beiden, ein magerer, baumlanger Spießknecht, grüßte den Reiter: »Schöngute Nacht, Herr Magister!«

Der dankte: »Vergelts, Marimpfel!« Und eine kleine Eitelkeit erwachte in ihm: »Aber weißt du, der Magister liegt in der Truhe. Jetzt mußt du Doktor sagen.«

»Gotts Teufel und Bohnenstroh!« Ein breites Lachen. »Da tu ich Glück ansagen, Edel Herr Doktor Someiner!« Wieder dieses Lachen. »Sucht sich ein Kind die richtig Mutter aus, so wird das Leben ein lustigs Aufwärtsschupfen.«

Der Huftritt des Pongauers klirrte. Und von irgendwo aus der Luft klang eine besorgte Frauenstimme: »Bub, bist du's? Bist du's?«

»Wohl, Mutter!«

»Endlich! Gott sei Dank! – Vater, so schau doch! Hast wieder umsonst gebrummt. Der Bub ist doch lang schon da.« Die Stimme erlosch, und man hörte das Geklapper eines Schubfensters, das herunterfiel.

Der Pongauer blieb vor einem dunklen Tore stehen, und der Reiter stieg aus dem Sattel.

Lampert Someiner, Magister artium und Doktor des kanonischen und gemeinen Rechts, hatte das Haus seines Vaters erreicht, des Amtmanns zu Berchtesgaden.

Der eichene Torflügel rasselte auf. Ein Knecht mit einem Windlicht erschien und nahm den dampfenden Moorle in Empfang. Und Lampert sprang über die Schwelle mit dem flinken Schritt des Sechsundzwanzigjährigen, der sich der Heimat freut und weiß: Jetzt hab ich mein Tischleindeckdich!

Ein Flur mit gewölbter Decke, erleuchtet von einer kleinen Hirschtalglampe. Eine Tür – die Türe der Amtsstube – war schwer vergittert. Über ein steiles, enggemauertes Trepplein gings hinauf. Und durch den gleichen Flur, in dem diese Herrentreppe war, wurde der Pongauer zu seinem Stall geführt.

Oben auf der Treppe stand Mutter Someiner mit hoch erhobenem Leuchter, dessen Teller einen schwarzen Schatten über die Frau herunterwarf. »Ach, Bub, wie kannst du denn nur so lang ...« Da sah sie den Zustand seiner Kleidung und erschrak. »Um Himmels willen! Bub? Was ist geschehen? Dir?«

»Nichts, Mutter, nichts!« Er lachte. »Der Moorle und ich, wir haben nur ein lützel durch schiechen Honig müssen. Süß ist er nicht gewesen, aber gepickt hat er. Tu mich nicht anrühren, sonst werden deine weißen Tüchlein grau.« Lachend schob er sich an der Mutter vorüber, sprang die andere Treppe hinauf und trat in eine kleine, weiße, von zwei dicken Kerzen erleuchtete Stube. Die schwere, weiß umhangene Bett stelle nahm fast ein Drittel des Raumes ein; in der Ecke ein kleiner Tisch mit kupfernem Becken und kupferner Wasserkanne, die von der Handzwehle bedeckt war. An der Wand eine große eisenbeschlagene Truhe. Darüber ein Zapfenbrett mit Gewand und Waffen. Und dann ein Erker, der halb ein kleines, vergittertes Fenster und halb eine niedere Tür war, die zu einer Altane führte. Das Stübchen duftete herb. In das Wachs der Kerzen war Räucherwerk eingeschmolzen, dessen strenger Wohlgeruch in dünnen Rauchfäden aus den zuckenden Feuerherzen der beiden Dochte stieg. Solche Kerzen goß man, seit durch das deutsche Land der schwarze Tod gegangen war, der jeden Dritten unter den Boden warf.

Drunten, auf der ersten Treppendiele, war die Amtmännin stehengeblieben, bis sie vernahm, daß droben die Türe geschlossen wurde.

Nun betrat sie die Wohnstube.

Frau Someiner war in dunkles Braun gekleidet. Und dennoch war sie weiß. Die leinene Glockenschürze bildete eine Art von Übergewand, und weiße Ellbogenschoner waren um die Ärmel gebunden. Ein rundes, aufgeregtes Muttergesicht mit lebhaften Braunaugen. Und über dem leichtergrauten Haar die weiße Fältelhaube mit der Kinnbinde.

Der Tisch in der Wohnstube war schon gedeckt. Aber Frau Someiner hatte da noch immer was zu richten, während sie von ihrem Buben schwatzte.

Der Amtmann nickte zu allem. Doch er sah dabei sehr aufmerksam auf das Schachbrett, das in dem kleinen Erker auf einem spreizfüßigen Tischchen vor ihm stand. Die untere Hälfte des Herrn Ruppert Someiner trug noch die Amtstracht, schwarze Strumpfhosen und rote Schuhe, während die Herzgegend des Gestrengen in eine braune, pelzverbrämte Hausschaube gewickelt war. Graue Haarsträhnen hingen schütter über die Wangen herunter. Herr Someiner, den der Bader mit dem besten seiner Messer zu rasieren pflegte, hatte kein böses, nur ein müdes Gesicht, das ein bißchen gelb war von stetem Ärger. Das Schuldenwesen des Stiftes, dessen Wirtschaft er zu führen hatte, machte ihm schwere Sorgen. Und bei dem vielen Handel und Wandel mit gefährlichen und unbotmäßigen Menschen hatte Herr Someiner zwei kalte, ungläubige Augen bekommen.

Neben der flinken, frohen Stimme der Amtmännin war in der Stube noch der langsame, schwere Schlag eines Uhrpendels. Bei jedem Schlag sagte das Pendel in dem hohen Kasten: »Bau!« Dann tat es für eine Sekunde lang einen seufzenden Atemzug. Und sagte von neuem: »Bau!«

Ein Ungeheuer von grünem Kachelofen wuchs mit abgesessenen Bänken aus der Wand heraus. Decke und Wände der Stube waren braun getäfelt, nur oben herum lief ein weißer Streifen der Mauer. Fast so groß wie der Ofen war der Anrichtkasten. Überall funkelte Zinn und Kupfer, überall leuchteten weiße Tüchelchen mit mühsamen Stickereien. Und über dem weißgedeckten Tische brannten auf schwebendem Eisenreif vier Wachskerzen mit dem gleichen herben Wacholderduft, wie er in Lamperts Schlafkammer war.

Der junge Doktor des kanonischen und gemeinen Rechtes betrat die Stube in der schwarzen Tracht seiner akademischen Würde. Das lange Braunhaar war sorgfältig gescheitelt, und in dem kräftigen, etwas erhitzten Jünglingsgesicht mit dem dunklen Bärtchen auf der Oberlippe und dem sprossenden Kinnflaum glänzten die gleichen Augen, wie Frau Someiner sie hatte. Ein zärtlicher Blick des jungen Mannes überflog die Stube. Vor drei Tagen war Lampert von der Prager Schule heimgekommen. Und noch immer hatte das elterliche Haus etwas Neues für ihn, jeder Blick entdeckte eine liebe Kostbarkeit.

Stolz betrachtete die Mutter den Sohn, während der Vater sagte: »Komm her ein lützel! Der hochwürdigste Herr Dekan hat mir eine Schachaufgab gestellt. Weiß zieht an und soll matt setzen nach drei Zügen. Aber ich komm nicht drauf.«

Lampert musterte die Stellung der Figuren. Dann griff er zu. »So, Vater! Und so! Und so!«

»Richtig! Er hat's!« Herr Someiner lachte. »Bub! Wenn du im Amt so flink und sicher zugreifen lernst, dann tut der Hof mit dir als neuem Aktuario einen guten Fang. Und du kannst ihm die Schulden schupfen helfen.«

Glückliche Freude glänzte in den Augen der Amtmännin.

Eine alte Magd brachte das Nachtmahl, und es kam eine gemütliche Tafelstunde. Lampert erzählte von seinem Ritt zum Hallturm und zu der bayrischen Feste Plaien. Das Abenteuer auf dem Hängmoos überspringend, erzählte er von seinem Waldritt über den Bergsattel zum Taubensee. Dabei legte ihm die Mutter reichlich vor. Und einmal fragte sie: »Schmeckt es, Bub?«

»Ja, Mutter! Allweil ist Mutters Tisch die beste Herberg. Und ich hab einen gesegneten Hunger heimgebracht. Seit dem mageren Frühmahl, zu dem mich der Hallturner eingeladen, hab ich nur am Abend auf dem Hängmoos ein Schöppel Milch getrunken.«

»Milch?« Vater Someiner zog verwundert die Augenbrauen in die Höhe. »Ist der Ochsenwirt auf dem Hängmoos solch ein Schlemmer, daß er sich Milch auftragen laßt, bis von der Ramsau her.«

Lampert lachte. »Aber Vater! In der Käserhütt auf dem Hängmoos brauchen sie doch nur zu melken.«

»Auf dem Hängmoos steht kein Käser.«

»Ich bin doch an der Hütt vorbeigeritten.«

»Da mußt du dich verschaut haben. Oder wo du gewesen bist, das war nicht das Hängmoos.«

»Wo der Sumpf ist, den die Jäger meiden? Hinter dem Taubensee droben? Ist dort das Hängmoos?«

»Ja.«

»Dort bin ich gewesen. Und die Hütt ist dagestanden. Und die siebzehn Küh, die sie auf dem Hängmoos melken können, hab ich selber gesehen.«

Der Amtmann runzelte die Stirn. Dann schüttelte er den Kopf. »Du magst viel gelernt haben auf der hohen Schul zu Prag. Aber mir scheint, du hast dabei vergessen, wie sich die Kuh vom Ochsen unterscheidet.«

Lampert wollte erwidern. Doch die Mutter zwinkerte ihm heimlich zu; sie erinnerte sich der heftigen Meinungskämpfe, die es in früheren Ferienzeiten zwischen Vater und Sohn gegeben hatte, kannte die strenge Rechtskrämerei ihres Mannes und sorgte sich, daß ein unbehaglicher Wortwechsel entstehen könnte. Doch Lampert schwieg nicht nur, weil es die Mutter wollte. Er wußte, daß es zwischen dem Stift und den Almholden immer Reibereien um die Deutung der Rechtsbriefe gab. Und wenn nun irgend was auf dem Hängmoos droben nicht in Ordnung war, so wollte er nicht zur Ursache werden, daß man der hilfreichen Jula einen stacheligen Pfahl vor die Hüttentüre setzen könnte. Drum schwieg er. Und es blieb eine wunderliche Sorge in ihm zurück.

Mutter Someiner schwatzte eifrig von allem, was ihr gerade einfiel, war glücklich, weil sie die dunkle Gefahr des Augenblicks überbrückt sah, und wollte sich was erzählen lassen von Prag und dem übermütigen Studententreiben in den Bursen. Lampert erzählte auch, doch er blieb zerstreut und kam nicht in rechte Laune. Auch der Vater war nachdenklich und wortkarg. Sogar der Würzwein, der nach der Mahlzeit zum üblichen Schlaftrunk aufgetragen wurde, verbesserte des Amtmanns Stimmung nicht. Und plötzlich murrte er: »Das Ding mit den Kühen auf dem Hängmoos will mir nimmer aus dem Kopf. Ich muß da auf reinen Tisch kommen. Sag mir –«

Die Mutter witterte gleich wieder eine Gefahr und unterbrach: »Geh, Ruppert, laß die Sach heut gut sein! Ob Küh oder Ochsen –«

»Das verstehst du nicht.«

»Aber ich versteh, daß unser Bub nach so einem schweren Ritt die Müdigkeit in allen Knochen haben muß. Er soll zur Ruh gehen.«

»Ja, Mutter!« Rasch erhob sich Lampert. »Gute Nacht, Vater!« Er ging zur Türe. Als er schon die Klinke in der Hand hatte, zwang ihn die wunderliche Unruhe, die in ihm wachgeworden, zu einer Frage. »Vater? Auf dem Heimweg bin ich durch die Ramsau gekommen. Und hab den Runotterhof gesehen. Und hab vernommen, der Runotter wär wieder Richtmann in der Ramsauer Gnotschaft. Was ist der Runotter für ein Mensch?«

»Das ist von den Verläßlichen einer!« sagte der Vater, dem der seltsame Klang in der Stimme seines Sohnes aufzufallen schien. »Viel Kummer ist dem Mann ins Leben gefallen. Aber er ist ein Treuer und Redlicher geblieben.«

Lampert atmete erleichtert auf. »Gute Nacht, Vater!«

»Bub?« Der alte Someiner erhob sich. »Die siebzehn Küh auf dem Hängmooos? Hast du die wahrhaftig selber gesehen? Mit eignen Augen?«

Lampert sagte ruhig: »Ja, Vater! Wenn der Runotter so ein Redlicher ist, da brauch ich doch nicht zu lügen.«

Er ging. Und die Mutter in ihrer Sorge lief ihm nach und fragte draußen auf der Treppendiele: »Was ist denn los?«

»Ich kenn mich selber nicht aus. Es ist mir jäh eine Sorg ins Herz gefahren, ich weiß nicht, warum. Aber jetzt bin ich wieder ganz in Ruh.«

»Gelt, ja!« Die Mutter streichelte dem Sohn die Wange. »Was schieren dich am End die Ochsen oder Küh der Ramsauer Bauern?« Sie lachte ihren Buben an. Doch als sie zurückkam in die Stube, wo Herr Someiner nachdenklich auf und nieder schritt, sagte sie ein bißchen verdrießlich: »Allweil mußt du aus jedem Bläslein eine Blatter machen!«

»Das verstehst du nicht! Recht muß Recht sein und Unrecht ist Unrecht. Freilich, es könnt auch sein, daß ich selber mich irr. Ich hab den Hängmooser Weidbrief schon lang nimmer angeschaut. Aber ich muß das wissen –« Während dieser Worte hatte der Amtmann an einer Kerze des Deckenleuchters einen Span entzündet. Er brachte das Licht einer kleinen Laterne in Brand.

»Aber Mann! Wo willst du denn heut noch hin?«

»Hinunter in die Amtsstub, den Hängmooser Weidbrief nachlesen.«

»Da ist doch morgen auch noch Zeit dazu.«

»Unrecht soll keine Nacht überschlafen.«

Während Frau Someiner seufzend den Kopf schüttelte, nahm der Amtmann aus einem Wandkästlein des Erkers einen dicken Schlüsselbund heraus.

Drunten zu ebener Erde mußte er drei Schlösser aufsperren, am Gitter, an der Tür und an dem großen, schwer mit Eisen beschlagenen Aktenschrank der Amtsstube. Aus einem Gewirr von Papieren und Pergamenten suchte der Amtmann ein gesiegeltes Blatt heraus, den Hängmooser Almbrief. Und kaum hatte Herr Someiner beim trüben Schein der Laterne zu lesen begonnen, da ließ er im Zorn seine Faust auf das Schreibpult niederfallen. »Das ist eine Frechheit ohnegleichen!«

Hier war es seit fünfundsechzig Jahren verbrieft und gesiegelt: Auf dem Hängmoos durfte kein Käser stehen, keine feuerbare Hütte, nur ein Wetterschlupf für den Ochsenhirten, und Milchkühe durften nicht aufgetrieben werden, nur zwanzig zwiesömmerige Kalben und an mastbarem Galtvieh sechzig Ochsen.

Und nun stand wider Recht und Fug auf dem Hängmoos eine Käserhütte! Und Milchkühe wurden aufgetrieben! Wider Fug und Recht! Wohl litt das Stift keinen rasch erkennbaren Schaden dabei. Aber Recht ist Recht. Und was die Ramsauer da verübten, war unbotmäßiger Eigenwille und grobes Verbrechen wider die Hoheitsrechte des fürstlichen Stiftes. So sah es für den Amtmann Someiner aus, dem die anmaßende Willkür der Holden und Eigengütler das Leben verbitterte. Seit das Stift um der Last seiner Schulden willen gezwungen war, ein Schupflehen ums andre an vermöglich gewordene Bauern als Erbrecht zu verkaufen, wurde der Untertanen Übermut und Anspruch ärger von Jahr zu Jahr. Neben Herrenstand und Bürgertum begann sich als ein dritter Stand die Bauerschaft emporzustrecken. Schon hatten sich in der Scheffau, zu Bischofswiesen, in der Schönau, in der Gern und Ramsau die Erbrechter und Eigengütler zu Gnotschaften zusammengetan, hatten Fürständ und Sprecher gewählt. Und in den Zeiten der üblen Wirrnis, da das ganze Berchtesgadener Land an das Salzburger Erzbistum verpfändet war, hatten es die trutzbeinigen Bauernschädel durchgesetzt, daß man den Gnotschaften Wort und Vertretung im Rat der Landschaft zubilligen mußte. Und seit sie mitschreien durften, meinten sie auch mitbefehlen zu dürfen, vermaßen sich umzustoßen, was verbrieftes und gesiegeltes Recht war, und meinten ihren Trutzwillen durchsetzen zu können wider des Fürsten Gebot und Eigentum.

Was da nun wieder die Ramsauer gegen Wort und Meinung eines gesiegelten Weidebriefes verübten, war ein grobes und übermütiges crimen juris laesi. Man mußte da ein heilsames Exempel statuieren. Ohne Erbarmen! Oder Hoheit und Besitz des Stiftes mußten an solcher Anmaßung und Schröpferei verbluten.

Während Amtmann Someiner beim trüben Laternenschein das alte brüchige Pergament wieder im Schrank verwahrte, erwog er schon den Gedanken, den Ramsauern am Morgen die bewaffnete Exekution über den frechen Hals schicken und die siegelwidrig auf dem Hängmoos weidenden siebzehn Kühe pfänden und davontreiben zu lassen.

Aber der Ramsauer Richtmann Runotter? Dieser Verläßliche und Redliche? Wie kam es, daß der solch eine schreiende Rechtswidrigkeit geschehen ließ? Konnten die Ramsauer vielleicht doch ein Fähnlein der Entschuldigung aushängen? Und auf den Richtmann Runotter, der trotz schwerem Unrecht, das der Chorherr Hartneid Aschacher ihm angetan, noch immer in Treu zu Stift und Recht gestanden, mußte man verdiente Rücksicht nehmen.

Als der Amtmann zu dieser wohlmeinenden Erwägung kam, hörte er draußen auf dem Gassenpflaster den klirrenden Schritt der Stiftswache.

Er ging in den Flur, riegelte das Haustor auf und rief in die Nacht hinaus: »Höi, Wachleut!«

Die beiden Spießknechte kamen gesprungen.

»Wer ist Wachführer?«

»Ich, Gestreng Herr Amtmann, der Marimpfel.«

»Gut! Auf dich ist Verlaß. Komm herein zu mir!« Herr Someiner hob dem baumlangen Kerl, der in den Flur trat und mit dem Spieß salutierte, die kleine Laterne gegen das Gesicht. Im Lichtschein funkelten des Knechtes Armschienen, die Brustplatten und der blanke Eisenhut, der mit zerzauster Feder über einem verwitterten, von Narben durchrissenen Bartgesichte saß. Der Amtmann sagte: »Um Mitternacht laß dich ablösen und vergönn dir ein lützel Schlaf. Doch eh der Morgen aufgeht, sollst du hinausreiten zum Taubensee und hinauf zum Hängmoos.«

Der Knecht lachte. »Da muß ich acht haben, Herr daß ich mein Rössel nit in die graue Supp hineinreit.«

»Wir haben nicht Spassenszeit!« sagte der Amtmann streng. »Auf dem Hängmoos zählst du die Kalben und Ochsen. Aber halte dein Maul vor dem Hirten! Und tu ihm keinen Trutz an! Und siehst du auf dem Hängmoos einen Käser stehen und tät es wahr sein, daß da droben Melkvieh weidet, so bring dem Richtmann Runotter eine Ladung vor mein Amt.«

»Soll ich Beistand mitnehmen? Wenn's nötig wär, daß man zugreift.«

Someiner schüttelte den Kopf. »Der Runotter wird im guten kommen. Er soll bei mir sein, morgen, so lang noch Amtszeit ist.«

»Wohl, Gestreng Herr Amtmann! Wird geschehen.«

Als Marimpfel wieder draußen auf der Gasse war, tuschelte sein Kamerad die Frage: »Ist was Lustigs los?«

»Ich schmeck, man will einen Baurenschädel zwiefeln. Einen, dem ich's gönn! Weil er die Nasenlöcher gar so weit auftut. Solcher Hochmut wachst, seit die Herren zu gut sind. War ich der Probst, ich möcht den Mistbrüdern einen Flohbeiß auf die Haut setzen, daß sie springen müßten, wie man winkt.«

Der so redete, war selber ein Ramsauer Kind und eines leibeigenen Bauern Sohn. Was die Schärpenfarbe für üble Wunder wirkt! Geschworener Knecht eines Herren werden, eines Herren Wehr und Farben tragen, und schlagen und stechen müssen auf des Herren Wink – das heißt, ein Hofmann sein, und heißt, verachten dürfen, was tiefer steht, und heißt, was Besseres werden, denn man gewesen als seiner Mutter Kind.

Die beiden Spießknechte schritten über den Marktplatz gegen das Stiftstor hin, vor dem das Pfannenfeuer brannte.

Im Widerschein der roten Loderflamme waren die Kanten des Gemäuers und die Säume der steilen Dächer wie von rinnendem Blut übergössen. Und hinter den dunklen Firsten stiegen die Türme des Münsters und der neuen Pfarrkirche in die sternschöne Nacht hinauf, gleich schwarzen, himmelhohen Riesen, die sich in der Finsternis aus den Schlünden der Erde erhoben hatten, um Ausschau zu halten über das Tun und Leben der kleinen Menschen.

In des gestrengen Amtsmanns Hause hatte Herr Someiner das Flurtor wieder fest verriegelt. Und hatte die drei Hängeschlösser wieder gesperrt, am Pergamentkasten, an der Tür der Amtsstube, am eisernen Gitter.

Als er mit dem schwankenden Laternchen die enge, steile Treppe hinaufstieg, war er des redlichen Glaubens, daß er im Dienste seines fürstlichen Herrn, des Erzpropstes zu Berchtesgaden, eine dringende Pflicht seines Amtes gewissenhaft und mit klugem Bedacht erfüllt hätte.

In der Wohnstube war der Tisch geräumt. Auf dem Eisenreif Brannte nur noch eine einzige Kerze; die Hausfrau hatte die drei andern Lichter ausgelöscht. Und leise sprach bei diesem sparsamen Zwielicht das Pendel in dem alten Uhrkasten: »Bau! Bau!«

Herr Someiner verwahrte den Schlüsselbund, löschte das Laternchen und blies auf dem Eisenreif die letzte Kerze aus.

Nun war die Stube finster. Nur um die verbleiten Scheiben des Erkers zitterte, vom Pfannenfeuer des Stiftes her, ein matter, rötlicher Schein.

Im Uhrkasten sagte die schwingende Stimme unablässig: »Bau! Bau! Bau!«

Diese Uhr, deren Räderwerk kein lebendes Herz, nur stählerne Federn und wirkende Gewichte hatte, war klüger, als Menschen sind. Immer wieder sprach sie in der stillen Nacht ihr schlummerloses Mahnwort. Doch in dieser stillen Nacht, in der ein Rechtsbeschützer seine Pflicht gewissenhaft erfüllt zu haben wähnte, begann im Berchtesgadener Land ein sinnloses Zerstören und grauenvolles Vernichten.

2

Als der Morgen dämmern wollte, jagte ein Reiter gegen die Ramsau hinaus. Bevor er das Ziel seines Späherweges erreichen konnte, stieg hinter den östlichen Bergzinnen der schöne Tag herauf.

Über dem Hängmoos lag die erste Morgensonne.

Das Gras der trockengelegten Weideflächen hatte einen Goldton in seinem Grün, und die frische Luft war zart erfüllt vom süßen Wohlgeruch der Kohlröschen. In der mild erwachenden Wärme begannen die Wasserflächen des nahen Sumpfes zu dunsten, und um die Mooskissen des Bruchbodens, um ihre besonnten Vergißmeinnichtbüschel und Dotterblumen gaukelten graubraune Schmetterlinge in so reicher Zahl, daß ihre Menge manchmal anzusehen war wie ein dunkelwehender Schleier.

Die Kalben, Ochsen und Kühe weideten mit leis tönendem Schellenklang, und aus der Rauchscharte des Käsers stiegen blauquirlende Wölklein in die Sonne hinauf. Der Brunnen murmelte und goß den blitzenden Wasserstrahl in den Spiegel des Troges.

Auf der höchsten Stelle des Almfeldes zog vertraut ein Rudel Gemsen gegen das Latschendickicht. Hoch in der Sonne kreiste ein Weihenpaar. Und als möchte auch das Leben der Tiefe einen Gruß hinaufsenden in diesen schönen, heiligen Frieden der Bergfrühe, so klangen, mild und kaum noch hörbar, aus weiter Ferne her die raschen Laute einer rufenden Kirchenglocke.

Im aufziehenden Sonnenwinde fingen die nahen Wälder sanft zu rauschen an.

Was der Morgen an Hirtenwerk verlangte, war getan. Jedes Rind hatte Salz bekommen, die Kühe waren gemolken, die Milch war aufgestellt in hölzernen Schalen.

Ein leuchtender Streifen der Sonne fiel durch die offene Tür in das Zwielicht des Hüttenraumes. Neben dem Feuer saßen Jula und ihr Bruder Jakob in der Herdmulde und aßen die Morgensuppe. Dann beteten die beiden mit geneigten Gesichtern.

Jula erhob sich, warf die schweren Zöpfe zurück, die ihr auf die Brust gehangen, und sprach mit der Hand. Jakob nickte. Und während Jula die abgerahmte Milch des verwichenen Tages in den kupfernen Sudkessel schüttete und ihn mit dem Balken, an dem er hing, über die Herdflamme zog, verließ ihr Bruder die Hütte. Neben dem Brunnen setzte er sich in die Sonne und begann an der fliegenden Schwalbe zu schnitzen, die sich schon bald aus dem Holze lösen wollte.

In der Hütte sang Jula mit halber Stimme.

Ich weiß ein' Buben hübsch und fein, Hüt du dich! Der kann so falsch wie freundlich sein, Hut du dich! Er hat zwei Augen, die sind braun, Hüt du dich! Die gucken allweil durch den Zaun, Hüt du dich! Er hat ein lichtbraunfarbnes Haar, Hüt du dich! Und was er redt, das ist nit wahr, Hüt du dich!

In der Tiefe des Almfeldes rasselten viele Schellen wirr durcheinander. Jula, beim Klang ihrer Stimme und beim Geprassel des neugeschürten Herdfeuers, achtete dieses Lärmes nicht. Und Jakob konnte ihn nicht hören. Doch als er einmal von seinem Schnitzwerk aufblickte, sah er da drunten die flüchtenden Rinder und sah, daß am Waldsaum ein Reiter, der aus dem Sattel gestiegen war, seinen Gaul an eine Lärche band.

Jakob erhob sich, säbelte aufgeregt in die Hütte, lallte einen schweren Laut und sprach mit den Händen.

Betroffen sah Jula den Bruder an. Eine leichte Röte glitt über ihr strenges, sonnverbranntes Gesicht. Dann lachte sie ein bißchen und steckte rasch die hängenden Zöpfe hinauf. Sie trat aus der Hütte. Doch als sie den dunkelbärtigen Spießknecht über das Ahnfeld heraufkommen sah, machte sie verwunderte Augen, schüttelte den Kopf, redete mit den Händen zu ihrem Bruder und kehrte wieder an den Herd zurück.

Es dauerte eine Weile, dann fiel ein schwarzer Schatten über die sonnige Türschwelle.

Mit freundlichem Gruße trat Marimpfel in die Hütte. Er sah nur die Hirtin. Jakob, um seine Mißgestalt zu verbergen, hatte sich hinter dem Sudkessel in den Herdwinkel gedrückt.

Jula erwiderte den Gruß des Spießknechtes. Der Anblick dieses Gastes war ihr keine Freude. Sie wußte: Hofleut sind wildes Volk, vor dem man sich hüten muß. Doch ruhig fragte sie: »Woher des Wegs?«

»Bei einem Grenzstein hab ich nachschauen müssen.« Marimpfel ließ sich auf die Bank nieder, wobei das Eisenwerk seiner Rüstung klirrte. Er guckte in der Hütte herum. »Ein schöner Herd! Ein feiner Käser! Wann ist denn der gebaut worden?«

»Das weiß ich nit.« Jula begann mit langer Holzspachtel den dampfenden Inhalt des Kessels aufzurühren. »Willst du Zehrung haben?«

Marimpfel lachte, und seine schwarzen Funkelaugen musterten die Gestalt der Hirtin. »Vergelts deinem Gutwillen! Aber Bauernkäs ist saurer Fraß.«

Jula furchte die Brauen. »Ich kann dir auch süßen geben, wenn du so schleckig bist.«

»Viel süßen Käs wirst du nit aufstellen können von den vierzehn Kühen, die ich gesehen hab. Oder hast noch mehr?«

»Siebzehn hab ich.«

»Und wieviel Ochsen?«

»Dreiundvierzig hab ich aufgetrieben. Und zwanzig Kalben dazu. Gottlob, es ist mir heuer noch kein Stückl im Bruchboden versunken. Hab einen friedsamen Sommer heuer, Gott soll ihn segnen.«

Marimpfel erhob sich. »Zwanzig Kalben? So?« Unter kurzem Lachen faßte er mit flinker Faust den Arm der Hirtin. »Und dazu noch ein Geißlein, mit dem gut bocken wär! Was meinst?«

Was Jula meinte, brauchte sie nicht zu sagen. Marimpfel las es in ihren zornblickenden Augen. Und plötzlich fühlte er an seinem Handgelenk einen groben Schlag. Jakob, das Gesicht verzerrt, stand zwischen der Schwester und dem Spießknecht, mit dem Schnitzmesser in der kleinen, zitternden Faust.

Marimpfel wollte an den Gürtel greifen. Aber da fiel ihm das Wort des Amtmanns ein: »Tu dem Hirten keinen Trutz an!« Er war ein verläßlicher Hofmann. Drum nahm er die Sache spaßhaft. »Guck, wieviel Schneid die haben!« Er lachte. »Dirn! Bei dir sind die süßen Beeren gut verzäunt!« Zur Türe schreitend, sagte er heiter über die Schulter: »Ein andermal!«

Jula legte den Arm um ihres Bruders Hals und knirschte durch die Zähne: »Die Leut sind schlecht.«

In der schönen Morgensonne ging Marimpfel mit klirrendem Schritt über das Ahnfeld hinunter. Als er den Gaul von der Lärche losband, sah er schmunzelnd zum Käser hinauf. »Die wär eine Todsünd wert!«

Während der Gaul auf dem steilen Karrenwege vorsichtig durch den Wald hinunterkletterte, sang der Spießknecht eine zärtliche Weise. Auch diesem Wildfang quoll die Schönheit des leuchtenden Morgens durch Eisen und Haut. Und als er auf dem Weg eine junge Amsel sitzen sah, die unflügg aus dem Nest gefallen war und angstvolle Äuglein machte, lenkte er barmherzig die Hufe des Gaules auf die Seite.

Wo der Taubensee zwischen grünem Röhricht blitzte, kam Marimpfel zu dem Wiesgarten, in dem der Bauer das am Abend gemähte Gras mit dem Rechen umwarf. Sobald der Heuer den Spießknecht aus dem Wald heraustauchen sah, lief er an den Straßenzaun und kreischte: »Bruder? Bist du's oder nit?«

Marimpfel ließ das Roß ein paar Galoppsprünge machen, um sich vor dem Bruder als Hofmann zu zeigen. »Ei wohl, ich bin's.« Dann verhielt er den Gaul und fragte von oben herab: »Wie geht's dir allweil?«

»Nit schlecht. Es tut's. Hab dich lang nimmer gesehen.«

»Ein Mistbreiter und ein Herrschaftsreiter haben Weg, die auseinand laufen.« Marimpfel wollte nichts Böses sagen, nur etwas Selbstverständliches. Und spähend beugte er sich im Sattel hin und her. »Man sieht wahrhaftig das Häusl nimmer. Wie ich Bub gewesen, hat man's noch gesehen von der Straß. Jetzt ist alles zugewachsen. Bäum, Viech und Leut werden allweil mehrer. Bloß das Geld wird minder. Lebt die Mutter noch?«

»Wohl! Aber mit dem Schaffen ist's lang schon aus. Hockt allweil im Sessel. Und kein Tag, daß sie nit redt von dir. Vom Malimmes redt sie nie. Hast lang nichts mehr gehört von ihm?«

»Vier Jahr lang nimmer. Da ist er bei den Nürembergern gewesen als Stadtknecht. Ist kein fürnehmer Dienst. Hofmann sein ist feiner. Aber die Stadt haben allweil die größeren Geldsäck. Da wird's dem Bruder nicht schlecht gegangen haben.«

»Das tat die Mutter wohl anhören. Magst nit ein lützel hereinkommen?«

»Ich hab nit Zeit.«

»Die Mutter tät sich freuen.«

»Tu das Weibl grüßen. Herrendienst hat's eilig.« Marimpfel straffte den Zügel des Gaules.

»Du?« sagte der Bauer hastig. »Tust was gelten bei deinem Herren?«

»Dem bin ich der Liebst von allen.«

In den müden Augen des Bauern glänzte eine Hoffnung. »Da könntest bei deinem Herren für mich eine Fürbitt machen.«

»Mareiner!« Der Spießknecht wurde kühl. »Bist Holdenzins oder Lehent schuldig blieben?«

Der Bauer schüttelte den Kopf. »Noch allweil bin ich ein rechtschaffener Zahler gewesen Und hab den Magen geschnürt und hab ein lützel was auf die Seit gebracht.« Marimpfel wurde aufmerksam.

»Und tätest du bei deinem Herren für mich ein gutes Wörtl reden«, sagte Mareiner, »und tät das Stift sich genügen an einem christlichen Gebot, so möcht ich mein Schupflehen auf Erbrecht kaufen.«

Jetzt lachte Marimpfel. »Narr! Wem willst du denn was vererben? Kinder hast doch nit.«

»Was nit ist, kann werden.«

»Freilich, ja! Oft kriegt die Bäuerin Kinder, der Bauer weiß nit wie.«

Dem Taubenseer flog es heiß über die Stirne. Doch er sagte ruhig: »Ist auch nit der Kinder wegen allein, die mir der Herrgott erst schenken müßt. Aber was ein richtiger Mensch ist, hängt auch ein lützel an der Ehr. Hätt ich Eigengut und wär ein Erbrechter, so dürft ich in der Gnotschaft mitreden und müßt nit allweil das Maul halten.«

»So?« Der Spießknecht wurde heiter. »Erbrechter werden? Und den Brotladen aufreißen? Und wider die Herrschaft schreien? Und da soll ich helfen dazu.«

In den Augen des Bauern brannte die Sehnsucht. »Bist nit mein Bruder?«

»Richtig, ja, das hätt ich als Hofmann schier vergessen.« Und freundlich sagte Marimpfel: »Wieviel kannst dem Herrn bieten fürs Erbrecht?«

Zögernd, an jeder Silbe klebend, sagte der Bauer: »Sechzig Pfund Pfennig. Mehr hab ich nicht.«

»Sechzig Pfund hast? Da kannst dem Herrn bloß vierzig bieten.«

»Wieso?«

»Tust vergessen, daß ich dein Bruder bin? Und daß ich in Hösl und Hemd aus dem Haus gegangen? Und daß ich Anspruch hab an Acker und Wiesfrucht? Mareiner! Sechzig Pfund? Da wirst wohl dritteln müssen. Mit mir!«

Der Bauer sah den höfischen Bruder an und wurde mauerbleich über das ganze Gesicht. Und ohne noch ein Wort zu sagen, drehte er sich um und ging durch die Wiese davon.

Marimpfel hob sich im Sattel und rief dem Bauer lachend nach: »Gotts Gruß, Mareiner! Ich komm bald!« Dann ritt er davon.

Der Taubenseer ging an seinem Rechen vorüber, unter schattenden Bäumen hindurch und kam zu einem grauen Balkenhaus, über das ein großes Moosdach herging, wie eines Mannes Hut ein kleines Kind bedeckt.

Neben der Haustür saß, von Sonne umspielt, in einem grob gezimmerten Holzsessel eine alte, weißhaarige Frau mit gichtisch verkrümmten Händen, zermürbt von der schweren Arbeit eines langen, mühsamen Lebens.

»Kindl?« sagte sie zu dem vierzigjährigen Manne. »Was hast?«

Der Bauer biß die Zähne übereinander und schien sich auf eine Antwort zu besinnen. Dann sagte er: »Mutter! Der Marimpfel ist dagewesen.«

»Und ist nit herein zu mir?«

Mareiner schüttelte den Kopf und trat ins Haus.

Ohne sich zu regen, murmelte die alte Frau vor sich hin: »Ist dagewesen. Und ist nit herein zu mir. Ein Weg, schier kaum ein halbes Vaterunser lang. Und steht am Zäunl. Und geht nit herein zu mir.« Sie hob das zerfallene Gesicht, und ihre trockenen, fast schon erloschenen Augen suchten irrend im Blau des Himmels. »Heilige Mutter! Was sagst du jetzt?«

Geduldig blickte die alte Frau in dieses schöne, reine Blau empor und wartete auf Antwort.

Vor sechzig Jahren, als vierzehnjähriges Dirnlein, hatte sie die Gottesmutter zur Patronin ihres Lebens erwählt, war Marienträgerin gewesen bei jedem Bittgang in und außerhalb der Kirche, hatte sich, eine Dreißigjährige, zum Ehestand segnen lassen an einem Marientag und hatte jedem der drei Buben, die sie geboren, bei der Taufe einen Festtag der Mutter Maria als segensreichen Namen in das Leben mitgegeben. Mareiner hieß Mariä Reinigung, Malimmes hieß Mariä Lichtmeß, Marimpfel hieß Mariä Himmelfahrt.

Auf dem Moosdach gurrten die Tauben, kleine Vögel sangen in den Kronen der Bäume, es krähte der Hahn, und die Hühner gackerten, es rauschte der nahe Wildbach, die Bäume flüsterten, am Waldsaum grunzten die wühlenden Schweine – alles redete, was Natur und Leben hieß. Nur dieser schöne, blaue Himmel schwieg.

Und als die Augen der alten Frau den Schmerz des Lichtes fühlten und wieder heruntersanken zur Erde, sah diese Mutter ihr vierzigjähriges Kindl Mareiner mit Hacke und Spaten scheu hinüberspringen zum Walde.

Unter dem Kittel trug der Bauer einen schweren Ledersack, in den das Spargut seines Schweißes eingeschnürt war: dreiundachtzig und ein halb Pfund Pfennig in rheinischem Gold, in Silber und schwarzem Blech. Weil Mareiner einen Bruder hatte, der Hofmann war, vergrub er diesen Sack im Dickicht des Waldes zwischen den Wurzeln einer alten Fichte, die er unauffällig mit dem Messer merkte, als er den Boden geebnet und wieder mit Moos bedeckt hatte. Kein Fuchs hätte da einen Wandel der Dinge wahrgenommen.

Während Mareiner beruhigt sein unsichtbares Werk betrachtete, erfreute sich Marimpfel auf seinem trabenden Gaul immer wieder des gleichen Rechnungsschlusses: »Von sechzig ein Drittel ist zwanzig!«

Was konnte man im Leben nicht alles haben für zwanzig Pfund Pfennig! Der adlige Chorherr Jettenrösch bezahlte seiner Hübschlerin und Pfennigfrau für alle Lieb und Freud eines langen Jahres nur fünfzehn Pfund. Freilich war, wie die Leute munkelten, Herr Jettenrösch bei dem frummen Fräulein Rusaley nicht der einzige Zahler.

Marimpfel lachte.

Von den Herren, die klug sind, kann man lernen. Gute Kameraden und Gnoten müssen teilen können ohne Neid bei Trank und Schüssel, bei Mühsal und Pfennigsack. Warum nicht auch bei der süßesten von allen Freuden? Wie mehr sich teilen in des Lebens Kosten, um so billiger wird des Lebens Rausch.

Und Marimpfel wußte nun eine, die ihm gefiel. Warum sollte man die nicht zum Pfennigweibl machen können? Jungferntrutz ist wie Maienschnee. Um ein freudenreiches Leben ist alles feil. Und wie gut ihr das stehen muß, wenn sie das schwere Schwarzhaar im grünen Schleier hat! Und reitet ein hoher Fürst durch Berchtesgaden, so muß ihm die schöne Hübschlerin des Marimpfel das rote Stricklein spannen und die lustige Ehr erweisen. Große Herren haben kleine Lustbarkeiten gern. Und wissen, wie man danken muß.

Während Marimpfel diese goldenen Zukunftspläne schmiedete und durch die einseitige Häusergasse der Ramsau ritt, schien ein stummer Lebensschreck vor ihm herzutraben. Wo Leute oder Kinder vor den Türen waren, verschwanden sie flink im Haus. Und ein Hund, der mit schwerem Holzknebel am Hals auf der Straße in der Sonne gelegen hatte, wurde durch einen schrillen Pfiff in das Gehöft gerufen, zu dem er gehörte.

Hinter dem Haus des Leutgeb lenkte Marimpfel von der Straße weg und ritt zu einem hohen Hag hinauf, der ein auf grünem Hügel liegendes Gehöft umschloß. Der Reiter stieß mit dem Fuß an das versperrte Hagtor. »Auf! In des Herrn Nam!«

Holzschuhe klapperten. Ein junger Knecht öffnete das Tor, machte scheue Augen und sagte rasch: »Der Richtmann ist nit daheim.«

»Wo ist er?«

»Im Holz. Bis zur Mahlstund kommt er.«

»Solang kann ich nit warten. Spring ins Holz hin aus und hol den Richtmann! Ich tu derweil einen Trank beim Leutgeb.« Der Spießknecht ritt zur Straße hinunter.

Zwischen den Stauden und Bäumen, die den Weg in der Richtung gegen Berchtesgaden geleiteten, sah er ein Leuchten bunter Farben und blanker Waffen. Wer kam da? Keiner von den Hofleuten des Gadens. Die trugen sich anders.

Der gesprenkelte Stieglitz, der da zwischen den Stauden einherschritt, schleppte sich mit schwerer Last. War also wohl ein fahrender Kriegsknecht, der seinen Dienst verlassen hatte und zu einem neuen Soldherrn wanderte. Nun bog er auf die freie Straße heraus, ein langes, braunbärtiges Mannsbild in der bunten Tracht der städtischen Soldknechte, Wams und Hosen bunt gezwickelt, wie es bei den Kriegsleuten in der großen Welt da draußen neue Mode wurde. Er ging barhäuptig, das braune Langhaar gescheitelt. Den flachen, mit einer gelben Kräuselfeder umwundenen Hut hatte er an einer Kordel auf der Brust hängen, neben dem Knauf des hochgebundenen Zweihänders. Den Dolch und das Kurzeisen trug er am Gürtelgehenk. An dem langen Spieß, den er geschultert hatte, schleppte er eine Last, die man auf einen Zentner und darüber schätzen konnte: den Eisenhut, die Brustplatten und Armschienen, den braunen Gugelmantel und dazu das dicke, stamm gedrosselte Lederbündel seiner Kriegsmannshabe. Einen schwächlichen Menschen hätte solche Last erdrückt. Doch dieser lange Kerl hatte trotz der heißen Sommersonne keinen Tropfen Schweiß auf der sonnverbrannten Stirn und ging unter dem schweren Gewicht mit so federndem Schritt, als trüge er Schwanenflaum auf seinem Rücken. Und Augen hatte er, die heiter in den schönen Morgen schauten. Sein von Narben zerfetztes Gesicht erzählte, wie oft dieser Fröhliche schon unter dem Streich des Todes gestanden. Die jüngste seiner Narben, noch dunkel gerötet, ging von der Stirn über das rechte Auge mit geradem Strich herunter bis zum Kinn und wäre schrecklich anzusehen gewesen, wenn sie in diesem gesunden und vergnügten Mannsgesichte nicht eine Art von groteskem Humor bekommen hätte.

Als dieser fahrende Söldner den berittenen Hofmann kommen sah, blieb er breitspurig stehen und fing zu lachen an.

Auch Marimpfel lachte. »Wenn eins den Wolfen nennt, kommt er gerennt! Malimmes! Kein halbes Stündl ist's her, da hab ich mit dem Mareiner geredet von dir. Und jetzt bist da. Herzbruder! Gottes Gruß im Land!«

Malimmes streckte dem Reiter die Hand hinauf. »Gott grüß dich, Bruder! Ich hab dich schon gesucht im Gaden draußt. Hätt gern zum Einstand ein Häflein mit dir gelupft. Und hab gehört, du wärst in der Ramsau. Bist bei der Mutter gewesen? Wie geht's dem guten Weibl?«

Marimpfel erkannte in den Augen des Bruders die ehrliche Sehnsucht, wurde ein bißchen verlegen und sagte: »Es geht der Mutter nit schlecht. Allweil schnauft sie noch.«

Das Gesicht des andern strahlte. »Gute Botschaft! Will dem lieben Herrgott danken dafür. Am Sonntag werf ich dem Meßpfaffen einen Goldpfennig in den Bettelsack. Ich hab's. Einen Winter lang kann ich mich auf die Faulhaut legen und kann der Mutter ein gutes Leben machen. Komm, Bruder, kehr um! Laß uns selbander heim!«

»Ich kann nit, hab eilfertigen Herrendienst. Aber auf ein Ständerlein beim Leutgeb hab ich Zeit.«

»So komm! Ein Bruder ist auch ein kostbar Ding. Dreh dich, Schätzlein, dreh dich!« Malimmes faßte lachend den Zügel und wandte den Gaul des Bruders. »Auftragen laß ich dir, als wärst ein römischer Delegat. Friß und sauf und tu mich anlachen! Not und Hader sind draußen in der Welt. Daheim ist daheim. Und was ich anguck, ist liebreich und friedsam.« Er schrie einen Jauchzer in die sonnige Luft hinaus, so gellend, daß Marimpfels Gaul einen scheuenden Sprung machte.

Auf dem Wege zum nahen Leuthaus schwatzte Malimmes in seiner frohen Laune immerzu. Marimpfel war nachdenklich geworden. Und plötzlich, den Bruder von der Seite musternd, fragte er: »Einen Winter lang willst feiern? Bist in Ehren ledig worden von Herr und Dienst? Oder mußt dich verstecken? Hat's eine Sauerei gegeben?«

Malimmes sah ernst an dem Reiter hinauf. »Da wär alleweil ein andrer die Sau gewesen.«

»Meine Frag war nit schiech gemeint.«

»Muß ich halt dumm gehört haben.« Malimmes lachte schon wieder. »Ich will einmal für ein Zeitl mein eigner Herr sein. Viel Grund sind gewesen, daß ich gegangen bin. Der letzte war, daß mich das Heimweh angefallen hat, derweil ich sechs Wochen im Spittel gelegen bin. Wegen dem da!« Er deutete auf den frischen Narbenriß, der wie ein roter Feuerstrich in dem braunen Gesichte glomm.

»Ein böser Streich! Bruder, da mußt dich schlecht gedeckt haben?«

Lustig zwinkerte Malimmes mit den Augen und schüttelte den Kopf. »Es hätt ein feiner Hieb sein können! Hätt aus meinem Hirndach schier zwei Äpfelschnitten gemacht. Aber grad, wie der Hieb schön kunstvoll ansetzt, hat der ander, ein Pegnitzer Heckenreiter, meinen Spieß in der Seel gehabt. Seine Faust hat nur noch ein lützel rutschen können. Für sechs Wochen hat's bei mir noch ausgegeben. Aber der ander ist nimmer aufgestanden. Ist ein braver Kerl gewesen, mit dem ich oft gebechert und geknöchelt hab. Hat mir's nit schlecht vermeint, hat halt auch nur seinem Fähnl die Treu gehalten. Wegen sieben Ballen flandrisch Tuch, die sein Edelherr gekrapst hat.« Malimmes lachte nimmer.

Verwundert guckte Marimpfel auf den Bruder hinunter.

»Kriegsmann sein, war ein gutes Handwerk!« sagte Malimmes. Er hob den belasteten Spieß auf die andre Schulter. Die Eisenstücke klirrten. »Man sollt nur allweil wissen, daß es hergeht um eine Sach, die nötig und ehrlich ist. Da war das Dreinhauen eine Freud. Aber die meisten Händel müßten nit sein. Und geht's nit um einen städtischen Pfeffersack, so geht's um einen herrischen Hennendreck. Mich freut's schon lang nimmer. Im Ausland solden, wie's andere tun, das mag ich nit. Ich mag nit welschen, hab das Deutsche lieb. Aber bei uns im Reich, da ist's ein Elend. Der König, sagen die Leut, wär bloß ein Schatten noch. Die Fürsten reißen ihm den letzten Fetzen aus dem Mantel. Von denen trachtet ein jeder nach dem wärmsten Hosenfleck für seinen eignen Hintern. Jeder ist seines Nachbarn Feind und Neider. Daß man zusammengehört im Reich, das weiß man nimmer. Ein Grausen, wo man hinschaut! Hab mir's oft schon denken müssen. Und jetzt, derweil ich sechs Wochen im Spittel gelegen bin und es hat der Feldscher so grob geschustert an meinem Hirnkastl, da hat mich allweil gedürstet nach einer Hand, die linder nähen tat.« Nun lachte Malimmes wieder. »Da ist mir die Mutter nimmer aus dem Sinn gefallen. Und jetzt bin ich daheim. Und will meinen lustigen Fried haben ein Zeitl.«

Marimpfel gab dem Bruder einen Puff. »Ein Kerl wie du! Wirst doch kein Sinniervogel sein! Elend im Reich? Was geht denn uns das an? Wie mehrer das Gold, so fester der Sold, wie feiner der Brei, so besser die Treu, wie größer die Ehr, so blanker die Wehr! Die als Kriegsleut anders denken, sind Rindviecher.«

Malimmes lachte. »So bin ich halt eins.«

»Geh, Bruder, sei ein lützel stolzer! Aber ich weiß schon, wo's fehlt bei dir. Als Stadtknecht bis du gut bei Gold und Brei gewesen, aber mager bei der Ehr. So was wurmt einen festen Kerl, der aufwärts möcht. Tu den Kopf heben! Ich schaff dir einen fürnehmen Herren. Hofmann sein bei guter Farb, das ist allweil das Beste. Da kannst herunterspeien auf die, wo minder sind.«

Die beiden lenkten von der Straße in den Hof des Leuthauses ein. Und wieder hob Malimmes das braune, von dem feurigen Strich durchsägte Gesicht und sah hinauf zu dem höfischen Reiter. »Du!« Er schmunzelte. »Ich hab einmal einen Frosch gesehen. Der ist der stolzeste gewesen unter allen Fröschen. Und weißt, warum? Weil ihn der Ochs getreten hat. Und die andern Frösch, die haben nur den Tritt der Kuh gespürt. Drum sind sie minder gewesen.« Heiter lachend trat Malimmes in den Flur des Leuthauses und machte lustige Späße über Bauch und Doppelkinn des Wirtes, der den Kriegsknecht unterwürfig begrüßte. »Und jetzt trag auf, du Gauner! Bring Wurst und Selchfleisch! Her mit dem besten aus deinem Keller! Nimm die größte von deinen Bitschen! Ich weiß wohl, Saufen ist der Deutschen Spott vor der Welt wie auch vor Gott! Aber wenn mich halt dürsten tut! Was soll ich machen? Ist nit der liebe Gott dran schuld, wenn an siedheißem Sommertag dem Menschen die Leber brandig wird?«

Der heitere Rumor, den Malimmes anhub, brachte gleich das ganze Haus in vergnügten Aufruhr. Die Wirtin kam gezappelt, die zwei jungen Mägde kicherten und sprangen. Und der Knecht, der den Gaul Marimpfels versorgen mußte, trug die Freudenbotschaft in den Stall: »Der lustige Malimmes vom Taubensee ist heimgekommen!«

In der großen Leutstube ließ der Soldknecht seine schwere Last auf eine Tischplatte hinklirren. Marimpfel trat mißmutig zur Tür herein; des Bruders Gleichnis von den Fröschen hatte ihn geärgert, und er schien nicht recht zu wissen, wie er den Heimgekehrten nehmen sollte. Doch als er prüfend den Spieß des Bruders mit der daranhängenden Last zu lupfen versuchte, wandelte sich sein Verdruß in ehrliches Staunen. »Gotts Teufel und Bohnenstroh! Herzbruder! Da hast dich aber schuftig schleppen müssen! Und hast bei solcher Hitz kein Tröpfl Wasser auf deiner Näs!«

Malimmes rückte hinter den Nachbartisch. »Die hurtig schwitzen müssen, sind leichtfertige Leute und Schwächlinge. Wer mannsfest lebt, dem bleibt auch in harter Mühsal das Häutl trocken.«

Für diese Lebensweisheit hatte Marimpfel kein hörendes Ohr. Er musterte neugierig den strotzenden Lederbinkel am Spieß, statzte ihn fest auf die Tischplatte hin und öffnete weit die Augen, ah er dieses leicht zu deutende Geklirr vernahm.

»Gelt«, rief Malimmes lachend, »da drin, da klingelt's?«

Der Wirt und seine Leute begannen aufzutragen, als wären zwei große Hansen zu Gast gekommen. Malimmes, immer schwatzend, immer lachend, schnitt dem Bruder das Selchfleisch und die Würste in großen Brocken vor und füllte ihm fleißig den zinnernen Becher. Auch der Leutgeb, sein Weib und die zwei jungen Mägde mußten mithalten. Jeder Knecht und Stallbub, der kudernd zur Tür hereinguckte, wurde fröhlich zu dem gastfreien Tisch herangewunken, und jeder Bauer wurde angerufen, der draußen auf der Straße vorüber wollte – mancher schüttelte den Kopf und ging seines Weges, doch mancher kam. Bald saßen an die dreißig um die lange Tafel, zu der man Tisch neben Tisch zusammenrückte. Marimpfel, um dem lustigen Bruder gefällig zu sein, bezwang seinen Hofmannsstolz und gab sich als Herr, der sich gnädig niederbeugt zu den Minderen. Doch Malimmes hatte eine Art von kameradschaftlicher Freude an der randalierenden Gesellschaft, nannte sie seine Kump- und Dumpanei, war der Obrist Schluckhauptmann und kommandierte mit drolligen Sprüchen den Becherlupf.

Der städtische Soldknecht und der gadnische Hofmann vertrugen viel. Sie schluckten munter und behielten klare Köpfe, während die andern bald in einen feuchtfröhlichen Dusel gerieten. Ein altes, dürres Bäuerlein, das die billige Schluckstunde eifrig nützte, kam in so mutige Laune, daß es, neben scheuer Ehrfurcht vor Marimpfel, gegen den lachenden Stadtknecht spöttische Redensarten zu werfen wagte.

Wieder ließ Malimmes die leergelupfte Bitsche füllen. »Leutgeb! Spring und bring! Ich zahl's. Ich bin ein redlicher Kriegsmann und hab's! Bin nit der deutsche König, der Atzung, Trunk und Herberg schuldig bleiben muß, seit ihm die Fürsten das letzte Hellerlein aus dem Säckel gerissen.«

»Haben tust du's?« schrie das mutige Bäuerlein. »Woher denn hast du's? Vom Sold wirst dir's nit abgespart haben! Wie, Mensch, zeig deine Händ her! Hast Christnägel oder Geierkluppen? Kriegsleut sind schieche Greifer.«

»Wozu hätt's denn der Bauer und Pfeffersack«, fiel Marimpfel ein, »wenn's ihm der Kriegsmann nit nehmen sollt?«

Malimmes lachte. »Denen man nimmt, die verstehen's nit.«

Der Gadnische Hofmann wartete mit Sprichwörtern auf. »Rauben ist keine Schand, das tun die Besten im Land. Mir flecket's nit die Händ, wenn's einen Ritter nit schändt.«

»Ist aber schon oft so ein Ehrenschilder gefangen worden und hat verschnaufen müssen im Hanfsamen.« Ein Griff, den das Bäuerlein nach dem Halse tat, erklärte deutlich, wie das Wort vom Hanfsamen gemeint war.

Marimpfel verlor die gnädige Laune und wollte mit der Faust über den Tisch hinüberschlagen. Doch Malimmes fing den Arm des Bruders auf. »Tu Fried halten, Herr Hofmann! Der Bauer hat recht. Wie die Fürnehmen das Beispiel aufstellen, so machen's die Minderen nach. Drum ist es Gesetz geworden im Land: Schlupf durch, und alles ist erlaubt, laß dich fangen, und alles ist verboten.«

»Und du?« kreischte das Bäuerlein. »Bist noch nie nit erwischt worden?«

»Schon oft! Bin viermal schon im Hanfsamen gelegen, und jedesmal bin ich wieder ledig worden.« Malimmes spreizte auf dem Tisch die Fäuste auseinander und lachte vergnügt. »Ich stirb nit am Rappenholz. Vor achtzehn Jahr, auf meinem ersten Kriegszug, hat mir's Zigeunerweibl im Ungerland geweissagt aus der Hand, es täten mich sieben Strick nit umbringen, erst vor dem achten müßt ich mich hüten.«

Ein lustiges Geschrei erhob sich um die Tafel her, man witterte abenteuerliche Schwänke und rückte neugierig zusammen.

»Vier Hänfene haben mir keinen Schaden getan. Drei kann ich noch ausprobieren und lachen dazu. Und eh sie den achten für mich drehen, schlupf ich in ein Kloster und laß mich zum Franziskaner weihen. Da hab ich den achten Strick um den Bauch, därf mir erlauben, was ich mag und brauch keine Angst nit haben um mein Hälsl!«

Im Dutzend kreischten die neugierigen Fragen durcheinander. Und Malimmes fing zu erzählen an.

»Den ersten Hänfenen haben sie mir selbigsmal im Ungerland geflochten, sieben Tag nach der Weissagung, die mir das Zigeunerweibl gemacht hat. Achtzehn Jahr alt bin ich gewesen. Ein fester Lackl! Aber gut gewachsen sein, ist ein Segen Gottes.«

Eine aufgeregte Stimme schrie: »Was hast du verbrochen, selbigsmal?«

»Für meinen Herren hab ich wie ein blinder Narr gefochten und hab mich tief in den ungerischen Haufen hineingeschlagen, bis mir der Bidenhänder in Scherben gegangen ist. Da haben sie mich bei den Ohren erwischt. Und fünf andre fromme Gnoten dazu. Und weil ich von uns sechsen der Längste gewesen bin, drum haben mich die Ungern für den Schlechtesten gehalten und haben mich zur Bußverschärfung aufgehoben auf die Letzt. Hab zuschauen müssen, wie sie die fünf hinaufgezogen haben auf einen Birnbaum neben der Straß. So große Birnen hat er noch nie getragen wie selbigsmal. Für jeden von den fünfen hab ich ein Vaterunser gebetet. Sind brave Kerle gewesen. Unser Herrgott wird sie selig haben in Gnad und Barmherzigkeit. ›So‹, sagt der Drosselmeister, ›jetzt haben wir gleich das halbe Dutzend voll!‹ Sagt's. Und wirft mir den Hänfenen übers Köpfl. Mir ist ein lützel dumper zumut geworden. Anfangen müssen ist allweil schwer, beim Sterben nit anders als bei der Lieb oder sonst bei einem kunstvollen Ding. Und derweil mir übel gewesen, hab ich aufs Beten für mich selber ganz vergessen. Und muß meine Hand noch anschauen und muß mir denken ›Jetzt wird's aufkommen, ob mein Zigeunerweibl eine Gans gewesen oder meine Hand ein Lugenschüppel!‹ Und da haben die vier Löwen des Drosselmeisters zugegriffen und haben mich auf den dicksten Ast hinaufgezogen.«

Um die Tafel her war eine fiebernde Spannung. Und eine junge Magd, der die blonden Zöpfe dick um die Ohren lagen, betete angstvoll: »Heilige Mutter, steh ihm bei!«

»Hinaufgezogen! Ja! Hängt einem ein feines Maidl um den Hals, ihr lieben Leut, das druckt linder als ein Hänfener. Und wie mir schon lützel blau wird vor den Augen, saust eine Staubwolke her übers Feld, und die unsrigen sind da und schlagen drein wie fleißige Bauren mit dem Drischel. ›Aushalten‹, schreit's in mir. Ich pluster den Hals auf wie ein Truthahn und seh durch farbigen Nebel noch, daß einer auf hohem Gaul zu uns sechsen herreitet. Ich will noch sagen: Guck, mein Zigeunerweibl war ein gescheites Luder! Aber da geht mir kein Schnaufer nimmer durch den Hals, und es ist mir eine süße Finsternis durchs Leben geronnen. Jählings tu ich die Augen auf, lieg im schönsten ungarischen Gras, neben meiner liegen fünf stille Gnoten, die nimmer haben aufwachen mögen, und mein dicker Hauptmann steht vor mir: ›Wie geht's, Malimmes?‹ Ich heb mich aus dem Gras und sag: ›Nit schlecht, Herr Hauptmann, aber krieg ich nit gleich ein Mäßl Wein, so wird mir das Zäpfl kitzeln, daß ich räuspern muß.‹«

Ein freudiger Jubel erhob sich am Tisch. Es macht den Menschen die Seelen warm, wenn sie einen lachen sehen, der dem kalten Tod entronnen. Zärtlich sagte die blonde Magd: »O heilige Mutter, dem hast beigestanden!« Marimpfel, in dem das Abenteuer des Bruders ein stolzes Wohlgefallen weckte, schob ihm die Kinne hin: »Schluck, Herzbruder, schluck, daß dich das Zäpfl nit kitzelt!« Und als Malimmes nach festem Trunk die Kanne niederstellte, drängten die aufgeregten Stimmen schon: »Das andermal? Wie war's das andermal?«

»Das ist im Clevischen gewesen, vier Jährlein nach dem ungerischen Handel.«

Die Zärtliche fragte: »Hast im Clevischen auch so treu gefochten wie im Ungerland?«

»Nein, Maidl!« Malimmes bekam einen Zug von Ernst im Gesicht. »Da hab ich im trunken Übermut eine schieche Sache verübt.«

»Was denn für eine?«

»Dir sag ich's nit! Junge Maidlen müssen nit alles wissen. Dem Kapuziner hab ich's gebeichtet. Der hat arg geschumpfen. Und hat gesagt: ›Ich absolvier dich bloß, weil du sterben mußt!‹ So schiech ist die Sach gewesen, daß mein eigener Hauptmann mich zum Baum hat führen lassen, derweil ein grobes Unwetter am Himmel gehangen hat. An mein Zigeunerweibl hab ich gar nit denken mögen. Denn meine Straf ist redlich verdient gewesen. Auf dem Weg zum Eichbaum, der nit weit vom Geläger war, hat's grau zu schütten angehoben. Derweil ich Reu und Leid gemacht hab, ist das Wasser von mir niedergeronnen. Unter dem Eichbaum bin ich neben dem Meister Ungut auf der Staffel gestanden. Und wie der Hänfene an den Ast gebunden war, tu ich ein Kreuz machen und sag: ›Stoß mich hinaus, Meister, ich hab's verdient!‹ Und grad, derweil ich den Stoß verspür, da tut's in den Lüften einen Böller als wie von der Cölnerin Unverzagt, und Feuer ist vom Himmel gefallen, daß die Welt wie in blauer Glut geschwommen hat. Der mächtige Eichbaum ist in Scherben gewesen. Wie die Fliegen, wenn's zum Frieren anhebt, sind die Leut auf dem Boden gelegen und ich dabei, ich weiß nit wie. Viere hat der Blitz erschlagen. Und mit den andern, die sich aufrappeln, lauf ich ins Geläger hinein. Meine Zeltgnoten haben mir gesagt, wie das Feuer gefallen wär, da hätt ich am Ast gehangen und hätt einen großen Heiligenschein um den ganzen Leib herumgehabt. Jetzt denket, Leut! Ein grauslicher Sünder! Und schaut wie ein Benedeiter aus! Viel Ding im Leben sind hart zu verstehen, ist schon wahr! Und ich geh zum Herrenzelt und sag: ›Herr Hauptmann, morgen, da wird's wohl wieder trücken Wetter geben, da muß man's halt zum andernmal mit mir versuchen.‹ Und da ist mein grober Hauptmann wie ein gütiger Heiland worden und sagt: ›Geh hin und sündige nimmer! Ich muß vergeben, wenn der Herrgott mit himmlischen Pulverbüchsen nach deinen irdischen Richtern schießt.‹«

Schweigen blieb an der Tafel, während Malimmes trank. Von seiner Geschichte, die ihn selber ernst gemacht, war's wie der Hauch eines Wunders ausgegangen. Sogar Marimpfel schwieg. Aber sein Stolz auf den Herzbruder war im Schwinden. Hatte die Geschichte sich wirklich so zugetragen? Oder verstand sich Malimmes nur so fein aufs Lügen? So oder so – Marimpfel begann auf den Bruder eifersüchtig zu werden, begann es ihm zu neiden, daß diese Grübelnden am Tisch mit großen Augen und offenen Mäulern zu ihm aufstaunten.

Die Zärtliche hatte einen feuchten Schimmer unter den Wimpern und fragte leis: »Hast nimmer gesündiget?«

»Ein lützel schon. Weißt, Maidl, Mensch bleibt Mensch.« Malimmes schmunzelte. »Aber so grauslich wie selbigsmal im Clevischen ist's niemals nimmer ausgefallen.« Er ließ die Bitsche kreisen. »Und wie sie mich das drittmal hätten hängen mögen, das ist bei Ulm gewesen, vor sieben Jahr. Da hab ich das feindliche Geläger ausspähen müssen. Und da haben sie mich hopp genommen.«

Marimpfel reckte sich. »Wirst es halt dumm gemacht haben!«

»So? Meinst?« Der Bruder blinzelte ihn heiter an. »Mach's achtzehn Jahr lang mit, und nachher komm und sag mir, wie's am besten ist.«

Ein Gelächter surrte um den langen Tisch, und Marimpfel tat, als wäre ihm das Mitlachen ein Vergnügen. Da erschien der junge Knecht des Runotter in der Tür und rief dem Gadniscben Hofmann zu: »Mein Bauer ist heimgekommen, jetzt kannst ihm Botschaft sagen.«

Marimpfel schlug mit der Faust auf den Tisch. »Die soll er sich holen! Der! Wo ich sitz, das siehst. Da kannst es ihm sagen. Fahr ab!«

Der Knecht verschwand.

Die am Tische guckten. Und verwundert sah Malimmes den Bruder an, beugte sich zu ihm hin und tuschelte: »Du! Es wird dir doch so ein Tröpfl Wein nit den Kopf verdösen! Hast mir nit gesagt, du hättest eilfertigen Herrendienst? Mensch, tu verständig, was deines Amtes ist!«

»Was meines Amtes ist, das weiß ich schon!« Marimpfel wurde verdrießlich. »Das weiß ein Herrschaftsreiter besser wie du, Herr Baurenfreund! Schau deine lieben Knospen an der Tafel an! Die gluren auf deine Possen –«

»Bruder!«

»Wie Kinder in der Fasnacht auf die Schembarter! Erzähl doch! Erzähl! Wie! hat's denn gegangen mit dem dritten Strick?«

Auch die Ungeduldigen am Tische riefen: »Erzähl! Erzähl!«

Malimmes sah den Bruder schweigend an. Dann legte er sich mit breiten Ellenbogen über die Tafel.

»Also, die Ulmer haben mich hopp genommen! Und flink hat's da geheißen: Ans Rappenholz, der Lump muß hängen! Aber der Ulmer Meister vom letzten Hanf ist ein junges Schaf gewesen. Hat gemeint, er verstünd was, und hat seine nötige Kunst traktiert wie der Sautreiber die Nachtigall. Und weil er allweil so dröselt an mir und bringt die Sache nit füreinand, da ist mir die Geduld vergangen. Und ich schlag dem Hammel eine Maulschelle über den Schnabel. Und schrei: ›Du! Richten muß flinke Barmherzigkeit sein. Komm her, du Lapp, ich will dir zeigen, wie man's macht!‹ Da geht ein lustiges Lachen durch den Leuthaufen, der um uns her gewesen ist. Die Schwaben sind ein verständigs Völkl. Ein Sprüchl sagt: Der Schwab ist froh, und ist er arm, so tanzt er noch mit leerem Darm. Und wie die Leut so lachen, streckt sich ein junges, sauberes Maidl in die Höh und schreit: ›Um den wär schad, den sollt man gnadigen.‹ Und hundert Mannsleut schreien es gleich dem Maidl nach. Und richtig! Die Ulmer haben mich laufen lassen.«

Am langen Tisch erhob sich ein glückseliges Gelächter. Und Malimmes, während er gemütlich mitlachte, sagte zu Marimpfel: »Jetzt nimm mich in die Lehr, Herzbruder! Wärst du auf dem Ulmer Schrägen gestanden, wie hättst es denn du gemacht?«

Was Marimpfel brummte, war bei dem heiteren Rumor der Tafelrunde nicht zu hören. Die blonde Magd hatte ein heißes Gesichtl und lachte: »Für das schwäbische Maidl bet ich heut nacht drei Vaterunser!« Und viele sprangen von den Stühlen und Bänken auf, vergaßen das Selchfleisch und die billige Bitsche, drängten sich um Malimmes her und wollten aus nächster Nähe hören, wie die Geschichte des vierten Strickes ihr glückliches Ende finden würde.

»Das ist in Landshut gewesen, vor dritthalb Jahr«, erzählte Malimmes, »und Landshut, Leut, das ist eine gefährliche Stadt. Da haben einmal die Wolf den Schultheiß auf offenem Markt gefressen. Die Landshuter haben zugeguckt aus ihren Fenstern. Und wie der Ärmste gefressen war, hat ein barmherziges Kindl gesagt: ›Der Schultheiß ist mager gewesen, die lieben Wolf lein müssen noch Hunger haben.‹ Im selbigen Landshut, in so einer gefährlichen Stadt, hätt ich schier mein Leben lassen müssen. Da haben wir Nüremberger, nit weit von Regensburg, einem Ritter die Burg gebrochen. Der ist mit dem Landshuter Herzog Heinrich im Bund gewesen. Auf dem Heimweg hab ich mit zwölf braven Gnoten die Nachhut gedeckt. Wir kommen zur Donau. Die zwölfe hocken schon im Fährboot. Da sprengt ein Häufl von des Herzogs Reitern auf uns ein. Ich stoß das Fährboot ins Wasser und will nachspringen. Aber weil mein Binkel ein lützel schwer gewesen ist, bin ich zu kurz gesprungen. Das Fährboot rinnt davon, ich platsche ins Wasser hinein, und die Landshuter greifen mich.«

»Jesus!« stammelte die blonde Magd erschrocken. Und das magere Bäuerlein kreischte: »Gänsl, dummes! Ist ihm doch nichts geschehen! Er hockt doch bei uns und lacht.«

»Aber selbigmal ist mir nit zum Lachen gewesen. In meinem Binkel haben sie fünf goldene Becher und viel schönes Geschmeid gefunden. Drum haben sie mich mitgezarrt bis auf Landshut. Zwischen den Nürembergern und des Herzogs Räten hat's eine endsmäßige Schreiberei um mein Leben abgesetzt. Und derweil sie viel gutes Papier verdorben haben, bin ich zu Landshut vom Juli bis zum Jänner im Turm gehockt. Selbigsmal hab ich min ein bayrisches Mäusl dressiert. Ist mir ein lieber Gesell gewesen bis zum Heiligdreikönigstag, an dem mir die Landshuter den Stab gebrochen haben. Am letzten Morgen hab ich mit dem bayrischen Mäusl noch meine Himmelfahrtswurst geteilt. Dann hat mich der Freimann zum Karren geholt. Die Richtstatt ist ein halbes Stündl weit vor der Stadt gelegen. Und eine schauderhafte Kält ist gewesen. Mir hat's nit viel gemacht, im Turm gewöhnt sich einer ans Frieren. Aber dem Meister Freimann hat die schieche Kälte auf dem Karren gebeutelt, daß ihm die Zähne gescheppert haben. Und da hab ich lachen müssen. ›Freilich, du kannst lachen‹, sagte der Freimann, ›du hast es gut, du brauchst bei so einer Kält den weiten Weg heut nimmer heimfahren!‹«

Am Tisch ein heiteres Gelächter. Sogar die blonde Magd, obwohl sie zitterte vor barmherziger Sorge, mußte schmunzeln.

»An die tausend Leut sind um das Rappenholz hergestanden. Und auf den Herzog Heinrich hat ein kostbar Zelt mit einem Glutpfändl gewartet, daß der hohe Herr bei der schönen Lustbarkeit nit frieren müßt. Das Glöckl hat geläutet, und der Herzog, ein kleines, braunes, flinkes Manndl, ist dahergeritten mit stolzem Gefolge. ›Also, Freimann‹, sag ich, ›fangen wir an in Gottesnamen, fürnehme Herren därf man nit warten lassen.‹ Der Weg zum Schragen hinauf ist ganz vereist gewesen. Und da tut der Freimann einen Rutsch. ›Du‹, sag ich, ›das bedeutet nichts Gutes, heut wirst noch eine Dummheit machen!‹ Und richtig! Wie der Freimann auf dem Spreißel hockt und kletzelt mir den Hänfenen um das kitzlige Zäpfl, da tut die Leiter jählings auf dem hauen Eis einen Fahrer. ›Hoppla!‹ schreit der Freimann und will sich halten an mir. Aber für so ein schweres Paarl ist der Hänfene nit berechnet gewesen. Und ist gerissen. Und derweil der Freimann einen Purzelbaum über den Schragen macht, bin ich auf dem schönen Glatteis schlittengefahren bis vor das warme Glutpfändl des Herzogs hin. Der schaut, ich weiß nit wie. Und fragt mich: ›Nüremberger, woher so flink?‹ Ich sag: ›Gradaus vom Himmel her. Und einen schönen Gruß vom heiligen Petrus bring ich.‹ Der Herzog macht ein paar Augen, als wüßt er nit, ob er lachen oder sich ärgern soll. Und sagt: ›Warum bist du, wenn du schon vor des Himmels Tor gestanden, nit auch hineingegangen?‹ Ich sag: ›So hab ich tun wollen, gnädigster Herr! Aber der Petrus hat mich nit durch die himmlische Maut gelassen. Und hat befohlen: Kehr um, ich darf dich nit allein in den Himmel lassen, es ist so fürgesetzt im Buch der Ewigkeit, daß du selbander kommen mußt mit dem Herzog Heinrich von Laridshut.‹«

Malimmes mußte warten, bis sich der lustige Aufruhr am Tisch ein bißchen legte.

»Ich sag's. Und der Herzog verfärbt sich ein lützel, schmunzelt aber gleich und ruft: ›Der Mann soll leben! Hütet seine Gesundheit und gebt ihm sicheres Geleit bis Nüremberg!‹ Und wie ich mit dem Freimann wieder heimgefahren bin nach Landshut, schauet, da hat mich, weil ich so lang mit meiner dünnen Hos auf dem kalten Eis gesessen bin, halt auch ein lützel gefroren. Und ich sag zum Freimann: ›Gelt, da siehst du's, man soll den Tag nit vor dem Abend loben, schau, jetzt geht's mir auch nit besser als dir!‹«

Am Tische ging ein Spektakel los, so laut, daß man das einzelne Wort nicht mehr verstand. In heiterem Aufruhr schrien sie alle durcheinander und fingen darüber zu streiten an, ob der Herzog Heinrich von Landshuf einen abergläubischen Schreck verspürt oder den Galgenspaß mit einem barmherzigen Herrenscherz erwidert hätte. Während dieses Streites schlich sich die blonde Magd mit heißem Gesicht zu Malimmes hin, schlang ihm plötzlich den Arm um den Hals und flüsterte ihm ins Ohr: »Magst mich haben?« Er lachte, küßte sie schnell auf die glühende Wange, gab ihr einen Schlag auf die runde Seite und sagte: »Dummes Gänsl, du! Aber ein richtiges Weibl bist! Lauft der Tod einem Mannsbild nach, so rennt dem Tod noch allweil ein Weibl voraus, das flinker ist.«

Der Knecht des Runotter war in die Stube getreten. Marimpfel sprang auf und schrie: »Wo ist dein Bauer? Warum kommt er nit?«

»Mein Bauer laßt dir sagen, er wartet noch, bis ich heimkomm. Dann muß er wieder zur Arbeit ins Holz.« Gleich nach dem letzten Wort machte der Knecht sich wieder davon.

Dem Gadnischen Hofmann schwoll der Kamm. »Wart, Bauer! Dir sag ich ein Wörtl!«

Da faßte Malimmes den Arm des Bruders und mahnte freundlich: »Tu dich besinnen! Sei gescheit!«

»So gescheit wie du bist, bin ich schon lang gewesen.« Marimpfel befreite seine Faust, stieß ein paar der lustig Streitenden aus seinem Weg und verließ die Leutstube. Draußen fluchte er wie ein Bauer bei der Fron. Und als er im Sattel saß, bekam der Gaul so grob die Sporen, daß er ein paar rasende Sätze machte.

Zugleich mit dem jungen Knecht erreichte Marimpfel das Hagtor des Runotterhofes. Ein weites, sauber gehaltenes Gehöft. Wie ein viereckiger Hügel lag der von Geflecht umhürdete Düngerhaufen vor den zwei niederen Stallgebäuden, in denen es stille war. Eine große Scheune. Und daneben das Wohnhaus, ein schwerer Holzbau, fest und klobig, grau vor Alter. Weiße Tauben gurrten auf dem steilen Dach, das halb die Sonne hatte und halb im Schatten von drei alten, mächtigen Ulmen träumte. Hinter den Bäumen lag ein Gärtchen mit blühenden Blumen.

Außer dem jungen Knecht, der mit dem Reiter gekommen war und gegen die Ställe ging, war niemand zu sehen.

»Bauer!« schrie Marimpfel und hatte mit dem ungebärdigen Gaul zu schaffen.

Keine Antwort ließ sich hören, niemand kam.

»Gotts Teufel und Bohnenstroh! Was ist denn? Bauer! Bauer!«

Da rief der Knecht von den Ställen her: »Der Bauer ist im Haus. Wirst wohl hinein müssen.«

Marimpfel sprang aus dem Sattel, warf den Zügel des Gaules über einen Pflock und trat in den dunklen Flur. Zur Linken stand eine Tür offen. Die führte in einen großen, niederen Raum mit fünf kleinen Fenstern. Der Boden war mit Lehm glatt ausgeschlagen und mit rötlichem Sand bestreut. Wände und Decke bestanden aus dem braunen Gebälk des Hauses. Ein großer Ofen, gemauert. Und eine Bank um den ganzen Raum herum. In der Fensterecke ein schwerer Tisch mit vier dreibeinigen Stühlen davor. Und im Mauerwinkel ein hölzernes Kreuz mit frischen Wacholderzweigen.

Bei einem der kleinen Fenster saß Runotter, die Faust über die Tischplatte hingestreckt, ein Fünfzigjähriger, schwer, fest und knochig, in verwittertes Lederzeug gekleidet. Das glatt auf die Schultern fallende Haar war halb ergraut, das Gesicht von Gram und Arbeit hart versteint. Doch in diesem Gesichte glänzten die gleichen Augen, ruhig und blau, wie in den Gesichtern seiner beiden Kinder.

Als der Bauer den Spießknecht kommen sah, erhob er sich. »Gottes Gruß in meinem Haus!«

Schon auf der Schwelle fing Marimpfel zu brüllen an: »Du Kerl! Was bist denn du für einer –«

»Der Richtmann Runotter bin ich. Oder muß ich meinen weißen Stab holen, daß du merken kannst, mit wem du redest?«

Diesem ruhigen Ernste gegenüber kam Marimpfel zur Besinnung. Eines Richtmanns Stab und Würde mußten auch einem Hofmann heilig sein. Der Spießknecht schwieg. Er musterte den Mann mit funkelnden Augen, und sein Zorn erstickte in einem halben Lachen. Dann sagte er grob: »Bauer! Du bist befohlen vor meines Herren Spruch. Und mußt mir folgen. Auf der Stell.«

Runotters ernster Blick schien in dem Gesicht des Spießknechtes lesen zu wollen. »Meines Herren Wort in Ehren! Ich komm.« Er rief zu einem Fenster hinaus: »Heiner, tu mir den Schimmel zäumen!« Und sagte zu Marimpfel: »Gleich bin ich wegfertig.« Er trat in eine Kammer.

Als er wiederkam, war er zum Ritt gestiefelt, trug auf dem Kopf die geschirmte Eisenschaller und um die Brust den plump geschmiedeten Holdenküraß, über dem das Schwert an stählerner Kette hing.

Marimpfel machte zuerst verdutzte Augen, dann fragte er spottend: »Willst fechten mit dem Amtmann?«

»Das nit. Aber was Weg heißt, ist unsicher. Man sieht ach für.« Draußen klang der Huf schlag eines schreitenden Pferdes. »Komm!«

In der Sonne führte Heiner den Schimmel vom Stall herüber, ein kleines, festes Rössel, das mit einem Strick gezäumt war und keinen Sattel hatte, nur einen Gurt, an dem die Bügel hingen.

»Bauer!« Marimpfel lachte. »Dein Gaul hat einen schiechen Heubauch. Da wird er schnaufen müssen neben meinem Roß.«

»Fest schnaufen ist gesund.«

Die beiden stiegen auf, und als sie zum Hagtor ritten, warf der Bauer einen sorgenvollen Blick über sein Gehöft.

Vom Leuthaus hörte man den Lärm der lustigen Kumpanei.

Marimpfel drehte den Kopf nicht. Auf der Straße brachte er seinen Gaul in jagenden Trab. Der Schimmel schnaufte wohl, blieb aber hinter dem Roß des Hofmanns nicht zurück.

Poch plötzlich, als der Wald begann und das dumpfe Rauschen des nahen Windbaches den Hufschlag der Pferde übertönte, blieb der Schimmel stehen.

Lachend fragte Marimpfel: »So, Bauer? Mußt deinen Heiter schon rasten lassen?«

»Das nit.« Mit ernsten Augen sah der Bauer den Spießknecht an. »Der Schimmel ist stehengeblieben, weil er das so gewöhnt ist, daß ich halten und ein lützel lusen muß, sooft ich da vorbeikomm, wo der Windbach rauscht. Und wo ich. an einen denken muß, der Hartneid Aschacher heißt.«

Der Hofmann gab keine Antwort und guckte in den Wald hinein.

Mit schwerer Hand über die Mähne des Pferdes streichend, sagte der Bauer: »Komm, Schimmel! Heut ist nit Lusenszeit, heut rufen die Herren.«

Die beiden Pferde trabten. Und immer war cler Schimmel um eine feste Nase voraus. Das Roß des Hofmanns fing zu galoppieren an, und seine Flanken pumpten.

»Gotts Teufel, Bauer«, knirschte Marimpfel, »tu langsamer ein lützel!«

»Gern, Hofmann!« Runotter straffte den Zaum.

Nun trabten die beiden Seite an Seite. Und als sie hinauskamen auf die offenen, von der Sonne überglänzten Wiesen flössen die Schatten der zwei Reiter zu einem schwarzen, wunderlichen Ungetüm zusammen, das acht kurze, wirbelnde Beine, einen grotesk veränderlichen Drachenleib und zwei nickende Geierköpfe hatte.

3

In dem kleinen, schmucklos eingerichteten Gemach, das hinter des Amtmanns großer Schreibstube gegen den Hofraum! lag, saßen Herr Someiner und Lampert am Tisch, der bedeckt war mit aufgeschlagenen Büchern.

Der Amtmann führte den Sohn, der seinen Dienst als Aktuarius beginnen sollte, in das verwickelte Wirtschaftswesen des kleinen Reiches ein und hatte dabei viel mehr von böser Schuldenlast und Rechtsbedrückung zu reden als von friedlichen Lebensgütern und erfreulichem Besitz. Mißwirtschaft im Innern und ruhelose Fehden nach außen hatten den Landbestand des Stiftes beschnitten, die Einnahmen geschmälert, den Verbrauch gesteigert, die Schulden vermehrt. Es war eine böse Zeit, ein hartes Leben. Nie war Friede an den Grenzen. Nahm sich das Stift der Seinen kräftig an, so gab es blutige Händel, war es geduldig und nachgiebig, so stellte es sich der Unbill und Willkür auf allen Seiten bloß.

Die Brüder vom heiligen Zeno zu Reichenhall versäumten keine Bedrängnis Berchtesgadens und schluckten bald einen Grenzwald und Bauernhof, bald einen strittigen Jagdberg. Und Salzburg, das auf Betreiben der bayrischen Herzöge das Gadnische Land nur widerwillig aus langer Pfandschaft entlassen hatte, erschwerte ihm eifersüchtig den wachsenden Salzbau und wartete auf eine günstige Stunde, um als fetter Wolf das magere Lamm zu verspeisen.

»Allweil sind wir wie ein gehetztes Schaf. Wehrt sich das arme Vieh mit dem Maul, so wird ihm der Schwanz beschnitten. Zieht es den Schwanz ein, reißt man ihm die Woll von den Lusern. Und wo wir uns hinwenden um Beistand, werden die hilfreichen Händ zu Klauen, die man fürchten muß.«

Es war die Politik der bayrischen Fürsten, Berchtesgaden nicht an Salzburg und nicht an Österreich fallen zu lassen. Und Politik der österreichischen Herzöge war es, den Hinfall Berchtesgadens an Bayern zu verhindern. Solchem Schutz zu Danke hatte das Stift die Fürsten von Österreich als Erbvögte und Schirmherren Berchtesgadens anerkannt. Doch diese Erbvögte wurden so gnädig, daß Berchtesgaden wieder Schutz bei den Herren von Bayern suchen mußte, die es seine Stifter und Patrone nannte. Auf der Kanzel des Gadnischen Münsters wurde vor der Predigt für die österreichischen Erbvögte und wider ungenannte Feinde, nach der Predigt wider ungenannte Feinde und für die bayrischen Patrone gebetet.

»Und glaub mir's, Bub, wir wären lang schon an Landshut, Ingolstadt oder München gefallen, wenn nicht die bayrische Faust fünf Finger hätt, die sich feindselig spreizen, statt sie einträchtig miteinander greifen. Seit sie das Löwenfell des großen Ludwig in Lappen gerissen haben, macht der ewige Vetternzwist die bayrischen Herren schwächer mit jedem Tag. Ein Glück für uns, daß es in Österreich drüben nicht besser ist. Und so ist's überall im Reich, Kein Wachsen nimmer, überall das Auseinanderfalten in Neid und Zwist. Was hab ich für böse Zeiten mitgemacht! Drei Könige im deutschen Land! Und in der Kirch drei Päpst!«

»Gott sei Dank, Vater, das ist vergangenes Elend! Und König Sigismund ist ein Herr, von dem die Deutschen ein Aufleben hoffen dürfen.«

»Wer glaubt, wird selig. In dir ist Hoffnung, weil du jung bist, in mir ist Mißtrauen, weil ich Menschen und Leben kenn. Im Reich gibt's keine Auferstehung nimmer. Der große deutsche Traum? Der liegt noch tiefer versunken als bloß im Untersberg. Die zu Rom haben's durchgesetzt. An der goldenen Bull ist zu Scherben worden, was deutsche Einheit heißt. Von den Fürsten schmort sich jeder den eigenen Gockel. Und der deutsche König ist ein armer Mann, fristet mühsam sein Leben, reitet im Land herum und brandschatzt eine Stadt nach der andern. Aber was tat mich die Wirrnis kümmern im Reich da draußen! Hätten wir nur in unsrem Bergwinkel ein leidliches Leben!«

»Vater!« Lamperts junge Augen blickten ernst. »Das ist von den Elendsgründen einer, daß so viel tausend allweil sagen: Was kümmert mich die Wirrnis im Reich! Tät jeder die Not des Reiches spüren wie eine Not des eignen Lebens, so wär bald alles anders.«

Herr Someiner zog zuerst erstaunt die Brauen in die Höhe, dann lächelte er nachsichtig. »Jeder Redliche spürt die Not des Gemeinwesens und möchte helfen. Aber jeder spürt auch die Übermacht der Widerstand und ermüdet dran.«

»Widerstände sind da, um überwunden zu werden. Streit um ein nichtsnutzig Ding ist ein Verbrechen, aber Kampf um ein herrlich Gut ist das Beste des Lebens.«

Wieder lächelte Herr Someiner. »Wart erst, bis du im Amt bist! Und bis die Widerständ dich seufzen machen, sooft du ein Gutes willst! Wie Mauern stehen sie da. Jetzt renn mit dem Schädel hin!«

»Vater?« fragte Lampert, sich erregend. »Ist ein Kriegsheer von hunderttausend Mann nicht ein Widerstand? Und kein Jahr ist's her, da hat ein Häufl schlechtbewaffneter böhmischer Bauren die mächtige Ritterschar vor sich hergejagt wie einen Hasenschwarm. Und weißt du, von wo diesen Bauren solche Kraft gekommen ist? Weil in ihren Reihen ein Gedanke war, eine Hoffnung und ein Glaube. Vater, ich hab viel gesehen in Prag und viel gelernt. Auf dem Scheiterhaufen zu Konstanz hat man bloß einen Leib zu Rauch gemacht. Aber des Hussen Geist lebt weiter in seinem Volk und wirkt ein Großes. Wir Deutsche müssen lernen von den Böhmen.«

Vor Schreck über diese Worte hatte der Amtmann ein fahles Gesicht bekommen. Er machte eine wehrende Bewegung, die den Sohn verstummen ließ. Nun war Stille in der kleinen Kammer. Lange blieb Herr Someiner unbeweglich. Dann öffnete er die Tür der Schreibstube und sah hinaus. Der Schreiber Pießböcker war schon zur Mahlzeit fort. Aufatmend verriegelte der Amtmann draußen die Flurtüre und kam mit brennendem Gesicht zurück. »Lampert?« Seine zitternde Hand faßte den Sohn an der Schulter: »Bist du ketzerisch?«

Ruhig sah Lampert in die angstvollen Augen des Vaters. »Nein! Ich bin gutgläubig. Bei meiner Mutter Leben, das ist wahr!«

»Dem Himmel sei Dank!« unterbrach ihn der Vater. »Einen schönen Schreck hast du mir eingejagt.« Herr Someiner rüttelte den Sohn an der Schulter. »Sei fürsichtig! Verdächt ist eine Maus, die zum stoßenden Stier wird, eh man sich umschaut. Zu Regensburg haben sie heuer den Kaplan Grünsleder, bloß weil er den Hus verteidigt hat, auf dem Markt verbronnen. Überall ist das ketzerische Elend los. Bei uns hat's auch schon angefangen. In der Woch, eh du heimgekommen, hat man einen Salzkärrner gefaßt. Der ist ein Bruder vom freien Geist gewesen und hat eine höllische Lehr ins Volk geredet: Er wär durch die Gnad des Himmels völlig eins mit Gott geworden und tät nimmer sündigen können, und wenn der Mensch bloß allweil lebt nach seiner Natur Geheiß, so dürft er sich alles erlauben, und es gab für ihn kein kirchliches und kein menschliches Gesetz mehr! – So eine Verruchtheit! Der Mann ist gestäupt worden, daß er an seiner Buß versterben hat müssen.«

Lampert sah das angstvoll erregte Gesicht des Vaters an. Und plötzlich sagte er: »Zu Prag, in der bayrischen Burse, hat einer eine wunderliche Frage getan. Er hat gefragt: Wenn Gott allmächtig ist, warum hat er die Menschen nicht bloß zum Guten erschaffen, warum auch zum Bösen? Gott muß doch stärker sein, als der Teufel ist? Weil Gott allgütig sein muß, kann er das Böse nicht zulassen, nicht selber schaffen. Aber das Böse ist da. Oder sagen bloß wir Menschen: bös? Und Gott sagt: gut? Zu allem? Weil alles sein Werk und Kind ist?«

»Und was für Antwort hast du dem Tropf gegeben?«

»Ich hab geschwiegen.« Lampert lächelte. »Aber einer hat mit der Faust auf den Tisch gehauen und hat geschrien: Eine Frage tun, auf die man nicht Antwort wüßt, wär Hinterlist und Niedertracht. Und da hat's dann Händel und blutige Ohren gegeben.«

Herr Someiner schüttelte mißbilligend den Kopf und nahm seinen Platz am Tisch wieder ein.

»Vater! Das war zu Prag ein friedloses Leben in der letzten Zeit. Böhmisch und hussitisch, deutsch und katholisch, das hat man allweil für ein Ding genommen. Hie Freund, dort Feind! Auf der Straß, im Rat, in der Herberg, in den Bursen, überall ist der ewige Hader gewesen, und kein Tag ist vergangen ohne Schlagen und Stechen. Auf der Straß einmal, da bin ich in so einen Handel hineingeraten, ich weiß nicht wie. Und derweil ich dreinhauen will, da packt mich einer am Arm. Ist ein junger Mensch gewesen mit blassem Gesicht. Und hat mich angeschaut mit traurigen Augen und sagt: ›Nicht schlagen! Denken!‹«

Der Amtmann nickte: »Das ist einer gewesen von meiner Art! Aber du hast nicht unrecht, in Händel kommt man, man weiß nicht wie. Weil die Leut das nicht lernen mögen: erst denken! Bis sie vor Weh und Müdigkeit zu denken anheben, ist das ärgste Unglück schon allweil geschehen.«

Als Lampert wieder zu sprechen begann, kam etwas Traumhaftes in den Klang seiner Stimme, so daß jedes Wort erfüllt war wie vom Hauch eines Geheimnisses. »Wir zwei sind gute Kameraden worden. Er ist ein Medikus gewesen, und sein Lieblingswörtl hat geheißen: Tu die Augen auf! War ein Rechtgläubiger. Und hat doch gut von den Feinden der Kirch gesprochen. Eines Tages hat er midi beredet, daß ich mit ihm hinausgeritten bin zum Taborberg. Und wie wir hinkommen zum Zeltgeläger der Hussiten, sagt er wieder: ›Tu die Augen auf!‹ – Vater, da hab ich ein seltsam Ding gesehen.«

Tief aufatmend streckte Lampert die Fäuste über eines der aufgeschlagenen Schuldbücher hin.

»Wie tausend goldne Lanzen sind die Zeltspitzen in der friedsamen Sonn gestanden. Ein großes Volk beisammen! Und du hast keinen Hader und Zwist gesehen, hast kein Johlen und kein Geschrei vernommen. Ruhig haben die Leut geredet, und jeder ist seiner Werkung nachgegangen. Unter den Bauren sind Bürgersleut gewesen und adlige Herren. Aber die hat man nimmer auseinandergeschieden. Und die Frauen ohne Putz, ohne Gold und Edelstein. Das haben sie niedergetan auf den Tisch der Sach, von der sie sagen, daß es die gute wär.«

»So ein Wörtl ist bald gesagt!« Herr Someiner wurde verdrießlich.

»Und da sind wir zu der Mahlstätt gekommen, wo die Priester auf grüner Wies und in der Sonn den Kelch gereicht haben. Du weißt, sie sagen, daß man das Göttliche nicht nur speisen müßt, auch trinken. Das heilige Buch ist ihnen die einzige Lehr. Und Gleichheit vor Gott und Menschen verkünden sie, Gemeinschaft der Güter in Friedsamkeit.«

Der Amtmann schüttelte den Kopf. Von dem, was in Lamperts leiser Stimme zitterte, quoll nichts hinüber zu ihm. »Narren, Narren!« sagte er hart. »Gefährliche Narren!«

»Zu Tausenden sind die gewaffneten Mannsleut und die Maiden und Frauen auf den Knien gelegen. In Inbrunst haben sie gebetet und den heiligen Trunk genommen. Und bald da und bald dort ist einer aufgestanden, vom inneren Geist entzündet, und hat mit flammender Red gesprochen zu den Herzen des Volks. Und allweil ist die Anred gewesen: Brüder und Schwestern!«

»Hätt heißen sollen: Verdrehte Köpf und hirnkranke Föhlen! Lang wird der ketzerische Wahnsinn nimmer dauern. In Österreich rüstet man schon. Man wird ihnen predigen mit Eisen und Feuer.«

Lampert erhob sich. »Mit Feuer und Eisen wird man nimmer tot machen, was lebendig geworden in vielen. Hat man den Hus nicht totgemacht? Schau jetzt nach Böhmen hinüber! Ketzer? Mag sein, daß du recht hast! Aber ist nicht auch in den Gutgläubigen die Einsicht, daß es besser werden muß mit Kirch und Lehr? Und du, Vater? Bist du zufrieden mit deinen geistlichen Herren?«

Der Amtmann trommelte ärgerlich auf einem Buche. Die Antwort fiel ihm schwer. Der Propst, der alte Dekan und ein paar von den Herren im Stift, das waren feste, redliche und aufrechte Männer. Aber diese jungen Chorherren und die übermütigen Domizellaren! Die entschlugen sich lustig der Regel und lebten, als wäre ihr Wunsch, das Kloster in ein weltliches Stift verwandelt zu sehen, schon erfüllt. Sie vergeudeten das Gut des Stiftes, kümmerten sich keinen Strohhalm um ihren geistlichen Beruf, so daß man zur Übung der Seelsorg bezahlte Kapläne anstellen mußte, derweil die Chorherren den Tag mit Jagen, Fischen und Beizen verbrachten, die Nacht mit Mummereien und Maidenspiel. Um den bürgerlichen Frauen und Töchtern leidliche Ruh vor diesen heiteren Herren zu schaffen, mußte die Gadnische Gemeinde im Badhaus die freie Wohnung stiften für die Hübschlerinnen, für die ›geschuhten Wachteln‹, die von Salzburg geflogen kamen. Um solcher Dinge willen hatte Herr Someiner schon manch einen zornigen Fluch verschluckt. Jetzt sagte er mürrisch: »Da redet man nicht davon. Im Amt muß Fürsicht allweil das erste sein.«

»Ein Amt ist überall, Vater! Und drum ist überall die Fürsicht und das Dulden. Und überall die Sittenwildnis der Geistlichkeit.«

Herr Someiner verlor die Geduld. »Die heilige Kirch und die Klerisei sind zwei verschiedene Dinge. Ein Knecht, der mißraten ist, macht den Herren nicht schlechter.«

»Aber auch nicht besser.«

»Bub!« Der Amtmann sprang auf. »Bist du heimgekomen, um mich in Gefahr zu bringen?«

»Nein, Vater!« Lampert redete ruhig. »Aber das ist ein Ding, das mich schmerzt. Sollt man da nicht denken dürfen an Hilf?«

»Du wirst den schmierigen Hafen der Zeit nicht sauber machen!« Dem Gestrengen schwoll die Zornader an der Schläfe. »Laß du die Hilf von denen kommen, die dazu berufen sind.«

»Wären die geistlichen Herren nicht berufen als die ersten? Geistlich? Kommt dieses Wort nicht vom Geist her? Aber sie mästen den Leichnam eines faul gewordenen Lebens und lassen der Menschheit redlichen Geist versterben! Wer und was soll helfen, Vater?«

Herr Someiner wollte heftig erwidern. Da hörte er Stimmen und vernahm von der Schreibstube draußen ein Podien an der Türe. Erschrocken flüsterte er: »Sei still, Bub! Da kommen Leut.« Der Zorn zitterte noch in seiner Stimme. »Laß dir raten! Red solch unbeschaffen Zeug nicht vor andern Leuten! Auch nimmer vor mir!«

Während Lampert die Hand über die Augen preßte, ging sein Vater in die Schreibstube hinaus und sperrte die Flurtür auf. Und als er an Stelle Marimpfels und des Ramsauer Richtmanns, die er erwartet hatte, einen alten Mann und einen jungen Burschen in der schwarzen Tracht der Salzknappen gewahrte, brach der mühsam verhaltene Zorn aus ihm heraus. »Gotts Nöten, was ist das für ein Unfürm? Wie trauet ihr euch zu lärmen vor meiner Tür?«

Der junge Burch lachte verlegen und zog den Kopf zwischen die Schultern. Und der Alte sagte scheu: »Gestreng Herr Amtmann, der Bub da, das ist der Ulrich Eirimschmalz, ist Stollenknecht bei uns seit Lichtmeß, ist ein Ausländischer, vom Rhein her, und ist in Herberg bei mir. Und der hat ein Ding gemacht, daß ich gemeint hab, ich müßte es dem Gestreng Herrn Amtmann weisen.«

»Was für ein Ding? Ein schlechtes?«

»Ich weiß nit, Herr! Schauet selber!« Und der Alte reichte dem Amtmann ein mürbes, zerknittertes Blättlein Papier.

Herr Someiner nahm das Blatt, sah es an, zog die Augenbrauen in die Höhe und trat zum Fenster.

»Komm, Bub! Mußt nit Angst haben!« sagte der Alte, trat mit dem jungen Burschen in die Amtsstube und drückte die Türe zu.

Am Fenster betrachtete Herr Someiner das Blatt, auf dem drei schwarze Reihen dicker, gleich großem Schriftzeichen waren, plump und unsauber, schief an einandergereiht, ähnlich der ungeübten Schrift eines schlechten, schwerhändigen Schreibers. Aber lesen konnte man's. Und jede der drei untereinanderstehenden Zeilen sagte das gleiche:

ullri eirimsmalz der menzer ullri eirimsmalz der menzer ullri eirimsmalz der menzer

Herr Someiner schüttelte den Kopf. »Was ist das für eine Narretei?« Er guckte das Blatt wieder an, während Lampert aus der Kammer trat. »Das sieht aus, als hätt's ein Geisbock geschrieben mit dem Huf!«

»Red, Bub!« sagte der alte Bergmann. »Tu dem Gestreng alles weisen! Gelt, Herr, das ist ein erstaunlich Ding!«

»Erstaunlich?« fragte Lampert. »Was?«

»Daß einer schreiben kann und keine Feder nit braucht.«

Lampert nahm das Blatt, das der Vater ihm reicht, und besah die wunderliche Schrift.

Der junge Knappe, dem bei der Sache nicht recht behaglich zumute war, begann zu erzählen, immer scheu den gestrengen Amtmann musternd.

Er wäre zu Mainz daheim, Sohn eines Zinngießers, von zwölf Geschwistern das jüngste. Vor zwei Sommern, mit achtzehn Jahren, wäre er auf die Wanderschaft gegangen, hätte ein Jahr lang dem Stadthauptmann zu Würzburg als Pavesenknecht gedient, ein Jahr lang dem Bischof von Chiemsee als Pulverstößer und als Zeltpflöcker bei Jagd und Beizwerk. Die blauen Berge hätten an seiner Seele gezogen. Und so wäre er nach Berchtesgaden gekommen und Stollenräumer im Salzwerk geworden.

»Und do haw ich, drei Woche kann's her sin, vor de Knappe bei der Mahlzeit erzählt, ich hätt in der Menzer Borscheschul en Kamerad gehatt, den Henrichen Gensfleisch von Guteberg. Der hätt was Richtigs nich lerne woll, haw ich erzählt, und hätt deß allerweche finde mög, daß mer schreiwe kann un kee Feder nich braucht.«

»Halt auch so einer von den Tagdieben«, murrte Herr Someiner, »die nicht wissen, wie sie die kostbaren Stunden totschlagen.«

»Wird schon so sein, Herr, jo! Awer gefunnen hot er's. Un weil die Knappe deß nich hawe glaube mög, daß mer schreiwe kan un keen Feder nich braucht, un weil ich mer nich der Lug hab zeihe laß, drum haw ich mer fürgenomm, daß ich's ihne weise will, wie's der Hennichen Gensfleisch gemacht hot. Un hab die Schriftzeiche nach Spiegelweis ussem Buchsbaumästche erausgestoche, wie's der Hennichen Gensfleisch gemacht hot. Und hab mit Essig und Ruß e Farb gerührt, hab die Stäbcher eneingetunkt un hab die Schriftzeiche uf e Blättche gedruckt, wie's der Hennichen Gensfleisch gemacht hot. Und do hawe's die Knappe lese könn.«

»Aber schlecht!« sagte Herr Someiner. »Mach, daß du weiter kommst mit deiner mühsamen Narretei!«

»Vater!« Lampert hatte große Augen. »Das sollte man besser beschaun. Ich mein', das ist –«

Ein dröhnender Hall wie vom Einschlag eines schweren Blitzes krachte durch die Lüfte, und dann hörte man ein dumpfes Echo hinrollen über den Untersberg.

Ein Ungewitter? In der schönen Sonne und bei blauem Himmel?

Die viere, die in der Amtsstube waren, rannten zum Haustor und sprangen auf die Straße hinaus. Über ihren Köpfen klirrte ein Fenster, und da droben klang die angstvolle Stimme der Frau Someiner: »Was ist denn? Um Jesu Christ! Was ist denn da?«

Aus allen Fenstern der Marktgasse fuhren Kindergesichter und weißbehaubte Frauenköpfe heraus. Buben und Mannsleute kamen aus den Türen gesprungen, und alle redeten wirr durcheinander.

Nun wieder der gleiche, die Menschen erschreckende Hall. Er dröhnte vom Hirschgraben des Stiftes herüber. Und man hörte das donnernde Echo vom Untersberg über das weite Tal hinausrollen bis zum fernen Watzmann.

Viele Leite rannten gegen den Hirschgraben hin. Und von dort her kam an der Häuserzeile ein kleiner, magerer Mensch gesprungen, der mit dem wehenden Mäntelchen einem bubengroßen geflügelten Insekt vergleichbar schien. Das war der Amtsschreiber Pießböcker, dem die Gadener den Spitznamen ›der Item‹ gegeben hatten.

Der fuchtelte mit den Armen und kreischte in dünnen Fistellauten: »Gestreng, kommet flink hinüber zum Hirschgraben! Item, da probieren sie die neue Kammerbüchs, die gestern von Augsburg gekommen ist.« Das Männlein, dem der Atem versagte, schnappte nach Luft. »Item, sie haben mit dem ersten Schuß eine Mauer gebrochen, item, mit dem zweiten haben sie den großen Vierzehnender im Graben totgeschossen, item, das Vieh ist bloß noch ein Klumpen Fleisch und Blut gewesen. Item, Herr, das neue Ding ist eine mächtige Hilf wider Feind und Burgen! Kommet, Gestreng! Kommet, kommet!« Und aufgeregt, mit wehendem Mäntelchen, gaukelte das magere Männlein wieder davon.

»Eins nach dem andern!« brummte der Amtmann. »Erst muß ich den Mainzer Buben seiner Narrheit überweisen.« Und während er in das Haus trat, sagte er zu dem jungen Knappen: »Hast du den Hall vernommen! Da ist auch ein lützel Ruß dabei. Ist aber ein mächtig Ding! War anders als dein rußiger Zeitvergeud!«

Lampert stand noch immer auf der Straße und sah verloren in das schöne Blau hinauf, das über den steilen Dächern glänzte.

Wieder donnerte die Kammerbüchse im Hirschgraben.

Ein alter Handwerker in großem Schurzfell und mit nackten Armen nickte stumm vor sich hin. Er wandte das müde, freudlose Gesicht und flüsterte seinem neugierig guckenden Weibe zu: »Sie sagen, das hätt ein Pfaff erfunden. Da wird's der Welt einen Schaden tun.«

Als Lampert in die Amtsstube kam, saß Herr Someiner am Pult, tauchte die Feder ein, und während er zu kritzeln anfing, fragte er den Ulrich Eirimschmalz: »Jetzt sag, wie lang hast du gebraucht zu deiner federlosen Schreiberei?«

»Durch dritthalb Woche haw ich an jedem Feierawend geschnitt un gestoche, bis die Stäbcher fertich ware. Drei Feierawend haw ich gebraucht zum Farbreibe un zum Drucke. Viel Blättcher haw ich verschmiert.«

»Drei Wochen? So?« Der Amtmann reichte dem Buben ein kleines Blatt. »Und das da hab ich geschrieben im Viertelsteil eines Paternosters. Was du geschrieben hast – schau her da!« Herr Someiner fuhr mit einem Federlappen über das bedruckte Blatt, und die Schrift war ausgewischt zu einem rußigen Fleck. »Was aber mein Kiel mit guter Tinte geschrieben hat, das bleibt! Das kannst dir aufbewahren für Kind und Kindeskind!«

Auf dem Blatte stand mit zierlicher Schrift geschrieben: »Hennichen Gänsbraten der Mainzer ist ein Tagdieb. Und du bist auch einer!«

Herr Someiner sprach: »Flink! Weiter mit euch!«

Die beiden trollten sich, und der junge Bergknappe mit dem Zettel in der Hand, sah stumm den alten Bergmann an. Der sagte: »Ich hab gemeint, es wär eine nutzbare Sach. Aber so ein Herr versteht's halt besser.«

Wieder dröhnte der Hall der Kammerbüchse.

»Komm, Bub«, sagte der Amtmann. »Jetzt wollen wir hinüber in den Hirschgraben und das neue Ding betrachten. Der Pießböcker hat schon recht: Das ist eine große Sach! Und sei verständig, Bub! Tu im Hirschgraben die Herren geziemend komplimentieren.« Er fügte mit leiser Stimme bei: »Auch die Jungherren, die dir nicht gefallen.«

»Vater!«

»Was?« fragte der Amtmann mißmutig.

Lampert legte die Hand auf den Arm des Vaters. »Das Ding mit dem Buben will mir nicht aus dem Sinn. Ich weiß nicht, ob das recht gewesen, was du da getan hast.«

In der reizbaren Seele des Amtmanns kam plötzlich der nur halb unterdrückte Zorn wieder obenauf. »Willst du mucken wider deinen Vater?« schrie er. »Werd erst ein festes Mannsbild! Bist Doktor und Magister! Aber allweil bist noch wie ein seidnes Fähnl, das sich rührt vor jedem neuen Wind, mag's ein guter oder schlechter sein! Ich denk zuerst! Verstehst du! Und was ich tu, das ist –«

Herr Someiner schwieg und sah zum Fenster hin. Da draußen verstummte der Hufschlag zweier Pferde.

Lampert, der bei seines Vaters Wort vom seidenen Fähnlein bleich geworden, wandte sich schweigend ab und verließ die Amtsstube. Als er schon bei der Treppe war, hörte er das Eisengeklirr zweier Männer, die das Haus betraten. Er drehte das Gesicht und schien in seiner Erinnerung zu suchen. Da kam der Ramsauer Richtmann auf ihn zu, streckte ihm die Hand hin und sagte freundlich: »Gottes Gruß, Jungherr! Euch kenn ich noch allweil. Aber Ihr wisset wohl nimmer, wer ich bin. Freilich, es ist schon an die sieben Jahre her, daß wir uns nimmer gesehen haben. Ich bin der Runotter von der Ramsau.«

Während Lampert rasch die Hand des Richtmanns umklammerte, fuhr ihm das Blut ins Gesicht. »Doch, ich weiß schon, Ihr seid es!« In der Erregung, die ihn befallen hatte, sagte er ›Ihr‹, als wäre der Bauer von den Herren einer. Lampert warf einen fragenden Blick auf den Spießknecht hinüber, der in die Amtsstube trat. »Runotter? Bist du vor das Amt gerufen?«

»Wohl, Jungherr!«

»Warum?«

»Ich weiß nit.«

In der Amtsstube flüsterte Marimpfel: »Gestreng! Auf dem Hängmoos steht ein Käser, und siebzehn Milchküh sind aufgetrieben. Der Kerl da draußen muß ein schlechtes Gewissen haben. Er ist grob gewesen, und seine Wehr hat er angetan.« Herr Someiner winkte mit den Augen. Da ging der Spießknecht auf die Tür zu und rief hinaus: »Richtmann! Kommen sollst!«

Runotter trat in die Stube. »Gottes Gruß, Gestreng Herr Amtmann!«

Mit dem Bauer war auch Lampert gekommen. Er sagte rasch: »Hier wird geamtet?« Seine Stimme klang gepreßt. »Ich soll doch lernen, nicht? Da kann ich wohl bleiben und hören?«

Herr Someiner nickte und sagte zum Richtmann: »Gottes Gruß! Du bist in Wehr? Warum?«

Der Ramsauer sah zum Fenster hinaus. »Herr? Sollt nit der Spießknecht acht haben auf die Gaul da draußen? Der meinig ist ein lützel hitzig. Da könnt er schlagen oder beißen.«

»Beißt er«, murrte Marimpfel, »so kriegt er eine aufs Maul.« Klirrend verließ der Spießknecht die Stube.

Runotter nahm die eiserne Schaller ab, legte sie auf das Fenstergesims und sagte ruhig: »Warum ich in Wehr bin, Herr? Aus Fürsicht. Für Hofleut ist ein Bauer allweil der Minder. Um Händel zu verhüten, hab ich die Wehr angetan, wie mir's zusteht als Erbrechter.«

Lampert, der gegen die Tür der Kammer gelehnt stand, verwandte keinen Blick vom Gesicht des Bauern.

»Soooo?« sagte Herr Someiner. »Fürsicht ist eine löbliche Tugend.« Er musterte den Mann. »Ein festes Eisenzeug! Wirst bald noch einen zweiten Holdenküraß brauchen. Heut hab ich im Wehrbuch gelesen, daß dein Bub im Winter zu achtzehn Jahren kommt. Vermerkt steht, daß er nicht wehrfähig ist.«

Runotters Augen suchten im Leeren. »Das is nit meine Schuld.«

Das Wort war ruhig gesprochen, und dennoch schien es unbehaglich auf den Amtmann zu wirken. Er benahm sich wie einer, der nicht gehört haben will, und sagte: »Willst du für deinen Buben das Erbgut aufrecht halten, so mußt du für ihn zur Holdenwehr im Winter einen Ersatzmann stellen. Da wirst du dich beizeiten umschauen müssen.«

»Wohl, Herr! Könnt sein, es war da grad ein guter Weg. Heut hat mir der Heiner, mein Knecht, von einem Soldmann erzählt, der in die Ramsau kommen ist. Will reden mit dem. Mag er bleiben, so zahl ich ihm gern die Löhnung fürs Warten bis zum Winter. Für meinen Buben tu ich alles.«

»Freilich, du kannst es!« Herr Someiner lächelte. »Der beste Steuergeber in der Ramsau!«

»Dem Himmel Vergelts! Gott segnet meinen Schweiß.«

»Wieviel Ochsen hast du?«

»Sechs für den Zug, zwei davon für den Acker, der mein ist, viere für Jagdfron und Scharwerk. Sieben Stückl Jungzeug hab ich auf der Alben.«

»Wo tust du sennen? Im Windbachtal?«

»Nein, Herr!« Die Brauen des Bauern zogen sich hart zusammen. »Da droben soll kein Stückl Vieh mehr fressen, das mein ist.«

»Ist da die Weid so schlecht?«

Runotter zögerte mit der Antwort. Seine Stirne färbte sich. »Nach der Hoflag tät' ich sennen müssen beim Windbach. Aber die Gnotschaft hat mir's zulieb getan und hat mir das Hängmoos zugewiesen.«

»Das Hängmoos?« Herr Someiner wuchs auf seinem Sessel. »Da sennest du selber?«

»Wohl, Herr!« Runotter schien das Wunderliche im Klang dieser Frage nicht zu begreifen. »Wir sind unserer Sechse, die auf dem Hängmoos sennen, der Taubenseer, des Mareiners Schwager, die zwei Hintermöser, der Schwarzecker und ich.«

»Da hast du einen schlechten Tausch gemacht.«

Wieder furchten sich die Brauen des Bauern. »Ist mir lieber, als am Windbach sennen.«

»Auf dem Hängmoos ist schlechter Boden.«

»Der ist besser worden. Wir haben Gräben geschlagen und viel Boden trücken gemacht. Freilich, viel Sumpfland ist noch allweil droben. Ist oft schon ein Stückl Vieh versunken.«

»Da wirst du selber dein gutes Melkvieh wohl nicht auftreiben?«

»Doch, Herr! Drei Küh hab ich im Stall für die Heimleut, achte sind auf der Alben.«

»Auf dem Hängmoos?« Herr Someiner erhob sich.

Verwundert sah Runotter den Amtmann an. »Wohl, Herr! Auf dem Hängmoos.«

»Runotter«, sagte Herr Someiner streng, »du bist mir bekannt als redlicher Mann. Drum will ich vorerst noch gütig bleiben. Aber ich muß jetzt doch –«

»Vater!« stammelte Lampert, dem vor Unmut das Gesicht brannte. »Du wirst mir das nicht antun wollen, daß ich –«

»Hier wird geamtet!« klang es würdevoll über das Pult herüber. »Da redet bloß der Amtmann und wer gerufen ist.«

Die erstaunten Augen des Richtmanns glitten zwischen den beiden hin und her. »Ihr Herren? Was ist denn da?«

»Das wirst du hören!« Herr Someiner öffnete den eisenbeschlagenen Schrank, holte den Hängmooser Almbrief hervor und legte das alte, mürbe Pergament auf das Pult hin. Er wollte sprechen. Doch das Gebaren des Sohnes machte ihn aufblicken. Lampert, an der Lippe beißend, tat einen Schritt gegen den Vater hin, sah ihm in die Augen, wandte sich ab und trat in die Kammer hinaus. Herr Someiner bekam einen roten Kopf. Auch im Klang der Stimme verriet sich sein Ärger. »Wieviel Vieh ist aufgetrieben zum Hängmoos?«

»Achtzig Köpf, Herr, nach unserm Weidrecht. Heuer sind zwanzig Kalben droben, dreiundvierzig Ochsen und siebzehn Milchküh.«

»Achtzig Köpf?« Der Amtmann sah in den Almbrief. »Das stimmt. Aber Melkvieh? Seit wann wird Melkvieh aufgetrieben zum Hängmoos?«

»Das ist wohl allweil so gewesen, ich weiß es nit anders.«

»So?«

»Den Hängmooser Sauerkäs, den hab ich schon gegessen, da bin ich noch Jungbauer gewesen und –« Auf der Brust des Richtmanns hob sich langsam der schwere Küraß. »Und ein Mensch im Glück! Lang ist's her. Noch länger, wie daß mein Bub ein Krüppel sein muß.«

Der Amtmann mochte diese Erinnerung an das Glück des Runotter nicht gerne hören. Er sagte verweisend: »Tu nicht reden von Dingen, die nicht vors Amt gehören!«

Der Bauer biß die Zähne übereinander, und seine sonnverbrannten Fäuste klammerten sich härter um den Knauf des Holdenschwertes, das er vor sich stehen hatte.

»Und in der Sach, um die es dahergeht«, fuhr der Amtmann fort, »da mußt du dich irren, Runotter! Sauerkäs vom Hängmoos, sagst du? Man kann nicht käsen, wo kein Käser steht.«

»Auf dem Hängmoos steht doch einer.«

»Seit wann?«

»Seit allweil.«

»Weißt du auch das nicht anders?«

»Nein.«

Die kurzen Antworten mißfielen dem Gestrengen. »So? Dann schau dir einmal den Weidbrief an!«

Der Bauer nahm das Blatt und las. Das dauerte lang.

Inzwischen polterte Herr Someiner hinter dem Amtspult.

»Da hört sich doch alles auf! Seit Jahr und Jahr wird da ein Frevel wider das Fürstenrecht verübt. Groß wie ein Haus steht das Unrecht auf dem Hängmoos, hat siebzehn Schwänz und achtundsechzig Füß. Und kein Jäger sieht's, kein Grenzwächter und kein Forstknecht! Und keiner meldet's! Und die Herrschaft hat den Schaden. Es ist ein Kreuz! Auch auf die eignen Leut ist kein Verlaß. Und tut man nicht alles selber, so bleibt es ungetan.«

Runotter hob das Gesicht, sah den Amtmann an und betrachtete wieder das Blatt. »Herr, liegt da kein andrer Weidbrief nimmer für?«

»Ich weiß von keinem.«

Der Bauer legte das Blatt zurück. »Nachher muß da ein Irrtum sein, ich weiß nit, wo. Ist er bei uns Bauren, so geben wir schuldige Buß. Aber der Albmeister, der das Weidrecht hütet und die Schriften in Verwahr hat, ist ein redlichs Mannsbild. Ich glaub nit, daß er mit Wissen tät, was wider das Recht ist.«

Der Amtmann schlug mit der flachen Hand auf das Dokument: »Da steht es aber doch! Auf dem Hängmoos darf kein Käser sein. Küh dürfen nicht weiden da! Bloß Ochsen.«

Das ernste Steingesicht des Runotter bekam einen leisen Zug von Heiterkeit. »Der Herr muß sich nit aufregen. Es wird sich alles weisen. Der Weidbrief ist alt. Vor Zeiten ist auf dem Hängmoos schlechte Weid gewesen. So ein saures Gras! Drum wird man bloß Galtvieh aufgetrieben haben. Und der Ochsenhirt hat keinen Käser gebraucht. Drauf haben die Bauren den Weidboden so verbessert, daß Melkvieh hat grasen können. Und ich denk, da wird man das so ausgeredet haben –«

»Davon weiß ich nichts. Eine andre Urkund ist nicht im Kasten. Beim Recht entscheidet nicht, was du denkst, und nicht, was ich denk. Beim Recht entscheidet Schrift und Siegel. Da liegt der Brief. Wie er's zu Recht verlangt, so muß es gehalten sein. Der Käser auf dem Hängmoos muß weg. Die siebzehn Milchküh müssen herunter, die siebzehn Ochsen müssen hinauf.«

Runotter, den seit achtzehn Jahren keiner hatte lachen sehen, mußte schmunzeln. »Herr, das Weidrecht geht doch ums Gras. Ist das nit ein Ding, ob das Gras von einer Kuh gefressen wird oder von einem Ochsen?«

»Nein!« Herr Someiner geriet in Hitze. »Recht ist kein Rütlein, das man biegt. Da steht's. Das Recht will Ochsen. Die Ochsen müssen hinauf!«

Der Richtmann schwieg eine Weile. Dann sagte er ruhig: »Herr! Wegen siebzehn Ochsen, die statt der Küh auf dem Hängmoos fressen sollen, wird doch nit der gnädig Herr Fürst mit der Ramsauer Gnotschaft einen Krieg anheben?«

»Krieg? Red nit so unbeschaffen! Krieg führen Herr und Herr miteinander, nicht Herr und Bauer. Da geht's um Recht oder Unrecht, um Gehorsam oder schwere Buß.«

Runotter stieß das Schwert, dessen Knauf seine Fäuste umklammerten, leicht auf den Boden hin. »Gut, Herr! Ich bin nit bockbeinig und will den nötigen Verstand haben –«

Heftig unterbrach Herr Someiner: »Meinst du, den hab ich nicht?«

»Das hab ich nit gesagt. Aber es könnt doch sein, daß der Irrtum auf Seit der Herren ist?«

»Nein!« Der Amtmann schrie: »Bei mir ist alles geschrieben und gesiegelt. Mein Amt steht außerhalb des Irrtums. Und Recht muß Recht sein! Oder –«

Runotter sah die schwellenden Adern über des Amtmanns Schläfen und sagte rasch: »Gut, Herr! Daß wir Fried halten – ich will, bis die Sach geklärt ist, auf dem Hängmooser Herd kein Feuer nimmer zünden lassen. Und will die Küh heruntertun. Und daß der Bauerschaft kein Schaden geschieht, drum will ich die siebzehn Küh derweil auf meinem Anger grasen lassen. Und die Ochsen tu ich hinauf. Das soll geschehen, sobald meine Leut neben der Heumahd Zeit haben.«

»Zeit hin oder her! Der Mensch kann Geduld haben, das Recht hat Eil. Was du tun mußt nach Recht und Siegel, das wirst du tun bis morgen zur Mittagsstund! Sonst schick ich die Pfändung auf das Hängmoos, laß den Firstbalken aus dem Käser stoßen und laß die siebzehn Küh davontreiben als Pfand für Siegel und Recht.«

»Herr«, fuhr es dem Richtmann heraus, »das wär doch Unverstand!«

Bei diesem Wort streckte sich Herr Someiner. Seine Stimme klang höher und stieß gegen die Nase. »Redest du so mit mir? Weißt du nicht, daß ich hier steh an deines Fürsten Statt?«

»Verzeihet, Herr, es ist mir nur so herausgerumpelt.« Der Bauer atmete schwer. »Ich trag seit achtzehn Jahr um meiner Kinder willen einen Zaum vor dem Maul. Aber diemal reißt er.«

»Und dann kommt es, daß du redest, wie du denkst. Ja, Bauer!« Mißtrauisch und forschend musterte Herr Someiner den Richtmann. »Mir scheint, dich lern ich auch noch kennen! Doch was du geredet hast wider mich, das will ich um deiner Kinder willen vergessen. Aber Amt ist Amt. Nach Pflicht meines Amtes wird geschehen, was meines Fürsten Recht verlangt. Tu, was du willst! Morgen ums Mittagläuten ist die Pfändung auf dem Hängmoos. Fertig!« Er legte das gesiegelte Dokument in das Fach zurück und versperrte den eisenbeschlagenen Schrank.

»Recht? Wo ist Recht?« Runotter drehte den Knauf des Schwertes zwischen den Fäusten. »Ihr saget: Amt ist Amt? Gut! Da hab ich jetzt einen Merk gekriegt. Ein Amt hab ich auch. Ich bin Richtmann der Ramsauer Gnotschaft, bin eingeschworen drauf, unser Recht zu wahren. Auf dem Hängmoos geschieht, was allweil geschehen ist. Die Ramsauer hätten nit so getan, wär nit ein Recht dabei. Und wo das Recht ist, braucht man nit Pfändung und Spießknecht fürchten. Herr! Jetzt tu ich amten und sag als Richtmann der Gnotschaft: Recht muß Recht sein, und der Hängmooser Käser soll stehen, wo er steht, und die siebzehn Milchküh bleiben auf der Alben.«

Herr Someiner hatte die Arme verschränkt und stand gegen den versperrten Kasten gelehnt. »Nur weiter, weiter! Da weiß ich doch endlich, was du für einer bist. Noch gestern hab ich gesagt: Der Runotter ist von den Treuen und Verläßlichen einer!«

»Das bin ich, Herr! Nit um Hofgunst. Jeder Mensch ist, wie er sein muß.«

»Schön, Runotter! Du redest ja schon bald wie ein Bruder vom freien Geist! Ich merk, es fliegen Fledermäus im Land herum. Und heimliche Funken springen. Am Sonntag hat ein Rauschiger im Leuthaus die schweizerischen Eidgenossen leben lassen. Jetzt liegt er im Loch. Ich tu dich warnen, Runotter!«

»Was Ihr da redet, Herr, das trifft mich nit! Ich hör nit drauf, wenn ein paar Narrenköpf von der Schweizer Freiheit tuscheln. Aber verzeihen könnt man's –«

»Was?« fragte der Amtmann scharf.

»Daß ein Durstiger Sehnsucht hat nach einem Trunk. Und jetzt frag ich, Herr – mit den Ochsen vom Hängmoos – muß das wahrhaftig so sein, wie's jetzt beredet ist?«

»Recht muß Recht sein!«

»Gut! Dann muß ich als Richtmann stehen beim Recht der Gnotschaft.« Runotter nahm die eiserne Schaller vom Fenstergesims und drückte sie über den Scheitel. »Deswegen bin ich kein Unverlässiger und kein Freigeistler. Mein Herrgott ist mein Herrgott, und mein Fürst ist mein Fürst.« Ein Schwanken kam in die Stimme des Bauern. »Der ist mir drum nit minder worden, weil sein Chorherr Hartneid Aschacher ein schlechtes Stück getan hat wider mein Weib und mein Leben.«

Der Klang dieser Worte schien im eisenbeschlagenen Rippenschrank des Amtmanns etwas Menschliches aufzureißen. Er mußte seufzen. Doch er sagte streng: »Runotter, das gehört nicht vor mein Amt.«

»Dann wird's wohl vor ein Amt gehören, vor dem wir uns alle finden – einmal! Und solang ich noch auf der Welt steh, ist das gut, Herr Amtmann, daß der Chorherr Hartneid Aschacher im Kloster zu Chiemsee ein fürnehms Leben hat. So weit von uns.« Wie eine stählerne Klammer spannte sich die Faust des Bauern um die Scheide des Holdenschwertes. »Gottes Gruß, Gestreng Herr Amtmann!«

Die schwergenagelten Schuhe des Bauern klappten auf der Diele, und leise klirrte an seinem Küraß die Kette des Schwertgehänges.

Die Türe schloß sich. Und Herr Someiner sah sie mit wunderlichen Augen an, als müßte er sich besinnen, was da jetzt geschehen wäre.

4

Schritte weckten den Amtmann aus seiner Versonnenheit. Lampert trat aus der Kammer, vor Erregung zitternd. »Vater! Rufe diesen Mann zurück!«

»Wen?« Herr Someiner erwachte. »Ach so?« Von der Straße hörte man den Hufschlag eines Gaules, der sich entfernte. »Da! Der reitet ja schon davon! So ein Dickschädel!«

»Ich hol ihn noch ein. Darf ich?«

»Nein!« Der Amtmann war ärgerlich. »Hätt er nicht umkehren können und mir ein gutes Wort geben?«

»Das hast du ihm unmöglich gemacht.«

»Ich?« Herr Someiner hatte den Blick eines erstaunten Kindes, das man einer Sünde beschuldigt, deren Namen es gar nicht kennt. »Lampert? Ich versteh dich nimmer. In deinem Gesicht ist eine Erregung ohne Maß. Warum?«

»Weil ich fürchte, daß du eine ungerechte und gefährliche Übereilung begehst.«

»Ich?«

»Davon hab ich nicht zu reden, meinst du? Hier redet nur der Amtmann und wer gerufen ist. Gerufen bin ich nicht. Aber das mit diesen unglückseligen Ochsen, die das verbriefte Gras nicht fressen? Das weißt du doch von mir. Und da machst du mich, deinen Sohn, zum Späher und Angeber!«

Das ging dem Amtmann über die Grenze der Geduld. Er schrie in Zorn: »Dir sollte die Mutter sagen, daß du aus jedem Bläslein eine Blatter machst!« Wütend ging er in die Kammer hinaus und begann in dem dickleibigen Merkbuche zu blättern.

Lampert folgte ihm bis zur Schwelle. »Vater? Wirst du morgen die Pfändleut schicken? Wirklich?«

Herr Someiner hob das Gesicht. Was aus den Augen des Sohnes sprach, schien begütigend auf den Vater zu wirken. »Kann sein, ich tu's, kann aber auch sein, ich überleg mir's noch. Jetzt muß ich da was im Merkbuch suchen.«

»Vater! Ich habe nicht Ruh, bevor du mir nicht klar versprichst, daß du die Pfändleut nicht schicken wirst.«

Da war nun wieder alles verdorben. Herr Someiner schlug mit der Faust auf das Merkbuch. »Jetzt bin ich im Amt!«

Lampert lachte kurz und verließ mit jagendem Schritt diesen geheiligten Raum.

Als er hinauskam in den Flur, rief Frau Someiner gerade über das Treppengeländer: »Mann! Bub! Die Supp ist fertig.«

Das stimmte. In dieser verspäteten Mahlzeitstunde war eine böse Suppe gar geworden.

Beim Anblick des Sohnes merkte Frau Marianne gleich, daß Sturm ins Haus gekommen. »Hat's Krach gegeben?«

»Laß mich, Mutter!« Lampert stürmte in sein Stübchen.

Frau Someiner wollte folgen, aber da hörte sie von droben das Klirren eines Riegels. »Der hat sich eingesperrt, da ist er sicher!« dachte sie mit mütterlichem Verstande, machte kehrt und begab sich zu ihrem Mann hinunter.

Der Amtmann stand über den Tisch der kleinen Kammer gebeugt, blätterte aufgeregt in dem großen Merkbuch und schien etwas zu suchen, was sich nicht finden lassen wollte.

»Ruppert!« fragte Frau Marianne sanft. »Was ist denn schon wieder? Bist du mit dem Buben überkreuz gekommen?«

Der Gestrenge blätterte. »Laß mich in Ruh, jetzt bin ich im Amt.«

Vor dem geweihten Wörtlein Amt schien Frau Someiner eine wesentlich geringere Ehrfurcht zu besitzen als ihr Sohn. »Ach geh, du, mit deinem Amt! Mir ist's um den Hausfrieden. Und die Supp ist fertig. Komm! Tu dich mit dem Buben in Ruh wieder ausgleichen. Bei guter Schüssel wird das Gemüt schön nachgiebig. Aber so eine trückene Rechtsläpperei –« Frau Marianne konnte diese kostbare Perle ihrer Lebenserfahrung nicht zu Ende drehen.

Denn der Amtmann hatte im Merkbuch gefunden, was er suchte. Alle mißmutige Strenge seines Gesichts verwandelte sich in triumphierende Freude. »Recht hab ich! Recht! Da steht's Da! Da! Da!« Dreimal stieß er mit dem Zeigefinger auf das Merkbuch hin. »Und jetzt, meinetwegen, jetzt kann ich auch Langmut zeigen. Weil es schwarz auf weiß bewiesen ist, daß ich recht hab. Ruf den Buben, Mutter! Das soll er lesen! Da steht's! Sub 28. Junio 1391: ›Den Hängmooser Auftrieb visitiert, sind aufgetrieben zwanzig Kalben und sechzig Ochsen, item ansonsten alles befunden nach Recht und Weidbrief von Anno 1356.‹ Da steht's!« Herr Someiner war in diesem Augenblick der glücklichste der Menschen.

Frau Marianne grollte wohl: »Du liebe Güt! Schon wieder die Hängmooser Ochsen!« Doch sie lachte, weil sie aus der frohen Sonne, die in der Amtsstube aufgegangen war, den Friedensschluß bei der Suppenschüssel erglänzen sah. »Geh, Ruppert, komm –« Da kroch die schöne Sonne hinter eine dicke Wolke. Denn Herr Someiner, der bei jeder Erscheinung des Lebens gleich zu rechnen anfing, beugte sich mißtrauisch über das Buch.

»Der 28. Junius 1391? Und heut? Was ist denn heut? Der 26. Junius 1421!« Zwischen diesen beiden Kalenderziffern schien ein Abgrund des Unheils zu klaffen. In den Augen des Amtmanns malte sich ein Schreck, als hätte sich vor seinem Blick etwas Grauenvolles ereignet.

In Sorge faßte Frau Marianne den Gatten am Ärmel. »Geh, Ruppert, laß doch jetzt –«

Herr Someiner befreite seinen Arm und brauste los: »Da hört sich doch –. Und ich in meiner Gut und Nachsicht hätt jetzt bald –. Ist das ein Kerl! Will die Schweizer Freiheit einführen im Land! Und redet wie ein Bruder vom freien Geist! So ein Heimtücker wie der! So ein geriebener Hinterlister!«

Frau Marianne wollte immer reden. Es gelang ihr nicht. Der Zorn ihres Mannes brauste weiter wie ein entfesselter Wildbach.

»Ein Glück, daß Gottes Segen über meinem Amt ist! Und daß ich den Schaden noch zu rechter Zeit besehen hab! Zwei Tag noch, und es wär zu spät gewesen! Und das ochsenmäßige Unrecht, das sie verüben auf dem Hängmoos, wär verjährt und wär ein ersessen Recht geworden. Und das Stift wär wieder ärmer um ein Herrengut. Aber Gott sei Dank, ich bin noch allweil da.«

Als der Amtmann dieses letzte Wort gesprochen hatte, war er schon nicht mehr da. Er hatte Hut und Stock ergriffen und war schon auf der Straße.

Frau Someiner sah die offene Tür an, schüttelte kummervoll den Kopf und predigte ins Leere: »Gott hat die Welt geschlagen, wie er die Mannsleut erschaffen hat! Ist jeder wie ein kranker Narr, dem man bei Tag und Nacht das kalte Tüchl um das Hirndach legen sollt.«

Als gewissenhafte Hausfrau versperrte sie die Amtsstube und das Eisengitter, nahm den heiligen Schlüsselbund in die Wohnstube mit hinauf und gab ihn an seinen Platz.

Nun war sie allein mit ihrer guten Suppe. Lampen kam aus seinem selbstgewählten Gefängnis nicht herunter, und des Gatten Heimkehr war nicht abzuwarten, solang die Suppe noch lau blieb. Frau Someiner saß am gedeckten Tische. Aber sie rührte den Löffel nicht an. Bei vielen trefflichen Eigenschaften, die man ihr nachrühmen mußte, war sie eine von den Frauen, die sowohl der Kummer wie die Freude veranlaßt, sich dem Irdischen zu entwinden und Hunger zu leiden. Doch sie ließ das Mahl für Vater und Sohn getrennt in zwei Töpfen warm halten, während sie selbst keinen Bissen berührte. Hätte Herr Someiner dieses Widerspruchsvolle in der Handlungsweise seiner Gattin gewahrt, so hätte er vermutlich wieder einmal festgestellt, daß weder Jubel noch Elend eine sinngemäße Ursach wäre, um sich der Speise zu enthalten; Sättigung des Leibes wäre ein natürlicher Brunnen der Lebenskraft, die man gerade in Elend und Jubel doppelt nötig hätte; essen müßte der Mensch noch, auch wenn er wüßte, daß ein Viertelstündlein später die Welt zugrunde ginge; aber, freilich, das Natürliche wäre für die Frauen immer das Unverständlichste.

Der Gelegenheit, sich solcher Weisheit zu entledigen, war Herr Someiner an diesem Tag entrückt. Während Lampert, wunderlich verstört, sich auf der Altane seines Stübchens in einen zierlich geschriebenen Traktat über des Boethius Werk de consolatione philosophiae vergrub und die Mutter mit feuchten Augen vor dem trockenen Teller saß, eilte der Amtmann aufgeregt dem Stifte zu, um seinem gnädigsten Fürsten diesen brennend gewordenen Rechtsfall in causa boum hengismosianorum, in Sache der Hängmooser Ochsen, zu hochpersönlicher Entscheidung vorzutragen.

Die Hälfte dieses Weges wurde dem Amtmann erspart. Denn als er das Stiftstor erreichte, durch das man in einen Vorhof sah, der minder an die Nähe einer klösterlichen Stätte als an den von Söldnern, Jagdbuben und Roßknechten bevölkerten Wallhof einer Ritterburg gemahnte, da kam dem Amtmanne der Erzpropst zu Berchtesgaden entgegengeritten, der edle Herr Peter Pienzenauer, begleitet von einem Jäger mit der Armbrust und von zwei Vorläufern, die sich für die Heimkehr in der Nacht mit Pechfackeln ausgerüstet hatten.

Der Propst war in schmuckloser Jägerkleidung, ein sechzigjähriger Graubart, hager und sehnig. Dem strenggezeichneten Kopfe, der auf diesen straffen Schultern saß, waren Fähigkeiten anzumerken. Hätte er sie nicht in Wahrheit besessen, so hätte er, bevor er Propst zu Berchtesgaden wurde, als Domherr zu Freysing und Augsburg nicht das wichtige, Umsicht und Scharfsinn erfordernde Amt des Kellermeisters bekleidet. Die tüchtigen Kellermeister gehen mager aus ihrem Amte, die schlechten verlassen es fett.

Herr Someiner eilte rasch auf den Fürsten zu; aber es gelang ihm nicht sogleich, die geladene Kammerbüchse seines Amtszornes zu entladen. Denn einer der Novizen, ein junges, feines, weltlich gekleidetes Bürschlein in Schnabelschuhen, mit klingenden Schellen am Gürtel und an den seidenen Ärmelfahnen – der Domizellar Sigwart zu Hundswieben – kam aus dem Innenhof des Klosters gelaufen, faßte das Pferd des Propstes am Zügel und sprach sehr flehentlich zu dem Fürsten hinauf.

Der Amtmann blieb in höfischer Entfernung stehen.

Herr Pienzenauer sah auf das modische, fast mädchenhafte Bürschlein hinunter mit einem Blick, in dem sich Wohlgefallen seltsam mit Geringschätzung mischte. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein!« Seine sonore Stimme war weithin zu vernehmen. »Für heut soll's genug sein. Mit dieser Knallerei vergrämt ihr mir den Rehbock. Und das Pulver ist teuer. Man weiß nicht, wie bald man's brauchen kann zu ernsteren Dingen als zum Niederbummern meines besten Hirsches im Graben. Ihr seid wie die Kinder.«

Ein neues Gebettel unter leisem Klingeling der silbernen Schellchen.

Per Propst blieb unerbittlich. »Nein! Wenn ich meinen Rehbock habe, morgen, meinethalben. Heute nicht mehr.« Er hob den Zügel und brachte das Pferd in Gang.

Sigwart von Hundswieben sah ihm auf eine Weise nach, die wenig Ehrfurcht verriet.

Da trat Herr Someiner auf den Fürsten zu.

»Ruppert? Was gibt's? Lang hab ich nicht Zeit. Sonst versäum ich die Pirsch.«

Der Amtmann sprach. Und als er seine Darlegung beendet hatte, fragte er: »Was soll geschehen, gnädigster Herr?«

»Was verständig ist und dem Recht entspricht.« Propst Peter lächelte. »Auf dich kann ich mich verlassen.« Dann ritt er davon.

Der Amtmann nickte. Jetzt war die Sache klar erledigt. Ohne einen Blick für die Menge des lärmenden Volkes zu haben, das sich drunten bei der Mauer des Hirschgrabens drängte und auf eine Fortsetzung dieser ebenso lustigen wie erstaunlichen Donnersache wartete, suchte Herr Someiner eilfertig den Vogt des Stiftes auf und beorderte ihn zur Pfändung der siebzehn siegelwidrigen Kühe auf dem Hängmoos, pünktlich zur Mittagsstunde des kommenden Tages.

Doch auf dem Heimweg zur guten Suppe wurde der Amtmann nachdenklich. Wie war das nur? Hatte der Fürst gesagt: »Was Verstand hat und dem Recht entspricht?« Und hatte er den Nachdruck auf das Recht gelegt? Oder sagte er: »Was dem Recht entspricht und Verstand hat?« Und meinte er als wesentliche Sache den Verstand?

Daß aber auch die hohen Herren immer so zwiespältig reden! Man weiß da nie mit Sicherheit, wie man dran ist.

Doch so oder so, jetzt war die Sache in Gang. Der amtliche Karren, der keine Deichsel zum Umkehren hat, mußte laufen. Los! In Gottes Namen!

Zu Hause, als Herr Someiner allein und ungestört die warmgehaltene Suppe aß, war in ihm ein ruheloses Wechselspiel von vernunftgemäßer Zufriedenheit und unerklärlicher Besorgnis. Schließlich wollten ihm die boves hengismosiani gar nicht mehr aus dem Sinn. Und neben den ruhigen Pendelschlägen in dem alten Uhrkasten – »Bau! Bau!« – wurde Herrn Someiners Unsicherheit in der Deutung jenes delphischen Fürstenwortes vom Verstand und vom Rechte immer qualvoller.

Inzwischen dachte der edle Herr Peter Pienzenauer schon lange nicht mehr an die siegelwidrigen Ochsen oder Küh. Er freute sich des schönen Pirschabends, der da kommen wollte, ritt ohne Eile den Waldschlägen des Totenmannes zu und überließ seinem Roß die Zügel zu behaglichem Schreiten.

Um die gleiche Stunde mußte ein andres Rößlein rennen, schnaufen und schwitzen. Als der Schimmel vor des Richtmanns Hagtor in der Ramsau mit pumpenden Flanken stehenblieb, fielen handgroße Schaumflocken von ihm herunter.

»Ich muß gleich wieder davon«, sagte der Runotter zu Heiner, »führ den Schimmel umeinand, daß er sich nit verkühlt.« Er ging zum Haus und zog am Küraß die Schnallen auf. Vor der Schwelle drehte er das erhitzte Gesicht. »Weißt nit, ist der Soldknecht noch im Leuthaus drüben?«

»Schon lang nimmer. Die Rauschigen sind all davongetorkelt. Und den Malimmes hab ich lustig singen hören, weit über die Straß hinaus.«

»Ist er's gewesen? Wahrhaftig? Der Malimmes vom Taubensee?«

»Wohl, Bauer!«

Runotter trat ins Haus. Gleich kam er wieder, des Eisens ledig, nur mit einem festen Meser am Gürtel. »Kann sein, ich komm über Nacht nit heim.« Er zog die Lederkappe in die Stirn, sprang auf den Schimmel hinauf und ließ ihn am Brunnen trinken.

Im Trab die Straße hin gegen den Taubensee.

Bei einem Haus, das neben der Straße auf einem kleinen Hügel stand, rief Runotter: »Höi! Ist der Albmeister daheim?«

Der wäre beim Heuen, gleich da drüben über dem Bach.

Die Ache machte mehr Lärm, als sie Wasser hatte. Leicht kam der Schimmel hinüber und kletterte über die steilen Wiesen hinauf.

Ein neunzigjähriger Bauer, dürr und gebeugt, kahlköpfig und mit weißen Bartstoppeln, wendete das am Morgen gemähte Heu – Seppi Ruechsam, der Albmeister der Ramsauer Gnotschaft. Sein Hausname kam wohl davon, daß einer seiner Vorfahren ein besonders Sparsamer gewesen war. Wie für die Fähigkeiten des Propstes sein früheres Amt als Kellermeister, so sprach für den Seppi Ruechsam die Tatsache, daß er Albmeister war. Um Albmeister zu werden, mußte man zumindest siebzig Jahre hinter sich haben, mußte das Vergangene wissen und mußte ein Makelloser, einer von den Besten der Gemeinde sein. Der Albmeister war halb wie ein Heiliger, weil er den grünen Speisbrunnen und das wertvollste Lebensrecht des Bergdorfes hütete.

Ehe noch der Schimmel den Seppi Ruechsam erreichte, fragte Runotter schon: »Seppi? Du? Wie ist das mit dem Hängmoos? Seit wann ist der Käser droben? Seit wann treibt man das Milchvieh hinauf?«

Langsam streckte sich der Greis. »Das ist, seit die Salzburger den Propsten Kunrad vertrieben und das Stift in Pfand genommen haben. Ist gewesen im dreiundneunziger Jahr.«

»Ist Melkvieh und Käser mit Rechten auf der Alb?«

»Was denn sonst? Albmeister ist der Seppi Ruechsam. Der wird wohl wissen, was recht ist.« Für den Greis in seiner steinernen Ruhe schien das ein Zwiefaches zu sein: er als Mensch und er als Albmeister.

»Ist unser Recht verbrieft?«

»Was denn sonst?«

Runotter atmete auf. »Der Brief ist weisbar?«

»Was denn sonst? Liegt bei mir in der Truchen, ist gut geschrieben ist gewächsnet mit des Herrn Kunrad Fürstenring.«

Der Richtmann verlangte nicht, den Brief zu sehen. Er wußte: Der Albmeister hat die Truhe mit den Rechtsbriefen, der Ältestmann der Gnotschaft hat den Schlüssel, und Schloß und Schlüssel dürfen nur Hochzeit halten, wenn fünf spruchbare Männer der Gnotschaft als Zeugen dabei sind.

»Sie sagen im Amt, es war kein Brief nit da als bloß der alte von den Ochsen.«

»Die sagen viel.« Der Greis fing wieder zu heuen an.

»Und der Amtmann will die Milchkuh pfänden lassen, morgen.«

Seppi Ruechsam hob langsam das Gesicht. »So?« Er sprach dieses kleine Wort, als hätte ihm einer an schönem Tage gesagt, es regnet. »Was tust da, Richtmann?«

»Ich steh beim Recht. Und treib nit ab. Die Küh müssen bleiben.«

»Was denn sonst?«

»In der Nacht reit ich um und ruf die Leut für morgen zum Taiding.«

Der Greis nickte. »Ist hart, in der Heuzeit einen Tag verlieren. Aber mehr als Heu ist die Kuh, mehr als die Kuh ist das Recht.«

»Das Taiding ruf ich zu deinem Haus.«

»Was denn sonst? Es geht ums Weidrecht. Der Seppi Ruechsam ist morgen daheim, wo die Truchen steht. Aber Pfändleut hin oder her, einem Spießknecht gibt der Seppi Ruechsam den gewächsneten Brief nit in die Hand. Recht liegt fest. Das tut man nit umtragen wie den Bettelsack. Vor guter Zeugschaft muß der Amtmann zum Seppi Ruechsam seiner Truchen kommen. Und kommt er nit, und sie pfänden? Gut! Da muß der Fürst die Küh futtern und die Milch vergüten. Derweil kriegen wir auf der Alb mehr Gras, wenn minder gefressen wird. Ist ein Nutzen. Den Schaden muß das Stift gutmachen. Tät der Fürst für seines Amtmanns Unrecht nit aufkommen, so geht man zum deutschen König. Dafür ist der König da. Wozu denn sonst? Und den Weg zum deutschen König weiß der Seppi Ruechsam. Sonst tät er nit Albmeister sein. Was denn sonst? Jetzt tummel dich, Mensch! Und reit!«

Das war die längste Rede, die man vom Seppi Ruechsam seit vielen Jahrzehnten gehört hatte. Er sollte in seinem Leben keine so lange mehr halten.

Der Richtmann überquerte die Ache wieder, und sein unermüdlicher Schimmel, dessen Heubauch schlank geworden, jagte zum Taubensee.

Die Sonne bekam schon goldene Glut, und alle Farben der Erde und des Himmels vertieften sich zu sanftem Glanz.

Im Wiesgarten am Taubensee schleppten Mareiner und sein Weib das fein geratene Heu in großen Tüchern zur Scheune. Die Bäuerin, als sie den Reiter sah, bekam gleich wieder einen Schreck; ein Herr war der Runotter freilich nicht, aber der Richtmann war er.

»Du, Mareiner«, rief der Ramsauer und sprang vom Gaul, »ist's wahr, daß dein Bruder Malimmes gekommen ist?«

»Wohl!« Das konnte der Bauer ruhig sagen. Seine dreiundachtzig und ein halb Pfund Pfennig waren in Sicherheit; und Malimmes tat, als möchte er geben wie ein Christ, nicht nehmen wie ein Hofmann. »Vor der Haustür hockt er bei der Mutter.«

»Mein Gaul ist heiß gelaufen. Magst ihn ein lützel führen, derweil ich mit deinem Bruder red?«

»Gib her!«

Runotter ging zum Haus. Er dachte zwei Menschen in Freude zu finden und fand zwei Leute, von denen sich keins ums andre zu kümmern schien. Wohl saßen sie nebeneinander, die alte Frau im Sessel und Malimmes auf dem Boden, ohne Wams und mit nackten Füßen, recht wie einer, der daheim ist; doch er hielt die Arme um die aufgezogenen Knie geschlungen und guckte verdrossen vor sich hin; die große Narbe brannte wie Feuer.

Er war nicht wehleidig. Aber wie die Mutter seine Heimkehr nahm, das war doch wunderlich. Eine kurze Freude, wie beim Besuch einer Nachbarin, die man lange nicht gesehen. Und nun saßen die beiden so nebeneinander, schon den ganzen Nachmittag. Wenn Malimmes erzählen wollte, hörte die Mutter nicht zu und guckte zum Himmel hinauf; und wenn er stumm wurde, redete sie vom andern, immer vom andern. Jetzt wieder. Und plötzlich fragte sie: »Malimmes, bist du noch da?«

»Noch allweil, ja!«

»Wie lang, sagst, hast du laufen müssen bis zu deiner Mutter?«

»Sieben Täg.«

»Ein weiter Weg. Und der ander steht am Zäunl. Steht am Zäunl. Und geht nit herein zu mir.«

»Das hast du mir schon gesagt, Mutter! Oft schon. Magst nit ein lützel mit mir reden?«

»Steht am Zäunl und geht nit herein zu mir.«

Malimmes sah den Richtmann kommen, streckte sich, stand auf und ging ihm lautlos durch das Gras entgegen. »Bist du nit der Runotter?«

»Freut mich, daß du mich noch kennen magst.« Erschrocken sah Runotter die brennende Narbe an.

»Kommst du zu mir?«

»Wohl! Hab gehört, du wärst wieder da.«

»Gelt! So wirft das Leben die Leut umeinand, man weiß nit, warum.« Das klang ein bißchen katzenjämmerlich. Und doch war an Malimmes keine Spur von Trunkenheit. Er sah über die Schulter zu der alten Frau hinüber. Dann zwang er sich zu heiterem Ton. »Ja, weißt, in Nüremberg hat's mir nimmer gefallen, seit man um der Franzosen willen die Badstuben geschlossen hat. Ich hab allweil ein lützel auf Sauberkeit gehalten. Wie kleiner ein Gärtl ist, um so feiner muß man's hegen.«

Der Richtmann schien nicht zu verstehen. »Franzosen? Im Reich? Ist Krieg?«

Jetzt konnte Malimmes lachen. »Ein harter, ja! Aber Gott sei Dank, von der Ramsau müssen die blauen Marodier noch weit sein! – Jetzt red, Richtmann! Ich sehe doch, du willst was.«

»Bleibst lang daheim?«

Wieder sah Malimmes über die Schulter. »Glaub nit. Was tu ich denn da? Man ist der Niemand. Der Schlechter ist allweil der Besser! – Und was tu ich draußt in der Welt? Nit wissen, wo man daheim ist. Pfui Teufel!«

»Hast keinen Herren?« fragte der Richtmann rasch.

Malimmes schüttelte den Kopf.

Dem Runotter schoß die Freude heiß ins Gesicht. »Ich tät dir was wissen. Aber du wirst nit mögen.«

»Schieß los!« Der Soldknecht lachte. »Laß den Bolzen fahren! Gut oder schlecht geschossen, ein Plätzl trifft er allweil.«

»Mein Bub müßt im Winter zur Holdenwehr. Dienen kann er nit, weil er bresthaft ist.«

Der Söldner nickte.

»Das weißt? – Weißt auch warum?«

Wieder nickte Malimmes. »Selbigsmal bin ich doch fort. Hab flüchten müssen, weil ich über den Hartneid Aschacher geschumpfen hab.«

Jäh streckte Runotter die Hand.

Malimmes nahm sie nicht. »Laß gut sein! Deinetwegen hab ich nit geschumpfen. Ich hab geschumpfen, weil mir gegraust hat. – Also? Was willst?«

Zögernd sagte der Richtmann: »Für meinen bresthaften Buben, daß er das Erbrecht nit verliert, such ich einen Stellmann zur Holdenwehr.«

Jetzt verstand Malimmes und brach in heiteres Gelächter aus, wie über einen guten Spaß. »Jöija, Bauer! Bist voll und toll? Wer heut mit mir gesoffen hat, das weiß ich nimmer. Aber du bist doch nit dabei gewesen?«

»Spotten brauchst nit!« Runotter war bleich geworden. »Hab mir eh schon gedacht, du wirst nit mögen.«

Im Klang dieser Worte war ein so schwerer Kummer, daß Malimmes sein Lachen sein ließ und verwundert aufsah.

»Gottes Gruß!« Der Richtmann wollte gehen.

Da faßte ihn Malimmes flink am Arm. »Du!« Ein langes Schweigen. »Wenn ich um Allerheiligen noch leb und frei bin, meiner Seel, ich tu's.«

Mit jagenden Worten sagte Runotter: »Wenn du möchtest, Mensch, ich tät dir Sold geben von heut an. Verlang, was du magst. Hab ich so viel, so geb ich's.«

Nun mußte Malimmes wieder lachen. »Da tätest ja du mein Herr sein bis zum Winter!« Immer heiterer wurde er. »Dem König hab ich gesoldet, einem Kurfürsten, einem Herzog, einem Bischof, einer schönen Frau, einem Heckenreiter und einer Stadt. Noch nie einem Bauren! Jöija, schau, da hätt ich ja gar was Neues im Leben!«

»Red nit so!« sagte Runotter unwillig. »Mir ist das kein lustig Ding.«

»Aber mir! Eines Bauren Soldmann? Ist was Neues! Freilich, die Bauren führen allweil Krieg, eines Sauren Kriegsmann sein, ist gefährlich. Könnt sein, da geht's mir flink an das kitzlige Zäpfl. Aber wissen möcht ich, wie das ist, wieder einmal was Neues haben.« Lustig klatschte Malimmes die Hand auf seinen Schenkel. »Einmal im Clevischen, da hat mich auch ein Gusto gekitzelt. Hab gemeint: Um des Wissens wegen muß man alles verkosten. Da hätten sie mich schier gehenkt. Ein Blitz hat einschlagen müssen, daß ich vom Baum wieder ledig worden bin.«

Der Richtmann sagte hart: »Laß dein narrisches Reden sein, das ich nit versteh. Tust mich foppen? Oder ist es dein Ernst?«

»Die Hand her! So schlag ich ein!«

Die beiden Fäuste umklammerten sich. Malimmes lachte, Runotter blieb ernst, doch die steinerne Härte seines Gesichtes milderte sich. »Was verlangst?«

»Ich schätz dich nit minder ein als wie die Nüremberger: doppelt Gewand, für Sommer und Winter, Wehr und Eisen nach Not, Trank und Speis nach Landsbrauch, im Frieden Stub und Bett, bei Krieg einen Polster im Zelt, zwanzig Pfund Pfennig als Doppelsold, viermal im Jahr ein frummes Weibl und nach jeder gewonnenen Schlacht das Raubrecht.«

Im Gesicht des Richtmanns zeigte sich ein leiser Zug von Heiterkeit. »Sollst alles haben. Bloß die frummen Weiblein, die mußt dir selber suchen –«

»Eins weiß ich mir schon, nit weit von deiner Burg.«

»– und meine Schlachten verlier ich. Da wirst kein Raubrecht haben.«

»Ist auch nit schlecht. Fasten und arm sein können, ist eines Kriegsmanns beste Kunst.«

»Gilt's, Malimmes?«

»Topp!«

»Topp!«

Runotter wollte gleich zu seinem Gaul. Aber Malimmes faßte ihn am Gürtel. »Halt, Herr, jetzt muß ich Treu schwören!«

»Geh, Mensch, laß die Fasnachtspossen!«

»Das muß sein!« sagte Malimmes ernst. Er stellte die Beine breit, legte die Linke auf seinen hageren Brustkasten, hob die Rechte mit gespreizten Fingern und sagte, wie ein Frommer sein Gebet spricht:

»Meinem Herren tu ich den Eid, Will ihn schützen und ehren allzeit In Fried und Gefecht. Treu deinem Recht, Bin ich dein Knecht, Mit Herz, Haut, Fleisch, Blut und Sinn Hast mich, wie ich bin. Und tät ich nit, wie du befohlen, Soll mich der Teufel holen!«

Freundlich sagte der Richtmann: »Bist noch allweil der gleiche Narrenschüppel, der du als Bub, gewesen.« Er wollte gehen.

»Halt, Herr! Jetzt muß ich das Knie beugen.«

»Geh, laß doch! So was mag ich nit.«

»Herr, das muß sein!«

»Sag doch nit allweil Herr zu mir! Ich bin keiner.«

»Der meinig bist!« Malimmes beugte auf höfische Weise das Knie. »Meinem Herren zur schuldigen Ehr!« Als er aufstand, streckte er dem Runotter die Hand hin. Es war etwas Warmes und Schönes in der Art, wie er sagte: »Sei mir ein guter Herr, so bin ich ein guter Knecht, bei Tag und Nacht, in Glück und Elend.«

»Auf mich ist Verlaß, Malimmes!«

»Auf mich nit minder!« Der Soldknecht lachte. »Also, morgen mit der Sonne steh ich ein bei dir. Mit wem hast Fehd? Heut vor Nacht, da schleif ich noch meinen Bidenhänder. Da können wir morgen gleich losschlagen.«

Fast ein bißchen schmunzelnd machte der Richtmann eine abwehrende Bewegung mit der Hand. »Da wirst dich nit tummeln brauchen.«

Wie brennendes Blut lag der rote Schimmer des Abends über allen Dingen der Erde.

Als Runotter schon gehen wollte, sah er zum Haus hinüber und sagte leis: »Von mir aus hast Urlaub bis zum Winter. Deiner Mutter könnt's unrecht sein, daß du gehst.«

Jede Spur von Heiterkeit erlosch in den Augen des Malimmes. »Die hat nit gemerkt, daß ich kommen bin. Wird nit merken, daß ich geh. Sieben Täg lang bin ich gelaufen in einem Saus von Nüremberg bis zum Taubensee. Allweil ein Freud vor mir. Jetzt bin ich da. Wo ist die Freud?« Er sah dem andern in die Augen. »Runotter! Wie von Nüremberg zum Taubensee, so ist der Weg von der Wiegen bis zur Grub.« Seine Brust hob sich. »Auf morgen! Ich komm. Und hast nit Kriegsmannsarbeit für mich, so laß mich die Säu hüten. Sind liebe Viecher.«

Herzlich sagte der Richtmann: »Bei mir sollst es gut haben! Du und ich, paß auf, das gibt zwei feste Kameraden.«

Sie gingen voneinander, Runotter zu seinem Gaul, Malimmes hinüber zum Haus.

Neben der Mutter blieb er stehen und strich ihr mit zärtlicher Hand über den weißen Scheitel.

Sie schob seine Tatze fort.

»Steht am Zäunl. Und geht nit herein zu mir!«

Malimmes blieb noch immer bei ihr stehen und wartete. Dann streckte er die langen Glieder und trat ins Haus.

Durch den glühenden Abend trabte der Schimmel gegen das enge Waldtal hinauf. Den Weg zum Hängmoos kannte er gut. Im Walde fing es schon zu dunkeln an. Der Schimmel fand sich zurecht, ohne daß sein Reiter ihn lenken mußte.

Es war im Richtmann eine Ruhe, über die er sich selber wunderte. Aber war denn nicht die angedrohte Pfändung eine Narretei geworden, jetzt, seit er wußte, daß der gewächsnete Rechtsbrief in der Truhe des Seppi Ruechsam lag? Oder kam diese Ruhe aus seiner Vaterfreude? Weil er seine Kinder sehen sollte? Oder war diese Ruhe in seinem Herzen seit dem Handschlag des Malimmes? Wird das Leben ein besser Ding in der Stunde, in der man einen Menschen findet, aus dessen heiteren Augen die Treue redet?

Im steilen Walde stieg Runotter ab, damit dem Schimmel das Klettern leichter würde. Als die beiden das dunkle Almfeld erreichten, nahm der Richtmann dem Gaul das Zaumstricklein und den Gurt herunter und ließ ihn laufen. Der Schimmel wälzte sich gleich in der nächsten Schlammwanne des Bruchbodens.

»Guck, wie gescheit! Der zieht ein warmes Jäckl an, daß er sich nit verkühlt.«

Raschen Ganges schritt Runotter über die Alm hinauf. Es war schon finster. In der Höhe und im stahlblauen Osten glänzten die großen Sterne. Gegen den Westen lag noch ein schwefelgelber Streif des versinkenden Lichts über dem Lattengebirge. Warm, wie aus einem Backofen, strich die Nachtluft über das Gehänge herunter. In den Sümpfen des Bruchbodens sangen mit viel hundert Stimmen die Frösche. Diese Stimmen, von denen eine wie die andre klang, schwammen zu einem gleichmäßig flutenden Rhythmus ineinander. Ein endloses Lied mit einem einzigen Wort: »Wogwogwogwogwog ...« Fast klang es, als hätte die Erde irgendwo – in der Nähe oder fern? – eine verborgene Kehle, durch die eine geheimnisvolle Stimme der Tiefe heraufsang.

Dazu noch, weit in der Finsternis draußen, das Rauschen eines Baches. Und hier und dort, ganz leise, tönte zuweilen eine Almschelle. Die Rinder ruhten schon. Doch plötzlich kam etwas heftig Rasselndes durch die Dunkelheit heran, sehr schnell, dumpf schnaubend, eine finstere Tiergestalt mit plumpem Kopf: ein vierjähriges Öchslein, das seinen Heimherrn gewittert hatte. Sah wie ein Schreck der Finsternis aus – und war tierische Zärtlichkeit. Der Atem des Rindes ging dem Richtmann heiß und wohlriechend gegen die Wange, gegen die Hand.

»Dunnerli, bist du's?«

Ruhig ging das Öchslein neben dem Bauer her bis auf einen Steinwurf vor der Hütte, aus deren Tür ein matter Rotschein herausgloste.

Im Dunkel eine leise, froh erschrockene Stimme: »Vater?«

»Wohl, Kindl!«

Jula, die neben der Tür auf der Hüttenbank gesessen, gab dem Vater die Hand. »Wird der Bub sich freuen!« Ihre Knabenstimme war wie ein linder Flötenton in der Nacht.

»Wo ist er?«

»Schlafen tut er schon. Der wird Augen machen, wenn du ihn weckst.«

Runotter schwieg. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf. »Soll er lieber schlafen. Der Schlaf ist das best. Da ist der Mensch dem Himmel näher und weit von der Welt.«

Die Hirtin nickte. »Ist schon wahr. Besser, der Jakob schlaft. Das tut ihm gut. Heut schon gar. Er muß sich ein lützel geärgert haben.« Sie meinte den Auftritt mit Marimpfel; aber davon mochte sie dem Vater nichts erzählen. »Du weißt, nach einem Ärger tut er sich allweil mit dem Schnaufen hart. Zum Abend ist's wieder besser gewesen. Gut, daß er schlaft.«

»Freilich, ja!« Runotter tat einen schweren Atemzug. »Daß du noch nit zur Ruh bist?«

»Zum Abend sitz ich allweil so und schau hinaus. Und die Frösch, die mag ich leiden.«

Runotter streifte die Schuh von den Füßen. Lautlos, mit nackten Sohlen, trat er in den Käser und ging zum Heukreister hin, der in der Ecke war. Von der Kohlenglut des Herdes strahlte ein rotes Zwielicht aus. Und unter diesem roten Schimmer lag in der breiten, mit Heu gefüllten Schlaftruhe ein Häuflein mühsam atmenden Lebens. Eine graue Wolldecke verhüllte den winzig zusammengehuschelten, bresthaften Körper. Das schwarze Haar hing wuschelig in die bleiche Stirn; in den Runzeln des schmalen Gesichtes war ein ruheloses Zucken. Und dennoch gab der Schlaf diesem häßlichen Bild einen Hauch von wohligem Frieden.

Runotter streckte die Hand nach der wollenen Decke, ohne sie anzurühren. Und wie jedesmal, wenn er seinen Buben mit geschlossenen Augen sah, so jagte dem Richtmann auch jetzt eine Reihe von Bildern durch das Gehirn.

Er sah sein junges Weib aus dem Tal des Windbaches heimkommen, an der Hand das verstörte Dirnlein, das in einem erwürgten Schreikrampf immer schlucken mußte; alles Weiße am Gewand des jungen Weibes hatte rote Flecken wie von Blut; aber die kamen nur von den zerdrückten Erdbeeren; doch am Hals und auf der kalkbleichen Wange hatte sie eine leichte Ritzwunde.

Er sah sein Weib auf der Bank in der Stube sitzen, sah, wie sie zitterte an Händen und Knien, wie sie immer das Gesicht hin und her drehte, immer ihres Mannes Augen vermied und stumm blieb auf alle Fragen. Immer stumm, solang der Tag noch ein Bröslein Licht hatte. Und erst in der Nacht, als sie im Dunkel der Kammer an ihres Mannes Hals geklammert hing, da kam ihr die Sprache.

Er sah sich im Münster zu Berchtesgaden hinter einer Säule stehen, das Messer im Ärmel verborgen; er sah die Stiftsherren beim Rauschen der Orgel zu ihren Chorstühlen kommen, alle, alle – und nur ein einziger kam nicht und blieb verschwunden: Hartneid Aschacher.

Er sah einen grauen Wintermorgen und sah, wie ihm die schweigende Hebfrau auf seine ausgestreckten Hände hin ein verdrehtes, widersinnig verschobenes Menschenkind legte, das die Augen nicht auftat, immer das schmerzhafte Mündchen öffnete und doch nicht lallen wollte.

Er sah –

Da legte er langsam den Arm über seine Augen.

Lautlos trat er hinaus in die Nacht.

Nun saßen Vater und Tochter auf dem schmalen Bänklein, Schulter an Schulter, immer schweigend.

Dann fing Runotter ruhig zu reden an und erzählte von dem ›Stellmann‹, den er für Jakob gefunden.

Wieder schwiegen die zwei.

Und immer leiser wurde das Lied der Frösche, immer weiter schien es fortzurücken, immer ferner in die Nacht hinauszuschwimmen. Es wurde zuletzt wie eine feine Stimme, die zärtlich herausflüsterte aus dem Dunkel: Komm, komm, komm, komm –

»Das hör ich gern!« sagte Jula.

Nun erzählte Runotter von der Arbeit im Hof daheim. »Aber arg still ist's im Haus. Tät mir recht sein, wenn der erste Reif schon da war und du kämst mit dem Jakob wieder heim! Beieinand sein ist allweil das best. Aber jetzt muß ich fort, muß noch ein paar Weg machen in der Nacht.« Er war aufgestanden und hatte Jula schon die Hand gereicht. Und nun erst sprach er von dem anderen, von der Narretei dieser Pfändung.

Die Hirtin erschrak. Und in der Sorge um ihre Tiere, die sie liebhatte, sprach sie zornige Worte.

Der Vater schob die Füße in die Schuhe. »Komm, geh ein lützel weiter vom Käser weg. Der Bub soll mich nit sehen, wenn er aufwacht. Der braucht's nit wissen.«

Die beiden gingen langsam in die Nacht hinaus, Runotter mit Zaum und Gurt über dem Arm. Als der Vater stehenblieb, sagte Jula in Zorn: »Das ist doch unrecht, Vater!«

»Mehr Unverstand und ein lützel Irrtum, der sich weisen wird. Ich glaub eh, sie lassen's gut sein. Aber kommen die Pfändleut; so mußt dich nit aufregen. Ich schick dir morgen in der Früh den Heiner herauf. Tat selber kommen, wenn ich nit bei der Gnotschaft sein müßt. Und zum Paß dahinten, gegen den Hallturm, leg ich einen Buben als Lugaus. Merkt er die Pfändleut, so muß er heimspringen und unter der Alben drei Juchzer tun, daß du weißt, sie kommen. Da geh mit dem Jakob vom Käser weg, weit weg, bleib in den Stauden hocken und tu dich nit kümmern um die ganze Sach. Der Heiner macht schon alles.«

»Vater, das ist hart, daß du mich wegschicken tust von meiner Herd!«

»Bloß wegen dem Buben, weißt! In drei, vier Tag ist alles wieder gut. Leicht morgen zum Abend schon. Über den Bruchboden bringen die Pfändleut so viel schwere Küh nit hinüber. Da müssen sie durch die Ramsau. Und beim Seppi Ruechsam steht die Gnotschaft mit unserm Recht. Kann sein, ich bring die Küh vor Nacht wieder her. Geht's anders, so tu ich Botschaft schicken. Da bleibt der Heiner zum Ochsenhüten, und du mit dem Buben kommst heim.«

Jula konnte nicht reden.

Runotter tat auf den Fingern einen Pfiff. Ein Pochen wie von zwei schweren Hämmern ließ sich hören, und der Schimmel kam aus der Nacht herausgaloppiert. Der Richtmann fühlte an den Gaul. »So? Hast du dein warmes Jäckl schon wieder abgebeutelt?« Er gürtete und zäumte den Schimmel.

Da sagte Jula: »Daß die Leut so schlecht sein können!«

»Wie's half geht!«

»Muß das allweil so sein? Und ist das allweil so gewesen?«

»Ein Sträßl zum Besseren gibt's überall, und gewesen ist's auch nit allweil so. Meines Vaters Vater hat als junger Bursch noch leben dürfen in der, seligen Heinrichszeit.«

Beklommen fragte die Hirtin: »Was für eine Zeit ist das gewesen?«

»Bald hundert Jahr ist's her, da hat im Land ein guter Fürst regiert, Herr Heinrich von Inzing. Von dem hat meines Vaters Vater als altes Mannderl oft erzählt, und wenn er geredet hat von ihm, sind die Leut herumgesessen, mäuserlstill, und jedem ist ein Glanz in den Augen gewesen.«

»Da hätt ich leben mögen!« sagte Jula leis.

»Ja, Kind, selbigsmal, sagen die alten Leut, da wär das Gadener Land wie ein Paradeis gewesen. Und nit der Herrgott hat's gemacht. Ein Mensch! Da glaub ich dran: Ein starker und guter Mensch macht tausend glückselige Leut und greift dem Elend der Welt ins Karrenrad.« Runotter sprang auf den Gaul. »Der Schimmel hat die besseren Augen. Da geht's flinker. Gut Nachts Kindl! Und morgen tust so, wie ich's haben will. Gelt?« Er faßte die Hand, die Jula ihm hinaufbot. »Gestern noch die beste Ruh, und heut so eine Sorg! Möcht nur wissen, wer die Narretei da aufgerührt hat. Der Marimpfel kann's nit gewesen sein. Der ist doch heut schon mit der Ladung kommen.« Runotter spürte an Julas Hand eine Bewegung. »Was hast?«

Sie schüttelte den Kopf. Und schweigend stand sie in der Dunkelheit.

»Jetzt muß ich aber davon! Gut Nacht! Und tu am Käser die Tür fest riegeln.«

Jula blieb stehen.

Den Vater sah sie schon nimmer. Nur auf dem Rasen hörte sie noch vier Hämmer leise pochen. Manchmal klang's wie Eisen gegen einen Stein; und winzige Funken sprühten auf.

Langsam drehte Jula das Gesicht gegen den Bruchboden hinüber, aus dessen matter Wasserhelle die kleinen Moosbüschel wie struwelige Koboldköpfe herauslugten.

Die Stille der Nacht.

Auch die Frösche schliefen und sangen nimmer.

Da klang in weiter Ferne ein Murren wie vom Donner eines nahenden Gewitters.

Doch die Höhe war wolkenlos, die Sterne glänzten ruhig und schön.

Herr Peter Pienzenauer war mit dem Rehbock heimgekommen ins Stift. Und da hatten die Chorherren noch einmal die neue Kammerbüchse im Hirschgraben gelöst, um den Pulverblitz in der Nacht zu sehen.

5

Schon zeitig am Morgen fingen die Herren wieder zu schießen an. Siegwart von Hundswieben, Gesicht und Hände wie von Ruß geschwärzt, glich einem Betrunkenen in seiner Freude an diesem Gedonner und Rauchgewoge, das über die Firste des Stiftes emporwirbelte, als wäre die klösterliche Stätte verwandelt in eine kriegerische Brandstatt. Der Übermut des jungen Hundswieben steckte die andern Domizellaren, sogar die älterem Chorherren an. Nicht minder lustig waren die neugierigen Leute, die sich auf der Straße um die Mauer des Hirschgrabens drängten und das Zugucken nicht satt bekamen. Ein paar Furchte same rannten freilich erschrocken davon, als der junge Hundswieben Belagerung spielen wollte und die mit einer kinderkopfgroßen Steinkugel geladene Kammerbüchse gegen die Straßenmauer richtete. Ein banger Schrei der vielen Menschen, ein Rückwärtsweichen und Auseinanderfluten. Dann läutete die Annasusanne – wie Hundswieben sein bedenkliches Spielzeug getauft hatte – ein Pulverblitz, ein Krach, eine kreisende Rauchwolke, ein Gekoller von Steinbrocken, und mitten in dem alten grauen Gemäuer konnte man plötzlich ein rundes Auge des blauen Himmels gewahren. Wie durch ein Wunder war der gefährliche Scherz ohne böse Folgen abgelaufen. Und als die Leute das merkten, fingen sie gleich wieder vergnügt zu schwatzen an. Ein Kreischen wie beim Schembartlaufen erhob sich, als Hundswieben und die andern Domizellaren die Bresche unter fröhlichem Kriegsgeschrei erstürmten, in den Schwärm des Volkes eindrangen und zwei junge hübsche Mädchen haschten, die sie als Siegesbeute mit sich herunterrissen in den Graben. Die eine, die immer lachen mußte und dennoch Zetermordio schrie, wurde rittlings auf das heiße Büchsenrohr gesetzt. Dabei lud man die Annasusanne wieder. Auf der Straße gab's ein johlendes Gebrüll, als die langgestielte Rohrbürste so hurtig ein und aus fuhr. Ganz närrisch lachten die Leute, als die Herren den Pulverdampf eines blinden Schusses dem andern Mädel unter das aufgehobene Röcklein fahren ließen. Dem entsetzten Opfer dieses Scherzes pfurrten die dicken Rauchfäden aus Hemdärmeln und Kittelschlitz heraus.

Ein paar von den Leuten gingen freilich mit zornrotem Gesicht davon. Immer gibt es Dummköpfe, die keinen Spaß verstehen. Wenigstens war der junge Hundswieben dieser Meinung.

Neben dem Scherz und Übermut der Herren schien in dieser knallenden Pulverstunde auch eine ernste Sache zu spielen. Lampert Someiner tauchte mit verstörtem Gesicht aus dem Hof des Stiftes heraus. Er lief, daß ihm die Menschen auf der Straße verwundert nachsahen. In den Flur des elterlichen Hauses stürmend, schrie er den Namen des Stallknechtes. Und weil sich der Knecht nicht sehen ließ, sprang Lampert selbst in den Stall und sattelte in Hast den Moorle.

Für einen Ritt war Lampert nicht gekleidet. Er kam von einer Reverenzvisite bei seinem fürstlichen Herrn und trug ein kostbares Hofkleid, mit einem zierlichen Dolch am Gürtel. Von seiner Mardermütze hing rückwärts eine goldfarbene Seidenschärpe herunter und schwang sich unter dem linken Arme bis zur Brust.

Mit diesem feinen Kleide stapfte Lampert aufgeregt im Dünger des Stalles umher. Er fluchte, als der Pongauer beim Zäumen nicht gleich die Zähne auseinandertat. Schon im Hofe schwang sich Lampert auf den Gaul hinauf und ließ ihn über das Holzpflaster des Flures hinauspoltern auf die Straße.

Die Tür der Amtsstube wurde aufgerissen, und Herr Someiner erschien, mit dem Gänsefähnlein hinter dem Ohr. »Was soll denn das, Bub? Was willst du?«

Lampert war schon draußen im Licht, und nur der lange, buschige Schweif des Moorle wehte dem Amtmann noch eine unverständliche Antwort zu.

Jagende Schritte, ein stammelnder Laut. Und aus dem dunklen Treppenschachte fuhr die weiße Frau Marianne heraus. »Ruppert! Das ist doch der Bub gewesen?«

»Mir scheint –«

Die beiden rannten auf die Straße hinaus. Dem Amtmann stieg das Blut zu Kopf, und ein deutliches Unbehagen redete aus seinen verdutzten Augen. Frau Marianne rief mit schriller Stimme: »Lampert! Lampert!« Aber der Reiter, der den Moorle trotz des löcherigen Pflasters zum Jagen zwang, verschwand schon um die Wende der Marktgasse. »Lampert!« klang noch ein drittes. Mal der schrille, angstvolle Ruf.

Ein Gewirr von Stimmen quoll vom Hirschgraben her. Die fleißige Annasusanne brüllte wieder, und während das Echo des Schusses über die in Sonne flimmernden Berge hinrollte, grub sich in das Herz der Frau Marianne eine bange Muttersorge, von der sie durch fünfzehn Monate nimmer erlöst werden sollte.

Auf den Moorle, der an den letzten Häusern von Berchtesgaden schon vorbei war, hatte das Gebrüll der Kammerbüchse wie ein Peitschenschlag gewirkt. Der Rappe hämmerte mit den Hufen, daß eine wehende Staubwolke um ihn herum war. Roß und Reiter wurden grau. Nur die wehende Schärpe behielt noch ihre Farbe und war hinter dem Reiter vom Luftzug des jagenden Rittes zu einem Halbreif ausgebogen, wie der goldene Henkel hinter einem silbernen Krug.

Dann schlug auf der hochliegenden Straße der Wind um und wehte den aufgewirbelten Staub vor dem jagenden Rosse her. Lampert, ganz eingehüllt in dieses dampfende Grau, sah nimmer auf zehn Schotte weit. Ein Hornruf, den er plötzlich hörte, verriet ihm, wie weit er in der Stunde dieses hetzenden Rittes schon gekommen: bis zum Burgstall am Gwöhr, einem Innenwerke der Befestigungen, mit denen der Hallturm die Berchtesgadnische Grenze gegen Reichenhall und das Landshutische Bayern schützte.

Den Pongauer parierend, schüttelte Lampen den Staub vom Gesicht und streifte ihn von den Augenlidern. Und als die graue Wolke davondampfte, stieg aus ihrem Schleier ein wundervolles Bild heraus. Keine Burg. Nur eine Mauthalle, ein kleiner Turm und ein schlechtes Haus hinter grob geschichtetem Gemäuer. Aber die Sonne vergoldete das alles, und hinter dem leuchtenden Schlößlein glänzte der Sammet hundertjähriger Wälder und die träumende Ferne der ins Blau gehobenen Berge.

Ein paar Söldner, deren Waffen in der Sonne blitzten, guckten aus den Scharten des Turmes herunter und erkannten den jungen Someiner.

Er schrie hinauf: »Sind acht von den unseren da vorbeigekommen?«

»Wohl, Herr, die sind über den Saurüssel aufgestiegen, ein Stündl mag's her sein.«

»Die muß ich einholen!«

Noch eine kleine Strecke ging der Ritt auf der Straße hin. Nun klomm der Rappe über das steile Gehäng einer Wiesenschlucht hinunter und drüben wieder hinauf, er keuchte, immer steiler ging es bergan, auf groben Wegen, durch Bachschluchten und dichten Hochwald. Auf einer ebenen Höhe mußte Lambert den Gaul rasten lassen. Und der Reiter, dessen Blicke immer suchten, sah hoch drohen über dem Bergwald die acht Pfändleute auf steiler Windbruchfläche hinaufklettern gegen den Hängmooser Paß, zwei, die ihre Rosse führten, zwei unberittene Spießknechte und vier Troßbuben.

Lampert tat einen Schrei, der ihm die Stimme zerriß.

Die acht da droben hörten nicht, der Lärm ihres Marsches über das dürre Astwerk erstickte jeden Laut der Tiefe. Sie stiegen höher und hoher. Jetzt kamen sie zu dem grasigen Paßweg.

Die beiden Reiter konnten wieder aufsitzen, und so zogen die acht in den von Sonnenlichtern durchfunkelten Wald hinein.

Marimpfel, der die Wege seiner Heimat kannte, ritt voraus. Plötzlich verhielt er den Gaul, hob sich im Sattel und spähte in den Wald. Rannte da nicht ein Bauernbub?

»Halt!« brüllte Marimpfel.

Doch der Bub hetzte durch den Wald hinunter gegen die Hängmooser Schlucht und suchte Wege, wo kein Reiter ihm folgen konnte. Jetzt sah er einen grünen Fleck der Alm. Wie ein blinkender Erzwürfel lag die Hütte in der Mittagssonne. Taumelnd klammerte sich der Bub an einen Baum und schickte einen gellenden Schrei zur Hütte hinauf – und wieder einen – wieder einen. Dann rannte er in die Schlucht hinunter, dem Taubenseer Karrenweg entgegen. Von den Gratwänden kam ein vielfaches Echo der gellenden Schreie. Es klang, als säßen rings um die Alm herum die Hüterbuben dutzendweise, und als kreischte jeder von ihnen einen Jauchzer in die schöne, friedliche Sonne.

Jula stand vor der Hütte. Noch immer war sie des Glaubens gewesen: Die Pfändleute kommen nicht, das ist Unrecht, und das dürfen sie nicht tun!

Nun hörte sie den Buben schreien. Und wie Trauer war es in ihrem Blick, als sie hinunterspähte gegen den Wald und dann hinübersah zu dem von Sonne glitzernden Sumpfgewässer und zu der kleinen, grünschopfigen Insel, von der sie einen Sattel auf sicheren Boden getragen hatte.

»Komm«, sagte sie zum Jungknecht Heiner, den ihr der Vater am Morgen heraufgeschickt hatte, »wir treiben die Küh zum Käser her, daß sich das Unrecht nimmer plagen muß.« Sie zog die Schuhe an und knüpfte mit zitternden Händen die Riemen.

Heiner fluchte und schalt. In seinem Zorn wider die Herren schlug er mit dem Stecken auch auf die Kühe los.

»Tu nit so grob! Das Vieh kann nit dafür, daß die Menschenleut nit anders sind.«

Jetzt waren die siebzehn Kühe bei der Hütte und brüllten, weil sie die wunderliche Sache nicht verstanden. Heiner mußte springen, wehren und treiben, um die Tiere beisammen zu halten.

Den Bruder hatte Jula schon früh am Vormittag hinübergeschickt zur Leite, auf der die zwiesömmerigen Kalben weideten. Zwischen der Leite und dem Käser lag ein Waldstreif von Erlen, Birken und hohen Krüppelföhren. Wer hinter diesen Stauden saß, konnte nimmer sehen, was bei der Hütte geschah. Drum war's ein guter Platz für den Jakob. Und sein totes Ohr, das noch nie einen Laut der Liebe vernommen hatte, konnte auch nicht die Stimmen des Unrechts hören, das da geschehen sollte.

In der Hütte schlang Jula einen Riemen um die kleine Kupferschüssel, die neben dem Herdfeuer stand und das Mahl für den Bruder enthielt. Brot und Löffel gab sie in die Schürze, die sie am Bund ihres Rockes aufsteckte. Mit dem Eisenzagel schob sie auf dem Herd die halbverbrannten Scheite auseinander, die noch ein bißchen flackerten, und bedeckte die glühenden Strünke mit Asche. Solang es den Herren nicht gefiel, durfte von Stund an auf diesem siegelwidrigen Herde kein Feuer mehr brennen.

Jula trat in die Sonne hinaus, um dem Jakob sein Mahl hinüberzutragen auf die Leite. So hatte sie sich's am Morgen ausgedacht, damit der Bruder nicht merken sollte, daß etwas geschah, was wider die Ordnung war.

»Jetzt tu Verstand haben!« sagte sie zu Heiner, dem das Gesicht von Zorn und Plage brannte. »Und mach alles in Ruh, wie's der Vater haben will.« In Sorge warf sie einen Blick über die kleine, zusammengetriebene Herde der siebzehn Kühe hin, die sich unter Gebrüll und Schellengerassel aneinanderdrängten. Julas Augen wurden feucht. Wortlos ging sie davon.

Heiner mußte springen, um die Tiere beisammen zu halten, die der Hirtin folgen wollten. Immer lauter wurde das Gebrüll, immer schriller das Schellengerassel.

Als Jula droben bei den Birken war und das Gesicht wandte, sah der Schwärm der Kühe wie ein plumper, bunter Käfer aus, der immer schwirrte und doch nicht fliegen konnte. Und weit da drüben, aus dem Paßwalde hinter dem Bruchboden, kam etwas Langsames herausgekrochen wie ein kribbelndes Spielzeug. Zehn winzige Figürchen. Und manchmal ging von ihnen ein kurzes und feines Blitzen aus wie von einem unruhigen Spiegel, den die Sonne traf. Die acht Männer mit den beiden Pferden umgingen den Bruchboden nach aufwärts. Bei ihnen mußte einer sein, der auf dem Hängmoos die sicheren Wege kannte.

Jula, mit zusammengezogenen Brauen, spähte gegen den Wald hinüber. Sie sah, das waren Spießknechte und Buben. Der andre war nicht dabei – jener, von dem es hart zu glauben war, daß er die Narretei dieser Pfändung aufgeführt hätte.

Die Hirtin wandte sich und folgte einem Viehsteig, der das Gestrüpp durchquerte. Sie kam zur Leite, einem steilen, saftig bewachsenen Grashang, auf dem die Kalben weideten.

Jakob saß im Schatten einer Birke und schnitzte an der fliegenden Schwalbe, die nur weniger Schnitte noch bedurfte, um sich mit gehobenen Schwingen aus dem Holze zu lösen. Er war in seine Arbeit so vertieft, daß er die Schwester erst gewahrte, als sie neben ihm stand. Seine Augen glänzten, und seine Hände redeten.

Während er das Mahl verzehrte, lag Jula neben der Birke, als wäre sie müd und möchte schlafen. Jakob sollte nicht sehen, was in ihrem Gesichte war. Sie hielt die Augen geschlossen und blieb unbeweglich, während sie unter dem Gehämmer ihres Herzens dem Lärm und den Stimmen lauschte, die von der Käserstätte heraufklangen: Schellengerassel und Gebrüll, das Geschrei der Gadnischen Hofleute und einmal die zornig kreischende Stimme des Heiner. Dann hörte Jula, was sie nicht verstand, ein leises Gekicher wie von vielen Mädchen, dann einen dumpfen Krach.

Als da drunten die Knechte zur Erweisung des Herrenrechtes den Firstbalken des Käsers aus den Fugen hoben, fielen die Schindeln zu Hunderten in den Hüttenraum, auf die Bretter der Schlaftruhe, über die Bank hin und auf den Herd, unter dessen Asche noch die Kohlen glommen. Das Geklapper dieser fallenden Schindeln hatte geklungen wie lustiges Gelächter. Und weil die Knechte den schweren Balken nicht über das Dach hinausschwingen konnten, verschoben sie ihn nur und ließen ihn hinunterplumpsen in den Hüttenraum; er schlug die Querbalken entzwei, warf ihre Trümmer gegen den kupfernen Kessel, auf den Herd – und das klang beinahe, als hätte Siegwart von Hundswieben wieder Krieg gespielt mit der Annasusanne, deren Widerhall seit dem Morgen immerzu wie das Schnarchen eines fernen Riesen in den Lüften war.

Jula sann noch immer, woher dieser schwere Krach und dieses hölzerne Gelächter käme. Da hörte sie neben sich einen lallenden Laut, der wie kindliche Freude war. Sich aufrichtend, sah Jula den Bruder an. Jakobs Augen glänzten, während er der Schwester auf flacher Hand die aus dem Holz geschnittene Schwalbe hinhielt. Wohl glich dieser Vogel mehr einem wunderlichen Mittelding zwischen einem dicken Entenküchlein und einer Maus mit flügelgroßen Ohren. Doch für den Jakob war's eine Schwalbe, die fliegen konnte. Und während er immer wieder die Hand mit dem kleinen Schnitzwerk gegen die Sonne schwang, war so viel Freude in seinem häßlichen Runzelgesicht, so viel Glück in seinen Augen, daß auch Jula alle Sorge dieser Stunde vergaß.

Plötzlich entstellte sich ihr Gesicht. Sie sah, während die Stimmen da drunten durcheinanderkreischten, einen dicken Rauch hinter dem Waldstreifen emporsteigen ins Blau. Erschrocken sprang sie auf und sagte mit den Händen: »Bleib! Gleich komm ich, wieder!« Langsam ging sie bis zu den Stauden hinüber. Als sie gedeckt war, fing sie zu springen an und schlug die Zweige aus ihrem Weg. Am Saum des Gehölzes blieb sie stehen, von Schreck gelähmt. Wo ihre Hütte gestanden, sah sie einen schwarzen Klumpen mit gelbglühendem Sparrenwerk, aus dem die Flammen wie hundert rotblaue Nattern in die Sonne züngelten. Und die Kühe, in vier Reihen zu vieren aneinandergekoppelt, liefen mit Schellengerassel gegen den Wald hinunter, von den Troßbuben fortgezerrt, von einem Spießknecht und einem Reiter getrieben. Viele Ochsen standen um die brennende Hütte her und brüllten. Und eine von den Kühen, die sich losgerissen hatte, keuchte gegen das Gehölz herauf. Ein Spießknecht rannte ihr nach, und ein Reiter schwang dem Tier eine Strickschlinge um die Hörner und warf es zu Boden. Die Kuh überschlug sich und kollerte ein Stück des Hanges hinunter. Diese plumpe, zappelnde Walze war so komisch anzusehen, daß die Spießknechte lachen mußten.

Jula, aus ihrer Lähmung erwachend, schrie mit gellender Stimme: »Heiner – Heiner – Heiner –«

Der Knecht gab keine Antwort. Aber Marimpfel, der noch immer die gefangene Kuh am Stricke hielt, guckte auf, schmunzelte wie bei einem lustigen Einfall, sprang aus dem Sattel und sagte zu seinem Gesellen: »Heb die Kuh und den Gaul ein lützel!« Er machte flinke Sprünge gegen das Gehölz, und bei jedem Sprunge rasselte sein Eisenzeug.

Als Jula ihn kommen sah, umklammerte sie einen dürren Ast, der auf der Erde lag, und wich in das Gehölz zurück. Lustig, mit Lauten, wie man die jungen Gänse lockt, sprang Marimpfel der Hirtin nach.

Da klang, weit über den Bruchboden her, der heisere, kaum vernehmliche Schrei einer Männerstimme. Ein grauer Reiter kam aus dem Paßwalde herausgejagt und machte nach aufwärts hin den Umweg um die Sümpfe. Immer schrie er. Doch das Schellengerassel und Gebrüll der Ochsen, das Rauschen der Brandstätte, das Keuchen und die Hufschläge des eignen Gaules verschlangen die heiseren Schreie. Lampert hetzte den vor Müdigkeit stolpernden Pongauer mit Faustschlägen, mit stoßenden Beinen. Und weil ihm der Umweg zu lange währte, suchte er einen kürzeren Weg zur Brandstätte, geriet in eine Zunge des Sumpfes, mußte aus dem Sattel springen, mußte waten und den Moorle zerren. Hinter dem Feuer sah er einen Spießknecht über den Hang hinunterspringen, sah eine Kuh, einen Reiter und einen hopsenden Knecht da drunten im Wald verschwinden – und suchte mit verstörtem Blick und schrie immer wieder: »Jula, Jula, Jula –«

Beim Brunnen – so nah dem Feuer, daß die quälende Hitze zu spüren war – lag der Heiner vor dem Trog auf den Knien, schöpfte Wasser mit beiden Händen und goß es über den gebeugten Kopf. Wo das Wasser aus dem Haar des Buben heraussickerte, war es rot.

Lampert schrie: »Die Hirtin? Wo ist die Hirtin?«

»Ich weiß nit!« sagte der Bub wie einer, der im Rausche taumelt. Und während Lampert die Zügel über den Stock des Brunnens warf und hinübersprang zur Feuerstätte, tauchte Heiner die beiden Hände wieder in den Brunnentrog, aus dem der Pongauer mit gierigen Zügen das rosafarbene Wasser zu schlürfen begann.

Immer den Namen der Hirtin schreiend, irrte Lampert um die brennende Hütte – barköpfig, denn er hatte die Mardermütze verloren – die verstaubte, goldgelbe Schärpe hing ihm von der Brust herunter bis über das Knie.

Da war ihm plötzlich, als hätte er dort oben in dem Waldstreifen einen gellenden Laut vernommen. »Jula?« Wie Freude war's in seinem heiseren Schrei. Und Lampert sprang über das Gehäng hinauf, hörte eine Stimme, in der sich Zärtlichkeit mit Jammer mischte, und warf sich durch die dicken Stauden, daß die Seide seines festlichen, von Staub und Sumpfkot überkrusteten Kleides in Fetzen ging. Er kam zu dem Viehsteig, sah auf dem Boden ein kurzes, gebogenes Messer liegen und sah die Splitter eines aus Holz geschnitzten Vogels, den ein grober Fuß zertreten hatte. Ein paar Schritte noch. Und nun saß vor ihm die Hirtin auf der Erde, mit niedergerissenem Haar, mit dem Gesicht einer Irrsinnigen. Sie hatte den Jakob über dem Schoß liegen, hielt das aschgraue Gesicht des zwerghaften Krüppels zwischen den Händen, rüttelte immer den leblosen Kopf und bettelte in Jammer: »Tu die Augen auf! Tu doch die Augen auf!«

Daß einer gekommen war, das sah sie nicht. Sie merkte erst seine Nähe, als er neben ihr kniete und ihre Hand fassen, den Arm um ihre Schulter legen wollte. Sie blickte auf, wie aus grauenvollen Träumen erwachend. Und als sie den erkannte, der helfen woll te, verzerrte sich ihr Gesicht. Sie machte mit den Armen eine ringende Bewegung, verstört von Zorn und Jammer, schrie mit erwürgter Stimme ein böses Schimpfwort und stieß dem jungen Someiner die Fäuste vor die Brust, daß er taumelte. Den Bruder umklammernd, wollte sie sich aufrichten, fiel zurück auf die Erde und wurde von einem tränenlosen Schreikrampf befallen, der ihren Körper zucken machte.

Lampert wollte sprechen und brachte keinen Laut aus der Kehle. Sein Gesicht war entstellt. Nun beugte er sich zu Jakob nieder, hob diese kleine, entstellte Mißform des Lebens auf seine Arme und konnte mit der heiseren, zerrissenen Stimme nur sagen: »Komm! Ich bring ihn heim.«

Während er mit der leblosen Last hinunterstieg zum Feuer, hörte er immer hinter sich die schluckenden Schreie der Hirtin.

Die Ochsen brüllten nicht mehr. Sie hatten sich an den Anblick der rauchlos gewordenen Flamme gewöhnt. Und manche von ihnen lagen ruhig schon wieder im sonnigen Gras, wiederkäuend, und scheuchten mit der Schwanzquaste die frechen Bremsen fort.

Lampert mußte denken: »Ob Gott auch so ruhig in der Sonne liegt, wenn Menschen morden?«

Beim Brunnen sagte er zu Heiner, der sich einen Fetzen seines Hemdes um den Kopf gebunden hatte und noch immer ein bißchen duselte: »Du mußt mir helfen!«

Sie hoben den Toten in den Sattel, banden ihn mit Riemen und mit Lamperts Schärpe fest, und während jeder von den beiden mit einer Hand den müd schleichenden Pongauer am Zügel führte, stützte er mit der andern Hand den stummen, immer nickenden Reiter, der eine schlechte Haltung hatte.

Jula, mit hängendem Haar und geballten Fäusten, ging hinter dem Pferde her, schluckend im erwürgten Schreikrampf – wie damals vor achtzehn Jahren, als sie mit der Mutter heimgekommen war vom Erdbeerpflücken im Tal des Windbaches.

Ein dumpfies Gepolter.

Die abgebrannten Dachsparren waren in den Hüttenraum hinuntergestürzt. Und weil nun die feuchten Grundbalken zu brennen begannen, qualmte wieder ein dicker Rauch zum Himmel hinauf.

Man sah diese graue Rauchsäule bis weit hinaus ins Tal.

Beim Taubensee, vor dem Schupflehen des Mareiners, stand die Bäuerin auf dem Karrenweg, guckte immer zu diesem wunderlichen Rauch hinauf, schüttelte den Kopf, lief zum Haus hinüber und sagte zu der alten Frau, die in der Sonne saß: »Auf dem Hängmoos droben, da muß was brennen!«

Bekümmert nickte die Mutter. »Steht am Zäunl! Und geht nit herein zu mir!«

Die Bäuerin wurde ärgerlich. Mit der Mutter war kein Reden mehr. Und von den Mannsleuten war keiner daheim. Malimmes hatte schon im Grau des Morgens mit Wehr und Sack das Haus verlassen. Und gegen Mittag war der Bauer davongelaufen. Wenn er auch als höriger Schupfgürtler beim Taiding der Gnotschaft das Maul halten mußte, er wollte doch dabeisein. Und die Sache lohnte sich. Er war da zu einem lustigen Ding gekommen.

In der Ramsau gab's um diese Mittagsstunde ein großes Lachen. Das ging von Malimmes aus, vom ›Bauernsöldner‹, der gepanzert und mit blankgezogenem Bidenhänder hinter seinem ›Herren‹ stand und aus seinem seltsamen Dienstverhältnis eine muntere Sache machte. Die Bauern gaben sich lachend der Wirkung seiner derben Spaße hin, seit sie wußten, daß sie sich nicht zu sorgen brauchten um ihr bedrohtes Ahnrecht.

Der Weidbrief war aufgewiesen vor den spruchbaren Männern der Gnotschaft, war zu Recht befunden und lag nun wieder in der eisernen Brieftruhe des Seppi Ruechsam.

Vor achtundzwanzig Jahren, in einem dürren Vorsommer, der die Wiesen im Tal verbrannte, hatte Propst Kunrad eines Tages beim Taubensee gejagt und eine gute Strecke gemacht. Als da die Bauern, die beim Weidwerk fronen mußten, ihres Fürsten gute Laune sahen, taten sie die Bitte, ihr hungerndes Milchvieh anstatt einer gleichen Ochsenzahl auf das feuchte Hängmoos treiben zu dürfen. Der Herr war gnädig. Beim Heimritt schrieb er in des Albmeisters Haus auf den alten Ochsenbrief die Gestattung für den Käserbau und den ›ewigen‹ Auftrieb der Kühe und drückte seinen Fürstenring in das Bröcklein Wachs, das man von einer geweihten Kerze genommen hatte.

Was ging es da die Ramsauer an, wenn die Gadnischen Hofleute verzettelt hatten, dieses neugeborene Recht auf ihrem Ochsenbrief zu vermerken? Freilich, damals im dreiundneunziger Sommer war zu Berchtesgaden alles drunter und drüber gegangen. Wenige Tage nach der glücklichen Jagd am Taubensee hatte der böse Handel mit den Salzburgern angefangen, die den Propst Kunrad verjagten und das Stift durch elf Jahre als Schuldpfand in der Faust behielten.

Die Ramsauer hatten an ihrem verläßlichen Recht eine Freude, die nicht frei von übermütigem Spott wider die schlampichten Herren war, und Seppi Ruechsam, der allwissende Albmeister – »Was denn sonst?« – guckte bei dem lustigen Geschwätz der andern so ruhig, stolz und zufrieden drein – Malimmes sagte: »Wie Gott-Vater vor dem Sündenfall.«

Und mit den Juden bei der Bergpredigt verglich Malimmes die Spruchbaren und Maultoten der Gnotschaft, die vor dem Hüttenhügel des Seppi Ruedisam herumsaßen, auf Bänken und Stühlchen, auf Baumklötzen und Holzklaftern, auf den Querbalken des Zaunes, im Straßengraben und auf den Steinblöcken am Ufer der Ache. Mit Weibern, Buben, Mädchen und Kindern war's ein hundertköpfiger Schwärm, der als lustiger Riegel die Ramsauer Straße sperrte. Mochten jetzt die Pfändleute mit den siebzehn Kühen nur kommen! Die Straße war mit Menschenköpfen fest vernagelt und der Seppi Ruechsam mit dem guten Recht war da! Was wunder, daß die Ramsauer lachen konnten, als Malimmes wieder die vier Geschichten vom ungefährlichen Hanf erzählen mußte, die seine Gesellen von der Leuthauskumpanei schon herumgetragen hatten, in der ganzen Gnotschaft.

Sobald Malimmes seine Schlittenfahrt auf dem Landshuter Glatteis gemacht und seine Himmelsbotschaft an den Herzog Heinrich wieder ausgerichtet hatte, schrie unter dem Lachen der andern ein alter, langer Kerl, der Hinterseer Fischbauer, der dürr und braun, und runzlig war wie die Saiblinge, die er räucherte: »Paß auf, Malimmes, daß du beim fünften Hänfenen nit mir unter die Händ kommst! Die Strick, die ich dreh für meine Reusem, heben wie eiserne Dräht.«

Malimmes schmunzelte. »Hast du einen da zur Prob?«

»Was ein Fischer ist, muß allweil einen Strick im Sack haben«

»Her damit! Und tu mir den Strick um das kitzlige Zäpfl!«

Es gab ein heiteres Gedränge, als der Fischbauer das kleinfingerdicke Stricklein zur Schlinge machte und dem Malimmes um den Hals warf.

»So, Mensch«, sagte der Söldner, »jetzt zieh! Aber fest!«

Der Fischbauer zog lachend die Schlinge zu, Malimmes machte die Kehle lang und dünn, dann plötzlich blähte er den Hals auf, straffte die Sehnen, daß es aussah, als ginge ihm der Hals von den Ohren schief herunter bis zu den Schultern – und der Strick des Fischbauern knallte entzwei wie eine schlechte Saite.

Ein vergnügtes Gebrüll. Und einer von den Burschen kreischte in Bewunderung: »Herrgott, ist das eine feine Kunst!« Er versuchte gleich unter drolligen Grimassen den Hals zu blähen.

»Ja, Leut, Übung macht den Meister!« sagte Malimmes, der um den Hals eine Linie hatte, fast so rot wie die große Narbe in seinem Gesicht. Und dann fügte er lachend bei: »Jetzt weiß ich aber nit, muß ich den Hänfenen des Fischbauern als fünften zählen oder geht er als Probstückl drein? Ich komm ein lützel aus der Rechnung.«

Mannsleute, Weiber und Kinder – alle probierten dieses nützliche Spiel und plusterten kräftig den Hals auf, wie es Malimmes ihnen vorgemacht hatte. Sie bekamen blaue Gesichter und mußten husten vor Schmerz und Lachen.

Nur einer, der mitten unter diesen Heiteren saß, blieb ernst. Er hatte den weißen Richtmannsstab in der Faust, immer suchten seine Augen, immer schwieg er und lauschte in die Ferne. Nun erhob er sich.

Viele fragten: »Runotter? Was ist?«

Er sagte: »Der Bub, der zum Lugaus hinauf ist in den Paßwald, kommt über die Schwarzecker Wiesen heruntergesprungen.«

Die andern mußten lange spähen, bis sie den Buben sahen. Und dann dauerte es noch eine geraume Weile, bis er über die Straße herkeuchte. Der Bub war so atemlos, daß er nicht reden konnte. Während die hundert schwiegen, als wäre ihnen plötzlich etwas Unbehagliches in die heiteren Seelen gefallen, fragte Runotter: »Hast du meine Kinder gesehen?«

Der Bub schüttelte den Kopf, warf sich auf den Boden hin und preßte die Fäuste auf seine arbeitende Brust.

Viele Stimmen: »Sind die Pfändleut droben?«

Der Bub nickte.

Ein wirrer Lärm, halb ein Reden in Zorn, halb schon wieder Gelächter und Spott über die Herren.

Einer schrie: »Wenn sie die Küh bringen, muß man den Brief aufweisen. Ein Recht in der finsteren Truchen wirkt nit, ein Recht muß im Licht sein.«

Von den Spruchbaren waren viele der gleichen Meinung. Auch Runotter. Aber der Seppi Ruechsam schüttelte den Kopf und wieder sagte er: »Der Amtmann muß zum Seppi Ruechsam seiner Truchen kommen. Was denn sonst? Recht liegt fest. Das muß man nit umtragen wie einen Bettelsack.«

Die Gnotschafter redeten aufgeregt gegen die zähe Weisheit des Albmeisters. Die Kühe müssen doch leiden unter dem weiten Trieb vom Hängmoos bis zum Stift. In ihren Eutern kann sich bei Plag und Hitze die Milch verschlagen. Für solchen Schaden kommen die Herren nicht auf. Warum soll man ein Recht nicht weisen, wenn man's bei der Hand und in der Truhe hat?

Der Seppi Ruechsam arbeitete mit den Ellbogen. »Ich tu's nit, und ich tu's nit. Wenn dem gewächsneten Brief ein Schaden geschieht, geht's aus am Seppi Ruechsam. Was denn sonst?«

Man trat um den Richtmann her zum Ring zusammen, und der Seppi Ruechsam wurde zum erstenmal, seit er Albmeister war, von den Spruchbaren der Gnotschaft überstimmt. Mit einem Gesicht, als hätte er Essig getrunken, stieg er neben dem Ältestmann und mit den fünf Zeugen zu seinem Haus hinauf, um den Weidbrief aus der Truhe zu holen.

Hinter ihm blieb eine quirlende Heiterkeit zurück. Weil man das Recht aufweisen konnte und des verstandsamen Friedens sicher war, konnte man lustige Spottreden machen über den Ochsenkrieg zwischen Bauern und Herren. Ein halbes Stündl noch, und der Schwarzecker – der auf den Fingern pfeifen konnte, daß man's aus dem Ramsauer Tal bis zum Grat des Steinbergs hinaufhörte – würde zur ersten Schlacht trompeten. Und ob Malimmes, der Bauernsaldmann, auch treu und tapfer für die Gnotschaft dreinschlagen würde? Lachend ließ Malimmes den in der Sonne blitzenden Bidenhänder mit sausenden Kreisen um seinen Eisenhut herumwirbeln unter dem lustigen Schlachtgeschrei: »Hie Baurenschaft, hie guter Mist und gutes Recht!« Und als der Bidenhänder wieder senkrecht auf der Erde stand, drängte sich einer von den Burschen, die sich im Winter zur Holdenwehr der Gnadischen Kriegsmacht stellen mußten, an Malimmes heran und bettelte: »Wie, laß mich das Eisen lupfen ein lützel!« Kreischend wichen die Leute zurück, als der Bub sein ungeschicktes Schwertschwingen begann. Mit dem Knauf des Bidenhänders stieß er sich die Nase blutig. Unter dem Gelächter der andern, das Gesicht von Scham und Ärger brennend, gab er dem Kriegsmann das schwere Eisen zurück und schalt: »So ein klobiges Ding! Da kann man doch keine feinen Streiche mit machen!«

»So? Meinst?« Malimmes schmunzelte. »Mit meinem Bidenhänder mach ich feinere Arbeit als wie der römische Bader mit seinem toledanischen Schermesser, wenn er den Papst rasiert.«

Um die lustigen Zweifler zu überweisen, schickte Malimmes einen Buben davon, der in der Kappe ein Dutzend Eier bringen mußte. Unter heiterem Aufruhr der Leute wurde die blonde Leuthausmagd unterwiesen, wie sie die Eier werfen mußte. Malimmes ließ den blitzenden Bidenhänder kreisen; so oft er »Hoppla!« schrie, mußte ein Ei geflogen kommen – und unfehlbar schnitt das sausende Eisen in der Luft jedwedes von diesen kleinen, weißet, flügellosen Vögelchen mitten durchs Herz entzwei. Da gab's ein Staunen und Lachen! Eiweiß und Dotter spritzten nach allen Seiten umher, die Leute flüchteten, wischten und kicherten, einer kreischte: »Heut ist die Ramsau das Gelobte Land, heut regnet's Milch und Honigmus!« – und obwohl ein altes Weiblein über die sündhafte Vergeudung der Gottesgabe zürnte, erhob sich vor dem Hause des Seppi Ruechsam ein Gelächter, nicht minder laut und heiter als vor dem Gadnischen Hirschgarten beim Spiel mit der Annasusanne.

Den Richtmann schien die Heiterkeit der Leute und dieses kriegerische Eierspiel zu quälen. Er sagte: »Geh, Malimmes, treib keinen Unfürm und laß die Gelägerspäß unterwegs! Mir ist nit zumut darnach.« Da kreischten viele Leute: »Die Pfändleut kommen!« Alles drängte lärmend gegen die Straße hin, und Runotter erhob sich von dem Baumstock, auf dem er gesessen. »Malimmes! Geh in des Seppi Ruechsam Haus hinein! Ich mag nit haben, daß es zwischen dir und den Hofleuten spöttische Reden gibt.«

Der Soldmann nickte, als begriffe er die Vernunft dieses Befehles. Er haschte das blonde Mädel und wischte mit ihrer Schürze das Eigelb von der Klinge weg. Lachend den Bidenhänder schulternd, ging er zum Haus des Albmeisters.

Auf der Straße sah man zuerst nichts andres als eine dicke Staubwolke. Sie rückte näher wie ein graues, kopfloses Ungetüm, das keine Füße, nur wehende Hügel hatte und dennoch plump auf der Erde kroch.

Der Lärm der Leute verstummte. In diesem erwartungsvollen Schweigen hörte man beim Rauschen der Ache aus weiter Ferne wieder ein murrendes Echo des Herrenspiels mit der Annasusanne.

Ein paar hundert Schritte vor dem Menschenriegel, der die Straße sperrte, blieb der Trupp der Pfändleute stehen. Die Staubwolke verdampfte, und langsam entschleierte sich in der Sonne des schönen Tages eine farbig ausschauende Sache: die Troßbuben, der buntgefleckte Schwarm der gepfändeten Kühe mit nickenden Köpfen und pendelnden Schweifen, zur Linken ein Spießknecht, einer zur Rechten, hinter dem Trupp ein Reiter, und voraus, auf hochbeinigem Gaul, der lange Marimpfel als vorsichtig spähender Führer. Er wandte sich im Sattel und redete zu seinen Leuten.

Im Menschenriegel, der die Straße sperrte, sagte der magere Fischbauer: »Jetzt hat er dem Melkvieh höfisch eingeredet, daß viel nit fehlen tät und die Kuh wär ein Ochs.«

Mareiner, der sich in der Gnotschaft wichtig machen wollte, schrie über alle Köpfe weg: »Der Hauptmann ist mein Bruder Marimpfel. Da brauchet ihr nit Angst haben. Mit ihm red ich, und alles ist in Ordnung.« Dieser hilfreiche Vorschlag wurde wenig gewürdigt. Eine Männerstimme rief: »Da reißt ein Schupfgütler das Maul auf! Für die Gnotschaft redet, wer spruchbar ist, sonst keiner.« Eine dünne Stimme quiekste: »Auch nit der Mareiner!«

Das Verslein erheiterte die Leute. Doch als Runotter den weißen Richtmannsstab erhob, wurden alle still.

Der Trupp der Pfändleute kam heran. Ein alter Bauer und zwei Bäuerinnen, die ihre Kühe erkannten, wollten gleich mit Locken und Jammern auf die brüllenden Tiere zu. Doch die Fußknechte streckten die langen Spieße vor: »Ist Herrengut!«

Marimpfel parierte den Gaul. Und da wollte Mareiner reden. Aber der Hofmann zog den Fuß aus dem Bügel, schob den Bauer vom Gaul weg und wandte sich an den Richtmann: »Was rotten sich da auf der Straß die Leut zusammen?«

»Die Leut sind friedsam.«

»So?«

»Und ich steh für die Gnotschaft da –«

»Wer bist du denn?«

Ein Geschrei über die ganze Breite der Straße. Runotter blieb ruhig. »Spießknecht? Ob du mich kennen magst oder nit, ist eins. Aber kennst du den weißen Stab nit?«

»Red du so mit deinen Knechten! Ich bin ein Hofmann.« Aus dem Schwärm der Leute klang ein Lachen, das Marimpfel nicht gerne zu hören schien. Er wurde grob. »Kerl! Siehst nit, daß mein Gaul scheuet? Tu deinen Stecken weg!« Er stieß mit dem Fuß, und des Richtmanns weißer Stab bekam einen grauen Streif.

Die hundert Ramsauer begannen in Zorn zu schreien, und eine Stimme schrillte aus dem Häuf: »Wer den weißen Stab schändet, ist ein Lumpenkerl!«

»Leut!« rief Runotter. »Haltet Ruh!« Auch ihm hatte der Zorn die Stirne rot gemacht. Doch während er den Zaum des Gaules faßte, sagte er ruhig: »Hofmann! Du hast den weißen Stab verunehrt, den mir der Fürst gegeben. Ich muß Klag führen gegen dich beim Fürsten und muß dich schuldig sagen.« Hundert Stimmen schrien das ›Schuldig!‹ nach. »Das wird kommen. Jetzt ein ander Ding –«

»Weg frei für meines Herren Recht!« befahl Marimpfel und kitzelte den Gaul, um ihn scheuen zu machen.

Mit eiserner Faust hielt Runotter das bockende Pferd am Zügel. »Deines Herrn Recht ist heut ein Irrtum.«

»Willst du schimpfen auf meinen Herrn?« Marimpfel machte einen Griff, wie um das Eisen zu fassen.

»Das tu ich nit. Ich ehr den Fürsten. Aber tu unser Vieh vom Strick! Die Pfändung ist geschehen wider Recht und Brief. Albmeister Ruechsam! Weis den Weidbrief auf, der geschrieben und gewächsnet ist!«

»Was denn sonst?« Seppi Ruechsam trat heran, hielt das kostbare Pergament mit beiden Händen fest und wollte seine Rede aufsagen. Er begann: »Das tat der Seppi Ruechsam nit –«

Marimpfel ließ den Gaul steigen und schrie in Zorn: »Was Schrift und Wachs! Das geht mich den Teufel an. Mir ist Recht, was mein Herr geboten. Weg frei!«

»Das tät er nit«, redete der Seppi Ruechsam, »aber die Gnotschaft will: Der Seppi Ruechsam muß den Weidbrief weisen. Da ist der Brief! Ist gutes und festes Recht. Ist geschrieben und gewächsnet. Was denn sonst?«

»Brief? Recht?« Marimpfel faßte mit einem groben Griff seiner Faust das Pergament. Gleich bröselte das geweihte Wachs davon. »Das ist ein Wisch für meine Notdurft.« Er hob sich im Sattel und machte mit dem Hängmooser Weidbrief eine symbolische Bewegung.

Ein hundertstimmiger Zornschrei flog über die Straße hin. Und dem Seppi Ruechsam fielen plötzlich siebzig Jahre vom Buckel herunter. Wie ein Zwanzigjähriger in blindem Jähzorn, so sprang er gegen den Reiter hinauf, faßte ihn mit beiden Fäusten an den Eisenplatten der Brust – und rutschte wie ein müder Greis wieder auf die Erde herunter. Hatte Marimpfels Hand einen neuen Irrtum begangen? War einer von den Fußknechten unvorsichtig mit dem Spieß dazwischengefahren? Niemand wußte, wie es gekommen war, daß dem Seppi Ruechsam, der sich jetzt ganz ruhig verhielt, ein dickes Blutbächlein über das braune Runzelgesicht und über die Bartstoppeln herunterfuhr. »So, so?« sagte er in verständiger Besinnung und wollte mit der zitternden Hand das Blut vom Gesichte wischen. »Jetzt geht der Seppi Ruechsam zum deutschen König. Was denn sonst?« Dann fiel er um und war tot.

»Mordio! Mordio!« kreischten die Ramsauer. Sie griffen nach den Messern, rissen Prügel vom Zaun, und die Weiber hoben Steine von der Straße auf, während die Kinder in grillender Angst davonrannten, über die Planken kletterten und durch die Ache patschten. Runotter, mit einer Stimme, die den tobenden Lärm noch übertönte, schrie gegen des Seppi Ruechsam Haus hinüber: »Soldmann! Soldmann!«

Marimpfel sah einen gepanzerten Kriegsknecht mit blitzendem Bidenhänder über den Hügel herunterspringen, schlug seinem Gaul die Sporen in die Weichen und brüllte: »Hofleut! Durch! Die verschimpfen den Fürsten! Die machen Meuterei!«

Wie ein von einem Riesenhammer getriebener Keil, so fuhr der Trupp der Pfändleute mit Reitern, Fußknechten und Troßbuben unter dem Schellengerassel der galoppierenden Kühe in den Schwarm der schreienden Menschen hinein. Der kreischende Hauf wich auseinander und flutete wieder zusammen in einen wirren Knäuel. Und alle mit Schimpfworten und Flüchen hinter den Gadnischen Hofleuten her. Prügel wirbelten durch die Luft, und Steine flogen. Und in dem wüsten Lärm unterschied man nimmer, was ein Todesschrei oder eine Stimme des Lebens war.

Mit entfärbtem Gesichte, in der Rechten den zerbrochenen Stab des Friedens, stand Runotter neben dem Seppi Ruechsam, der nicht von der Stelle gekommen und doch zum mächtigsten aller Könige gegangen war. Und mit der Linken hielt der Richtmann den Arm des Malimmes umklammert. »Bleib Mensch! Tät ich dich schlagen heißen, das wär Unrecht. Doppelt Unrecht Dein Bruder ist dabei. Man soll nit Bruder gegen Bruder hetzen.«

Malimmes sagte mürrisch: »Bei einer Fehd heißt's Freund oder Feind. Da ist kein andres Wörtl nit.« Er sah den Seppi Ruechsam an, dessen Gesicht wie von einem roten Tuch umwickelt war. »Bauer? Was hat's denn gegeben da?«

»Schier weiß ich's nit. Ist mir alles wie ein böser Nebel. Das haben die Herren nit wollen. Schlechte Diener sind für die Herren ein Elend und ein übler Ruf.«

»Herr oder Knecht? Sag lieber: Narretei der Leut. Die macht so Herr wie Knecht zu blindwütigen Gockeln.«

Sie hörten ein wildes Geschrei. »Komm, Mensch!« sagte Runotter. »Da müssen wir abwehren!«

Die beiden liefen der Straße nach, dem tobenden Lärm entgegen. Aus den Fenstern und Türen der Hütten guckten verstörte Kindergesichter heraus. Dann liefen drei Kühe vorüber, mit rasselnden Schellen, mit klunkernden Eutern und gestreckten Schwänzen, die Stricke schleifend, die von ihren Hörnern herunterbaumelten. »Guck«, sagte Malimmes, »für die ist auch der Hänfene ein lützel mürb gewesen.«

Wie ein steifes Holz lag ein Mannsbild auf der Straße, und ein schreiendes Weib war hingeworfen über seine rote Brust.

»Ist der Schwarzecker!« stammelte Runotter. »Der so fest hat pfeifen können.«

»Komm! Den pfeift man nimmer herein ins Leben. Ist schon draußen.«

Fünf Kühe kamen gezottelt, klatschten durch das reißende Wasser der Ache, blieben drüben auf einer Wiese stehen, guckten dumm herum und fingen zu weiden an. Hinter den Stauden sprang ein Mensch, der sich nicht sehen lassen, sich immer verstecken wollte. Es war der Mareiner vom Taubensee. Der packte zwei von den Kühen an den Schellengurten, spähte ängstlich nach allen Seiten und zerrte die Kühe davon.

Immer näher kamen die zwei springenden Männer dem tobenden Lärm auf der Straße. Und plötzlich schien es, als flute das Geschrei zurück. Man hörte fernher eine schmetternde Trompete. Rennende Menschen erschienen bei einer Straßenwendung, es folgte ein dicker Schwärm, und schrille Stimmen waren zu hören: »Da kommen Herren und Hofleut, zwanzig Reiter, vierzig, sechzig, hundert!« Andere Stimmen schrien wieder etwas anderes. Der flüchtende Haufe kam ins Stocken, die Leute guckten und fragten, und dann hörte man eine kreischende Weiberstimme, die immer die gleichen Worte schrie: »Hilf in der Not! Das ist Hilf in der Not! Hilf in der Not!«

Männer mit erhitzten Gesichtern kamen gelaufen und holten den Schwarzecker und den Seppi Ruechsam. Zwischen dem Leuthaus und dem Hag des Richtmannes legte man die zwei Toten auf die Straße hin. Und noch zwei andere legte man dazu: einen jungen hübschen Buben, an dem man keine Wunde sah, und ein Weib, dessen Gesicht vom Todesschreck verzerrt und in dieser Grimasse des Grauens wie versteinert war.

Diese vier Stummgewordenen sollten reden für die Not der Ramsauer und sollten mit schweigendem Betteln die Straße sperren vor einem geistlichen Fürsten, der da geritten kam.

6

Vor dreizehn Tagen war Herr Konrad Otmar Scherchofer, Propst von St. Zeno zu Reichenhall, mit Gefolge nach Salzburg geritten, um einer Provinzialsynode beizuwohnen, die ein Heilsames wider das grassierende Konkubinat der Kleriker und wider das ketzerische Unwesen des freien Geistes beschließen sollte.

In zehn Sitzungen hatten die zu Salzburg versammelten geistlichen Fürsten, Kanoniker und Doktoren zahlreiche Kirchengesetze beschlossen und verkündet. Und es gab doch der Kirchengesetze bereits so viele, daß auch der gewissenhafteste Christ nicht mehr imstande war, sie alle zu kennen und zu befolgen. Da konnte kein Tag vergehen, ohne daß nicht jeder Mensch, ob Kleriker oder Laie, ahnungslos durch irgendein Wort oder irgendeine Tat in die Exkommunikation oder in eine andre schwere Kirchenstrafe verfiel. Es war unmöglich, alle zu bestrafen, die sich versündigten. So wurden die vielen und strengen Gesetze lächerlich, die Übertretung bekam Humor.

Diese Wahrheit hatte Herr Konrad Ottmar Scherchofer, der als Priester auch kluger Weltmann war, auf der Synode zu Salzburg ausgesprochen. Er hatte gesagt: »Wird ein Mensch ermordet, so ist das ein übles und trauriges Ding, das allen Rechtschaffenen Schmerz bereitet und ihren strafenden Zorn erregt. Werden zehntausend erschlagen, erstochen, gehenkt, geviertelt, gerädert und verbrannt, so verwandelt die widersinnige commulatio den Menschenmord zu einem grinsenden Schembartspiel der irdischen Torheit, das auch den ernstesten der Menschen lachen macht. Exemplum trahit. Ein Gesetz ist heilsam, tausend Gesetze werden zu einer Fäulnis, zu einem Brunnengift des Lebens. Gott, in Güte und Nachsicht, hat der Menschenseele, die von des Teufels schmutzigem Boden zu reinlicher Höhe möchte, tausend Wege und immer noch einen gegeben. Versperrt ihr sie alle bis auf einen, so wird die suchende Menschenseele einem hungernden Esel gleichen, der zwischen tausend vernagelten Gotteskrippen die eine nimmer findet, wo er nach eurem Willen fressen soll. Der Esel sind unzählbar viele. Sie haben nicht Platz vor einer Krippe. Sie müssen zupfen dürfen, wo Gott ein Gräslein oder eine Distel wachsen ließ.«

Wie der berittene Hofmann auf der Ramsauer Straße brüllte: »Willst du meinen Herren verschimpfen?« – so hatte im Salzburger Synodensaal ein Erzürnter geschrien: »Willst du uns Esel heißen?«

Herr Konrad Scherchofer hatte lächelnd erwidert: »Ich darf auch andere heißen, was ich mich selber heiße. Vermute ich auch, daß ich unwürdiger bin als ihr seid, so glaub ich doch, kein schlechter Mensch zu sein. Ich bin als Mensch so gut, wie es die andern mir zu sein gestatten. Und diese andern sind, wie ich bin und wie ihr seid: vor allem schwach von Gedächtnis. Es ist in mir nur noch ein blasses Erinnern an die Gesetze, die wir gestern und ehegestern verkündet haben. Und heute zur Nacht, in einer schlaflosen Stunde, begann ich nachzurechnen, wie oft ich als abschreckend schlechter Christ und als leidlich guter Mensch in den hundertachtzig Tagen dieses halb erfüllten Jahres schon dem Kirchenbann und eurer Hölle verfallen mußte. Lasset mich die kummervolle Zahl verschweigen, die ich gefunden. Als ich beim Rechnen an die zwanzig Mal mit meinen Fingern zu Ende war, da hatte ich verdammenswerter Sünder die Vision eines Heiligen und sah, wie Gott in seiner reinen Himmelsglorie heiter lächelte. Ihr, meine würdigen Brüder in diesem geweihten Saale, lasset einen Trompeter kommen und heißt ihn hinausblasen zum Fenster, bis da drunten die guten Menschen zusammenlaufen nach Tausenden. Dann leeret einen Karren Sand zum Fenster hinaus, indessen ein kräftiges Lüftlein bläst. Und jedes verwehte Sandkorn wird einen Menschen treffen, der zu Bann und Hölle verdammt ist nach irgendeinem von euren vielen Gesetzen. Und zahllose Sandkörner werden es sein, die der Wind zurückbläst in diesen Saal. Meine würdigen Brüder! Wir sollten uns versammeln, um Gesetze zu streichen, nicht um neue zu ersinnen.«

Solche und andre Worte, die er lächelnd sprach, hatten ihm eine Antwort eingetragen, die ihn bei seiner Klugheit beredete, von der Salzburger Provinzialsynode im schützenden Grau des Morgens davonzureiten, bevor sie nach Sonnenaufgang mit festlichem Tedeum beschlossen wurde.

Der vorsichtige Propst zu Reichenhall hatte von den drei Straßen, die ihm für die Heimkehr zu Gebote standen, die beste, fast völlig ebene über Wals und Marzoll aus dem Grunde vermieden, weil sie zu lange auf Salzburger Boden blieb. Er war auch nicht die Straße geritten, die durch die Höfe des Berchtesgadnischen Stiftes zum Hallturm und zum Grenzpfahl mit dem Wappen des heiligen Zeno führte. Er wäre da ohne eine aus Gründen der Courtoisie unerläßliche Visite nicht durchgekommen. Aber mit Herrn Peter Pienzenauer, der von der Synode ferngeblieben war, sprach sich Herr Otmar nicht gut um verschiedener Dinge willen, die seit Jahren an den Grenzen zwischen Berchtesgaden und Reichenhall ein chronisches Leiden waren. So hatte er als empfehlenswertesten Weg die schlechte Karrenstraße gewählt, die unterhalb des Stiftsberges von Berchtesgaden durch hüllende Wäldchen führte und nach beträchtlichem Umweg wieder einlenkte auf die Straße zum Tal der Ramsau. Und just diese dritte, durch Klugheit und Vorsicht anempfohlene Straße sollte sich als ein übler, folgenschwerer Weg erweisen.

Und so kam nun Herr Konrad Otmar Scherchofer durch die Ramsau, in der eine Not des Lebens mit hundert Stimmen brüllte. Daß dabei vier stillgewordene Stimmen schon ausgeschieden waren, das machte in dieser Fülle der Flüche und des Jammers keinen merklichen Unterschied.

Herr Otmar war nicht begleitet von hundert Reitern, nicht von sechzig, nicht von vierzig, auch nicht von zwanzig. Ihm zur Linken ritt sein mit staatsmännischen Gaben gesegneter Kaplan Franzikopus Weiß. Hinter den beiden kamen vier Berittene, nicht reich gekleidet, aber gut bewaffnet. Dann folgte ein mit vier Maultieren bespannter Gepäckwagen. Und vor dem Zelter des Propstes trappelten zwei magere Läufer und ritt ein junger Trompeter. Der hatte sein Instrument in Hörweite des Berchtesgadnischen Stiftes schweigen lassen. Jetzt aber blies er alle dreißig Schritte ein paar schmetternde Töne, die verkündeten: Es kommt ein hoher Herr, die Straße ist freizuhalten von Schweinen, Vieh und Hunden, von Mistkarren, Heuwagen und sonstigem Hindernis. Und weil die Trompete beinahe so weit zu hören war wie ehemals ein Fingerpfiff des nun still gewordenen Schwarzeckers, drum ahnten die verstörten Ramsauer nach einem äffenden Schreck diese nahende ›Hilfe in der Not‹, noch ehe ihnen Herr Konrad Otmar Scherchofer klar erkennbar zu Gesichte kam.

Als die Kavalkade bei dem rauschenden Windbach vorbeigeritten war und den Verzweiflungslärm der Ramsauer schon wie dumpfes Murren vernehmen konnte, begegnete ihr ein sonderbarer Zug, der sich eilfertig bewegte und dennoch langsam von der Stelle kam: ein berittener Spießknecht, dem das Blut von der Faust heruntertröpfelte, ein zweiter Spießknecht, der seinen lahmen Braunen führte, ein Söldner und drei Troßbuben, die ihre verprügelten Köpfe hängen ließen und dazu noch zwei entseelte Menschen zu tragen hatten.

Herr Otmar erkannte die Berchtesgadnischen Farben. Segnend machte er mit der Hand das Zeichen des Kreuzes, tat keine Frage und ritt vorbei. So schweigsam wie der Herr, so schweigsam blieben die Diener. Doch ehrfürchtig entblößten sie die Köpfe vor dem Tod, der da getragen wurde. Dann sagte Herr Otmar über die Schulter zu einem der Seinen: »Reite zurück! Wenn die Ärmsten Stärkung oder Verbandzeug nötig haben, soll man es ihnen reichlich geben aus meinem Wagen.« Nachdenklich betrachtete er das Gesicht seines Kaplans. »Franzikopus? Witterst du Gefahr?«

»Ich glaube, hier ist geschehen, was nützlich werden kann.« Der Kaplan lächelte. »Betrachte dir die Lage und Biegung dieses wundervollen Tales, geliebter Herr! Sieht es nicht aus, als hätte Gott sich dieses Tal gedacht als den seitwärts gestreckten Daumen der Hand von Reichenhall? Daß Hand und Daumen voneinander getrennt sind, ist wider die Natur.«

»Franzikopus?« Leiser Unmut war in der Stimme des Propstes. »Wann wirst du anfangen, als Mensch zu denken?«

»Sobald ich aufhöre, als dein Kaplan für unsern Vorteil zu sinnen.«

Schweigend ritten sie weiter. Nun sahen sie auf hundert Schritte den Leichnamsriegel, der wie ein bunter, splitterig verbogener Balken die Straße sperrte. Und hinter ihm standen die hindert Ramsauer wie eine bewegliche Mauer.

»Herr, sieh diese Menschen an!« sagte Franzikopus leise. »Es ist einleuchtend, daß ihnen geschah, was wir als schweres Unrecht bezeichnen müssen. Sie scheinen Hilfe von dir zu erwarten. Willst du solche Hilfe nicht bieten als Fürst, so mußt du sie bieten als der gütige Mensch, der du sein willst. Und bedenke, daß die Ramsauer zur bayrischen Burg Plaien nicht weiter haben als zum Dache des heiligen Zeno. Was du verschmähst, fällt einem andern in die Tasche.«

Jetzt vermochten die Ramsauer deutlich Herrn Otmars Gesicht zu sehen, dieses blasse, feingeschnittene, auch im Ernste noch ein bißchen lächelnde Mannsgesicht. Und da streckten sich plötzlich zweihundert Arme, und hundert Stimmen schrien in Furcht und Hoffnung: »Hilf uns, hilf uns, hilf uns!«

Herr Konrad Otmar Scherchofer hob die Hand, an der ein Smaragd in der Sonne blitzte. Fast lautlose Stille entstand. Und die Ache rauschte.

»Ihr guten Leute! Ich sehe Blut und Tod vor euren Füßen, sehe Gram und Sorge in euren Gesichtern. Was ist da geschehen? Seid ihr Gebüßte, die ein Unrecht begingen?«

Alle Stimmen kreischten: »Bei uns ist das Recht! Das Recht!«

Wieder hob Herr Otmar die Hand. »Einer rede!«

Viele schrien: »Richtmann! Jetzt tu das Maul auf! Red!«

Runotter streckte sich. Sein Gesicht war aschengrau, sein Auge traurig. »Ich red nit. Richtmann bin ich nimmer. Mein Stab ist zerschlagen. Erst muß mir der Fürst einen neuen geben. Nachher red ich. Aber bei dem, was heut die Gnotschaft will – Hilf und Spruch wider unsern Fürsten von einem fremden Herren heischen – da tu ich nit mit!«

»Recht hast!« sagte Malimmes, an dessen Arm sich zitternd das blonde Mädel aus dem Leuthaus klammerte.

Das Wort des Soldknechts ging unter in einem ohrenbetäubenden Geschrei. Geballte Fäuste streckten sich gegen Runotter. In Furcht und Zorn beschimpften ihn seine Dorfbrüder als Feind der Gnotschaft, als fürsichtigen Liebdiener und als Hofmannslecker. Einer schrie es ihm an die Nase hin: »Ein Untreuer bist! Schau den Seppi Ruechsam an! Der ist ein Treuer gewesen.« Runotter packte den Schreier an der Schulter und drückte ihn gegen den Seppi Ruechsam nieder: »Frag den Seppi! Kann sein, er sagt dir's noch, wo er stehen tät, herüben bei mir oder drüben bei euch!« Was der Richtmann weiter noch redete, versank in dem brüllenden Lärm der andern.

Da sagte Herr Otmar in lateinischer Sprache zu Franzikopus: »Es wäre mir lieber, wenn dieser eine zu mir um Hilfe käme und die andern wären dagegen.«

Der Ältestmann der Gnotschaft, der etwas rot und grau Geflecktes zwischen den Händen hatte, stieg über den Seppi Ruechsam hinüber, trat vor den ruhig am Zaune kauenden Zelter des Propstes hin und erzählte die Geschichte der Hängmooser Ochsen und der siebzehn gepfändeten Milchkühe. Ganz ehrlich erzählte der Ältestmann diese Geschichte, genau aufs Härchen, wie er sie erlebt zu haben glaubte. Und dennoch war diese Geschichte etwas völlig andres als die Wahrheit. Aber das Recht, von dem der Ältestmann berichtete, konnte er beweisen – mit zitternden Händen hob er zu dem Propste den knitterbrüchigen, vom grauen Sattelschmutz des Marimpfel und vom roten Blut des Seppi Ruechsam befleckten Weidbrief hinauf.

Herr Otmar zog die Hand zurück. »Franzikopus, lies!«

Während der Kaplan sich in das Studium der halberloschenen Schrift vertiefte, hörte man neben dem Rauschen der Ache nur das schwere Atmen dieser hundert harrenden Menschen.

Nun sprach der Kaplan. Zu seinem Herrn nur. Doch seine Stimme klang so laut, als spräche er zu vielen. »Herr, das ist klares Recht! Da fehlt kein Hauch und kein Stäublein. Auch Wachs und Siegel waren da. Man erkennt noch deutlich die Stelle. Ich muß entscheiden, daß diesen braven Leuten schweres Unrecht geschah.«

Runotter sagte: »Das haben die mutwilligen Knecht –«

Er wurde von hundert Stimmen überschrien, während Franzikopus dem Ältestmann das rot und grau gefleckte Pergament zurückgab.

Herr Otmar, der die Hand erhoben hatte, wollte sprechen. Doch Franzikopus kam seinem Herrn zuvor und sagte, wieder nur zu seinem Propste, aber sehr laut und langsam: »Herr! Diese armen Leute erbarmen mich. Sie sind in harter Lage. Zu Berchtesgaden wird man immer fragen: Ochsen oder Kühe? Da wird man sagen: Meuterei! In solchem Falle straft man zu erst. Und dann untersucht man. Ich sehe zu meiner Sorge, daß an der Ramsauer Straße alte Ulmen mit starken Ästen stehen.«

Aus der dumpfen Bewegung der hundert Ramsauer klang eine heitere Stimme heraus: »Kann sein, da blüht mir der fünfte Hänfene! Oder der sechste? Ich weiß nimmer recht.«

Franzikopus guckte einen Augenblick verwundert den stämmigen Soldknecht an. Dann sprach er bekümmert weiter: »Kommen die Exekutierer, so werden diese guten Menschen aus Irrtum ihres Fürsten morgen ärmer sein um viele Ochsen, Kühe, Ziegen, Schafe und Schweine. Auch ärmer um einige Köpfe. Nein, lieber Herr, es liegt mir ferne, diesen redlichen Leuten einen unbegehrten Rat erteilen zu wollen. Doch jeder Mensch darf menschlich denken. Wenn ich heut ein Ramsauer wäre, würde ich mich noch vor Dunkelheit mit Weib, Kind, Vieh und Sack davonmachen und mich einem Heiligen anvertrauen, der hilfreich ist. In seinem Schutze kann man geduldig eine bessere Zeit erwarten.«

Runotter rief: »Solang ich in mir noch einen redlichen Schnaufer hab, will ich nit hoffen, daß die Gnotschaft so was tut.«

Schnell redete der Kaplan in den Lärm hinein, der diesen Worten folgte: »Gewiß nicht! Nein! Ihr müsset Recht bei eurem Fürsten suchen. Er kann auch gnädig sein. Wenn er es immer wäre, müßte bei so redlichen Menschen, wie ihr es seid, dieses schöne Tal ein Haus des Glückes in einem Rosengarten sein. Ein gütiger Fürst macht seine Bürger froh und füllt die Truhen seiner Holden mit dauernden Schätzen. Meines Herren schönes, friedliches Hall heißt nicht umsonst: das reiche. Wir Chorherren zu Hall sind arme Leute, die sich mit trockenem Brot begnügen. Doch meines Herren Untertanen leben in Überfluß, in Freiheit und Freude. Bei manchem Nachbar ist es umgekehrt.«

Ein so sehnsüchtiger Lärm entstand, daß Herr Otmar wieder die Hand erheben mußte. Er betrachtete seinen Kaplan mit einem ehrlichen Blick des Unwillens und sprach: »Ihr Leute! Hört nicht auf diesen Schmeichler! Suchet Recht und Gnade bei eurem Fürsten, wie es sich für treue Holden gebührt.« In seine Stimme kam ein seltsam unsicherer Klang, als müßte er aus dunklen Gründen sprechen, was er selbst nicht sagen wollte. »Solltet ihr gerechte Gnade bei eurem Fürsten nicht finden, dann mögt ihr in Gottes Namen tun, was euer verbrieftes Recht entschuldigt und eure bittere Not begehrt.«

Er gab seinen Leuten einen Wink. Der eine Läufer hob den Seppi Ruechsam zur Linken hin, der andre zog den Schwarzecker um eine Menschenlänge nach rechts, und Herr Otmar Scherchofer begann zu reiten. Viele Hände streckten sich zu ihm hinauf, viele Stimmen bettelten und fragten. Herr Otmar sprach kein Wort mehr. Doch immer wieder machte er segnend das Zeichen des Kreuzes mit der schlanken Hand, daran der Smaragd seines Hirtenringes in der Sonne blitzte. Und als die verstörten Menschen den Zelter des Propstes umdrängen wollten, ritten die vier Bewaffneten mit freundlicher Achtsamkeit neben ihren Herrn hin. Die Pferde begannen zu traben, der nachkommende Wagen ratterte hinter den galoppierenden Maultieren, die Läufer sprangen voraus, und der Trompeter blies von Zeit zu Zeit drei schmetternde Töne.

Franzikopus lächelte behaglich, doch Herr Otmar hatte ein mißmutiges Gesicht. Er war unzufrieden mit sich selbst. Und während der tobende Lärm der Ramsauer hinter ihm zu versinken begann, sagte er leise:

»Heute bin ich schon wieder siebenmal des Kirchenbannes und der Hölle schuldig.«

»Nicht um dieser letzten Stunde willen. Klugen Erwerb begreift und verzeiht die Kirche. Von Gott weiß ich es nicht mit Sicherheit. Aber ich traue ihm das beste zu und hoffe, er wird die guten Ramsauer noch heute zum heiligen Zeno schicken.«

»Franzikopus, manchmal redest du wie ein Verbrecher, manchmal siehst du aus wie ein nützlicher Mensch. Zu welcher Gattung gehörst du?«

Der Kaplan schmunzelte. »Viellieber Herr! Am schwersten unterscheidet man die Menschen auf der schmalen Kippe zwischen einem Verdammten und einem Heiligen.«

»Verdammte kenn ich zur Genüge. Jetzt hab ich Sehnsucht, nur ein einziges Mal einem Heiligen zu begegnen, der noch auf Erden wandelt.«

»Warum willst du das?«

»Um zu erforschen, wie ein Heiliger bei lebendigem Leibe riecht.«

Die grauen Augen des Kaplans wurden rund. »Ich verstehe meinen geliebten Herrn nicht.«

»Dann will ich es dir erklären. Menschen, die eine das reinliche Maß übersteigende Liebe zu Tieren besitzen, riechen bitter und schlecht. Tiere, die eine tiefe Neigung zu Menschen fassen, bekommen in des geliebten Menschen Nähe einen köstlich duftenden Atem. Wie schön und rein muß jeder Hauch eines Menschen werden, wenn er zu lieben beginnt, was wertvoller ist und höher steht als seine eigne Erbärmlichkeit. Du, Franzikopus, säuerst! Ich fürchte, es wird mit dir ein böses Ende nehmen.«

Heiter lachte der Kaplan. Doch plötzlich spähte er über die Straße voraus und sprach: »Das ist heut ein Tag der Dinge, die vielfältig sind und doch immer ein gleiches bleiben. Wir haben den Tod auf den Schultern des Lebens gesehen und den Tod im Staub der Straße. Jetzt kommt der Tod im Sattel. Wir wollen abseits reiten, lieber Herr. Jedes dritte Omen macht mich abergläubisch.«

Sie ritten von der Straße gegen die Wiesen hinaus, und weil sie sich vom Ufer der Ache entfernten, deren Rauschen stiller wurde, hörten sie wieder deutlich den Stimmenlärm der Ramsauer.

Die lieferten einander von Nase zu Nase ein erbittertes Wortgefecht, bei dem schon bald die brüderlichen Fäuste zur Mitwirkung bereit erschienen. Der Haufe, der vor dem Hof des Leuthauses durcheinander wühlte, hatte sich durch Zulauf noch vergrößert. Und immer neue Menschen kamen von allen Seiten über die Wiesenhügel heruntergerannt. Von den Kindern standen die einen in Neugier oder mit erschrockenen Gesichtern herum, andre pritschelten heiter in der Ache, warfen Steine nach den Forellen oder trieben sonstwie ihre gewohnten Spiele.

Die Ordnung der Gnotschaft war völlig in Fransen gegangen. Nicht nur die Spruchbaren redeten. Alle schrien durcheinander, Männer und Weiber, Erbrechter und hörige Schupfgütler. Nur ein einziger schwieg: Malimmes. Während ihm das blonde Mädel wieder und wieder, verstört und zitternd, ein paar Worte zuflüsterte, stand er an der Ecke des Leuthauses auf die Kreuzstange seines Bidenhänders gelehnt und blickte aufmerksam in den tobenden Schwärm hinein. Immer waren seine Augen beim Runotter, der sich in dem drängenden Haufen umherschob, bald den einen, bald den andern am Kittel faßte und ernst auf ihn einredete.

Aber da fruchtete keine verständige Mahnung mehr. In den ratlos furchtsam Gewordenen hatte die Staatsklugheit des Franzikopus Weiß drei vernunftfressende Worte zurückgelassen: das Wort von den Schätzen, mit denen ein gütiger Fürst die Truhen seiner Holden füllt, das Wort von den Exekutierern und den vielen Ochsen, Kühen, Schafen und Ziegen, das Wort von den hohen Ulmen mit den festen Ästen. Je tiefer diese drei Worte sich einbohrten, um so mehr verlor für die Ramsauer der heilige Peter von Berchtesgaden an vertrauenswürdigen Eigenschaften. In gleichem Maße gewann der heilige Zeno von Reichenhall an schutzbietender Kraft.

Schon mehrmals hatte der Ältestmann umsonst versucht, von diesen schreienden Menschen gehört zu werden. Nun stieg er auf einen Zaunpfosten des Leuthauses. Und weil seine Stimme in dem tobenden Lärm versank, hob er zwischen seinen zitternden Händen den Hängmooser Weidbrief in die Höhe, dieses grau und rot gefleckte Heiligtum des Seppi Ruechsam. Mit gekrümmtem Rücken und eingeknickten Knien stand der greise Mann da droben und wartete geduldig, bis halbe Stille entstand. Dann sprach er: Es wäre mit allen Stimmen der Spruchbaren wider die einzige Stimme des Runotter ein Fürschlag ausgeredet, den alle hören und gutheißen müßten, die zur Ramsau und zum Schwarzeck, zum Tauben- und Hintersee gehören; man soll die vier Toten dem Pfarrherrn vor das Widum legen zu christlichem Begräbnis; man soll vor Nacht alles Vieh von den Ahnen holen und beim Taubensee zusammentreiben; neuer Albmeister ist der Hinterseer Fischbauer, der soll die gesiegelten Rechtsbriefe mit der Truhe des Seppi Ruechsam in Verwahr nehmen und haften dafür mit Leib und Leben, mit Gut und Seligkeit; für jeden Schwerkranken und vor Alter Müden soll man einen halbwüchsigen Buben daheim lassen zu Treuung und Pfleg, bei jedem eine Milchgeiß und das Geflügel, das sich vor Nacht nimmer fangen läßt, einen versteckten Sparpfennig, ausreichendes Brot, dazu noch Mehl und Schmalz und Salz; was sonst in der Ramsau und auf dem Schwarzeck, am Tauben- und Hintersee ein Lebendiges ist, Mannsleut, Weiber und Kinder, mit allem nutzbaren Vieh, mit Geld und beweglichem Gut, mit Wehr und Eisen, mit Sack und Karren, soll bis Mitternacht Zulauf suchen beim Taubensee. »Auf daß wir zur Wahrung von Hab und Leib einen andächtigen Bittgang tun zum heiligen Zeno, der uns ein mächtiger Fürsprech sein wird beim gütigen Herrn im Himmel, bei Jesuchrist und seiner barmherzigen Mutter. Wer dawider ist, daß man den Bittgang macht, der tu seine Faust in die Höh!«

Eine einzige Faust erhob sich, die des Runotter. Dann streckten sich noch zwei Arme. Von den drei Knechten des Runotter stimmten zwei wie ihr Bauer.

»So ist beschlossen, daß man's tut!« Der Ältestmann ließ sich vom Zaunpfosten herunterheben.

»Leut, Leut, Leut!« rief der Runotter mit hallender Stimme. »Das ist kein andächtiger Bittgang nit! Das ist Landsverrat!«

Alle hundert Stimmen brüllten gegen den einen. Und Malimmes schrie: »Laß gut sein, Bauer! Steckt der Karren so tief im Dreck, da müßt man im Dutzend helfen. Einer lupft ihn nimmer.«

Doch Runotter, während ein Schwärm von Buben schon nach allen Seiten auseinanderstob, um das Almvieh heimzuholen, faßte den Ältestmann am Kittel, rüttelte ihn und schrie wie von Sinnen: »Mensch! Was tust denn, Mensch? Bist der Ältest, solltest der Klügste sein und bist der Dümmst. Und hetzest die Leut ins Verderben! Und redest zu Landsverrat und Treubruch!«

»So?« keuchte der Greis. »Und wie heißt denn, was die Herren tun?«

»Wenn einer stiehlt, muß da gleich jeder ein Dieb sein? Die Treu verlassen, heißt auf den Mist springen, nit auf guten Boden! Der Fürst tut Unrecht an uns. Ist wahr! Das werden die Herren einsehen –«

»So? Und bis sie's einsehen, liegt ein Häufl von uns beim Seppi Ruechsam oder hängt an den Ulmen. Das Leben ist eh noch alles, vpas der Bauer hat.«

Hundert Stimmen schrien das gleiche.

»Leut, Leut!« rief Runotter. »So tut doch Vernunft haben um Herrgottschristi willen! Ihr stoßt ja die eignen Häuser in Scherben und versauet das eigne Feld! Wo einer Untreu übt, geht Feuer nieder, daß ihm die Händ verbrennen. Leut, Leut! Habt ihr nit dem Fürsten geschworen –«

Da kreischte eine Frauenstimme aus dem wühlenden Lärm. »Du hast's nötig, daß du so für die Herren redest! Denkst nimmer an dein Weib?«

Über das Gesicht des Runotter fuhr eine kalkige Blässe. Stumm biß er die Zähne übereinander. Dann hob er die Hände und wollte reden. Doch ein wirres, wildes Geschrei, in dem sich Hohn und Grauen mischte, erstickte sein Wort. Einer auf der Straße schrie: »Da kommt des Richtmanns höfische Treu geritten!« Und wieder jene Frauenstimme: »Guck her, du! Guck! Wie's die Herren treiben! Oder ist das ein Gruß von deinem Weib?«

Eine Gasse tat sich auf, die Menschen wichen zurück und Runotter sah den reitenden Tod, der ein verschobenes, bresthaftes Körperchen hatte.

Die Augen des verstörten Mannes irrten.

War der Tod so ein reicher Herr, daß er eine Fürläuferin besolden konnte? Und zwei Diener, die ihn stützten? Einen in staubgrauer Seide und einen mit blutiger Leinenkappe? Und hinter dem reitenden Tode lief ein Schwärm von Kindern her wie hinter einem Blatterpfeifer mit lockenden Tönen.

Ein dumpfer Lärm. Doch für Runotter war alles ein kaltes Schweigen. Er bewegte sich wie ein Erwachender. Dann stieß er die Fäuste vor sich hin. »Jula?« Das war ein Laut wie das Röcheln eines sterbenden Tieres. »Wer?«

Mühsam atmend, erschöpft, mit steinernem Gesicht sah Jula den Vater an. »Da – schau – jetzt komm ich heim – – mit dem Jakob.«

Er krampfte die Fäuste in ihre Schultern und rüttelte sie, daß ihre niedergerissenen Haare rieselten. »Wer? Wer? Wer?«

Ihr Gesicht verzerrte sich. »Der Spießknecht, der mich nöten hat wollen.«

Runotter fuhr sich langsam mit dem Arm über die Stirne, und sein Rücken krümmte sich. Da sah er, daß der kleine Tod im Sattel sich auf die Seite neigte – Lampert und Heiner hatten die Riemen und den Knoten der Schärpe gelöst – und Runotter sprang unter keuchendem Laut auf den Rappen zu und umklammerte mit den Armen die kalte, starre Mißform, die sein Kind gewesen.

Schreiend und schmähend drängten viele Leute gegen Lampert hin, und bei ihren Flüchen hoben sie die Fäuste. Andre kreischten auf den Runotter ein. Wieder hörte man jene Frauenstimme schrillen; es war die Stimme der Schwarzeckerin, deren seliger Mann so prachtvoll hatte pfeifen können; sie schrie: »Hast allweil die Jula noch! Die mußt zum Gaden schicken! Aber die Herren, weißt, die haben's gern linder als auf der Alben. Gib der Jula das Bettzeug mit! Da bist ein Treuer.« Runotter, den toten Krüppel umklammernd, sah über die Gesichter hin wie ein Irrsinniger. Und da fragte ihn der Ältestmann: »So, Mensch, was tust denn jetzt?«

Runotter nickte: »Ich höre schon, ja!«

»So red! Was tust? Gehst mit zum heiligen Zeno?«

Und hundert Stimmen schrien es nach: »Gehst mit? Gehst mit?«

Er sah das vom schwarzen Haar umwuschelte Gesicht seines kalten Buben an. Dann hob er den Kopf, sein Körper streckte sich, und mit langsam gleitenden Augen sah er über das Gewühl der Leute hin.

Wieder schrien viele Stimmen: »Gehst mit? Gehst mit?«

Er sagte: »Mein Leben ist müd. Ich steh im Elend da. Aber mich niederhocken in den Dreck? Das tu ich nit. Ich bleib, wo ein sauberes Hausen ist. Geht euren Weg! Ich such den meinen.« Taumelnd, als wäre der leichte Körper auf seinen Armen eine Last zum Erdrücken, machte Runotter ein paar Schritte, blieb stehen und drehte das entfärbte Gesicht. »Malimmes!« Der Soldknecht stand schon neben dem Bauer. »Tu mir aufpassen auf den Herren da! Der hat –« Ein Würgen kam in seine Stimme. »Der hat meinen Buben reiten lassen auf seinem Gaul.«

Unter dem tobenden Lärm, der entstand, trat Malimmes mit dem blanken Eisen auf Lampert zu. »Flink, Herr! Lang kann ich für Ruh nit bürgen. Die Leut sind als wie von Hornaussen gestochen.«

Lampert, mit dem Zügel in der Hand, machte rasch einen Schritt vor die Hirtin hin. »Jula!« Seine Stimme hatte keinen klaren Laut und war wie das Krächzen eines Halskranken. »Jula! Ich bin nicht, was du mich gescholten hast.«

Sie sah ihn an. Tränen fielen ihr über das entstellte Gesicht herunter. Dann wandte sie sich schweigend ab und ging hinter dem Vater her, zum Hag hinauf, vor dessen geschlossenem Tor mit trägem Schellengerassel acht verstaubte Kühe standen, die geduldig auf Einlaß in ihre Heimat warteten.

Der graue Reiter, barhäuptig, jagte über die Straße hinaus. Geschrei und Flüche waren hinter ihm her. Und Steine flogen, Einer traf ihn an der linken Schulter, daß der Arm aus dem Gelenk gestoßen wurde und schlaff herunterhing.

Es schattete schon im Walde. Doch auf den offenen Wiesen der Strub, da lag die Sonne wieder, goldschön in der leuchtenden Reinheit des Abends.

Nicht weit vor den ersten Häusern von Berchtesgaden jagte Lampert an dem träge kriechenden Zug des Marimpfel vorbei. Die Faust des berittenen Spießknechtes blutete nimmer, seit sie in die Leinenbinde des heiligen Zeno gewickelt war. Auch die vier Leichenträger hatten die verprügelten Köpf e mit Flachs umwunden, der zu Reichenhall gewachsen. Und den flüssigen Stärkungen des gütigen Heiligen hatten sie so reichlich zugesprochen, daß Niederlage und Ärger für sie verwandelt waren in einem schmerzlosen Dusel.

Lampert fühlte beim Anblick dieses Zuges keine Erschütterung irgendwelcher Art. Im jagenden Vorüberreiten stieß er ein heiseres Lachen vor sich hin. Und sprach dabei zwei alte Worte: »Fiat justitia!«

Als er auf dem Marktplatz an verwundert guckenden Leuten vorbeigaloppierte, klang von einem Erker her der Schrei einer aus Sorge erlösten und doch von Angst bedrückten Mutter. Und es klirrte ein niederfallendes Schubfenster.

Im Hausflur trat Herr Someiner dem Sohn entgegen.

»Viel Zeitung, Vater!« krächzte Lampert unter schneidenderb Lachen. »Der Käser auf dem Hängmoos ist niedergebronnen. Der Sohn des Richtmanns ist erwürgt. Vier Ramsauer sind erschlagen, das Dorf ist in Aufruhr. Wo deine siegelwidrigen Kühe und deine rechtsgetreuen Ochsen sind, das weiß ich nicht. Deine Pfändleut bringen zwei tote Buben.«

Amtmann Someiner war ein großer, stattlicher Herr. Nun plötzlich erschien er kleiner um einen halben Kopf. Er hatte weit aufgerissene Augen und sagte mit schwerer Zunge: »Recht muß Recht sein!«

»Ein halbes Wort, Vater! Vergiß nicht die andre Hälfte: Pereat mundus!«

Etwas Weißes kam sehr schnell aus dem dunklen Treppenschacht heraus.

»Jesus!«

Dieser Schrei, den Frau Marianne emporschickte zum mildesten aller Menschen, hatte nichts mit den Hängmooser Ochsen, auch nicht das geringste mit den fünf Ramsauern und den zwei Gadnischen Hofleuten zu schaffen, die das Atmen verlernt hatten. Dieser Schrei war nur einer Mutter Sorge um ihren Sohn.

Als sie den vor Erschöpfung Wankenden hinaufführte zu seinem Stübchen, sagte er ruhig mit seiner tonlosen Stimme: »Es ist nichts, Mutter! Nichts! Mußt nicht Angst haben. Aber den Medikus brauch ich. Mit meinem linken Arm ist, ich weiß nicht was. Nichts, Mutter, nichts! Bloß heben kann ich ihn nimmer.«

Frau Marianne rief mit schriller Stimme nach ihrem Mann. Der kam nicht. Weil er schon auf dem Wege zu seinem gnädigsten Fürsten war, ohne Stock und Hut. Hinter sich vernahm er Hufschlag und Geschrei von Menschen. Er sah sich nicht um. Was man nicht sieht, ist nicht vorhanden.

Im inneren Stiftshofe, zwischen blauem Schatten und goldroter Abendsonne, waren die Domizellaren mit Herrn Jettenrösch und ein paar andern, noch jungen Chorherren beim Reifenspiel, an dem sich auch drei schlanke, vergnügte Fräulein beteiligten, die das Haar mit grünen Schleiern umwunden trugen.

Der Amtman keuchte die zwei Treppen zum Fürstenzimmer hinauf und befahl dem Diener: »Tu mich melden beim Herren! Sag, es wär in causa boum hengismosianorum.«

Ein großer Raum, vornehm und doch nicht prunkhaft. Fürst Peter Pienzenauer, im weißen Ordenskleide, saß am offenen Fenster, durch das man eine von Gold und Schatten durchwürfelte Ferne, das Haupt des Watzmann mit dem weißen Schneebart und die scharfen Zinken der Watzmannkinder sah. Eine breite Woge der Abendsonne fiel durch das Fenster herein, überleuchtete den Prälaten und warf den Schatten des in tiefer Verbeugung stehenden Amtmanns als schwarzen Kloß auf die rotleuchtende Wand.

»Nun, lieber Ruppert? Was wollen die Ochsen schon wieder?«

»Gnädigster Herr! Da hat sich jetzt eine schieche Sache ausgesponnen. Genaues weiß ich noch nicht. Aber soviel mein Sohn mir da kundgetan –«

Während Herr Someiner weiterredete, zog der Fürst die Brauen immer strenger zusammen. Und der Amtmann hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als der Vogt mit dem Spießknecht Marimpfel erschien.

»Das ist ein übel Ding!« sagte Herr Pienzenauer. »So gehen Eigenmächtigkeiten der Unbesonnenen immer aus. Warum hast du diese einfache Sache nicht so geordnet, Ruppert, wie ich es wünschte? Ich habe dir doch deutlich gesagt, wie es gehalten werden sollte?«

Der Amtmann stotterte: »Aber gnädigster Herr –«

»Schweig!« Der Propst winkte. »Erst soll der andre reden. Wie war's?«

Marimpfel beschönigte nichts. Das hatte er nicht nötig. Wie der Älteste der Ramsauer, so blieb auch er als gewissenhafter Mensch und verläßlicher Hofmann streng bei der Wahrheit, die er gesehen hatte und beschwören konnte. Und doch bekam die Begebenheit des Tages nun schon ein drittes Gesicht.

Die Pfändung war nach Marimpfels Meinung laut Befehl in strengster Ordnung vollzogen worden. Der Käser geriet in Brand, weil die dürren Schindeln auf den Herd fielen, auf dem noch die siegelwidrigen Kohlen glühten. Ein Hirte, der sich unbotmäßig aufspielte, bekam die verdiente Dachtel. »Ich brauch auch nit verschweigen, Herr, daß ich mit der sauberen Hirtin ein lützel scherzen hätt mögen. Das ist doch Hofmanns recht. Nit, Herr?«

Auf diese Zwischenfrage gab Fürst Peter weder ein Ja noch ein Nein zur Antwort.

Bei heiterem ›Scherzen mit der Hirtin‹ mußte Marimpfel ›so eine breshafte Krot‹, die ihm grob an den Hals gesprungen, von sich abbeuteln. »Der Lausbub hat gleich das Messer gezogen, und ich hab mich wehren müssen meines Leibs.« Und in der Ramsau hielt der Runotter, hinter ihm an die zweihundert Leute, meuterisch die rechtlichen Pfänder auf.

»Der Runotter?« fragte der Propst erstaunt.

»Der, Herr, ja! Arg weit hat er den Brotladen aufgerissen.«

Weil Fürst Peter den Kopf schüttelte, erschien es dem Amtmann als Pflicht, von der Sehnsucht des Runotter nach einem Trunk aus dem eidgenössischen Freiheitskrug zu sprechen. Doch barmherzig verschwieg er dabei des Richtmanns freigeistiges Wort vom Menschen, der sein muß wie er ist.

Und Marimpfel erzählte: »Ist auf mich los und hat mir den Gaul scheu gemacht mit seinem Stecken, daß ich ihn fortschieben hab müssen. Und da haben die Leut ein Schreien angehoben und haben mich einen Lumpenkerl geheißen. Noch allweil hab ich Ruh gehalten. Erst wie der Richtmann auf den Herren geschumpfen hat, da hab ich pflichtmäßig einen Griff nach dem Eisen getan. Hab's aber nit gezogen, weil ich doch weiß: Der Herr ist lieber gütig als streng. Aber da verschimpft der Richtmann die Pfändung als ein Unrecht, bietet mir, ich soll die Küh vom Strick tun, und der Albmeister weiset mir einen papierenen Wisch –«

»Ruppert?« fragte Herr Pienzenauer.

»Das kann nur der Ochsenbrief gewesen sein!« beteuerte der Amtmann. »Ein ander Siegelrecht ist in matricula sigillorum nicht registriert. Kann sein, die Bauren haben den Hofmann verdutzen wollen.«

»Ja, Herr«, nickte Marimpfel, »so ist mir's fürgekommen. Und da hab ich –« In aller Aufrichtigkeit wiederholte er jene symbolische Geste. »Ist schon wahr, ich bin ein lützel zornig gewesen. Auf meinen Fürsten kann ich nit schimpfen hören. Also, ich sag noch: Mir ist Recht, was mein Herr gebietet. Und jählings springt mir der Albmeister an den Bauch. Ich wehr mich mit dem Ellbogen. Der Fußknecht, der jetzt im Hof liegt und nimmer reden kann, will mir helfen und fahrt mit dem Spießholz dazwischen. Da droht der Albmeister mit dem deutschen König. Und weil er geblutet hat, ist dem alten Manndl letzt wor den. Und da schreien die Ramsauer Mordio. Und her über uns mit Zaunhölzern und Messern. Und der Richtmann schreit nach einem. Und der springt aus des Albmeisters Haus, mit dem blanken Eisen –« Marimpfel verstummte.

»Nun?«

»Mein gütiger Herr Fürst soll mir verstatten, daß ich um Bluts willen den Namen verschwieg. Ich hab's nit mögen zu einem schiechen Handel kommen lassen. Und hab Befehl gegeben: ›Hofleut! Durch!‹ Und die Ramsauer hinter uns her, mit Fluchworten und Unflat, mit Holztremmeln und Steinbrocken. Einen Fußknecht und einen Buben haben sie uns totgeschmissen. Jeder von uns hat einen blutigen Wisch abgekriegt.« Marimpfel zeigte die verbundene Faust. »Und derweil wir uns gewehrt haben unsres Leibs und Lebens, sind die Küh zum Teufel. Ein paar aus dem Meuterhaufen sind liegenblieben. Ist schon wahr, Herr, wie die angestochenen Keiler haben wir uns stellen müssen. Aber sechse gegen dritthalb Hundert! Die Ramsauer hätten uns all erschlagen, wär nit durch Gottes gütige Fürsicht der Reichenhaller mit seinen Reitern des Wegs gekommen.«

»Wer?« fragte der Fürst erstaunt.

»Der Propst vom heiligen Zeno. Vor seiner Trumpeten sind die Ramsauer durch. Und Herr Otmar hat uns christlich gesegnet und hat uns in Gütigkeit viel Stärkung und Verbandzeug bieten lassen aus seinem Karren.«

»Oh?« Herr Pienzenauer erhob sich. Bei aller Erregung, die man ihm ansehen konnte, lächelte er seltsam. »Die armen Chorherren von Hall? Und schenken so reich? Da wird man ein höfliches Dankschreiben verfassen müssen.« Er blieb vor Marimpfel stehen. »Hast du die Wahrheit gesprochen?«

Der Spießknecht streckte sich. »Bei meinem Eid und Leben, Herr!«

Fürst Peter nickte. »Man wird deinen Sold erhöhen. Jetzt geh und laß dich pflegen! – Vogt! Man soll die Chorherren zum Kapitel rufen. Gleich!« Als Herr Pienzenauer mit dem Amtmann allein war, ging er schweigend durch die Stube.

Die rote Sonne war erloschen. Das Fenster leuchtete noch als heller Fleck, doch in allen Winkeln des großen Raumes saß schon die graue Dämmerung.

Dem Amtmann begann dieses lange Schweigen höchst unbehaglich zu werden. »Herr –«

Da blieb der Fürst vor ihm stehen, mit den Fäusten hinter dem Rücken. »Mag das jetzt sein, wie es will. Die Ochsen sind erledigt. Jetzt sind andre Dinge da. Ein Dorf in Aufruhr. Unrecht und Mord – so oder so. Und hat sich auf der Salzburger Synode nicht ein Fuchs in ein Schäflein verwandelt, so wird noch Übleres nachkommen. Da muß man vorbeugen. Noch heut in der Nacht. Aber das verstehst du nicht, mein guter Ruppert! Du verstehst nur, daß man jetzt bestrafen und die Exekutierer schicken muß. Und da kann ich dir leider nicht unrecht geben. Ich muß die böse Suppe auslöffeln, die du mir eingebröselt hast.«

Someiner verfärbte sich. »Ich hab mich streng nach dem Wort Euer Gnaden ans Recht gehalten.«

Der Fürst schien in Zorn zu geraten. Doch er sagte ruhig: »Ans Recht? Mag sein. Aber mein Wort? Willst du mich unter die siebzehn einreihen, die nach deiner Meinung statt der siegelwidrigen Kühe auf dem Hängmoos fressen sollten? Hab ich dir nicht auch gesagt, du sollst verständig handeln? Sieben Tote! Ist das Verstand? Sieben Menschen um einen Schüppel Gras! Und alle Folgen dazu! Und so flink hast du das gemacht, daß die junge, gesunde Vernunft, die sich dagegen wehrte, deinen Streich nimmer hindern konnte!«

»Freilich, jetzt«, stammelte der Amtmann, »wo ein unberechenbares Unglück geschehen ist, jetzt kann man leicht –«

Herr Pienzenauer hob den Kopf. »Ruppert, du bist ein unfähiger Mensch! Jetzt hast du es bewiesen. Vermutet hab ich es schon lange. Und weil ich dich im Amte ließ, bin ich heute dein Mitschuldiger. Du hast drei Monate Zeit, um deinen Sohn in die Geschäfte einzuführen. Dann genieße die nötige Ruhe. Deine Bezüge werden dir belassen. Gott befohlen!«

Ein rasch bimmelnder Hall. Auf dem Dach des Stiftes läutete die Kapitelglocke. Und da wußte man im Umkreis einer Stunde, daß Gefahr im Lande war, die schleunigen Rat verlangte.

Als Ruppert Someiner mit schwachen Knien über die von Dämmerung umwobene Treppe hinunterstieg, befiel ihn plötzlich die wunderliche Erinnerung, daß er als Knabe einen großen Apfel auf glühender Ofenplatte gebraten hatte. Der Apfel tanzte und sang sehr hübsch, doch plötzlich, mit starkem Knall, zerplatzte er. Und da machte der kleine Ruppert die überraschende Entdeckung, daß der Apfel große, hohle Samengehäuse hatte, in denen keine Spur von einem Kern zu entdecken war.

Seit mehr als vierzig Jahren hatte Someiner nicht mehr an diesen Apfel denken müssen. Warum gerade jetzt? Die Logik dieser absonderlichen Gehirnblase blieb für Ruppert Someiner unenträtselt, weil sich ihm das Bild des leeren Apfels zu schnell verwandelte in vorwurfsvolle Erbitterung über die Ungerechtigkeit der Menschen, insonderheit der Fürsten.

Als er den Hof durchschritt, keuchte einer in schwarzem Mantel an ihm vorbei. War das nicht der Ramsauer Pfarrherr?

In der farbigen Dämmerung begannen die Glocken auf drei Türmen den Abendsegen zu läuten. Die schön und sanft ineinanderfließenden Töne schwammen als wundersames Friedenslied durch die leuchtende Luft.

Someiner fand sein Haus wie ausgestorben. Das Amt war geschlossen; der Schreiber Pießböcker hatte Hut und Stock seines Vorgesetzten und die Schlüssel hinaufgetragen in die Wohnstube. Obwohl es schon dunkelte, brannte noch eine Kerze. Und der Abendtisch war nicht gedeckt. Und niemand kam, um die Bitterkeit diese gekränkten Mannes mitzufühlen und ihn zu trösten. Den dumpfen Stimmenklang und die hin und her eilenden Tritte über der Decke droben hörte er nicht, vernahm auch nicht das ruhelose Mahnwort des Pendels im alten Uhrkasten: »Bau! – Bau! – Bau!«

Gebeugten Hauptes saß er im Zwielicht des Erkers. Und dicke Zähren tröpfelten ihm über die kalkweiße Nase herunter. Ruppert Someiner war dabei des Glaubens, daß er, als der einzige Weise auf Erden, bittere Tränen vergösse über den Irrsinn des Lebens, in dem, was heiliges Recht war, sich in eine ebenso grausige wie lächerliche Torheit verwandeln konnte.

In Wahrheit war die Sache so, daß Herr Someiner heulte, weil er an die schwindende Ehrerbietung seiner Frau, an den unkindlichen, feindseligen Widerstand seines Sohnes und an seine nahe Schande vor den Menschen denken mußte.

Drei Monate?

»Gab's auf der Welt eine Ungerechtigkeit, so groß, daß man sie in drei Monaten nicht widerlegen und durch ungebeugte Tüchtigkeit ad absurdum führen konnte?«

Bei diesem Gedanken faßte Herr Someiner den mannhaften Entschluß, von seiner Amtsentsetzung zu schweigen, solange Herr Peter Pienzenauer nicht reden würde.

Auf der glühenden Ofenplatte seines Kummers briet der kleine Ruppert abermals einen großen Apfel ohne Kern.

7

Über dem Runotterhofe hing die laue Sommernacht mit funkelnden Sternen. Das Rauschen der Ache war wie ein gleichmäßiger Murmelsang im Schweigen der Dunkelheit. Aus den Ställen tönte zuweilen das Klirren einer Kette und der murrende Laut eines Rindes. Sonst kein Zeichen von Leben in der Nacht. Die angrenzenden Höfe lagen wie ausgestorben, und vom nahen Leuthaus klang nicht wie sonst das Schreien und Singen trunkener Knechte.

Doch aus Reiter Ferne – von dem nach Reichenhall ziehenden Tal des Schwarzenbaches – war immer wieder ein mattes, wirres, wunderliches Geräusch zu hören. Das klang, wie wenn man Erbsen in einer blechernen Schüssel rüttelt. Es war der ferne Lärm des ›andächtigen Bittganges‹, den alle wegfähigen Mannsleute, Weiber und Kinder von der Ramsau, vom Schwarzeck, vom Tauben- und Hintersee zum heiligen Zeno unternahmen, mit Wehr und Eisen, mit Geld und Vieh, mit Karren und Sack.

Immer leiser, immer ferner klang dieser wunderliche Lärm.

Der regungslose Wächter, der vor dem Hagtor des Runotterhofes auf einem Grasbuckel saß, mit dem Bidenhänder über den Knien, mußte immer schärfer lauschen, um noch einen matten Hall dieses erlöschenden Lärms zu vernehmen. So oft er das leise Gerüttel der Erbsen in der Blechschüssel hörte, war in ihm die Frage: Ist die Mutter mitgezogen, oder hat sie bleiben müssen, und hat man auch bei ihr einen halbwüchsigen Buben zurückgelassen mit einem versteckten Sparpfennig, mit einer milchenden Geiß, mit einer legenden Henne, mit Mehl und Schmalz und Salz?

Lautlos kam ein Mensch von der Straße heraufgesprungen, man sah von ihm in der Dunkelheit nur einen Schimmer des weißen Wundverbandes, der um den Kopf gewickelt war. Eine flüsternde Stimme: »Der Pfarrherr ist nit zu finden. Vor der Widumstür, da liegen die vier erschlagenen Leut. Allweil hab ich gepochet an der Tür. Aber niemand hat aufgetan. Der Pfarrherr –«

»Der ist beichten gegangen. Aber nit zum heiligen Zeno!« Malimmes lachte kurz. »Jetzt wissen die Herren im Gaden, wie andächtig heut in der Nacht die Ramsauer wallfahren.« Einen Augenblick besann er sich. »Geh hinein und sag dem Bauren, daß er auf den Pfarrherrn nit warten braucht. Sag, der Pfarrherr war davongelaufen. Sonst sag kein Wörtl! Verstehst?«

»Wohl.«

»Nachher sag, daß du letz bist und schlafen mußt. Und tu deinen Lederküraß an, und nimm dein Eisen. Und geh hinauf zu dem Schlupf hinter dem Gärtl droben, wo wir am Abend die Gäul hinausgetan haben. Über dem Hag draußen, gleich in den ersten Stauden links, da liegt des Bauren Wehrzeug. Und Gewand und Wehr von des Bauren Bruder liegt dabei, der jung hat sterben müssen. Und ein lederner Waldsack, der ein lützel schwer ist. Das alles mußt du aufnehmen. Und trag's hinüber zum Hirscheneck beim Windbach, wo die andern mit den Gäulen sind. Und jetzt leg deine Hand in die meinig! Willst du treu sein, Heiner?«

»Wohl!«

»So geh! Und laß den Bauer nit merken, was geschieht!«

Als der Bub in den Hof schlüpfte, knarrte das Hagtor ein bißchen.

Malimmes setzte sich wieder auf den Rasenbuckel hin. Er lauschte über die nach Berchtesgaden führende Straße hinaus. Da war nur das dumpfe, hinter dichtem Wald versunkene Rauschen des Windbaches zu hören. Dann lauschte er nach Westen gegen den Schwarzenbach. Und da konnte er von Zeit zu Zeit noch immer dieses ferne Klirren vernehmen, dieses dünne Erbsengerüttel in einer Eisenschüssel.

Plötzlich drehte Malimmes das Gesicht gegen den Hag. Er lachte leise. »Du Gänsl, du dummes! Bist du noch all weil da?«

Keine Antwort. Doch eine Weibsgestalt löste sich grau von dem schwarzen Zaungeflecht.

»Maidl, jetzt muß ich grob werden!« sagte Malimmes ernst. »Bleibst du noch länger, so könnt ein schieches Ding über dich herfallen. Schau, daß du deinen Heimleuten nachkommst!«

Eine zerdrückte Mädchenstimme: »Ich bleib, wo du bist.«

Malimmes schien ärgerlich zu werden, wandte das Gesicht und lauschte gegen die Gadnische Straße hinaus.

Das Mädel beugte sich zu ihm hinunter. Ein sehnsüchtiges Dürsten war in der leisen Frage: »Tust mich denn gar nit mögen?«

Er lachte ein bißchen und legte den Bidenhänder fort. »So komm halt!« Mit beiden Händen faßte er das Mädel und zog es auf seinen Schoß. »Wer weiß, ob wir morgen noch warmes Blut im Leib haben.« Sie hatte schon seinen Hals umklammert, und seine Worte erstickten unter ihren gierigen Küssen. »Aber schau, Maidl, ich weiß noch gar nit, wie du heißt?«

»Traudi.«

Da mußte er wieder lachen. »Ich trau mich schon.«

Ein Stoß des wechselnden Nachtwindes fuhr durch das Bachtal her, die Ulmen an der Straße rauschten, und deutlicher klang der dumpfe Wasserlärm des Windbaches. Dann wieder die Stille mit dem sanften eintönigen Lied der Ache. Und immer waren zwei murmelnde Menschenstimmen zu hören, die wie müdes Summen vom Haus herüberklangen über den Hag – weil der Pfarrherr nicht gekommen war, sprachen Vater und Schwester für den toten Jakob den christlichen Seelentrost. Sie beteten lange. Nun verstummten sie.

»Guck Maidl«, sagte Malimmes wie ein Erwachender, leise und heiter, »so schiech ist keine Lebensstund, daß sie nit noch ein Bröselein Süßigkeit haben könnt! Aber paß auf, jetzt mußt du auch tun, was ich schaff.«

»Alles, Bub!« Sie umklammerte ihn.

»Laß luck ein lützel!« Er suchte in seiner Tasche. »Da hast du fünf güldene Pfennig. Tu's nit verlieren, gelt! Und jetzt lauf die Straß hinaus zum Taubensee! Wenn du viele Reiter kommen hörst, so tu nit erschrecken. Ich glaub, die reiten zum Schwarzenbach. Eh sie dich einholen, birg dich in den Stauden. Und sind sie vorbeigeritten, so lauf wieder. Weißt du des Mareiners Haus?«

Das Mädel nickte an seinem Hals.

»Kann sein, das Haus ist leer. Kann sein, ein altes, müdes Weibl ist da. Dem steck zwei güldene Pfennig in jeden Strumpf. Sag, die tät ihr einer schicken, der am Zäunl gestanden. Sonst tu kein Wörtl reden, nit von dir und nit von mir! Und mach dich wieder davon!«

»Aber –«

»Was?«

»Der ander Pfennig?«

Er küßte sie auf die Wange. »Den heb dir auf! Von mir.«

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Das nit! Darfst mir alles tun! Das nit!«

Malimmes lachte. »Da mußt mir halt den überschichtigen Pfennig wieder bringen.«

»Wann?« Das Mädel schmiegte die Wange an seinen Hals. »Und wo?«

»Wenn's tagen will, kannst hinter dem Schwarzeck droben warten, auf dem Steig zum Hängmoos. Kann sein, ich komm. Kann auch sein, daß ich ausbleib. Da brauchst mich nimmer suchen.«

Das hatte er ruhig gesagt. Und dennoch fing das Mädel, von dunkler Angst befallen, an seinem Hals zu zittern an.

»Flink! Tu folgen!« Er packte sie fest, stellte sie auf die Füße und stand selber auf. »Mach weiter! Ist nimmer viel Zeit.«

Sie küßte ihn und suchte mit den Lippen die böse Narbe. Und flüsterte: »Wirst sehen, das heilet wieder. Ganz. Und da bist du der Schönste von allen.«

Er gab ihr lachend einen Schlag auf die dralle Schattenseite. »Spring jetzt! Flink!«

Traudi rannte davon und kam zurück. »Wenn aber das alte Weibl nimmer da ist?«

Eine Weile schwieg er. Dann sagte er hart: »Da tu, was du magst!« Er hob den Bidenhänder aus dem Gras und lauschte gegen den Windbach.

Hinter dem Leuthaus verhallte das flinke Schuhgeklapper des Mädels.

Nun wieder die ruhige Nacht mit dem eintönigen Wellengesang im schwarzen Tal und mit den funkelnden Sternen in der stahlblauen Höhe.

Nach dem Stande dieser weisenden Himmelslichter mußte Mitternacht schon lange vorüber sein.

Da streckte sich Malimmes.

Er hatte vom Windbach her ein Geräusch vernommen, wie wenn ein starker Brunnenstrahl auf einer hölzernen Kufe trommelt. Rasch verstärkte sich dieser Lärm und wurde zu einem Pochen von hundert eisernen Hämmern.

Malimmes trat in den Hof, drückte das Tor zu und schob die zwei schweren Sperrbalken in die Zwingen. Mit ruhiger Hand bekreuzte er das Gesicht, zog den Bidenhänder blank und hakte die Lederscheide wie einen Gürtel um die Hüfte.

Das Gehämmer dieser vielen Hufe kam immer näher, ohne seinen wirren Takt zu verlangsamen.

»Es stimmt. Das geht vorbei. Die reiten zum Schwarzenbach.«

Durch das Schuberloch des Tores guckte Malimmes auf die Straße hinunter. Nun kam's. Und das war wie ein langer, schwarzer, flinker, vielfüßiger Nachtdrache, der hurtig seine Ringe schob und die Stacheln seines Rückens auf und nieder zucken ließ. Nun tauchte das Ungeheuer, das aus der Finsternis gekommen, in die Finsternis hinein.

Kamen bis in einer halben Stunde die flüchtenden Ramsauer auf ihrem andächtigen Bittgang nicht so weit, daß der schützende Mantel des heiligen Zeno sie umhüllte – dann wird dieser eisenschuppige Drache seinen Durst an ihnen stillen und Blut saufen.

Das waren an die vierzig Reiter gewesen. So viele berittene Soldknechte unterhielt das Stift zu Berchtesgaden nicht. Es mußten auch die Domizellaren, die jüngeren Chorherren und die wehrhaften Bürgersöhne mit ausgeritten sein.

Das Gehämmer der vielen Hufe klang schon wieder wie das Getrommel eines starken Brunnenstrahls auf einer hölzernen Wanne, wurde schwächer in der Ferne und versank im Rauschen der Ache.

»Jetzt noch ein Stündl. Und die Raubleut kommen.«

Malimmes schloß am Hagtor den Guckschuber, verwahrte den Bidenhänder in der Scheide und ging zum Haus hinüber.

Aus den offenen Fenstern der großen Stube quoll ein trüber, zuckender Schein in die Nacht heraus. Der kam von den Talglampen, die neben dem Totenbrett des Haussohnes brannten. Und diesen Schein durchwirbelte der dünne, scharf duftende Rauch der Wacholderzweige, die zu Füßen des Toten in einem Kohlenbecken brannten.

Lautlos trat Malimmes zu dem Fenster, das neben der Haustür war, und spähte in die Stube. Den Jakob, dessen Totenbrett auf der Erde lag, konnte er nicht sehen. Er sah nur den Qualm der Talglampen und die züngelnde Wacholderflamme, in der die brennenden Nadeln wie weißglühende Sternchen flogen. Und hinter diesem Schleier von Rauch und Licht gewahrte Malimmes die zwei schweigenden Menschen auf der Ofenbank. Runotter saß gebeugt, mit den Fäusten auf den Knien, und das niederhängende Grauhaar umhüllte sein Gesicht mit dunklem Schatten. So saß er regungslos. Nur manchmal hoben sich seine Schultern unter einem schweren Atemzug.

Jula, deren Arme schlaff herunterhingen, hielt den Kopf an den Ofen gelehnt. Die langsam gleitenden Augen suchten im Leeren. Diese Augen waren heiß und trocken. Doch in der Blässe des versteinerten Gesichtes waren graue Striche, die vom Lampenruß beschmutzten Wege der eingedorrten Tränen.

Immer machte Malimmes heimliche Zeichen zu ihr hin. Ihre irrenden Augen blieben blind. Und einmal, als Malimmes schon glaubte, sie hätte ihn gesehen, beugte sie sich nieder und legte einen frischen Wacholderzweig in die Glutpfanne.

Das junge Feuer prasselte, und den wehenden Rauch durchflogen die blitzenden Sternchen.

Mühsam atmend hob Runotter das Gesicht.

»Geht nit die Nacht schon dem Morgen zu?«

»Ich weiß nit, Vater!«

Er sah sie an. Lange schwieg er. Dann sagte er langsam: »Geh, Kind, und such deine Ruh! Für dich ist morgen auch wieder ein Tag.«

»Laß mich bleiben!«

»Wär das erstemal, daß du deinem Vater nit recht geben tätst.«

Jula stand auf.

Und Runotter sagte: »Schau, Tod ist Tod, und Leben muß Leben sein. Und mir ist wohler, wenn ich weiß, daß du ein lützel Ruh hast.«

Sie nickte.

Lange blieb sie neben der sternigen Wacholderflamme stehen und sah auf die Erde hin. Dann ging sie zum Tisch – und kam zurück – und mit einer plumpen Schere schnitt sie an den Schultern ihre beiden Zöpfe ab. Sie beugte sich nieder und legte das schöne Haar wie eine Opfergabe auf die Füße des Bruders.

Runotter hatte wehrend die Hand gestreckt. Er ließ sie fallen und schwieg.

Während Jula sich aufrichtete, bekreuzte sie Gesicht und Brust. »Morgen, Vater!« Sie ging zur Türe.

Malimmes stand schon im Hausflur. Als Jula kam, machte er ein Schweigzeichen, faßte sie bei der Hand und zog sie hinaus in die Nacht und gegen den Wiesgarten hin.

Die alten Ulmen, die das Haus dach überwölbten, rauschten leise im lauen Wind. Von den Gartenblumen war ein zarter Wohlgeruch in der Nacht, der sich mischte mit dem herben Wacholderduft an Julas Kleidern.

Ketten rasselten in den Ställen, und zwei Kühe fingen zu brüllen an. Hatten sie den Schritt der Hirtin vernommen und erkannt? Oder brüllten sie nur, weil sie müde waren und ziehende Euter hatten?

In der schwarzen Dunkelheit, in der die matt erleuchteten Fenster wie verweinte Augen hingen, lauschte und spähte Malimmes nach allen Seiten, während er noch immer Julas Handgelenk umklammert hielt.

Sie fragte: »Mensch, was tust du?«

»Meinen Dienst als guter Knecht, der seinen Herren aus dem Elend lupfen will.«

Sie fragte in der Verstörtheit ihres Schmerzes: »Kannst du lebig machen, was tot ist?«

»Das nit.« Malimmes sprach leise und ruhig. »Aber man kann beim Leben halten, was noch schnauft. Hinter dem Tod ist die Seligkeit. Aber was vor dem Sterben noch im irdischen Gärtl steht, ist auch nit schlecht. Ich sag: Der Herrgott soll dem toten Buben meines Herren gnädig sein, aber meinem Herren und seinem schnaufenden Kind soll er Gut im Leben erweisen. Gott ist allmächtig. Aber der Mensch muß mithelfen. Sonst mag der Herrgott nit. Am liebsten hilft Gott dem Stärksten. Drum hab ich ein lützel fürgesorgt –«

Mit erstickten Lauten unterbrach ihn Jula: »Seit dem Abend hast du heimlich getrieben, ich weiß nit was. Der Vater hat nit sehen und hören können. Ich hab geschwiegen. Weil alles andre minder ist als meines Vaters Weh. Aber dir muß ich sagen –« Sie verstummte.

»Sag's«

»Du hast meines Vaters Wehr und Eisen heimlich vertragen. Ich muß mich sorgen, ob du ehrlich bist?« Sie hörte einen Laut, der wie ein Kichern war und befreite in Zorn ihre Hand.

»Mußt nit harb sein, Haustochter!« Seine Stimme bekam einen Klang von zarter Herzlichkeit. »Ich bin halt so, daß ich allweis ein lützel lachen muß, wo ein Wehleidiger heulen möcht. Ich glaub, wenn ich sterb einmal, das wird ein Stündl wie die letzte Narretei in der Fasnacht. Aber wahr ist's, ich hab deines Vaters Wehr vertragen. Noch schlechter! Ich hab deines Vaters Mägd verjagt, die dummen Gans, hab deines Vaters Mannsleut fortgeschickt, hab deines Vaters Gaul verschleppt, bin ein Spitzbub worden und hab deines Vaters schweren Sparbinkel heimlich aus dem Bodenloch gehoben, das ich ausgekundet hab. Dir sag ich's. Hätt's dein Vater gemerkt, so tat er's machen, wie die Herren im Gaden und tät mich des Unrechts zeihen, derweil ich recht tu.«

»Mensch?«

»Erst laß mich alles sagen. Ein halbes Stündl ist noch Zeit –«

»Zeit?«

»Bis die Raubleut kommen. Hast du die Reiter, die zum Schwarzenbach sausen, nit traben hören?«

»Der Vater hat's nit gemerkt.«

»Die andern, die füßlings kommen, wird er merken. Mußt nit erschrecken! Solche Händel hab ich schon viel erlebt, bald als Prügel und bald als Buckel. Die Herren kenn ich. Die Knecht noch besser. Und schau – Aber magst dich nit niederhocken ein lützel? So viel zittern tust!«

»Ich steh. Red zu!«

»So schau! Da drunten auf der Straß, wo der Seppi Ruechsam gelegen ist, da hab ich deinem Vater recht gegeben. Treu ist ein feines Ding. Aber die Herren haben jetzt nit die Augen dafür. Die andächtigen Ramsauer und ihr flinker Pfarrherr haben deines Vaters sauberen Boden vermistet. Und am Abend hab ich deinem Vater sagen müssen: ›Bauer, fort mußt!‹ Er hat den harten Kopf geschüttelt: ›Ich bleib und tu meinen Buben in geweihten Boden, und morgen geh ich zum Fürsten und hol mein Recht.‹«

»So muß der Vater tun.«

»Aber der Pfarrherr ist davongelaufen. Und beichtet den Herren, wie andächtig die Ramsauer sind. Und dein Vater wird morgen nit zum Fürsten gehen, weil der Fürst zu deinem Vater kommt, jetzt, in der Nacht. Nit selber. Fürsten schicken ihre Knecht, wenn der Weg ein harter ist. Und da wird dein Vater morgen keiner sein, der gekommen ist, sondern einer, den man geholt hat. So einer hat's nit gut. Das Leben ist diesmal ein spaßig Ding. Dem Lämmlein in der Einschickt geht's allweil härter als dem Fuchs unter hundert Wölfen. Wär dein Vater so andächtig auf die Wallfahrt gelaufen wie die Ramsauer, da tät er bei Landsverrat seines Lebens sicherer sein als jetzt, wo er redlich und treu geblieben.«

Jula schüttelte stumm den Kopf und preßte die Stirn auf ihre Fäuste.

»Schau! Dein Vater hat einen Mangel wie die Sonn, von der die Blinden sagen, sie wär im Winter zu kühl und im Sommer zu hitzig. Dein Vater ist so übermäßig redlich, daß ihm die Mißtrauischen das nimmer glauben. Einer, dem man das Weib genommen? Einer, dem man das Kind erschlagen? Einer, vor dem die Herren sich schämen und fürchten müssen? Wie sollen die Herren von dem noch glauben können: Der ist treu? Tatst du das glauben? Ich nit. Wie wahrhafter dein Väter vor dem Fürsten reden wird, um so hinterlistiger und verlogener wird's für die Herren ausschauen. Alles Übermaß im Leben ist von Übel. Auch beim Guten. Die Heiligen, eh man ihnen das Kerzl angezunden, sind doch allweil geschunden worden. Ein Heiliger braucht dein Vater nit werden.«

Mit rauher Stimme fragte Jula: »Willst du dem Vater raten, daß er lügen soll und unrecht tun?«

»Das nit. Aber einer, der doppelt redlich ist, muß doppelte Fürsicht üben. Dein Vater wird im schiechen Loch liegen, er weiß nit wie. Kann sein, es geht sein Weg aus dem Loch wieder in die Freiheit. Völlig vernagelt ist ja die Menschheit noch allweil nit. Auch Herren werden nach schwerem Wein wieder nüchtern. Aber –«

»Red!«

»Es kann auch sein, daß dein Vater sich vor lauter Redlichkeit um den Hals schwätzt. Daß er als Ramsauer büßen muß für die Untreu der Andächtigen. Und daß sein Weg aus dem Herrenloch zum roten Holz geht.«

Verzweifelt faßte Jula den Soldknecht an der Brust. »Und da hast du ihm Eisen und Wehr verschleppt!«

»Ja, Gott sei Dank!« Malimmes löste sanft diese zuckenden Hände von seinem Kittel. »Schau! Dein Vater harret doch jetzt aufs Recht. Was kommt, wird ausschauen wie neues Unrecht. Und so redlich dein Vater ist, er ist doch allweil bloß ein Mensch. Da wird ihm der Zorn ins ehrliche Blut fahren. Und kriegt er ein Eisen zu fassen, so schlagt er zu. Schlagt vier oder fünfe nieder. Ein Dutzend rumpelt über ihn her. Und am Morgen liegt dein Vater neben dem Jakob. Und du –«

»Ich?«

»Du wirst neben ihm liegen. Wenn du an deinem lieben jungen Leib nit leiden willst, was eines Hofmanns Recht ist. Da heißt die Fürschrift: Mag's der Vogt nit tun, so steht's den Reitern zu, mögens die Reiter nit tun, so haben die Knecht das Recht. Einer ist alleweil da, der mag und Zeit hat.«

Bei dem heiteren Klang dieser Worte rann ein kaltes Grauen durch Julas Leib und Herz. Verstört umklammerte sie den Arm des Malimmes. »Was muß ich tun?«

»Bloß mir ein lützel trauen. Freilich, irren kann sich ein jeder. Sogar unser Herrgott hat sich getäuscht, wie er gemeint hat, er hätt die Menschen so gut gemacht, daß sie besser nit sein könnten. Denk, sogar der Herrgott! Und ich bin nur ein irdisches Würml. Ich kann mich verrechnet haben. Das muß ich dir sagen. Geht's schief, so hab ich selber den Kopf in der Schling. Und mir bleibt als letzte Hoffnung, daß die Gadnischen Herren einen so schlechten Seiler haben, wie der Fischbauer vom Hintersee einer ist.«

Eine wehe Klage: »Ich versteh dich nimmer. Was bist du für ein Mensch! Tu nit so grausig scherzen!«

»Die fluchen, machen das Leben nit besser. Nur schlechter noch. Freilich, es hat ein jeder sein unsinniges Stündl. Gestern zum Abend bin ich ein trauriger Lapp gewesen. Heut freut mich das narrische Leben wieder. Und ich verwett meinen Hals drum, daß ich morgen, eh die Sonn wieder scheint, deinen Vater auf festem Boden hab. Willst du mir helfen?«

»Red!« Jula richtete sich auf. »Was verlangst du, das ich tun soll?«

»Ein hartes Stückl für ein gutes Kind.«

»So red doch!«

»Fort mußt du. Jetzt. Mit mir. Jetzt gleich. Und dein Vater darf's nit wissen.«

»Das tu ich nit.«

»Es geht nit anders. Wenn die Hofleut kommen, muß dein Vater glauben, du bist im Haus und liegst im Bett. Das macht ihn fürsichtig. Er wird sich geben ohne Streit, wenn ihm die Hofleut den Hausfried zusagen. Die lügen schnell. Und alles ist gut.«

Jula schwieg. Dann streckte sie wehrend die Hände.

Da lachte Malimmes. Und fragte: »Hast du keinen lieb, für den du dich aufheben möchtest?«

Unbeweglich stand sie in der Nacht. Ein mühsamer Atemzug. Und sie schüttelte den Kopf. »Ich bleib, wo der Vater ist.«

»Gut!« sagte Malimmes ruhig. »So bleib ich halt auch. Und stell mich hin vor dich, vor meinen Herren und vor das Totenbrett. Und rührt euch einer an, so schlag ich zu mit dem Bidenhänder.« Doch statt das Eisen blank zu ziehen, koppelte er das lange Schwert vor der Brust an den Riemen, als hätte er den Wunsch nach freien Händen. »Das wird eine grobe Blutsuppe geben.« Er faßte mit festem Griff ihr Handgelenk.

»Zum Vater –« Jula versuchte ihre Hand zu befreien. »Ich will zum Vater.«

Lauschend hob Malimmes den Kopf, stand eine Weile unbeweglich und flüsterte: »Lus!«

Im Rauschen der Ache hörte Jula von der Straße herauf ein Geräusch, das sie nicht zu deuten wußte.

Malimmes zischelte: »Das müssen an die zwanzig sein, die neben der Straß im Gras laufen. Und drei Gäul. Zwei treten hart. Die tragen. Einer geht leer. Das ist der Gaul, auf dem dein Vater reiten soll. Und lus! Da steigt ein Bub über den Hag.«

»Laß aus!« Jula rang gegen die eiserne Kraft des Soldknechtes.

Er packte sie mit beiden Armen. »Wehr dich, gutes Maidl! Wehr dich, wie du kannst! Bloß schreien tu nit! Sonst bringst du deinen Vater um.« Während er sie mit dem linken Arm an seine Brust klammerte, preßte er die rechte Hand auf ihren Mund und riß sie mit sich fort, in die Nacht hinaus.

Das Hagtor quiekste ein wenig, als es von dem Buben geöffnet wurde, der vorsichtig über den hohen Zaun geklettert war. Dunkle Gestalten mit grauen Gesichtern drängten sich in das offene Tor. Vom rötlichen Licht, das herausfiel aus den Fenstern, blinkten die Spießklingen, als wären sie schon mit Blut gefärbt.

Leis befahl eine rauhe Stimme: »Zwei zu jedem Fenster, vier an die Haustür, sechs in die Ställ. Nit eher, als ich im Haus bin. Der Reiter mit mir.«

Rasch gingen die zwei auf das Haus zu. Sie zogen das Eisen nicht. Der vorausging, hatte einen Steithammer in der Faust und war gut gewappnet. Seine Platten klirrten, als er über die Schwelle trat.

Das klang so laut, daß auch Runotter in der Taubheit seines Schmerzes dieses Klirren hören mußte. Er hob den Kopf. Doch er konnte die Augen vom Jakob nicht losbringen. Als die zwei schon bei der Stubentür standen, sah Runotter noch immer seinen Buben an, der starr und mißförmig auf dem Totenbrette lag, umzittert vom Licht der Talglampen und von der roten Glut des halbverbrannten Wacholders. Wuschelig hingen die schwarzen Haare in das schmerzlose Gesicht des Toten, der vom unruhigen Licht noch eine Farbe des Lebens auf den Wangen hatte und mit geschlossenen Augen über eine schwer begreifliche Sache nachzudenken schien.

»Runotter?«

Der Bauer wandte den Kopf. »Der Vogt? Bei mir?« Er deutete auf den Toten. »Weiß der Fürst schon, wer's getan hat?«

»Mir hat er's nit gesagt. Da ist jetzt auch nit die Red davon.«

»So?« Das Gesicht des Bauern verzerrte sich. »Schickt mir der Fürst den neuen Richtmannsstab?« Langsam erhob er sich.

»Runotter?« Der Vogt, ein schweres, breitschultriges Mannsbild, tat einen Schritt in die Stube, und hinter ihm drängte sich der andre nach. »Arg still ist's heut im Dorf. Die Häuser zwischen dem Windbach und deinem Hof sind leer. Wo sind die Ramsauer?«

Die Brauen des Bauern zogen sich hart zusammen. »Was geht mich an, wo die Ramsauer sind? Ich bin, wo ich sein muß.«

Der Vogt schmunzelte ein bißchen und deutete auf den Toten. »Läg der da nit auf den letzten Laden, Bauer? Wo wärst du denn nachher jetzt? Auch auf der frommen Wallfahrt?«

Runotter streckte sich. »Da wär ich beim Fürsten. Jetzt.«

»So komm! Der Fürst will reden mit dir.«

»Das Leben hat viel Recht. Der Tod hat auch eins. Dein Fürst wird mir Urlaub lassen bis morgen. Ich muß meinen Buben in geweihten Boden tun.«

»Das wirst du nit können. Der Pfarrherr ist im Gaden draußt. Ich weiß nit, wie lang er bleibt. Dein Bub und die andern werden warten müssen. Der Fürst hat Eil. Komm mit! Ich will dir raten, du tust es in Gut und Ruh.«

Lange schwieg der Bauer. Er musterte die zwei Männer, sah unter schweren Atemzügen den Toten an, und dann irrte sein Blick über die Stubendecke. Er nickte. Seine Stimme war tonlos. »Gut. Ich mach mich fertig.« Mit raschen Schritten trat er in die Kammer hinaus und drückte hinter sich die Türe zu.

Der Spießknecht wollte springen. Aber der Vogt hielt ihm den Arm vor. Über den Toten, der mit Lampen und Glutpfanne den Weg sperrte, wollte er nicht hinüber. »Bleib! Der kommt wieder. Das ist von den Ochsen einer, die nit grasen auf dem Hängmoos.«

Die Tür der Kammer wurde geöffnet und langsam trat der Bauer heraus. Sein Gesicht war grau wie Asche, seine leeren Hände zitterten, und wieder irrte sein Blick über die Stubendecke hin. Lag Julas Kammer da droben?

Der Vogt lächelte. »Ich hab gemeint, du suchst deinen Hut?«

Runotter sah ihn mit den Augen eines in die Enge getriebenen Tieres an. »Vogt?«

»Wenn ich in Ruh und Gut mit dir zum Fürsten geh? Tust du den Buben da in Fried lassen? Und mein Haus?«

»Wie soll ich deinen Hausfried stören? Ich und der da, wir reiten mit dir zum Herren. Jetzt gleich.«

»Auf Wort?«

»Auf Wort!«

»Gut! Da hast mich! Beim Fürsten find ich, was Recht ist.« Runotter sah seinen Buben an und ging um die Kohlenpfanne herum. Da faßte ihn der Spießknecht am Arm. Der Bauer zuckte wie ein Erwachender auf. »Was willst?«

»Du mußt dir den Strick um die Hand tun lassen!« sagte der Vogt in gütigem Ton. »Es ist Befehl.«

Lange schwieg der Bauer. Seine Brust arbeitete. »Gut! Ich hab dein Wort.« Er streckte die Fäuste hin. »Geh ich nit mit dir in Gut und Ruh? Wozu der Strick?«

Der Vogt wartete, bis der Spießknecht den Strick geknotet hatte. Dann sagte er: »Weil du verdächtig bist des Landsverrats und der Meuterei.«

Eine Weile sah Runotter dem Mann wie ein Träumender ins Gesicht. Dann brach er in grelles Lachen aus. »Vogt! Das Leben ist ein närrisch Ding!«

»Ich glaub, es wird dir nimmer arg lustig sein!«

Die beiden führten den Bauer hinaus, der auf der Schwelle noch das Gesicht drehte.

Da hörte man Stimmen, überall, und Lichtschein zuckte auf. Fackeln fingen zu brennen an. Und während fünfe, sechse von den Exekutierern in das Haus rumpelten, in die Stube sprangen und über die Stiege hinaufpolterten, zerrten andre schon das gepfändete Vieh aus den Ställen. Einer kreischte: »Die Küh sind da! Er hat die siegelwidrigen Küh im Stall!« Geschrei und Gelächter.

»Jula! Jula!« brüllte Runotter. »Malimmes! Heiner! Leut! Leut!«

Keine Antwort. Niemand kam. Nur die Exekutierer rannten hin und her. Und lachend sagte der Vogt: »Deine Leut haben eine gute Näs gehabt. Die sind auf der Wallfahrt.«

Mit windenden Fäusten hatte Runotter die Stricke gedehnt. Er brachte die Hände nicht heraus, doch er konnte sie bewegen. Und während er einen von den Knechten niederzerrte, entriß er ihm die Fackel. Alle fielen über ihn her. Aber der Feuerbrand wirbelte schon auf das Hausdach hinauf. »Erbrecht! Herrentreu!«

Sie stießen den Lachenden zu Boden, zogen ihn zum Hagtor, hoben ihn auf einen Gaul und banden ihm die Füße unter dem Bauch des Pferdes zusammen.

Bei dem wirren Geschrei der andern kletterten ein paar von den Exekutierern auf das Dach hinauf, um noch zu löschen und das Feuer totzuschlagen. Doch die flinke Flamme lief schon auf dem dürren Dache nach allen Seiten hin, züngelte über den First hinaus und leckte gegen das Astwerk der alten Ulmen.

Es wurde hell in der Nacht, als der Vogt und der Spießknecht davonritten, zwischen sich den Gaul mit dem Gefesselten. Die Hufschläge klapperten laut auf der Straße.

Hinter den eilig Reitenden blieb das Geschrei der Exekutierer und das Gebrüll des gepfändeten Viehs, das sich vor Rauch und Feuer schreckte.

Rote, flackernde Lichter fielen von der Brandstatt über die Wiesengehänge und über die Straße her. Doch als der geschlossene Wald begann, zuckte nur noch hie und da ein roter Schein durch die Lücken der Baumkronen. Der Straßenboden war finster.

Das Rauschen des Wassers wurde stark und dumpf. Die Reiter kamen zum tosenden Windbach.

Da knickte plötzlich das Pferd des Vogtes zu Boden. Auch die zwei andern Gäule stürzten. Sie fielen hin wie vom Blitz erschlagen. Dabei hörte man das Klirren des entzweigesprungenen Eisendrahtes, der die Straße gesperrt hatte. Und während die Pferde keuchten und sich erheben wollten, waren fünf Menschen da, zerschnitten die Stricke des Bauern, rissen ihn unter dem Gaul heraus und stießen den Vogt und den Spießknecht über den steilen Straßenrain hinunter in den rauschenden Bach. Der war nicht tief. Aber die zwei kollernden Männer in ihren schweren Eisen machten doch einen festen Klatsch. Und wenn man reichliches Wasser in der Hose hat, ist alle Tapferkeit zu Ende. Bis die beiden stumm und triefend aus dem Bach herauskrabbelten, sich versteckten und dann im erwachenden Morgengrau den Mut fanden, zur stillen Straße hinaufzuklettern, waren die fünfe mit dem Runotter schon lang verschwunden und waren schon hinter dem Wald und über den Wiesenhängen droben auf dem Karrenwege, der vom Schwarzeck zu den Wäldern des Pfaffenbühels und zum Hängmoos führte.

Heiner und die zwei andern Knechte leiteten den flinken Schimmel und die beiden Ackergäule, die gleich Saumtieren schwer befrachtet waren.

Malimmes und noch ein andrer mußten den taumelnden Runotter stützen, der vom Sturze betäubt schien, sich nicht erholte und wie mit den schwachen Knien eines Betrunkenen vorwärts tappte.

Während Malimmes heiter schwatzte, spähten seine ernsten Augen unablässig nach allen Seiten.

Hinter dem Schwarzeck, schon weit von den letzten Häusern, in stiller, grauer Einöde, kam der Zug zu einem Bache.

»Da sind wir sicher!« sagte Malimmes. »Jetzt muß sich der Bauer ein lützel zusammenklauben.« Er ließ den Taumelnden neben dem Bach auf den Boden nieder, wusch ihm das Gesicht und die offene Brust, klatschte ihm das kalte Wasser gegen Stirn und Augen, goß ihm aus einer gedörrten Gurke einen Schluck Branntwein zwischen die Zähne und gab dem halb Bewußtlosen unter wunderlichen Umständen mit der flachen Hand drei scharfe Schläge auf eine Stelle des Rückens.

Rasch erholte sich der Bauer. Mit dem ersten klaren Blick sah er nach der Richtung hin, in der die Ramsau kg. Da war kein Feuerschein. Doch der Rauch des Brandes lag wie ein brauner Nebel über dem Tal.

»So? – Wohl, ich versteh schon! – Jetzt ist der Jakob zugedeckt für ewige Zeit.« Ein Zittern rann durch die schwere Gestalt des Bauern. Und seine Augen irrten, während er schrie: »Das Maidl? Wo ist das Maidl?«

Da trat der andre von den beiden, die ihn geführt hatten, im Grau des Morgens vor ihn hin, jung und schlank, in schlechtsitzender Bubentracht, einem siebzehnjährigen Knaben ähnlich, in einem verrosteten Holdenküraß, um den ein kurzes Schwert an dünner Kette hing. Über dem blassen, strengen Gesicht, das große, blaue, heißbrennende Augen hatte, saß eine rostige Eisenschaller, aus der das schwarze Haar, zausig abgeschnitten, bis zu den schmalen Schultern hing.

Der Blick des Bauern glitt über dieses Eisen. War das nicht die Wehr seines Bruders, der jung hat sterben müssen?

Eine leise, herbe Knabenstimme: »Kennst du mich nit?«

Runotter erhob sich halb, unter heißem Lachen. »Bist du's gewesen, der mich unter dem Gaul herausgerissen?«

Ein stummes Nicken.

Da sprang der Bauer auf, als wäre jede letzte Schwäche von ihm gewichen. Den Arm des Buben umklammernd, knirschte er durch die Zähne: »Recht hast! Sei der Stellmann des Jakob! Du! Und tu das Eisen nimmer aus der Hand! Und schlag und brenn und stich und mord! Das Leben ist ohne Recht und Treu! Und um so besser wird's, wie mehrer du niederschlagst!«

Malimmes lachte. »Gar so schiech wird's nit ausfallen. Ein paar lassen wir schon noch übrig. War doch ein lützel schad, wenn die Welt aussterben tät!« Er wurde ernst. »Jetz komm, Bauer! Zum Reden ist nit Zeit. Wir müssen flinke Füße machen.«

Runotter schüttelte den Kopf. »Zum heiligen Zeno geh ich nit.«

»Das hättst mir nit sagen brauchen. Ich mein', wir steigen über das Lattentor und nächten in der bayrischen Plaienburg. Unter Dach kann man weiterreden.«

Der Bauer nickte. Zum Lattentor? Da mußte man über das Hängmoos, wo der Jakob den letzten Schnaufer getan. Dort ein Vaterunser beten! Weiter dachte Runotter in dieser grauen Morgenstunde nicht.

Der Tag begann. Die Vögel waren wach geworden. Von einer steilen Wiese flüchtete ein Rudel Hochwild, als es die Menschen kommen sah, in den Schutz des Waldes.

Die steigende Sonne verwandelte die wildzerklüfteten Grate des Lattengebirges in leuchtende Rosenhügel unter lachendem Blau. Und als sie herüberguckte über die Waldkuppen des Totenmannes, umglänzte sie den schweigsam wandernden Zug mit ihrem funkelnden Gold und warf die langen blauen Schatten der Menschen und Gäule weit voraus über den von Tauperlen schimmernden Grasweg.

Über allen Bergen war der Himmel rein. Doch in der Scharte zwischen dem Lattengebirge und dem Untersberg, weit draußen in der westlichen Ferne, stand eine lange, violette Wolkenbank. Stieg da ein Gewitter herauf? Oder wollten regnerische Tage kommen?

Am Saum des Waldes, der ganz rot von Sonne war, erhob sich ein Weib.

Heiner, der mit dem Schimmel den Zug führte, blieb stehen, »Da ist wer.«

Malimmes nickte. »Die müssen wir mitnehmen.«

Um die andern kümmerte sich Traudi nicht. Sie schien nur den Malimmes zu sehen. Ihr Rock klatschte von der Nässe des Taues. Auf Hals und Stirn glitzerten die Perlen ihrer Mühsal. Eine Mischung von Staub und Schweiß hing fleckig an dem müden, verängsteten Gesicht. Das blonde Mädel mochte seit Mitternacht viel Heiteres nicht erlebt haben. Und dennoch war der Glanz eines Menschenglückes in ihren Augen, jetzt, als sie dem Malimmes mit dankbarem, schon wieder dürstendem Blick auf der offenen Hand den Goldpfennig hinhielt.

»Da hast ihn wieder!«

»Den tu mir gut aufheben! Meine Sack haben Löcher.« Ein leichtes Schwanken kam in seine ruhige Stimme, als er fragte: »Hast du am Taubensee das alte Weibl gefunden?«

Das Mädel nickte. Und während die beiden hinter den andern herwanderten, erzählte Traudi.

Im Haus des Mareiner saß die alte Frau in der Herdstube neben dem Feuer. Sie zitterte vor Angst. Doch als sie die vier Goldpfennige – von dem, der am Zäunl gestanden – in den Strümpfen hatte, lachte sie ein bißchen. Immer wieder griff sie mit den dürren Händen zu ihren Füßen hinunter. Und dann schlief sie ein. Niemand war bei ihr in der Stube. Von den Buben der Nachbarsleute war keiner geblieben. Aber der Bauer und die Bäuerin waren noch beim Haus. Vieh und Karren standen im Hof, und immer schrie die Bäuerin nach dem Bauer, der mit einer Laterne im Walde war, etwas suchte, was er nicht finden konnte und wie ein Verdammter fluchte.

»Und derweil ich davongelaufen bin durch die Stauden, ist jählings ein Haufen Reiter dagewesen, ich weiß nit, wie! Und Kienlichter Haben gebronnen. Die Latern im Wald, die ist ausgeloschen, der Bauer muß in der Finsternis versprungen sein. Aber das Vieh haben die Reiter gepfändet, und die junge Bäuerin müssen sie erwuschen haben. Jesus, Jesus, hat das Weib kreistet! Lang! Und allweil wieder!«

Heiter sah Malimmes gegen den Taubensee hinaus. »Bruder Mareiner! Ich fürcht, nach der Fasnacht wirst du taufen müssen!«

Die beiden machten flinke Schritte, um die andern einzuholen. Und da sagte Traudi: »Du! Der junge Bub da? Das ist doch –«

»Kennst du den Buben?« Malimmes sah sie mit so strengen Augen an, daß sie weder ja noch nein zu sagen wagte. »Das ist ein Vetter des Bauern. Der Jul. Ist heut in der Nacht gekommen. Aus der Fremd. Wer's anders wissen wollt, dem wär ich feind. Ich tät kein Wörtl nimmer reden mit ihm.«

»Jesus«, stammelte das Mädel, »auf Ehr und Seligkeit, das ist der Vetter, ich weiß es nit anders.«

Als Malimmes den Bauern einholte, sagte er lustig: »Sechs Helm und drei Gäul! Ein Troßweibl ist auch schon da. Jetzt sind wir schon bald ein Heer. Der Feind wird Angst kriegen vor uns!«

Müd sagte Runotter: »Tu nit scherzen! Mir ist weh in tiefster Seel.«

Der Zug ging weiter mit stummer Hast.

Auf dem Hängmoos fanden sie die sieben Ochsen, die zum Runotterhof gehörten. Alles andre Vieh war abgetrieben. Nur die vielen braunen Schmetterlinge waren noch da, die über dem sonnigen Bruchboden gaukelten. Und immer wieder sah man auf den Wasserflächen ein kleines Blitzen – sooft ein Frosch nach einem der Schmetterlinge sprang.

Das vierjährige Öchslein kam gelaufen. Runotter kraute ihm die Stirn. »So, Dunnerli? Bist du noch da?« Er sah die andern an. »Ein Vieh hat's gut!«

Sie standen vor dem Aschenhaufen des Käsers. Ein paar schwarze Balkenstrünke glühten und rauchten noch.

Während die Gäule am Brunnen tranken, stiegen Jul und Runotter zu dem Waldstreif hinauf.

Als der Bauer wieder herunterkam zum Aschenhaufen, streckte er die beiden Hände. »Schauet, Leut!« Er hatte auf der einen Hand das kleine, krumme Schnitzmesser des Jakob liegen, auf der andern die schmutzigen Splitter eines hölzernen Vögelchens. Das alles barg er an seiner Brust wie eine Kostbarkeit. Seine Augen glitten langsam über die grünen Gehänge hin. »Leut! – Da soll's nimmer Hängmoos heißen. Das ist die Mordau.«

Die andern nickten und sprachen es nach: »Die Mordau!« Nur der schlanke, junge Bub, der neben dem Bauer stand, blieb stumm. Das blasse, erschöpfte Gesicht mit den müden Augen war gegen den Bruchboden hingewendet, über dessen glänzenden Wassertümpeln die Schmetterlinge tanzten.

Nun stiegen die sieben gegen das Lattentor hinauf. Malimmes und Traudi trieben die Ochsen hinter den Gäulen her.

Als der mühsam kletternde Zug zur steinigen Grenze kam und die Leute unter Gefahr und Beschwer das Vieh und die Pferde durch die rauhe Felsenscharte führen mußten, wandte sich keines der sieben Gesichter nach dem Berchtesgadnischen Land zurück, das hinter ihnen versank.

Vor ihren Augen, die nicht suchten, nur des harten Weges achteten, tat ein neues, fremdes Land sich auf.

Vorgelagerte Berge und Waldkuppen verhüllten das Schutzgebiet des heiligen Zeno und das Reichenhaller Tal. Drüben stiegen die drei grünen Stufen in das dunstig gewordene Blau. An ihnen vorüber sah man weit hinaus in ein welliges Land. Seine Ferne war von schweren Wolken überzogen, unter denen die Erde ohne Sonne war, mit schwarzen Wäldern und grauem Feld.

Doch alle Nähe glänzte noch im Schimmer des Mittags. Und wo die westlichen Waldgehänge des Untersberges sich niedersenkten gegen die blitzende Saalach, tief da drunten, saß die bayrische Plaienburg auf einem Buchenhügel, winzig wie ein kleiner roter Käfer auf einem grünen Blatt.

8

Die vierzig Reiter, die den andächtigen Bittgang der Ramsauer hindern sollten, kamen zu spät, um den heiligen Zeno vor Zulauf zu behüten. Bei der Haller Grenzverschanzung im Schwarzenbachtal war die Mautschranke hinter dem letzten Karren der Ramsauer schon gefallen. Drei Gadnische Hofleute setzten im Schuß des Rittes über den Grenzbaum hinüber. Dann rasselten die Torbalken herunter. Und während die ausgesperrten siebenunddreißig Reiter ein zorniges Geschrei erhoben, kam es innerhalb des Tores zwischen der Besatzung des Grenzwalles und den drei Abgeschnittenen zu einem Scharmützel, in dem der heilige Zeno Sieger blieb; aber zwei von seinen Soldknechten mußten ins Gras beißen, was bei dieser mitternächtigen Finsternis kaum zu sehen war.

Die siebenunddreißig hatten sich bis zum Berchtesgadnischen Grenzwall zurückgezogen, der ein paar hundert Schritte von der feindlichen Mauer entfernt lag. Sie waren in großer Sorge um die abgeschnittenen Genossen und hielten Kriegsrat. Der junge Hundswieben, der noch den Pulverdampf der Annasusanna in den Nasenlöchern hatte, wollte stürmen und gebärdete sich so berserkerisch, daß ihn seine besonnenen Stiftsbrüder nur mit Mühe von diesem sinnlosen Beginnen abhalten konnten. Jeder Angriff war aussichtslos. Wohl zählte die Besatzung des feindlichen Werkes kaum mehr als ein Dutzend Helme. Doch bei der Enge des Tales konnte dieses Dutzend den Wall so lange halten, bis Verstärkung vom heiligen Zeno kam. Und die Gadnischen sahen auf dem Bord der Zenonischen Mauer das kochende Wasser in den Kesseln dampfen und die Pechkränze brennen.

Wie der erfahrene Malimmes im Runotterhofe, so hatte der staatskluge Franzikopus Weiß bei der Schwarzbachwacht des heiligen Zeno ein bißchen vorgesorgt für alle Fälle und hatte aus Herrn Otmar Scherchofers hilfreichem Reisewagen zwei Faustbüchsen mit Pulver und Blei zurückgelassen. Auf jeder Seite des Tores drohte solch eine mit roter Mennige angestrichene Blitzröhre.

Die Besatzung des Gadnischen Grenzwalles war ohne Feuerwerk. Wohl besaß der heilige Peter zu Berchtesgaden schon seit einigen Jahren acht Faustbüchsen. Die hatte man aber bei diesem Nachtritt nicht mitgenommen, weil der junge Hundswieben im Hirschgraben auch das letzte Körnlein Pulver verschossen hatte, das im Arsenal des Stifts aufzufinden war.

Aber die abgeschnittenen Kameraden im Stich lassen? Das ging nicht an. Man mußte parlamentieren. Herr Jettenrösch, der die hübscheste Pfennigfrau zu Berchtesgaden und vielleicht aus diesem Grund ein ruhiges Blut besaß, ritt mit dem weißen Fähnlein, begleitet von zwei Fackelträgern, vor die feindliche Mauer. Hier sah er beim Schein der Pechflammen drei Männerköpfe zur Strafe des Friedensbruches auf der Mauer stecken. Ohne seinen Antrag auszurichten, wandte er das Roß und ritt mit blassem Gesichte zurück.

In der Berchtesgadnischen Schanze entlud sich die Wut der Herren gegen den unglücklichen Wallmeister, der die andächtigen Bittgänger durch Tor und Schranke gelassen hatte. Der Mann verteidigte sich, es wären voraus die vielen Weiber und Kinder gekommen mit einer so lauten und inbrünstigen Litanei, daß man den Lärm der nachfolgenden Viehherden und Karren nicht hätte vernehmen können; solch eine fromme Wallfahrt durfte man doch nicht stören; und eh man Verdacht schöpfen konnte, waren an die zweihundert Mannsleut und Buben in Wehr und Eisen da, trieben Holzkeile in die Nuten des Falltores und sicherten den Durchzug des letzten Ochsen. Vierzehn Spießknechte – gegen zweihundert Männer? Und gegen die eignen Landsleute? Diese unanfechtbare Logik reichte nicht aus, um den Wallmeister der Berchtesgadnischen Schwarzbachwacht vor einem üblen Schicksal zu bewahren; er wurde seines Amtes entsetzt, an Händen und Füßen gebunden und auf einen Gaul geladen. Sechs Reiter blieben zurück, um bis auf weiteren Befehl die Besatzung der Schanze zu verstärken, zwölf Reiter wurden am Taubensee und in der Ramsau den Exekutierern beigegeben, die Herren mit dem übrigen Gefolge und mit dem gefesselten Wallmeister ritten nach Berchtesgaden.

Noch ehe sie heimkamen und Herrn Peter Pienzenauer den mißlichen Ausfall ihres Unternehmens berichten konnten, war aus der fürstlichen Kanzlei des heilgen Peter an die Adresse des heiligen Zeno ein höfliches Dankschreiben für die nachbarliche und barmherzige Hilfe abgegangen, die Herr Konrad Otmar Scherchofer dem Marimpfel und seinen Leidensgenossen geleistet hatte.

Als Herr Jettenrösch seine Meldung von den Ereignissen bei der Schwarzbachwacht erstattete, sprach der Propst einige Worte, die bitter ernst gemeint waren und doch einen heiteren Anklang an einen berühmten Spruch des römischen Kaisers Augustus hatten: »Ruppert, Ruppert, gib mir meine Ochsen wieder!«

Um die Mittagsstunde traf ein Pergament des heiligen Zeno ein, der den heiligen Peter von Berchtesgaden zu versöhnlicher Güte mahnte, sich kräftig der zu Reichenhall erschienenen Bittgänger annahm und den Strafvollzug wider drei Friedensbrecher unter Hinweis auf die einschlägigen Gesetze meldete. In diesem Pergamente war mit keinem Wort das unanzweifelhafte Recht des seligen Seppi Ruechsam erwähnt. Solches Schweigen entsprach der Staatskunst des Franzikopus Weiß; er hatte, zur Beruhigung der Ramsauer, den grau und rot gefleckten Hängmooser Weidebrief in Verwahrung des heiligen Zeno nehmen wollen; doch die eiserne Truhe, welche die Rechtsschätze der Gnotschaft enthielt, war im Verlaufe des andächtigen Bittganges verschwunden. Der Hinterseer Fischbauer, obwohl er sich als schlechter Seiler erwiesen hatte, war ein Albmeister von geriebener Schläue. Kaplan Franzikopus war nicht gut auf ihn zu sprechen. Herr Otmar lachte. –

Am Abend, als sich der Himmel über allen Bergen dunkel zu überziehen begann, kehrten die Gadnischen Exekutierer aus der Ramsau in das Stift des heiligen Peter zurück. Mit ihnen kamen auch der Vogt und sein berittener Geselle, völlig trocken; die beiden meldeten getreulich den Überfall und die Entführung des Bösewichtes, der den roten Hahn auf das nach dem Ableben seines einzigen Sohnes wieder an das Stift zurückgefallene Lehensdach gesetzt hatte; doch sie verschwiegen – als unwichtig – ihren Purzelbaum in den Bach und sprachen auch nicht von dem reichlichen Wasser, das in ihren Hosen gewesen. Nach dieser Meldung litt sogar das Bild, das sich Herr Peter Pienzenauer von den Geschehnissen in der Ramsau machte, an einer unheilbaren Verzerrung, und er traute von Stund an dem Amtmann Ruppert Someiner wenigstens die Fähigkeit zu, gefährliche und heuchlerische Menschen richtig einzuschätzen.

Die Exekutierer brachten – wie der Amtsschreiber Pießböcker notieren mußte – das Vieh aus den Ställen des Runotterhofes und des Schupflehens am Taubensee; item einige Kühe, Kalben und Öchslein, die man am Abend noch abstechen mußte, weil sie die Nacht nicht überlebt hätten; item ein paar Dutzend Schweine, die gesund und vergnügt waren; item sehr viele, starr am Gürtel hängende Gänse, Enten, Hühner und Tauben. Die milchenden Geißen hatten die Exekutierer nach altem Rechtsbrauch und aus Barmherzigkeit den Kranken und Greisen gelassen, auch das zur Notdurft des Lebens nötige Brot und Mehl, samt Schmalz und Salz. Doch alle versteckten Spargelder hatten sie aufgestöbert. Acht Reiter konnten sich sogar in vier rheinische Goldpfennige teilen, die sie in den Strümpfen einer alten Frau gefunden hatten. Diese acht Reiter richteten dem mit verbundener Faust umherwandelnden Marimpfel wunderliche Grüße von seiner Schwägerin aus, vom Weibe des Mareiner.

In der Nacht begann es grob zu schütten. Viele Tage währten diese ruhelos wechselnden Gewitter. Die Bäche traten über die Ufer, die Straßen wurden zu dickem Morast, um alle Berge und Wälder hingen die schweren Nebel. Während dieser nassen Tage wanderten zwischen Berchtesgaden und den armen Chorherren von Hall die protestierenden Pergamente hin und her. Mit jeder Antwort verschärfte sich die Tonart.

In der nächtlichen Kapitelsitzung, bei der man zu Berchtesgaden die Entgegnung auf ein drohendes Schreiben des heiligen Zeno beriet, kam es trotz allem Ernste der Zeit zu einer großen Lustigkeit. Sie wurde verursacht durch ein Papier, das am dunklen Abend dem Propste mit einem stumpfen Bolzen in die Stube geflogen war. Hellsehende Augen hätten den Gram und Zorn eines zerbrochenen Menschenherzens aus diesem Brief herausgelesen; doch auf die Gadnischen Chorherren, die ihn durch die Brille dieser üblen Tage lasen, wirkte er belustigend in seinem weitschweifigen Stil, der mit dem Schwulste hochtrabender Herrenworte überladen war. Ein Bauer – für den Gadnischen Hof ein dem Strang verfallener Meutrer und landflüchtiger Brandstifterkündete in diesem Brief seinem einstigen Lehensfürsten die Treu und sagte ihm Fehde an, wider Blut und Leben, wider Gut und Land. Der Brief war unterschrieben: »Runotter der Ramsauer, ehmals Richtmann der Gnotschaft in Treu und Redlichkeit, itzt, nach Gotteswillen Feind und Widerpart der Herren, so da Mißtreu und Unrecht heißen und so man vertilgen muß von der Welt.«

Doch eines mußten die lachenden Herren zugeben: Der Bauer, der diesen drolligen Brief verfaßt hatte, konnte sich eines geschickten Botengängers rühmen. Dieser Bote hatte sich von irgendwo außer Lands bis an das Gadnische Stift geschlichen und war den Augen aller Wachen entronnen. Und ein guter Armbruster mußte das gewesen sein, der die um den stumpfen Bolzen gewickelte Epistel in der Abenddämmerung von der Straße außerhalb des Hirschgrabens durch die kleine Fensterluke der Fürstenstube zu schießen verstand.

Der Fehdebrief des heiligen Peter wider den heiligen Zeno war geschrieben und lag, gesiegelt und in einer Blechkapsel verschlossen, zur Albsendung bereit. Nur besseres Wetter mußte abgewartete werden. Und um Zeit zu gewinnen und rüsten zu können, wechselte man hoch immer Pergamente mit gereiztem Inhalt, doch mit höflichen Anreden.

Zum Schaden für Land und Leute machte die Arbeit des Friedens Feierabend, und die Arbeit für den Krieg begann. Herren ritten davon, um Geld zu borgen, wo es zu kriegen war. Söldlingswerber wurden mit zärtlichen Verheißungen nach vielen Orten gesandt. In den Korn- und Haferkammern wurde lärmend geschanzt. Die Backöfen und Selchereien rauchten durch Tag und Nacht. Die Schneider bekamen Schwielen an den Fingern, und ruhelos hämmerten die Hufschmiede, die Schwertfeger und die Wehrklempner. Mit liebevoller Sorgfalt behütete man die Annasusanne und erhielt sie bei geölten Rädern. Steinkugeln wurden gemeißelt und mit Blei umgossen. Sechs Karren sandte man nach Salzburg, um Pulver zu holen; sie kamen nicht leer zurück; doch sie brachten nur Salpeter und Schwefel; der Salzburger sagte: Da es in den bayrischen Landen zwischen Herzog Ludwig und Herzog Heinrich bedenklich gäre, könne er aus Vorsicht seines trockenen Pulvers nicht entraten. In dieser Ausrede war ein Körnchen Wahrheit; seit dem Konzil in Konstanz – auf welchem Herr Ludwig im Bart bei Beredung alter Händel den Vetter Heinrich von Landshut als ›Sohn eines Kochs‹ beschimpft, und Herzog Heinrich diese Schmach in einem meuchlerischen Überfall mit sieben Schwertstreichen an seinem Vetter Ludwig gerächt hatte –, seit diesem heiligen Konzil zu Konstanz erschienen die Dinge zwischen Ingolstadt und Landshut sehr bedrohlich. Aber Salzburg hatte noch andere Gründe, sich in den Streit, der zwischen St. Peter und St. Zeno entbrannte, nicht hilfreich für den ersteren einzumischen. Jede Schwächung des Stiftes zu Berchtesgaden war für Salzburg eine Verheißung kommender Gelegenheiten, die sich nützen ließen. Und statt den Gadnischen Herren, die schon hoch in der Kreide standen, das, teure, fertige Pulver auf Borg zu geben, kreditierte man ihnen lieber den schlechten Salpeter und Schwefel, den der vorsichtige Salzburger Büchsenmeister nicht mehr zu vermahlen wagte.

Also wurden zu Berchtesgaden, in sicherer Entfernung vom Stifte, flink drei Pulvermühlen errichtet und zu ihrer Bedienung in der aus allen Ländern zusammengewürfelten Knappschaft des Salzwerkes die Leute gewählt, die von solchen Dingen einige Kenntnis hatten. Gleich zu Beginn der Arbeit flog eine der drei Mühlen unter dumpfem Donnerschlag in die Luft. Dabei wurden zwei Knappen getötet. Der eine war ein Schwabe, der verblutend noch sagen, konnte: »I hab mer aber scho älleweil denkt, es wird emal pumpere!« Der andre, der nimmer sprach weil er keinen Kopf mehr hatte, war Ulrich Eirimschmalz der Menzer. Sein früher Tod hatte zur Folge, daß man im Berchtesgadner Land für einige Jahrzehnte vom Tagdieb Henrichen Gänsfleisch zu Gutenberg kein Wort mehr hören sollte.

Das grauenvolle Geböller hatte die Frommen im ganzen Lande abergläubisch gemacht. Sie versahen sich keiner guten Dinge von dieser Fehde wider den heiligen Zeno. Doch die Herren, da sie, mit wenigen Ausnahmen, nicht zu den Frommen zählten, blieben von solch törichtem Aberglauben unberührt und setzten feste Hoffnung auf ihre hundertachtundsechzig Söldner und wehrfähigen Holden, auf ihre guten Grenzschanzen, auf die acht alten und zwölf neugeschmiedeten Faustbüchsen, auf die liebe Annasusanne und auf die unanzweifelbare Tatsache, daß die Gadnischen im Rücken von der Salzburger Seite her Gefahr nick zu befürchten hatten. Auch beim Hallturm war nur eine kleine Scharmützelei, kein ernstlicher Angriff zu besorgen. Hier schob sich zwischen den heiligen Zeno und den heiligen Peter der Burgfrieden der bayrischen Feste Plaien als ein breiter Riegel herein. Und wie Herr Pienzenauer bereits erkundet hatte, gedachte der Burghauptmann von Plaien sowohl den Gadnischen, wie auch den Haller Chorherren jeden kriegerischen Durchzug durch das Gebiet seines Herrn, des Herzogs Heinrich von Bayern-Landshut, mit strenger Unparteilichkeit zu verwehren. So hatte man's nur beim Schwarzenbache ganz allein mit dem heiligen Zeno zu tun, dem der heilige Peter von Berchtesgaden an Helmen, Rossen, Feuerwerk und Kriegsbereitschaft unzweifelhaft überlegen war.

Am Abend des 13. Juli – als der Regen versiegte und die Nebel sich zu heben begannen – übersandten die Gadnischen Herren, die nicht abergläubisch waren, dem heiligen Zeno den seit einer Woche in Bereitschaft liegenden Fehdebrief.

Gegen Mitternacht marschierten vom Hallturm dreißig Fußknechte ab, um die auf den nördlichen Hängen des Lattengebirges liegenden Bauernhöfe des heiligen Zeno, die ohne Berührung des bayrischen Landes zu erreichen waren, mit Krieg zu überziehen und zu brandschatzen. Die Bauern, von Franzikopus Weiß gewarnt, hatten sich rechtzeitig mit Weib und Kind und Vieh und Habe geflüchtet. In den leeren Stuben gab es keinen Kampf. Es gingen nur im Verlaufe dieses Nachtangriffes, bei dem die Nebel sich verzogen und die Sterne mit scheuer Neugier vom Himmel herunterblickten, achtundzwanzig Heustädel und sechzehn Lehenshäuser des Haller Heiligen in Flammen auf. Für Leute, die ferne drunten im Tal der Saalach wohnten, sah dieser erste Sieg des heiligen Peter aus, als wären vierundvierzig schöne Sterne vom Himmel auf die liebe Erde gefallen.

Im Grau des Morgens, der einen reinen Tag bescheren wollte, krachte auf der südlichen Seite des Lattengebirges, bei der Schwarzbachwacht, der erste ernsthafte Schuß der Annasusanne gegen das Torgemäuer des Haller Grenzwalles. Ein wundervolles Echo rollte über die steilen Waldgehänge des engen Tales hin. Fallende Steinbrocken polterten, und der heilige Zeno hatte ein böses Loch in seinem Mantelsaum. Die drei Mannsköpfe, die noch immer auf der Mauer staken und denen der vierzehntägige Regen die Haare glatt um die Schläfen frisiert hatte, machten bei geschlossenen Augen sehr kummervolle Gesichter.

Das Feuer der Gadnischen wurde, obwohl aus den Scharten, des feindlichen Walles, zwölf mennigrote Faustbüchsen drohten, von der Besatzung der Haller Schanze nicht erwidert. Und die Leute des heiligen Zeno deckten sich so gut, daß man nur ab und zu einen Helm hinter den Scharten huschen sah.

Der zweite Schuß der Annasusanne bohrte in die feindliche Mauer ein neues Loch, das flink wieder von innen mit Bruchsteinen zugestopft und verkeilt wurde.

Bis zur Mittagsstunde krachte die Annasusanne siebenmal. Immer wieder in dem engen Tal dieses wundervolle Gedonner mit rollendem Echo, indes die Sonne schön zu scheinen begann und den nassen Farbentopf der Welt in Frische glänzen machte. Doch an der feindlichen Mauer, obwohl sie schon sehr zahnlückig herüberguckte, wollte die Sache nicht flecken. War die Augsburger Kammerbüchse kein Meisterwerk? Oder fehlte dem zu Berchtesgaden fabrizierten Pulver die richtige Triebkraft? Mao sah, daß die Annasusanne noch sehr oft läuten mußte, bis da drüben eine sturmfähige Bresche entstehen würde.

Sigwart von Hundswieben, der als Büchsenmeister fungierte, wurde ungeduldig und hatte einen Einfall, den er als ›hannibalisch‹ bezeichnete. Im Kerne war's ein ganz simples Rechenexempel: Soll man dreißig Gulden bezahlen, so muß man nicht dreißigmal einen Gulden auf den Tisch legen, man kann auch zehnmal je drei Gulden blechen.

Die brennheiße Annasusanne wurde mit kaltem Wasser gekühlt. Dann verabreichte man ihr die dreifache Ration Pulver. Man trieb den Holzklotz mit festen Schlägen ein und setzte drei Kugeln drauf. Da war die Annasusanne so gesättigt, daß ihr der letzte, mit Blei umgossene Steinbissen noch mit einem weißen Blink zum Munde herausguckte. Feinpulver wurde ins Weidloch gegeben, und auf des jungen Büchsenmeisters Kommando sollte der Luntenmann den langen, mit dem brennenden Schnürlein umwickelten Eisenzagel auf die Zündung senken. Diesem kriegegerischen Instrumente hatte Sigwart von Hundswieben in seiner scherzhaften Art den Namen ›Büchsenlebner‹ gegeben, weil dieser Funkenzagel im Schoß der Annasusanne hochzeitlich das feuersprühende Leben erzeugte.

Mit Ausnahme der Feuerwerker rückten alle Herren und Knechte vor den Wall, um bei Niederbruch einer starken Bresche gleich mit dem Sturm zu beginnen. Der erfinderische Büchsenmeister Hundswieben hatte sich auf eine Mauerkante geschwungen, um die Wirkung seines hannibalischen Einfalles besser erspähen zu können. Drüben hinter dem feindlichen Walle mochten die mit Bolzen und Pulver sparenden Helden des heiligen Zeno nichts Gutes ahnen; kein Helmbusch und keine Schaller war zu sehen; die gegnerische Mauer stand wie ausgestorben da und wartete des Schicksals, dem sie nimmer entrinnen konnte.

In Spannung und heiß erregt, lang den Hals streckend, kommandierte Sigwart von Hundswieben mit glockenheller Jünglingsstimme:

»Den Lebner an die Büchs!«

Eine Feuergarbe, ein grauenvoller Knall, ein Dröhnen der Berge, als wäre das Ende der Welt gekommen. Drüben rasselte das feindliche Gemäuer, die drei Köpfe mit den kummervollen Gesichtern verschwanden im qualmenden Mörtelstaub, das Tor des heiligen Zeno lag in Scherben, und mit dem Feldschrei »Hie Sankt Peter!« begannen die Gadnischen Herren und Knechte den Sturm gegen die klaffende Bresche.

Von diesem Siegeslaufe blieb der junge Hundswieben ausgeschlossen. Er stand, wie von Schreck versteinert, gegen die Mauer gelehnt. Irgendein Fürchterliches mußte da geschehen sein. Während ihn der dicke Pulverdampf umqualmte, fühlte er etwas Heißes in seinem Gesichte. Das Blut rann ihm über Kinn und Brust herunter. Und als er mit scheuen Händen an sich herumtastete, vermißte er auch ein Stück seines Helmes, einen Lappen seines Haarbodens und dazu noch die Nasenspitze. Die Mauerkante, die jetzt ganz zerbröselt war, hatte ihn vor Üblerem behütet.

Aber wo war die Annasusanne? Der Platz, auf dem sie gestanden, war leer. Ihre Trümmer lagen in weitem Kreise zerstreut. Sie hatte bei diesem hannibalischen Schusse mehr geleistet, als man von ihr verlangte, hatte nicht nur nach vorne gegen den heiligen Zeno geschossen, auch nach rechts und links und nach hinten hinaus gegen den heiligen Peter. Die drei Feuerwerker lagen als regungslose Menschenpartikel in einer roten Lache.

Doch drüben bei der feindlichen Schanze hallte das Siegesgeschrei der Stürmenden. Jetzt ein kurzes, wunderliches Schweigen. Dann folgte ein wirrer Lärm, der sich mischte aus Zorngeschrei und Gelächter. Hinter der niedergebrochenen Tormauer lag ein Toter; sonst fanden die Sieger den Wallgang und das Mauthaus völlig geräumt. Nur die zwölf dräuenden Faustbüchsen waren noch da – hölzerne Brunnenröhren, die man mit Mennige rot angestrichen hatte. Und von der Schanze dehnte sich ein grüner, das ganze Tal von Wand zu Wand erfüllender See auf dreihundert Schritte hin. Der Feind hatte den Schwarzenbach durch einen Felsenwall gestaut und eine neue, feste Verschanzung hinter dem angelaufenen See errichtet, der das Land des heiligen Zeno vor jedem Einfall mit Rossen und schwerem Kriegsgerät behütete.

Draußen auf dem See, schon an die hundert Schritt weit, ruderte die kleine Besatzung der Mautschanze auf einem Balkenfloß der neuen Befestigung zu. Unter dem Geschrei der siegreichen Stürmer traten die Gadnischen Armbruster und Faustschützen an. Es schnurrte und knallte. Ein Hagel von Bolzen und Bleikugeln flog in den See hinein. Die Menge tat's. Als die Floßbalken den Stauwall erreichten, trugen sieben leidlich gesunde Leute vier Schwerverwundete an das neue Ufer des heiligen Zeno.

Den Siegern blieb geringe Arbeit. Zu rauben gab es nichts. Man steckte das kleine Mauthaus in Brand und begrub die drei Köpfe mit kummervollen Gesichtern. Den Mann, den der heilige Zeno verloren hatte, warf man in den neuen See, um für die nahe Berchtesgadnische Schanze die Luft nicht durch Verwesung verpesten zu lassen.

Weiteren kriegerischen Unternehmungen war vorerst ein unbezwingbarer Riegel vorgeschoben. Über die steilen Waldgehänge des engen Tales brachte man weder Karren noch Roß hinüber. Und kletternde Fußknechte wären ein leichtes Ziel für die feindlichen Faustschützen und Armbruster geworden. Doch es war diesem sperrenden See, der dem heiligen Peter den Siegeslauf behinderte, auch etwas Gutes nachzusagen. Wie die Gadnischen da nicht hinüberkamen, so kam die Kriegsfurie der Herren von Hall auch nicht herüber. Man brauchte also in der Berchtesgadnischen Mautschanze keine große Besatzung zurückzulassen und konnte die Hauptmacht für die Ereignisse sparen, welche die Haller vermutlich an andrer Stelle vorbereiteten, weil sie hier am Schwarzenbach mit ihren Kräften so vorsichtig geknausert hatten.

Die drei Feuerwerker, denen der Heldentod beim letzten Knall der Annasusanne zu einem schnellen und schmerzlosen Vorgang geworden war, bekamen am Schwarzenbach ein gemeinsames Grab und Kreuz. Und so zog der heimkehrende Haupthaufe des heiligen Peter am Abend zu Berchtesgaden nur mit einem einzigen Blessierten ein, der ohne Helm geritten kam und auf soldatischem Leib einen jungen Frauenkopf mit weißer, nach aufwärts gerutschter Kinnbinde zu tragen schien.

Der Verlust der Kammerbüchse erregte in Berchtesgaden große Bestürzung bei Herren und Volk. Doch die Not ist ein Schmied, der die Schwachen zu Starken hämmert. Noch am Abend meldeten sich beim Propste zwei mutige Männer: ein Wagenschlosser, der eine neue Anna aus eisernen Stäben und Ringen schweißen wollte, und ein Erzformer, der eine neue Susanne aus Kupfer und Zinn zu gießen wagte. Weil es für solchen Guß an Speise fehlte, warf man noch vor Nacht eine schadhafte Glocke vom Turm der Pfarrkirche herunter.

Trotz der Hilfe, die sich da zeigte, blieb Herr Peter Pienzenauer sorgenvoll. Ein Späher hatte am Abend zwei Nachrichten gebracht, eine gute und eine böse. Die andächtigen Bittgänger aus der Ramsau, nachdem sie bei der Sperrung des Schwarzenbachtales um ihrer selbst willen kräftig mitgeholfen hatten und jetzt neben den Stiftsmauern zu Hall in Bretterschuppen und Zelten hausten, weigerten sich hartnäckig, mit bewaffneter Hand an einem Fehdezug gegen den heiligen Peter teilzunehmen; sie wollten nur fromm und gläubig zum heiligen Zeno beten, ihr Vieh betreuen und bessere Zeiten abwarten; sonst nichts. Das war die gute Nachricht, die einen Fehler in der staatsmännischen Rechnung des Franzikopus Weiß bedeutete. Aber sie stand in logischem Zusammenhang mit der bösen Kunde, daß Franzikopus am Morgen in Begleitung eines mit reichen Geschenken vollgepfropften Wagens nach Burghausen gezogen wäre, um Beistand bei Herzog Heinrich zu erflehen.

Goldene Geschenke pflegten in Burghausen immer zu wirken. Und da würde wohl eine hübsche Teilung beredet werden. Die Ramsau für den heiligen Zeno, das Land zwischen der Plaienburg und Bischofswies, vielleicht das ganze Gadnische Gebiet für Herzog Heinrich?

Propst Peter dachte in dieser Sorge an das gute alte Sprichwort: Stärker als zwei Wölfe ist der Bär.

Von den österreichischen Schirmvögten, die in der Ferne wohnten und mit den Hussiten zu schaffen hatten, war Hilfe in kurzer Frist nicht zu erwarten. Und Salzburg würde keinen Beistand leisten ohne schwere Verpfändung. Nur eine Hilfe gab's: Man mußte den Bär über die Wölfe hetzen.

Ein verläßlicher Bote mußte reiten! Noch in der Nacht! Auf weitem Umweg durch das Straubinger Land nach Ingolstadt, zu Herzog Ludwig im Bart!

Fürst Peter wußte unter seinen Chorherren keinen, der ihm für solch einen gefahrvollen Ritt verläßlich genug erschien. Doch der bisherige Verlauf dieses Ochsenhandels hatte ihn bereits aufmerksam gemacht auf' eine neue Kraft, in der sich Jugend und Besonnenheit miteinander zu paaren schienen.

Es war schon dunkle Nacht geworden. Klirrende Wachen machten die Runde, und in den Werkstätten des Stiftes wurde noch fieberhaft gearbeitet. In der Marktgasse hatten die vor den Schrecken des Krieges zitternden Bürger sich schon in ihre Häuser verkrochen und saßen hinter verriegelten Türen und geschlossenen Fensterläden. Nur an einem einzigen Haus der Marktgasse strahlte noch rötlicher Lichtschein aus einem Fenster zu ebener Erde. Herr Ruppert Someiner, seit vierzehn Tagen von einem krankhaft erscheinenden Ameisenfleiß befallen, saß zu später Stunde noch in seiner Amtsstube, addierte die neuen Schulden des Stiftes zu den alten und stöberte in vergilbten Pergamenten nach eingeschlafenen Rechten, die man wieder aufwecken und zu einem Goldsegen für das Stift verwandeln könne. Gefunden hatte er noch nichts. Doch von seiner ruhelosen Arbeit erwartete er mit Zuversicht einen raschen und mirakulösen Aufschwung des Berchtesgadnischen Landes.

Er war in eine Urkund aus alten Reiten, so vertieft, daß er den Klöppelschlag am Haustor, den Schritt des Knechtes und das Klirren des Riegels überhörte.

Als die Tür der Amtsstube sich öffnete und Fürst Peter im Licht der Lampe stand, verlor der Amtmann vorerst die Sprache. Und bevor ihm die Fähigkeit zurückkehrte, von seinen Goldmacherplänen zu reden, winkte der Propst mit der Hand. »Bleib, Ruppert! Bleibe bei deiner wichtigen Arbeit! Ich suche deinen Sohn. Wie geht es ihm?«

»Der Arm – sssssein Arm –«, Someiner, der seit vierzehn Tagen erschreckend abmagerte, schien auch vor der Gefahr zu stehen, ein Stotterer zu werden.

»So?« nickte der Fürst. »Besser, also? Dann laß dich nicht stören, mein fleißiger Ruppert! Ich finde schon hinauf.« Jede Antwort abschneidend, zog der Propst die Türe zu.

Droben, am Ausgang des Treppenschachtes begegnete er der weißen, aufgeregten Frau Marianne, die der Knecht von dem hohen Besuch, der ins Haus gekommen, verständigt hatte. Man sah ihr an, wie schwer sie unter dem schweigsamen, aber um so schmerzhafteren Kriege gelitten hatte, der seit zwei Wochen im Hause war und Vater und Sohn entzweite. Beim Anblick des Fürsten schoß ihr gleich wieder der Gedanke an eine neue Gefahr ins Herz. Auf die Frage des Propstes, wie es dem Kranken ginge, klagte sie: »Ach, gnädigster Herr, mit dem Buben hab ich ein Kreuz! Sein Arm, gottlob, der wird ja wohl bald wieder gut. Aber seine Seel will nimmer heilen. Allweil ist er so ein heller und froher Mensch gewesen. Jetzt ist er ein völlig andrer. Ist reizbar und jähzornig und hat kein Lachen nimmer. Die bösen Zeitläuft müssen ihm auf dem Herzen liegen wie ein Berg.«

Fürst Peter nickte stumm.

»Ich kenn mich in dem Buben schier nimmer aus. Ach, Herr! Noch nie ist ein böser Wunsch in mir gewesen. Aber den heiligen Zeno möcht ich jetzt am liebsten hinausschelten aus dem Himmel – Gott verzeih mir die Sünd!« Frau Marianne öffnete die Stubentür und sagte sanft: »Schau, Bub, der gnädigste Herr ist da!«

Lampert, den linken Arm in schwarzer Binde, saß unter den flackernden Kerzen des Eisenreifens am Tisch, vor dem Kriegsbuche des Abraham von Memmingen. Er hob das ernste, blasse Gesicht mit den tiefliegenden Augen, die in schlaflosen Nächten heiß geworden. Beim Anblick des Fürsten sprang er vom Sessel auf.

»Wie geht's dir, Lampert?«

»Gut, Herr!« Lampert nahm den Arm aus der Binde. Seine Mutter wurde blaß und machte ihm hinter dem Rücken des Fürsten abwinkende Zeichen. Doch Lampert sprach weiter: »Bin ich nötig, so kann ich morgen in den Sattel steigen.« Es lag noch immer ein rauher Schleier um seine Stimme; und wenn er sprach, kam immer wieder ein leichter Hustenstoß, wie von einem quälenden Reiz in der Kehle. »Mein rechter Arm ist gesund, der linke wird ausreichen für den Zügel.«

»Das hör ich gern. Aber dich brauche ich zu einem besseren Ding als zum Dreinschlagen. Hältst du dich kräftig genug für eine weite und anstrengende Reise?«

Frau Marianne hatte keinen Tropfen Blut mehr im Gesicht.

Lampert reckte sich. »Für alles, was nötige Arbeit ist!« Diesem peinvollen Zerwürfnis mit dem Vater zu entrinnen, der ruhelosen Ängstlichkeit seiner Mutter und den quälenden Gedanken seiner untätigen Einsamkeit entrückt zu werden – das war wie Erlösung für ihn, wie Erfüllung einer brennenden Sehnsucht.

»Frau Marianne«, sagte der Fürst, »geh und richte, was dein Sohn für eine Reise braucht, die eine Woche dauern kann. In einer Stunde wird er reiten müssen.«

»Reiten?« stammelte die Amtmännin. »In Feindesland?«

»Nein, gute Mutter!« Der Propst lächelte. »Zur Beruhigung deiner Gluckenseele schicke ich deinen Sohn in friedsame Gegend.«

»Mutter«, fiel Lampert in Erregung ein, »ich bitte dich – das eilt.«

»Ja, ja, ja, Bub! So schau, ich geh doch schon!« Frau Marianne huschte davon und klammerte sich an den Trost von der friedsamen Gegend, obwohl sie nur halb an diese Verheißung glaubte. Während sie in Lamperts Stube den Mantelsack und die Satteltaschen, packte, die nötigste Zehrung in einen Lederbeutel tat und sechs Goldstücke einzeln in den Saum des Wamses nähte, hörte sie unablässig aus der Wohnstube herauf den leisen Summ der beiden Männerstimmen. Was die zwei da bereden mochten? Frau Marianne hätte in der Qual ihrer Muttersorge ein Mäuschen sein und sich durch den Kammerboden hinunterbeißen mögen, um lauschen zu können. Bei solchem Wunsche wurde sie von einer galligen Erbitterung befallen. Diese Zeiten! Und diese Menschen, diese Narren, diese Ochsen! Und weil sie nicht wissen, was Redlichkeit und Frieden heißt, weil sie Torheit und Schlechtigkeit aufeinanderbauen wie Kinder die hölzernen Klötzlein, drum muß eine Mutter ihren Sohn, den sie mit Schmerzen geboren, den sie mit aller Zärtlichkeit einer guten Seele umklammert, hinausreiten lassen in Not, Gefahr und Elend! Bei finsterer Nacht! Denn daß da draußen der Vollmond freundlich schimmerte, das sah Frau Marianne in ihrem sorgenvollen Zorne nicht. Sie sah nur die schwarzen Dinge des Lebens und dachte: Wenn es nach Meinung der Mütter ginge, dann gäbe es bald keinen Krieg mehr, und ewiger Friede wäre auf der schönen Erde. Da sollten sich die Mütter einmal zusammentun, wie die Fürsten ihre Heerhaufen sammeln. Und sollten diesen unsinnigen Mannsbildern und Streithammeln so lange, die naßkalten Putzfetzen um die Ohren schlagen, bis sie zu Vernunft und friedlicher Besinnung kämen.

Als Frau Marianne ihr mütterliches Fürsorgewerk vollendet hatte und hinunterkam zur Tür der Wohnstube, klangen da drinnen noch immer die zwei Männerstimmen. Sie wagte nicht einzutreten. Doch in dieser brennenden Minute ihrer Muttersorge hielt sie es für keine unschöne Sache, an der Tür zu lauschen. Nur lauschen? Frau Marianne war eine von jenen Müttern, die fähig sind, für Wohl und Glück ihres Kindes das schwerste Verbrechen zu begehen und dabei des Glaubens zu sein, daß sie einem heiligen Gebot gehorchen.

Sie hörte Herrn Peter Pienzenauer mit ernsten Worten sagen: »Nein, Lampert! Als redlich fühlender Mensch magst du recht haben: Der Anfang dieses üblen Handels war eine Torheit, die man hätte vermeiden können. Aber nun sind die Dinge so, wie sie sind. Und da muß ich denken und fühlen als Fürst. Stehen große Werte auf dem Spiel, so scheiden Mitleid und Barmherzigkeit mit einzelnen Menschenschicksalen völlig aus. Nach dem, was du mir jetzt über den Runotter sagtest, denk ich anders von diesem wunderlichen Manne als vor einer halben Stunde noch. Aber das zählt nicht mehr. Ein paar Menschen? Was gut das? Jetzt muß ich mich wehren um mein Land. Und ich hoffe, da kann ich mich auf dich verlassen? Nicht?«

»Ja, Herr! Mit Leib und Seele!« klang Lamperts heisere Stimme. »Aber den Gedanken, daß wir an einem Karren ziehen, der mit einem Wirrsal von Recht und Unrecht beladen ist, bringe ich nicht mehr aus mir heraus. Freilich, die andern da drüben, die machen es nicht anders als wir. Aber immer muß ich mich fragen, wie Gott das geschehen lassen kann, daß aus dem Unverstand einer Stunde das Elend vieler Jahre und das Leiden von tausend Menschen wachsen darf.«

Frau Marianne hörte ein kurzes Lachen und dann die Stimme des Fürsten: »Da bin ich überfragt. Und du, Lampert, du bist sehr neugierig, mehr, als nötig ist für die Ruhsamkeit eines Menschenlebens.«

»Herr?«

»Was?«

»In finsteren Nächten muß ich mich immer fragen, ob Gott, während die Menschen sinnlos hadern, in kühlem Schatten ruht oder in heißer Sonne liegt.«

Ein kurzes Schweigen. Und in Mutter Marianne schlugt das angstvolle Herz wie ein schmerzender Hammer.

»Lampert? – Das ist eine seltsame Frage. Vielleicht versteh ich sie. Vielleicht auch nicht. Im kühlen Schatten ruhen die Müden, in heißer Sonne liegen die Trägen. Das sind Eigenschaften des Lebens. Wenn Gott unermüdlich und immer werksam ist, dann müßte ihm das träge, müde Leben eine ferne, gleichgültige Sache sein? Nein! Lassen wir das! Da sind Abgründe. Gott hat uns Wahrheit gegeben. Manchmal fühle ich, wie du, daß sie nicht ausreicht. Aber bessere Wahrheit kann ich als Mensch nicht finden. So muß ich warten, bis Gott sie mir sagt. Schweigt er, so bleib ich ohne Neugier und nehme in Licht und Dunkelheit die Dinge des Lebens so, wie sie mir erscheinen. Aber solche Worte sind unfruchtbar wie alte Frauen. Und die Stunde drängt. Geh und sieh, Lampert, wie weit deine Mutter mit der Arbeit für deine Reise kam!«

Erschrocken, mit verstörten Augen, trat Frau Marianne rasch in die Stube und sah, wie Lampert einen gesiegelten Brief, der auf dem Tische lag, an seiner Brust verwahrte. »Alles fertig!« stammelte sie. »Ist alles schon fertig!«

»Brav, Mutter Marianne!« Der Propst legte ihr lächelnd die Hand auf die Schulter. »Und ganz ohne Sorge! Ich habe deinem Sohne sicheres Geleit verschrieben. Und gebe ihm von meinen Hofleuten den verläßlichsten mit, den Marimpfel.«

»Nein, Herr!« sagte Lampert hart. »Den nicht! Ich nehme Heber den Stallknecht meines Vaters mit. Das ist ein guter und froher Mensch. Aber um drei feste Pferde muß ich bitten. Von unsern Gäulen ist nur der Moorle zu brauchen. Den reit ich, so lang er aushält.«

Fürst Peter nickte. Dann sagte er schmunzelnd: »Bei so langem Ritt in den Mondnächten wirst du Zeit haben, um über die Wahrheit nachzudenken, von der wir sprachen. Bringst du was heraus dabei, so sag mir's, wenn du wieder heimkommst! Ich werde dir dankbar sein. Und jetzt eile dich, daß du in den Sattel kommst! Gott soll dich schützen auf der Reise – Gott, von dem ich auch nach diesem bösen Ochsenhandel noch glauben werde, daß er nicht trag ist und seiner Liebe nicht müde wird.«

Als Herr Pienzenauer das Haus verlassen hatte, blieb hinter ihm ein hetzendes Gewimmel. Nur Vater Someiner – als er vernahm, um was es sich handelte – beteiligte sich nicht an diesem Aufruhr und kehrte mit dem Anschein unerschütterlicher Ruhe zu seinen Pergamenten zurück. Sein abgemagertes Gesicht war gelb. Er empfand diese dunkle, zwischen Lampert und dem Fürsten spielende Vertraulichkeit, von der er sich ausgeschlossen sah, als eine neue, schwere Kränkung. Und der Sohn begann in des Vaters Augen zu einem wühlenden Feinde zu werden, der ihn aus Amt und Würden wie aus der Gnade des Fürsten zu verdrängen suchte.

Vom Stifte wurden drei gute Pferde geschickt. An zweien war Packung und Sattelzeug mit grauen Reiseschabracken überschnallt.

Mutter Someiners Abschied von Lampert wurde eine lange und harte Sache. Als der Sohn sich vom Vater verabschieden wollte, erhob sich der Amtmann gar nicht von seinem heiligen Sessel. Er nickte nur und sprach: »Ja, ja, schon gut! Reit nur! Auf der hohen Schul zu Prag ist wohl doziert worden, wie man sich schön Kind macht bei seinem Fürsten?«

Wortlos schwang Lampert sich in den Sattel, faßte mit der rechten Faust den Zügel und legte den linken Arm wieder in die schwarze Binde.

»Leb wohl, Mutter!«

Als die Pferde im Mondschein über das grobe Pflaster davonklapperten, kam es in der Amtsstube zwischen Frau Marianne und ihrem Gatten zu einem fürchterlichen Auftritt, der für die sorgenvolle Mutter mit heißen Tränen und für den tiefgekränkten Fürstendiener mit einem vernunftwidrigen Tobsuchtsanfall endete.

Zwischen dem heiligen Peter und dem heiligen Zeno stand der Krieg erst vor der Entwicklung. Doch in dem einst so friedsamen Hause Someiner schlug die um der Ochsen willen aufgebrochene Fehde bereits ihre grimmigen Schlachten.

9

In der gleichen Vollmondnacht, in welcher Lampert Someiner dem Salzburger Grenzwall am Hangenden Steine zujagte, erreichte Franzikopus Weiß mit seinem Gesandtschaftswagen das steile Ufer der Salzach. Die Räder knatterten sanft auf schöner Straße. In Herzog Heinrichs Landen gab es gut gepflegte Wege. Die hatte er nötig für seine vielen Truppenzüge. Auch sonst noch hatten diese guten Straßen einen Nutzen. Sie lenkten fast den ganzen italienischen Handel durch niederbayrisches Gebiet und zu Herrn Heinrichs ertragsreichen Mautschranken. Viel Geld verdiente er an diesen guten Straßen, die seine fronenden Bauern bauen und erhalten mußten. Und in keinem Reichsland gab es Wege, die so sicher waren. Machte sich ein Straßenräuber unliebsam bemerkbar, so hatte er flink die Harnischreiter Herzog Heinrichs auf den Fersen und wurde ohne juristische Umständlichkeiten an den nächsten Baum befördert. Der unversöhnliche Vetter Ludwig zu Ingolstadt, der kein Freund von Todesurteilen war, hatte über den Vetter Heinrich das bissige Wort geprägt: »Zu Landshut und Burghausen henkt man, wie man im Spittel hustet!« Aber die Handeltreibenden rühmten es dem Herzog Heinrich nach, daß man in seinem Lande reise wie in einem Rosengarten. Freilich, viele rote Blutrosen hatten im Straßenstaube blühen müssen, bis der niederbayrische Rosengarten so sicher wurde.

Auf solch einer sicheren Straße konnte auch Franzikopus reisen, ohne viel Geleit zu führen. Er hatte nur zwei gewaffnete Reiter und zwei dienende Brüder mit aufmerksamen Gesichtern bei sich. Seine beiden Läufer hatte er schon am Nachmittage vorausgeschickt, um dem Herzog seine Ankunft melden zu lassen. Das Geschäft, das Franzikopus brachte, war es wert, daß Herr Heinrich für eine halbe Nacht des Bettes vergaß.

Von der hohen Waldböschung, über die sich die Straße zum Tal der Salzach hinuntersenkte, konnte man im hellen Mondlicht die befestigte Stadt Burghausen, Herzog Heinrichs Sommerresidenz, gut überschauen.

Gleich einer langen steinernen Schlange zog sich da drüben die Doppelzeile der Bürgerhäuser am Ufer des rauschenden Flusses hin. Zwischen den Dächern stand die Pfarrkirche wie ein hochgewachsener Hirte zwischen kleinen Schafen. Von der Salzach bog sich ein breiter Wasserarm um den steilen Schloßberg herum, auf dem sich mit Wällen, Palisaden, Mauern, Türmen und vielen Dächern das herzogliche Schloß erhob gleich einer zweiten kleinen, langgestreckten Stadt, die von fünf Schluchten in sechs getrennte, durch Fallbrücken verbundene Festungen zerschnitten wurde. Die vielen Dächer waren überleuchtet vom friedlichen Glanz des Mondes. Kleine Fenster schimmerten wie blanke Silbermünzen; andre, hinter denen noch Licht war, blinkten rötlich wie Sterne bei dünnem Nebel.

Vor dem untersten Burgtor kletterte Franzikopus aus dem Wagen und ließ einen schön geschnitzten, mit blauem Stahl beschlagenen Schrein herausheben, der die Geschenke des heiligen Zeno von Reichenhall enthielt.

Seinen Troß mußte der Kaplan bei der Torwache zurücklassen. Zwei Soldknechte des Herzogs trugen den Schrein.

Auf langem Wege ging es durch fünf Burghöfe, die beim Geflacker der Pfannenfeuer von Wachen wimmelten. Es ging vorbei an hohen Kornkammern, Haferkästen und Arsenalen. Fünf Zugbrücken fielen vor Franzikopus und stiegen hinter ihm wieder auf.

Unter dem Tor des Schloßhofes empfing ihn der Kastellan, führte ihn zu einer trüb erleuchteten Halle und verschwand, um den Gast bei Herzog Heinrich zu melden.

Während Franzikopus in einem Lehnstuhl ruhte, überlegte er seine Anrede. Die ersten Worte verlangten Vorsicht. Sprach man den Herzog lateinisch an, so wurde er verdrießlich, weil er kein Latein verstand und das bekennen mußte. Und begrüßte man den Herzog in deutscher Sprache, so wurde er ärgerlich bei dem Gedanken: »Der redet Deutsch, weil er weiß, daß ich Lateinisch nicht verstehe.«

Franzikopus grübelte. Inzwischen stieg der Kastellan über zwei Wendeltreppen hinauf zu einem weißen, kahlen Korridor, dessen einziger Schmuck aus großen Hirschgeweihen bestand; Herzog Heinrich war ein leidenschaftlicher Jäger, der in seinen Wäldern das Hochwild überreichlich hegte und den Bauern nicht erlaubte, daß sie Hunde hielten oder ihre Felder durch Zäune schützten.

Eine schmale, niedere Tür führte zu einem großen, vielfenstrigen Raume. Rote Kerzen brannten mit starkem Harzgeruche auf vier Hirschgeweihen, die an eisernen Ketten unter der Balkendecke hingen. Um die Wände zog sich mannshoch eine braune, plumpe Täfelung mit Bänken und schweren Kästen. An der Mauer, die über diesem Holze frei blieb, war kein Bild, kein Schmuck, keine Kostbarkeit, nur eine Reihe handwerksmäßig gemalter Wappenschilder mit Spruchbändern. Auf jedem dieser Bänder wiederholten sich in großer Schrift die gleichen drei Worte: »Denk des Loys!«

Stühle wie in einer Bauernstube. Und in der Mitte des Raumes stand ein großer, schwerfälliger Tisch mit Papierrollen, Urkunden und Plänen, mit kleinen Modellen von Schanzen, Kammerbüchsen und hussitischen Heerwagen. An diesem Tasche, schreibend, saß ein Kahlköpfiger in schwarzem Ordenskleid, Nikodemus, des Herzogs geheimer Rat und kluger Finanzmann. Und neben dem Tische – mit den Fäusten am Gürtel, in roten Strumpfhosen und grauem Kittel, der nach Art der Bauernröcke geschnitten und mit Marderpelz gesäumt war – ging Herzog Heinrich auf und nieder, ein kleiner, frischer, brauner Herr von fünfunddreißig Jahren, zart gewachsen und flink beweglich, mit steil herausstechender Nase, mit den Aderwülsten des Jähzornigen an Hals und Schläfen. Dickes, streng gescheiteltes Schwarzhaar, das in kräuseligen Wülsten nach beiden Seiten strebte, umschattete das schmale, olivenfarbene Gesicht, aus dem die Augen eines Menschenverächters dunkel, stolz und lauernd herausbrannten. Er glich einem Südländer. Von seinem Urgroßvater. Kaiser Ludwig wiederholte sich kein Zug an ihm. Alles an Heinrich kam aus dem Blute seiner zierlichen Mutter Maddalena, die ein Kind des Barnabas Visconti war.

Dieser kleine Herzog, ein großer Fürst und kühner Kriegsmann, schien so scharf zu hören wie ein Iltis. Bevor die Tür sich öffnete, hatte er schon den leisen Schritt des Kastellans vernommen. Und kaum schob der alte Mann den Kopf zur Türe herein, da fragte Herr Heinrich: »Kam er?«

»Ja, Herr!«

»Wie sieht er aus?«

Der Kastellan zögerte mit der Antwort. »Wie einer, vor dem man sich hüten muß.«

»Dann flink herauf mit ihm!« Der Herzog wurde heiter. »Gott soll's, wollen!«

Bei der Türe fragte der Alte: »Soll man ihm Dach und Zehrung im Schloß bieten?«

»Nein! Der soll in der Herberg bleiben. Da verdient der Leutgeb, und ich spare mein Geld.«

Der Kastellan wollte gehen. Da klang durch die offene Tür, vom Korridor herein, ein tollendes Kinderlachen, das immer näher kam.

Der Herzog fuhr auf: »Was soll das? Warum ist der Junge zu so später Stunde nicht im Bett?«

Das feine, helle Lachen war schon nahe vor der Türe. Dazu klang eine leise, ängstliche Mädchenstimme: »Kind, Kind, Kind!« Lachend kam was Kleines über die Schwelle gewirbelt, in langem Hemdlein und mit nackten Füßen, ein vierjähriges Bübchen, gesund und kräftig, das glühende Gesichtl von wirren Locken umflogen.

In Zorn schrie der Herzog: »Man soll das pflichtvergessene Weibsbild stäupen und hinauswerfen!«

Erschrocken blieb das Bübchen stehen. Bei seinem Anblick schmolz der Zorn des Vaters. Er raffte einen schwarzen Mantel auf, der über der Lehne eines Sessels hing, umhüllte den Knaben, trug ihn zum Tisch und stellte ihn auf die Platte, so daß die Gesichter der beiden einander gegenüber waren.

Eine junge Magd mit bleichem Gesicht wollte eintreten; auf der Schwelle wurde sie zurückgezogen, und es erschien eine fünfundzwanzigjährige Frau, schlank, mit einem roten, pelzverbrämten Mantel über dem dünnen Nachtgewande. Scheue, verschüchterte Augen glänzten groß in dem blassen Rundgesichtchen dieser Frau, die mit siebzehn Jahren zum ersten Male Mutter geworden und nach acht Geburten in sieben Jahren schon vorzeitig zu altern drohte. Der Schreck vor dem Muttergespenste war in diesem kindhaften Frauenblick. Zwei Söhne starben im ersten Lebensjahr; zwei Söhne kamen verfrüht und tot zur Welt. Drei Mädchen lebten. Und dieser gesunde, blühende Knabe.

Lautlos war der Kastellan davongegangen. Und Nikodemus verschwand durch eine Seitentür, die man, als sie geschlossen war, in der Täfelung nicht mehr sah.

Herzogin Margarete, weil der Gemahl ihre Nähe nicht zu bemerken schien, blieb scheu und fröstelnd bei der Mauer stehen.

Herr Heinrich hatte die Hände unter den Mantel geschoben, der das Kind umhüllte, knutschte vergnügt das kräftige Körperchen des Knaben und fragte mit gespielter Strenge: »Du Wildfang, warum schläfst du nicht? Kinder, die gesund sein wollen, müssen schlafen.«

Leise sagte das Büblein: »Hab zum Vatti wollen.«

Die Augen des Herzogs glänzten auf. Seine Stimme blieb streng. »Zum Vatti sollst du kommen, wenn die Sonne scheint. Jetzt stehen Mond und Stern am Himmel. Da sollst du schlafen.« Er küßte den Knaben auf die Wange, und seine Stimme verwandelte sich. »Jung, hast du mich lieb?«

Lachend streckte das Kind die Händchen nach Haar und Nase des Vaters.

Der fragte heiter: »Wer bin ich?«

»Vatti.«

»Ja. Auch. Aber sag mir, wie ich bei den dummen Menschen heiße?«

»Heinich der Swazze.«

»Wie noch?«

»Heinich Bluthund.«

Der Herzog lachte. »Wie noch?«

»Heinich der Filz.«

»Stimmt! So muß es sein. Dean du, mein lieber Junge, sollst ein Reicher werden! Du kleiner Herkules! Gott soll's wollen! Und Geld ist Macht.« Wieder küßte Herr Heinrich den Knaben auf die Wange. »So! Und jetzt geh schlafen! Und machst du nicht gleich die Augen zu, so hau ich dir ein paar feste auf dein dickes Quartier.«

Der Knabe klammerte die Ärmchen um des Vaters Hals.

»Laß luck! Jetzt mußt du schlafen gehen. Also! Wie sagt mein Jung beim Schlafengehen zum Vatti?«

»Gut Nacht!«

»Nein! Besinn dich! Wie sagt mein Jung?«

Der Knabe zog die Brauen zusammen und sprach langsam die drei schwierigen Worte: »Denk – des – Lllloys!«

»Ja, mein Jung!« Die Augen des Herzogs funkelten. »An den will ich denken. Heute mehr als je!« Er drehte das Gesicht über die Schulter. »Komm! Und nimm ihn!«

Schweigend trat die Herzogin zum Tische, löste das schwarze Tuch von dem Knaben und umhüllte ihn mit ihrem roten Mantel.

»Das unverläßliche Weibsbild soll man fortjagen. Der Jung braucht eine sichere Wartung. Der da soll mir am Leben bleiben. Gott soll's wollen!«

Leise sagte die Herzogin: »Das Mädchen hat nichts verbrochen. Die Schuldige war ich.«

»Das hättest du verschweigen sollen. Wer seine Schwächen und Fehler eingesteht, ist dumm. Für die eigne Torheit läßt man andre leiden, wenn man herrscht. Zur Fürstin taugst du nicht, als Frau bist du kalt wie eine Suppe von gestern. Hast du den Ehrgeiz, auch noch als schlechte Mutter zu gelten?«

Ein weher Kampf war in dem verstörten Gesicht der jungen Frau. Ihre zitternden Arme umklammerten das Kind. Nach kurzem Schweigen sagte sie tonlos: »Ich sehne mich heim.«

»Das ist zwecklos.«

»In deinem Hause bin ich wie eine Magd und Gefangene. Ich! Das Weib des Fürsten.«

»Weib? Du? Ein Weib? Nein, gute Gretl! Du bist wie eine steyrische Mehlspeis. Bring den Jungen ins Bett und leg dich schlafen! Sonst hast du morgen wieder die blauen Ringe um die Sehnsuchtsaugen.« Herr Heinrich ging voran und öffnete vor der Herzogin die Türe. Die junge Frau, die den Knaben an ihrer Brust umklammert hielt, verschwand wie eine Flüchtende.

Es dauerte noch eine Weile, bis Franzikopus eintrat. Während er sich tief und ehrfurchtsvoll verneigte, stellten die zwei Spießknechte den Schrein auf die Bank.

Franzikopus fing zu reden an und gab sich mit schauspielerischem Geschick als Ehrgeizigen, der gerne wie Cicero reden möchte, die schwierige Sache nicht fertigbringt und sich mit bäuerischem Deutsch behelfen muß.

Das dunkle, strenge Gesicht des Herzogs wurde vergnügt. In Neugier betrachtete er den ungeschickt erscheinenden Redner und fing zu lachen an. »Pfäfflein, du bist ein verflucht schlaues Luder!«

Schmunzelnd verbeugte sich Franzikopus, als hätte ihm Herr Heinrich ein große Schmeichelei gesagt.

»Und das dort?« Der Herzog deutete auf den Schrein. »Soll das mir gehören?«

Franzikopus öffnete die Schatztruhe. Teller, Platten, Becher und Kannen funkelten. »So grüßt der heilige Zeno.«

Schweigend nahm Herr Heinrich eine Kostbarkeit um die andre aus dem Schrein und prüfte sie als Kenner, der nach dem Gewichte geht. Als er den letzten Becher zurückstellte, sagte er: »Schön! Im Himmel des heiligen Zeno wohnen gute Goldschmiede! Jetzt sind sie Meister. Als sie den Leidenskelch des Heilands schmiedeten, waren sie noch Lehrlinge.«

Im Anschluß an das Bild von den Goldschmieden des Himmels fand Franzikopus Weiß sehr salbungsvolle Worte und sagte schließlich: »Gott ist wunderbar in allen Plänen und Werken. Seinen treuen und rechtschaffenen Diener gewährt er Gnade und Hilfe. Die Ruchlosen aber straft er nicht nur im Jenseits, auch schon hier auf Erden.«

»Und da leben wir beide noch?« Lachend musterte Herr Heinrich das verdutzte Gesicht des Franzikopus. Dann gab er den beiden Soldknechten einen Wink. »Man soll das in meinen Turm hinüberschaffen.« Die Knechte schlössen den Schrein und trugen ihn davon. Herr Heinrich sah ihnen nach. Als sie verschwunden waren, sagte er: »Den Gruß des heiligen Zeno schätze ich auf Sold und Zehrung für hundertzwanzig Mann mit vierzig Pferden auf sieben Tage, mit Pulver und Bespannung für eine Büchse, die hauptgroß schießt.« Als Franzikopus, der etwas unsicher geworden, noch immer stumm blieb, fragte der Herzog: »Wird das dem heiligen Zeno genügen?«

»Herr«, flüsterte Franzikopus und deutete mit dem Finger, »da draußen lauscht einer.«

»Wo?«

»Dort! Er hat den Holzzapfen aus einem Astloch genommen. Ich sehe vom Kerzenschein sein Auge glänzen.«

»Nikodemus!« rief der Herzog heiter. Der Kahlköpfige erschien. »Dieser kluge Mann da wünscht, daß du hier in der Stube hören sollst, was er mir zu sagen hat.« Nikodemus lachte, und Franzikopus errötete wie ein Mädchen, während eine Zornlinie um seine Mundwinkel spielte. »Also?« sagte Herr Heinrich und ließ sich nieder. Auch Franzikopus und Nikodemus nahmen Platz. »Was will dein Heiliger kaufen von mir?«

Der Gesandte sprach. Er hatte an Herzog Heinrich und Nikodemus zwei aufmerksame Zuhörer, die mehrmals einen raschen Blick miteinander tauschten.

Franzikopus log nicht. Er blieb bei der Wahrheit des heiligen Zeno. Doch die Geschichte von den Folgen des Mordauer, alias Hängmooser Ochsenhandels bekam jetzt ein viertes Gesicht.

Als der Kaplan verstummte, blieb Herr Heinrich eine Weile nachdenklich. Dann sagte er: »Deiner dreihundert andächtigen Ramsauer, die noir beten wollen, erbarmt sich mein christlich Gemüt. Aber freien Durchlaß durch mein Land von Plaien gewähr ich euch nicht. Aus Barmherzigkeit für den heiligen Zeno, den ich als ungefährlichen Nachbar liebe. Der heilige Peter von Berchtesgaden würde ihm das geschorene Haardach bös verprügeln. Darunter würden meine Reichenhaller, mein Salzhandel und meine Saalacher Sassen leiden. Und euch Hilfe schicken, um den heiligen Peter zu klopfen, der ein lieber Patron ist? Das muß ich mir sehr überlegen. Was meinst du Nikodemus?«

Der Kahlköpfige sagte ruhig: »Herr, da muß ich dringend abraten.«

»Hörst du, Pfäfflein?«

Franzikopus begann in Hast zu reden.

Der Herzog hob die Hand. »Laß gut sein! Was Neues sagst du mir nicht. Du weißt nur, was gestern in der Nacht und früher geschah. Ich weiß, was heute geschehen ist und was jetzt geschieht.«

Die Augen des Kaplans erweiterten sich.

Herr Heinrich lachte. »Bleib ohne Neugier! Ich sage dir nicht, was ich weiß. Nein, Mann! Den goldenen Gruß des heiligen Zeno müssen wir als Vorschuß für andre Dinge nehmen. Jetzt kann ich nickt helfen. Der Ingolstädter lauert. Der schlägt an der Donaulos, wenn ich mich an der Saalach schwäche. Zwischen Burghausen und Ingolstadt liegt altes Stroh. Fliegt hier im Süden ein Funke, so schlägt im Norden das Feuer auf. Wenn ich euch helfe, weck ich Gefahren für mein Land und Volk. Auch für mich selbst. Ich stehe wegen jener Dummheit zu Konstanz unter weltlichem und geistlichem Gericht.« Die Züge des Herzogs verzerrten sich. Dann lachte er wieder. »Soll ich meine Richter durch Unbequemlichkeiten erbosen? Auch hab ich König Sigismund mein Wort gegeben, daß ich Frieden halte, solange mich der Loys nicht angreift. Du wirst mir bezeugen können, daß ich mich dieses Worts in Ehrfurcht vor dem König erinnere.«

Wieder sprach Franzikopus, rasch und erregt. Hilfe für den heiligen Zeno wäre kein Friedensbruch, sondern ein christliches Werk. Und alte Mißwirtschaft könnte hier geregelt werden. Die Ramsau gehöre durch natürliche Lage zum Schwarzenbachtal des heiligen Zeno. Und das Berchtesgadnische Land, verwüstet durch schlechte Führung und bedrückt von Schulden, könnte sich nur unter Schutz und Hand eines starken Fürsten wieder zu gedeihlichem Leben erholen.

»So? Die schone Ramsau wollt ihr haben?« unterbrach der Herzog. Er gähnte. Und klopfte sich ein paarmal mit der schlanken, braunen Hand auf den offenen Mund. »Und ich soll nehmen, was übrig bleibt? Teilen? Nein! Mit dem Teilen hab ich schlechte Erfahrungen gemacht. Teilen heißt unzufrieden werden. Man muß klug auf das Ganze gehen.«

Franzikopus erblaßte. Bevor er sprechen konnte, sagte der Herzog:

»Für solche Dinge gehört ein waches Gehirn. Heute bin ich, müd und schläfrig. Ich brauche Ruh und will mich zu Bett legen. Morgen früh wird der heilige Zeno Bescheid erhalten.« In Herrn Heinrichs ruhige Stimme kam ein Klang von Erregung. »Gott soll's wollen!« Er stand vom Sessel auf, nickte zum Abschied, ging auf ein Finster zu, legte die Hände hinter den Rücken und sah unbeweglich in die Nacht hinaus.

Der Kaplan, als er sich von seiner Verblüffung erholt hatte, wollte sprechen. Da machte Nikodemus mit gut gespieltem Schreck ein Schweigezeichen, nickte bedeutungsvoll, führte den Gesandten höflich aus der Stube, übergab ihn dem Kastellan und schloß die Türe.

Herr Heinrich drehte sich mit einer raschen Wendung vom Fenster weg. Seine Augen brannten, eins wilde Erregung zitterte in seinem Gesicht, und die Oberlippe zog sich von den Zähnen zurück. »Nikodemus!« Die Stimme war ein rauhes Flüstern. »Diese Gelegenheit hat mir Gott geschickt!« Mit stoßenden Fäusten schien er etwas Unsichtbares zu fassen. »Jetzt hab ich den Loys! Und will ihn rupfen, daß nur ein paar Flocken noch übrigbleiben von seiner Pariser Wolle!« Der Herzog wollte lachen. Das wurde nur ein heiserer Laut. Er riß ein Fenster auf, atmete tief, und mit den Fäusten am Gürtl begann er durch das Zimmer zu schreiten, die Züge des Gesichtes hart gespannt von wühlendem Denken.

In Sorge betrachtete Nikodemus den Fürsten. Er wußte, aus welchen Erinnerungen der Aufruhr dieses Augenblicks quoll und was in Herzog Heinrich ruhelos brannte. Das war nicht die Erinnerung an jenen Schimpf, den der mit Worten flinke Ingolstädter vor vier Jahren zu Konstanz Herrn Heinrich bei einem Handel um alte Schulden ins Gesicht geworfen hatte, vor König Sigismund, in Gegenwart des mit der ehemals bayrischen Mark Brandenburg belehnten Fritz von Zollern, des Gemahls der schönen, Else, der Schwester Heinrichs. »Sohn eines Kochs?« Dummes, häßliches Gesindegeschwätz, das ein Denkender nicht hätte auf die Zunge nehmen sollen! Herzog Friedrich, Heinrichs Vater, war nicht der Mann, um sich betrügen zu lassen von seinem Weibe, Sohn eines Kochs! Der sinnlose Schimpf war gerächt, mit sieben blutigen Schwertstreichen und brannte nicht mehr in Heinrich. Dieser Schimpf war eine Lächerlichkeit geworden, seit zwischen den Särgen von Geschwistern dieser ›kleine Herkules‹ heranwuchs, dieser lachende, blühende, von Gesundheit und Lebenskräften strotzende Knabe, in dem die wittelsbachische Art das Blut der Visconti übersprungen und des Vaters makellose Abstammung erwiesen hatte.

Dieser Knabe, in dessen frischem, rosigem Gesichtlein die Augen des wittelbachischen Ahnherrn glänzten, hatte einen quälenden Zorn aus der Seele des Vaters hinausgelacht. Doch in dem Herzen, in dem dieser große Zorn getobt hatte, war eine kleine, stumme, brennende Scham, zurückgeblieben. Und dieses Kleinere war das Härtere, war unerträglich, war wie der ruhelose Schrei einer Eifersucht, deren schmerzendem Griff Herr Heinrich sich nick entwinden konnte.

Meuchelmord? So nannten es die andern, wenn sie von jenem nächtlichen Überfall zu Konstanz redeten. Herzog Heinrich lachte dieses Wortes. Kampf oder Mord? So läppische Unterschiede macht die Rache nicht. Die Rache will schlagen, töten. Aber sie muß das können! Nicht schwach darf sie sein – nicht so schwach, wie zu Konstanz die Faust dieses von Zorn geschüttelten Rächers war!

Seit vier Jahren ist kein Tag und keine Nacht vergangen, ohne daß jenes wirre, von Blut übergossene, von Scham überglühte Bild in Herzog Heinrich erwachte.

Die dunkle, stille Gasse zu Konstanz. In finsterem Winkel steht und lauert dieser Kleine, dieser Schlanke und Zierliche, der in der Größe seines Zornes ein Rächer werden will. Er und seine Helfer, alle gepanzert und bewaffnet bis an die Zähne. Und da kommt in stiller Nacht dieser Eine geritten, geschützt durch den Frieden des heiligen Konzils, kommt von einem heiteren Königsmahl, ein Lachender und Sorgloser, ein Lebensfroher, mit glühendem Wein im Blute, prunkvoll gekleidet, ohne Waffen, ohne Gefolge, auf ruhig schreitendem Zelter, nur geführt von zwei fackeltragenden Edelknaben. Heiter, nach Art eines Trunkenen, plaudert er mit den beiden Buben; noch ehe man ihn sieht Zitterschein der Fackeln, vernimmt man sein starkes, frohes Lachen schon. Ein Fünfzigjähriger! Und hat noch immer das Lachen eines Jünglings!

In der finsteren Ecke schlagen dem lauernden Rächer beim Klang dieses hellen Lachens die Zähne aufeinander. Waren diese beiden nicht Söhne von Schwestern? Nicht die Nachkommen des gleichen Ahnherrn? Warum ist der eine seiner zarten Mutter Bild, der andre das Bild seines kraftvollen Ahns? Warum hat dieser Zierliche nur das Zähneschauern seiner körperlichen Schwäche? Warum jener Starke dieses helle, frohe, sorglose Lachen – in der Nacht des gleichen Tages, an dem er den andern gedankenlos und ungerecht beschimpfte? Und kommt geritten. Und lacht. Und schwatzt mit den Edelknaben und prahlt von einem französischen Feste, das er dem König Sigismund geben will. »Das soll ein Fest werden, wie man Feste nur in Paris zu rüsten versteht! Die deutschen Bären sollen noch ein Jahr lang an ihren Tatzen lecken. Und rennen und stechen laß ich bei meinem Fest. Und bin ich der Sieger, wie immer, dann wird sich einer ärgern, bis er Galle speit! So ein Kleiner! O du Laus du!« Er lacht – und wird stumm – hebt sich im Sattel und lauscht.

In der vorn Fackelschein übergaukelten Dunkelheit knirschte eine Stimme durch verbissene Zähne: »Den ungerechten Schimpf in den Hals dir!« Dieser Kleine, dieser Zierliche, stößt mit der Wucht seines Zornes den starken, hochgewachsenen Reiter aus dem Sattel. Und während der Zelter scheu davonrast und die verstörten Fackelträger entfliehen, schlägt und sticht Vetter Heinrich auf den zu Boden gestürzten Vetter Ludwig los und schlägt ihm Wunden, die den Tod herbeirufen. Doch dieser Blutende, dieser fast schon Sterbende, der auf der Erde liegt, wehrt sich wie ein verzweifelter Löwe, fängt die Streiche mit Armen und, Händen auf, klammert in letzter Kraft die zerschnittene Faust um Heinrichs Handgelenk und entwindet dem Rächer das Eisen. Heinrich schreit nach seinen Helfern. Die schlagen drein. Der Blutende auf der Erde hat jetzt ein Schwert, um sich zu schützen. Fackeln in den Gassen. Geschrei von rennenden Menschen, von Männern in Eisen. Und Heinrich, der ein Schwertloser geworden, muß zu entrinnen suchen, gewinnt das Tor, ist landflüchtig, reitet durch Nächte und Tage – und hinter seinen festen unbezwingbaren Mauern, zu Burghausen, holt ihn die Nachricht ein, daß Vetter Loys nach sieben Wunden, von denen jede einen minder Starken hätte töten müssen, wieder genesen wird. Die Rache, weil sie mißlang, ist eine Lächerlichkeit geworden vor Heinrichs eignen Augen.

Der Anblick seines neugeborenen Knaben, in dem sich das Bild des großen Ahnherrn wiederholen will, erstickt in Heinrich den Zorn über jenen sinnlosen Schimpf: »Du Sohn eines Kochs!« Doch hinter dem schwindenden Zorn bleibt eine ruhelose Scham, die an seinem Leben zehrt wie ein giftiges Geschwür. Das martert ihn durch Tag und Nacht. Und wenn er im Kloster zu Raitenhaslach vor dem Grabstein der Herzogin Maddalena steht, ist kein Gebet in ihm, nur dieser Gedanke: »Fluch dir, Mutter, daß du mich, mit der Kraft und dem Geist des Vaters in Hirn und Seele, an Leib und Gliedern zu einem Sohn deiner zierlichen Schwäche machtest!« Und das dürstende Verlangen, den andern zu vernichten, ist heißer noch in dieser kleinen, eifersüchtigen Scham, als es in jenem großen Zorne von Konstanz war.

Loys, der Genesene, tobt als ein Unversöhnlicher zu Ingolstadt, wirbt Helfer wider Heinrich, wo er sie finden kann, und queruliert gegen den ›Meuchelmörder‹ bei König und Papst. Die Fürbitte Friedrichs von Zollern, der Sigismunds Getreuester ist und in heißer Schlacht das Leben des Königs rettete, wendet von seinem Schwager Heinrich die Acht des Reiches ab. König Sigismund – er schuldet Geld an Ludwig, schuldet Geld an Heinrich – entschlägt sich des Richteramtes und schiebt die unbequeme Entscheidung dem Papste zu. Der empfängt die reichen Geschenke Heinrichs, segnet seine frommen Stiftungen, untersucht und verschleppt die Sache von Konstanz und verhängt den Kirchenbann über Ludwig im Bart, weil er die Klöster zu Kaisheim, Tegernsee und Scheyern durch ungebührliche Steuern bedrückte.

Heinrich verstärkt die Mauern seiner Burgen und Städte, schließt geheime Verträge mit den Vettern zu München, läßt Pulver mahlen und Büchsen gießen, verdoppelt die Zahl seiner Söldner, bewaffnet seine wehrfähigen Bauern, verpfändet dem König sein Wort, daß er Frieden halten und sich übelsten Falles nur wehren wolle, wenn der Vetter Loys ihn molestiere – und rüstet, rüstet, rüstet – und lauert auf die Stunde, die den Ingolstädter zu einer Unvorsichtigkeit verleiten, zu verfrühtem Losschlagen verführen wird.

Die Stunde kam. Sie brachte den von Heinrich ersehnten Stoß, der die locker hängende Lawine der Vernichtung niederrollen läßt über Volk und Land der bayrischen Bruderstämme – weil ein Starker an Geist und Blut, doch ein an Gelenken Schwacher die Scham über seine Zierlichkeit nicht ertragen kann und ein Riese werden will.

»Nikodemus?« Herzog Heinrich hielt in seinem raschen Aufundniederschreiten inne und sagte mit rauhem Lachen: »Ich will dem heiligen Zeno eine zwanzig Pfund schwere Kerze opfern. Man soll sie gießen am Morgen, soll sie aufstecken in meiner Hauskapelle und brennen lassen durch Tag und Nacht.«

Wieder begann er sein jagendes Wandern um den Tisch herum, blieb stehen und sagte leise: »Dieser kleine Fuchs des heiligen Zeno ist ein großes Schaf. Mein Wort vom Klugen, der aufs Ganze geht, hat ihm bei seinem Hunger nach der Ramsau einen Schrecknagel ins Gehirn getrieben. Ich besorge, daß er heute nacht nicht schlafen wird. Er wird zwei neue Eisen ins Feuer legen, wird heimliche Briefe schreiben, nach Ingolstadt, nach München. Von seinen Boten, fürcht ich, wird einer zu Gott kommen, nicht zu meinem Vetter Ernst.« Die zitternden Fäuste um den Gürtel klammernd, trat er vor Nikodemus hin mit brennenden Augen. »Wie siehst du es an?«

Ruhig sagte der Kahlköpfige: »So wie Ihr, Herr! Als eine Gelegenheit, die schieben wird. Den heiligen Peter von Berchtesgaden in den Landshuter Sack stecken? Das würde Euch übel vermerkt werden bei König und Papst. Auch bei den Vettern in München. Aber dem heiligen Zeno zulieb dreihundert andächtige Wallfahrer schützen? Das ist frommes Werk und wird gute Früchte tragen. Es muß nur eine Woche lang so aussehen, als sollte dem einscherigen Krebs von Burghausen mit dem Lande des heiligen Peter die zweite Schere gegen Salzburg wachsen. Wenn wir Salzburg zwicken, wird zu Ingolstadt ein Wehleidiger schreien.«

Der Herzog nickte. »Den Haller Fuchs hab ich angelogen. Ich weiß nicht, was heute nacht da drüben hinter dem Untersberg geschieht. Aber wenn der Pienzenauer statt Hirn nicht einen Strohwisch unter dem Haardach hat, dann – dann –« Er streckte die Fäuste auseinander. »Gott soll's wollen!« In Hast ergriff er einen kleinen Holzhammer und schlug an eine Glocke. Wie ein tönender Schreck des Lebens fuhr der scharfe Hall durch die nächtliche Stille des Schlosses.

Ein Diener und drei Schwergepanzerte kamen gesprungen.

Zu dem Diener sagte Herr Heinrich: »Bring mir Wein und, Kirschen!« Dann gab er mit raschen Worten seine Befehle an die Trabanten: »Du! Man soll dreißig reitende Boten bereithalten. Fort! – Und du! Man soll in aller Stille die Herberg überwachen, in der die Reichenhaller Leute wohnen. Schickt der Haller Kaplan ums Tagwerden zwei Boten davon, so soll man ihnen unauffällig folgen. Schlägt der eine die Straße nach Ingolstadt ein, so soll man ihn geheim beschützen und die Eile seines Wegs befördern. Den andern – wenn er nach München will – soll man drei Wegstunden von Burghausen festnehmen und verschwinden lassen. Es ist viel Krankheit im Lande. Ein Reisender kann sterben. Den Brief, den man bei ihm findet, will ich haben. Fort! – Und du! Weck den Hauptmann Seipelstorfer und den Büchsenmacher Kuen! Sag den beiden: Bis zur achten Morgenstunde müssen hundertzwanzig Pferde und dreihundert Spießknechte mit dreißig Faustbüchsen marschfertig sein, dazu zwei Kammerbüchsen, eine Farzerin und ein Blidenkarren, Zeug und Zehrung für vierzehn Tage. Um sieben Uhr soll der Hauptmann kommen und seine Weisung holen. Fort!«

Als Herzog Heinrich mit Nikodemus wieder allein war, streckte er sich und dehnte die Arme wie einer, dem froh um die Seele wird. »Jetzt setz dich, Lieber! Und schreib! Zuerst an die Münchner Vettern. Da müssen wir sänftiglich reden und ehrlich bekennen, daß wir den heiligen Peter nicht zu kränken wünschen, nur die Wallfahrtsfreiheit zum heiligen Zeno schützen wollen. Nein! Zuerst den Brief an meine schöne Schwester Else!« Der Herzog lachte. »Gott ist mit mir! Wie gut sich das trifft, daß Schwager Zollern gerade da droben im Norden ist, in seiner neuen Mark. Das ist ein Redlicher. Die Redlichen sind hilfreich, aber manchmal unbequem. Und klug ist er. Ich sorge, der würde wittern, was gekocht wird, würde zum König halten und den Frieden wahren. Der Schwester will ich einreden, was nötig ist. Sie soll, solange der Fritz seinen jungen Kohl im Brandenburger Sande pflanzt, den Loys in Franken zwicken, bis er ungeduldig wird und eine von seinen flinken Dummheiten macht. Schreib, Lieber! Spitze dir eine feine, zarte Feder! Am Buchstaben hat das Zierliche seine Vorteile wie an Weibern.«

Der Herzog nahm einen festen Schluck des sauren Trausnitzer Weines, den der Diener in einem großen Zinnkrug gebracht hatte. Um den Tisch wandernd, diktierte Herr Heinrich den Brief an seine schöne Schwester Else von Zollern, aß dazu die schwarzen Kirschen und spuckte die Kerne zum Fenster hinaus.

Nach dem Brief an die Münchner Vettern wurden Briefe an die Hauptleute von Heinrichs Burgen geschrieben, an die mit ihm verbündeten Bischöfe, Ritter und Städte. Zu verläßlichen Lehensherren konnte Herr Heinrich ehrlich reden. Doch in den meisten der Briefe, die da geschrieben wurden, hieß es nur: Man höre von verdächtigem Unternehmen des Ingolstädters; man wisse, daß ihm von jeher nie zu trauen war und daß man sich stets der übelsten Dinge von diesem Übermütigen und Gewissenlosen zu versehen hatte; man solle streng den vom König gebotenen Frieden wahren, doch auf der Hut sein und alle beste Wehr bereithalten, um einem drohenden Überfall begegnen zu können.

Je länger Herr Heinrich diktierte, um so besser wurde seine Laune. Zwischen die Sätze, die Nikodemus zu schreiben hatte, schob der Herzog sein erregtes Geplauder hinein, seinen stachligen Spott und seine derben Scherze. Immer wieder mußte Nikodemus lachen. Und so heiter wurde Herr Heinrich, daß er bei seinem ruhelosen Wandern die Kirschkerne hinaufschnippte gegen den Namen Loys, der auf allen Spruchbändern der Wände zu lesen war.

Der Morgen fing zu grauen an, der Tag wurde hell, und die klare Sonne glänzte an den Fenstern durch das bucklige Glas herein, während auf den Hirschgeweihen noch immer die Kerzen brannten und mit ihrem Qualm und Harzgeruch die Stube füllten.

Immer hörte man einen dumpfen Lärm. Der klang aus den Burghöfen, in denen der Heertrupp und die Troßwagen zum Ausmarsch gerüstet wurden.

Gegen sechs Uhr morgens meldete man dem Herzog einen Boten der Plaienburg. Herr Heinrich schrie: »Herauf mit ihm! Da ist was los!«

Der Kastellan brachte einen langen, grau verstaubten Söldner, der lächelnd auf den kleinen Herzog heruntersah und einen Kratzfuß machte wie bei heiterem Wiedersehen. Es war Malimmes vom Taubensee.

Herr Heinrich, ohne zu dem Boten aufzuschauen, riß ihm den gesiegelten Brief aus der Hand – und las – und wurde vergnügt. »Nikodemus! Gott hat's wollen. Ich habe diesen Haller Fuchs nicht angelogen. Ich bin ein Ehrlicher, der die Wahrheit redet. Ich weiß, was geschehen ist heut nacht. Der Pienzenauer hat eben Hurtigen reiten lassen. Nach Ingolstadt!« Herr Heinrich sprang zur Täfelung hinüber, riß die Geheimtür auf, verschwand und von draußen hörte man seine Stimme: »Du! Sechs flinke Reiter nach Straubing hinauf! Da kommen zwei, auf der Passauer Straß, ein Jungherr und sein Knecht. Der Brief da weist, wie sie ausschauen. Die zwei soll man kitzeln. Es soll so scheinen, als wollt man sie fangen. Aber nur hetzen soll man sie. Je flinker sie zum Ingolstädter Mautbaum kommen, um so besser!« Eilig trat der Herzog wieder in die Stube, nahm einen Trank Wein, und als er die Kanne hinstellte, fragte er über die Schulter: »Kannst du gleich wieder reiten, Mann? Oder mußt du rasten?«

»Rasten? Nein. Aber ein neues Roß muß ich haben. Mein Gaul ist hin.«

Herr Heinrich drehte langsam das Gesicht, als wäre ihm der Klang dieser Stimme aufgefallen. Sein erhitztes Gesicht verlor die Farbe, während er den Söldner betrachtete, der in einer Garbe dieser gelben Morgensonne stand. Nun lachte Herr Heinrich ein bißchen, beugte sich zu Nikodemus hin und sagte ihm leise ins Ohr, was an den Hauptmann von Plaien zu schreiben wäre. Und als Nikodemus den Brief begann, ging der Herzog auf Malimmes zu und stieß ihn mit dem Finger vor die Brust.

»Du? Bist du's?«

Malimmes nickte lustig. »Wohl, Herr! Vergeltsgott für mein Leben! Das Schnaufen bleibt allweil ein liebes Ding.«

»Nikodemus!« Herr Heinrich sah zum Tisch hinüber. »Guck! Das ist Malimmes, der Galgenvogel von Nüremberg, mein Botschaftsbringer von der Himmelstür.« Die Stimme des Herzogs bekam einen wunderlich unsicheren Klang. »Daß der heut kommt? Just heut? Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?«

Heiter sagte der Kahlköpfige: »Wie man's nehmen mag. Zeichen reden nach unserem Willen.«

»So soll es ein gutes sein für mich, ein schlechtes wider den andern!« Lang betrachtete Herr Heinrich den Söldner. Dann fragte er schmunzelnd: »Hast du heut ein warmes Sitzfleisch?«

»Ich hab's noch nit untersucht, Herr! Aber wer in fünfthalb Stund auf einem schlechten Gaul von Plaien nach Burghausen reitet, dem geht der Sattelfleck nit mit Grundeis.«

»Teufel«, staunte der Herzog, »da mußt du eiserne Schenkel haben! Und zähes Blut hast du auch«, er deutete auf den brennenden Narbenstrich im Gesicht des Malimmes, »wenn du den da überstanden hast!«

»Drei Wochen Spittel hat er mich all weil gekostet.«

Rasch fragte der Herzog: »Wann war das?«

»Grad einen Monat ist's her, daß ich aufgestanden bin.«

»Nikodemus!« Herr Heinrich drehte das Gesicht. »Hast du das gehört? Ist das nicht seltsam?« Einen Monat war es her, daß der Herzog an seinem hitzigen Fieber gelitten hatte, an einem Anfall seines Erbübels, vor dem die Ärzte ratlos standen. Und über Nacht war Herr Heinrich wieder genesen, man wußte nicht wie. »Was sagst du dazu?«

Der Kahlköpfige lachte. »Nicht viel, Herr! Der helle Witz eines gesunden Menschen und die kranken, dunklen Dinge des Lebens haben nichts miteinander zu schaffen.«

Der Herzog nickte; doch die abergläubische Regung schien nicht völlig in ihm erloschen zu sein; es war an dem scheuen Verwundern zu merken, mit dem er den Malimmes betrachtete. »Warum bist du den Nürembergern davongegangen?«

»Weil ich gern gesund bin, Herr! In den Nüremberger Huschelgärten ist's arg parisisch zugegangen. Da bin ich lieber ein Deutscher blieben.«

Herr Heinrich furchte die Brauen und nickte. Rasch griff er hinauf zu der Schulter des Söldners. »Gesundbleiben heißt ein Starker sein. Ja, Mensch! Wahr deine Gesundheit!«

»Das tu ich, Herr! Ich überfriß und übersauf mich nit. Regnet's Prügel, so deck ich mich. Wo ander Leut sich ärgern, tu ich lachen. Und mit den Weibern bin ich sparsam. Bloß daß man ledig wird seiner Plag.«

Der Herzog betrachtete den langen Söldner. »Nikodemus! Den seh dir an! Das ist ein Mensch.«

»Ja, Herr«, sagte Malimmes fröhlich, »oft ist mir selber zumut, als tät ich kein Viech nit sein.«

»Soldest du bei meinem Hauptmann zu Plaien?«

»Da hab ich bloß Unterstand mit meinem Herrn. Und hab mich dem Hauptmann angetragen als Boten, weil ich ein fester Reiter bin.«

»Magst du Hofmann werden? Bei mir?«

»Ich hab einen guten Herrn, bei dem ich aushalt durch dick und dünn.«

»Wer ist das?«

»Der Runotter von der Ramsau. Der ist in Fehd wider Berchtesgaden –«

»So?« Herr Heinrich lachte.

»Hat flüchten müssen, und der Hauptmann von Plaien hat ihn unter Dach genommen.«

Der Herzog sagte zum Tisch hinüber: »Schreib in den Brief hinein, daß ich dem Soldherrn dieses Boten gewogen bin.«

Die Augen des Malimmes glänzten, als hätte er jetzt den Botenlohn empfangen, um dessentwillen er den jagenden Ritt getan und einen von den beiden Ackergäulen des Runotter zuschanden gehetzt hatte.

Dem Kastellan, der bei der Türe stand, befahl der Herzog: »Man soll dem Mann da Trank und Speise reichen, als Botengab zehn rheinische Gulden!« So verschwenderisch war Herr Heinrich selten. »Und für den Heimritt schenk ich ihm aus meinem Heerstall den Gaul, der nach meinem eignen Roß der beste ist.« Lachend faßte Herr Heinrich den Söldner an der Brust. »Bleib gesund, du! Und wahr dich vor dem Galgenholz! Ich kann nicht jedesmal als Schutzengel dabeistehen, wo man einen hinaufzieht. Und alle Stricke reißen nicht.« Heiter sah er dem Söldner nach, der mit dem Kastellan die Stube verließ. Als die Türe geschlossen war, ging der Herzog mit flinkem Schritt auf ein offenes Fenster zu, atmete tief und blickte eine Weile in die schöne Morgensonne hinaus. Dann fragte er über die Schulter: »Du? Wie sagt der Lateiner bei einem guten Zeichen?«

»Omen accipio.«

Herr Heinrich nickte. »Omen accipio! Gott hat mir heute zeigen wollen, wie gesund ich bin. Und jetzt leg ich mich schlafen. Mach die Briefe fertig! Und kommt der Hauptmann um die Weisung, so schick ihn zu meinem Bett. Mit dem Haller Füchslein mache, was du willst. Du weißt ja, wie ich's meine.«

Als der Herzog rasch davonging, erhob sich der Kahlköpfige zu einer Verbeugung.

Lauter und lauter wuchs der Lärm in den Burghöfen.

Eine halbe Stunde später wurde Franzikopus Weiß aus der Herberg ins Schloß geholt. Bei seinem langsamen Anstieg durch die Burghöfe konnte er den Kriegshaufen schätzen, der da zum Ausmarsch geordnet wurde. So viel Hilfe hatte der heilige Zeno sich nicht ersehnt; doch Franzikopus konnte lächeln; schon im ersten Grau des Morgens waren seine beiden Boten, die zwei dienenden Brüder, mit den Briefen an Herzog Ernst zu München und Herzog Ludwig zu Ingolstadt als harmlose, unauffällige Bettelmönche zum Tor hinausgeschlüpft.

In der Schreibstube des Nikodemus erwartete den Kaplan der armen Chorherren von Hall eine etwas unklare Sache – ein Vertrag des Wortlautes: »Auf inständiges Bitten des heiligen Zeno stellt Herzog Heinrich für den Schutz andächtiger Wallfahrer zwanzig Rosse und sechzig Spießknechte mit sechs Faustbüchsen zu Diensten, ohne Wissen, in welcher Weise der heilige Zeno diese Hilfstruppe zu verwenden gedenkt; bei vorkommendem Mißbrauch von sehen des Heiligen entschlägt sich Herzog Heinrich jeder Verantwortung vor Gott, Papst und König.«

Franzikopus machte den Einwurf, daß Herr Heinrich von vierzig Pferden, hundertzwanzig Spießknechten und einer Kammerbüchse gesprochen hätte.

Ruhig erwiderte Nikodemus: »Mein gnädigster Fürst hat die Grüße des heiligen Zeno im Gewicht ums Doppelte überschätzt. Ich mußte als meines Herrn gewissenhafter Diener den Irrtum richtigstellen.«

»Und der Kriegshaufe, der da drunten in den Höfen zum Ausmarsch geordnet steht?«

»Soll die Besatzung von Plaien und zwei andern Burgen ablösen. Das war schon bestimmt vor Wochen.«

Als Franzikopus unterschrieb, hatte er ein krebsrotes Gesicht.

Unter dem Geläut der Kirchenglocken und bei strahlender Morgensonne zog der rasselnde Kriegshauf in langem Zuge, mit vielen Troßwagen und einem lärmenden Schwärm von Gelägerdirnen zum Tor hinaus.

Franzikopus, dem man von einer Reise im Wagen abgeraten hatte, ritt an der Spitze des Zuges zwischen dem Hauptmann Seipelstorfer und dem Büchsenmeister Kuen. Die beiden plauderten sehr freundlich mit dem Kaplan des heiligen Zeno.

Auf der schönen Straße, über die sich der Heerzug dem blau in der südlichen Ferne stehenden Untersberge zubewegte, war Malimmes vor zwei Stunden im Trab davongeritten.

Gegen das Bergland stieg der Weg. Und Malimmes, obwohl er Eile hatte, schonte den feinen, schlanken Falben, den er sich in Herrn Heinrichs Heerstall ausgesucht. Zu dieser Wahl hatte des Herzogs Stallmeister den Kopf geschüttelt. »Das ist ein Rößl für einen leichten Buben. Ein so fester Kerl wie du braucht einen schweren Gaul.« Doch Malimmes hatte seinen Sattel auf den zierlichen Falben gelegt: »Der taugt mir, den nimm ich.«

Gegen die dritte Nachmittagsstunde erreichte er, vom Ufer der Saalach aufwärts reitend, den schütteren Buchenwald, der den Burghügel von Plaien umzog. Steil ging's hinauf. Doch trotz des siebenstündigen Rittes hatte der Falbe noch einen festen Schritt; Malimmes klopfte ihm, während die Zugbrücke herunterknarrte, zärtlich den nassen Hals.

Ein altes, enges, winkliges Mauernest, oft zerstört, immer neu wieder aufgebaut. Die Zinnen der Umwallung bestanden aus frischem Mörtel werk und hatten junge Schirmdächer; die aus plumpen Felsen gefügten Grundmauern, die mit dem Gestein des Hügels verwachsen schienen, waren ein halbes Jahrtausend alt und hatten Teile, die noch älter waren; eingemauerte Bogen und Pfeiler zeigten die braunen, stahlharten Ziegel jener versunkenen Zeit, in der ein römischer Wachtposten die das Saalachtal durchziehenden Salzfrachten geschützt hatte.

Unter dem Torgewölb umdrängten die Söldner, die den Brückendienst versahen, den Malimmes mit ihren lärmenden Lobsprüchen. »Bist ein Kerl! So ein Gewaltsritt! Ist ein Ding, das dir nit leicht einer nachmacht!« Und der feine Falbe, den der Bote als Geschenk des Herzogs mitbrachte, erregte Aufsehen.

Beim Eintritt des Malimmes in den engen, schattenkühlen Schloßhof erhob sich einer, der wie ein unruhig Harrender auf der Stiege des Wehrganges gesessen, ein müder, gebeugter Mann mit völlig ergrautem Haar. Seit jenem Tag, an dem man in der Amtsstube des Herrn Someiner um die siegelwidrigen Kühe und die siegelgerechten Ochsen geredet hatte, schien Runotter um ein Jahrzehnt gealtert. Eine steinerne Trauer war in seinem abgemagerten Gesicht, aus dem die tiefliegenden Augen wie dunkle Zornflammen herausbrannten.

Auf den lachenden Gruß des Malimmes antwortete Runotter nur mit einem stummen Nicken. Sein bohrender Blick forschte in dem Gesicht des Reiters.

Leise sagte Malimmes: »Mir daucht, es wird Arbeit geben. Schon morgen.«

Der Bauer streckte sich, als wäre dieses Wort eine Erfüllung seiner Sehnsucht. Doch die Trauer in seinen Augen vertiefte sich, als fiele aus dieser Nachricht auch ein neuer Sorgenstein auf seine Seele.

»Und gut geredet hab ich mit dem Herzog«, flüsterte Malimmes weiter, »der Hauptmann wird dem Jul und dir das Dach nimmer künden, Bauer! Von heut an bist zu Plaien ein Gast, dem der Herzog gewogen ist.«

»So?«

»Und guck das Rößl an, das ich mitgebracht hab für den Jul! Da wird er sitzen drauf wie ein Fürstensohn.« Die Augen des Malimmes suchten. »Wo ist der Bub?«

Runotter sagte müd: »Auf dem Turm hockt er und schaut, ich weiß nicht, wohin.«

Als Malimmes antworten wollte, kam aus dem Herrenhaus ein festes, struwelhaariges Mannsbild in höchst unkriegerischen Filzpantoffeln herausgeschritten, Martin Grans, des Herzogs Hauptmann auf der Plaienburg. Malimmes sprang aus dem Sattel, machte seine Botenmeldung, übergab den gesiegelten Brief und führte, während der Hauptmann gleich zu lesen begann, den schwitzenden Falben zu einem der schlechten Ställe, die unter den Wehrgang eingebaut waren.

Martin Grans schien an dem Auftrag, den er da zu lesen bekam, keine sonderliche Freude zu haben. Er knurrte einen Fluch durch die Zähne.

Aus der offenen Stalltür klang die Stimme des Malimmes: »Her da, Heiner! Tu mit sauberem Stroh das Rössel bürsten, bis es trücken ist! Das Maul und die Hessen reib ihm mit einem Schlückl Branntwein! Flink!« So grau verstaubt, wie er in den Burgfried eingeritten, kam Malimmes aus dem Stall gesprungen und eilte hinüber zu der kleinen Eisentür des Turmes, der in der südlichen Ecke des Hofes plump hinaufstieg in das Blau.

Mißmutig faltete der Hauptmann den Brief zusammen, ging auf Runotter zu, bot ihm die Hand und wurde freundlich.

Zufrieden lachte Malimmes vor sich hin und verschwand in dem dunklen Türloch des Turmes. Von dem vierzehnstündigen Botenwege schienen seine Knochen nichts zu spüren. Bei jedem Sprunge nahm er drei von den hohen Steinstufen. Mit Geklirr und Gerassel ging's hinauf über steile Wendeltreppen, durch Wehrstuben, in denen Armbrusten und Faustbüchsen unter dem spärlichen Licht der winzigen Fenster hingen. In der Wachtstube des vierten Stockes saßen ein paar Spießknechte mit heiterem Lärm beim, Knöchelbecher. Noch eine letzte steile Stiege, und Malimmes tauchte durch die Bodenluke hinauf zum Söller des Turmes. Das wundersame Bild, das von allen Seiten über die Zinnen herleuchtete, war wie ein Farbenjauchzen der schönen Erde. Rings um die Tiefe des Turmes ein Gewoge von Wäldern. Gegen Norden ein sanft gehügeltes Land mit grünen Wiesen und gelben Feldern, mit weißen Straßen und silberblitzenden Bachläufen. Gegen Osten, Süden und Westen der ruhige Riesenkranz der Berge, mit grünen, grauen und weißen Gipfeln, mit bewohnten Tälern, mit dem besonnten Gemäuer der Berchtesgadnischen Festungswerke beim Hallturm, mit dem Dächergewirre von Reichenhall und den weißen Stiftsmauern des heiligen Zeno, dessen Münster nur mit den beiden Turmspitzen über einen bewaldeten Hügel herüberguckte. Und hinter diesen fernen, weißen Mauerstrichen war etwas Braunes und Graues zu sehen, gleich dem Budengewirr eines dörflichen Marktes, das Zelt- und Barackengeläger der andächtigen Bittgänger aus der Ramsau.

Weiße Tauben flogen um den Turm, und Schwalben schössen er schrillem Gezwitscher blitzschnell durch die klare Sonne.

In einer Zinnenscharte saß Jul auf dem Mauersaum, das vorgeneigte Gesicht vom schwarzen Haar umhangen, um die Brust den blank gefegten Plattenküraß. Versunken spähte der Bub zum Hallturm hinüber und in die Ferne des Berchtesgadnischen Landes.

Malimmes legte ihm die Hand auf die Schulter. »Gottes Gruß, lieber Bub! Da bin ich wieder.«

Wie ein Erwachender hob Jul den Kopf mit dem schwankenden Haar. Die blauen stillen Augen in dem sonnverbrannten Gesicht hatten einen verlorenen Blick.

»Wach auf! Tag wird's!« Malimmes rüttelte den Buben zärtlich an der Schulter. »Die müde Faulheit hat ein End. Es ist ein Kriegshauf unterwegs. In des Herzogs verdeckten Sudhafen schaut unsereins nit hinein. Aber ich denk, wir liegen morgen vor dem Hallturm und schlagen los.«

Ein Schreck war in den Augen des Buben, ein jähes Erblassen ging ihm über Stirn und Wangen.

»Du! Wirst doch nit Angst haben!« mahnte Malimmes mit lachender Herzlichkeit.

Stumm schüttelte Jul den Kopf.

»So freu dich! Geh! Da kannst du deinen Zorn wider die Herren austoben. Und wo du stehst, da steh ich bei dir. Streck dich, Bub! Seit vierzehn Tag hast du was gelernt von mir. Reiten kannst du wie ein Jungherr. Ein Rößl hab ich dir gebracht, wie der heilige Peter keines im Stall hat. Und mit dem Eisen verstehst du dich aufs Klopfen wie ein Kesselschmied.«

Jul erhob sich und wollte gehen.

»Höia? Was ist denn?« Malimmes faßte den Buben am Arm. »So lauf mir doch nit allweil gleich davon!«

»Tu mich auslassen! Ich muß hinunter zu ihm.« Wie dunkler Sammet war's im Klang dieser tiefen, wehen Knabenstimme. »Was morgen kommt, wird ihm hart werden.«

»Hart?«

Jul nickte. »Sein Zorn muß schlagen, seine Treu verwehrt's ihm.« Er drehte langsam das Gesicht gegen die Ferne, in der die Gadnischen Berge blauten. »Müssen, was man mit will? Das ist ein arges Ding. Und macht einen müd.« Den Arm aus der Faust des Malimmes lösend, ging Jul davon.

Schweigend stand der Söldner, und wie ein frischer Blutstreif brannte die große Narbe in seinem Gesicht, als er den Buben durch die Dachluke des Turmsöllers hinuntertauchen sah.

Die Schritte des Jul erloschen in dem heiteren Lärm, den da drunten in der Wehrstube die würfelnden Spießknechte machten.

Nun drehte auch Malimmes das Gesicht gegen die Berchtesgadnische Ferne hin und tat einen leisen Pfiff.

Er lachte hart.

Flinke, rappelnde Tritte klangen auf der Holzstiege. Das blonde Mädel aus dem Ramsauer Leuthaus surrte erhitzt durch die Luke herauf, mit einer Schüssel und einem zinnernen Weinkrug. Heiße Freude glänzte in den Augen des verhärmten Gesichtes. »Da bist ja wieder!«

Er nickte und wollte an ihr vorbei.

Erschrocken vertrat sie ihm den Weg und sagte sanft: »Magst nit essen und trinken? Nach so einem weiten Weg?«

»Maidl!« Malimmes sah ihr streng in die Augen. »Tu mich in Ruh lassen! Unser Anfang ist ein End gewesen. Den Freudenpfennig legt man hin auf den Tisch. Man dreht ihn nit siebenmal um. Wenn dich dürsten tut nach einem Mannsbild – es sind doch feste Buben in der Burg, such dir halt einen aus.«

Sie sah ihn an und Zähren kollerten ihr über den Mund herunter. »Wenn man einmal die Deinig gewesen ist, mag man keinen andern nimmer.«

Malimmes schien verdrießlich zu werden. Doch er lachte. »Du Gänsl, du dummes! Sei gescheit und tu dir das junge Leben nit beschweren!«

Der freundliche Klang seiner Worte machte ihr Mut. Sie schmiegte sich scheu an seinen Arm und flüsterte: »Ich muß dir was sagen. Seit gestern weiß ich's.«

»Was?«

»Daß ich Mutter bin. Von dir.«

»Nit schlecht!« Heiter streckte sich Malimmes. »Wenn man hundertweis die Menschen totschlagt, müssen sie einschichtig wieder herwachsen.« Freundlich strich er mit der Hand über das Blondhaar des Mädels. »Tu dich freuen! Mutter sein ist ein gutes Ding. Trag dein Kindl in Lieb und Sauberkeit! Brauchst du was von mir, so verlangt! Und wenn du kommst und bringst mir das Kindl, so reden wir weiter. Jetzt hab ich nit Zeit. Behüt dich derweil!«

Er ging mit Lachen davon und verschwand in der Luke.

Traudi trocknete die Tränen vom Gesicht und trug dem Malimmes den Weinkrug und die Schüssel nach.

Aus der Tiefe des Turmes klang wachsender Stimmenlärm und wirres Geräusch herauf.

Hauptmann Grans begann die kleine Besatzung der Plaienburg für die ›Ablösung‹ zu rüsten und ließ unter den Gehängen des Burghügels die Stallbuden für den Kriegstrupp aufschlagen, der am kommenden Morgen im Saalachtal erscheinen mußte.

10

Sechs Spießknechte, die der Hauptmann zu Plaien am späten Abend in seine Schlafstube gerufen hatte, verließen nach Einbruch der Nacht die Burg durch eine Schlupftür. Es hieß, sie sollten der nahenden Ablösung entgegenziehen und die Straße sichern.

Um die zehnte Stunde war's ruhig in den Burghöfen. Droben in der Schlafstube des Hauptmanns brannte noch Licht, und von Zeit zu Zeit deckte der schwarze Schatten eines Mannes die rötliche Fensterhelle. Das war, als träte ein Ungeduldiger immer wieder an das Fenster, um in die Nacht hinauszuspähen.

Im inneren Hofe saß ein Schlafloser vor der Türe des kleinen Gästehauses auf der Steinbank, regungslos, mit der Stirne zwischen den Fäusten.

Jul, in einen Mantel gewickelt, trat aus der Tür und legte dem Gebeugten die Hand auf die Schulter: »Geh, tu rasten ein lützel!«

Runotter nickte. »Ich komm schon. Bald.«

Jul ging in das Haus zurück. Und Runotter saß aufrecht gegen die Mauer gelehnt, mit den Fäusten auf den Knien. Seine Augen suchten in der stahlblauen Höhe, in der die ruhigen Sterne funkelten.

Matter Lichtschein fiel aus den kleinen Fensterluken der Ställe. Manchmal hörte man das Schnauben und Wiehern eines Pferdes das Klirren einer Kette, die müde Stimme einer Stallwache. Und wie ein Chorgesang von tausend sanften Murmelklängen war das Rauschen der Saalach in der stillen Nacht.

Die Felswände der Staufen und die Steinzinnen der Lattenberge wurden weiß vom Lichte des steigenden Vollmonds. Doch über Turm und Dächer von Plaien warf der schwarze Untersberg noch seinen finsteren Schatten.

Oder kam auch da droben auf diesen dunklen Gehängen schon der Mond? Eine wunderliche Helle zitterte über die steilen Wälder hinauf, und schwarze Waldmassen begannen sich mit rötlichem Schimmer zu säumen.

Runotter erhob sich, höhlte die Hände um den Mund und rief gegen den Söller des Turmes hinauf: »Höi! Wächter! Siehst du da droben das Feuer nit?«

Aus der schwarzen Höhe klang eine Stimme: »Wohl, ich schau schon allweil und weiß nit, was ich denken soll.«

Da wurde droben am Haus der Burg das erleuchtete Schlafstubenfenster aufgerissen, und der Hauptmann rief zum Turm hinüber: »Was ist denn?«

Während zwischen Haus und Turm die Stimmen hin und her klangen, wurde es in den Höfen lebendig. Die Söldner sprangen aus der Wachtstube und aus ihren Schlafkammern, die Roßbuben aus den Ställen, die Gesindleute aus dem Haus.

Dann kam der Hauptmann scheltend herunter und bestieg den Turm.

Auf dem Gehäng des Untersberges wuchs die Feuerhelle. Da droben lag der Hirschanger mit sieben bayrischen Bauernhöfen. Und man konnte nimmer zweifeln: Dort oben waren wieder ein paar leuchtende Sterne auf die schöne Erde gefallen. Man sah die Züngelflammen von Heustädeln und Hausdächern. Waren Spießknechte des heiligen Peter von Berchtesgaden brandschatzend auf bayrisches Gebiet geraten? Anders konnte man sich die brennenden Feuer da droben nicht erklären. Aber noch immer schüttelte Hauptmann Grans den struwelhaarigen Kopf: »Die Gadnischen müßt ja doch der Teufel reiten bei so einer Frechheit!«

Da hörte man in der Nacht das Geschrei von Menschen, die durch den Wald herunterflüchteten, hörte das Gebrüll von Rindern, das Gerassel ihrer Schellen, und zwischen den schwarzen Bäumen zitterte ein Schein von Fackeln, die der Plaienburg immer näher kamen.

Während der Vollmond über die Höhe des Gadnischen Hallturmes heraufstieg, das Tal der Saalach mit weißer Milch überflutete und neugierig aus dem ewigen Blau herunterguckte auf das sonderbare Treiben der Menschen, erreichte der Schwarm der Flüchtenden vom Hirschanger, an die dreißig Menschen – Männer, Weiber und Kinder, mit sechzig Rindern – das Tor der Plaienburg. Weil die kleine, enge Feste solchen Zulauf nicht fassen konnte, wurde das Vieh der Flüchtigen in den Baracken untergebracht, die man am Abend für die aus Burghausen angesagte ›Ablösungstruppe‹ aufgeschlagen hatte.

Die Bauern berichteten: Von der Gadnischen Seite wären Spießknechte brandschatzend eingefallen; weil sie zuerst die auf den höheren Wiesen stehenden Heustädel niederbrannten, hätte sich alles Lebendige aus den Bauernhöfen noch rechtzeitig flüchten können, bevor das Feuer in die Häuser geworfen wurde.

Hauptmann Grans brüllte vor Zorn über diesen gottsträflichen Friedensbruch. Und dennoch schien seine tobende Wut eine kühle Sache zu sein, die ihm den Herzfleck nicht heiß machte. Nur die obdachlos gewordenen Bauern hatten das richtige Zornfeuer in ihren Seelen, die Weiber weinten oder schimpften, die Kinder zitterten stumm oder heulten. Und die Söldner, weil sie Arbeit und Beute witterten, schlugen einen Spektakel auf, daß alles Gemäuer der Burg widerhallte von ihrem Geschrei.

Es blieb dem Hauptmann Grans nach Brauch und Gesetz nichts andres übrig, als vier Reiter mit einem scharfzüngigen Sergeanten zum Berchtesgadnischen Hallturm hinaufzuschicken und in Herzog Heinrichs Namen strenge Sühne wegen dieser friedensbrecherischen Brandschatzung zu fordern.

Nach blassen Mondscheinstunden begann der Morgen eines schönen Tages sich rosig zu erhellen.

Die fünf Abgesandten brachten die Meldung: Der Hallturmer schwöre die heiligsten Eide, daß er von der Brandschatzung nichts wüßte und wider Herzog Heinrich schuldlos wäre; keine Seele der Gadnischen Besatzung hatte während der Nacht den Burgfried und die Schanzen verlassen; er müsse nach üblichen Rechten jede Sühne verweigern; diesen brennenden Unfried hätte wohl der heilige Zeno in Falschheit angezunden, um den heiligen Peter von Berchtesgaden bei Herzog Heinrich schlecht zu machen.

Die Antwort wurde von der Plaienschen Besatzung mit Hohn und schreiendem Lärm empfangen. Und während die Söldner und Bauern einen wilden Rumor erhoben und den Hauptmann hetzten, der unentschlossen und schweigsam war, schmetterte plötzlich auf der Turmhöhe der Ruf eines Hornes.

Herr Martin Grans tat einen Atemzug der Erleichterung, sprang zum Turin hinüber und eilte hinauf zum Söller.

Der Hornbläser empfing den Hauptmann mit den drei vergnügten Worten: »Sie kommen, Herr!«

Es ging schon auf die sechste Morgenstunde. Die Höhen der Berge glühten im jungen Sonnenschein, und die Farben der Täler waren hell und leuchtend, obwohl sie noch vom zarten Blauschatten des Morgens umschleiert lagen. In der nördlichen Ferne draußen war das hügelige Land der Tiefe schon eine goldig schimmernde Schönheit. Inmitten dieses friedsamen Erdenleuchtens sah man etwas wunderlich Dunkles. Auf der Pidinger Straße kam's heran. Und war wie eine lange, lange, bräunliche Schlange, die sich trag bewegte – war wie ein riesenhafter Tausendfüßler, stachlig und borstig – war wie ein rätselhaftes Untier, das sich in Windungen vorwärts schob, einen dicken staubgrauen Dampf aus seinen Ringen und Gliedern ausstieß und unter diesem wehenden Qualm ein Blitzen sehen ließ wie von metallenen Schuppen.

Lachend rief der Hauptmann: »Jetzt bin ich erlöst! Jetzt sollen die Berchtesgadner einen Dampf unter der Nase merken.« Er eilte hinunter in den Hof und schrie den Sergeanten an: »Was sagt der heilige Peter?«

»Daß er schuldlos wär und daß er –«

Weiter ließ Herr Grans den Sergeanten nicht reden. »Reit hinauf! Und sag, daß mein gnädigster Herr sich nit abspeisen läßt mit Lügen und Ausflüchten. Meine geschädigten Bauren schwören: Das sind Gadnische Brandschatzer gewesen, zehn oder zwölf oder mehr. Ich will sagen, es sind bloß acht gewesen. Die hat der heilige Peter bis zur neunten Morgenstund gebunden, barhäuptig und barfüßig vor mein Gericht zu schicken. Und bis zur gleichen Stund hat der heilige Peter für den angestifteten Schaden gerechte Buß zu geben: zehn Pfund Pfennig für jeden niedergebronnenen Heustadel, vierzig Pfund Pfennig für jedes gebrandschatzte Bauernhaus. Ist binnen drei Stunden nit glatte Rechnung gemacht, so steht Glock zehne mein gnädigster Fürst, Herr Herzog Heinrich, in gerechter Fehd wider Land und Volk und Hab und Gut des heiligen Peter!«

Beim Austritt des Sergeanten und der vier Geleitsknechte erfüllte ein jubelnder Lärm den Hof der Bürg. Die Söldner schienen verwandelt in einen Schwarm von Betrunkenen. Sie wußten: Für den Hallturmer war's ein unmögliches Ding, die Forderungen des Hauptmanns von Plaien zu erfüllen; dann würde Glock zehn das Klopfen mit dem Eisen beginnen; lang konnte sich der Gadnische Grenzwall wider einen festen Sturm nicht halten; und vielleicht am Abend schon, doch sicher am kommenden Morgen, gab es ein lustiges Hetzen hinter den Fliehenden, und zu Berchtesgaden gab es Raub und Beute, Wein und Weiber. Freilich, Verwundete und Tote gab es wohl auch! Doch jeder von diesen Hoffnungsvollen dachte: ›Das trifft den andern! Ich leb und raub und sauf und lach und freu mich!‹

Neben dem lärmenden Jubel, der den Burghof erfüllte, stand das Häuflein der sieben Ramsauer stumm beisammen. Sechse hatten ernste Gesichter. Nur einer von ihnen blieb heiter, guckte lachend hinein in das rumorende Gewirr und sagte leise: »Wenn die Herren raufen, muß der Bauer Haar lassen.«

Ein warmer Strahl der Sonne, die ihren Weg zur Höhe nahm, glitt über die Mauerkante in den Hof herunter.

Da klammerte Runotter die Faust um das Handgelenk des Malimmes: »Tu nit lachen, Mensch!«

»Warum denn nit? Narretei macht allweil lustig.«

»Narretei? Sag: Schlechtigkeit und Unrecht!«

»So?« Malimmes lachte. »Merkst, wie der Schneider den Kittel flickt, wenn das Tuch nit reicht?«

»Ich merk: Vor einem schiechen Ding bin ich davongelaufen, in ein schieches Ding bin ich hineingerumpelt.« Mit brennenden Augen sah Runotter den Söldner an. »Mensch? Wo ist denn ein Sträßl, auf dem das Gute lauft?«

»Das ist allweil hinter dem Berg«, Malimmes schmunzelte, »und da muß man halt hinüber.« Ernst werdend, legte er die Hand auf den Arm des Bauern. »Sei gescheit! Nit sinnieren! Tu lieber einen kühlen Trunk! Und bleib das feste Mannsbild, das du gewesen! Bloß für den, der sich selber verliert, ist alles hin.«

Runotter wollte antworten. Aber da trat Herr Martin Grans auf ihn zu, mit verdrießlichem Gesicht, und sagte: »Wie ist das jetzt? Wenn wir losschlagen Glock zehn? Willst du ein verläßlicher Fehdgenoß meines Herrn sein?«

Der Bauer hob den Kopf. In seinem steinernen Gesicht bewegte sich kein Zug. Und seine Augen irrten ins Leere, während er dem Hauptmann die Hand hinstreckte. »Ich muß. Und will. Und mich und die Meinigen darf man hinstellen, wo's am härtesten ist.«

Da wurde der Hauptmann freundlich und sagte lächelnd: »Gut! So tu dich rüsten!«

Schweigend nickte Runotter und ging zur Türe des Gastbaues.

»Komm, Jul!« Malimmes legte den Arm um den stummen, blassen Buben, dessen Augen seltsam glänzten. Dann sagte er den Knechten, was sie tun müßten. Und während die drei zum Stall hinüberliefen, zog Malimmes den Buben zur Türe. Das blonde Mädel ging hinter den beiden her. Auf der Schwelle drehte Malimmes das Gesicht: »Willst du was helfen, Traudi?«

Das Mädel nickte froh.

»So näh für den Heiner aus lindem Tuch eine Kapp! Daß ihm der Eisenhut die frische Mordauer Narb nit aufdruckt. Geh! Mach flink! Bist ein gutes Maidl!«

Unbeweglich blieb Traudi stehen. Ein jähes Erblassen rann ihr über das müde Gesicht. Langsam glitt ihr Blick von Malimmes zu diesem andern, von dem sie nur wissen durfte, daß er ein Vetter des Runotter war. Und während sie dem schlanken Buben nachsah, der da so fürsorglich in das Dunkel der Türe geleitet wurde, blitzten ihre Augen in Haß und Eifersucht.

Aus der Türe klang es noch heraus: »Hast du das Kappel fertig, so ruf die Unsrigen zusammen und bring uns Trunk und Speis!«

Jul und Malimmes traten in eine kleine, niedere Stube, durch deren Fenster die Sonne mit goldenen Augen hereinblinzelte. Ein Strahl fiel über den Runotter hin, der auf der Wandbank saß und mit dem Wetzstein sein Eisen schärfte, wie er einst bei trockener Mahd die Sense zu schärfen pflegte.

»Mach die Schneid nit gar zu fein!« mahnte Malimmes. »Wie gröber, so besser geht sie durch Hauben und Platten.«

Der Bauer nickte. »Ich nimm schon den Faden mit dem Stein wieder weg.« Er tat einen schweren Atemzug. »Und geht mein Eisen in Scherben, so schlag ich mit dem Stumpen zu. Mir grauset vor Welt und Leut.«

»Mir nit.« Malimmes lachte. »Alles ist, wie man's anschaut. Ein Katzenhaar in der Supp ist ein grauslich Ding. Aber wenn die Katz nackicht wär, so tät sie frieren. Sie will warm haben. Da muß man einsehen, daß sie einen Pelz braucht. Und was ein Pelz ist, muß Haar verlieren. Die Katz kann nit ausschauen, wie sie einer haben möcht, den jedes fremde Härlein kitzelt.« Bei diesem heiteren Schwatzen öffnete er eine Truhe und kramte allerlei Lederwerk und klirrendes Zeug auf den Tisch heraus. »Laß alles sein, wie's ist, und guck's lustig an! Ein Fröhlicher verschluckt die haarige Welt, und sie peiniget ihm den Magen nit. Ein Trauriger muß sie wieder speien. Und nachher graust ihm.« Nun schob er den Buben in den Sonnenstreif, der durch das Fenster hereinfiel, und zog am Küraß des Jul die Schnallen auf.

»Den laß mir!« stammelte Jul erschrocken.

»Kriegst ihn schon wieder! Und ist ja doch kein Fremdes in der Stub.« Der Küraß klaffte auseinander, und Malimmes stellte die leere Eisenmuschel auf den Boden hin. »Der Segen kommt von oben, sagen die Frommen. Aber rüsten muß man von unt auf. Erst die Beinschienen. Die müssen fest am Gurt hängen, sonst drucken sie das Knie. Schau nur, wie gut sie passen! Als hätt sie dir der Hofschneider angemessen!« Er lachte. »Und ich hab sie doch in des Hauptmanns Rüstkammer nur nach dem Augenmaß ausgesucht.« Achtsam zog er die Schnallen zu; sie mußten haken und durften nicht drücken. »So, Bub. Die Schuh hab ich dir scharf beschlagen. Auf deine Füß brauchst du nit achtgeben!« Er schnallte den aus feinen Stahlringen geflochtenen Kettenschurz um des Buben Hüfte. »Tu nur nie einen Schritt nach rückwärts! Spring all weil fest voraus! Ein mutiger Sprung ist halb schon der Sieg. Und in der Not kriegen die Füß Verstand. Die laß nur tun, wie sie mögen. Mußt auch dem Feind nit auf die Füß schauen! Dem schau auf die Hand und in die Augen!«

»In die Augen!« wiederholte Jul mit leiser Stimme. Der Bub hatte den Blick eines Fieberkranken, der wach ist und ohne Bewußtsein träumt.

Runotter erhob sich von der Fensterbank. Schweigend schob er das geschärfte Schwert in die Lederscheide und begann sich für die eiserne Arbeit zu kleiden.

»So!« sagte Malimmes. »Jetzt die Armkacheln! Die müssen Luft haben. Versuch's, Bub, streck die Arm nach aufwärts!«

Jul hob die Arme.

»Gut so! Und vergiß das nie: Ein Streich geht um so tiefer, wie höher als er kommt.« Bei diesen Worten holte Malimmes vom Tisch ein wunderliches Wehrstück; es sah wie eine große lederne Brille aus und hatte Achselbänder wie ein Mieder.

»Was ist das?« fragte Jul.

»Wirst schon sehen! Laß dir's nur antun! Komm!«

»Nein!« Die Wangen des Buben brannten. »Ich mag das nit!«

»Geh, sei nit unschickig!« mahnte Malimmes herzlich. »Das Pölsterlein hab ich genäht für dich, daß dir die Harnaschplatten nit das Herzl drucken.« Nun lachte er heiter. »Angemessen hab ich's freilich nit. Aber es wird schon passen. Ich hab ein gutes Augenmaß.«

Jul wehrte mit den Händen. »Ich mag das nit.«

Da sagte Runotter ernst: »Tu folgen Bub! Das Leben dreht sich nit um, wenn auch die Menschenleut alles zu öberst und unterst kehren. Tu, wie er's haben will! Tät die Mutter noch leben, sie könnt nit treuer sorgen für dich.« Er legte dem Söldner die Hand auf die Schulter. »Vergelt's Gott, Mensch!« Dann ging er zur Türe. »Ich schau derweil nach den Gäulen.«

Schweigend gehorchte der Bub und ließ sich dieses wunderliche Wehrstück um die Brust schnallen.

Als Malimmes die Haken schloß, sagte er lustig: »Gelt, es paßt. Ich verschau mich nit leicht.«

Jul hatte feuchte Augen und sah in den Sonnenschein, der das Fenster umflimmerte.

»So! Jetzt kriegst den Küraß wieder, den du nit lassen magst! Du schämigs Bürschl du!« Malimmes nahm die zwei Eisenmuscheln, legte sie um Brust und Rücken des Buben, schob die Achselkanten unter die Schulterkacheln der Armschienen, ließ die Nuten einschnappen und schloß die Schnallen. »Sitzt alles gut?«

Der Bub nickte.

Und Malimmes fragte lachend: »Sag selber, ob dir der Küraß nit leichter ist, seit du das Pölsterlein hast?«

Wieder nickte Jul.

»Weißt, Bub, allem Hartem muß man was Lindes unterlegen. Sonst druckt's. – Jetzt heb den Arm und tu einen Streich!«

Die eisernen Platten knirschten, als Jul die Faust hinter den Nacken hob und unter festem Sprung einen Streich ins Leere tat.

»Höia! Gut so!« lachte Malimmes in Freude. »Beim richtigen Hieb müssen Streich und Fürsprung allweil eins sein, wie Männdl und Weibl in der Lieb. Der Streich muß schlagen, der Sprung muß stoßen. Und wenn's den andern niederreißt – gleich drüber weg und gegen den nächsten los! So springt man all weil der Not davon und dem Leben zu.«

»Wenn es – den andern – niederreißt?« Jul atmete schwer, und ein wehes Suchen war in seinen verstörten Augen. »Das muß hart sein –«

»Was, Bub?«

»Den ersten fallen sehen. Und wissen, man ist schuld an seinem Tod.«

»Da gewöhnt man sich dran. Beim ersten bremselt's einen. Beim zweiten tut man sich schon leichter. Beim dritten ist's wie Nußknacken. Und alles schiebt man auf den Krieg. Was willst? So macht halt der Krieg die Leut.«

»Krieg? Das ist ein grausiges Wort!« Wieder atmete der Bub, als lägen ihm schwere Gewichte auf der Seele. »Muß das sein auf der Welt?«

»Meinen sollt man freilich, es wär nit nötig. Von jedem Krieg, der anhebt, könnt ein Gescheiter sagen: ›Das muß nit sein, es geht auch anders.‹ Aber da schreien die unsinnigen Narren gleich: ›Es muß, es muß!‹ Und so geht's haltlos.«

»Wird das allweil so bleiben?«

»Solang die Menschen nit anders werden. Jetzt sind sie halt noch, wie sie allweil gewesen. Und eh der Maulwurf nit das Graben laßt, wird der Mensch die Rechthaberei und das Zannen nit lassen.«

Malimmes hatte vom Tisch ein stählernes Ringgeflecht genommen, welches Hauptschutz und Halsberge in einem Stück war. Und während er am Fenster in der Sonne stand und immer dieses leisklirrende Flechtwerk schüttelte, damit die Stahlringe sich glatt und gleichmäßig legen möchten, schwatzte er mit ruhigen Worten:

»Freilich, es kann auch anders sein. Was Sicheres weiß keiner. Könnt auch sein, daß Elend, Schreck und Grausen ein notwendig Ding im Leben sind, damit die Menschen merken, was Glück und ruhsame Zeiten wert sind. Bei ewigem Tag müßten die Menschen wie blind sein. Sehen lernt man bloß in den Nächten. Und wie kostbar der Frieden ist, das lernt man bloß im Krieg. Und Katz ist Katz, und Krieg ist Krieg. Schlagt der ander zu, so mußt du dich wehren. Und stehen muß, wer nit fallen will. Noch allweil besser: Ich leb und schnauf, derweil der ander ins Gras beißt. In Gottesnamen, drischt man hak den andern nieder. So muß man's halten als guter Kriegsmann.«

Er stülpte dem Jul eine leichte, wattierte Leinenkappe übers Haar und zog ihm dann das feine Stahlgeflecht über Wangen und Nase herunter.

Aus dem Oval der Kettenhaube guckte das eng von glitzernden Ringen umrahmte Gesicht des Buben bleich heraus. Seine Augen sahen in die Sonne, während er düstern fragte: »Malimmes?«

»Was, lieber Bub?«

»Glaubst du, daß die Berchtesgadnischen viel gute Kriegsleut haben?«

»Nit viel. Mein Bruder ist keiner.« Lachend kniete Malimmes auf den Boden nieder, weil er an den Beinschienen noch was zu richten fand.

Zögernd, immer mit dem Blick an dem leuchtenden Fleck der Sonne hängend, fragte Jul: »Meinst du, daß der Jungherr Someiner ein guter ist?«

Malimmes hob jäh das Gesicht. Seine sonnverbrannte Stirn entfärbte sich, und die große Narbe fing dunkel zu glühen an. Doch ruhig sagte er: »Ein schlechter oder guter – Angst brauchst du nit haben. Wir zwei, wir fürchten uns nit. Wirst du nit fertig mit ihm – ich hilf schon, weißt!«

Da klang es wie ein zorniger Schrei: »Das darfst du nit!«

»Was nit?«

Die Stimme des Buben wurde langsam und schwer: »Den mußt du mir lassen!« Müd machte Jul mit der Faust die Bewegung eines Schlages.

Ein kurzes Schweigen. »Gut!« Und Malimmes mit einem wunderlichen Lächeln, stand vom Boden auf. »Wie's dir am besten taugt. Man muß nur allweil sagen, wie man's haben will.« Er ging zum Tisch und holte die eiserne Schaller. »Aber – eins mußt du dir merken, Bub: Was man will, muß man können. Oder man darf nicht wollen, was man nit kann.« Weiter sprach er kein Wort mehr, während er dem Buben den blanken Eisenhut über die Kettenhaube stülpte und unter dem geschützten Kinn die Sturmspange festmachte. Schweigend schnallte er ihm das Dolchgehenk um den Küraß und gab ihm die Schwertkette um die Schulter.

Jul, den Knauf des Schwertes fassend, sagte leis: »Viel Ding im Leben sind hart.«

»Das Härteste sollst du nit kennen lernen.«

Mit großen Augen sah der Bub den Söldner an. »Das Härteste? Was ist das?«

»Wenn einer friert. Und möcht sich wärmen an der besten Glut. Und kann seiner Lebtag nie nit zum richtigen Ofen kommen.«

Jul fragte scheu: »Was tut so einer?«

»Lachen!« Da fand Malimmes wieder seinen heiteren Ton. »Wenn er ein Kluger sein will. Oder heulen – wenn er ein wehleidiges Rindviech ist.«

Runotter trat in die Stube.

»Guck, Bauer! Jetzt schau den Buben an! Allweil heißt's: Herr Albrecht, der Münchner Prinz, wär von allen fürstlichen Jungherren der Feinste. Aber im Eisen kann er auch nit schöner dastehen als wie der Jul! Und wenn der Bub erst droben hockt auf seinem Burghausener Falben! Gotts Unmut und Schabernack des Lebens – ich freu mich drauf!«

»Geh, du!« sagte der Bub erglühend.

Und Runotter nickte. In dem Lächeln, das seinen schmalen Mund umzuckte, waren Schmerzen. Er faßte die Hand des Buben. »Geb's Gott, daß wir uns morgen die Hand wieder bieten können. Oder übermorgen. Weiter denk ich nit.«

Die Knechte kamen. Heiner war sehr stolz auf die sauber genähte Leinenkappe, die unter seinem Eisenhut herausguckte. Er rühmte die Geschicklichkeit der weiblichen Hände im allgemeinen, insbesondere die geschickte Hand der guten Traudi. Aber die Traudi, obwohl sie schon in der Stube war, hörte das warme Lob nicht. Schweigend deckte sie den Tisch, brachte das Mahl und den Weinkrug mit dem letzten Trank, den die sieben in der Burg von Plaien nehmen sollten. Immer gingen die zornigen Augen des schweigsamen Mädels zwischen Jul und Malimmes hin und her.

Die sieben beteten. Sechse redeten fromm mit Gott. Das blonde Mädel, das ein keimendes Leben unter dem Herzen trug, erflehte von der Allmacht des Himmels den Tod eines jungen Menschenkindes.

Während die sieben unter sparsamen Worten aßen, rann immer wieder ein feines Zittern durch den Stubenboden, durch alles Gemäuer. Und ein dumpfer Lärm quoll aus dem Tal herauf, das dem Burghügel zu Füßen lag.

Dieses leise Erdenzittern rührte von den schweren Geschützen her, von denen jedes – die beiden Kammerbüchsen, die grobe Farzerin und der schwere Blidenkarren – durch ein Gespann von sechzehn Pferden über die steile Bergstraße gegen den Hallturm hinaufgezogen wurde. Dazu noch zwanzig Kugel- und Pulverkarren, jeder mit zehn Pferden bespannt.

Das geschah ›zu heilsamer Verwarnung‹ – um den heiligen Peter wegen seiner ›friedensbrecherischen Brandschatzung bayrischer Bauernhöfe‹ zu nachgiebiger Reue und zu schuldiger Buße zu bewegen.

Vor und neben und hinter diesen dröhnenden, rasselnden Kriegsfahrzeugen marschierte und ritt ein Heerhaufe, der sich, seit er von Burghausen eingetroffen war, um zwanzig Reiter, sechzig Spießknechte und sechs Faustbüchsen vermindert hatte. Die waren mit Franzikopus Weiß am Ufer der Saalach abgeschwenkt, um unter Befehl des heiligen Zeno den Inhalt jenes Schatzkoffers abzuverdienen, der das kostbare Eingeweide des ›runden Turmes‹ von Burghausen vergrößert hatte.

Kurz vor der neunten Morgenstunde rückte auch die Wehrmacht von Plaien aus. Hinter den Mauern blieben nur ein paar Helme als Besatzung und Torwache zurück. Die gebrandschatzten Bauern vom Hirschanger, wie alle Mannsleute von den Bauernhöfen im Umkreis der Feste, mußten als Schanzgräber mit ausrücken.

In dem Raiszuge, der von Plaien hinaufklirrte zum Hallturm, hielt sich das Häuflein der Ramsauer dicht hinter dem Hauptmann Grans und seinem Sergeanten: Jul auf dem zierlichen Falben, Runotter auf dem flinken Schimmel, der seinen Ramsauer Heubauch völlig verloren hatte, und Malimmes auf dem noch übrigen Ackergaul, bei dem die Künste des Reiters die Fälligkeiten des Kriegsrosses ersetzen mußten. Die drei Knechte schritten als Spießleut hintendrein.

Runotter und Jul waren schweigsam. Hauptmann Grans tuschelte leis mit dem Sergeanten. Doch sonst ging ein heiteres Schwatzen, Lachen und Singen durch den frisch marschierenden Zug, für den in die ser reinen Morgenluft eine Witterung von Beute war.

Der Berchtesgadnische Hallturm lag versteckt, weil der Weg durch dichten Hochwald führte. Als der Zug schon bald zur Paßhöhe kam, holte er den Burghausener Heerhaufen ein, dessen Spießknechte auf einem neben der Straße gelegenen Hügel Auf dem ›Fuchsenstein‹, die Bäume niederschlugen, um die drei Geschütze und das Schleuderwerk in gute Stellung zu bringen, achthundert Schritte von der Gadnischen Grenzmauer entfernt.

Der Hall der Axtschläge, das Dröhnen der stürzenden Bäume, die aufgeregt durcheinander schreienden Menschenstimmen, das Stampfen, Keuchen und Wiehern der Pferde, das Rädergeknatter und die Kommandorufe übertönten das Murmellied der klaren Bäche und das schöne Rauschen des Waldes, über dessen Wipfel ein scharfer Ostwind herblies. Und die heiß werdende Sonne glänzte herunter auf ein Geblitze von Waffen und auf ein Gewimmel tollgewordener Farben, die so lustig durcheinander leuchteten, als sollte inmitten des ernstgrünen Bergwaldes eine bunte Faschingsmette ihren Anfang nehmen.

Hauptmann Grans war mit dem Büchsenmeister Kuen und dem Hauptmann Seipelstorfer zu einem geheimen Kriegsrat zusammengetreten, abseits vom Gewimmel des Heerhaufens und vom Geschrei der Burghausener Gelägerdirnen, die ihre Huschelzelte und Zapfbuden aufschlugen, schon Feuer machten und zu kochen begannen.

Die drei Herren, die sich da berieten, waren so guter Laune, als vertrieben sie sich die Zeit mit dem Erzählen lustiger Geschichten.

Auch bei den Geschützen gab's eine Heiterkeit. Die Bauern, von denen die meisten noch nie eine Bumbarde gesehen hatten, drängten sich mit Hacken und Spaten auf den Schultern um die zwei Kammerbüchsen und die plumpe Trommelkanone, die sechs Rohre hatte, mit Hilfe des Springfeuers einer Zündschnur in flinker Folge sechs faustgroße Kugeln schoß – pu pu pu pu pu pu – und von diesem hurtigen Gepummer ihren Namen hatte. Die kleinere der beiden Kammerbüchsen hieß die ›Hornaußin‹, und auf der größeren war in schwer entzifferbarer Spiegelschrift ein Vers in Metall gegossen:

Die Landshuterin heiß ich Auf den Ingolstädter pfeif ich.

Als die Bauern das Sprüchlein enträtselt hatten, begannen sie eine derbe Debatte über die Frage, ob dieser unreine Reim als sinngemäß zu erachten wäre. Lang hatten sie nicht zu lachen; sie mußten gleich die Schanzarbeit auf dem Fuchsenstein beginnen.

Vor der zehnten Morgenstunde wurde der Sergeant mit dem weißen Fähnlein und einem Geleit von vier Knechten ausgeschickt, um sich beim heiligen Peter nach dem letzten Worte zu erkundigen.

»Geh mit!« sagte Hauptmann Grans zu Malimmes. »Du bist einer, der weiß, wie man eine Mauer angucken muß!«

Malimmes empfing diesen Auftrag wie eine willkommene Sache. Er ließ den Ackergaul galoppieren, um das Häuflein der Parlamentäre einzuholen. Das war ein kurzer Ritt. Schon nach hundert Schritten, an der Grenze des bayrischen Landes, ging der Wald zu Ende. Am Saum des Gehölzes liefen alte Schanzgräben durch das Tal und erzählten von Fehden vergangener Zeiten.

Vor wenigen Tagen war da ein dichter Hochwald noch ein paar hundert Schritte weiter gegen den Hallturm hin gestanden. Die Berchtesgadnischen hatten quer durch das schmale Tal, von Bergwand zu Bergwand, diese tausend hundertjährigen Bäume niedergeschlagen, um für die Angreifenden die Deckung zu mindern. Dadurch hatten sie für sich selbst den Schutz eines fast unüberwindlichen Verhaues gewonnen; in mannshohem Wuste lagen, jedem Ansturm wehrend, die niedergeschlagenen Bäume wirr durcheinander, den Waldgrund des engen Tales und die Straße bedeckend mit einem Gefilze starrender Äste. Wo die Straße unter diesem grünen und braunen Chaos verschwand, da standen friedlich drei Grenzpfähle in bunten Farben beisammen; der eine trug das Wappen mit den Schlüsseln des heiligen Peter, der andre zeigte das Wappen des heiligen Zeno, an den dritten war eine Tafel mit der Inschrift genagelt: »Hie Paierlant!«

Und hinter dem braunen und grünen Gewirr von Stämmen und Ästen erhob sich die lange, nach links und rechts gegen die unwegsamen Felswände kletternde, durch sieben feste Türme gestützte Mauer des Gadnischen Grenzwalles am Hallturm, mit dem klobigen Torbau in der Talsohle, mit der hochgezogenen Brücke zwischen den beiden Tortürmen.

Auf den Zinnen sah man viele kleine, zierliche Figürchen, die von Waffen blitzten. Steile, sonnbeglänzte Dächer stiegen hinter der Mauer auf. Die Sonne vergoldete alles Gestein und Gemäuer, machte alle Kanten gleißen wie poliertes Metall und zeichnete die Schatten der Türme wie blaue Bilder in dieses Gold. Ein so farbenschöner, wundersamer Anblick war's, daß man hätte träumen mögen: »Hier steht die Pforte eines paradiesischen Landes!« Doch ums Träumen war es dem Sergeanten mit dem weißen Fähnlein, seinen vier Geleitsknechten und dem Malimmes in dieser Stunde nicht zu tun. Sie hatten die Pferde zurückgelassen, und während der Sergeant, der diesen üblen Weg seit Mitternacht schon zum fünften Male machte, das weiße Fähnlein mit den Zähnen festhielt, quälten sich die sechse unter Schwitzen, Lachen und Fluchen durch das Gewirr der Äste. Je näher sie dem Tor des Hallturmes kamen, um so deutlicher hörten sie die Spottreden der Gadnischen Herren und Knechte, die auf der Mauer waren und mit Heiterkeit der mühseligen Kletterei der Parlamentäre zuguckten. Aber diese Heiterkeit und ihre Späße hatten etwas Gezwungenes. Den Gadnischen war nicht sonderlich wohl zumute. Ein mächtiger Fürst, den man ernster nehmen mußte als den heiligen Zeno, war ihnen bös geworden, bedrohliche Dinge schienen da im Dunkel zu spielen, und eine schwere Übermacht lag vor der Mauer. Diese Mauer war von erfahrenen Kriegsleuten angelegt, war gut und konnte auch einem harten Sturme trotzen. Und der Weg zur Mauer war vorerst noch gesperrt durch diesen niedergeschlagenen Wald. Das Gewirr dieser hunderttausend Äste war aber nur ein Schutz, solang gut Wetter blieb und dieser scharfe Ostwind blies. Da würde der Hauptmann Grans sich hüten, Feuer in diesen Verhau zu werfen. Der Ostwind würde die Flammen hinunterblasen in die bayrischen Wälder, gegen den Heerhauf, der da drunten lagerte und sich eingrub mit seinen Geschützen, und gegen die Höfe und Mauern von Plaien.

Doch wenn das Wetter umschlug und der Westwind einsetzte?

Aber war der Patron der Gadnischen, der heilige Peter, nicht der himmlische Wettermacher? Der würde sich doch als verläßlich und treu erweisen? Und die Sonne scheinen und den Ostwind blasen lassen?

Auch Herr Armansperger, der bejahrte Hauptmann des Berchtesgadnischen Hallturms, erhoffte sich alles Beste von den Schönwetterkräften des heiligen Peter. Dennoch hatte er in dunkler Sorge am hellen Morgen einen reitenden Boten nach Berchtesgaden zu Herrn Pienzenauer gesandt und ihm die rätselhafte Brandschatzung auf dem bayrischen Hirschanger, die unerfüllbare Forderung des Hauptmanns von Plaien und das Nahen eines mächtigen Heerhaufens melden lassen. Bei dieser Nachricht war Fürst Pienzenauer mit dem Stoßgebet aus dem Bette gesprungen: »Hätt doch der Teufel die siebzehn Ochsen geholt, eh Ruppert sie bei den Schwänzen packte!«

Was zu Berchtesgaden ein Eisen schwingen konnte, mußte zum Hallturm marschieren, die neue Anna und die neue Susanne rasselten im Galopp ihrer Gespanne der bedrohten Pforte des Landes zu, die Kugel- und Pulverkarren knatterten hinterdrein, und Fürst Pienzenauer ritt in sausender Hast nach der andern Seite davon, um von Salzburg Hilfe in der Not zu erflehen, und wär's auch gegen Verpfändung der Schellenberger Pfannstätte. Lieber ein kostbares Glied aus dem Leibe reißen, als mit dem Kopf bezahlen.

Herr Armansperger, während er vom Bord der Mauer Zwiesprach mit dem Sergeanten von Plaien hielt, konnte das Rädergerassel der zwei nahenden Geschütze hören, die man binnen sechsunddreißig Stunden zu Berchtesgaden geschmiedet und gegossen hatte. Als sie über die Innenbrücke des Hallturms fuhren, machten sie einen so dröhnenden Spektakel, daß Herr Armansperger sein eignes Wort nimmer hörte und nicht weiterverhandeln konnte. Er verschwand von der Mauer. Vor den sechs Parlamentären fiel die Kettenbrücke über den Wassergraben herunter. Man sah in eine Halle, die von Gepanzerten wimmelte. An die zwanzig kamen heraus, und der Plaiensche Sergeant, dem man die Augen mit einem weißen Tuch umhüllte, wurde in die Feste geführt. Hinter ihm hob sich die Brücke wieder.

Seine vier Geleitsknechte lagerten sich in der schönen Sonne auf dem Boden. Malimmes blieb stehen, auf den Bidenhänder gestützt, und musterte mit prüfendem Blick das Gemäuer und die Türme.

Er sah es gleich: Diese Mauer mußte man in schwerem Sturme berennen. Zu umgehen war sie nicht. Zur Linken und zur Rechten, wo sie gegen den Untersberg und gegen den Rotofenkopf des Lattengebirges auslief, war steiles, unwegsames Gehänge. Oder gab es da doch einen Weg? Irgendwo da droben? Für Füße, die mit den Bergen vertraut waren? Zur Rechten, auf dem Rotofenkopf? Nein. Zur Linken, auf dem Untersberg?

Die Augen des Malimmes spähten. Hoch droben im Sturz des Berges entdeckte er ein Felsband. Das war, auch wenn der Mondschein half, ein übler Weg für die Nacht. Ein Weg, auf dem es bei jedem Schritt ums Halsbrechen ging. Aber ein Weg war es doch.

Schmunzelnd musterte Malimmes die Mauer wieder. Wo war auf dieser linken Seite die schwächste Stelle?

Da gewahrte er auf einem Wehrsöller dieser Mauerseite unter andern Leuten der Besatzung das verwitterte Bartgesicht seines Bruders Marimpfel. Als langjähriger Hofmann stand Marimpfel bei der Kerntruppe des Stiftes. Die hatte man hingestellt, wo man die besten Leute brauchte, weil da die Mauer am leichtesten zu fassen war. Hier mußte man also stürmen, hier den Gadnischen in den Rücken fallen.

Malimmes umging den Wassergraben, der in dem steinigen Talschnitt nur das Tor und seine Türme schützte. Auf steilem Felsgerölle stieg er gegen den Fuß der Mauer hin und winkte lachend zum Wehrsöller hinauf: »Grüß dich, Bruder! Auch schon munter?«

Marimpfel war verdrießlich. Er brüllte über die Mauer: »Eh du heut die Augen auf getan hast, hab ich die Hos schon viermal umgedreht.«

»Sooo?« Malimmes lachte. »Wenn du mit dem Eisen so flink bist wie mit dem Hosenbändel, da wird's uns schlecht gehen.«

»Kann schon sein, daß man dich aufzieht. Beim wievielten Hänfenen bist du schon?«

»Auf den sechsten wart ich. Oder kommt erst der fünfte? Mir geht's wie einer Wittib, die nimmer weiß, was ihr zusteht.«

Weil dieses Gleichnis die Mannsleut auf der Mauer erheiterte, lachte auch Marimpfel mit. »Bist du bei denen da drüben? Soldest dem Landshuter?«

»Das nit. Aber haben hätt er mich mögen.«

»Zu dem tatst passen! Ist ein Feiner, der! Wissen tut man's. Aber sagen darf man's nit. Mir scheint, der hat heut nacht auf dem Hirschanger die bayrischen Kinder schiech in den eignen Dreck gewickelt.«

»Tu's ihm halt verzeihen! Bedreckte Kinder muß man nit gleich wegschmeißen. Wozu ist das saubere Wasser da? Geh, Bruder, sei gutherzig!«

»Was Bruder! Ich bin Hofmann. Bei mir da heißt's: Hie Freund, seil Feind!«

Malimmes lachte. »Da bin ich dümmer wie du. Für midi bleibst allweil noch ein Tröpfl aus meiner Mutter Blut. Und da kannst mir als Bruder einen Gefallen tun!« Im Gesicht des Malimmes spannte sich jeder Zug. »Magst von mir einen Gruß ausrichten an euren Jungherrn Someiner?«

Marimpfel, der lieber nach Ingolstadt geritten wäre, als daß er hier auf der Mauer stand, war seit zwei Tagen auf Lampert Someiner nicht gut zu sprechen. Er brüllte: »Den Gruß richt selber aus! Aber weit wirst laufen müssen!«

Einer von den Spießknechten auf der Mauer faßte den Schreier am Arm, als wollte er ihn zum Schweigen mahnen. Marimpfel befreite seinen Arm. »Laß aus! Ich weiß schon, was ich red. Es gibt halt Leut, die lieber in der Welt umeinandersausen, als daß sie auf der Mauer bei ehrlicher Fehd ihr feines Häutl verkaufen.«

Die Augen des Malimmes erweiterten sich. Und er dachte an den ›hurtigen Reiter‹, von dem Herr Heinrich zu Burghausen gesprochen hatte. Heiter lachend nickte er zu Marimpfel hinauf. »Da muß ich meinen Gruß halt selber bestellen, wenn ich hinter die Mauer komm.«

»Du? Hinter die Mauer?« Ein Hohngelächter. Auch die andern Spießknechte da droben beteiligten sich.

»Wohl! Morgen! Aber tu nit Sorg haben! Bruder ist Bruder. Wo du auf der Mauer stehst, da stürm ich nit.«

»Komm nur, wenn du Schneid hast!« schrie Marimpfel in Zorn. »Aber trauen tust dich nit!«

»Sooo? Bist du so stark, daß du Angst hast vor dir selber?« Und lachend ging Malimmes dem Wasser graben zu.

Die Brücke fiel. Man nahm dem Sergeanten die weiße Binde von den Augen. Dann rasselten die schweren Ketten wieder gegen die Mauer hinauf.

Der Sergeant trat auf die Seinen zu und sagte: »Krieg! Sie schwören noch allweil, daß sie unschuldig wären an der Brandschatzung.«

Heiter fragte Malimmes: »Ist das für dich eine Neuigkeit?«

Die sechse kletterten über die niedergeschlagenen Bäume.

Als die heißgewordene Sonne in der Mittagshöhe stand, eröffnete man auf dem Fuchsenstein das Feuer mit der Burghausener Trommelkanone. Und da mußten die Berge ein Echo für einen neuen, drolligen Hall ersinnen, den sie zum ersten Male Hörten:

»Pu pu pu pu pu pu!«

Bei diesem Gepummer, das die Berge ein bißchen undeutlich nachmachten, flog über dem niedergeschlagenen Wald drüben an einem Turm des Gadnischen Tores eine Wolke von Staub und Steinbrocken auf. Und neben einer Mauerluke wurde der Chorherr Jettenrösch ohnmächtig. Wohl erholte er sich bald. Aber der Streifschuß, den er am rechten Arm bekommen, machte ihn doch zu weiteren Heldentaten unbrauchbar. Und weil er an zarte Hände gewöhnt war, entzog er sich dem Hallturmer Feldscher, ritt mit einem Notverband nach Berchtesgaden und gab sich bei seiner Pfennigfrau, dem frummen Fräulein Rusaley, in verläßliche Pflege.

Bald nach dem ersten Schuß der Trommelkanone fing auf dem Fuchsenstein auch die ›Landshuterin‹ zu pfeifen und die ›Hornaußin‹ zu stechen an. Vom Hallturm antworteten die ›Anna‹ und die ›Susanne‹; sie hatten feste Stimmen und doch eine schwache Lunge; die Steinkugeln, die sie schössen, fielen entweder in das Astgewirr des niedergeschlagenen Waldes oder richteten an den Schanzen des Fuchsensteins nur schwächlichen Schaden an, der von den fronenden Bauern flink wieder ausgebessert wurde.

Gegen die zweite Nachmittagsstunde war drunten beim heiligen Zeno zu Reichenhall, im Tal der Saalach, etwas Seltsames zu gewahren. Das magere Flüßlein verwandelte sich plötzlich in eine riesige Silberschlange. Eine Überschwemmung bei schönem Wetter! Herr Martin Grans verstand dieses Rätsel: Um mit den Burghausener Hilfstruppen die Berchtesgadnische Grenzwacht im Scwarzenbachtal berennen zu können, ließ der heilige Zeno den angestauten Wehrsee wieder ablaufen. Das brauchte Zeit! Bis der Reichenhaller Sturmhaufe da drüben hinter dem Lattengebirge trocknen Boden bekam, mußte wohl die ganze Nacht und der Morgen vergehen. Aber dann hatte der heilige Zeno leichten Weg. Und wenn er nicht als erster nach Berchtesgaden kommen und den besten Rahm von der Raubschüssel schöpfen sollte, mußte man auf dem Fuchsenstein und beim Hallturm flinke Arbeit machen.

Die Hauptleute wurden unruhig und gerieten in Sorge. Sie kannten ihre Kriegsknechte und wußten aus häufiger Erfahrung, was von dem plünderungslustigen Haufen, dessen halber Sold in der Aussicht auf Beute bestand, zu erwarten war, wenn er um das ersehnte Raubgut betrogen wurde. Da gab es Aufruhr und Meuterei.

Seit dem Bericht, den Malimmes von der Mauer brachte, hatten die Hauptleute ihren Sturmplan fertig. Doch immer blies dieser verwünschte Ostwind, der den Hallturm wie mit einem wunderwirkenden Mantel umhüllte.

War der heilige Peter kein verläßlicher Patron der Seinen? Oder gibt es Dinge, wider die auch der stärkste aller Heiligen machtlos ist? Denn kaum begann die silberne Riesenschlange im Tal der Saalach dick zu werden, da sah man auf dem ebenem Lande draußen aus dem reinen Blau des heißen Sommertages ein paar kleine, weiße, kugelige Wölklein herauswachsen, die von Minute zu Minute größer wurden. Die nordwestliche Ferne umdunstete sich. Bei der Donau drunten, dort, wo Ingolstadt und Regensburg liegen mußten, schob sich eine stahlblaue Wolkenbank über den Horizont herauf. Dieses dunkle Blau der Ferne wurde bräunlich, gelblich, wurde silbergrau vom Regen, vom fallenden Hagel des nahenden Gewitters.

Als begänne die reine Luft über den Bergen diesen Himmelsaufruhr der Ferne schon zu fühlen, so fing der schöne Ostwind in Unruh zu wechseln an. Martin Grans erklärte: Das von der Donau herziehende Gewitter würde über dem Untersberge stehen, ehe der Abend käme; und durch den niedergeschlagenen Wald müßte ein Sturmweg ausgebrannt sein, bevor in der Nacht die löschenden Regenströme fielen.

Beim Fuchsenstein entwickelte sich ein aufgeregtes, wirr durcheinander zappelndes Leben. Zwanzig Freiwillige, in den Bergen geborene Leute, wurden aufgerufen und mit den Ramsauern unter den Befehl des Malimmes gestellt. Und während die sechsundzwanzig durch den Wald davonkletterten, gegen den Untersberg hinauf, fingen die ›Hornaußin‹ und die ›Landshuterin‹ fleißig zu brüllen an, und die Blide mit ihrem großen, surrenden Schleuderbeutel begann in hohem Bogen die brennenden Pechfässer zu werfen. Wie braune Tageskometen mit langen Rauchschwänzen flogen sie durch die schöne Sonne, fielen vor der Berchtesgadnischen Mauer in den Waldverhau und steckten das Astgewirr der niedergeschlagenen Stämme in lohenden Brand.

Wenn die Gadnischen mit Wasserkübeln schwarmweis aus dem Hallturm herausstürzten, um den aufschlagenden Brand zu löschen, begannen auf dem Fuchsenstein die Faustbüchsen zu knattern, und die Trommelkanone pupupuputete. Der Büchsenmeister Kuen verstand seine Sache. Von den Löschleuten des heiligen Peter wurde mancher, der mit zwei triefenden Wasserkübeln aus dem Tor des Hallturmes herausgesprungen war, mit leeren und schlaffen Händen wieder in das Tor hineingetragen.

Als unter dem Kugelhagel des Fuchsensteines gegen den züngelnden Brand des Verhaues mit Wasser nicht mehr aufzukommen war, begannen die Antwerke auf der Gadnischen Mauer große Körbe mit Erde, Sand und Mist in das Feuer zu schleudern, um es zu ersticken. Aber der Ostwind blies, schürte die halb erlöschenden Gluten immer wieder an, ließ das Feuer von der Gadnischen Mauer weg durch den Waldverhau sich durchfressen gegen den Fuchsenstein und trieb die dicken Rauchwolken auf den bayrischen Heerhaufen zu und über die Plaienschen Gehänge des Untersberges.

So dick war die Luft mit diesen Rauchmassen angefüllt, daß man von dem nahenden Gewitter in der nördlichen Ferne nichts mehr sehen konnte. Herr Martin Grans, der sonst nicht zu den Andächtigen zählte, begann auf die Hilfe des Himmels zu bauen. »Laßt der gütige Herrgott nit regnen, bis der Sturmweg durchgebronnen ist, so haben wir des Teufels Arbeit wider uns selber gemacht.«

Auch die sechsundzwanzig, die durch den Hochwald des Untersberges hinaufkletterten, hatten unter diesen stickenden Rauchschwaden, die der fackelnde Ostwind über sie her peitschte, schwer zu leiden. Oft mußten sie sich zu Boden werfen, die Gesichter in das Moos drücken oder die in einem Wildbach mit Wasser getränkten Mäntel um die Köpfe wickeln. Doch je höher sie kamen, um so dünner wurde der Rauch. Die Leute klommen über den steilen Hang empor, keuchend, hustend, die Gesichter von Schweiß übergössen. Wo sie rinnendes Wasser fanden, fuhren sie mit den Händen hinein, tranken und benetzten die Augen. Jul, der immer unter den ersten kletterte, wurde schwach und fing zu taumeln an. Malimmes stützte den Buben, Runotter lief um Wasser. Da schlug unter heftigem Sausen der Wind um, und plötzlich waren die sechsundzwanzig in reiner Luft und hatten über sich den blauen Himmel und die klare Sonne, unter sich ein graues, flutendes Rauchmeer, das sich gegen Osten schob und den ganzen Kessel des Tales füllte. Von dem brennenden Verhau, vom Fuchsenstein und vom Hallturm war unter diesen hastig treibenden Schleiern nichts zu sehen.

Jul erholte sich, als er Wasser getrunken hatte. Auf alle Fragen, ob er sich wohl fühle und wieder klettern könne, nickte er stumm. Malimmes nahm dem Buben die Eisenschaller, die Kettenhaube und die Armkacheln ab; und alles lud er am Bidenhänder auf seine Schulter. Runotter sagte: »Gib mir das!« Malimmes schüttelte den Kopf: »Ich spür's nit.«

Sie klommen, bis der Wald zu Ende ging und auf dem steilen Gehäng die niederen Latschenstauden begannen. Hier mußten sie bleiben und die Nacht erwarten.

»Tu mir die Leut in guter Deckung zwischen den Stauden halten«, sagte Malimmes zu Runotter, »ich steig mit dem Buben zu einem Fleckl hinaus, wo ich guten Lugaus hab.« Er legte die Wehrstücke zu Boden. »Komm, Jul! Eh die Nacht nit da ist;, brauchst du dein Wehrzeug nimmer.«

Die beiden kletterten über den Sturz des Berges hin, bis Malimmes sagte: »Der Westwind treibt den Rauch zum Rotofen hinüber. Wir müssen uns decken. Sonst könnten wir sichtig werden für die am Hallturm. Komm, tu rasten und laß dir wohl werden!«

Auf einer schroffen Felsnase ließen die zwei sich zwischen dichten Latschenstauden in das linde Berggras nieder. Durch eine Gasse des Gebüsches konnten sie hinunterschauen in die Tiefe, in der das Feuer als roter Vorläufer der Kriegsscharen kämpfte. Die Kammerbüchsen schwiegen, seit der wallende Rauch da drunten das Zielen unmöglich machte. Doch der schärfer werdende Westwind säuberte den Fuchsenstein immer mehr von diesen grauen Schleiern. Man konnte schon das Gewimmel des Heerhaufens und das Zeltgewirr des Gelägers erblicken. Das alles sah so fein und zierlich aus wie ein Spielzeug vornehmer Kinder. Nun entschleierte sich auch der Brand des niedergeschlagenen Waldes. In der Tiefe mußte das eine grauenhafte Flamme sein; doch aus der Höhe gesehen war's ein hübsches, liebliches Geflacker, rötlich, bläulich und gelb, mit zartem Rauchgeringel; das Rauschen und Geprassel des Feuers klang herauf wie das Geplätscher eines Brunnens; und wenn das Schleuderwerk auf dem Fuchsenstein nach den noch nicht in Brand geratenen Teilen des Waldverhaues ein neues, flammendes, qualmendes Pechfaß schleuderte, war es anzusehen, als flöge da drunten ein kleiner Käfer, dessen Rückenschild in der Sonne glitzerte.

Lachend sagte Malimmes: »Da schau hinunter, Bub! Jetzt versteh ich ein lützel was von des lieben Herrgotts Gleichmut. Wenn das da drunt schon für uns so kleinweis herguckt, wie lausig muß für einen in der höchsten Höh alles ausschauen, was auf dem Erdboden umeinander krabbelt!«

Ein schweres Atmen machte ihn aufblicken. Er sah erschrocken in das erschöpfte Gesicht des Jul, dessen Augen rote Ränder hatten wie von heißem Weinen.

»Bub?«

Jul beugte sich langsam vor und deutete mit gestrecktem Arm hinunter gegen den Hallturm, über den sich der Rauch zwischen heiß wabernden Luftströmen in dicken Schwaden hinwälzte. – »Schau nur – schau – was müssen die armen Leut da drunt für ein schweres Schnaufen haben!«

Malimmes mußte barmherzig sein und lügen: »Ist nit so arg! Die können sich hinter der Mauer bergen und in den Wehrstuben hocken.«

»Bis –« Jul konnte nimmer reden.

»Was meinst du, Bub?«

»Bis wir kommen und dreinschlagen mit dem Eisen.« Die Zähne des Buben knirschten wir vor einem Schreikrampf. »Ich weiß doch, wie schiech es ist! Und muß es tun. Ich muß – ich muß –«

Da sagte Malimmes hastig: »Das nit, Bub! Nit ums Herrgotts willen! Auf den einen wirst du morgen nit losschlagen müssen. Per ist nit da drunt bei der Mauer. Fürgestern ist er nach Ingolstadt geritten.«

Jul hob das erstarrte Gesicht, um das die schwarzen, nassen Haarsträhnen hingen. In seinem Blick war ein tiefer Schreck, der hinüberglänzte in eine so schöne Freude, als käme eine erlöste Seele aus diesen Augen heraus. Dann war's wieder eine schwere Trauer. Jul schüttelte den Kopf, als möchte er sagen: Du verstehst mich nit! Sich beugend, preßte er die Stirn auf das eisengeschiente Knie und brach in stummes, würgendes Schluchzen aus.

Malimmes legte den Arm um des Buben Küraß. Reden konnte er nicht. Und wie ein Frierender fing er zu zittern an. Dieser Rauhe, der ohne Träne war, hätte in diesem Augenblick die Sonne vom Himmel reißen mögen, um sie einer dürstenden Menschenseele in die Hände zu legen.

Sich leis bewegend, wiegte er den schluchzenden Buben an seiner Schulter. Dann fing er mit einer Stimme, die fein und heiter klang, nach einer seltsam heimlichen Weise langsam zu singen an:

»Ich leb, weiß nit, wie lang, Ja, leb, wie lang? Ich sterb und weiß nit, wann, Ja, sterb, und wann? Ich reit, weiß nit, wohin, Wohin? Weiß nit, warum ich so fröhlich bin!«

Das gleiche sang er ein zweites Mal. Und wieder. Wieder. Bis Jul das Gesicht erhob und flüsternd sagte: »Das ist schön.«

»Gelt ja? Hab nit oft ein Wörtl gehört, das gescheiter geredet hätt von Glück und Leben. Und weißt du, wo ich das Liedlein herhab? Sieben Jahr ist's, Bub, da hab ich einem Heckenreiter gesoldet. Und die Regensburger haben mich hopp genommen und haben mich in den schiechen Turm geworfen, den man den Gießübel heißt. Und in der trüben Lochstub ist das Liedlein eingeschnitten gewesen in den mürben Tisch. Und weißt du, von wem? Der Lochwärtl hat mir's gesagt: von einem, den die Regensburger zum Tod gesprochen haben.«

Irgendwo ein dumpfes Rauschen. Und ein Dröhnen in der Ferne, wie von tausend brüllenden Hauptbüchsen.

Jul und Malimmes hoben die Gesichter. Und da sahen sie in den fernen Lüften ein Wunder stehen, so schreckhaft und von so herrlicher Schönheit, daß sie ihrer selbst und aller Nähe vergaßen.

Weit draußen im Tal der Saalach, in der Scharte zwischen Untersberg und Staufen, stand über dem ebenen Land das entfesselte Gewitter, das von der Donau gezogen kam. Unter dem blauen Himmel und neben der Sonne, die noch auf die Berge schien, war das ferne Wettergewölk anzusehen wie eine riesenhafte, graublaue und schwarzbraune, mit Gold und Silber beschlagene Himmelstruhe, durch deren Ritzen die edlen Geschmeide Gottes blitzten. Aus der oberen Wolkendecke, die von Sonne schimmerte, wuchsen schneeweiße Dampfbäume gegen das leuchtende Blau hinauf, wie Palmen und Pinien gestaltet, mit rosigen Blumen und goldenen Trauben behangen. Und unter den Wolken, in dem stahlblauen und schattengrauen Gewirr der Regengüsse, zuckten mit grellem Schein oder in grünlichem Leuchten die Blitze hin und her. Und wenn die Blitze nach aufwärts durch die Wolkendecke stachen, faßten sie die silbernen Nebelbäume, ringelten sich wie glitzernde Schlangen über die Stämme hinauf, verteilten sich im Gezweig, machten die Blumen und Trauben brennen – und aus den Wipfeln fuhren sie verzüngelt in die blassen Dünste wie wehendes Goldhaar. Und dazu ein Rauschen, Dröhnen und Rollen, als käme der Schöpfer gefahren auf seinem Wagen, der gezogen wurde von den Riesen der Ewigkeit.

Schweigend nahm Malimmes den Eisenhut vom Haar. Und Jul, die Hände ineinanderklammernd, fing mit der bebenden Stimme eines Weibes zu beten an.

11

Unter den peitschenden Regengüssen und prasselnden Hagelschlägen des Gewitters, das über die bayrischen Lande niederging, jagte Lampert Someiner in klebenden Kleidern auf seinem erschöpften, triefenden Rappen der vieltürmigen Stadt entgegen, die wie ein grauer Schemen hinter den Schleiern des vom Himmel fallenden Wassers lag.

Irgendwo in diesem Grau, ganz nahe und dennoch unsichtbar, rauschte die hochgeschwollene Donau so stark, daß auch der rollende Donner dieses Rauschen nicht völlig übertönen konnte. Sooft das blaue oder weißgrelle Leuchten eines Blitzes durch die Lüfte ging, verstärkte sich der in großen Tropfen niederklatschende Regen, oder es prasselte ein neuer Hagelschauer aus den Wolken herunter. Auf der Straße versanken die Hagelkörner in Morast und Pfützen, doch auf den Wiesen und über den zerschlagenen Getreidefeldern neben der Straße lagen sie wie dicker Schnee. Und über diesem Schnee war tischhoch der weißliche Dunst, zu dem die auffallenden Regentropfen auf den harten Eiskörnern zerstäubten.

Moorle jagte mit gesenktem Schädel, keuchend, die Augen vorgequollen, daß man rings um die angstvollen Lichter das blutunterlaufene Weiße sah. Lampert, um sich leicht zu machen und den Winddruck zu verkleinern, lag mit Brust und Gesicht auf der Mähne des Pferdes. Nur sein Schwert hatte er behalten – alles andre, die Packung des Pferdes, den Mantel, die Arm-und Beinschienen, den Plattenküraß und die Stahlhaube, hatte er bei dieser hetzenden Verfolgung fortgeworfen, um die Last für den Gaul zu mindern und diesen sechs rätselhaften Heckenreitern zu entrinnen, die er seit dem Morgen hinter den Fersen hatte. Zwei von den Stiftsgäulen waren niedergebrochen. Nun mußte Moorle seinen letzten Atem hergeben und aushalten bis zum Ingolstädter Tor.

Während Lampert den erschöpften Rappen mit Spornstößen hetzte, wandte er immer wieder das Gesicht. Von seinem Knecht und den sechs Reitern war seit einer Weile nichts mehr zu sehen.

Diese Reiter? Die immer verschwunden waren, um immer wieder aufzutauchen? Lampert wußte nicht, was er von ihnen denken sollte. Manchmal hatte diese Verfolgung sich angesehen wie ein boshafter Narrenstreich, wie ein Blindekuhscherz. Erst waren es nur zwei gewesen, dann viere, dann sechse. Auf offenem Geländ und in der Nähe von Dörfern hatten sie gespielt mit ihm wie Katzen mit der Maus, die nimmer entrinnen kann. Doch sooft sich die Straße in dichtem Wald verlor, war's Ernst geworden, bei keuchendem Jagen. Und im letzten Wald vor Ingolstadt, bei Ausbruch des Gewitters, hatten sie den Knecht eingeholt und aus dem Sattel gerissen.

Strauchdiebe? Die sich mit einem abgeschundenen Pferd, mit Kittel und Hemd eines Knechtes begnügten?

Ein Blitz fuhr nieder, daß Straße und Wiesen wie in Feuer schwammen. Dann ein Gerassel in den Lüften. Moorle scheute, und seine Hufe hämmerten über die Bohlen der Donaubrücke. Aus den grauen Wassergüssen des Gewitters tauchten die schweren Türme heraus, schwarz vor Nässe.

Lampert mußte auf dem zitternden Gaul eine Weile harren, bis im Tor das schwere Balkengatter aufging.

In der Mauthalle drängte sich ein Schwarm von bunten Söldnern um den triefenden Reiter her.

»Botschaft an Herzog Ludwig! Geleit vom heiligen Peter zu Berchtesgaden!«

Lamperts Stimme klang so heiser, daß die Mautknechte über diese krächzenden Laute zu lachen begannen. Man gab ihm zwei Söldner, die ihn zur Burg des Herzogs führen sollten, und versprach ihm, zehn Reiter auf die Suche nach seinem verschwundenen Knecht zu schicken. Er stieg aus dem Sattel, um den zitternden Gaul zu entlasten. Nach diesem mehr als vierzigstündigen Ritte wurde das Gehen für Lampert eine harte Mühe. Den linken Arm, der heftig schmerzte, konnte er kaum bewegen. Auch Moorle war fertig und kroch wie ein zerprügelter Ackergaul über das grobe Pflaster hin. Die enge Straße war leer, doch unter den Torhallen standen buntgekleidete Menschen dichtgedrängt beisammen, um das Ende des in grauen Schnüren fallenden Regens abzuwarten; sie machten Späße, als die zwei Söldner mit dem gewaschenen Fremden zwischen den plätschernden Dachtraufen und unter den Güssen der Wasserspeier vorübertappten.

Nach langem Weg durch winklige, von gelben Bächen überschwemmte Gassen erreichte Lampert das mit reichgekleideten Wachen besetzte Tor der herzoglichen Burg. Er wurde mit höfischer Umständlichkeit salutiert, und viele Diener stellten sich zu seinem Dienst. Lamperts erste Sorge gehörte dem übel zugerichteten Moorle. Als man den Gaul zu gutem Stall geführt hatte, lief einer von den rotgekleideten Leibtrabanten, die man ›Einrösser‹ nannte, flink davon, um dem Herzog die Ankunft des Berchtesgadnischen Herrn zu melden.

Die langen Hallen, die der Trabant durchschreiten mußte, um dem in die Höfe niederprasselnden Regen zu entgehen, wimmelten von rotgewandeten Söldnern, von grün und braun gekleideten Jägern und Falknern, von Herren in Scharlach und Silbergrau, mit der goldenen Edelmannschnur um die Hüte. In Herzog Ludwigs zahlreichem Hofgesinde diente neben den Soldknechten und Troßleuten ein halbes Tausend von Grafen und Rittern, von beutesüchtigen Abenteurern aus allen Ländern. Neben der heimatlichen Sprache hörte man Italienisch, Flämisch und Ungarisch, das Platt und den schwäbischen Dialekt, die rauhen Laute der Schweizer und am häufigsten das hurtig gleitende Französisch. Zwischen den Herren und Knechten ein Gewimmel von Jagdhunden. Man schwatzte, schrie und scherzte, daß es den Lärm des Regens übertönte; man zechte an langen Tischen bei Saitengeklimper, bei Brettspiel, Karten und Knöchelbecher. Herr Ludwig, der diesen Schwarm von Hofleuten nährte, ließ das viele Gold, das er aus Frankreich nach Ingolstadt verfrachtet hatte und das er im eignen, reichen Lande gewann, durch lockere Finger ins Leere laufen.

In einem kleinen, von hohem Kreuzgang umzogenen Hofe, der mit schönen Steinmetzarbeiten geziert war, standen trotz Regen und Traufe viele Herren, Söldner und Jäger mit Lachen und Schwatzen um große Holzkäfige und Körbe her, in denen Fasanen und ungarische Hirsche gekommen waren, um die Bestände des herzoglichen Tiergartens aufzufrischen. Die Jagdhunde kläfften das Hochwild an und schnupperten gierig den Duft der schönen Vögel.

Der Einrösser eilte durch lichtarme Korridore und über unbequeme Treppen hinauf. Das alte Schloß war düster und winklig in seiner Bauart. Doch die bedrückten Räume waren verschwenderisch ausgestattet, und in allen Gängen standen rotgekleidete Leibtrabanten mit vergoldeten Spießklingen.

Vor der Tagstube des Herzogs lag der einzige große Saal des Schlosses wie eine glitzernde Schatzkammer. Kunstvoll gewebte Bilderteppiche bedeckten die Wände. In verglasten Schränken schimmerte eine Fülle von Kostbarkeiten: Diademe, Gürtel und Kronen aus Smaragden und Saphiren; Heiligenschreine standen umher mit Schnitzereien aus Elfenbein; goldene und silberne Statuen glänzten, Hausaltäre mit Gemälden auf Goldgrund, verschwenderisch umkrustet von Perlen und Edelsteinen; und überall funkelten kristallene Gefäße und emaillierte Geräte, Werke der Schmelzkünstler von Limoges.

Die Heimat dieser Kostbarkeiten war Frankreich. Sein halbes Leben hatte Herr Ludwig in Paris und in französischen Königsschlössern zugebracht, wo die prunkvolle Tobsucht des Königs auf alle lebenden und toten Dinge seiner Umgebung abfärbte und aller höfische Brauch eine verrückte Schamlosigkeit atmete, für welche die Königin, Ludwigs Schwester Isabeau, das Vorbild stellte. Und als Herr Ludwig vor Jahren aus Frankreich flüchten mußte, hatte er diese ›Pfandstücke‹, für die er dem König und der Königin bayrisches Geld geliehen, nach Ingolstadt entführt – nicht adle mit gutem Recht. Seine Freunde nannten ihn drum einen ›klugen Kaufmann‹ – sein Vetter Heinrich zu Burghausen sagte: »Der Ingolstädter Dieb!«

In diesem Schimmersaal, bei der Türe, die zur Tagstube des Herzogs führte, saß ein bejahrter Mann, der Kämmerer Wolfgang Graumann, Herrn Ludwigs getreuer ›Wolfl‹. Neben ihm, auf einem großen, roten Kissen, ruhten zwei schöne, starke Hunde, braun und weiß gefleckte Bärenfinder, die aus dem berühmten Jagdhundzwinger des bayrischen Oberstjägermeisters Kaspar Törring stammten und des Herzogs Begleiter auf allen Wegen waren.

Der Einrösser machte seine Meldung, und Wolfl trat durch die Tür. Eine wohnliche Stube. Wertvolle Gemälde an den dunklen, mit goldbedrucktem Leder überspannten Wänden. Auffällig waren die vielen kleinen Statuetten von Bullenbeißern mit gefletschten Zähnen. Sie ersetzten die Spruchbänder, die in Herzog Heinrichs Stube zu Burghausen waren. Auf dem Marmorgesimse des französischen Kamines stand das größte dieser Bluthundbilder, ein schwerer Bronzeguß, auf dessen Sockel die lateinischen Worte zu lesen waren: »Memento, quia canis est!« Nach der Heimkehr vom Konzil zu Konstanz, als ein von schweren Wunden Genesener, hatte Herr Ludwig bei der Aufstellung dieser Gedächtnisstatue lachend gesagt: »Wenn ich den Mörder Heinrich einmal gebunden da herein schleppe, muß er sich das übersetzen lassen: ›Vergiß nicht, was für ein Hund das ist!‹ Selber versteht er's nicht.«

Die Stube hatte nur zwei winzige Fenster, bekam aber eine Fülle von Licht durch den neuen Erker, der aus einer Ecke des Raumes gegen die Donau hinausgebaut war. In diesem Erker hingen zierliche Goldkäfige mit fremdländischen Singvögeln, daneben ein größerer Flugkäfig mit kleinen grünen Papageien, die unter ruhelosem Gezwitscher allerlei wunderliche Maschinerien trieben, wenn sie Futter nahmen. Mit diesem steten Vogelgeschwätz und dem Traufengeplätscher des Regens mischte sich der Klang eines kunstvollen Lautenspiels. Der Musikus, in Scharlachfarbe gekleidet, ein Dreißigjähriger mit verschmitztem Geweht, saß in einem Polsterstuhl des Erkers, Peter Nachtigall, der Hoflautner des Herzogs, der Vertraute und geheime Briefbote bei seines Herrn verschwiegenen Zärtlichkeiten. In diesem sekreten Dienste hatte Peter Nachtigall viel zu tun, obwohl Herr Ludwig im Bart, der zu Paris seine beiden Gemahlinnen begraben hatte, schon im sechsundfünfzigsten Lebensjahre stand.

In seinem stattlichen Wuchs und seiner strotzenden Lebenskraft sah der Herzog wie ein Vierziger aus. Sein Vater Stephan war ein zierliches Männchen gewesen und Ludwigs Mutter Taddäa Visconti, die Schwester von Heinrichs Mutter Maddalena, eine schlanke, feingelenkige Südländerin. Und dennoch hatte sich der Sohn solcher Eltern, das Bild des kaiserlichen Ahnherrn wiederholend, zu diesem prachtvollen, mit Stolz und Lachen begabten, ritterlich gestalteten Mannsbild ausgewachsen, während alles Kleine und Lebensdunkle der Eltern auf seine an Gesicht und Körper zierliche Schwester Isabeau gekommen war, die auf dem Throne von Frankreich saß als das übelste Weib ihres Landes. Am Pariser Hof hatte Ludwig, der sich Loys zu nennen liebte, den scharmanten Schliff französischer Sitten angenommen und sich geschult in französischem Mutwillen. Doch er hatte bei seiner Flucht aus Frankreich – neben einer kleinen, häßlichen französischen Narbe am Hals – auch eine zweifelhafte Schätzung des deutschen Wesens mit heimgebracht und eine weitgehende Skrupellosigkeit in der Wahl der Mittel bei seinen zahlreichen politischen Händeln. Es mischte sich in ihm viel Gutes mit viel Bedenklichem: ein reizbares und leichtsinniges Blut mit einem lebhaften, für alles Schöne empfänglichen Gemüt, harter Eigenwille mit rascher Barmherzigkeit, hochfahren des Wesen gegen seinesgleichen mit leutseliger Güte gegen Anne und Niedrige.

Als Wolfl die Stube betrat, fand er den Herzog zu einer Stunde, die in Ludwigs großen, dunkelblauen Augen alles Gute seines Lebens glänzen machte. Neben dem reich geschnitzten Tisch, der viele Laden und Geheimfächer hatte, stand er hoch und stattlich, in einem lose gegürteten, aus Gold und Grün gewobenen Brokatrock, die rote, mit Hermelin verbrämte Sammetmütze über dem braunblonden, nur von wenigen grauen Fäden durchzogenen Haar. Der dunkelblonde, nach französischer Art geschnittene Vollbart umrahmte das kräftig gefärbte Gesicht mit der starken Nase und den roten, sinnlich geschwellten Lippen. Eine dicke Narbe ging schräg über die Stirn, und an den schön gepflegten Händen waren die Male schwerer Schnittwunden zu sehen – die Erinnerungszeichen an jene blutige Rächernacht zu Konstanz.

Mit diesen Händen hielt Herr Ludwig in Zärtlichkeit die Hand eines schönen, zwanzigjährigen Jünglings umschlossen, der in dunklen Reisekleidern vor dem Herzog stand wie ein in Jugend erneutes Ebenbild des Fürsten: Jungherr Wieland, Sohn der schönen Jungfrau Canetta, der Tochter des herzoglichen Rates Wieland Swelher zu Neuburg.

Ohne die Hand des Jünglings zu lassen, hob Herr Ludwig das Gesicht. »Mein guter Wolfl, was bringst du?«

»Ein Bote vom heiligen Peter zu Berchtesgaden ist eingeritten, Herr Lampert Someiner, mit einem Brief, der eilig ist.«

»Keine Botschaft ist so eilig, daß sie der Reinlichkeit nicht Zeit gewähren könnte.« Herr Ludwig sah zum Fenster, vor dem der Regen versiegte. »Der Ärmste hatte böses Reisewetter. Man soll ihm ein heißes Bad richten. Laß ihn essen und trinken, was ihm schmeckt. Dann kleid ihn aus meiner Kammer!«

Wolfl Graumann verschwand.

Herr Ludwig zog die Hand des Jünglings näher an seine Brust und sah ihm herzlich in die Augen. »Jetzt geh, mein lieber Junge! Du wirst zum Anfang deiner Reise noch schöne Stunden haben. Das Wetter hat sich ausgetobt, die Sonne will wieder kommen. Reise gut und bleib gesund! Dein Hofmeister weiß, wie es nach meinem Willen auf der hohen Schule zu Bologna mit dir gehalten werden soll. Sei fleißig und lerne tüchtig! Das Leben ist eine zweifelhafte Sache, die nur erträglich wird und Wert gewinnt durch Schönheit, Wissen und Kunst. Geh auch verständig mit deiner Jugend um! Freu dich, vergeude Gold, wenn es dir Spaß macht, aber schone das Beste deiner Lebenskraft! Tue, was ich selbst zuweilen unterließ: Zügle dein junges Blut! Aus Erfahrung weiß ich, daß Sturm in den Adern immer Gefahr ist. Man kann nie voraussehen, ob das einer Tugend zuläuft oder einem Laster! So, lieber Junge! Und jetzt –« Herr Ludwig zog am Tisch eine Lade auf.

Ein leises Knirschen an der Türe. Auch die Vorhänge bewegten sich. Doch niemand kam. Peter Nachtigall hob den Kopf und unterbrach sein träumerisches Saitengezirp durch kräftige Baßklänge. Herr Ludwig, von der Erregung des Augenblicks umfangen, überhörte den klirrenden Wink. Er nahm aus der Lade eine Goldkette heraus, an der ein Taubenblutrubin von seltener Schönheit blitzte. Diese Kette legte er um den Hals des jungen Wieland. »Nimm das! Als Geschenk zum Abschied. Das ist des heiligen Ludwigs achteckiger Rubin, den ihm ein Engel brachte – sagte man.« Der Herzog fand sein frohes und starkes Lachen. »So kommen des Himmels Güter auf uns irdische Sünder.«

»Herr«, stammelte Wieland in Freude, die auch Bestürzung war, »Ihr verschwendet der Güte zu viel an mich Unwürdigen.«

»Unwürdig? Manchmal bist du's! Es fehlt dir an Stolz und Selbstbewußtsein, zu dem du als mein Sohn ein Recht hast. Drum mißfällst du mir oft. Aber ich liebe dich. Zärtlichkeit, die ihren Gegenstand mit Lügen umschleiert, ist Schwäche. Liebe, die jeden Fehler des geliebten Menschen erkennt und dennoch liebt, ist Kraft.«

In tiefer Bewegung küßte Wieland die Hand des Fürsten. »Herr – wie soll ich danken –«

»Sag Vater zu mir! Mein Sohn bist du! Der andre ist mein Erbe, Gott sei's geklagt!«

Peter Nachtigall spielte eine sehr lärmende Weise, während die Papageien schrill zu schwatzen begannen.

»Du wirst in kommenden Zeiten nicht gut fahren mit meinem Erben, diesem Höckerlein von Gottes Gnaden. Drum hab ich für alle Fälle gesorgt.« Der Herzog sprach immer rascher. »Ich habe dir das Donaumoos verliehen. Die Feste Hohenstein sollst du haben. Auch sind zwölftausend rheinische, sechstausend ungarische Gulden und dreitausend Dukaten bei der Stadt Regensburg hinterlegt für dich. Und zwanzigtausend Gulden liegen bei den Stadtvätern in Lauingen, leider in Landshuter Silber. Die kleine Burghausener Laus versteht sich darauf, mir Nissen in den Pelz zu legen. Aber noch besser versteht sie sich auf schlechtes Münzen. Um den Schaden für dich auszugleichen, hat ich dir zu Straßburg etliche Kostbarkeiten hinterlegt, die meine Schwester an mich verpfändete: die Krone vom Tag, der Königin Schapel mit sechzig Rubinen und zweihundert Perlen, der Königin Rosenkranz und Gürtel. Urkund über alles liegt zu Neuburg bei deinem Großvater Swelher. Nein – du sollst nicht danken! Ich gebe, weil ich liebe. Laß dich küssen! Und geh!«

Herr Ludwig faßte den schönen Jüngling mit beiden Händen am Blondhaar, zog ihn ungestüm zu sich her, küßte ihn auf beide Wangen, schob ihn heftig von sich fort, wandte sich ab und trat zum Fenster. Der junge Wieland ging mit glühender Stirn zur Türe. Als er die schweren Vorhänge beiseite schob, erschrak er, daß sein Gesicht sich entfärbte. Peter Nachtigall ließ crescendo die Laute schnurren. Und da wurde Herr Ludwig aufmerksam. Er wandte sich vom Fenster und sah, wie der junge Wieland sich gegen den Türbehang verneigte und mit jagendem Schritt davonging. Der Herzog warf einen fragenden Blick zu Peter Nachtigall hinüber, trat auf die Türe zu und guckte hinter den Vorhang. »Du! – – Was machst du da?«

Eine hohe, glatte Knabenstimme: »Ich habe der holden Musik deines Peter Nachtigall gelauscht. Freude an schönen Klängen – du weißt doch, das ist das einzige, worin ich dir gleiche.«

Dem Herzog stieg es heiß in die Stirne. »Stehst du schon lange da?«

»Schon ein hübsches Weilchen.«

Herr Ludwig, gegen das Fenster schreitend, sagte mit unverhehlter Verachtung: »Lungern und lauschen! Wer auf der faulen Haut liegt, kommt zu bösen Gedanken.« Er drehte das zornrote Gesicht über die Schulter. »In deinem Alter, mit achtzehn Jahren, hab ich meinen ruhmvollen Feldzug gegen Flandern ausgefochten.«

»Du hattest gerade Glieder.«

Aus den Vorhängen, die sich beiseite schoben, trat in reicher Kleidung ein junger mißgestalteter Mensch hervor, mit großem Kopf, der von dünnen, braunen Haarsträhnen umhangen war, mit kleinem, hinter den Schultern wunderlich gehörntem Rumpf und mit langen, mageren Beinen – ähnlich einem langfüßigen Käfer, der aufrecht schreitet. Aus dem breiten, blassen, immer lächelnden Gesicht sprach eine frühreife Klugheit. Und unheimliche Dinge blitzten in diesen dunklen, spähenden Augen.

Das war Prinz Ludwig, den sie den ›Buckligen‹ und ›Ludwig Höckerlein‹ nannten, des Herzogs Erbe, der eheliche Sohn seiner ersten Gemahlin Anna von Bourbon.

Das Volk erzählte: Als Herzog Ludwig um der Sünden seiner Schwester willen vor einer Meuterei des französischen Adels flüchten mußte, hätte man das Knäblein Ludwig in einem kleinen, engen Maultierkorbe von Paris bis Ingolstadt gesäumt; bei diesem wochenlangen, gekrümmten Liegen in dem drückenden ›Kretzen‹ hätte sich das Körperchen des Knaben so häßlich entstellt. Aber die Ärzte des Herzogs wußten es anders. Sie wußten auch, daß der schöne Sohn der Jungfrau Canetta zwei Jahre vor Ludwig Höckerleins Geburt zur Welt gekommen war, ab Herzog Ludwig – damals noch Prinz – die heimatlichen Lande bereiste und an seinem Hals die häßliche französische Narbe noch nicht hatte.

Nach dem Wort des Buckligen – »Du hattest gerade Glieder!« – war langes Schweigen in der Stube. Ludwig Höckerlein blieb unbeweglich neben der Türe stehen, in den Augen die Pein seines entstellten Leibes, seinen funkelnden Haß und seine brennende Eifersucht. Der Herzog stand bei dem kleinen Fenster und sah in Mißmut zu, wie die goldschöne Abendsonne aus den verziehenden Wetterwolken blinzelte. In weiter Ferne – von Süden her, wo die Berge lagen – klang zuweilen noch ein Murren des Donners.

Herr Ludwig fragte heftig: »Was willst du jetzt? Bleiben? Oder gehen?«

Der Prinz lächelte steinern. »Bleiben. Meister Nachtigall hat wieder eine süße Weise gefunden – nach jenem lärmenden Zwischenspiel.« Er ging mit langen, langsamen Spinnenschritten auf den Tisch zu. »Es war nicht lärmend genug.« Sein Gesicht verzerrte sich, während seine Stimme glatt und freundlich blieb. »Ich konnte bemerken, daß heute bei dir ein Schenktag ist. Willst du deinen einzigen Sohn nicht auch bedenken?«

Herr Ludwig fuhr auf: »Deinen ewigen Geldhunger vergnüg ich mit keinem Pfennig.«

»Schade! Einer liebt zu sagen: Geld ist Macht.«

Jetzt brannte der Zorn im Herzog. »Mahne mich nicht an diesen Filz!«

»Die Leute sagen, er hätte viel Macht in seinem Schatzturm.«

»Meinst du?« Herr Ludwig wurde ruhig. »Aber frag nicht, wie er zu solcher Macht gekommen. Einer hat Gold aus einem Federbett gestohlen. Als er flüchten mußte, warf er den Raub ins Wasser. Die Goldstücke sanken unter, die Flaumen schwammen. So kommen die Wertlosen obenauf. Ein Witz dies Lebens.«

»Ich danke dir.«

»Weshalb?«

»In deinem Gleichnis ist eine Hoffnung für die Stiefkinder des Glücks.« Der Bucklige fand ein spielendes Lächeln, das sein Gesicht beinahe männlich machte. »Du bist Gold. Ich bin ein Fläumchen. Wenn ein helfender Wind bläst, will ich fliegen.«

Der Herzog sah den Lächelnden forschend an. »Höckerlein! Du weißt, ich mag dich auch um deiner übelsten Bosheit willen nicht strafen. Ich spreche keinen Verbrecher zum Tode. Soll ich nicht geduldig sein gegen meinen Sohn? Aber eine Wespe, die stechen will, verscheucht man.«

»Oder man beschäftigt sie und legt ihr eine süße Birne hin – süß, auch wenn sie schon ein bißchen faul ist.« Mit einem wunderlichen Schupf des mißförmigen Körpers setzte sich Prinz Ludwig auf die Lehne eines Stuhles, der vor dem Tische stand. »Vater?«

»Was?«

»Gefällt dir die Wickerspacherin noch immer?«

»Welche meinst du?« Herr Ludwig lachte kurz. »Die Mutter oder die Tochter? Schön sind beide.«

»Welche du willst.« Die Stimme dies Prinzen zitterte von einer dürstenden Gier seines Blutes. »Laß mir die andre!«

Der Herzog wurde heiter. »Höckerlein, du redest Unsinn. Such dir was Eignes!«

»Ich finde nichts. Die Häßlichen mag ich nicht. Die Schönen nimmst du!« Der Blick des Prinzen glänzte von Bosheit. »Nun bist du schon bald ein Greis. Dich sollte der Liebe genügen. Leidenschaft in deinen Jahren ist noch drolliger als mein Höcker. Laß die Jungen werben!«

Da stieg dem Herzog der Ärger in die Kehle. »Wirb! Ich selber möchte das erleben, daß dich eine nimmt. Dann wollte Ich versuchen, dich mit ihren Augen au sehen, damit du mir besser gefällst. Du bist mein Sohn. Gott und mein Herz sagen: Ich muß dich lieben. Aber du hinderst mich.«

Von diesen heftigen Worten des Vaters schien Prinz Ludwig nur das erste gehört zu haben. »Werben? Ich bin ungeschickt. Es wäre deine Pflicht, mich in die Schule zu nehmen. Du bist sehr erfahren in diesen Dingen.« Der Bucklige drehte das entstellte Gesicht zur Türe hin, durch die der junge Wieland ver schwunden war. Dann lächelte er wieder, mit einem Lauern in den Augen. »Ist das wahr, Vater, was die Mägde von dir erzählen?«

»Was erzählen sie?«

»Daß du das Unmögliche wahr machen kannst. Unter den zahllosen Mädchen, die du verführtest, soll auch eine Cisterciensernonne gewesen sein?« Im Blick des Buckligen war Freude, als er sah, wie tief er den Vater verwundet hatte.

Herr Ludwig hob die Faust, als möchte er sie niederschmettern auf die Stirn seines Sohnes.

Der Bucklige saß unbeweglich und sah den Vater neugierig an.

Mühsam sagte der Herzog: »Ich glaube stark zu sein wider eine Welt. Gegen deine kindische Schamlosigkeit bin ich machtlos.« Er tat einen Gang durch die Stube und blieb beim Erker stehen. »Nachtigall? Hast du das gehört? Was der Junge in seiner bösen Knabentorheit schwatzt, ist eine Komödie, daß meine Pariser Fratzenschneider mir keine lustigere vorspielen könnten.«

Langsam streckte sich der Bucklige. Seine Zunge, wie die Zunge eines Dürstenden, leckte über die bläulichen Lippen. Und seine Augen brannten. »Ich wüßte dir eine, die noch lustiger wäre.«

»Spiele sie!« schrie Herr Ludwig.

In die Wangen des Prinzen stieg eine krankhafte Röte. »Um diese Komödie für deine heiteren Nächte schreiben zu können, müßt' ich erst wissen, wie es der Oheim Galeaz Visconti machte, als er zu Mailand deinen Großvater Barnabas von der Herrschaft wegschob. Hat er ihn nicht auch im Kerker erwürgen lassen?«

Herr Ludwig stand eine Weile regungslos, in Entsetzen den Sohn betrachtend. Dann drehte er das Gesicht zum Erker. »Schweig, Nachtigall!« Die Laute verstummte. »Und verhänge die Käfige! Meine Vögel sollen nimmer singen. Aber bleibe bei mir! Ich mag nicht allein sein – mit diesem Kind!«

Während Peter Nachtigall mit dunkelroten Tüchern die Käfige verhängte, ging Herzog Ludwig rasch auf den Prinzen zu und schrie: »O du Laus du!« Er wurde ruhig. Die Kraft seines Lieblingswortes schien den wühlenden Zorn in ihm beschwichtigt zu haben. Ernst, beinahe traurig, sagte er: »Höckerlein! Laß dich warnen! Die Geschichte ist ein Schulmeister. Ermuntern soll das Vorbild der Guten. Das Schicksal der Bösen soll abschrecken.«

Der Bucklige lächelte fein. »Das ist eine bequeme Lehre für solche, die bös gewesen. Wenn die Maus satt ist, erzählt sie, das Mehl wäre bitter.«

Die Augen des Herzogs erweiterten sich. »Was soll das heißen?«

»Ich habe heut in alten Pergamenten gekramt. Da fand ich eine Urkund, in der sich dein Vater eidlich von dir versprechen ließ, daß du ihn zeitlebens ungekränkt bei Gewalt und Fürstentum lassen solltest.«

Dem Herzog fuhr eine heiße Blutwelle ins Gesicht.

Und freundlich fragte Prinz Ludwig: »Ist diese Urkund eine Fälschung?«

Ein wühlender Kampf im Herzog. »Nein.«

»Also hatte dein Vater Ursache, sich das von dir versprechen zu lassen? Wenn es dich beruhigt, Vater, unterschreib ich dir das gleiche Pergamente.«

In der Stube war dumpfe Stille. Verschwommen klang aus den Höfen das Geläut der Jagdhunde und die lärmende Heiterkeit des großen Menschenschwarmes. Sich nach vorne beugend, sagte Herr Ludwig mit zerdrückter Stimme: »Kind! Sieh meine Augen an! Sind sie naß?«

Heiter lächelte der Bucklige. »Ich weiß ein Sprichwort: Besser, es weint der Vater als das Kind. Oder heißt es anders?«

Lange schwieg der Herzog. Dann sagte er, äußerlich ruhig, doch mit einem Beben in der Stimme: »Höckerlein! Mir graut vor deiner Seele. In dir verbindet sich mein Mutwille und meine Gewalttätigkeit mit Vetter Heinrichs Niedertracht und Schläue. In jeder List und Verschlagenheit bist du so wohl unterrichtet wie deine Tante in Frankreich. Du kannst ein Fürst werden, von dem die nachkommenden Ge schlechter viel erzählen«

»Meinst du, viel Gutes?«

»Nein! Empörung und Meineid stehen auf deiner Stirne. In seltener Mischung! Die solltest du fortpflanzen. Um der Rarität willen! Wirb! Wirb! Wirb! Er wäre möglich, daß eine dich nimmt. Dir fehlen Herz und Bauch, du hast nur Hirn und Geschlecht. Für gesunde Weiber ist das zu wenig. Aber ich habe Weiber kennengelernt, die am kranken Grauen und am körperlichen Widersinn eine Freude hatten. Ein Weib wirst du also finden. Aber keine wird dich mit einem Sohn beschenken. Das Weib, das du zur Mutter machst, wird Katzen gebären. Oder sie müßte dich mit ihrem Koch betrügen. Da gibt es Beispiele.« Herr Ludwig atmete tief. »Böse? Ja, mein zärtliches Kind! Man darf böse sein. Wenn das Notwendige nicht im Guten vorwärts will. Aber können muß man's. Nicht schwach darf man sein. Wie die kleine Laus von Burghausen. Fäuste muß man haben und Herz und Blut und Knochen! Und ein Lachen muß man besitzen, das die guten, dummen Menschen versöhnt. Du bist ein armseliger Tropf im schwächlichen Hunger deiner kranken Knabensinne, die faul geworden, ehe sie noch reif wurden. Geh aus meiner Stube! Flink! Und greif dir eine von meinen Badmägden, die mir nur die Waden kneten dürfen und die Sohlen schaben! Geh! Ich mag dich heut nimmer sehen.«

Mit aschfarbenem Gesicht, doch immer lächelnd, machte Prinz Ludwig seinen langsamen, wippenden Käferschritt und verließ die Stube.

»Nachtigall, spiele mir was, und laß die Vögel wieder singen!« Herr Ludwig ging erregt in der Stube auf und nieder. »Drei Kinder wurden mir in Paris geboren und starben jung. Ihre zwei Mütter hatten zu wenig Sonne im Leib, um meine Kinder für das Leben reif zu machen. Nur diesen einzigen, der noch lebt –« Der Herzog sprach den Satz nicht zu Ende. Seine Schritte wurden schneller, und in Zorn murrte er vor sich hin: »Allerlei Kostbarkeiten habe ich aus Paris davongetragen.« Er sah zur Türe hinüber. »Um eine zu viel!« Ein schwerer Atemzug hob seine breite Brust. »Wahr ist's, Nachtigall! Ich hab viel gesündigt an meinem Haus.« Er deutete nach der Türe. »Der da sieht aus, als sollte er's vergelten an mir.«

Die Vögel zwitscherten wieder, und Nachtigall spielte die zärtlichste seiner Weisen. Herr Ludwig schüttelte den Kopf: »Laß gut sein! Mein Gehör ist verdorben, alles klingt mir falsch«.

Der Kämmerer Wolfl brachte eine Meldung. Und dann trat ein kleiner, hochbejahrter Mann mit weißem Faltengesicht in die Stube, dunkel gekleidet, mit einer seidenen Schaube: Herzog Ludwigs Geheimschreiber, der Stadtpfarrer Gabriel Gleslin. Ihm folgte ein Laienpriester, vierzigjährig, in langem Schwarzkleid; eine gesunde, derbe Gestalt war's, mit sonnverbranntem Gesicht und groben Fäusten; doch unter der braunen Haut an Stirn und Wangen war dem Manne das Blut entronnen, eine wehe Angst bettelte in seinen Augen, und seine Fäuste zitterten. Er neigte sich tief.

»Wer ist das?« fragte der Herzog.

Gleslin erwiderte: »Einer, der den gnädigsten Herrn um Gnade bitten möchte.«

Herr Ludwig betrachtete den Mann, schickte den Meister Nachtigall mit einem stummen Wink aus der Stube und fragte wieder: »Wer ist das?«

»Der Pfarrer von Kösching.«

»Sooo?« Der Herzog nickte heiter. »Von Kösching? Der, als der Papst den Bann über mich verhängte, so flink seine Kirche schloß, die Lichter ausblies und das Sakrament versperrte?«

»Ich mußte, Herr!« Der Pfarrer kämpfte um jedes Wort. »Als Priester! Nach meinem Eid!«

»Sooo? Und wie hältst du denn sonst deinen priesterliche Eid? Du bist doch wohl der Pfarrer von Kösching, der eine Kebsin mit drei Kindern in seinem Widum hält? Hat deine sakramentlose Gemeinde dich verklagt?«

Der Pfarrer schüttelte den Kopf. »Bloß mein Kaplan. Meine Pfarrkinder mögen mich leiden. Mich und – ach, gnädigster Herr, mein Trinle ist so ein gutes, barmherziges Weibl!«

»Gut oder boshaft, das macht für die Weiber keinen Unterschied. Ein Weib zieht immer den kürzeren. Ist sie boshaft, so hilft es ihr nichts. Ist sie barmherzig und geduldig, so geschieht ihr unrecht.« Herr Ludwig wandte sich an Gleslin. »Wie denkst denn du über dieses verbotene Zuckerbrot in den Pfarrhöfen?«

Der Greis schmunzelte. »Da hab ich kein zutreffendes Urteil mehr. In drei Jahren bin ich achtzig.«

»Ja, Gleslin, alte Bäcker verstehen sich nimmer auf neues Brot.« Herr Ludwig betrachtete den Inkulpaten. »Jetzt bist du verklagt. Du mußt das Weib mit den Kindern fortschicken aus deinem Widum. Oder ich muß dich strafen. Gesetz ist Gesetz.«

In den Augen des Dorfpfarrers irrte eine hilflose Verzweiflung. Er preßte vor der Brust die Fäuste aneinander, daß er weiße Knöchel bekam, und stieß die Worte rauh heraus: »Ich möcht dem Gesetz gehorchen, Herr, und bring's nit fertig. In meinem Innern ist beständiger Krieg. Oft lauf ich in meiner Gewissenspein hinaus in den Wald und tu einen Eid um den andern, daß ich umkehren will auf dem Weg meiner Sünden. Und komm ich wieder heim, und treten mir Weib und Kinder entgegen, dann regt sich in mir die Lieb zu ihnen mächtiger als die Lieb zum Guten. Und da muß ich wieder ein Meineidiger sein und bring's nit fertig, daß ich mich selber überwind.« Er konnte nimmer weiterreden. Seine Zähne knirschten.

Da sagte Herr Ludwig rasch: »Du bist ein Mensch. Sei im übrigen, was du magst! Ich bin kein Heiliger, der zu richten kam. Drum sag ich dir: Geh hin und sündige!«

Der Mann von Kösching riß die Augen auf und konnte dieses Wort der Gnade nicht gleich begreifen. Als er es verstand, wölke er sich aufs Knie werfen. Doch Herr Ludwig, mit seiner starken Faust, hielt ihn aufrecht und sagte ruhig: »Ein Pfarrer, der seinen Eid hält, darf nicht knien vor einem, den der Papst in den Bann getan. – Gleslin! Führ diesen Menschen hinaus! Das Ding ist erledigt.«

Als der Greis wieder in die Stube kam, sagte er: »Der Himmel segne Eure Barmherzigkeit!«

Herr Ludwig schüttelte den Kopf, »Barmherzigkeit ist keine Eigenschaft der Menschen. Die kommt zuweilen, ich weiß nicht, von wo. Vielleicht von dort her, wo der Ewige wohnt, von dem wir alle wissen und den noch keiner gesehen. – Gleslin!«

»Was, gnädigster Herr?«

»Ich glaube: Er lebt! Und gut ist er. Zu ihm kehrt, wenn ein Körper verdirbt, der menschliche Geist zurück, sei er von Sünden befleckt oder nicht, seien die Werke des Menschen gut oder bös gewesen.«

Wieder schmunzelte Gleslin. »Sagt solche Dinge nur zu mir, gnädigster Herr! Sonst verbrennt man euch wie den Hus.«

Der Herzog lachte: »Das Feuer ist für die Kleinen. Wenn ein Ketzer den Purpur zur Entschuldigung hat, dann ist er sicher.« Verstummend hob er den Kopf und betrachtete den Greis, der aus seiner Schaube ein Pergament herausholte. »Gleslin? Du machst dein Rätselgesicht? Bringst du was Dummes?«

»Das hat mir vor einer Viertelstunde ein Freund geschickt.«

Herr Ludwig las. Dunkel fuhr ihm der Zorn ins Gesicht. »Ach, guck doch! Die schöne Else rührt ihre weißen Muhmenhände! Die will wohl meinen Mist auf ihres Bruders Acker fahren?« Er warf das Pergament auf den Tisch und ging mit jagendem Schritt durch die Stube. »Da muß man zuvorkommen.«

»Seid bedächtig, Herr! Was der Brief da meldet, muß uns wachsam machen. Das geb ich zu. Aber schwören möcht ich, daß der Zollern von diesem Kunkelspiel in seiner Frauenstube keine Kenntnis hat. Seit dem Herbste ist er in seiner Brandenburger Mark –«

»Die er von unserm Haus gerissen!«

»Nein, Herr! Die der König ihm verliehen hat für treue Dienste. Der Zollern hat immer zum König gehalten und ans Reich gedacht –«

»Reich! Reich! Was Reich! Mir liegen Paris und Mailand näher als Prag und Wien. Ich bin Fürst auf meinem Boden, will's bleiben und wehre mich meiner Haut.« Weil Herr Ludwig die Stimme so zornig schraubte, fingen die kleinen grünen Papageien schrill zu kreischen an.

Gleslin ging zum Erker und deckte die dunkelroten Tücher über die Käfige. Die starke Abendsonne, die durch das Fenster hereinfiel, umglänzte den blassen Greis.

Immer heißer erregte sich der Herzog. »Meine Haut kann erzählen! Sieh meinen Kopf an, meine Hände! Ich will Sühne haben. Und Fritz von Zollern hindert sie mir. Hat er nicht das Gericht wider diesen fahrigen Mörder verzögert, der sich von Bayern nennt? Hat er ihm nicht die Verzeihung des geldnotigen Königs erwirkt?«

»Solchen Vorschub um der Verschwägerung willen hab ich nie gebilligt. Aber zieht auch in Rechnung, gnädigster Herr, was Ihr ihm getan habt.«

»Ich zähle, was mir in die Rechnung paßt.«

»Ihr habt ihm vergangenes Jahr seine fränkischen Lande verwüstet, habt ihm die Stammburg seines Geschlechtes niedergeworfen. Und immer zögert Herr Friedrich noch, wider Euch in den Kampf zu treten.«

»Weil er mich fürchtet.«

»Nein, Herr! Weil er im Reich der einzige ist, der auf die Friedensmahnung des deutschen Königs hört. Und sollte Frau Else, verhetzt von ihrem Bruder, Landshut wider Ingolstadt rüsten, so dürft ihr dessen versichert sein, daß ihr Gemahl solchen Anschlag vereiteln wird.«

Nichts an diesen ruhigen Worten des Greises rechtfertigte den maßlosen Jähzorn, in dem Herr Ludwig aufbrauste: »Gleslin! Bist du mein Rat? Oder bist du bezahlt vom Fritz von Zollern?«

Dem alten Mann stieg eine dünne Röte ins Gesicht. »Wer und was ich bin, gnädigster Herr, das wißt Ihr so gut wie ich. Aber ich sehe wieder: Es ist ein fahrvolles Geschäft, einem Fürsten die Wahrheit zu sagen.«

Rasch faßte Herr Ludwig den Greis an den Schultern und sagte herzlich: »Nimm's nicht übel! Ich hab's nicht bös gemeint. Aber vieles brennt und wühlt in mir –« Der Herzog ging zum Erker und blieb in der schönen Sonne stehen.

»Herr! Nun dien ich Euch dreißig Jahre. Viel habt Ihr getan, wozu ich den Kopf habe schütteln müssen. Doch verstanden hab ich Euch stets. Ihr seid mir als Mensch und Fürst noch immer ein helles Gefäß gewesen. Aber sooft Ihr vom Zollern redet, seh ich etwas Dunkles in Euch, das ich nicht begreife.«

»Dann schweig davon! Es könnte auch sein, daß ich heut ein andrer bin als sonst.« Herr Ludwig sah über die Schulter zur Tür hinüber. »Heut ist mir eine Niedertracht des Lebens über das Herz getrampelt.« Er lachte hart. »Vielleicht war's auch eine Gerechtigkeit. Man sät, man erntet!« Jetzt ein Lachen in Heiterkeit. »Guck nur, Gleslin, ich werde noch abergläubisch auf meine alten Tage!«

Nach kurzem Schweigen sagte Gleslin ernst: »Herr! Soll ich Euch nützlich raten, so laßt mich die Wahrheit sehen! Warum hasset Ihr diesen festen Mann, den Ihr klugerweise zu Eurem Freunde machen solltet?«

Mit jähem Schritt ging Herr Ludwig auf den Alten zu. »Jetzt bist du beim rechten Wort. Ja, Gleslin! Diese Landshuter Laus will ich nur zertreten, weil sie für mich ein lästiges Ungeziefer ist. Aber den andern hasse ich.«

»Warum?«

Die Stimme des Herzogs wurde rauh. »Ich kann es dir sagen. Aber du wirst es nicht begreifen.«

»Warum hasset Ihr ihn?«

»Weil ich nur das Leben habe, in dem ich stehe – solang ich es vor meinen fernen und nahen Feinden zu wahren vermag. Der andre – den du einen festen Mann nennst – nicht mit Unrecht – dieser andre hat gesunde Söhne und hat die Zukunft. Darum hasse ich ihn. Fortleben! Warum er? Warum ich nicht?«

»Herr!« Bekümmert sah der kleine, greise Mann zu seinem stattlichen Fürsten auf. »Solche Gedanken solltet Ihr dem Neid Eures Vetters Heinrich überlassen. Eurer Hoheit sind sie nicht würdig.«

Der Herzog ging eine Weile stumm in der Stube auf und nieder. Dann sagte er mürrisch: »Lassen wir's gut sein! Bäslein Else soll spinnen, was sie mag. Ich will's überschlafen. Heut hab ich Gift im Ohr und Essig im Herzen. Da ist man kluger Dinge nicht fähig.«

Gleslin atmete auf.

Und der Herzog rief mit lauter Stimme: »Nachtigall!« Der Lautner huschte durch ein niederes Türchen herein. »Ich reite zum Tiergarten und will zusehen, wie man die ungarischem Hirsche aus dem Käfig läßt. Freiheit ist erquicklich in jeder Form. Um zehn bestelle mir das Mahl bei den zwei schönen Wickerspacherinnen –« Da ging's wie Widerwille über das Gesicht des Herzogs. »Nein! Zu diesen beiden mag ich nimmer hin Man soll sie beschenken. Reich! Ich speise bei der roten Bärbel. Geh!«

Noch ehe Peter Nachtigall verschwunden war, kam der Kämmerer Wolfl mit einem der Söldner, die beim Donautor die Wache hatten. Der Söldner meldete, man hätte den Knecht des Berchtesgadnischen Herrn bei der Straubinger Straße im Wald gefunden, ohne Roß und ohne Kleider; und der Knecht schwöre, die sechs Gewaffneten, die seinem Herrn seit dem Morgen hinter den Fersen jagten, wären Landshutsche Harnischreiter gewesen; die hätten ihm Sattel und Hemd genommen und wären in argen Zorn geraten, weil sie bei ihm den Brief nicht gefunden, den sie hätten fangen sollen.

»Fangen? Einen Brief? Warum?« Herr Ludwig streckte sich. »Was für eine Botschaft mag es sein, die der zärtliche Vetter Landshut meinem Herzen ersparen wollte?« Mit einem Handwink schickte er den Söldner fort. Dann klammerte er die Faust um den Arm des Kämmerers. »Hol mir diesen Berchtesgadner! Und sitzt er noch im heißen Wasser, so lupf ihn nackicht heraus und bring ihn im Badmantel her zu mir!«

Wolfl Graumann sprang zur Türe.

»Gleslin, paß auf!« Herr Ludwig lachte. »Wir werden Großes von kleinen Läusen hören. Es juckt mich schon in allen Haaren.«

Zwischen den Vorhängen der Türe erschien das Gesicht des Kämmerers. »Gnädigster Fürst, da kommt der Jungherr –«

In einem kostbaren, weinrotfarbenen Hofkleide, das Gesicht noch glühend von der Dampfhitze des Bades, trat Lampert Someiner in die Stube und neigte sich vor dem Herzog.

Herr Ludwig begrüßte den jungen Mann mit gewinnender Höflichkeit und schien dabei so guter Laune zu sein, als hätte ihm dieser Tag nur lachende Sonne gebracht.

»Berchtesgaden? Solcher Heimat darfst du dich rühmen, Jungherr! Ist Rom das Herz der Welt und Paris ihr küssender Mund, so ist Berchtesgaden eines von ihren schönen Augen. Ein Name, der Sehnsucht in mir weckt. Ich sehe friedliche Menschen –« Dem Herzog entging der wehe Zug nicht, der sich um Lamperts Lippen schnitt. »Sehe stille Berge, sehe Gemsen springen und muß an röhrende Hirsche denken. Und Freund Pienzenauer? Wie geht es ihm?«

Lampert wollte antworten. Seine Stimme erstickte in einem heiseren Laut.

»Jungherr! Bei diesem nassen Ritt scheint deine Stimme gelitten zu haben?«

»Schon früher, Herr!«

»So? – Nun? Was macht Herr Pienzenauer?«

»Mein Fürst hat schwere Sorgen.«

»Die haben wir alle. Ein bißchen mehr, ein bißchen weniger, das macht bei Menschen keinen Unterschied. Sorge hin oder her, wir Menschen haben es immer noch am besten auf Erden. Stirbt der Mensch, so begräbt man ihn zuweilen ohne Kopf, doch immer mit der Haut. Das tut man bei Ochs und Esel nicht. Die müssen vor der letzten Ruhe das Leder lassen. Ich preise mich glücklich, ein Mensch zu sein. Und hoffe bei dir, mein lieber Jungherr, die gleiche Wertschätzung des Lebens zu finden.«

Das tändelnde Geplauder schien auf Lampert wie eine Marter zu wirken.

Herr Ludwig betrachtete ihn mit Wohlgefallen. »Ich sehe, Freund Pienzenauer wollte mich ehren, als er für mich zum Botschaftsträger den Schmucksten aus seiner adeligen Jugend wählte.«

»Herr, dieses Lob gebührt Eurer Hofkammer, aus der ich gekleidet wurde.«

»Fein gesagt! Bescheidenheit ist ein köstlich Ding. Manchmal überflüssig. Und? Wie sagtest du, lieber Jungherr? Freund Pienzenauer hätte Sorgen? Drückt ihn die Last des Alters?«

»Nein, Herr! Ein schweres Elend seines Landes.« Lampert wühlte aus dem reichen Kleide, das er trug, den Brief heraus, der in dünnes, verlötetes Silberblech eingeschlossen war.

Per Herzog gab den Brief an Gleslin, der mit einer Schere die verlötete Kante abzuzwicken begann. Herr Ludwig plauderte freundlich weiter, obwohl seine Züge sich seltsam spannten.

»Fürst Pienzenauer hat feste Schultern. Aber völlig spurlos werden auch an ihm die achtzehn Jahre nicht vorübergegangen sein, seit wir selbander nach Rom geritten, um Berchtesgaden durch des Heiligen Vaters Hilfe aus der Salzburger Pfandschaft herauszuschälen. Das waren schöne Tage! Hinter den Bergen im Blau! Er ein guter Priester, ich ein mißratener Prinz! Er mußte meinetwegen sehr oft zur Beichte gehen.« Herr Ludwig lachte, während seine heiß funkelnden Augen an Gleslin hingen, der den Brief des heiligen Peter las. »Wir beide, dein prächtiger Fürst und ich, wir haben im ewigen Rom viel sterbliche Torheit getrieben.« Das frohe Lachen des Herzogs verstummte. »Gleslin?« Er bohrte den Blick in das ernste Gesicht des Greises und riß ihm das Blatt aus den Händen. »Gib her!« In Hast begann er zu lesen.

Lampert wurde in diesem Schweigen von einer Erregung befallen, daß man an seinem Hals die Pulse pochen sah. Auch Gleslin, der keinen Blick vom Herzog wandte, schien von einer schweren Sorge bedrückt.

Da legte Herr Ludwig enttäuscht das Blatt aus der Hand. »Was soll mir das? Der heilige Zeno scheint dem heiligen Peter eine mißvergnügte Woche zu bereiten. Aber wenn zwei Heilige sich an den Haaren ziehen, soll sich ein irdischer Sünder nicht einmischen. Der Himmel ist allein verantwortlich für die Konduite seiner Benedeiten. Ja, ja, ja – daß der Reichenhaller den vorsichtigen Schläfer von Burghausen aufstöbern möchte, ist möglich. Aber was helfen mir Möglichkeiten? Ich brauche, was sich mit Fäusten greifen läßt.« Der Herzog sah den Brief wieder an. Dann wandte er sich rasch an Lampert. »Wie war das heute? Mit diesen Harnischreitern? Die deinen Knecht aus dem Sattel rissen? – Beruhige dein gutes Herz! Dein Knecht ist schon gefunden. Ein bißchen Adam, aber sonst gesund! – Sag mir! Wie war das?«

Lampert erzählte mit jagenden Worten und führte an, was ihn am Ernst dieser Hetze hatte zweifeln lassen.

»Strauchdiebe?« Herr Ludwig schüttelte den Kopf. »Nein! – Gleslin? Was meinst du?«

Der Greis wollte antworten. Da erhoben die zwei Bärenfinder im Prunksaal draußen ein wütendes Gekläff.

Der Herzog sagte lachend: »Die wittern, was für ihre Nase nicht lieblich ist. Was mag da kommen?« Er ging zur Türe.

Wolfl trat in die Stube, auf silbernem Teller ein gerolltes Blatt, das grau und zerknittert war. Flüsternd sprach er unter dem Lärm der Hunde zu seinem Herrn, der diese leise Meldung mit halblauten, abgerissenen Worten unterbrach: »Ein Bettelmönch? – Staatsgeschäfte? Mit mir? – Was sagst du? Verfolgt? Der auch?« Er warf einen schnellen Blick auf Gleslin und fragte den Kämmerer laut: »Warum hast du ihn nicht hereingeführt?« Eine leise Antwort. Und Herr Ludwig sagte lachend: »Wahrhaftig? So schrecklich ist das? Dann begreif ich die Hunde. Die lärmen ja wie toll. Geh, Wolfl, entführe den Schmutzfink ihrem Witterungsvermögen! Meine Badstube bewahre vor ihm! Schick ihn zu den Grobmägden in die Waschküche! Da findet er Schmierseife, Bimsstein und etwas Humor dazu.« Als der Kämmerer die Stube verlassen hatte, beugte der Herzog seine Nase mit Vorsicht über das zerknüllte Röllchen. »Ja! Das riecht sehr schlecht! Aus dieser Botschaft quillt mir alle dunstende Schwäche der Menschheit entgegen. Wenn die Seele, die in diesem üblen Körper steckt, nicht besser riecht –« Mit achtsam zugreifenden Fingerspitzen entrollte er das graue Blatt.

Draußen wurden die Hunde still.

Dem Herzog, kaum er zu lesen begonnen hatte, fuhr das Blut in die Stirne. Seine Augen blitzten. Und mit einer Stimme, in der sich Zorn und Jubel mischten, schrie er ins Leere: »O du Laus du!«

Erschrocken trat Gleslin auf Lampert zu und flüsterte: »Ich bitt Euch, Jungherr, verlasset die Stube!« Er legte den Arm um Lampert, ging mit ihm bis zur Türe, wandte sich und tat einen mühsamen Atemzug.

»Gleslin!« schrie der Herzog. »Lies das! Lies, lies, lies! Dieses stinkende Blatt ist drei von meinen Burgen wert! Lies das! Ich hab ihn! Schlecht ist er immer gewesen. Jetzt ist er dumm. Das soll ihm den Hals brechen.«

Der Greis hatte die lateinischen Zeilen des Franzikopus Weiß mit raschem Blick überflogen und stammelte: »Herr, laßt Euch warnen! Das sieht der schlauesten von seinen Listen ähnlicher als einer Dummheit.«

»Nein! Was er da beginnt, liegt außerhalb seiner Schläue. Das kommt aus seiner Habgier. Die macht ihn blind. In Blindheit schwächt er sich. Ein großer Heerhauf unter seinem besten Hauptmann, Kammerbüchsen und Antwerke unter seinem besten Schießmeister – und das alles festgelegt auf Wochen hinaus! Jetzt hab ich ihn. Jetzt schlag ich los. Trommle die Schreiber zusammen! Die Briefe an die Meinen müssen fort, noch heut in der Nacht!«

»Herr, gnädigster Herr«, der Greis zitterte und hob die Hände, »ich beschwör Euch, Herr, geduldet Euren Zorn! Mißtraut dieser Sache! Er will Euch reizen, Euch überrumpeln. Ihr seid nur halb gerüstet. Das weiß er. Drum lockt er Euch. Kommt zur Besinnung, Herr! Eure Macht ist ungenügend –«

Heftig unterbrach der Herzog die stammelnden Worte des Greises: »Wahr! Ich bin an Land der schwächste unter Bayerns Fürsten. Man hat meinen Vater und mich bei der Teilung brüderlich bestohlen um Städte und Burgen. Was verschlägt's! An Gehirn bin ich der Reiche. Mein Witz wird ausreichen, um die Vettern nach meinem Willen zu meistern. Die zu München sind deutsche, redliche Biederleut. Also ungefährlich. Und den Landshuter Maulwurf, der mir den Boden untergraben will, zerstampf ich.«

»Herr, Herr, wie dürfet Ihr vergessen, daß Ihr dem König geschworen habt, den Frieden zu wahren? Soll Herr Sigismund Euch wieder den Vorwurf machen, daß Ihr vor bayrischen Stauden den deutschen Wald nicht seht?«

Dieses mahnende Wort hatte eine Wirkung, daß Gleslin erschrak und stumm wurde.

»Wer? Wer bricht den Frieden?« schrie Herr Ludwig in einem Zorn, der sein Gesicht verzerrte. »Soll ich von meinem eignen Diener hören müssen, daß ich mein Wort nicht halte? Und wenn es so wäre? Mein Wort ist mein Wort. Ich richt es auf und brech es entzwei. Wie's mir beliebt. Aber so ist das nicht. Jetzt nicht. Er ist der Meineidige.«

Der Herzog ging zum Erker und stand umgossen von der rotgewordenen Sonne, die schon sinken wollte. Unter den dunklen Tüchern zwitscherte ein Vogel, in dessen verhangenen Käfig ein Strahlensplitter dieses glühenden Lichtes fiel.

Höhnend schrie Herr Ludwig über die Schulter: »Guck nur, guck! Will den heiligen Peter in seinen gierigen Sack stecken und Salzburg in den Hintern zwicken. Ist das nicht Friedensbruch? Kommt er da nicht in mein Gehege? Bin ich nicht Patron und Stifter von Berchtesgaden? Bin ich nicht verpflichtet, dem heiligen Peter nach Kräften beizuspringen? Und Salzburg? Mit dem ich verbündet bin? Nun, Gleslin? Warum redest du jetzt nicht von deiner berühmten deutschen Treue? Jetzt will ich einmal ein Deutscher sein. Ich will. Und da sollst mich du nicht hindern. Und keiner!«

»Ach, Herr«, klagte der Greis, »wie soll man aufkommen wider Euch? Ihr schreiet. Und da muß man schweigen, weil man den Kräften Eurer Lunge nicht gewachsen ist.«

»Gut! Schweige! Das Ding bedarf keines Rates mehr. Gestern hat der Landshuter mit diesem Zug wider Berchtesgaden das Wort gebrochen, das er dem König gab. Wer gegen den heiligen Peter schlägt, trifft mich. Da wehr ich mich meiner Haut. Das ist mein Recht. Und für die Spitzfindigen wahre ich auch den Schein. Zu deiner Beruhigung. Den Esel von Burghausen mein' ich. Drum mache ich den Anfang mit seinem Helfer Zollern lind schlage morgen los auf den Brandenburger Sack.« Herr Ludwig schritt vom Erker hinüber zum Tisch.

Gleslin ging hinter ihm her und sagte: »Herr! Wollt Ihr schon, nicht Besinnung zeigen, so seid in dieser mörderischen Stunde doch wenigstens bis zu nützlichem Maße abergläubisch! Laßt den Zollern in Ruhe! Den allgewaltigen Günstling des Königs und solch ein Kind des Glückes greift man nicht an.«

Dieses ruhige Wort schien den Herzog stutzig zu machen. Aber da kam sein Lachen, jenes starke und frohe Lachen, mit dem er auf der Stechbahn loszurennen pflegte, um den Gegner wie in heiterem Spiel auf den Sand zu werfen.

»Günstling? Das mag stimmen, Gleslin! Ein Kurfürst von Königs Gnaden. Aber ein Glückskind? Mit leeren Taschen? Im Purpur, dem die Knöpfe fehlen? Nein, Gleslin! Das geliebteste Kind des Glückes ist der Starke. Nun soll es sich weisen, bei wem die Kraft ist. Schweige! Kein Wort mehr! Bei meiner Ungnad! Ich will's. Und was ich will, das tu ich.« Lachend legte Herr Ludwig seine zerschnittene Hand auf die Schulter des alten Mannes. »Sorge dich nicht! Ich spüre in mir das Glück und die Gunst der Stunde. Den Vorteil und die Gelegenheit wittern, das ist die Eigenschaft aller wahren Kinder des Glücks. Es wäre möglich, Gleslin, daß in dieser Stunde, die du mörderisch nanntest, eine neue Kaiserkrone geschmiedet wird.« Der Herzog guckte lachend in der Stube herum. »Wo ist der Gadnische Jungherr?« Er ging zur Türe.

Gleslin nahm den weißen Kopf zwischen die zitternden Hände. »Weh uns! Weh über unser schönes Land! Ihr Herren, ach, ihr Herren, ihr traget einen Kretzen voll Elend um! Über wen wird man ihn ausschütten?«

»Über den Schwächeren.« Herr Ludwig rief in den Prunksaal hinaus: »Jungherr Someiner?«

Lampert kam.

»Es tut mir leid, mein lieber Jungherr, aber ich kann deiner beschädigten Kehle keine ausreichende Erholung vergönnen. Vor dem Morgen wirst du reiten müssen. Dein müder Gaul kann leer laufen. Ich gebe dir ein gutes Roß, Geld, Kleider, Waffen, was du brauchst. Der Wunsch deines Fürsten, der mich um Beistand bittet, ist erfüllt.«

Eine heiße Blutwelle schoß in Lamperts Gesicht. Doch gleich erblaßte er wieder, als hätte ihm eine Sekunde des Denkens die jähe Freude in Sorge verwandelt.

»Ich gebe dir dreißig von meinen Besten mit«, sagte der Herzog, »da kannst du schnurgerade auf guter Straße reiten, gleichviel durch wessen Land. Zehn sollst du zum Bischof von Chiemsee schicken, zehn zu meinem treuen Kaspar Törring. Die beiden sollen ausrücken und die Laus, die dem heiligen Peter auf den Pelz gekrochen, von hinten fassen. Und du –«

Der Herzog setzte sich an den Tisch, warf in Hast einige Zeilen auf ein Blatt, unterschrieb mit großen Zügen: »Loys« – und machte jenen wunderlichen französischen Schnörkel drunter, der das Gespött seiner deutschen Vettern war.

»Du reite mit dem Geleit, das dir bleibt, nach Salzburg! Hier ist mein Auftrag. Salzburg wird deinem Fürsten Beistand leisten.«

Lampert neigte sich. Als er wieder aufrecht stand, haftete sein ernster Blick an den Augen des Herzogs. »Eure Hoheit erfüllen die Bitte meiner Heimat«, sagte er mit entfärbten Lippen, »und ich muß Euch danken. Das muß ich, Herr! Ich danke. Aber –«

»Was aber?« fragte der Herzog verblüfft. Er machte ein paar Schritte, und die rotvioletten Lichtstreifen, die durch den Erker hereinfielen, lagen wie lange, gerade Blutbäche um ihn her, durchschnitten von seinem großen Schatten.

»Herr –« Lampen kämpfte. »Eine schmerzende Sorge bedrückt mich –«

»Oh? – Nun! Rede! Du machst mich neugierig, Jungherr!«

»Was da um eines nichtigen Anfangs willen aufsteigt über Land und Menschen meiner Heimat – Herr – das ist eine Wetterwolke, aus der es: Geißelschläge regnen wird. So, Herr, wie heute der Hagel über die Früchte von tausend Äckern fiel.«

Erheitert lachte Herr Ludwig. »Mein lieber Jungherr Someiner! Gedulde dich in deinem heldenhaften Erbarmen, bis du weißt, wer die Hiebe bekommen hat.« Er rief mit starker, ungeduldiger Stimme: »Wolfl!« Der Kämmerer trat in die Stube. »Bringe diesen müden Jüngling zu einem guten Bett! Fünf Stunden kann er schlafen. Alles Weitere hörst du noch.« Und zu Lampert, der bleich geworden war bis hinter den goldbetreßten Halsrand des roten Hofkleides, sagte der Herzog liebenswürdig: »Gott befohlen, Jungherr! Es war mir eine Freude, dich kennenzulernen. Die Gelegenheit wird sich ergeben, daß wir uns wiedersehen, um tapfere Worte zu wechseln. Grüße mir das schöne Berchtesgaden!«

Während Lampert zur Türe ging, hörte er den alten Gleslin flüstern: »Herr! Das war keine Stimme der Furcht. Das ist Herz und ehrlicher Mut gewesen.«

Der Herzog lachte. »Ja, ja, ja, lieber Gleslin! Du hast recht, ich weiß. Du bist ein großer Menschenkenner. Ich bin das Kind! Aber Kinder wollen ihren Willen haben. Komm und schreib die Briefe an meine Hauptleute, an den Balthasar Muracher von Aichach, an den Frauenberger, an den Pfleger von Wasserburg –«

Draußen im Prunksaal, ganz verloren, streichelte Lampert mit seiner zitternden Hand die Stirnen der beiden Hunde, die ihm ihre Köpfe hinstreckten.

Man führte ihn zu einer hübschen Stube, in der ein Mahl bestellt und ein Bett gerichtet wurde.

Mit seinem Arm war's besser seit dem heißen Bad. Aber seine Kehle schmerzte, immer mußte er husten.

Als er allein war, stand er noch lang an dem kleinen Fenster und sah über Gewirr der spitzen Dächter, über Mauern und Basteien, über das bleiche der Donau und über Felder und Wälder hinaus in den sinkenden Abend. Die südliche Ferne, in der seine Heimat lag, war überhangen von einem Wuste finsteren Gewölks.

In der dunkel gewordenen Stube warf er sich auf die Polster hin.

Unter einem Wirbel schmerzender und sehnsüchtiger Gedanken drückte ihm die körperliche Erschöpfung einen bleiernen Schlaf auf die Lider.

Während der ganzen Nacht ging über das kleine Fenster ein mattes, vom Mondschein gedämpftes Wetterleuchten des nach Süden gezogenen Gewitters.

Um die dritte Morgenstunde ritt Lampert Someiner mit den dreißig Gepanzerten durch das Donautor. Der steife Moorle zottelte leer zwischen den schweigenden Reitern. Lampert saß auf einem guten Gaul, und über den eignen Kleidern, die wieder trocken waren, trug er als Botengabe des Herzogs eine feingeschmiedete, flämische Plattenrüstung, dazu einen Helm mit zwei Fasanenflügeln.

In der dunstigen, vom Mondschein grünlich getönten Höhe funkelten noch die letzten müden Sterne. Gegen Osten und Süden standen dicke Wolkenwände, von den glühenden Streifen des Morgenrotes gesäumt und durchädert.

Als hinter den Reitern das Rauschen der Donau versank, war in der grauen Morgenstille nur noch Lamperts bellender Husten, das Hufgeklapper der schweren Rosse und das taktmäßige Klirren des vielen Eisens. Bald näher, bald wieder ferner, sah man auf dem sanft gehügelten Gelände einzelne Reitet jagen, die zwischen dunklen Waldflecken auftauchten, sich schwarz vom hell werdenden Himmel abhoben und wieder verschwanden.

Das waren Herzog Ludwigs Boten, die mit den Briefen zu seinen Städten und Burgen ritten und nach allen Richtungen die Funken des aufbrennenden Krieges trugen.

12

In der tobenden Gewitternacht, die über die Berge gekommen war, hatten die Menschen zu Berchtesgaden keinen Schlaf gefunden. Nicht, weil ruhelos der Regen prasselte und wütende Donnerschläge die Lüfte füllten.

Die Frauen und Mädchen hatten beklemmende Träume hei wachen Augen. Viele von ihnen flüchteten trotz Regen und Finsternis zu versteckten Tälern oder kletterten bei Laternenschein zu entlegenen Almhütten hinauf, um sich zitternd im Bergheu dunkler Dachböden zu verkriechen. Außer den Alten, und Kranken blieben nur ein paar Lustige, die dem Schicksal trotzen wollten, und die von Sehnsucht erfüllten Häßlichen, die dem Feinde einen minder wählerischen Geschmack zutrauten, als ihn die Berchtesgadnischen Mannsleute bewiesen hatten. Es, blieben auch die tapferen Mütter, die kein Schmachgedanke von ihren hilflosen Kindern trennen konnte, und die braven Frauen, in denen das Pflichtgefühl stärker war als die Angst vor dem unausbleiblichen Feinde.

Eine von diesen Frauen war die Amtmännin Someiner. Sie hatte in dieser Nacht sehr viel zu tun. Es blieb ihr keine Zeit, an den Feind zu denken. Und daß sie ihren Buben weit vom Schuß wußte – dieser Trost half ihr die Sorge tragen, die ihr die plötzliche Erkrankung ihres Mannes verursachte.

Herr Someiner war seit dem verwichenen Mittag ein schwer Leidender. Das stand außer Zweifel. Er lag zu Bett, mit häufigen Unterbrechungen, und litt entsetzliche Qualen. Sei es, daß der ehrenfeste Ruppert sich eine rapid wirkende Erkühlung zugezogen hatte – sei es, daß ihm der ruhelose Gedanke an seine Amtsentsetzung gleich einem giftigen Wurm das Leben benagte oder daß ihm sein schlechtes, von siebzehn lebendigen Ochsen und vielen erschlagenen Menschen bedrücktes Gewissen die Eingeweide belastete – so oder so, er fühlte sich seinem letzten Stündlein erschreckend nahe gerückt. Kein Warmbier mit Muskatnuß, kein heißer Wein mit Zimtrinde wollte helfen. Immer wieder erneute sich das heimtückische Leiden. Den drohenden Tod vor Augen, wollte Herr Someiner mit dem Irdischen abschließen und sein Testament machen; aber sein Leiden gewährte ihm die freie Minute nicht, die er zum Schreiben nötig hatte. Er kam der völligen Auflösung immer näher.

Vom Abend bis zum Morgen, unter Blitz und Donner, lief Frau Marianne zwischen Krankenstube und Küche unermüdlich hin und her. Und in den kurzen Pausen, die ihr die Pflege des leidenden Gatten bewilligte, hatte sie notwendige Kriegsgeschäfte zu erledigen. Sie mußte, was an Geld, an Schmuck und Silber im Hause war, auf dem Dachboden verräumen oder an den undenkbarsten Plätzen vermauern. Die alte Magd, die der Amtmännin bei diesem Huschelwerke behilflich war, äußerte dunkle Ahnungen über das Findertalent der Kriegsleute, denen sie auch sonst noch himmelschreiende Dinge zutraute. Doch Frau Marianne fand die tapfere Antwort: »Soll nur einer kommen! Dem schlag ich meinen Schurz ums Maul, daß ihm Hören und Sehen vergeht.«

Die gleiche Arbeit, die von der Amtmännin auf dem Dachboden und sonstwo geleistet wurde, geschah während dieser Gewitternacht in allen Häusern von Berchtesgaden. Wer einen Knopf von Wert besaß, vergrub ihn.

Auch im Stift waren viele Hände damit beschäftigt, die Pergamente und Kostbarkeiten, das silberne Tafelgeschirr und das bescheidene Quantum des nach den Rüstungen der letzten Wochen noch übrigen Bargeldes in Sicherheit zu bringen.

Noch immer hofften die Chorherren, daß Fürst Pienzenauer in jeder nächsten Stunde mit der ersehnten Hilfe aus Salzburg heimkehren würde. Und als mit dem erwachenden Morgen das Gewitter sich ausgetobt hatte und ein schwerer Nebel das Tal bis zum Erdboden füllte, setzten die Herren neues Zutrauen auf dieses dicke Grau, bei dem auch eine feindliche Übermacht den Sturm nicht wagen konnte. Doch sie wollten sichergehen für alle Fälle. Als es zu dämmern anfing, knatterten sieben mit Nahrungsmitteln, Zelttüchern, Decken, Kissen und Kochgeschirr beladene Wagen zum Königssee hinauf. Dort war eine versteckte Waldschlucht mit einer großen Höhle, die man die ›Klostergrube‹ nannte. Hier hatten sich auch bei früheren Kriegshändeln die flüchtenden Chorherren geborgen. Alle, die zum fürstpröpstlichen Hof des heiligen Peter gehörten, hatten Kenntnis von diesem Schlupf und wußten, wohin sie rennen mußten, wenn eine gefährliche Stunde schreien würde: »Menschenkind! Jetzt spring!«

Gegen die neunte Morgenstunde fing von Westen her ein fester Wind zu blasen an und brachte die grauen Schwaden der Lüfte in jagende Bewegung. Und da hörte man von der Reichenhaller Gegend herüber ein dumpfes Murren, das ferne Stimmengebrüll der ›Hornaußin‹ und der ›Landshuterin‹, die beim Hallturm mit der ›Anna‹ und ›Susanne‹ musizierten. Die Berchtesgadner wußten, es stand eine erdrückende Übermacht vor den Grenzen des Ländleins. Je schneller die dumpfen Pulverstimmen in der Ferne bollerten, um so mehr begann sich das Gefühlter Unsicherheit zu einer ratlosen Verwirrung zu steigern. In den Höfen des Stiftes und in allen Gassen von Berchtesgaden gab's ein schreiendes Gerenne.

Inmitten dieses angstvollen Aufruhrs spielte ein paradiesisches Idyll, von den häßlichen Dingen der Welt durch dichtgeschlossene Fensterläden geschieden.

In der ebenerdigen Dampfkammer des Badhauses, Jessen obere Stockwerke den ›frummen‹ Fräulein und Pfennigfrauen zur Wohnstatt angewiesen waren, nahmen zwei blessierte Helden während des Bades ihr reichliches Frühstück ein, der Chorherr Jettenrösch, mit einem Verband um den rechten Oberarm, und der junge Siegwart zu Hundswieben, mit verbundenem Haardach und einem knopfähnlichen Pflaster auf der Nasenspitze. Jeder von den beiden saß in einer hohen, langen, zwiebädrigen Holzkufe. Dem Jettenrösch saß in der Wanne das Fräulein Rusaley gegenüber, dem Hundswieben das Fräulein Aglaja. Zwischen Männlein und Weiblein war über die Kufe ein Brett gelegt und mit gesticktem Linnen bedeckt. Neben den Zinntellern, auf denen Obst und hartgekochte Eier aufgetragen waren, standen die mit Rotwein gefüllten Becher. In einer dritten Kufe saß einsam das Fräulein Gerilind und spielte mit flinken Hämmerchen auf einer Stahlzitter. Die frummen Fräulein trugen hohe, mit allerlei Glitzerschmuck gezierte Hauben, die das Haar züchtig verhüllten. Während man so das Frühstück verzehrte, wurde mit höfischer Zierlichkeit ein heiteres, neckendes Gespräch geführt. Und manchmal lachte Fräulein Aglaja oder Fräulein Rusaley mit hellen Stimmchen belustigt auf. Nur das einsame Fräulein Gerilind blieb ernst und widmete sich mit musikalischem Pflichtgefühl dem klingenden Stahlkonzert, obwohl von diesen feinzirpenden Tönen nicht viel zu vernehmen war. Denn die zwei großen kupfernen Dampfretorten, unter denen das Feuer in gemauerten Herden prasselte, ließen mit sausendem Geräusch die heißen, köstlich nach Latschenöl duftenden Dunstwolken, in die Kammer strömen.

So verging den Badenden der halbe Vormittag in modischer Ergötzlichkeit. Bei dem sonnigen Frohsinn, der ihre weltentrückten Seelen erfüllte, bemerkten sie lange nicht, daß das Wasser, in dem sie saßen, bedenklich an angenehmer Temperatur verlor. Aber schließlich fühlten sie doch den wachsenden Entgang an Sitzwärme und läuteten der Bademagd.

Diese Magd erschien nicht. Als jener angstvolle Aufruhr durch die Gassen von Berchtesgaden gesprungen war, hatte auch der erschrockene Bader mit seinen Leuten Reißaus genommen und völlig der in der Dunstkammer sitzenden Badgäste vergessen, die beim sausenden Gepfurr der Dampfretorten weder den versiegenden Buchsendonner in der Ferne vernommen hatten noch das wachsende Menschengeschrei der nahen Gasse zu hören vermochten. Aber jetzt, weil unter den Retorten das Feuer auszugehen drohte und der Dampf immer schwächer zischte, wurden die Arkadier im verkühlenden Wasser aufmerksam auf die rohen Stimmen der Außenwelt. Und plötzlich hörten sie ein verzweifeltes Geschrei, dazu den Hufschlag jagender Rosse auf dem Pflaster. Herr Jettenrösch, von böser Ahnung befallen, hüpfte aus der Kufe heraus und zerrte an einem Fenster die Läden auf. Über seinen Kopf weg fuhr der dicke weiße Dunst des Baderaumes in den bleichen, kühlen Tag hinaus. Und da draußen gewahrte Herr Jettenrösch einen mit dem Pferde quirlenden Reiter, der sich auf der Flucht in den Gassenwinkel vor dem Badhaus verirrt hatte. »Gottes Tod! Was ist denn geschehen?«

Entgeistert starrte der Reiter dieses paradiesische Fenster an, in dem jetzt unter wehendem Dampf ein doppelter Adam und eine dreifache Eva zu sehen war.

Fünf Stimmen kreischten ihm erschrocken zu. Und da lallte der Reiter: »Die Hallturmer Mauer ist gefallen. Die bayrischen Reiter sind hinter uns. Springet, ihr Herren, springet!«

Herr Jettenrösch, der Hundswieben und die drei frummen Fräulein sprangen bereits. Sehr schnell. Sie sprangen aus der Badstube und über die steile Treppe hinauf.

Es verging eine halbe Stunde, bis sie zur Not in deckende Kleider kamen und in der Verwirrung zusammenraffen konnten, was sie mitschleppen wollten.

Durch die Marktgasse gab's keinen Weg mehr. Vor dem Badhaus knäuelte sich ein Gedränge flüchtender Bauern vorüber, mit großen Packen auf den Köpfen, mit Kindern, Schafen und Schweinen, mit Vieh und Karren. Ein Trupp von sieben Gadnischen Reitern sprengte erbarmungslos in dieses Gewühl hinein – und einer war dabei, der halb ohnmächtig im Sattel hing, helmlos, das bärtige Gesicht und die Platten der Rüstung von Blut übergössen. War's der Marimpfel? Oder war's nur einer, der ihm gleichsah?

Die fünfe aus dem Badhaus hatten erschrocken kehrtgemacht. Sie liefen durch den Hausflur, gewannen das Gärtlein, hüpften durch die bunten Beete, kletterten über Mauern und Zäune, flüchteten über das steile Gehäng hinunter und wateten im Tal durch die rauschende Ache. Auf dem Sträßlein, das neben dem Frauenreuter Sudhaus gegen den Königssee hinaufzog, trafen die fünf dürftig Bekleideten keuchend mit dem Häuflein der dicht verhüllten Nonnen zusammen, die aus dem geweihten Schwesternhaus geflohen waren und mit geschürzten Kutten zu dem verläßlichen Schlupfwinkel der ›Klostergrube‹ rennen wollten. Wie ein Schwärm erschreckter Schäflein sprangen die frommen Mütterchen ratlos hin und her und waren glücklich, als sie Geleit und männlichen Schutz bekamen. Hinter den beiden blessierten Stiftsherren zappelten die ehrbaren Nonnen und die frummen Fräulein einträchtig nebeneinander her, hielten sich bei den Händen gefaßt und beteten beim Springen den gleichen Hilfeschrei zur allbarmherzigen Himmelskönigin.

Wer von diesen Fliehenden die verstörten Augen über die Schultern drehte, konnte droben auf der Hallturmer Straße, von jagendem Nebel halb umschleiert, ein winziges Figürchenspiel entdecken, das sich hurtig gegen Berchtesgaden bewegte. Aus der Ferne beschaut, erschien es fein und zierlich. In der Nähe war's ein Schauder und Grauen.

Hinter fliehenden Fußknechten des heiligen Peter kam ein Schwärm der Burghausener Harnischreiter einhergesprengt. Nach der blutigen Arbeit bei der Hallturmer Mauer blühte diesen Siegern das lustige Sackmachen zu Berchtesgaden. Wer jetzt den flinksten Gaul hatte, fand die reichste Beute und konnte das Haus wählen, das er plündern wollte. Wie der Hagel auf die Ähren schlägt, so stampften die Gäule immer wieder in einen Trupp der Fliehenden hinein. Wer von diesen Bedrohten nicht über den Hang der Straße hinuntersprang – wer in einem Wahnwitz, den er als Tapferkeit empfand, sich wider die rollende Eisenwalze zur Wehr setzte –, der wurde niedergeritten, niedergeschlagen, niedergestochen.

Weit hinter dem Reiterschwarme jagte ein schlanker Falbe, der sich beim Rennen wie ein Windhund streckte. Im Sattel gaukelte ein junger Mensch. Seine Rüstung war von Erde und Asche umkrustet, mit geronnenem Blut gesprenkelt. Die Linke hielt den Zügel vorgeschoben; die Rechte, die schlaff hinunterhing, umklammerte den Griff des Schwertes. Er hatte den Helm verloren, trug nur die Kettenhaube – und aus dem kleinen Oval des Stahlgeflechtes sah ein blasses, von Schweiß und Schmutz geflecktes, fast zur Unkenntlichkeit verzerrtes Knabengesicht heraus. Immer hörte er zwei zornige Stimmen schreien, weit hinter sich. Der eine von den beiden, die immer die gleiche Silbe kreischten, ritt auf einem keuchenden Schimmel, der andre auf einem erbeuteten Roß, das eine Gadnische Herrenschabracke trug. Die beiden hetzten ihre Pferde, doch immer größer wurde die Entfernung zwischen ihnen und diesem andern.

Als hinter den Wiesenhügeln die ersten Dächer von Berchtesgaden auftauchten, hatte der Falbe den jagenden Reiterschwarm schon eingeholt. Mit keinem Spornstreich hetzte der junge Mensch den Gaul. Aber bis auf die Mähne beugte er sich und bettelte mit flehenden, leisen Lauten. Und der Falbe streckte, streckte und streckte sich, überholte wieder und wieder einen von den andern Reitern, kam mit der Nase voraus und jagte als erster in die leere Marktgasse von Berchtesgaden hinein.

Als der Reiterhaufe um die Wende der Gasse sauste, fiel ein Geknatter über die Dächer her, und droben auf dem Berghang pufften kleine Wölklein auf, die Schüsse von Faustbüchsen. Zwei von den Reitern fielen unter die Gäule – ein Roß, das in den Kopf getroffen war, stieg mit fuchtelnden Hufen in die Luft. Auch der Bub auf dem rasenden Falben wankte. Doch er hielt sich an der Mähne. Vor einem Haus, durch dessen Erkerglas ein weißes Frauengesicht in Angst herausguckte, wollte er das Pferd zum Stehen bringen. Der Falbe prellte noch eine Strecke weit voraus. Mit zerrenden Fäusten wendete der junge Reiter den Gaul und erreichte an Amtmann Someiners Haus das Tor in dem gleichen Augenblick, in dem der Sackmacherschwarm heranrasselte. Der erste Häuf jagte weiter, zum Stift und zu den Kirchen, aus denen sich die fetteste Beute holen ließ. Die Nachtrabenden wählten unter den Häusern der Gasse.

Der Bub blieb im Sattel sitzen, weil er vor Schwäche nicht aus dem Bügel kam. Er drängte den Falben breit vor das Tor, und der Gaul ließ den Kopf hängen und pumpte mit zitternden Flanken, von denen die weißen Schweißflocken herunterfielen.

Ein paar von den Reitern, die in der Gasse wählten, kamen flink dahinter, daß der Bub unter den Häusern das beste zum Sackmachen gefunden hatte. Sie wurden grob und wollten den Falben vom Torbogen wegziehen. Mit erwürgter Stimme schrie der Bub: »Das Haus ist mein! Und rührt mich einer an, so schlag ich zu!« Das Ding drohte bös zu enden. Da kamen zwei Pfeif die die Straße hergejagt, das Roß mit der Gadnischen Herrenschabracke und der keuchende Schimmel. Malimmes war zuerst bei dem Buben. Er sprang aus dem Sattel, stieß die maulenden Reiter fort, faßte den Jul am Arm und brüllte wütend: »Du Lausbub, du narrischer! Was hast du denn da für eine Dummheit gemacht! Da hättest du hin sein können!«

Jul schüttelte den Kopf und lächelte stumm in seiner Erschöpfung. Nun lachte auch Malimmes. Und Runotter trat zu dem Falben hin und lehnte das entstellte Gesicht gegen des Buben eisernen Schoß. Grauenhaft sahen diese beiden aus. Ihr Wehrzeug hatte hundert Dullen und war von den Füßen bis zur Halsberge wie in dunklen Rost getaucht.

Von den Nachbarhäusern war ein dumpfes Krachen zu hören. Hier wurden Gewölbtüren und Kästen in Trümmer geschlagen. Und von überall klangen zeternde Stimmen, die um Hilfe schrien.

»Hui, da zwicken die Raubleut!« Lustig guckte Malimmes an dem schmucken Haus hinauf. »Brav, Bub! Gut hast du gesorgt für unsern Sack!«

»Nit rauben!« knirschte Runotter. »Aber das Haus in Scherben schlagen! Und Feuer in die Amtsstub werfen!« Er stieß den gepanzerten Fuß gegen das Haustor.

Einen verstörten Blick in den Augen, sagte Jul mit strenger Stimme: »Das Haus hat Fried. Ich will's. Das ist nit des Amtmanns Dach. Da hauset ein andrer. Der hat meinen Bruder auf seinen Gaul gehoben.«

Während Runotter wortlos die Zügel der drei Gäule faßte, guckte Malimmes mit gut gespielter Verblüffung drein: »Nit schlecht! Und jetzt hab ich mein ganzes Spargut versoffen und verknöchelt – bis auf drei Goldpfennig und einen schlechten Landshuter Gulden!« So sagte er. Doch was ihm den Hosensack so mager gemacht hatte, das war der unverschämte Preis gewesen, den Herr Grans für das gute Wehrzeug des Buben gefordert hatte.

Jul wollte aus dem Sattel steigen. »Malimmes – tu mir helfen –«

Der griff mit hurtigen Fäusten zu, hielt den Buben an die Brust geklammert, drosch mit der freien Faust auf das Haustor los und schrie zum Erker hinauf: »Frau! Höia! Das Tor auf! Euer Haus hat Ruh. Bei Gottes Blut!«

Ein Gerappel im Flur. Riegel wurden zurückgeschoben, und eiserne Stangen klirrten. Die Tür ging auf.

Malimmes sagte zu Frau Marianne, die weiß in der Dämmerung des Flures stand: »Dem Buben müßt Ihr ein Vergeltsgott sagen, Frau! Der ist mit dem Teufel um die Wett geritten, um Euer Haus wider die Raubleut zu hüten.« Er führte den Buben zu der Steinbank, die im Flur an der Mauer war. »Flink, Frau! Ein Trunk Wein muß her und ein Bissen Brot.«

Die Amtmännin rannte über die Treppe hinauf. Und der Flur verfinsterte sich, weil Runotter die drei Gäule hereinführte. Er sagte müd: »Da muß doch ein Stall sein, nit?« Die zwölf Hufe klapperten über die Bohlen. Und Runotter drehte das Gesicht nach der vergitterten Tür der Amtsstube.

Drei suchende Sackmacher wollten ins Haus herein. »Langsamt« Malimmes zog das Eisen blank. »Da ist schon wer!« Die drei gingen schimpfend davon. Malimmes blieb unter dem Torbogen stehen, um die Schwelle zu sperren. Als Frau Marianne kam, mit einem Brotwecken, mit einem gehäuften Teller und zwei bauchigen Weinkrügen, drehte Malimmes das Gesicht und sagte zu Jul: »Nimm kein Fleisch nit! Bloß trückenes Brot.« Schweigend aß der Bub, und Frau Marianne, mit kollernden Tropfen auf den blassen Wangen, saß neben ihm und reichte ihm die Brotscheiben hin. »So!« sagte Malimmes. »Jetzt tu einen Trank! Aber fest!« Frau Marianne hob den Krug und ließ den Buben trinken, bis er die Kanne fortschob und mit seiner linden Knabenstimme sagte: »Vergelt's Gott, liebe Frau! Mir ist wieder wohl.«

Malimmes fragte: »Hast du wahrhaftig genug?«

Der Bub nickte.

»Also her damit!« Malimmes nahm einen festen Rinken Brot und die Kanne, aus welcher Jul getrunken hatte. »Frau, den andern Krug und den Teller müßt Ihr meinem Herrn in den Stall tragen.« Er trank wie ein dürstendes Roß.

Auf der Straße ein Getrappel vieler Hufe. Malimmes guckte zum Tor hinaus. Es waren die Hauptleute, Herr Seipelstorfer und Martin Grans mit Gefolge.

Herr Grans deutete lachend: »Da steht ja der Bauernsöldner, den wir unter den Toten gesucht haben.«

Die Herren kamen zum Haustor geritten, und Hauptmann Seipelstorfer sagte: »Mann! Heut in der Nacht hast du die beste Arbeit gemacht. Sonst täten wir noch allweil vor der Hallturmer Mauer hocken. Man wird dich lohnen dafür.«

»Das kann ich gleich brauchen!« Malimmes lachte. »Darf ich eine Bitt tun? Das Haus da ist Raubgut meines Herren. Möchtet Ihr nit ein Schutzfähnl Vor die Haustür stecken?«

Ein weißes Fähnlein mit dem Fürstenzeichen wurde vor der Schwelle aufgestellt. Dann ritten die Herren mit ihrem Gefolge zum Stift, um in den Stoben des Propstes Quartier zu nehmen.

Jetzt konnte Malimmes das Eisen ins Leder stecken – hinter jeder Ungebühr wider den weißen Tuchlappen, der da vor dem Haus des Amtmanns baumelte, stand der Galgen.

Der Söldner ging auf den Buben zu, der mit geschlossenen Augen gegen die Mauer gelehnt saß. Und da kam gerade Frau Marianne aus dem Stall zurück, mit einem neuen Schreck in den Augen. In dem von Asche, Schmutz und Blut bedeckten Harnischreiter, der die Gäule betreute, hatte sie den Ramsauer Richtmann erkannt. Und da zitterte sie um ihres Mannes Leben. Sie ging auf den Buben zu und wollte reden; doch um ihre Kehle lag's wie eine würgende Faust.

»Komm!« sagte Malimmes zu Jul. »Du mußt dich waschen und brauchst ein Bett.«

Jul flehte: »Laß mich da noch sitzen eine Weil!«

»Ins Bett!« Malimmes wandte sieb grob an die Amtmännin. »Ich will für den Buben eine gute Stub.«

»Eine Stub ist leer, mein bestes Bett ist drin. Ich lauf gleich, daß ich alles richten kann.« Frau Marianne hastete über die Treppe hinauf. Dabei hörte sie einen kommen und sagen: »So, die Gäul sind versorgt.« Lautlos weilte sie über die letzten Stufen der Treppe hinaufschleichen. »Frau! Ein Wörtl!« Wie versteinert blieb sie stehen und klammerte sieh an das Geländer.

Klirrend kam Runotter über die Treppe herauf. »Ist der Amtmann im Haus?«

Sie stammelte: »Ach, guter Mensch – bei Gottes Barmherzigzeit, meinem Ruppert ist übel.«

Hart sagte der andre: »Nit lang ist's her, da ist mir auch nit wohl gewesen in dem Haus da.«

»Mensch, Mensch, so hab doch Mitleid mit einem Siechen!«

Runotter lachte grell. »Ich will ihm nur Grüßgott bieten. Das ist doch nötig, nit, wenn man als Gast in ein Haus kommt?«

Frau Marianne schüttelte heftig den Kopf. »Er nimmt's für geboten an.«

»Wollet Ihr mich nit führen, Frau, so such ich den Amtmann selber.«

Da ging ihm Frau Someiner schweigend voran in die Wohnstube. Hier brannten sehr viele wohlriechende Räucherkerzlein, während das schwere Pendel der Kastenuhr sein altes Wort sagte: »Bau! Bau! Bau!«

Frau Marianne öffnete die Tür der Schlafkammer, in die das Licht von zwei kleinen Gartenfenstern hereinfiel. Das große Ehebett war zur Hälfte bedeckt, zur Hälfte offen. Leer war auch die offene Hälfte. Denn Herr Ruppert Someiner, von einem Anfall seines Leidens gepeinigt, saß wie ein Häuflein des bittersten Elends in einem, hölzernen, wunderlich geformten Lehnsessel, hemdlings, Leib und Beine von einer geblümten Decke umhüllt, abgemagert, klein zusammengekrümmt, fahlgesichtig, mit hilflos irrenden Augen.

»Schau, Ruppert«, stotterte die Amtmännin, »da kommt einer – mußt keine Sorg haben – bloß grüß Gott will er sagen. Ich tu dich ins Bett heben, komm!«

Herr Ruppert stöhnte: »Ich kann nicht –« Er wurde stumm, sein Gesicht veränderte sich, und das Kinn fiel ihm schlaff gegen die Hemdkrause.

Runotter stand auf der Schwelle, wortlos, die beiden Fäuste über dem Knauf seines Schwertes, das er vor sich hin gestoßen hatte.

Draußen in der Wohnstube klang immer dieses »Bau! Baut!« Und wie aus weiter Ferne hörte man kreischende Menschenstimmen, Gepolter und Gerassel, den Lärm des Sackmachens in den Nachbarhäusern.

»Also, Gestreng Herr Amtmann? Wie ist das jetzt? Dürfen die siebzehn Ramsauer Küh auf der Mordau grasen? Oder müssen die siebzehn Ochsen hinauf?«

»Mordau?« lallte Herr Someiner.

»Wohl! So hat man das Hängmoos taufen müssen. Mein Bub erwürgt, hundert Leut erschlagen, mein Haus ein Kohlhaufen, hundert Dächer vom Feuer gefressen, ein Dorf im Elend, ein Land verwüstet, Mord und Not in der Welt – und was Recht heißt, muß in Angst auf dem Schmelzbänkl hocken.«

Herr Ruppert fand keine Antwort. Sein Gesicht wurde so grau wie Asche.

Der Bauer nickte. »Jetzt ist das so. Und keiner macht's nimmer anders. Wenn ich Euer Leben in Scherben schlag, wie's die Herren gemacht haben mit dem meinigen – was tät's helfen? Gute Besserung, Herr Amtmann! Ich geh. Es schmeckt nit fein da herin.« Er ging durch die Wohnstube hinaus.

Frau Marianne atmete auf. Und Herr Someiner klagte in einer dunklen Logik seiner bedrängten Seele: »Das hätt ich mir meiner Lebtag nicht träumen lassen, daß ein redliches Mannsbild so in Untreu verfallen könnt!«

»Mann, ja Mann, so nimm doch ein lützel Verstand an!« grollte die Amtmännin, während sie den Leidenden in das Bett schleppte. »Der hat doch mit seinen Leuten unser Haus gehütet wider die Raubleut.«

Durch dieses Wort und in der Bettwärme schien Herr Ruppert zu einer milderen Anschauung zu gelangen. Aber er hatte mit seiner Rede, die der andre noch vernommen, einen schweren Schlag auf den quälenden Stachel getan, der seit vielen schlaflosen Nächten in Runotter bohrte.

Als der Bauer hinunterkam, sah Malimmes ihn verwundert an. »Herr? Was hast du?«

»Nichts.« Runotter legte seine schwere Hand auf die Kettenhaube des Buben. »Ich geh zu den Gäulen.«

Wieder rasselte auf der Straße ein Reitertrupp vorbei. Zwei im ledernen Holdenküraß, mit erbeuteten Pferden, hielten vor der Haustür, der Altknecht des Runotterhofes und Heiner, der bei lachendem Gesicht eine Blutkruste auf der Stirn hatte.

Durch den Eisenhut war's durchgegangen. »Aber das gute Käpplein der Traudi hat grad noch ausgehalten.«

Der dritte von den Knechten fehlte. »Wird schon kommen!« tröstete Malimmes. Aber dieser dritte blieb aus.

Die Magd mußte Speis und Trunk bringen, mußte den vergitterten Eingang der Amtsstube aufsperren und in diesem geheiligten Raum die Heulager richten.

Über die Treppe rief Frau Marianne herunter: »Das Stübl ist fertig.«

»Komm, Bub! Wann nit gehen kannst, ich trag dich.«

»Es geht schon.«

Als Frau Marianne droben im zweiten Stockwerk vor den beiden Mannsleuten die Tür der kleinen weißen Stube auftat, sah der Bub erschrocken die Kleider an, die von einem Zapfenbrett an der Mauer herunterhingen. Ein grünes Reiterwams aus Hirschleder war dabei, mit violett geflügelten Ärmeln.

»Nur Mut!« mahnte Malimmes mit einer wunderlichen Stimme. »Ist kein Feind nit da!«

Das Stübchen duftete herb, obwohl die zwei Kerzen nicht brannten. Wasser war in dem kupfernen Becken und Wasser in der kupfernen Kanne. Vor dem Waschtisch war eine dicke Kotze auf den Boden gelegt. Das große, weißverhangene Bett, neben dem ein Tischlein mit Wein und Speisen stand, war aufgedeckt. Schweigend richtete Frau Marianne die Kissen und ging aus der Stube.

Malimmes hob dem Buben die Kettenhaube über die Ohren. Das schwarze Haar war dicht an den Kopf geklebt, auf den Wangen sah man wie eine Blutzeichnung das Muster des Ringgeflechtes, und das schmale Oval, das die Kettenhaube vom Gesicht freigelassen hatte, war braun und grau. Unter heiterem Schwatzen zog Malimmes an des Buben Küraß die Schnallen auf. Nun plötzlich der Laut eines fürchterlichen Schrecks. Der Küraß hatte auf der Brustplatte eine kleines, rundes Loch mit einwärts gebogenen Rändern. »Bub, bist du letz?«

Jul schüttelte den Kopf. »So viel gut ist mir.«

Malimmes riß ihm den Küraß herunter. Das Geschoß der Faustbüchse hatte den Stahl durchbohrt und war in dem Lederpolster, das wie eine große Brille aussah, kraftlos hängen geblieben. »Guck, mein gescheites Pölsterlein!« Und lachend legte Malimmes auf die Hand des Buben ein kleines Ding wie eine graue, zerquetschte Nuß.

»Vergelt's Gott, Mensch!« Jul atmete auf und betrachtete die zerdrückte Kugel. »So kann der Tod ausschauen!« Fest schloß er die Hand um das kleine Bröcklein Blei.

Malimmes schnallte die letzten Eisenstücke von dem Buben herunter, immer heiß und übermütig schwatzend.

»So! Jetzt tu dich waschen! Fest! Was Eisen ist, nimm ich mit. Dein Gewand mußt du vor die Tür hinaustun. Und liegst du im Nestl, so iß und trink!« Er strich mit der Hand über das weiße Lager hin. »Da wirst du gut schlafen.« Seine Stimme bekam wieder jenen wunderlichen Klang. »Und lieb wirst träumen, paß auf!« Er lud das klirrende Eisenzeug auf Arm und Schulter. Draußen blieb er stehen, bis er innen an der Türe den Riegel hörte. Er nickte vor sich hin. Und plötzlich wurden seine Züge ernst und müd. Langsam, wie mit zerschlagenen Knochen, stieg er die Treppe hinunter.

Vor dem Hause ging ein lärmendes Gedränge vorbei. Der Häuf der Spießknechte rückte in Berchtesgaden ein. Manche hatten verbundene Köpfe, und viele trugen um die Schuhe noch die dicken Lumpen, die sie vor dem Sturmlauf naß um die Füße gebunden hatten, damit ihnen die unter der Asche noch verborgene Glut des niedergebrannten Waldverhaues das Schuhleder nicht versengen möchte.

Der Hauf brachte die Gefangenen, unter denen der alte Armansperger war, der Hauptmann vom Hallturm.

Die Schwerverwundeten des bayrischen Heerhaufens hatte man zur Plaienburg hinuntergeschafft, die Toten begraben. Die Gefallenen der Gadnischen Besatzung hatte man liegenlassen; um die hatte sich der heilige Peter zu bekümmern, von dem augenblicklich niemand wußte, wo er sich aufhielt. Die Flüchtigen seiner Kriegsmacht waren gegen Schellenberg hinausgeprellt; die meisten hatten sich zur festen Gadnischen Grenzburg am Hangenden Stein gerettet. An die zwanzig, die verwundet waren und nimmer weiterkamen, wurden aufgestöbert – unter ihnen Marimpfel mit einer Kopfwunde, die ihm tiefer ins Blut als ans Leben gegangen war. Von den Faustschützen, die auf die Heiter in der Marktgasse geschossen hatten, wurden drei erwischt. Sie erlebten noch einen schönen Abend; denn der Himmel und die Berge begannen sich zu klären; die sternhelle Mondnacht erlebten sie nimmer; bevor es dämmerte, hingen sie an dem Galgen, den man auf dem Marktplatz neben dem Brunnen errichtet hatte.

Im Verlaufe dieses schönen Abends gab es noch einen Alarm. Von der Gadnischen Besatzung am Schwarzenbach, wo der heilige Peter ebenfalls mit fehlendem Glück wider eine Übermacht gefochten hatte, kam ein Häuflein fliehender Reiter durch die Ramsau nach Berchtesgaden gejagt. Ein paar entrannen, die andern wurden gefangen oder niedergestochen. Und hinter ihnen erschienen die Sackmacher des heiligen Zeno. Sie fanden zu Berchtesgaden abgespeiste Tische und leere Kästen. Es gab Gezänk und Raufereien. Die zu kurz Gekommenen zerstreuten sich im Tal, um die einschichtigen Bauernhöfe heimzusuchen. Herden von Vieh, Schafen, Ziegen und Schweinen wurden zusammengetrieben – item verloren viele Gänse, Enten, Hennen und Tauben die Köpfe, ohne daß der Amtsschreiber Pießböcker diesmal die Ziffern notieren mußte. Und ehe die schöne Nacht über die Berge hinging, flammten an vielen Orten die Dächer auf, in die ein mutwilliger oder enttäuschter Sackmacher das Feuer geworfen hatte.

Zu Berchtesgaden hausten die Raubleut schauerlich. Einer von den höfischen Ministerialen brachte nach Einbruch der Nacht die Kunde dieser Greuel zur ›Klostergrube‹ hinter dem Königssee, wo an die sechzig Flüchtlinge des fürstpröpstlichen Hofes versammelt waren, in einer Höhle und unter Zelten, auch unter freiem Himmel, im träumerischen Bergwald und bei lustig flackernden Feuern, an denen emsig gekocht und gebraten wurde.

Herr Jettenrösch, der nicht nur das schmuckste Pfennigweiblein, sondern auch eine poetische Ader besaß, wurde durch die Schilderung der Sackmachergreuel dichterisch angeregt. Während er im Schöße des frummen Fräuleins Rusaley die von den Musen geküßte Stirn ruhen ließ, preßte er seinen Zorn über die Missetaten des Feindes in eine vaterländische Elegie, deren lateinische Hexameter besagten:

»Vierzehnhundert zwanzigundeins, im Jahre des Unheils, Als die siebzehnte Sonne des Juli aus Nebeln emporstieg, Wurde mein Berchtesgaden tückisch bekriegt und geplündert. Gleich einer heidnischen Horde warf sich der Feind in den Tempel, Raubte den kostbaren Schmuck, entraffte die frommen Geräte, Schleppte die Meßbücher fort und – leider – die wertvollen Kelche, Samt den mit edlem Gestein umkrusteten Knöchlein der Heil'gen. Dreimal weh den Verruchten, die an des Münsters Altären Häcksel, Hafer und Heu ihren mistenden Rossen geboten! Solcher Frevel ward noch erhöht durch greuliche Sünde: Denn die verdammten Halunken – so nicht wissen, wen Gott ist – Schleuderten nicht nur schändlich fort die göttliche Zehrung, Nein, sie stahlen – o pfui! – uns auch die Monstranz noch, die goldne. Zwiefach wurde der göttliche Kult gestört und geschädigt: Nicht nur die Priester mußten entfliehn, auch die Schwestern, die frommen, Da sie mit Recht die Schändung der heiligsten Güter besorgten. Weh! Diesen Greuel verschuldete Herzog Heinrich der Schwarze. Nennt sich: katholischer Christ! Und ist eine Geißel der Kirche! Fürst von Bayern, du, hab acht, dein wartet die Hölle!«

Als der Mondschein über die Wipfel des Bergwaldes, hinglänzte und am Feuer die schmorenden Gänse dufteten, trug Herr Jettenrösch mit einer Stimme, die von Ergriffenheit bebte, seine lateinische Dichtung vor. Und als der begeisterte Sänger schloß und in der Stille des Bergwaldes erwartungsvoll umherblickte, erhob sich reichlicher Beifall. Es applaudierten auch jene, die gar nicht Latein verstanden.

Der junge Sigwart zu Hundswieben preßte das Gesicht in die Hände und bewegte schluchzend die Schultern.

»Liebster?« fragte der geschmeichelte Dichter. »Weinst du über das Unglück unsres Landes?«

»Nein!« Hundswieben hob das grinsende Gesicht mit dem Pflasterknoten auf der Nase. »Unser unglückliches Land wird sich in Bälde wieder erholen. Ich weine über deine schlechten Verse, die in Ewigkeit nicht mehr besser werden.«

Herr Jettenrösch ärgerte sich. Alle andern lachten. Die heitere Stimmung mehrte sich noch, während man die am Spieße knusperig ausgefallenen Gänse verzehrte und gegen die Kühle der Bergnacht mit stark gewürztem Glühwein ankämpfte, der nicht nur den Magen wärmte, auch das Blut in allen Adern befeuerte. Gewagte Scherzworte flatterten auf; neben den erlöschenden Feuern begannen allerlei Zärtlichkeiten heimlich zu spielen, und die Töchter der Hofbeamten ließen sich von den Domizellaren in modischen Gebräuchen unterrichten. Sogar die jungen Nönnlein beteiligten sich lebhaft an Gesprächen, wie sie sonst im Schwesternhause niemals geführt wurden. Und sie bekamen glühende Wangen, als die frummen Fräulein Rusaley, Aglaja und Gerilind ein süßes, sehnsuchtsvolles Liedchen mit feinem Dreiklang hinauszwitscherten in die stille, schöne Nacht.

Das Mondlicht tauchte hinter den Watzmann hinunter, das sanft rauschende Dach der Bäume wurde finster, kleine Leuchtkäferchen flogen um, und während es den Anschein hatte, als wäre das Lager der Flüchtigen schon tief in Schlummer gesunken, huschte mit leisem Kichern das ewig Menschliche durch den friedvollen Bergwald – – –

– Um diese dunkle Stunde erwachte zu Berchtesgaden eine Schläferin und fuhr aus den Kissen auf, geweckt durch einen heiser gellenden Schrei der eigenen Kehle.

Ihre verstörten Augen irrten in der Finsternis, von der sie umgaben war, und fanden die matte Helle des kleinen, vergitterten Fensters. Mit wirbelnden Sinnen und unter tobenden Herzschlägen begann sie dieses Entsetzliche zu verstehen: Die Feinde hatten sie gefangen, hatten ihr das blutige Eisen aus der Faust gewunden und hatten sie zu ewiger Strafe verdammt; und nun lag sie in diesem finsteren Kerker, zu gerechter Buße für die unmenschliche Tat, die sie begangen hatte im Grausen der Schlacht. Begangen? Wer? Ihre eigne Faust, ihr Herz, ihr Wille? Nein! Nein! Nur dieses schreckliche, von einem bösen Geist geführte Eisen hatte das Grauenvolle verbrochen. Dieses Eisen, das ein lebendiges Ding mit eignem Willen war und immer stach und schlug und mordete! Dieses Eisen, das ein widerstrebendes, von allen Schrecken der Erde gepeinigtes Menschenkind hinter sich her riß und die an den Schwertgriff gebannte Faust mißbrauchte, um eine geliebte Stirn zu spalten.

Zitternd an allen Gliedern, brennend an Leib und Seele, saß die Erwachte in den Kissen, immer gemartert von der Angst, daß sie diesen heiseren Todesschrei des Erschlagenen noch einmal hören müßte.

Die Finsternis eines Kerkers? Nein! Das war die schwere Nacht, die sich über das Schlachtfeld beugte. Mit dunklem Mantel umwickelte sie die vielen noch Lebenden, die sich in Schmerz und Wunden krümmten, und bedeckte schwarz die vielen Toten, die sich nimmer regten. Wie verkohlte Pfähle lagen sie da. Nur ein einziger glich noch einem Menschen, war klar zu sehen, deutlich zu erkennen. Wie in schöner Sonne lag er inmitten dieser grauenvollen Finsternis, hatte einen roten Blutstrom auf der weißen Stirne, war tot und hatte dennoch offene, lebende Augen. Und als die Suchende kam, diese verzweifelt und ruhelos Irrende, da richtete sich der Tote wie durch ein Wunder auf, war anzusehen wie die Lichtgestalt eines Heiligen, streifte mit langsamer Hand das Blut von seiner Stirne fort, lächelte ein bißchen und sagte leis: »Ich bin nicht, was du mich gescholten hast. Warum erschlugst du mich?«

Sie wollte schreien und streckte die Arme. Da zerfloß das leuchtende Bild in der Finsternis. Und die tastenden Hände der völlig Erwachten fühlten die kühle Mauer, fühlten das Tischlein mit Teller und Glas, die Vorhänge des Bettes und die linden Kissen, die heiß waren von der Glut ihres zitternden Leibes. Und da fiel in ihre Seele ein neuer Sturm, der sich mischte aus Schmerz und Sehnsucht, aus Glück und Freude. Jetzt wußte sie, dieses Fürchterliche war nur ein Traum gewesen, ein böser Traum, der sich weitergesponnen hatte vor ihren offenen Augen. Und da wußte sie auch wieder, wem diese kleine Stube gehörte – wußte, in wessen Bett sie lag. Erschrocken und selig preßte sie unter zerbissenem Schluchzen das Gesicht in die Kissen, die naß wurden von ihren Tränen. Und während ein lautloses Schluchzen ihren Körper schüttelte, glitt alles, was seit den Gewitterstunden auf dem Untersberg nur ein unbewußtes Erleben gewesen, in jagenden Bildern an ihr vorüber.

Diese grauenvolle Nacht! Sie ist wie ein Zorngericht des Himmels, der die sündhafte Erde verdammt. Dieses ohrenbetäubende Rauschen des Regens, der den lohenden Brand des Waldverhaues ertränkt und in der Finsternis auf die Menschen lospeitscht! Dieses Feuerschwimmen der Blitze, das ruhelose Gebrüll des Donners! Zwischen Sturzbächen und springenden Felsbrocken kämpfen sich die Sechsundzwanzig Schritt um Schritt durch die steile Wand, bei jedem Atemzug bedroht von einer unsichtbaren Faust des Todes. Mühsam und keuchend klettern sie. Kein Blitz mehr. Nur manchmal noch ein mattes Aufleuchten. Und immer ferner rollt der Riesenkarren des Donners. Unter dicken Nebelfluten will der Morgen grauen. Die Sechsundzwanzig hocken hinter Steinblöcken, die zum Sturz gerichtet sind, und harren im Gewoge des Nebels auf das Sturmzeichen vom Fuchsenstein. Der Tag wird hell, und sausender Westwind fährt in die Nebelschwaden. Manchmal taucht eine Bergrippe, ein Stück des Tales aus dem wirbelnden Grau heraus. Da dröhnt der erste Schuß der ›Landshuterin‹. Schuß um Schuß, glle mit dem Echo zusammenrinnend zu einem ununterbrochenen Tongebrüll. Jetzt ein dumpfes Gerassel. Ein Turm ist gefallen, ist ein Schutthaufen über zerdrückten Leichen. Verwehte Menschenstimmen, wie das Kreischen lustiger Kinder. Spielen sie Krieg, diese Kleinen? Man hört ein Gemecker wie von winzigen Trompeten. Durch einen Riß des Nebels sieht man drunten im Tal das Aschenfeld des niedergebrannten Waldverhaues. In dieser Asche kriecht eine lange, bunte Raupe mit glänzenden Haarbüscheln – die Kolonne der Stürmenden mit Langspießen und Mauerleitern. Wirres Geschrei, und jetzt ein feines Klingen, als würde ein Sack Münzen ausgeleert. »Achtung!« schreit Malimmes. »Die sind bei der Mauer schon handgemein.« Auf dem Fuchsenstein drei schmetternde Trompetenstöße. »Los! Fürwärts!«

Ein Geklirr der Schienen und Platten. Eiserne Schultern stemmen sich gegen die fällig gestellten Felsblöcke. Sechsundzwanzig Stimmen schreien die Sturmlosung. Die Blöcke fangen zu rollen an, springen und poltern, verschwinden krachend im Nebel. Schreck und Verwirrung rennen dem Häuflein der Sechsundzwanzig als Kampfgenossen voraus. Der Widerstand der Besatzung, von einer dunklen Gefahr im Rücken gefaßt, wird schwächer und zerflattert. Wie ein Schwärm von Flöhen hüpfen die Bayrischen über die zerbröselte Mauer. Und Fünfundzwanzig, die aus dem Wald herausbrechen, schlagen mit blitzenden Schwertern los. Nur einer, ein schlanker Bub, bringt keinen Streich zuwege, ist wie ein Blinder, wie ein halb Ohnmächtiger. Malimmes, der immer lacht und schreit, muß mit dem sausenden Bidenhänder die Hiebe der Gadnischen von dem Buben abwehren und kreischt ihm zu: »Denk an den Jakob!« Und da schrillt die Stimme des Buben: »Jakob, Jakob, Jakob, Jakob!« Jeder Schrei dieses Namens wird ein zorniger Streich mit dem, Eisen. Klirrendes Gemenge. Spritzendes Blut. Braune Gesichter werden bleich. Menschen stürzen und seufzen, winden sich stöhnend unter eisernen Tritten. »Los, los, fürwärts«, brüllt Malimmes, »hinter meinem Herren her, oder mein Herr ist hin!«

Mit dreschenden Hieben hat Runotter eine Gasse durch das kämpfende Gewühl gebrochen. Er schlägt und schlägt. Seine Augen suchen. Jetzt ein Schrei wie in tierischer Freude. Er hat den Gegner gefunden, den er suchte. Prasselnd fallen des Runotters Hiebe auf diesen Keuchenden nieder, der sich verzweifelt wehrt. Die Stahlhaube des Gadnischen Hofmanns geht in Scherben, ein rotes Bächlein fährt ihm über Nase und Bart. Da saust der lange Bidenhänder zwischen die beiden hinein, Malimmes stößt den Bruder seitwärts, faßt den Taumelnden am Bein, reißt ihn zu Boden – »Narr! Bleib liegen!« – und über den Blutenden geht das wüste Gedräng der Kämpfer hinüber. Auf allen vieren fängt Marimpfel zu kriechen an, gewinnt den Waldsaum, reißt einen von den angepflöckten Gäulen los und klettert mühsam in den Sattel des scheuenden Tieres.

Ein letzter, wilder Kampf um Hof und Torhalle der Feste. Wieder sucht Runotter. Und findet. Jetzt fährt ihm auch kein Bidenhänder vor die dreschende Klinge hin. Unter dem lallenden Todesschrei »Herr Jesus!« bricht der Gadnische Vogt wie eine klirrende Eisensäule unter den Streichen des Bauern zusammen. Ein wirres, jubelndes Geschrei. Das Tor ist genommen. Die Brücke fällt. Durch die Torhalle drängen Herzog Heinrichs Harnischer. Der alte Hauptmann des Hallturms, Herr Armansperger, wird vom Gaul gerissen und gefangen. Mit drängendem. Gewirre – halb noch Kampf, doch halb schon eine schauerliche Posse – beginnt die Flucht der Überwundenen, umschleiert von wehenden Nebelfetzen, umwirbelt vom Qualm der brennenden Gebäude. Die Sieger sind verwandelt in gierige Sackmacher. Hundert Stimmen schreien? »Die Gaul! Die Gaul!« Rennende Troßknechte. Ein Gewühl von Rossen, die man vom Aschenfeld hereinbringt durch die mit Leichen und Verwundeten gepflasterte Torhalle. Hinter den Flüchtenden geht ein grausames Jagen und Hetzen her. Und der schlanke Bub, ohne Eisenhut, mit blutbespritzter Kettenhaube, den Küraß und die Schienen von Schmutz und Asche umkrustet, rennt und schreit, findet den Falben, zerrt sich in den Sattel, taumelt auf dem Gaule, den er hetzt und mit schmeichelnden Lauten kost – und hinter dem Buben schreien zwei Erschrockene in Sorge: »Jul! Jul! Jul!« –

Vor der Seele des gequälten Menschenkindes, das in dunkler Nacht unter ersticktem Schluchzen das Gesicht in die Kissen wühlte, erlöschen die Bilder. Alles Geschehene wird ein Wirres und Unbegreifliches, ein Schauder und Grauen, wird eine müde Dumpfheit ohne Sinn und Willen, wird zur Marter einer hilflosen und verstörten Sehnsucht.

Um das kleine, vergitterte Altanenfenster dämmert das Erwachen des Tages.

Und irgendwo ist ein leises, ruheloses und wunderliches Tönen. Das klingt, wie wenn ein Schnitter seine Sense dengelt – und klingt, als wär's der hastige Schlag eines stählernen Herzens gegen eine Brust von Eisen.

Zweites Buch
1

Die erste Stimme des jungen Morgens, der zu Berchtesgaden erwachen wollte, war ein dünnes Pochen und Klingen, das sich flink und ruhelos wiederholte.

Im Flur des Someinerschen Hauses saß Malimmes rittlings auf einer Holzbank und klopfte mit dem Hammer an des Buben Küraß die Dullen aus.

Auch von den Nachbarhäusern war das gleiche Hämmern und Pochen zu hören. Gepanzerte Wachen klirrten auf der Straße vorüber; Gäule wurden hin und her geführt; verstörte Weibsbilder huschten vorbei; und von irgendwo hörte man den johlenden Gesang bezechter Kriegsleute.

Malimmes hob das Eisenzeug auf den Arm und ging zur Amtsstube. Die zwei Knechte waren schon im Stall; Runotter schlief noch und lag auf dem Heu wie ein regungsloser Klotz. Um Ruhe zu finden, hatte dieser sonst so Mäßige am verwichenen Abend schwer gebechert, bis spät in die Nacht hinein. Der Soldknecht beugte sich nieder und rüttelte den Schlafenden am Arm. Runotter hob den Kopf; sein stumpfer Blick ging langsam über die hellen Fenster hin. »Herr«, sagte Malimmes, »der Morgen ist da.« Dann stieg er die zwei Treppen hinauf, stellte die blanken Wehrstücke des Buben auf den Boden hin und ließ das Eisen ein bißchen klirren. Er lauschte.

In dem weißen Stübchen da drinnen blieb es still.

Als Malimmes wieder hinunterstieg, begegnete ihm die Amtmännin, die verschüchtert die böse Narbe des Söldners anstarrte. Sie schien diesen schreckhaft aussehenden Kerl, obwohl er lachte, nicht unter die guten Seelen zu rechnen. Er sagte: »Frau! Für den Buben da droben müsset Ihr was tun!«

Frau Marianne nickte gleich.

»Er hat bei der Hallturmer Mauer das Helmdach verloren. Jetzt braucht er ein neues Eisenhütl.«

Die Amtmännin stammelte: »Ach, Mensch, da weiß ich aber nicht –«

»Geh, Frau! Ihr habt doch einen ausgewachsenen Sohn.«

Schweigend ging Frau Marianne davon. Und sie hatte nasse Augen, als sie einen zierlichen Stahlhelm mit grauem Reiherbusch aus der Stube brachte.

Malimmes lachte. »Gelt? Wenn man will, geht alles. Jetzt tragt ihm das Hütl aber auch selber hinauf! Mit einem rechtschaffenen Frühmahl!« Er nickte der Amtmännin lustig zu. Drunten im Hofe fand er den Runotter, der sich am Brunnen wusch. »Recht so, Herr! Kalt Wasser ist gut. Des Weins, mein' ich, ist dir gestern ein Kitzel zu viel worden? Nit?«

»Ich hab schlafen können.« Runotter richtete sich auf. Seine nassen, völlig ergrauten Haare tropften, und dünne Glitzerfäden liefen ihm über das müde Gesicht. »Jetzt bin ich wieder nüchtern. Und da ist mir allweil eine Frag im Hirn.«

»Was für eine?«

Mit schwerer Trauer in den Augen sah Runotter den Söldner an. »Was besser ist: Unrecht leiden oder Unrecht tun?«

»Herr! Da ist eins so dumm wie das ander. Der richtige Weg geht zwischendurch.«

»Den finden bloß die Glückhaften.«

»Nit wahr ist's. Man muß halt suchen. Aber komm! Eins nach dem andern. Jetzt essen wir zuerst die Supp.«

Als sie bei der Schüssel saßen, kamen zwei von den Plaienschen Soldknechten und holten den Malimmes zum Hauptmann Grans. Er schien diesen Weg nicht gerne zu machen. Und flüsterte dem Runotter zu: »Laß den Buben nit aus dem Haus! Und die Gäul müssen unter Zaum und Sattel sein. Den ganzen Tag.«

»Was fürchtest?«

»Geforchten hab ich noch nie was. Aber gestern hab ich allerlei gemerkt, das mir nit gefallen hat. Wir reden noch drüber. Jetzt muß ich zum Hauptmann. Hauptleut warten nit gern.«

Als Malimmes das Haus verlassen hatte, legte Runotter seine Platten an und ging zum Stall. In den kleinen Hof, wo der Brunnen war, fiel schon die Morgensonne herein. Runotter guckte am Haus hinauf und sah auf der Altane des zweiten Stockes den Buben stehen, in Küraß und Schienen. Jul, ganz in Sonne, das schmale Gesicht umschattet von den dichten Strähnen des schwarzen Haares, beugte sich über das Geländer, nickte dem Gepanzerten im Hof da drunten zu und wollte in die weiße Stube treten. Doch heiß erschrocken blieb der Bub auf der Altanenschwelle stehen, ein schlanker Schatten vor dem Glanz der Sonne.

Frau Marianne, den zierlichen Stahlhut mit den grauen Reiherfedern auf dem Arm, und die alte Magd, mit Wein und Mahl für den Durst und Hunger eines Riesen, kamen zur Tür herein. In ängstlicher Hast bestellte die Magd den kleinen Tisch und surrte davon. Die Amtmännin machte erstaunte Augen, als sie das säuberlich bedeckte Bett und das sorgfältig aufgeräumte Stübchen sah. Zum erstenmal, seit die Kriegsleute in ihr Haus gefallen, bekam ihr Gesicht einen ruhigen, fast frohen Ausdruck. Der rätselhafte Schutz, der ihrem Haus zu Hilfe gekommen war, hatte ihr Herz nicht so zutraulich berührt wie die Ordnungsliebe dieses gepanzerten Knaben. »Junger Mensch«, sagte sie, »dich hat deine Mutter gut erzogen.« Weil der Bub gegen die Sonne stand, konnte sie die Erschütterung nicht gewahren, die den Wortlosen befiel. Sie reichte ihm den schmucken Helm mit den Reiherfedern hin. »Der Soldknecht mit der bösen Narb hat mir gesagt, du tätst ein Eisenhütl brauchen. Da ist eines. Ich hätt's keinem anderen gegeben. Dir geb ich's gern.« Sie sagte herzlich. »Komm, tu dein junges Köpfl her! Ob das Hütl paßt?«

Jul beugte den Kopf. Und von den Schultern fiel ihm das schwarze Haar um die heißen Wangen.

Frau Marianne hob den Stahlhelm über die Stirn des Buben. »So ein junges Köpfl muß guten Schutz haben!« Sie seufzte schwer. »Ach, der Krieg!« Da wurde sie wieder heiter. »Guck nur, wie das Hütl sitzt!« Sie trat zurück und betrachtete den Buben mit Wohlgefallen. »Meinem Sohn hat's auch so gut zu Gesicht gestanden. Der hat's gekriegt, wie er wehrhaft worden ist.«

Erschrocken nahm Jul den Helm herunter. »Das Hütl nimm ich nit. Ich bin kein Sackmacher.«

»Du? Ein Sackmacher? Und hast meinem Haus den Fried geschenkt. In einer schiechen Zeit.«

Hastig sagte der Bub: »Bloß weil ich den flinkeren Gaul hab, bin ich der erste beim Tor gewesen. Daß Eurem Haus nichts Ungutes widerfahren soll, das hat mein – – Wahr ist's, Frau! Das hat der Runotter so haben wollen, mein Vetter.«

Frau Marianne beugte den Kopf, wie um hinunterzulauschen nach der üblen Leidenskammer ihres Mannes. Dann sagte sie ernst: »Was man deinem Vetter getan hat, ist ohne Verstand gewesen. Und da vergilt er's an unserem Haus mit gütigem Fried! Dein Vetter ist ein redlicher Mann. Soll ihn der schieche Krieg nicht anders machen. Der Krieg ist ein Leutverderber.« Während Frau Marianne diese Goldmünze ihrer Weisheit prägte, hatte Jul mit zitternden Händen den Helm auf die Bettkissen hingelegt, in die das blinkende Eisen lautlos versank. »Aber komm, Bub, jetzt tu dich hersetzen! Ganz wohl ist mir, daß ich ein lützel plauschen kann. Dein Mahl hab ich selber gekocht. Da möcht ich auch zuschauen, wie's dir schmeckt. Greif zu! Es ist dir vergönnt.« Sie legte ihm vor, füllte das Weinglas und redete dem Zögernden herzlich zu. Und immer betrachtete sie den Buben, während er aß. »Vor sieben Jahr, bei einem Richtmannsfest in der Ramsau, da hab ich deines Vetters Mädel gesehen. Ist selbigsmal noch ein halbes Kind gewesen. Und so viel trutzig gegen meinen Buben. Ich muß dran denken, weil ich mein', du ähnelst ihr ein lützel.«

Jul beugte das Gesicht über den Zinnteller. »Oft sagen's Leut.«

»Wo ist das Mädel jetzt?«

Mühsam antwortete der Bub: »Es heißt, die hat der Vetter hinübergeschickt ins Pondau – zu seiner Schwägerin –«

»Ist das deine Mutter?«

Der Bub schüttelte den Kopf.

»Wo lebt deine Mutter?«

Jul hob den Kopf. »Meine Mutter hat sterben müssen. Schon lang.«

»Ach –« Mit beiden Händen griff Frau Marianne über den kleinen Tisch hinüber. Und während sie die zitternde Faust des Buben streichelte, sagte sie: »Dir lebt deine Mutter noch allweil. Sonst wärst du nicht, wie du bist! Aber komm, tu trinken und essen! Mein armer Ruppert sagte allweil: Trauer därf nie des Hungers Feind sein. Und du bist mir nicht bös? Gelt, nein? Ich hab gemeint, ich tu dir was Liebes an, wenn ich von deiner Mutter red.«

»Ja, Frau!« sagte der Bub mit seiner schönen dunklen Stimme. »Tausend Vergeltsgott – weil Ihr so gut seid – zu mir –«

»Du gefällst mir. Und schau, ich bin doch auch eine Mutter und hab einen Buben.« Frau Marianne tat einen schweren Seufzer. »Der muß jetzt umeinandreiten in der Welt, ich weiß nicht, wo! Und kann in Fahrnis und Kriegsnot kommen. Gott verzeih mir die Sünd – ich denk oft: Der Herrgott ist auch bloß Mannsbild. Sonst müßt er doch dreinschlagen mit dem himmlischen Besen. Bei so viel Narretei auf der Welt! Aaaah, freilich! Brandschatzen, Kästen zerschmeißen, Weiber nöten, mit Pulver pumpern, mit Eisen scheppern – und nachher brüsten: Hui, was ist der Krieg für ein lustig Ding! Und was eine Mutter ist, die kann derweil versterben vor lauter Angst um ihren Buben. Kein Stündl bei Tag und Nacht, wo man nit fürchten muß, jetzt, jetzt, jetzt rumpelt so ein Haufen Lauskerl über meinen Buben her und metzget ihn nieder. Wegen siebzehn Ochsen! Ja, Ochsen! Wer sind denn die Ochsen? Die den Krieg machen, die sind's!« Frau Marianne mußte für ein Weilchen verstummen, um ihre reichlich fließenden Tränen zu trocknen; bei dieser feuchten Beschäftigung gewahrte sie nicht, daß auch dem gepanzerten Buben zwei schwere Perlen herunterkollerten über den Mund. »Ach, Bub – freilich, du, ein junges Mannsbild im ersten Eisen, du denkst wohl anders – aber tu's einer Mutter nicht verübeln, was sie leiden muß!«

Jul schüttelte den Kopf.

Und die Amtmännin klagte weiter: »Tätst du nur wissen, was für ein richtiges Leben in meinem Lampert ist! Und schau, wenn ich gut bin zu dir, als Mutter zu einem fremden Buben – es muß doch, noch irgendwo ein lützel Gerechtigkeit geben – schau, da darf ich mir denken: Was ich tu an einem Fremden, das kommt in der schiechen Welt da draußen meinem Buben wieder heim von einer fremden Mutter.«

Da flüsterte eine dunkle Stimme voll Inbrunst: »Gott soll's geben!«

»Gelt, ja?« Und Frau Marianne, in einem Sprudel zärtlicher Worte, schüttete das Lob ihres Sohnes aus bedrückter Seele heraus. Wie aufrecht, fest und redlich er wäre, wie herzlich zu seiner Mutter, wie fleißig und tüchtig in seiner Wissenschaft, wie klar und reinlich in seinem Leben, wie geschickt und klug in allen Dingen, zu denen man Vernunft benötigt. »Und wär's meinem Buben nachgegangen, so hätt das ganze Elend mit dem Ochsenkrieg nie angehoben. Der Bub hat allweil dawider geredet. Aber nein! Recht muß Recht sein! Und da schreien die Bänkelsänger aus, wir Weibsleut wären so –« Frau Marianne hob in Zorn die Arme über den Kopf und machte die berühmte Bewegung des Knickens auf dem Daumennagel. »So? Ja? Und wie sind denn die Mannsleut? Die fahren doch gleich mit Kammerbüchsen los gegen jeden Rechtsfloh, der in ein Gräsl beißt. Mein Bub hätte den Unsinn noch hindern mögen in der letzten Stund. Jesus, wenn ich drandenk, wie er auf seinem Rössel hinausgesurrt ist zum Haustor! Da hat kein Schrei seiner Mutter nimmer geholfen. Weißt, er hätt die Pfändleut noch gern überholt. Und wie ist er heimgekommen am Abend! Das Gesicht so weiß wie das Bett da! Und den linken Arm haben sie ihm ausgeschmissen, die Unmenschen. Und schier kein richtiges Wörtl nimmer hat er im Hals gehabt. Weißt, beim Burgstall am Gwöhr, da hat er die Pfändleut noch gesehen, hoch droben auf der Bergschneid. Und da hat mein Bub in seiner Sorg einen Schrei getan, der ihm die Stimm zerrissen hat. Das ist noch allweil nicht gut.«

Erschrocken verstummte Frau Marianne und betrachtete ratlos den schweigsamen Buben. Der zitterte so heftig, daß die Stahlschienen an seinen Armen knirschten. Sein Gesicht war entstellt, und die weit geöffneten Augen brannten wie der Blick eines Fiebernden.

»Bub? Um Christi willen? Bist du krank?«

Er schüttelte den Kopf und bewegte die Lippen. Reden konnte er nicht.

»Aber ich seh's doch, Bub! Dir muß was fehlen! Tu deine Hand her! Laß schauen, ob du fieberst?« Frau Marianne war aufgesprungen und wollte die Hand des Buben fassen.

Da scholl durch den Treppenschacht die Stimme des Runotter herauf: »Jul? Höi? Wo bist?«

Der Bub sprang auf. Mit zitternden Händen warf er das Sehwertgehenk über den Küraß, faßte die Kettenhaube und wollte zur Türe. Die aufgeregte Frau vertrat ihm den Weg, raffte den blinkenden Helm aus den weißen Bettkissen, drückte dem Buben das feine Stahldach auf das schwarze Haar und stammelte: »Das Hütl! So nimm doch das Hütl! Dein junges Leben muß doch bin Schirmdach haben!«

Als Jul hinunterkam in den Flur, fragte Runotter erschrocken: »Bub? Was ist dir?« Ohne zu antworten, fiel Jul auf die Steinbank hin. Und als Runotter diese verstörten Augen sah, schrie er ratlos dem Heiner zu: »Spring, Mensch! Such den Malimmes!«

Der junge Knecht mit dem blutfleckigen Stirnband sprang auf die Straße hinaus und rannte zum Stift. Auf dem Marktplatz war ein Gewimmel von Menschen. Aus allen Fenstern guckten die Leute in Sorge und Neugier. Und die Straße war angefüllt mit vier langen Reihen von Spießknechten, die vom Hauptmann Seipelstorfer gemustert wurden. Ein ähnliches Bild fand Heiner im Stiftshofe. Nut standen hier die Reiter mit ihren gesattelten Gäulen. Und Pferde wurden aus der offenen Torhalle des Münsters herausgeführt. Der Krieg hatte die schöne Kirche in einen wüsten Stall verwandelt.

Heiner fragte sich bis zum Quartier des Plaienschen Hauptmanns durch. Das war im zweiten Stockwerk des Stiftes, in den Fürstenzimmern. Als der Knecht über die Treppe hinaufkeuchte, kam Malimmes ihm entgegen, sehr schlecht gelaunt. Die große Narbe war wie ein Blutstreif. »Heimkommen sollst! Der Bub ist letz.«

Zuerst erschrak Malimmes. Doch er wurde ruhig, als er hörte, wie der Bub aus seiner Quartierstub herunter gekommen wäre. »Da weiß ich schon, was los ist. Komm!«

Die beiden mußten zu ebener Erde einen langen Korridor durchschreiten, der erfüllt war von einem grauenhaften Spittelgeruch. An die vierzig Kranke und Blessierte waren hier auf unreinlichen Kissen, auf Stroh und Pferdekotzen schlecht gebettet. Wehleidige und wirklich Erkrankte, schwer und leicht Verwundete, Genesende und Sterbende, adlige Herren und niedrige Knechte, Sieger und Besiegte – alles lag da friedlich nebeneinander. Der eine hatte seinen Küraß, der andere ein Bündel Kleider unter dem Nacken. Hier wurde einem eine Pfeilspitze aus dem Fleisch geschnitten, dort zog man einem eine Kugel aus den Knochen. Hier gab ein Priester einem Sterbenden das Sakrament und redete ihm zu, an Gottes Barmherzigkeit zu glauben. Dort waren zwei mit verpflasterten Köpfen nahe zusammengerückt und würfelten. Zwischen den Lebenden lagen ein paar Tote, die man noch nicht hinausgetragen hatte. Letztes Röcheln und schmerzvolle Seufzer mischten sich mit Gelächter und heiterem Geschrei. Dazu hörte man von irgendwo die lustigen Trommeln und Pfeifen. Und in der leeren Zeile zwischen den Strohbetten eilten gesunde Kriegsknechte mit fröhlichem Schwatzen hin und her. Von denen, die es nicht anging, hatte keiner Mitleid mit dem andern. »Narr! Hättst du dich besser gedeckt!«

Dem Malimmes, als er schon zum Tore hinaus wollte, flog ein nasser Klumpen Leinewand gegen den entblößten Nacken. In Zorn drehte er sich um – und mußte lachen. Was ihm da an den Hals geflogen, das war ein brüderlicher Gruß. Auf einer Strohgarbe saß Marimpfel mit verbundenem Kopf, den Bart verkrustet von Blut, das Gesicht gesprenkelt mit blauen Flecken. Malimmes trat auf den Bruder zu und streckte die Hand. Marimpfel nahm sie nicht. Mit grober Stimme fing er zu schimpfen an. Landesverräter, Spion und Lumpenkerl – das waren unter seinen brüderlichen Zärtlichkeiten die mildesten. Malimmes lachte. »Geh, Bruder, was redest du denn für Narretei?«

»Hast mich nit am Fuß gepackt?« brüllte Marimpfel. »Hast mich nit tückisch niedergerissen? Grad wie ich dem Ramsauer Gauch den Garaus hab geben wollen!«

»Geh, du Fasnachter!« Malimmes blieb noch immer heiter. »So ist doch das nit gewesen. Laß dir sagen –«

»Willst mir predigen, du?« Es folgte ein Schimpfwort, das auch den Malimmes ernst machte, weil es dem Schoß des alten Weibleins am Taubensee einen bösen Irrtum nachredete.

»Predigen? Dir?« sagte Malimmes hart. »Bloß wünschen will ich, daß du bald gesund wirst. Solche, wie du, müssen rumlaufen auf der Welt. Da sterben die Redlichen lieber.« Er ging davon.

Im Stiftshof war noch immer das Gewühl von Pferden und Gepanzerten. Doch die Spießknechte, die auf dem Marktplatz gestanden, waren verschwunden. Von der Hallturmer Straße hörte man Trommeln und Pfeifen, die sich entfernten. Malimmes lauschte, mit schweren Furchen auf der Stirn. »So, so?« Alt er im Someinerschen Haus den Flur betrat und den Runotter auf der Steinbank sitzen sah, mit dem Kinn auf dem Schwertknauf, fragte er: »Wo ist der Bub?«

»Im Stall bei den Gäulen.«

»Was ist denn gewesen mit ihm?«

»Ich weiß nit. Jetzt ist er schon wieder in Ruh. Da er grad.« Aus dem sonnigen Hof trat Jul in die dämmerige Flurhalle herein, über der Kettenhaube den zierlichen Helm mit dem Reiherbusch. Malimmes, so ernst sein Gesicht war schmunzelte ein bißchen. Da fragte Runotter müd: »Was bringst du vom Hauptmann?«

»In die Ramsau muß ich reiten, mit einem Brief an den Reichenhaller Kaplan, der in der Ramsau für den heiligen Zeno eine Pflegschaft aufstellt.«

Runotter schwieg. Und Jul, mit einem raschen Schritt, trat neben den Wortlosen hin.

»Weisung, was ich weiter tun muß, krieg ich in der Ramsau. Komm! Der Hauptmann hat verstattet, daß ich dich, den Buben und deine Knechtleut mitnimm.«

Runotter hob das entstellte Gesicht. »Mich sieht die Ramsau nimmer. Meines Jakobs Grab ist überall.«

Malimmes nickte. »Ich versteh's. Aber gib mir den Buben mit!«

Jul legte den Ann um den Hals des Runotter. »Ich bleib.«

Lange schwieg Malimmes. Dann murrte er verdrossen: »Da kannst nichts machen!« Ein Hufgetrappel vor dem Flurtor. »Guck, mein Geleit ist da!« Er lachte bitter. »Zwölf Harnischer krieg ich mit. So nobel reiten oft große Herren nit. Meintwegen! Ich hol meinen Gaul.« Als er in den Hof hinaustrat, winkte er dem Runotter.

In dem engen Stall des Amtmanns standen die fünf Gäule dicht gedrängt an der Krippe des Moorle.

Während Malimmes sein beim Hallturm erbeutetes Herrenroß zum Ausritt fertig machte, kam Runotter in den Stall. »Was ist?«

»Die Augen mußt offen haben.«

»Weißt du was Sichers?«

Malimmes schüttelte den Kopf. »Was der Herzog spinnt, das kann mir der Hauptmann Grans nit an die Nas hängen. Es kommt mir so für, als möcht uns der Hauptmann fort haben. Aber du magst nit. Gut! Wenn sich's der Mensch so einrichtet, wie's ihm taugt, das ist ein Weg zum glückhaften Leben.«

»So red! Was glaubst?«

»Wenn ich's nur wüßt! Ich merk bloß allerlei, was mir nit gefallen will. Krieg? So eine Katzmauserei! Und die Maus, mein' ich, beißt ihren Speck an der Donau.« Malimmes lachte. »Warum sind die Kammerbüchsen und der Troß nit nachgeruckt? Warum stehen alle Gäul unter Sattel? Wo rucken die Spießknecht hin, denen man grad davongepfiffen hat? Mensch, da stinkt was! Und wenn die zwölf Harnischer, die mich geleiten, nit geheimen Auftrag haben, laß ich mich hängen. Der Hänfene Nummer fünf oder sechse ist mir wohl eh nimmer weit. Mich kitzelt das Zäpfl.«

Runotter sagte streng: »Der Herzog wird doch nit ein unschuldigs Ländl ins Elend schmeißen, bloß weil's ihm ein Salz auf seiner Suppen ist? Geh, sei nit so mißträulich!«

»Ja, ja! Ich bin schon so ein Lumpenkerl. Mein Bruder hat recht. Aber hörst du einen Lärm, so spring mit dem Buben auf die Gaul und reit wie der Teufel auf Plaien zu. Und eh du nit die Kammerbüchsen findest, eh därfst du nit rasten. Mir wär's arg, wenn dir und dem Buben was zustoßen tät.« Malimmes führte sein erbeutetes Herrenroß in die Sonne heraus. »Und laß dir was sagen! Tapferkeit ist ein schönes Ding. Aber aufmucken wider einen Berg, der umfallt? Gott hat die Menschleut nit erschaffen, daß sie Mus werden.« Er stieg in den Sattel. »Und jetzt soll's kom men, wie's mag. Ich wehr mich.« Malimmes ritt in den Hausflur, umklammerte die Hand des Jul und sagte mit einem wunderlich klingenden Lachen: »Sonst red ich allweil, was ich selber denk. Jetzt schwätz ich nach, was dir einer in Plaien hat sagen müssen: ›Geb's Gott, daß wir uns morgen die Hand wieder bieten können!‹« Ein heißer, sehnsüchtiger Blick. Dann versetzte Malimmes dem Gaul einen Faustschlag und ließ ihn hinausklappern auf die Straße. –

Das wurde ein flinker Ritt. Im Tal der Ramsau, vor dem Einfluß des rauschenden Windbaches in die Ache fand Malimmes eine Schanze aufgeworfen, die den Zugang zum eroberten Lande des heiligen Zeno gegen Berchtesgaden sperren sollte. Söldner des Reichenhaller Stiftes und Burghausener Spießknechte hielten Wache und beaufsichtigten die Arbeit. An die dreihundert Leute – Männer, Weiber und halbwüchsige Buben – waren beim Werk, schleppten Felsbrocken und fällten Bäume. Malimmes erkannte unter den Schanzleuten viele Ramsauer. Der lange, magere Fischbauer, den sie hinter dem Seppi Ruechsam zum Albmeister gemacht hatten, stand im Bach und half bei der Arbeit am hängenden Pfahlrost, mit dem die Ache gesperrt wurde. Und einer, der über dem Wasser drüben zimmerte? War das nicht der Mareiner vom Taubensee? Malimmes schrie den Namen des Bruders. Bei dem Lärm des Wassers hörte Mareiner die Stimme nicht gleich. Dann lachte er, kam auf einem Baum, der den Bach überspreizte, flink herübergegaukelt und streckte Malimmes froh die Hand hinauf: »Gottes Gruß, Bruder!«

»So? Bist wieder im Land?«

»Seit gestern abends.«

»Wie geht's der Mutter?«

»Nit schlecht. Mein Weib ist doch auch wieder mit heim kommen.« Etwas Helles glänzte in den Augen des Bauern. »Die Meinig ist eine gute Seel. Da hat die Mutter wieder ihr Sach, wie's sein muß. Bloß ein lützel unsinnig tut das alte Weibl. Allweil sucht sie vier Goldpfennig, die sie vom Marimpfel haben will. Ich weiß nit, was sie meint.«

Malimmes fragte rauh: »Sind die andächtigen Bittgänger gern wieder heim? Oder ist ihnen der heilig Zeno ein lützel spießig worden?«

»Die meisten hat man treiben müssen. Ich bin gern gegangen.« Mareiner redete ruhig, wie ein verständiger Mensch. »Jetzt ist die Ramsau zenonisch. In eine Ordnung, die neu ist, muß man sich schicken. Herr ist Herr. Schlechter wird's auch nit sein. Eher besser. Einen Vortl hab ich schon verschmeckt.« Der Bauer streckte sich stolz. »Jetzt bin ich Erbrechter.«

»Was bist?« fragte Malimmes verblüfft.

»Erbrechter! Vierzig Pfund Pfennig hab ich gegeben. Der heilig Zeno braucht Geld und hat's billig gemacht. Und morgen, da krieg ich wieder Küh und Säu. Wohl, Bruder! Jetzt ist mir mein Haus wie Haut und Mantel. Noch gestern vor Nacht hat der hochwürdige Herr Franzikop meinen Erbrechterbrief gesiegelt. Jetzt bin ich wer. Und kann mitreden.«

Ernst sagte Malimmes: »Gott soll dir's geben, daß es bleibt!« Er dämpfte die Stimme. »Sei fürsichtig, Bruder!«

»Es wird schon bleiben!« nickte Mareiner mit ruhiger Heiterkeit. »Ich hab ein Zeichen. Krieg ist ein schieches Ding. Aber hinter dem Mist wachsen Blumen. Weißt, im reichen Hall drüben, im Geläger, da hat man Zeit gehabt und ist allweil beieinander gewesen. Und viel gebetet hat die Meinig auch. Da hat sich der heilig Zeno gnädig erwiesen. Jetzt weiß ich, warum ich Erbrechter bin.« Mareiner lachte froh. »Ich mein' das gibt einen Buben. Bei uns im Haus hat's allweil Buben gegeben.«

Ein Söldner des heiligen Zeno befahl dem Bauer: »Geh schanzen! Oder du kriegst einen Merk.«

»Ich geh schon, Mensch!« sagte Mareiner freundlich. »Ich bin ein Williger und tu, was Recht ist.« Mit frohen Augen grüßte er den Bruder und gaukelte auf dem schwankenden Baum über den Bach hinüber.

Als Malimmes den Gaul wandte, sah er, daß der Fürmann der Harnischreiter leis mit dem Sergeanten der Burghausener Spießknechte schwatzte. Die beiden wurden stumm, als sie merkten, daß sie dem Bauernsöldner auffielen. Im Weiterreiten fragte Malimmes: »Was hast du getuschelt mit dem?«

Der andere lachte. »Blas nit, was dich nit brennt!«

»Recht hast!« murrte Malimmes. »Viel Feuer ist, von dem ein Stank aufgeht. Blast man hinein, so wird's noch ärger.« Er sah über den rauschenden Bach zum anderen Ufer hinüber, wo der glückliche Mareiner fleißig zimmerte. »Harnischer? Weißt du, was Glück ist?«

»Was man im Sack hat.«

»Nit wahr ist's! Glück ist, was man glauben kann.«

Das Wort spann sich weiter in den Gedanken des Malimmes. Immer sah er die frohen Augen des Bruders. Der glaubte! Sein Erbrecht, sein Weib, sein keimendes Kind. Für den Mareiner gab es was anderes nimmer. Alles Gewesene war versunken für ihn. Keine Frage um die Landsnot, keine Frage nach dem Runotter! Was ging den glücklichen Mareiner das Elend des Runotter an?

Da droben auf dem grünen Hügel lag das Grab des Jakob; ein mächtiger Aschenhaufen mit schwarzen Balkenstrünken. Wie finstere Riesenhände mit gespreizten Rußfingern ragten die verkohlten Ulmen in das schöne Blau des Himmels. Kleine Vögel flatterten vergnügt um die schwarzen Äste. Und auf dem Aschenhügel keimte schon wieder das Grün, Unkraut und Gräser, alles durcheinander. Wer hatte den Samen dieses neuen Lebens ausgestreut? Der Herrgott? Oder die Raubleut des heiligen Peter?

Ein wirrer Lärm quoll über die Straße her. Der Hof des Leuthauses wimmelte von Bewaffneten, von kreischenden Dirnen und Gaunern. Der dicke Leutgeb mit dem Doppelkinn mußte seinen Wein im Hof unter den Bretterdächern ausschenken, denn in der großen Leutstube amtete Franzikopus Weiß mit zwei Schreibern, um die Pflegschaft des heiligen Zeno in der eroberten Ramsau einzurichten und die neuen Lehensregister, die Holdenbücher und Wehrlisten anzulegen. Scheue, Bauern gingen aus und ein. Boten kamen und rannten davon. Ein feines Staubgewirbel war in der Stubenluft, und scharf begrenzte Sonnenstrahlen fielen durch die kleinen Fenster herein.

Der Brief, den Malimmes vom Hauptmann Grans überbrachte, schien den klugen Staatsmann des heiligen Zeno in schlechte Laune zu versetzen. Doch bevor Franzikopus zu Ende gelesen hatte, zeigte er schon wieder das Lächeln des Weisen, der überzeugt ist, daß er es mit einem Dummen zu tun hat. Gnädig ließ er sich in ein langes Gespräch mit Malimmes ein und stellte viele Fragen. Manchmal sagte Malimmes die Wahrheit, und das klang immer sehr unwahrscheinlich. Manchmal log er, und das hatte jedesmal einen Ton, der überzeugte. Franzikopus wollte den Söldner schon entlassen. Da fragte er plötzlich: »Kennst du den Fischbauer vom Hintersee?«

»Wohl, Herr!«

»Kann man glauben, was er sagt?«

Malimmes lachte. »Es kommt drauf an, was er redet.«

»Wenn er sagt, eine Truhe mit Rechtsbriefen der Gnotschaft wäre verloren gegangen, er wüßte nicht, wie?«

Mit einer Treuherzigkeit, die schlecht gespielt war, beteuerte Malimmes schnell: »Da lügt er. Ganz sicher, Herr!«

»Du weißt doch, der Fischbauer ist Albmeister?«

»So?« Malimmes machte verblüffte Augen. »Das ist mir neu.«

Lächelnd tippte Franzikopus seinen Zeigefinger gegen den Küraß des Malimmes. »Wie man den Seppi Ruechsam erschlagen und den Fischbauer gewählt hat, bist du doch selber dabeigestanden. Warum lügst du?«

Malimmes wurde sehr verlegen. »In Gottes Namen, Herr, man ist doch ein Kind seiner Heimat, der man nicht schaden mag.«

»Merk ich. Du kannst gehen. Die Antwort für den Hauptmann sollst du morgen haben.«

Als Malimmes die Tür der Leutstube hinter sich zuzog, sprach er drei leise Worte: »So ein Hornochs!« Draußen im Hofe sah er den Ältestmann der Gnotschaft stehen. Das Männlein war bleich und zitterte. Malimmes, im Vorübergehen, flüsterte: »Sag dem Fischbauer, er soll hocken bleiben, wo er hockt, der Fuchs ist irr in der Fährt.« Er trat zu einer Zehrbude, goß einen Stutz Wein hinunter und kaufte ein Stück Selchfleisch. Das aß er im Sattel, während er die Straße gegen den Taubensee hinaustrabte.

Friedliche Sonnenstille lag um das Erbgut des glücklichen Mareiner. Keine Schweine, keine Schafe, keine Kühe. Nur ein paar Hennen waren seit dem Besuch der Raubleute noch übrig und gackerten vor dem leeren Stall, weil sie den Hahn vermißten.

Unter dem leis rauschenden Gezweig einer Ulme saß die alte, weißhaarige Frau in dem grobgezimmerten Holzsessel, das Gewand verwüstet und zerrissen. Ihre Augen glitten ruhelos umher, und die dürren, gichtisch verkrümmten Hände machten fahrige Bewegungen, als möchte die alte Frau sich an der Wade kratzen und fände die richtige Stelle nicht. Weder Freude noch Verwunderung war in ihrem Blick, als sie den Malimmes aus dem Sattel steigen und seinen Gaul an eine Zaunlatte binden sah. Jetzt kam er und strecke die Hände nach der Mutter. Daß er redete, hörte sie nicht. Und als wäre er nur ein bißchen ums Haus herumgegangen, fragte sie »Hast du ihn noch gesehen?«

»Wen, Mutter?«

»Meinen Buben!« In ihrem Blick war es wie Rausch oder Fieber. »Grad ist er dagewesen.«

»Ich hab ihn gesehen, Mutter!«

»Gelt! Heut ist er nit stehen geblieben beim Zäunl. Lang ist er bei mir gewesen. Und hat mir –« Sie wurde ungeduldig. »So komm doch her, du! Und tu dich bücken! Oder bist du auch so dumm wie der Mareiner?«

»Das glaub nit, Mutter! Ich bin gescheit.«

»So bück dich! Und such! Da, in den Strumpf mußt du greifen. Da ist sein Goldpfennig drin. Ich spür ihn allweil. Unter der Fers muß er liegen. Und der ander bei der großen Zeh. Hast ihn? Hast ihn?«

Malimmes hatte sich niederfallen lassen auf die eisengeschienten Knie. Um den Goldpfennig zu finden, brauchte er nicht in den Strumpf der Mutter zu greifen; er fand ihn im eigenen, Hosensack. »Da ist er, schau!« Auf der flachen Hand hielt er der Mutter eine gelbe Münze hin.

Die verkrüppelten Hände griffen zu, so flink, wie die Klauen eines Habichts greifen. Ein leises, glückliches Lachen. »Wo ist der ander? Such! Such!«

»Ist schon da, Mutter! Schau!«

Die Augen der alten Frau bekamen den Blick eines heiteren Kindes. Immer ließ das lachende Weiblein die beiden blinkenden Münzen von einer Hand in die andere rieseln. »Such! Es fehlen noch zwei.«

Er suchte. Und da fand sich auch der dritte Goldpfennig. Einen vierten hatte Malimmes nimmer.

Die alte Frau wurde zornig. »So such doch, du!«

»Mutter, jetzt hat's ein End.«

Sie sah ihn mißtrauisch an. »Gleich tust ihn hergeben! Dich kenn ich. Wie du fortgelaufen bist, hat der Vater fünf Heller gemänglet.«

»Ja, Mutter! Die hab ich gestohlen!«

»Bist allweil ein schlechtes Kind gewesen! Du! Allweil!« Und da wußte sie schon nimmer, daß er noch da war. Immer spielte sie mit den Goldmünzen und kicherte vor sich hin.

Malimmes saß auf seinen Waden, ließ die gepanzerten Arme schlaff herunterhängen und sah die Mutter an, als wäre das alte, fröhliche Weiblein eine unbegreifliche Sache. Jetzt begann er müde zu lachen. Und plötzlich mußte er aufschauen. Er hatte was gehört, vom Haus herüber, die Mareinerin, mit einem Wasserzuber, hatte aus der Tür treten wollen und war beim Anblick des Kriegsmannes in das Dunkel des Flurs zurückgewichen. Sich stützend, als wären ihm alle Gelenke zerbrochen, stand Malimmes auf und ging zum Haus hinüber. Auf der Schwelle blieb er stehen und sah das stumme, mißtrauische Weib an. »Mußt dich nit fürchten! Bloß ich bin's. Gelt, du hast halt noch allweil den Schreck im Blut?«

Die Bäuerin sagte zornig: »Ich versteh nit, was du meinst.«

»Freilich! Was man schreien hat hören selbigsmal in der Nacht, das sind die Säu gewesen, die euch die Raubleut totgestochen haben.«

»Bist narrisch, du?« Sie stellte den Zuber hin und stemmte die Fäuste an den Schürzenbund. »Ich weiß nit, was du meinst! Selbigsmal in der Elendsnacht, da bin ich versprungen. Flinker als der Meinig. Das weiß er selber. Und bis der Meinig hinübergekommen ist über den Berg, da bin ich lang schon drüben gewesen im Haller Geläger. Wohl! Und bin vor Angst um den Meinigen schier verstorben. Wohl! Das können hundert bezeugen. Und der Meinig auch.«

Ernst nickte Malimmes. »So ist's! Recht hast du und dein Glück. Von denen, die anders sagen könnten, ist die Hälft schon totgeschlagen. Und mit der anderen Halbscheid dauert's nimmer lang. Mußt nit Angst haben.«

Sie wollte sprechen und brachte kein Wort heraus. Sein seltsamer Ernst machte sie schweigen.

»Ich tu dir Glück wünschen!« Er redete ruhig vor sich hin. »Soll's sein, wie's mag – Mutter ist Mutter – noch allweil mein ich, es ist das Beste. Tu dich freuen, Schwägerin! Mich brauchst nit fürchten. Ein Glück rührt man nit an. Oder man müßt ein Lauskerl sein. Ich geh gleich, weißt! Möcht bloß ein Zeitl bei der Mutter bleiben. Und rasten ein lützel. Nachher reit ich wieder. Ist das letztemal gewesen, daß ich kommen bin. Behüt dich, Schwägerin! Tu mir den Bruder grüßen!« Langsam, in seinem klirrenden Eisen, ging er zu der alten weißhaarigen Frau hinüber, die nicht merkte, daß er kam. Schweigend ließ er sich nieder ins Gras und lehnte den Kopf gegen den Schoß der Mutter.

Immer spielte sie mit den drei Goldpfennigen. Und nun war es wie Schmerz in ihrem Gesicht. Heftig schob sie die verkrümmte Faust gegen den Kopf des Malimmes hin und sagte klagend: »Du tust mich drucken.«

Er nickte. »Gelt, ja?« Und stieß einen Laut vor sich hin wie ein Räuspern. Dann sprang er auf, daß seine Wehrstücke rasselten. Ein tiefer Atemzug. Schweigend streifte er die Hand über den weißen Scheitel der alten Frau. Und rasch sich wendend, ging er auf den Gaul zu, riß den Zügel von der Zaunlatte los und sprang in den Sattel.

Keuchend jagte das Roß gegen die Straße hin.

Malimmes ritt über das Wiesengehänge zu den Schwarzecker Höfen hinauf und gegen den Totenmann. Auf der Schneide des Waldberges hielt er an. Von dieser Höhe hatte er freien Ausblick. Er koppelte den Gaul an eine lange Schnur und ließ ihn grasen. Dann setzte er sich auf die Erde hin, nahm den Kopf zwischen die Fäuste und spähte gegen Berchtesgaden hinaus. In der Sonne des reinen Tages war ein blauer und grüner Traum von Schönheit um ihn her. Aber Malimmes sah nur den kleinen, bunten, wirren Häuserfleck da draußen im Tal.

Ein glühender Abend sank. Den Gaul führend, stieg Malimmes in die Ramsau hinunter. Es wurde finster, bis er das Leuthaus erreichte. Einige Zecher saßen noch beim Kienlicht in den Bretterbuden. Überall hörte man den Schritt von Wachen. Die Zelttücher pluderten im Nachtwind, und schlafende Spießknechte, in ihre Mäntel gewickelt, lagen um die halb erloschenen Feuer her.

Im Garten standen die Pferde der zwölf Harnischer unter Sattel. Malimmes koppelte seinen Gaul an einen Baum, nahm den Mantel und legte sich ins Gras. Er fand keine Ruhe. Wieder und wieder hob er den Kopf und lauschte in die Nacht hinaus. Erst gegen Morgen, als bei spätem Mondlicht die Sterne zu verblassen begannen, zerbrach ihm die Müdigkeit den Willen und drückte ihm einen bleiernen Schlummer auf die Augen.

Im Grau des jungen Tages weckte ihn plötzlich ein wirrer Lärm. Den Hof des Leuthauses füllte ein aufgeregtes Gewühl von Menschen und Pferden, irgendwo kreischte die weibische Stimme des hochwürdigen Herrn Franzikopus, der zu befehlen schien, was niemand befolgte – und aus weiter Ferne dröhnte der dumpfe Donner eines schweren Geschützes.

»Holla! Die Supp ist gar!« Mit diesem Schrei sprang Malimmes zu seinem Gaul hinüber. Ein Ruck an den Gurten, dann saß er im Sattel, mit dem Bidenhänder vor der Brust, in der Hand das blanke Kurzeisen. So jagte er durch den Hof des Leuthauses. Er sah noch, wie Herr Franzikopus sehr aufgeregt mit den Armen winkte. Und einen der zwölf Hämischer, die gerade davontrabten, hörte er auf der Straße schreien: »Höi! Mit uns! Befehl des Hauptmanns: durch das Schwarzenbachtal nach Plaien!«

Malimmes brüllte: »Reitet dem Teufel zu!« Und riß den Gaul herum, gegen die neue Schanze beim Windbach. Er wußte, daß er eine nutzlose Dummheit machte, die ihn Freiheit und Leben kosten konnte. Aber machen mußte er sie, mußte sich wehren gegen einen fallenden Berg, mußte mit dieser sinnlosen Tapferkeit lächerlich werden vor sich selbst.

Auch bei der Windbacher Schanze war Aufruhr und Streit, die Spießknechte des Herzogs wollten nach Plaien abmarschieren, die Söldner des heiligen Zeno wollten es hindern. Malimmes ritt in den Schwärm hinein und schrie: »Das Schanzentor auf! Ich muß nach Kundschaft reiten. Herr Franzikopus hat's geboten. Gotts Teufel, das Tor auf!« Man hob die Sperrbalken, und Malimmes jagte über die freie Straße hinaus. So lange der Wald dauerte, mußte der Gaul rasen, als hätte er Feuer unter dem Schweif. Bei den freien Wiesen der Strub waren die Kräfte des Tieres erschöpft. »In Gottsnamen, so verschnauf! Ist doch eh ein Unsinn!« Bei dieser klugen Einsicht brannten dem Malimmes die Augen vor Sorge. Immer lauschte er und spähte. Nichts war zu hören, nichts zu sehen, was seine Sorge hätte mehren können. Diese kühle Helle kam wie schöner Friede. Nur über den steilen Wiesen droben, wo die Straße zum Hallturm liegen mußte, dampfte ein graues Gewoge. War's Morgennebel? Oder die Staubwolke eines Reitertrupps?

Dem Malimmes kam wohl der weise Gedanke, den Gaul über das Gehänge hinaufzuführen und die nach Plaien laufende Straße zu suchen. Da wäre er seines Lebens sicher gewesen. Das wußte er. Und dennoch begann er wieder den erschöpften Gaul zu treiben und hetzte über die Straße hin, die nach Berchtesgaden und zum Haus des leidenden Amtmanns führte. Er kam an niedergebrannten Höfen vorüber, an einer Staude, bei der zwei übelriechende Schläfer lagen, erschlagene Bauern, von deren Leibern beim Nahen des Reiters ein Krähenschwarm davonflatterte. An solche Bilder war Malimmes gewöhnt. Sie hielten ihn nicht auf. Und er hatte zu denken. Immer mußte er sich fragen, wie die herrische Katzmauserei dieses Morgens zusammenhinge? Und warum er, seit er aus dem Windbacher Wald herausgeritten, das Gebrüll jenes fernen Geschützes nimmer hörte?

Alles meinte er zu verstehen. Dieses ganze Grausen der letzten Tage war nur eine landshutische Fopperei wider den Ingolstädter. Der hat jetzt aufgemuckt, und sein Bundeskamerad, der Salzburger, hat für den heiligen Peter das Eisen aus dem Leder getan. Und der Seipelstorfer und der Grans, die sind beim ersten Gepummer einer Salzburger Hauptbüchse auf die Gaul gesprungen. Und hinter den gescheiten Hauptleuten ist der liebe Bub mit den Seinen schon lang davongejagt, gegen den Hallturm hinaus, dorthin, wo die vorsichtigen Kammerbüchsen geblieben. So war's! Aber es konnte auch anders sein. Und drum wußte Malimmes, daß sein dummes Herz keine Ruhe finden würde, bevor seine Augen nicht das Haus der Frau Marianne gesehen hatten.

Nun plötzlich hörte er beim Rauschen des Baches einen wunderlichen Lärm. Wie ein wildes Gelächter von tausend Menschen war's. Und das mußte irgendwo da droben gewesen sein, beim Stift da droben. Und war schon wieder erloschen. Oder war es nur untergegangen im Hall der Glocken, die zu läuten begannen? Etwas Hastiges war in diesem Geläut. Es klang nicht so, wie Glocken klingen, die zum Frieden läuten.

Malimmes hetzte den keuchenden Gaul. Jetzt kam die Wende der Straße. Und im gleichen Augenblick – von der anderen Seite her, auf dem Karrenweg, den Herr Konrad Otmar Scherchofer bei der Heimkehr von der Salzburger Provinzialsynode vorsichtig gewählt hatte – erschien in Wirrenden Trab ein großer Reitertrupp: Gadnische Hofleute mit vielen Harnischern in den Salzburger Farben. Hinter der Vorhut ritt Herr Peter Pienzenauer, schwer gepanzert, zwischen dem Salzburger Stadthauptmann Hochenecher und einem schlanken Ritter in flämischer Rüstung, mit zwei Fasanenflügeln auf dem schimmernden Helm.

Die Vorhut stutzte, als sie den Malimmes gewahrte, der sich im Sattel vorbeugte. Er peitschte das röchelnde Tier hinauf über die steigende Straße, die neben der Mauer des Hirschgrabens zum Marktplatz von Berchtesgaden führte.

Mit Geschrei und Gerassel, unter dem klingenden Geläut der Glocken, jagten gleich an die Zwanzig hinter ihm her.

Gebückt, mit hauenden Sporen, das Eisen zum Schlag bereit, sah Malimmes über die Schulter. »Höia! Jetzt wird die Supp gefressen! Ich Rindvieh!« Doch sein erschöpfter Gaul war unter dem Schmerz der Sporen noch schneller als die Gäule der Reiter, die hinter dem Fliehenden herjagten.

Beim schönen Klang der Glocken ein kreischender Lärm. Der ganze Marktplatz war angefüllt mit Salzburgischen Spießknechten. In diesen Häuf von Fleisch und Eisen prellte der gehetzte Gaul des Malimmes hinein. Schon wollte sich unter dem Geschrei der Zurückweichenden eine Gasse öffnen. Da klangen die Stimmen der nachhetzenden Reiter: »Nieder den Lump! Nieder! Nieder!« Ein wirres Gemenge, ein Hauen und Stechen. Einer stieß dem taumelnden Gaul den Langspieß in die Brust. Im Stürzen riß Malimmes den Bidenhänder vom Küraß weg. Er stand. Ein Blitz in der Sonne. Die mächtige Klinge warf einen Spießknecht über den Hals des Gaules hin, warf einen anderen zurück in den kreischenden Häuf – ein Gewühl von Rossen – eine Klinge funkelte über einem schimmernden Helm mit zwei Fasanenflügeln – und plötzlich sah Malimmes unter der Nasenstange dieses Helmes ein Gesicht, das er kannte – das er gesehen hatte, als der bucklige Tod vom Hängmoos zum Ramsauer Leuthaus geritten kam. Und da wurden dem Malimmes die Arme schwach. Er konnte nicht schlagen, parierte nur den Hieb, der auf ihn niedersauste, ließ den Bidenhänder fallen, hob die entwaffneten Arme und keuchte: »Herr Someiner! Euch geb ich mich auf Gnad!« Von der Seite und vom Rücken droschen noch ein paar Hiebe auf den Panzer des Wehrlosen her, sein Eisenhut klapperte davon, ein Büschel Haare flog ihm vor den Augen vorbei – und dann war ein geschienter Arm über ihm und eine heisere Jünglingsstimme schrie: »Der Mann ist mein!«

Grobe Fäuste faßten den Gefangenen und zerrten ihn unter Geschrei und Flüchen gegen das Tor des Stiftes. Im Taumel der Erschöpfung hörte Malimmes die kriegerischen Reden nicht. Er spürte kaum, daß man ihm die Waffenstücke und das Wams vom Leibe riß – spürte nur etwas Warmes und Nasses in seinem Haar, und eine rote Traufe ging ihm über die Augen herunter. Das hinderte ihn ein bißchen in der Betrachtung der Dinge. So viel aber sah er immer noch, daß am Haus des kranken Amtmanns eine weiße Frauenhaube sich aus dem Erker herausstreckte und daß jener schimmernde Helm mit den zwei Fasanenflügeln im Tor verschwand. Dieser Anblick hätte die törichte Sorge des Malimmes beruhigen können. Trotzdem geriet er in eine sehr verdrießliche Stimmung; denn ehe die schreienden Kriegsknechte den Gefangenen, der nur noch das Hemd und die Reithosen hatte, in das Stiftstor hineinstießen, gewahrte er den hohen Galgen, den Herr Seipelstorfer neben dem Marktbrunnen hatte errichten lassen. Der Querbalken hatte schwer zu tragen. Die drei Berchtesgadnischen Faustschützen von jenem schönen Abend hatten an diesem klaren Morgen bereits erkleckliche Gesellschaft bekommen. Der Sergeant von Plaien war dabei. Wie im Krankenflur des Stiftes, so hielten Freund und Feind auch hier in friedlicher Eintracht zusammen. Malimmes zählte vierundzwanzig schwebende Beine. Obwohl er erleichtert aufatmete; weil ihm der Plaien'sche Sergeant unter diesen erhöhten Schläfern der einzige Bekannte war, murrte er doch sehr nachdenklich vor sich hin: »Guck! Da komm ich als Dreizehnter!«

Nun stand er, während die Glocken noch immer läuteten, in dem von buntem Gewühl erfüllten Stiftshofe vor dem Salzburgischen Profoßen. Das war ein schweres, dickes Mannsbild mit etwas Asthma, aber mit wohlwollenden Augen. Man rühmte es ihm als besondere Milde nach, daß er keinen hängen ließ, ohne ihm zuvor den letzten christlichen Trost zu vergönnen. Dadurch unterschied sich seine Salzburgische Methode von der Landshutischen. Als er das Verhör begann, ritt Herr Peter Pienzenauer mit seinem Gefolge vorbei und lenkte das Pferd hinüber zum Münstertor, um bekümmerten Herzens die Verwüstung zu beschauen, die der Feind im geweihten Gotteshause zurückgelassen hatte.

»Du?« fragte der Profoß den Gefangenen, dem man die Hände hinter dem Rücken gefesselt hatte. »Wer bist du?«

»Ein Esel bin ich.«

»Das ist kein Verdienst. Solche Würde teilen sehr viele mit dir.«

»Da müßt Ihr Euch ausnehmen, Herr! Sonst kommt Ihr in einen falschen Verdacht.«

»Dem ist leicht widersprochen. Ich laß dich hängen. Da wirst du merken, wie gescheit ich bin.«

Der Kreis der Neugierigen, die sich um die beiden herdrängten, begann sich zu erheitern. Malimmes aber sagte ernst: »Ob ich hängen soll, das hängt nicht von Eurer Weisheit ab. Ich hab mich dem Jungherrn Someiner auf Gnad ergeben. Der tut den Spruch über mich. So ist's Kriegsbrauch in aller Welt. Ich begehr mein Recht.« Er drehte den Hals. »Und wenn grad einer von euch lieben Knospen die Hand frei hat, so kann er mir das Blut von den Augen wischen. Soll ich schon über die anderen Leut um eine Mannslänge hinauswachsen, so tät ich nit ungern sehen, auf wieviel Gerechte die Sonn noch scheint.« Ein Mitleidiger tauchte seinen Mantelzipf in den unter den Lauben des Stiftshofes plätschernden Brunnen. Als Malimmes, der mit geschlossenen Augen stand, auf seinem Gesicht die Nässe fühlte, begann er das tropfende Wasser zu schlürfen. Und schlürfte mit dem Wasser auch sein Blut. Er lächelte müd. »Guck nur, ich hätt mir nie denken mögen, daß mein Lebensbrünndl so süß ist.«

Die Berufung des Gefangenen auf den Jungherrn Someiner gefiel den Neugierigen nicht. Sie wollten ein anziehendes Schauspiel bekommen und begannen den Profoßen ungeduldig zu hetzen. Der bewahrte seine wohlwollende Ruhe und erklärte nach Kriegsrecht: »Der Jungherr Someiner muß gehört werden.« Er schickte einen seiner Gehilfen zum Haus des Amtmanns: »Sag dem Jungherrn, die Sach hätt Eil!« Und den Umstehenden befahl er: »Jetzt lasset den Mann in Fried, bis sein Spruch getan ist!« Nach diesem Beweis seiner Milde wollte er davongehen.

Da drängte sich ein langer Gadnischer Hofmann mit dunkelbärtigem Narbengesicht und verbundenem Haardach in den Kreis der Spießknechte. Er duftete nach Essig und hatte auch sonst noch einen kräftigen Spittelgeruch. Und nach seinem trunkenen Lachen zu schließen, schien er die Befreiung seiner Heimat schon mächtig begossen zu haben. »Ei, so guck doch, haben sie dich erwuschen?« brüllte er in seinem Dusel. »Jetzt gib acht, du Strickfester! Ob der Hänfene wieder reißt!«

Malimmes öffnete die Augen nicht, obwohl er den Marimpfel an der Stimme erkannte. Er atmete tief und sagte: »Alles kommt, wie's muß. Bloß ein Bruder kommt anders.«

Das verstand Marimpfel nicht völlig. Aber die Ruhe dieses Wortes schien sein feuchtes Gemüt zu reizen. Und während die feine Morgensonne über die Dächer herunterglänzte auf dieses bunte Gedränge, schrie der Hofmann im Zorn seines Rausches: »So? Tätst dich noch aufspielen als großen Hansen? Du Lumpenkerl! Spion, du! Landesverräter! Ruck den Grind weg, oder es trifft dich!« Er spie dem Malimmes ins Gesicht.

Der Beschimpfte öffnete die von Blut umronnenen Augen. »Herzbruder! Wenn ich jetzt sagen möcht: So was tut man nit? Was tät's dir helfen? Schenk einer Sau des Königs goldenen Kittel! Sie legt sich halt doch in den Dreck damit.«

Wütend wollte Marimpfel auf den Gefesselten losschlagen. Die anderen Spießknechte hielten ihn zurück. Und verständig mahnte der Profoß: »Seid gescheit, ihr Brüder, und verschiebt eure Hausfehden auf des Herrgotts Urtl im Jenseits!« Das Gedräng der Kriegsknechte spaltete sich in zwei Parteien. Für einige unter diesen Söhnen des blutigen Handwerkes hatten die zwei Silben ›Bruder‹ noch immer ein menschliches Gewicht, und sie gaben dem Marimpfel unrecht. Die andere Partei, bei der die Gadnischen Hofleute waren, stach die Worte ›Spion‹ und ›Landesverräter‹ auf und wurde wißbegierig.

Marimpfel salvierte seine Bruderseele durch die kraftvolle Beteuerung: »Fürstentreu geht über alles! Da gibt's keinen Ausweg nimmer. Ich tu's nit gern – aber jetzt muß ich reden!« Und nun rechnete er dem Malimmes ein langes Register schwerer Landesverbrechen ins Gesicht: »Hat Sold genommen von einem hörigen Bauren und hat ihm gedient wider seinen Fürsten; hat mitgeholfen, daß ein Treubrüchiger das Feuer hat werfen können auf ein Lehensdach des Gadnischen Hofes; hat den Vogt in den Bach geschmissen und einem flüchtigen Verräter beigestanden; hat sich mit den Bayrischen verbündet wider das eigene Land; hat auf dem Untersberg die Mauer überstiegen und ist den Unsrigen in den Rucken gefallen.« Das übelste von den Verbrechen des Malimmes – seine Hallturmer Tücke gegen den eigenen Bruder – konnte Marimpfel gar nicht mehr aufzählen. Denn die Gadnischen Hofleute und die Salzburger Spießknechte begannen wie im Takt eines Rundgesanges zu brüllen: »Rappenholz! Rappenholz! Rappenholz! Rappenholz!«

Aus Erfahrung wußte der Profoß, daß gegen solche Volksstimme schwer aufzukommen war. Er bezwang sein Wohlwollen und wurde streng. »Mensch! Was sagst du dazu?«

Malimmes hatte munter dem tröpfelnden Blut die Augen wieder geschlossen, hob die Achseln ein bißchen und lachte. »Ein Bruder wird doch nit lügen! Das alles ist wahr. Da beißt die Maus kein Bröselein Speck nimmer weg davon.«

Ein Zorngeschrei in der Runde. Und der Profoß entschied: »So bist du als Landesverräter dem Gutwillen des Herren Someiner entzogen. Ich muß dich zum Galgen sprechen.« Hundert jubelnde Stimmen. »Einen Pfaffen will ich dir holen lassen. Tu Reu und Leid machen als guter Christ!«

»Reuen tut mich nichts, als daß ich Rindvieh heut am Morgen nit nach Plaien geritten bin. Und was ich beichten müßt, weiß ich nit. Außer, daß ich ein gutes Mädel zur Mutter gemacht hab. Das wird mir der Herrgott verzeihen. Wo so viel Leut auf der Welt erschlagen werden, muß er doch wünschen, daß wieder Kinder wachsen. Nit?«

Der Zorn der Umstehenden verwandelte sich in Heiterkeit. Marimpfel war jetzt der einzig Wehmütige. »Ich geh, ich kann's nit mitanschauen, mein Bruder ist er halt doch!« Und während dieser Trauernde davontorkelte, wurde der Salzburgische Feldpater in den Kreis geschoben.

»Hochwürdiger Herr«, sagte Malimmes freundlich, »beichten brauch ich nit. An einen gütigen Herrgott glaub ich. Und hoff, daß ich zu ihm komm. Ein andermal.« Er lächelte. »Aber für alle Fäll, in Gottesnamen, gebt mir Euren heiligen Segen!« Als der Pater seine Hände erhob, beugte Malimmes fromm den roten Kopf. Dann sagte er: »Also! Fürwärts! Wie schneller, um so lieber ist mir's.«

Ein wirres Geschrei der vielen Menschen. Und der ganze Schwarm, mit dem Gefesselten in der Mitte, schob sich gegen den Marktplatz hin. Die zwei Gehilfen des Profosen, die man ›Löwen‹ nannte, gingen neben dem Delinquenten her. Und einer von den beiden knüpfte kunstgemäß die hänfene Schlinge. Malimmes sah sehr aufmerksam bei dieser Hantierung zu: »Brav, Mensch!« sagte er rauh. »Du verstehst dein Sach! Besser als wie der Ulmer, dem ich's erst zeigen hab müssen. Aber schad um den guten Strick! Tät so viel Lumpen geben, die ihn verdienen.«

»Kerl!« Der wohlwollende Profos geriet in einiges Staunen. »Einer, der gleich vor dem ewigen Richter steht, sollt keine fürwitzigen Reden nimmer machen.«

»So?« Die Zähne des Malimmes knirschten, während er flink an der Schulter eines Löwen das Blut von den Augen wischte. »Da denk ich anders, Herr! Tät sich's weisen, daß ich dran glauben muß, so ist's allweil besser, ich geh lustig hinüber als traurig. Nit?«

Unleugbar: Das letzte Stündlein des Malimmes, das da kommen sollte, hatte einen Zug von Frohsinn. Die Spießknechte, die mit dem Gefesselten aus dem Stiftshof kamen oder schon auf dem Marktplatz standen, waren in guter Laune; es wurde doch da die Welt wieder ärmer um einen, der ihnen mit dem Bidenhänder das Haardach in unliebsamer Weise hätte belästigen können. Und die gereizten Bauern und Bürgersleute, die den Brunnen und das überfüllte Rappenholz umdrängten, betrachteten die Lebensbuße dieses einen als ein beruhigendes Pflaster für die mannigfachen Leiden, die ihnen der Schwärm der feindlichen Sackmacher bereitet hatte. So verwandelte sich der halsnotpeinliche Vorgang, der doch auch mit einem Ellenbogen an das dunkelste Grauen streifte, zu einer befriedigenden Kriegskomödie. Dazu glänzte die strahlende Morgensonne aus dem reinen Blau so wundersam auf das kreischende Menschengewühl herunter, daß dieser bunte Ausschnitt des irdischen Lebens einen Schimmer von froher Schönheit gewann.

Aber Malimmes wurde, je näher er dem Brunnen kam, mit jedem Schritte ernster. Er konnte wieder sehen – das Blut in seinem Haar begann zu stocken und träufelte ihm nimmer in die Augen – doch der dürstende Blick, den er mit gestrecktem Halse hinüberwarf zum Hause des Amtmanns, zeigte ihm nichts Hilfreiches. Und da begann er den Brunnen und das reichbesetzte Rappenholz zu mustern. Seine Augen wurden wie die Augen eines gehetzten Wildes, das bei der Flucht zwischen Leben und Tod mit jagendem Blick jede Möglichkeit der Rettung und jedes mörderische Hindernis erspäht. Vom wühlenden Denken reihten sich auf seiner roten Stirne dicke Runzeln übereinander, und die große Narbe, soweit sie nicht von Blut überträufelt war, wurde weiß wie Kalk.

Er stand schon auf dem Brunnen, hatte schon die hänfene Schlinge um den Hals. Die zwei Gehilfen des Profosen warfen den Strick über das üble Holz und banden den Knoten. Da gewahrte Malimmes etwas. Spürend hing sein Blick an dem überlasteten Querbalken des Galgens. Ein heißes Funkeln erwachte, in seinen Augen. Und gleich wieder ein Ausdruck wie von tiefern Schreck. In dem kreischenden Lärm, der den Marktplatz füllte, vernahm sein scharfes Ohr das dumpfe Gerüttel der schweren Geschütze, die auf der Salzburger Straße gefahren kamen. Und da wußte er: Der Salzburgische Hauptmann und Herr Pienzenauer haben die Verfolgung der Bayerischen nur eingestellt, um die Ankunft der Kammerbüchsen abzuwarten; jetzt kommen die Büchsen, die Pulverwagen und der Troß; da wird's Alarm und flinken Aufbruch geben. »Teufel, jetzt hat's, aber Eil!« Wenn die Alarmtrompeten bliesen, machte man nimmer viel Umstände mit einem, der den Hänfenen schon um das kitzliche Zäpfl hatte.

Malimmes streckte sich und sah den Profosen an: »Herr! Ich hab doch schon die ewige Seligkeit um den Hals herum. Jetzt seid barmherzig und lasset mir die Hand lösen, daß ich als andächtiger Christ noch ein Kreuz machen kann.«

Rings um den Brunnen herum ein wirres Geschrei, in dem sich grausamer Widerspruch mit christlichem Erbarmen mischte. Das letztere schien auch in der Seele des Profosen zu erwachen. Er besann sich sei nes Wohlwollens und zog den Dolch, um die Stricke entzweizuschneiden, mit denen die Hände des Gefangenen gefesselt waren.

Daß sich vom Haus des Amtmanns ein Reiter in flämischer Rüstung unter heiser schrillenden Worten einen Weg durch das Gewühl der Menschen zu bahnen suchte – das konnte Malimmes nicht mehr sehen. Er sah nur immer den schwer belasteten Querbalken des Galgens an. Und die Aufregung verzerrte sein Gesicht, während er die Fäuste in den Gelenken drehte und noch einen heiteren Ton in seine hastigen Worte zwang: »Herr, meiner Seel, da hängen aber schon viel, da ist ja für mich kein Platz nimmer!«

Der Profos lachte: »Müßt ihr halt ein lützel zusammenrücken!«

»Also! Gut! Wenn's der Balken nur leisten kann!« Ein fliegender Blick um den Brunnen herum, ein kurzes, angestrengtes Lauschen gegen die Salzburger Straße hinaus – und in etwas unchristlicher Flinkheit bekreuzigte Malimmes das rotgesprenkelte Gesicht. »Höia!« schrie er mit gellendem Laut. Er stieß die Fäuste nach links und rechts – die beiden Löwen des Profosen purzelten in den Brunnentrog – Malimmes plusterte den Hals, und während er über dem Kopf mit beiden Fäusten den Hänfenen packte, machte er einen rasenden Sprung in die Luft hinaus. Ein hundertstimmiger Schrei. Erschrocken wichen die Nahstehenden zurück, die stillen Kameraden am üblen Holze pendelten wirr durcheinander, das Querholz des Galgens krachte, knickte in seinem Falz entzwei – und plötzlich plumpsten die zwölf Entseelten als ein schwerer Knäuel mit diesem Lebendigen herunter auf das grobe Pflaster. Um den kollernden Gliederhaufen entstand ein leerer Kreis. Und während die zwei von Wasser triefenden Löwen des Profosen fluchend aus dem Trog des Brunnens kletterten, und während Aberglaube, Schreck und Heiterkeit auf dem Marktplatz durcheinandertobten, hatte Malimmes schon den Hänfenen von seinem Hals gerissen, stand zwischen den Toten auf den Füßen und schrie mit halb erwürgtem Atem: »Ich sag's ja. Übermaß ist nie von Nutzen. Hättet ihr mich als zwölften gehenkt, so wär' ich hängen geblieben. Aber so – ein dreizehnter ist allweil überzählig!«

Unter dem Geschrei, das sich erhob, sprang einer in flämischer Rüstung von seinem Ingolstädter Gaul, dicht vor dem kahlgewordenen Galgenbaum. Er faßte den Malimmes an der Schulter und riß ihn zu sich heran. Die heisere Stimme schrillte: »Der Mann ist mein! Wer ihn anrührt, den schlag ich nieder.« Dennoch wollte ein dicker Schwarm von kreischenden Spießknechten gegen den aus dem Hanfsamen Erlösten andrängen. Lampert Someiner machte in Zorn das Eisen blank. Da hörte man vom Stiftshof dumpfes Gepolter und schweres Rädergerassel. Alarmtrompeten fingen zu blasen an. Ein Stutzen und Schauen der Kriegsleute, eine lärmende Verwirrung, ein Drängen und Auseinanderlaufen. »Schnell, du!« keuchte Lampert. »Spring auf meinen Gaul!«

»Vergelt's Gott, Herr!« Das war ein heißer, fröhlicher Schrei. Und Malimmes saß im Sattel. Und beugte sich nieder: »Die Jula hat Euch lieb! Wahr ist's, Herr! Die Jula –«

Das steigende Roß drehte sich wie ein Kreisel. Und als es den ersten Sprung tat, riß Malimmes einem Doppelsöldner den Bidenhänder von der Brust. »Wie, du! Gib her! Ich brauch ein Eisen!« Und durch das Gewühl der schreienden Menschen, die vor dem kreisenden Stahl und vor den schlagenden Hufen des Pferdes erschrocken zurückwichen, jagte Malimmes die Marktgasse hinaus, der Hallturmer Straße zu. Und war verschwunden.

Lampert Someiner stand wie ein Träumender inmitten des Aufruhrs, der ihn umbrüllte. Und so stand er noch immer, als Fürst Pienzenauer und Hauptmann Hochenecher aus dem Stiftshof herausgeritten kamen. Zwischen den beiden Herren täppelte asthmatisch der Profos, der in Aufregung etwas erzählte. Und als der Fürstpropst neben dem Marktbrunnen den wirren Knäuel der stillen Schläfer und die leere Strickschlinge sah, fing er herzlich zu lachen an. Noch immer lachend, ritt er auf den Jungherrn Someiner zu und fragte: »Lampert? Hörst du nicht, daß Alarm geblasen wird?«

Lampert erwachte aus dem lähmenden Bann, hörte vom Erker seines Hauses die Stimme der Mutter, sah, daß Frau Marianne sich mit winkenden Armen fast aus dem Fenster stürzte – sah wieder seinen lachenden Fürsten an, stammelte ein paar klanglose Worte und begann zu laufen.

Einer in schwerem Panzer, wenn ihm der tragende Sattel fehlte, war immer anzusehen wie ein plumptaumelnder Käfer, dem man die Flügel ausgerissen. Die Spießknechte kuderten, als sie den ritterlichen Jungherrn so mühsame Sprünge machen sahen.

Lampert verschwand im Flur des väterlichen Hauses. Er schrie den Namen des Knechtes. Und schrie: »Den Moorle! Tu einen Sattel auf den Moorle –« Ein Hustenreiz erwürgte ihm die Stimme.

Im Gerassel seines Panzers tappte er über die Treppe hinauf. Unter der Stubentüre kam ihm die Mutter wie eine Verzweifelte entgegen: »Allgütiger Heiland! Was ist denn schon wieder?«

»Alarm! Leb wohl, Mutter! Laß mich! Jetzt muß ich fort.«

»Jesus, Jesus!« Frau Marianne umklammerte den Sohn. »Ist denn der Krieg nicht aus?«

»Mutter, ich sorg, er will erst anheben.« Lampert befreite sich und fragte in seltsamer Verstörtheit: »Der Söldner, Mutter? Von dem du gesagt hast, er hätt mit dem jungen Buben und dem Runotter unser Haus gehütet? Hat er über's Gesicht herunter einen schweren Hieb gehabt?«

»Ach geh, was geht denn uns –«

Er drängte: »Sag mir's, Mutter!«

»In Gottsnamen, ja, ist eine schieche Narb gewesen, ist von der Brau übers Aug gegangen bis zum Hals herunter.«

»Der ist's!«

Frau Marianne begriff diesen Schrei nicht, in dem es wie Jubel war. Und als sie den Glanz in Lamperts Augen gewahrte, sagte sie in neuem Schreck: »Ach Jesus, ich versteh ja nimmer –«

Lampert streckte sich unter frohem Lachen. »Mutter! Jetzt weiß ich –« Seine Stimme erlosch, er mußte husten, mußte tief Atem schöpfen.

Die Amtmännin, als sie diesen bösen Husten hörte, fing in ihrer verstörten Muttersorge zu jammern an: »Das geht nicht! Wie kann denn einer ausrucken, der krank ist bis auf den Tod? Das dürfen die unsinnigen Herren nicht verlangen! Ich leid's nicht! Ich lauf zum Fürsten. Und einen heißen Wein mußt du haben, und Umschläg muß ich dir machen –« Während Frau Marianne so klagte, hörte man Trommeln und Pfeifen, hörte den Taktschritt vieler Spießknechte, ein wirres Hufgetrappel und dumpfes Rädergeknatter.

»Laß mich, Mutter! Mir ist schon lang nimmer so wohl gewesen wie heut! So laß doch, Mutter! Ich muß ins Feld! Und will dem Vater noch einen Gruß –« Die Hände befreiend, sprang Lampert in die Wohnstube.

Frau Marianne hinter ihm her. Immer jammernd, immer in Zorn auf die verbrecherischen Fürsten und auf den Wahnsinn der ganzen Menschheit scheltend. Auch in der Krankenstube ihres armen Ruppert hielt sie mit dieser Klage nicht inne, während Lampert stumm vor dem Vater stand, der zwischen aufgeschichteten Kissen schwach und hinfällig im Bette saß. Der Amtmann sah zum Erbarmen aus. Und während draußen auf dem Marktplatz der dumpfe Kriegslärm rottelte, zog der kranke Mann mit dürrgewordenen Händen die geblümte Decke gegen die Brust hinauf. Auch schien das schwere Leiden sein Erinnerungsvermögen in sonderbare Verwirrung gebracht zu haben. Denn er stöhnte vorwurfsvoll: »Wegen siebzehn Ochsen! Wegen siebzehn Ochsen! Und weil mich die Herren nicht halben tun lassen, wie ich mögen hätt. Da wär alles in Ruh gegangen. Aber nein! So sind die Fürsten! Erst schlagen und nachher denken, wenn –« Er mußte, von einem grimmen Schmerz gepeinigt, ein Weilchen schweigen. Dann seufzte er müde: »Wenn's zu spät ist.«

In wortlosem Erbarmen betrachtete Lampert den Vater und nahm seine zitternde, von kaltem Schweiß bedeckte Hand. Und sagte rasch: »Jetzt muß ich fort! Leb wohl, Vater! Tu bald gesunden! Und tu dir ein lützel Ruh vergönnen! Klagen hat keinen Sinn.«

Frau Marianne fügte schluchzend bei: »Gott wird schon alles wieder recht machen. Da glaub ich dran.«

Dieser fromme Trost verursachte in der verstörten Christenseele des Herrn Someiner eine schreckhafte Wirkung. In seinem entstellten Gesicht erweiterten sich die angstvollen Augen. Die Hand des Sohnes umklammernd, lispelte er scheu: »Gott – Gott? Ach, Bub, wie hart ist das!«

»Was, Vater?«

»Derzeit ich den Undank der Fürsten kenn – derzeit ich spüren muß an mir selber, wie im Leben die Redlichen gemartert werden –« Herr Someiner verstummte, und sein hilfloser Blick starrte ins Leere.

»Sag's, Vater!«

»Ich – ich kann –« Der Amtmann ließ das gelbe, magere Gesicht gegen die wollene Decke sinken. »An Gott kann ich nimmer glauben!«

Im ersten, sprachlosen Schreck bekreuzte sich Frau Marianne. Und Lampert, von einer tiefen Erschütterung befallen, sagte ernst: »Vater? Weißt du, was Gott ist?« Der Amtmann hob die verstörten Augen. Und Lamperts rauhe Stimme wurde leis. »Gott ist der Glaube an uns selbst. Wenn wir Freude, Wert und Kraft in unserem Leben spüren, glauben wir auch an den Schöpfer, der uns Wert und frohe Kräfte geschenkt hat. Ich glaube.« Er beugte seine Wange auf die feuchte Stirn des Vaters, streichelte ihm das dünne Haar, wandte sich wortlos ab und ging mit klingendem Eisenschritt durch die Stube hinaus. Frau Marianne lief ihrem Buben nach und hängte sich schluchzend an seinen Hals.

Drunten auf der Straße fuhren die gewaltigen Hauptbüchsen der Salzburger und die mit vielen, zentnerschweren Steinkugeln belasteten Wagen vorüber. Das erschütterte den Grund so heftig, daß es wie ein Erdbeben war. Die Mauern des Someinerschen Hauses zitterten, die Deckenbalken der Wohnstube ächzten, Mörtel bröselte von den Wänden herunter, und im Kasten der alten Standuhr wurde das lange Pendel in seinem ruhigen Schwung gestört. Es klapperte gegen die Holzverschalung und sagte noch ein letztesmal mit seufzender Stimme: »Bau!« Dann schwieg es.

Drunten im Hause polterten die Hufe des Moorle über die Holzdielen des Flurs. In der Wohnstube blieb eine bange Stille. Auch auf dem Marktplatz war es schon wieder ruhig geworden, als Frau Marianne endlich heraufkam. Sie wollte sich auf einen Sessel setzen, weil ihr die Knie zitterten. Aber sie tat es nicht. Denn die ungewohnte Stubenstille fiel ihr auf. Und da entdeckte sie: Die Kastenuhr war stehengeblieben, knapp vor der siebenten Morgenstunde.

Zum erstenmal in ihrem Leben wurde diese helle Frau von dunklen Ahnungen befallen. So sehr hatten die Schrecken des Krieges ihren gesunden Verstand umwirbelt.

Während sie den armen Ruppert pflegte, die versteckten Kostbarkeiten aus den Mauerlöchern herausholte und die gründliche Scheuerung des Hauses überwachte, ging ihr diese ziellose Sorge nimmer aus dem Sinn: »Welches Unheil wird geschehen zu einer siebenten Morgenstund?« Dabei ertappte sie sich auf einem wahrhaft vaterlandsfeindlichen Gedanken. Das fremde Kriegsvolk in Berchtesgaden und ihr Sohn in sicherer Ferne – dieser vergangene Zustand war ihr lieber gewesen als der jetzige, bei dem der heilige Peter mit den Salzburger Hauptbüchsen einem wahrscheinlichen Sieg entgegenrasselte.

Solch einer unheldenhaften Erkenntnis schämte sich Frau Marianne nicht im geringsten. Das wertvollste Lebensgut dieser natürlich gearteten Mutterseele war das Glück und die Sicherheit des Sohnes, den sie geboren hatte. Auch zweifelte sie nicht an Gott wie der geplagte Ruppert. Sie war im Gegenteil der festen Überzeugung, daß der Ewige und Allweise über diese Dinge nicht um ein Härchen anders dachte als die Amtmännin Someiner.

2

Von Staub umwirbelt, mit pludernden Hemdärmeln, die rot gesprenkelt waren, hetzte Malimmes auf dem Ingolstädter Gaul dem zerstörten Hallturm entgegen. Dem Erschöpften drohten die Kräfte zu erlöschen. Manchmal verzog er das Gesicht, weil ihm das verkrustete Blut die Haut spannte. Und manchmal lachte er wie ein Berauschter vor sich hin. Den fremden Bidenhänder hatte er quer vor dem Sattel liegen. Die mächtige Klinge war ein bißchen rot geworden. Bei den letzten Häusern von Berchtesgaden hatte dem Malimmes eine Wache mit vier Spießen den Weg versperren wollen. Dann hatte ihm kein Hindernis mehr den jagenden Ritt gestört. Über die Stillen, die auf der Straße lagen, sauste der Gaul ohne Zuck hinüber. Er scheute auch nicht vor den Brandruinen, nicht vor den Leuten, die bei den qualmenden Haustrümmern stumpf und ruhig auf der Erde saßen.

Von Rauch umkräuselt, von aufgeregten Dohlen und Tauben umflattert, tauchten die Reste des Hallturmes über die Wiesen herauf. In der Torhalle war's öd und still. Alles Leben fehlte. Und die Toten hatte man, um Platz für den Rückzug der Bayrischen zu schaffen, aus dem Torweg herausgezerrt in den Burghof. Hier und entlang der Mauer, lagen sie in der bratenden. Sonne und mahnten schon fürchterlich an die Düfte des Vergänglichen. Sie waren wie friedsame Schläfer nur mit dem Hemd bekleidet; was sie sonst am Leibe getragen hatten – Kleider, Wehr und Waffen –, alles war verschwunden.

Dem Malimmes, der an den Graus der Schlachtfelder gewöhnt war, rann beim Anblick dieses vom Tode besetzten Burghofes kein Schleier des Grauens über die Augen. Als Kriegsmann erriet er, daß diese Schläfer auf ihre Gräber warten mußten, um den heiligen Peter und seinen Freund Salzburg durch die Pflichten der Pietät einen Tag lang vom Sturm auf den Fuchsenstein und die Feste Plaien abzuhalten. Herr Seipelstorfer, der den Nachmarsch des Feindes durch jeden Behelf verzögern wollte, hatte auch die Zugbrücke zerstören lassen. Der tiefe Wassergraben sperrte den Weg des Malimmes. Ein Faustschlag: »Spring, Rössel!« Und der Ingolstädter, der von Herzog Ludwigs Falkenjagden an kalte Bäder gewöhnt war, klatschte mit mächtigem Satz in das grüne Wasser hinunter. Als das weiße Geschäum zerfloß, war unter dem Wasserspiegel ein wunderlich geformter, heftig arbeitender Riesenfrosch zu sehen. Jetzt tauchte ein triefender Menschenkopf, ein triefendes Tierhaupt, an die Luft, Malimmes schleuderte den Bidenhänder ans Ufer, stieg mit den Füßen auf den Sattel des schwimmenden Gaules, sprang an das Land und half dem schlagenden Pferd aus dem Wasser heraus. Ein Griff nach dem Bidenhänder. Und wieder hinauf und davon durch das weißgraue Aschenfeld des niedergebrannten Waldverhaues.

Das kalte Wasser hatte dem Malimmes die müden Kräfte ein erfrischt und säuberlich alle Blutflecken vom Hemde, vom Gesicht und aus den Haaren fortgewaschen. »Gott sei Lob und Dank! Jetzt wird der Bub nicht erschrecken vor mir.« Er schüttelte sich in der Sonne.

Hinter dem Aschenfeld arbeiteten Kriegsknechte und Schanzbauern an einem neuen Sperrwall, der schon übermannshoch gewachsen war. Und auf dem Fuchsenstein gewahrte Malimmes ein Geblitz von Waffen und die Verschanzungen der drei Geschütze. In seiner Freude hob er den Bidenhänder und tat einen gellenden Schrei. Waren die Kammerbüchsen noch da, so waren auch Jul und Runotter nicht weit.

Viele Stimmen kreischten auf dem Wall. Faustbüchsen und Armbrusten richteten sich gegen den Reiter. Malimmes schrie die Losung von Plaien und schimpfte: »Hammelsköpf! Man schießt doch nit auf die eigenen Leut!«

Der Wall hatte kein Tor und war so steil, daß man den Söldner und seinen Gaul an Seilen hinauflotsen mußte. Und da war auch Herr Martin Grans schon auf dem Wall und brüllte: »Du Schaf, du gottverlorenes!«

»Herr Hauptmann, Ihr seid ein Menschenkenner!«

»Hast du denn meinen Botschaftsweg in die Ramsau nicht verstanden?«

»Wohl, Herr! Aber weil ich ein Schaf bin, hab ich halt auch was Schafmäßiges tun müssen. Sind meine Leut in Sicherheit?«

»Freilich!« Herr Grans wurde heiter. »Dein Herr und sein Vetter sind grad so dumm wie du! Die wären um deinetwegen ins Feuer gesprungen. Denen hab ich Fuß machen müssen.«

Malimmes tat einen tiefen Atemzug.

»Aber du, Mensch? Wo kommst denn du jetzt her? Und so?«

Der Söldner guckte an sich hinunter. »Ich bin gewesen, wo man die Gäns rupft. Und hab gemeint, daß Ihr Kundschaft braucht. Die hab ich geholt. In dritthalb Stunden sind die Salzburger beim Hallturm. Ich schätz dreihundert Roß und fünfhundert Spieß, dazu vier Hauptbüchsen, die einen Zentner schießen. Hauptmann ist der Hochenecher. Den kenn ich vom ungrischen Handel her. Ist ein Scharfer! Aber sein Profos ist ein Schöps. Bei den Salzburgern sind die Gadnischen, die sich gesammelt haben. Und Ingolstädtische müssen dabeisein. Ich hab Gäul gesehen, die den ›Loys‹ mit der Herzogskron als Brand auf dem Hintern haben.«

Herr Grans war ernst geworden. »Teufel! Das ist mehr, als der Seipelstorfer weiß.« Er wollte davongehen, sah den Malimmes an, trat auf ihn zu und rührte mit dem Finger an den bläulichen Strich, den der Söldner rings um den Hals hatte. »Mensch?«

Jetzt lachte Malimmes. Und weil er wußte, daß dem Hauptmann die Geschichten vom ungefährlichen Hanfsamen bekannt waren, sagte er: »Der von heut, das ist der sechste gewesen. Kann auch sein, erst der fünfte. Ich weiß nimmer recht. Aber mein Hals will verdienen. Vergeßt nit auf meinen Botenlohn! Heut bin ich Kirchenmaus geworden. Ich brauch Gewand und eine neue Wehr.«

»Sollst alles haben.«

»Und einen Mann, der mich zu meinem Herren führt.«

Der Hauptmann winkte einen der Knechte herbei. »So erzähl doch, Mensch!«

»Ein andermal, Herr!« Malimmes nahm den Zügel des Ingolstädter Gaules, dessen Fell in der warmen Sonne schon zu trocknen begann. »Heut wird's mit der Zeit ein lützel knapp.« Er sah über die Schulter gegen die Hallturmer Mauer. »Ich hätt mir in Berchtesgaden gern die Haar stutzen lassen. Aber der Bader ist mir mit der Scher unter die Haut gekommen. Jetzt wart ich lieber bis übermorgen.« Malimmes sah scharf den Hauptmann an und sagte langsam: »In Burghausen gibt's doch gute Haarstutzer? Nit?«

Herr Grans wollte etwas erwidern, drehte sich aber plötzlich um, klirrte davon und schrie: »Der Seipelstorfer? Wo ist der Seipelstorfer?«

Den Gaul am Zügel führend, ging Malimmes hinter dem Knechte her, der ihn zum Runotter führen sollte. In dem schmalen Waldtal war eine dichte Zeltstadt aus dem Boden gewachsen. Söldner, Schützen und Harnischer lagen neben den Reihen der angepflöckten Gäule bei den Feuerstätten, würfelten um Beutestücke, verzechten das Berchtesgadnische Raubgeld und scherzten mit den Troßweibern. Fast am Ende des Gelägers, bei einer Quelle unter alten Bäumen, stand das große Zelt, das man dem Runotter und den Seinen zugewiesen hatte. Der Falbe, der Schimmel und die zwei erbeuteten Gäule der Knechte waren angepflöckt und zupften den Hasenklee aus dem Moose. Heiner putzte das Sattelzeug. Als er den Malimmes kommen sah, sprang er auf. »Gott sei Lob!« Er rückte vergnügt den Stirnverband, als wär's ein Hütl. »Der Bub, unser Bauer und das narrische Mensch sind fast verzweifelt vor Angst um dich!«

»Wer noch?« fragte Malimmes.

»Die Traudi. Wirst doch wissen –«

Malimmes sah ein bißchen wunderlich drein. »Die ist auch noch da?« Und während er seinen Gaul anpflöckte, murrte er vor sich hin. »Es ist doch ein Elend mit den Weibsleuten. Haben kann man sie flink. Los wird man sie niemals wieder.« Den Altknecht machte die mangelhafte Bekleidung des Söldners neugierig. »Da ist die Hitz dran schuld. Gebadet hab ich, wider das Schwitzen, weißt. Und da ist mir so pudelwohl geworden, daß ich das ganze Gelumpert beim Wasser hab liegenlassen.« Malimmes lachte über die verdutzten Augen der beiden Knechte, ging auf das Zelt zu und sah in den dämmerigen Raum. »Wo ist denn – – Höi! Wo der Bauer ist, frag ich?«

»Da drunt, wo man Ausschau hat über das Haller Tal. Die meinen doch, du kämst durch den Schwarzenbach von der Ramsau her.«

»Spring, Heiner! Sag dem Bauer, daß ich daheim bin.« Der Bursch rannte davon. Und Malimmes befahl dem Altknecht: »Hol mir den Feldscher! Und schau, daß du einen Krug Wein auftreibst. Einen festen!« Als er allein war, taumelte er auf den Waldboden hin. Eine Weile blieb er liegen, wie leblos. Dann stemmte er sich mühsam wieder auf und trat in das Zelt. Zwischen anderen Waffenstücken hing da ein zierlicher Helm mit einem Reiherbusch. Malimmes strich mit der Hand über den blanken Stahl, als wär's die Wange eines Kindes. Nun ging er zu seinem neuen Gaul, lockerte ihm die Sattelgurten und tätschelte den schlanken Hals des schönen Tieres. »Bald kriegst was! Erst mußt verschnaufen.«

Zwei Knechte des Herrn Grans erschienen mit einem großen Pack. Sie brachten Wehrzeug, Waffen und Kleider. Alles war, Raubgut. Und Hauptmann Seipelstorfer schickte als Dank für die Kundschaft einen schweren Beutel. Malimmes schmunzelte. »So viel ist der Hänfene nit wert gewesen.« Er wollte sich kleiden. Es war reichliche Auswahl da. Nur das Hemd fehlte. Malimmes kramte im Zwerchsack der Knechte. Umsonst. Die hatten nur das Hemd, das sie am Leibe trugen. Im Bündel der Traudi fand er ein langes, grobleinenes Weiberpfaid. Das zog er an. Und lachte, während er so dastand und sich anguckte. Den feuchten Bausch des eigenen, zerfetzten Hemdes stopfte er zwischen die paar Habseligkeiten des Mädels. Mit allem anderen ging's flink. Stattlich und doch ein bißchen sonderbar gewandet, wie ein Mischling aus zwei Dritteln Herr und einem Drittel Soldknecht, stand Malimmes vor dem Zelt, als der Feldscher mit seiner Tasche und der Altknecht mit dem Weinkrug kamen. »Gib her!« Malimmes packte den Krug. »Jetzt duck dich, arme Seel! Die Sündflut kommt!« Er soff, daß die zwei anderen zu lachen begannen.

Nun saß er auf einer Baumwurzel und hielt unter dem Lichterspiel der Sonne geduldig den Kopf hin, während der Feldscher die kitzlige Arbeit begann. Ein Hautlappen, den man wegschneiden mußte, flog ins Moos. »So!« sagte Malimmes. »Da kriegen die Mäus was. Der liebe Herrgott teilt's allweil so aus, daß jedes Schwänzlein Leben zu seiner Notdurft kommt.«

Heiter meinte der Feldscher: »Nit jeder laßt seine Haut so willig wie du!«

»Was liegt an einem Läpplein Haut? Wer gut durch die Welt kommen will, muß sieben Haut haben. Da schält sich bei jedem Elend eine weg von ihm. Die wo nachwachst, muß allweil die bessere sein.« Ohne Zusammenhang mit diesen klugen Worten lachte Malimmes plötzlich wild hinaus. Dann preßte er den Arm an die Stirn und sagte bekümmert: »Sonst vertrag ich nit wenig. Aber heut – die Hitz halt, weißt –« Er atmete schwer. Der Feldscher nähte mit festem Zwirn, den er zuvor in Essig tauchte. Über die Naht kam das Pflaster. Malimmes griff hinauf. »Jetzt mußt mir noch die Haar über das Pflaster kampeln. Ich mag nit merken lassen, daß ich ein Loch hab, wo keins hingehört.« Über den neuen Scheitel, der ihm angebürstet wurde, zog er eine gesteppte Seidenkappe, die er im Pack des Herrn Grans gefunden. Aus dem Säckel holte er den Dank für den Feldscher heraus: »Vergelt's Gott, Mensch!« Und dem Altknecht befahl er: »Jetzt futter meinen Gaul! Er hat verschnauft.«

Eine freudig schrillende Weiberstimme im tieferen Wald. Malimmes guckte gottergeben drein. Atemlos kam Traudi durch den Wald heraufgewirbelt, vergaß aller Eifersucht und überschüttete den Malimmes mit einer ausreichenden Mahlzeit von Sorge und Zärtlichkeit. Stumm ertrug er's, während schon die Wirkung des schweren Trunkes in seinen Augen zu blinkern begann. Daß er anders aussah als sonst, das merkte die Traudi nicht. Der Malimmes war da, war gut zu ihr, und ihr Glück hatte keinen Wunsch mehr. Als ihre Freude sich ausgetobt hatte, faßte er sie am Handgelenk: »Dich hab ich gesucht. Bloß um deintwegen bin ich gekommen.«

»Ist's wahr?« Sie glich in diesem Augenblick dem seligsten Geschöpf der Erde.

»Aber, Maidl, jetzt mußt du beweisen, daß du mich lieb hast.«

»Dir tu ich alles.«

»Zu meiner Mutter mußt du, in die Ramsau, jetzt gleich. Die Mutter tut Not leiden.« Er schüttelte den Inhalt des Säckels vor sich hin und schob ein paar Silberstücke in seinen Hosensack: das übrige teilte er nach dem Augenmaß und gab dem Altknecht die eine Hälfte: »Das schieb in des Herren Zwerchsack. Ist für uns alle.« Die andere Hälfte gab er wieder in den Sack. »So, Maidl, das bring der Mutter, jetzt gleich! Und bei der Mutter bleibst du, bis ich komm. Dein Kind muß ein Heimatl haben, weißt!«

Ihre Augen strahlten. »Wann kommst?«

»So bald wie's geht. Hast meinen Goldpfennig noch?«

»Wohl! An einem Schnürl um den Hals.«

»Da laß ihn nur hängen derweil. Jetzt kannst du die Mutter auch grüßen – von mir. Mach weiter! Das Ding hat Eil.« Sie wagte keinen Widerspruch, sprang in das Zelt, holte ihr Bündel und wollte den Malimmes halsen. Er sagte: »Schon gut!« Mit Tränen in den Augen sprang die Traudi davon. Er sah ihr nicht nach, sondern starrte vor sich hin auf den Waldboden, und in seinem Gesicht war der Ausdruck eines peinvollen Grams. Mit schweren Schritten ging er ins Zelt und preßte die Lippen, an den zierlichen Helm, wie ein inbrünstiger Beter die Reliquie eines Heiligen küßt. Wieder jenes wilde Lachen. Dann warf er sich auf die Pferdedecken, die in einem Winkel des Zeltes lagen.

Noch einmal hörte er die Stimme der Traudi. Das Mädel war dem Runotter und dem Jul begegnet und sprach mit ihnen.

Nun kamen die beiden. Jul war ohne Kettenhaube, barhäuptig. Wie ein dickes, schweres Mäntelchen hing das schwarze Haar um das erhitzte Gesicht. Runotter, völlig gewaffnet, schlug den Tuchlappen des Zeltes zurück. »Gott sein Dank! Da ist er. Mir geht ein Stein von der Seel.«

Malimmes lag unbeweglich auf den Decken, mit geschlossenen Augen. Als Jul zu ihm hinspringen wollte, faßte Runotter den Buben am Arm. »Sei fürsichtig! Der schaut aus wie ein arg Müder. Gönn ihm die Ruh! Er schlaft.«

Lautlos kauerte der Bub sich auf den Boden hin und schmiegte seine Wange an die Faust des Malimmes. Der zuckte leis. Doch er ließ die Faust so liegen, wie sie lag.

Mit großen Augen sah Runotter die sonderbare Gewandung des Söldners an und betrachtete die neuen Waffen, die da umherlagen. Draußen bei den Gäulen war ihm das fremde Roß mit dem prächtigen Sattelzeug aufgefallen. Was er mit eigenen Augen sah, und das wirre Geschwätz, das der Heiner gemacht hatte, und das verdrehte Gerede der blonden Leuthausmagd – das alles stimmte nicht zueinander.

Über das braune Gesicht des Bauern glitt plötzlich ein fahles Erblassen. Der schwere Küraß, der zu Häupten des Malimme auf dem Boden stand? War das nicht der Küraß, den der Gadnische Vogt in jener Nacht getragen hatte, als der Jakob auf dem Totenbrett hatte liegen müssen? Und war's nicht der gleiche Küraß, über den bei der Hallturmer Mauer das Blut des Erschlagenen heruntersprudelte, der unter den Streichen des Runotter zusammenbrach? Wie kam dieser Küraß in das Zelt? War Malimmes auf dem Greuelfeld des Hallturmer Burghofes zum Raubmann geworden? Oder gab es Wege, auf denen die Toten ihre bösen Mahnungen zu den Lebenden schicken?

Wortlos, wie von einer drückenden Last gebeugt, ging der Bauer aus dem Zelt. Und draußen befahl er mit rauher Stimme dem Altknecht: »Lauf, Mensch – da liegt ein Krug – bring, was du kriegen kannst! Mich dürstet nach Ruh.«

Der heitere Lärm des Gelägers – diese kreischenden Stimmen, das Gelächter, die johlenden Lieder, das Dullenklopfen auf den Harnischen und Eisenhüten, das Gewieher und Stampfen der Pferde – das alles tönte gleich dem wirren Geplätscher eines Sturzbaches in die dämmerige Stille des Zeltes.

Unbeweglich saß der Bub auf der Erde, mit dem Kopf an die Schulter des Malimmes gelehnt. Der lag wie ein toter Klotz. In dem Schlafe, den er geheuchelt hatte, war ihm aus Erschöpfung und Weindunst ein ehrlicher Schlummer auf die Lider gefallen. Manchmal ließ er ein kurzes, drolliges Schnarchen hören – es war wie der röchelnde Laut einer Kehle, der es ein bißchen an Luft gebricht. – –

Vor der Mahlstunde des Gelägers, als die Waldluft erfüllt war von den Schmorgerüchen der vielen Feuerstätten, vernahm man immer wieder von der Hallturmer Höhe her ein kurzes, dumpfes Trommelgerassel. Das war der kriegerische Segen, mit dem der heilige Peter seine Toten verspätet dem Schoß der Erde übergab. Jeder von den Troßbuben, die beim Hallturm als Totengräber dienen mußten, hatte sich ein mit Essig getränktes Tuch um Mund und Nase gebunden. Und hohe Feuer loderten, die man mit Stößen von Wacholder nährte. Man trieb da den Teufel mit dem Teufel aus und übertäubte den üblen Geruch des Todes mit einem Gestank des Lebens. Das gemeine Volk, das die Pflichten der Pietät erfüllen und durch die zerbröselte Mauer die für den Sturm auf die feindliche Sperrschanze nötigen Tore brechen mußte, hielt den bayrischen Hauptmann Seipelstorfer für einen großen Esel, weil er sein Pulver sparte, statt die Arbeit bei der Hallturmer Mauer durch einen Hagel von Stein und Blei zu stören. Die Büchsenschanzen auf dem Fuchsenstein waren deutlich zu sehen; doch über achthundert Schritte konnten die Getreuen des heiligen Peter nicht mehr erkennen, daß die bayrischen Geschütze bereits aus den Schanzen zurückgezogen waren. Unter Bespannung standen die ›Landshuterin‹ die ›Hornaussin‹ und die Trommelkanone schon im Wald auf der Straße, wo ihre Räder fest mit Sacklumpen und Filz umwickelt wurden. –

Der wehrhafte Häuf des heiligen Peter, dessen Nachhut noch mit einem langen Schwanz die von Berchtesgaden herziehende Straße füllte, wurde außerhalb des Duftbereichs der Hallturmer Mauer aufgestellt. Hinter den vier Hauptbüchsen hatte Hauptmann Hochenecher mit seinen Geleitsherren auf einem grünen Hügel Stand genommen, um die Anordnung des Sturmes zu beraten. Der durfte vor der fünften Morgenstunde nicht beginnen. Es war wohl verabredet, daß der Hinterhalt der Salzburger mit dem Kriegshaufen des Bischofs von Chiemsee und des Kaspar Törring das Saalachtal vor Anbruch der Nacht bei Piding und Marzoll, hinter dem Untersberge, sperren würde. Aber man brauchte den sichtigen Morgen dazu, um den Seipelstorfer von Plaien abzuschneiden und den Feind hinunterzupeitschen in die unentrinnbare Mausfalle an der Saalach. Sooft die Salzburgischen Herren während ihres Kriegsrates zum Fuchsenstein hinüberguckten, fingen sie zu lachen an. Wie ahnungslos die winzigen Käfer da drüben auf und nieder krabbelten an der Sperrschanze! Und Erde karrten und Bäume schleppten. Um sich einzusperren in einen mörderischen Sack!

Neben den Lachenden stand ein Ernster, der in diesem Kriegsrat kein Wort gesprochen hatte. Die feste Sonnenluft, die über den Hügel hinblies, bewegte die Fasanenflügel auf seinem schimmernden Helm.

Als die Herren des Rates auseinandergingen, jeder zu seinem Fähnlein, legte Fürst Pienzenauer seine gepanzerte Hand auf die Schulter dieses Schweigsamen. »Komm! Ich will reden mit dir.«

In Lamperts Augen war eine dürstende Hoffnung.

Die beiden gingen zu einer alten Ulme, in deren Schatten der Fürst sich niederließ. Lächelnd betrachtete er den Jungherrn. »Ich habe mir überlegt, was du mir am Morgen sagtest. Auch hast du dir durch den gefahrvollen Ritt nach Ingolstadt einen Dank verdient.«

»Ich tat nur meine Pflicht.«

»Grund genug für deinen Fürsten, um dir zu danken. Der Menschen, die immer ihre Pflicht tun, gibt es wenige. Sonst hätte das Leben ein anderes Gesicht als jenes üble, das von der Hallturmer Mauer zu uns herguckt und das wir heut in meinem verwüsteten Münster gesehen haben. Ich will es dir nicht vergessen, daß ohne deinen mutigen Ritt die Bayern noch immer in meiner Stube säßen. Oder denkst du auch von Herzog Heinrichs Leuten so gut wie von deinem Ramsauer Schützling?«

»Nein!« In diesem harten, heiseren Worte zitterte ein leidenschaftlicher Zorn. »Man hat uns schamlos und wider Recht überfallen. Die da drüben haben die eigenen Bauernhöfe auf dem Hirschanger in Brand gesteckt, um einen Vorwand wider uns zu schaffen und die Unseren lügnerisch der Schuld zu bezichtigen.«

»Die da drüben erklären das vermutlich als feine Kriegskunst, die nicht Gut und Menschen zählt, nur den nützlichen Vorteil wertet.«

»Herr?« fragte Lampert erschrocken. »Redet Ihr solchen Dingen das Wort?«

»Ich? Nein. Aber wer das Wesen des Lebens erkennen will, muß es mischen aus zwei Gesichtern.«

»Das, Herr, ist eingesichtig: Was Herzog Heinrich um dunkler Zwecke willen gegen uns begann, ist ein Frevel ohnegleichen.«

»Da frage den Klugen in Burghausen! Ich vermute, für ihn ist hell, was du dunkel nennst.« Der Fürst lächelte. »Dein Zorn wider diesen Weisen ließe mich hoffen, daß du morgen gegen seine Farben ein grimmiges Eisen schwingen könntest – wenn nicht diese andere Sache wäre, die deine Kraft bedenklich fesselt. In dir ist mehr als nur die Dankbarkeit für diesen wunderlichen Mann, der die folgenschwere Kurzsichtigkeit meines guten Ruppert mit unglaubwürdiger Menschlichkeit vergalt. In dir ist das stärkste von allen Dingen: ein Glaube.«

»Ja, Herr! Ich glaube an diesen Redlichen.«

Herr Pienzenauer nickte. »Du bist auch nicht sein einziger Apostel. Den Söldner, der heut für seinen bäurischen Herrn durch die Salzburger Strickschlinge sprang, möcht ich als Diener haben. ›Durch zweier Zeugen Mund‹ – das ist ein altes, gutes Wort. Ich bekehre mich zu deinem Glauben.«

»Herr!« stammelte Lampert in Freude.

»Ich will, daß meine Gadnischen sich morgen auszeichnen. Auch du! Da soll dein Arm nicht lahm werden durch die Sorge, daß du morgen diesem Redlichen begegnen könntest, gegen den du nicht schlagen willst, weil er für deinen Glauben das Martyrium eines Gerechten leidet. Es zeugt doch auch deine zerbrochene Stimme für die Kraft deines Glaubens.«

»Spottet nicht meines Glaubens, Herr! Ich bürge mit meinem Kopf –«

»Den verwette nicht!« Wieder lächelte der Fürst. »Er ist mir zu lieb. Obwohl ich Raupen in ihm sehe. Wie in allen Menschenköpfen – leider auch in meinem eigenen. Höre, Lampert! Ich will alles in deine reinliche Hand legen. Nimm zwei von meinen Leuten, reite mit dem weißen Lappen zur Sperrschanze der Bayrischen hinüber und mache den Versuch, ob sie dich mit dem Ramsauer reden lassen. Gelingt es dir, so laß dir sagen von ihm, wie sich alles in der Ramsau und auf dem Hängmoos zutrug. Ich selber glaube, daß der Richtmann nicht lügen wird. Und waren die Dinge so, daß du seine Lösung auf dein Gewissen nehmen kannst, so hast du Vollmacht von mir, ihm Verzeihung und Urfehd anzutragen. Ich will sein Dach wieder aufbauen und will ihn ungekränkt mit den Seinen hausen lassen im Erbrecht. Bist du zufrieden?«

»Herr!« Wie in einem Rausch von Freude beugte Lampert die Stirne auf den Eisenhandschuh des Propstes. »Das ist mehr, als ich hoffen durfte.«

»So geh! Und eil dich! Die bösen Dinge laufen so schnell, daß die guten sich um den Vorsprung tummeln müssen.« Freundlich, doch nicht ohne leisen Spott, sah Herr Pienzenauer dem jungen Manne nach, der im ungeschickten Käfertanz eines Gepanzerten über den Hügel hinuntergaukelte zu seinem Pongauer Rappen.

Während der Knecht den angepflöckten Moorle löste, faßte Lampert mit beiden Fäusten das Pferd an den Kiefern und drückte ihm das Gesicht an die Schnauze. »Moorle, Moorle, wir reiten zu einer Freud!«

Die zwei Gadnischen Hofleute, die mit Lampert Someiner durch ein in die Mauer geschlagenes Tor hinausritten, trugen an ihren langen Spießen die weißen Flatterzipfel.

Während die drei ihre Rosse durch das zähe Grau des im Winde stäubenden Aschenfeldes waten ließen, tönte ihnen ein sonderbar aufgeregter, ohrbetäubender Gesang entgegen.

Hinter der neuen Sperrschanze saßen Herzog Heinrichs Harnischer auf ihren Gäulen, in kleine Haufen geteilt. Jeder Reiterschwarm brüllte ein Lied, jeder ein anderes. Und die hundert Schanzbauern jodelten ihre heimatlichen Weisen. Richtiger Gesang brauchte das nicht zu sein, nur fester Lärm, der den Flinkschritt der unter Martin Grans davonmarschierenden Spießknechte und das dumpfe Gerassel der vom Fuchsenstein abziehenden Geschütze und Troßwagen übertönen sollte.

Nahe bei der Sperrschanze, auf welcher Herr Seipelstorfer mit seinem Geleit die Parlamentäre erwartete, waren einem Reiterhaufen auch die fünf Ramsauer zugeteilt. Malimmes, in seiner neuen Tracht und schweren Bewaffnung, war nach einem fünfstündigen Schlaf wieder frisch bei Kräften, sang lustig mit und schwatzte dazwischen allerlei drolliges Zeug gegen Jul und Runotter hin, die still auf ihren Gäulen saßen. Manchmal sahen die beiden den heiteren Söldner verwundert an. Seit er aus dem bleiernen Schlaf erwacht war, hatten sie gemerkt, daß er heute anders war als sonst. Über seinen lustigen Ritt durch Berchtesgaden log er allerlei krauses Zeug zusammen. Dem Runotter mißfiel das; doch Jul sagte: »Wir verstehen's halt nit. Ich weiß: Was er tut, ist ein Nutzen für uns.«

Und während da nun dreihundert Kehlen so kräftig sangen, daß von dem Marschlärm hinter dem Fuchsenstein nichts mehr zu hören war, kam ein Trabant des Herrn Seipelstorfer über den Wall heruntergesprungen und winkte dem Runotter: »Kommen sollst du! Ein Gnadnischer Herr steht vor dem Wall, mit Botschaft für dich. Der Jungherr Someiner.« Der Name wirkte auf die drei wie ein Lanzenstoß. Malimmes warf einen brennenden Blick nach dem Buben, der sich auf eine wunderlich sinnlose Weise plötzlich gegen die Mähne seines Gaules beugte. Runotter, in dessen Augen nach dem schweren Trank dieses Mittags eine dumpfe Ruhe gewesen war, verfärbte sich. Er sagte rauh: »Der soll seine Botschaft dem Hauptmann kundtun! Nach Zwiesprache mit Gadnischen Herren dürstet mich nit.«

Da hob der Bub den schimmernden Helm mit dem Reiherbusch. Ein irres Flehen war in seinen großen Augen. »Red mit ihm! Der tät nit bringen, was ein Ungutes wär für dich!«

Der Bauer sah den Buben an – und sah dem Trabanten nach, der gegen die Sperrschanze hinauf sprang – und sagte müd: »Ist schon vorbei.«

Herr Seipelstorfer winkte vom Wall herunter. Er rief auch etwas. Doch unter diesem brüllenden Gesang verstand man's nicht.

Ein heißes Drängen: »Vater! So geh doch, Vater!«

Runotter schien nicht zu hören und war auf seinem Gaul wie eine steinerne Säule.

In Zorn schimpfte Malimmes: »Gotts Teufel, so rumpelt doch fürwärts!« Er versetzte dem Schimmel einen heimtückischen Fußtritt gegen den Hinterbacken. An so grobe Behandlung war das brave Rößlein nicht gewöhnt. Schnaubend surrte es gegen die Sperrschanze hin. Und Malimmes – in einer Aufregung, als ginge es jetzt um Hals und Leben – faßte den Zügel des Falben und hetzte gegen den Fuchsenstein hinauf. »Komm, Bub! Ich laß meinen Herren nit aus dem Aug.« Nun waren Jul und der Söldner zwischen den Schanzen der verschwundenen Geschütze, sahen den Runotter beim Hauptmann steher und konnten über die Sperrschanze hinausgucken auf das Aschenfeld.

Da draußen hielt ein eisgrauer Reiter.

»Siehst du ihn?« tuschelte Malimmes. »Daß er so grau ist, kommt von der fliegenden Äsch da draußen!« Man sah die grauwehenden Schleier, die der Sonnenwind von dem Aschenfeld emporwirbelte; sie waren so dicht, daß man die zwei ferner stehenden Gadnischen Hofleute mit den weißen Flatterzipfeln manchmal nur als verschwommene Schemen gewahrte. »Siehst du ihn? Er ist nit allweil so grau, ist wie ein jungs Bäuml im besten Saft. Und heut in der Früh, da ist er gewesen wie der heilige Jörg, der dem Teufel ins Maul speit und lacht dazu!« Auch Malimmes wollte lachen. Doch mit gut gespieltem Schreck verstummte er, als das brennende Gesicht des Buben so jäh herumfuhr. »So, jetzt hab ich mich schiech verschnappt. Jetzt muß ich schon alles redlich bekennen. Heut hab ich dich grauslich angelogen. Eine Dummheit gesteht man nit freiwillig ein. Weißt, ich hab wieder eine von meinen Narreteien gemacht, und da haben mich die Salzburger beim Zwickel erwischt. In elenden Todsnöten bin ich gewesen, und es hat mir der Hänfene schon das Zäpfl gedruckt –«

»Jesus!« stammelte der Bub erblassend.

»Aber da ist der Jungherr bei mir gewesen wie ein paradiesischer Engel, hat mich herausgehoben aus aller Not, hat mir den hilflosen Buckel gedeckt und hat mich aus dem Tod wieder reiten lassen ins lustige Leben – auf seinem eigenen Gaul! Guck, Bub! Das feine Rössel, auf dem ich da hock, das ist des Jungherren Kriegsroß.« Eine zitternde Knabenhand tastete nach Hals und Mähne des schönen Pferdes. »Gelt! Ein fürnehmes Rössel!« beteuerte Malimmes. »Hat den ›Loys‹ mit der Herzogskrone auf der Schattenseit!«

Für dieses Wichtige schien der Bub kein Ohr mehr zu haben. Die mit Stahl geplattete Hand in die Mähne des Ingolstädter Gaules klammernd, beugte er sich im Sattel vor, und seine großen Augen glänzten gegen das Aschenfeld hinaus.

Malimmes tat einen schwülen Atemzug.

Das war in dem Augenblick, als man auf der Sperrschanze den Runotter an einem Seil hinunterließ über den Steilhang des hohen Walles.

Unter dem Gewicht der eisernen Wehr und seines schweren Körpers versank der Bauer bis zu den Waden in die angewehte Asche. Ein paar Schritte machte er noch. Dann blieb er stehen, mit den Fäusten auf dem Schwertknauf.

Lampert Someiner trieb seinen grau gewordenen Rappen gegen den Bauern hin. Er beugte sich nieder und bot dem Runotter die Hand.

Der nahm sie nicht.

»Richtmann –«

»Jetzt bin ich Kriegsknecht.«

»Sei, was du magst! Mir bist du immer der gleiche. Ich bin gekommen –« Lampert räusperte sich. Er mußte die kranke Stimme plagen, um bei diesem sonderbaren Liedergebrüll verständlich zu werden. »Ich bringe Frieden, Runotter! Für dich!«

»Da wird wohl Krieg bleiben!« sagte der Bauer hart.

»Runotter! Du bist ehrlich – sag mir, wie alles war in der Ramsau. Ich selber weiß, wie es war auf dem Hängmoos –«

»Da heißt man's jetzt: in der Mordau.«

»Gott seis geklagt: Dieser Name hat Wahrheit! Aber höre mich, Runotter! Ich habe Vollmacht von unserem Fürsten –«

»Das ist Euer Fürst. Der meinige nimmer.«

Die Erregung verwandelte Lamperts Stimme in ein rauhes Krächzen. »So will ich sagen: Ich habe Vollmacht von meinem Fürsten, die gerechte Lösung und ehrlichen Frieden zu bieten, wenn du schuldlos bist. Und daß du es bist, das weiß ich. Runotter, ich glaube an dich.«

Über die schwere Gestalt des Bauern lief ein Zittern. Er wankte ein wenig, wie von einem wuchtigen Hieb getroffen. Dann stand er wieder in seiner steinernen Härte, wortlos, mit starrglänzenden Augen.

»Runotter? Warum bleibst du so stumm?«

Mühsam sagte der Bauer: »Weil Eure Stimm mir weh tut. Seit gestern weiß ich, für wen Ihr den Hals so verschrien habt.«

Lampert nickte. »Für dein Recht! Hab Vertrauen zu mir! Sag mir, wie alles gewesen ist!«

»Das weiß ich nimmer. Jetzt ist alles anders geworden. Da ist kein Reden mehr, kein Fried und kein Rückweg. Wenn Euer Fürst sich der Güt besinnt, soll er gerecht sein gegen die Ramsauer, die Eure Gadnischen Hofleut hineingehetzt haben in die Untreu der Ängstlichen.«

»Das will ich erwirken.«

»Vergelt's Gott, guter Herr! Für die anderen. Mich lasset aus dem Spiel! Für mich ist die Ramsau nimmer auf der Welt. Und Euer Fürst, der ist tot für mich.« Die Stimme des Bauern wurde grell. »Einmal hab ich die Treu meines Lebens zerbrochen im Zorn. Das reut mich, daß es mir hart an die Leber geht. Jetzt hab ich wiederum Treu geschworen. Die halt ich bis in den Tod, Reitet heim, Jungherr –« Runotter verstummte und sah mit glasigen Augen den Kopf des Moorle an. Langsam hob er die Hand, blies die graue Asche von der Stirn des Rappen und streichelte ihm sanft die Nüstern. »Gottes Vergelts, du gutes Roß! Weil du meinen Jakob getragen hast auf deinem Buckel!« Er wandte sich und wollte gehen.

»Runotter!« stammelte Lampert erschüttert. Und schwieg eine Weile. Und stieß es mühsam vor sich hin: »Denkst du nicht an dein ander Kind?«

Der Bauer sagte über die Schulter: »Mein Kind ist weit. Was geht's Euch an? Wie die Herren ihr Traid geworfen haben, so ist's aufgegangen für mich und mein Weib, für meinen Buben und mein Maidl.« Er sah diesen ratlosen Kummer in Lamperts Gesicht. »Nichts für ungut, Jungherr! Ihr, weiß ich, habt's redlich gemeint. Vergelt's Gott! Aber jetzt ist das so! Was die Säu verwüstet haben, das macht auch kein Heiliger nimmer sauber.« Er schnaufte schwer und ging.

»Runotter!« Lampert streckte erschrocken die Hand.

»Ein End, Herr! Und daß ich ehrlich bin: Heut habe ich einen Rausch. Den muß ich ausschlafen. Weil ich nüchtern sein muß, wenn die Gadnischen Hofleut stürmen.« Unter rauhem Lachen ging Runotter zur Sperrschanze, schlüpfte mit Kopf und Armen in die Strickschlinge, rüttelte am Seil und schrie: »Wie, Leut! Lupfet mich in die Höh!« – –

– Jetzt konnten die beiden auf dem Fuchsenstein den Runotter nimmer sehen. Weil ihn der Wall verdeckte. Sie sahen nur, wie unter dem ohrzerreißenden Liedergebrüll jener graue, Reiter zögernd davonritt durch das Aschenfeld. Und ohne sonderlichen Menschenwitz war es zu merken, daß die zwei in der Asche da drunten – mochten sie was immer miteinander geredet haben – nicht eines Sinnes geworden.

Malimmes mußte flink seinen Arm um den Buben legen, dem ein Laut aus der Kehle quoll wie der zerdrückte Atem eines Erstickenden. »Da mußt du dich nit sorgen. Jul! Heut hat er bloß einen halben Weg getan. Das Stündl kommt noch, wo er den ganzen tut. Der Weg zum Verstand geht allweil treppelweis.«

Das blasse Gesicht des Buben im schmalen Oval der Kettenhaube war entstellt. Nicht mit der Stimme eines jungen Harnischers, sondern mit dem Stammeln eines hilflos verstörten Mädels fragte Jul: »Hast du –?«

»Was?«

»Hast du – heut, am Morgen – geredet – mit ihm?«

»Ich?« Der Söldner machte verwunderte Augen. »Nit ein Wörtl!« Das war so ehrlich gesagt, daß man's glauben mußte. Und als der Bub aufatmete, lachte Malimmes. »Zum Reden ist gar nit Zeit gewesen. Mein heiliges Jörglein hat mich so flink aus der Not geschupft, daß ich schon den Hallturmer Stank in der Näh geschmeckt hab, eh's mir eingefallen ist, daß ich dem Jungherren ein Vergeltsgott hätt sagen müssen.« Der Mensch ist allweil ein undankbares Luder. Da streckte er plötzlich in Neugier den Hals. Auf der Straße von Plaien sah er einen Kundschafter auf keuchendem Gaul heraufjagen zur Sperrschanze. »Höia! Mir daucht, da blast ein Wind, der nit gut ist? Komm, Bub!« Er packte den Falben am Zügel. Und die beiden Pferde kletterten über den Hang des Fuchsensteines hinunter.

Unter ihnen schoß der erschöpfte Reiter vorbei. Herr Seipelstorfer lief ihm entgegen. Und der Reiter, im Sattel hängend, redete atemlos auf den Hauptmann herunter. Der knirschte einen Fluch und faßte einen Trabanten am Arm. »Flink! Die Straß hinunter, bis du den Grans findest! Er soll die Spießknecht in die Burg stopfen. Büchsen, Pulver und Kugeln dazu. Vom Troß soll er bergen, was die Zeit verstattet. Die Troßleut mögen hinspringen, wo's ihnen paßt. Vor dem Abend schick ich dem Grans noch Botschaft! Flink!«

Während der Trabant auf seinen Gaul sprang, trat Herr Seipelstorfer mit den Gefolgsherren zusammen. Der Kriegsrat, der da gehalten wurde, schien Feuer unter dem Boden zu spüren. Die Reiter und Schanzbauern, während sie ihre wirren Lieder brüllten, guckten in Sorge zu der aufgeregten Gruppe hin, die den hastig redenden Hauptmann umstand. Nur Runotter schien nicht zu sehen, was da vorging. Mit fahlem Gesicht, einen starren Glanz in den Augen, ritt er den beiden entgegen, die vom Fuchsenstein herunterkamen. Und sagte: »Malimmes! In dir ist Treu. Da mußt du auch wissen, was Untreu wär. Jetzt deut mir das aus –«

»Was?«

»Ob ich den Handschlag halten muß, den ich dem Grans, gegeben?«

»Wohl, Herr, das mußt du!«

Der Bauer wurde ruhiger. »So hab ich mich nit versündigt.« Mit einem Blick voll heißen Kummers sah er den Buben an: »Jul! Man hat uns einen Weg zum Frieden gewiesen. Mir ist er zugemauert. Dir ist er offen. Magst du ihn reiten?«

Der schlanke Körper des Buben straffte sich im Eisen. Und die herbe Knabenstimme sprach: »Du und ich miteinander. Und die Unsrigen mit uns. Sonst nit. Und wenn's in den Himmel wär.«

Da verwandelte sich der Rauschglanz, der die Augen des Bauern füllte, zu klarem Blick. »Vergelt's Gott!«

Und Malimmes, dessen große Narbe zu glühen anfing, sagte lachend: »Herr! Man fragt doch nit, ob der Tag hell ist.«

Trotz allem Lärm bei der Sperrschanze vernahmen diese drei, daß mehrere Stimmen nach dem Malimmes schrien. Der Söldner ließ den Ingolstädter Gaul die paar Sprünge bis hinüber zum Hauptmann machen. »Du bist doch der«, fragte Herr Seipelstorfer, »der von Plaien in fünfthalb Stund zum Herzog geritten ist?«

»Wohl!« Die Augen des Malimmes lauerten.

»Das mußt du heut wieder machen.«

»Wenn's dem Runotter paßt. Der ist mein Herr.«

Der Hauptmann winkte den Bauern herbei. Runotter nickte. »Mir ist's recht.« Und nun führte Herr Seipelstorfer den Gaul des Malimmes aus der Hörweite der anderen und sah dem Söldner scharf ins Gesicht. »Kann ich mich verlassen auf dich?«

»Wie der Höllische auf eine arme Seel, die den Himmel verscherzt hat.«

»Gut! Augen hast du – das weiß ich –«

»Ums Eck kann ich nit schauen. Aber die Salzburger müßten ein Muckenhirn haben, wenn sie nit hinter dem Untersberg an der Saalach drunt das Loch mit Balken vernagelt hätten.«

»So mußt du über die Balken hinüber.«

Malimmes lachte. »Ein Hauptmann redet sich leicht.«

»Bleib ernst!«

»Das geht nit. Man muß doch lachen, wenn man sieht, wie die Menschenleut sich plagen, daß sie um die Gurgel kommen. Also?«

»Tu die Augen auf! Und daß du Bescheid weißt: Die Spießknecht hab ich in die Burg geworfen. Mit den Reitern bleib ich über die Nacht. Ich muß den Grans decken, bis er die Büchsen in Plaien hat. Wenn's Tag wird, leg ich Feuer an den Sperrwall. Sag dem Herzog, daß ich mich an der Saalach durchschlag, über Piding hinaus. Ich hoff, daß ich mich halten kann, bis die Sonn und der Herzog kommen. Die Sonn ist sicher. Kommt der Herzog nit, so beiß ich mich mit den Wenigen, die mir bleiben werden, gegen den See von Waging durch. Jetzt reit! Du mußt in Burghausen sein bis zur elften Glock. Auf der Höh von Raitenhaslach mußt du Feuer in jeden Baurenhof schmeißen. Wie mehr als brennen, wie besser! Das wird den Herzog wecken. Um Mitternacht muß er vierhundert Harnischer sausen lassen. Sonst liegen morgen hundert von unseren Köpfen im Dreck. – Was meinst du?«

»Ich bin landskundig und mein', daß ich durchkomm. Aber machen muß ich's dürfen, wie ich mag. Meine Herrenleut nimm ich mit.«

»Gut.«

»Und zehn Reiter muß ich haben. Oder lieber sechs.«

»Such dir die besten aus!«

»Nit Herr!« Malimmes beugte sich im Sattel. Sein Gesicht wurde hart. »Sechs Köpf sind weniger als hundert. Gebt mir nichtsnutzige Leut! Aussuchen müßt Ihr sie selber. Ich bin nit Richter. Jetzt reit ich derweil voraus. Daß ich Ausguck find, muß ich hinter Plaien hoch am Untersberg hinaus. Wo der Plaiener Weg an die Saalach hinunterbiegt, sollen die sechs Speckbrocken warten, bis ich komm. Ich mein', da weiß ich schon, wo die hungrigen Ratzen ihre Löcher haben.«

Herr Seipelstorfer sah verdutzt an dem Söldner hinauf. Dann schmunzelte er. »Kerl! Komme ich morgen oder übermorgen mit dem Herzog ins Reden, so bist du Sergeant.«

»Nit um die Welt!« Malimmes griff an den Hals. »Für Sergeanten ist der Galgen eine sichere Sach. Mir ist er noch allweil zweifelhaft.« Er wandte den Gaul. »Gotts Gruß, Herr Hauptmann! Beim Herzog wieder!« In Sorge warf er einen Blick zu dem Buben hinüber, ritt neben den Runotter hin und flüsterte: »Komm, wir reiten!«

Der Bauer schüttelte den Kopf. »Ich bleib, wo man ficht. Für Kundschaft taug ich nit.«

»So? Gut! Und kann auch sein, es ist besser so! Für den heutigen Ritt könnt dein Schimmel nit ausreichen. Und im Schädel hast einen Sums, an den du nit gewöhnt bist.« Seine Stimme wurde wie Stahl. »Den Buben nimm ich mit.«

Ruotter wollte widersprechen.

»Wehr's nit, Bauer! Der Bub soll Sicherheit haben. Die ist bei mir! Schutzengel müssen nüchtern sein. Ich hab ausgeschlafen. Sei gescheit! Und laß den Buben nit merken, was los ist.«

Das Gesicht des Bauern versteinte. Schweigend reichte er dem Söldner die Hand. Dann zwang er sich zu einem heiteren Lächeln und nickte dem Buben zu.

Malimmes faßte den Zügel des Falben. »Komm, Jul, wir reiten ein lützel auf Kundschaft. Da lernst du was Neues. Und, eine schöne Gegend siehst.« Er zog den Falben gegen die Straße.

Jul, mit den Augen eines halb Erwachenden, schien kaum zu merken, daß sein Gaul sich unter dem Sattel bewegte.

Es war um die vierte Nachmittagsstunde, als die beiden hinuntertrabten gegen die Plaienburg, der Bub unter stetem Schweigen, Malimmes unter lustigem Schwatzen. Allerlei sinnlose, Dummheiten plauschte er zusammen, während er mit gerunzelter Stirn diese Rechnung machte: eine Stunde für den Ausguck, eine Schleichstunde für den Umweg um den Salzburger Hinterhalt, der sich wohl bei Marzoll schon eingegraben hatte, und fünf Stunden für den Ritt bis zu den Raitenhaslacher Bauernhöfen, die brennen sollten, damit Herr Heinrich neugierig würde. Diese Rechnung mußte stimmen, oder – – Malimmes schnitt den halben Gedanken mit dem Glauben ab: »Ich zwing's.«

Um den Buben ein bißchen lächeln zu machen, begann er von dressierten Flöhen zu erzählen, die eine welsche Gauklertruppe dem König Sigismund zu Nürnberg ›vorgeritten‹ hatte.

Jul fragte: »Weiß denn ein König, daß es Flöh gibt?«

»Sobald sie ihn beißen, merkt er's. Und Zweibeinige hocken mehr auf ihm, als eines Bauern Hund von den anderen hat.« Dabei rechnete Malimmes: Von Piding bis Raitenhaslach, das wäre mit den zwei feinen Gäulen in vier Stunden zu machen. Aber der Bub muß heil nach Burghausen kommen. Also fünf Stunden. Eh' die Sonne rot wurde, mußten sie hinter Piding sein.

»Guck, wie nett das ist!«

Er deutete nach der Plaienburg, über deren steilen Fahrweg die vielen Rosse das schwere Geschütz hinaufzogen. An jedem Rade hingen Spießknechte, die stemmen und schieben mußten. Und das alles, aus der Ferne gesehen, war so winzig, daß man es mit dem Milchbecher eines Kindes hätte einschöpfen können.

Nun verschwand das niedliche Bild, weil Jul und Malimmes einritten in das Waldgehänge des Untersberges.

»Warum legt der Seipelstorfer Geschütz und Spießvolk in die Burg?«

»Weil er beim Fuchsenstein nit losschlagt. Der Seipelstorfer ist ein Fürsichtiger. Und der heilig Peter muß warten. Das faule Liegen wird manchem von den Gadnischen unlieb sein, der ein guter Kriegsmann ist.« Malimmes betonte das: »Ein guter Kriegsmann!«

Die beiden hatten schon einmal von einem ›guten Kriegsmann‹ miteinander gesprochen. Also war's nicht verwunderlich, daß der Falbe dicht neben den Ingolstädter kam: »Das mußt du mir nochmal sagen, wie er dich heut herausgelupft hat aus der Not.«

Malimmes erzählte – und das wurde eine so abenteuerliche Geschichte vom Heldenmut des heiligen Jörg mit den Fasanenflügeln, daß Jul unmutig sagte: »Geh! Jetzt lügst du aber!«

Über diesen ungerechten Vorwurf war Malimmes gekränkt. Er schwor: »Bub, wenn's nit wahr ist, soll mir gleich einer sagen dürfen, ich hätt als Mannsbild unter dem Küraß ein Weibsbilderhemd. Das glaubst doch selber nit? Gelt, nein?«

Die beiden kamen im Wald an aufgeschichtetem Brennholz vorüber. Auf einer Scheiterbeuge lagen sechs lange, dünne Kienholzscheite, schon zum Feuermachen ausgespänelt. Malimmes griff zu. »Die können wir brauchen.«

»Tu's liegenlassen! Der Bauer wird's mänglen.«

»Nimm's ich nit, so stiehlt's ein andrer.« Malimmes schnürte die Scheite hinter dem Sattel an den Mantel fest.

Das Waldgehänge bog sich um eine Rippe des Berges. Nun kam eine Rodung, von der man hinuntersah ins Tal der Saalach und weit hinaus in das grün gehügelte Vorland. Der erste Späherblick des Malimmes huschte ins nahe Tal. Und beinah hätte er's laut gesagt: »Eine Mausfall, wie vom Satan erfunden für den übelsten der Sünder.« Herüben vom Untersberg, bei Marzoll, und drüben vom Staufen, bei Piding, schoben sich die Waldköpfe bis nahe zur Saalach hin. Hundert feste Kerle konnten da einem mächtigen Kriegshauf den Weg versperren. Und der braune, zerfaserte Strich da drunten? Halb im Wald versteckt – von Marzoll gegen die Saalach hin? Dieser krause Strich, hinter dem man immer wieder ein feines Blinken gewahren konnte? Das war die Wagenschanze des Salzburgs Hinterhaltes.

»Gelt, Bub, eine liebe Gegend!«

»Schau nur«, sagte Jul mit leisem Beben in der Stimme, »wie goldig schön da draußen das Traid steht!« Dem Buben wurden die Augen feucht, weil er an die Ramsauer Felder dachte, auf denen der Hafer in diesem Jahr verfaulen mußte.

»Schön steht alles, ja!« Malimmes nickte ernst. »Aber nimmer lang.« Seine Augen spähten wie der Blick eines Falken, mit winzigen Pupillen. Über der Saalach drüben, von Piding gegen Aufham hin, war nichts Ungemütliches zu sehen. Das war der Weg, den Malimmes nehmen mußte. Aber – so leichtsinnig können doch die kriegstüchtigen Salzburger nicht sein, daß sie bei Marzoll sperren und bei Piding die Mausfall offen lassen? Spürend wanderte sein Blick von Aufham gegen den Waginger See, dann über die Tittmoninger Wälder in den Dunst hinaus hinter dem es nach Raitenhaslach und Burghausen ging. Und wieder zurück – ein Blick, der in Erregung die Ferne trank. Nun zogen sich die Brauen des Spähenden hart zusammen. Zwischen Aufham und dem See von Waging kroch ein langer, grauer Tausendfüßler, von Staub umqualmt.

Der Herzog? Nein! Das müßte der Seipelstorfer wissen. Also ein Feind! Wer kann es mit Salzburg und Ingolstadt halten? Und so flink bei der Saalacher Schüssel sein? Nur einer. Der Kaspar Törring! Der mit Herzog Ludwig im Ritterbunde verbrüdert war und sich mit Herzog Heinrich zerschlagen hatte wegen des bayerischen Oberstjägermeisteramtes. Kaspar Törring, bei dessen altem Geschlecht dieses Amt seit vier Jahrhunderten erblich war, begehrte als Oberstjägermeister der bayerischen Herzöge freies Jagdrecht, so weit die bayerischen Berge in den blauen Himmel wachsen. »Aber nicht, so weit meine Wälder grün sind!« wehrte Herzog Heinrich und schimpfte über die in aller Welt berühmten Leithunde des Törringer Zwingers. Um Hund und Hirsch machen die Herren Krieg, bis die Bauern verbluten, die Häuser brennen und das Traid auf den Feldern verfaulen muß.

Der Törring? Einer mit fester Burg! Ein Starker bei kleinem Spiel. Bei großem Wurf ein Schwacher für sich allein. So einer reitet nicht gern ohne Freund. Und in dem weiten Lande da drunten hat der Törring nur einen einzigen Bundeskameraden, den Bischof von Chiemsee. Die Augen des Malimmes suchten. Und jetzt fanden sie auch den zweiten graudampfenden Heerwurm.

»Nit schlecht!«

In einer Stunde mußte der Törring an der Saalach stehen. Und dann gab's zwischen Piding und Marzoll keinen Ausweg mehr. Beim Chiemseer Haufen aber waren geistliche Herren. Die reiten nicht gleich dem Teufel die Ohren weg. Die machen's bequemer. Wenn der Kaspar Törring sich schon bei Piding einbeißt, wird's noch ein halbes Stündl dauern, bis die Chiemseer aus dem Aufhamer Waldbuckel herauskommen. Und da muß man zwischen durch!

»Komm, lieber Bub!« Malimmes lachte wunderlich laut. »Jetzt machen wir noch ein lustiges Reiterstückl!« Sehr flink ging's über den steilen Hang hinunter. Und als die beiden zu besseren Wegen kamen, ritt Malimmes in sausendem Trab voran. Immer wieder rief er ein paar lustige Worte über die Schulter zurück.

Wo hinter Plaien der Weißbach sein Geschäume in die Saalach schüttete, fanden sie die sechs ›Speckbrocken‹. Von denen sah jeder aus, daß man nicht gerne bei Nachtzeit mit ihm allein durch einen Wald hätte reiten mögen. Sehr vergnügt waren sie, hatten die Gäule festgebunden und eine Bäuerin gefangen. Alle sechs waren um das schreiende Weibsbild herum.

Da kam der Falbe dem Ingolstädter voraus. Mit brennendem Zorn in den Augen schrie der Bub: »Ihr Sau! Lasset das Weib in Ruh!« Die Spreckbrocken wollten aufmucken. Aber da sahen sie den Malimmes. Und Herr Seipelstorfer hatte ihnen geboten: »Der ist euer Fürmann! Wer ihm Gehorsam weigert, hängt.«

Nur ein kurzer Aufenthalt war nötig, bis die Reiter im Sattel saßen. Im Galopp davon. Durch das Wasser der Saalach. Die weißen Tropfengarben spritzten über die Gäule hinauf, Und drüben ging es durch weglosen Wald. Da mußte man mit dem Eisenhut voraustauchen, um die Äste zu brechen. »He, Fürmann«, fragte einer von den sechsen, »zum Teufel, wo geht's denn hin?«

»Zum Teufel«, wiederholte Malimmes, »merkst du's noch allweil nit? Hinter Aufham draußen, da ist ein Wirt – der schenkt einen roten Wein – bei dem vergißt man die Not der Zeit. Flink, liebe Gnoten, flink!«

Jetzt gefiel den sechsen dieser unbequeme Ritt. Doch in den Augen des Buben war ein Vorwurf. Er hieh den Falben am »Da laß mich umkehren. So was mag ich nit.«

»Geh, sei kein Spielverderber!« Lachend faßte Malimmes den Falben am Zügel und riß ihn vorwärts. »Ein so fester, junger Reiter wie du, der muß sich ein lützel auch ans Saufen gewöhnen.«

Als Jul erwidern wollte, sah er den Ernst in den Augen des Söldners. Erschrocken schwieg er. Und da beugte sich Malimmes zu ihm und tat, als müßte er am Zaumzeug des Falben was ordnen. Kaum hörbar tuschelte er: »Bub? Hast du kein Vertrauen nimmer? Zu mir?« Und gleich wieder schwatzte er lustig über die Schulter gegen die sechse hin: »Aber gelt, das Maul heißt's halten! Der Hauptmann hat mich heut nit zum roten Wein geschickt. Wenn mich einer verschwätzt, der kriegt's!« Da wurden heilige Eide geschworen. Und weiter und weiter ging's, durch versteckte Waldlöcher, hügelauf und hügelnieder. Immer huschten die Augen des Malimmes, immer war in seinem Gesicht die Anstrengung des Lauschens. Und als die schöne Abendsonne sich golden färbte, befahl er mit einem keuchenden Laut dem Buben: »Reit links von mir!« Die Gefahr war rechts. Zu sehen war sie nicht. Aber Malimmes hörte sie: die Harnischer des Kaspar Törring ritten da drunten in Piding ein. Und plötzlich scholl aus dem Tal herauf der grillende Schrei eines Weibes.

»Fürmann! Lus! Was ist denn da?«

»Gelt ja, du Tropf du!« lachte Malimmes. »Meinst, das bringen die Pidinger Bauernburschen nit auch noch fertig, daß sie ein Weibsbild in den Speck zwicken?« Fünfe lachten. Doch einer, ein Sachse, machte die vorwitzige Bemerkung, daß da drunten was zu hören wäre wie das Hufgeklapper eines Reiterhaufens. »Ei, guck doch, was für gescheite Leut die Sachsen sind!« Malimmes haschte wieder den Zügel des Falben. »Die wissen alles, bloß das einzige nit, wie ein Bergländer Sensenschmied mit seinen Gesellen hämmert.« Und weiter, weiter, bis man die Pidinger Sensenschmiede nimmer hörte. Malimmes tat einen tiefen Atemzug. »So, Leut, da drunten kriegen wir die schöne Straß hinter Aufham. Da sind wir jetzt bald beim feinen Wirt.« Er räusperte sich lustig. »Ich mach schon die Gurgel sauber.« Die in Sorge fragenden Blicke des Buben schien er nicht zu sehen. Flink durch den Wald hinunter. Und richtig, da war die schöne Straße. Sie leuchtete unter dem beginnenden Rotglanz des Abends. Malimmes fiel in jagenden Trab. Jul mit dem guten Falben konnte sich an der Seite des Söldners halten. Die sechse mit ihren schlechteren Gäulen blieben zurück.

Jetzt lief die Straße wieder in dichten Wald hinein, dessen Wand einen langen Schatten warf. Malimmes zwang den aufgeregten Ingolstädter zu ruhigem Schritt. Und der Falbe, wie ein kluger Kamerad, verstand das gleich; er hatte bei diesem Ritt, so Seite an Seite, schon was gelernt; alles tat er dem Ingolstädter nach, ohne sich viel um die Zügelgebote seines leichten Reiters zu kümmern, den die mühsame Hetze zu erschöpfen begann.

»Erst müssen wir die Gäul verschnaufen lassen.« Es war seltsam, mit welchem Ernst Malimmes dieses scheinbar Unwichtige vor sich hin murmelte.

Da lispelte Jul: »Aber geh, so sag doch, was los ist!«

»Ja, lieber Bub! Dir sag ich alles.« Er lauschte mit vorgestrecktem Hals. »Aber wart noch ein lützel! Bis wir beim roten Wirt vorbei sind. Und sorg dich nit!« Er drehte das Gesicht nach dem Buben. »Du wirst nit saufen müssen vom roten Becher!« In seinen Augen war eine heiße Zärtlichkeit. »Du nit!«

»Ich bitt dich«, bettelte Jul, »tu ehrlich reden!«

»Gut!« Die Stimme des Malimmes bekam einen grimmigen Humor. »Der Seipelstorfer ist neugierig, ob der Wirt von Aufham einen Speck braucht. Mir wär's lieber, es ging ohne Speck. Aber geht's nit anders, so muß der Wirt seinen Speck haben.«

Das war lustig gesagt. Und dennoch spürte Jul ein Rieseln, das wie dunkles Grauen war. Er sagte leis: »Der Vater hat schon recht, heut lügst du. Allweil. Aber es wird wohl sein müssen. Sonst tätst du's nit!«

»Gelt ja?« Malimmes fing wie ein glücklicher Mensch zulachen an. Aber da riß ihm plötzlich ein Laut, den er vernommen hatte, den Kopf herum. Seine große Narbe war weiß wie Kalk, und seine Augen hatten den Blick eines bösen Tieres. Aber den sechsen, die nachgekommen waren, rief er heiter über die Schulter zu: »Höi, Leut! Wie langweilig ist das, so still dahintappen! Ich mein', wie singen ein lustiges Liedl! Damit der Aufhamer Wirt gleich merkt, daß gute Gnoten kommen. Da zapft er an!« Die sechse waren schon mißtrauisch geworden. Aber wo man singen durfte, war man weit von aller Gefahr. Drum stimmten sie gleich ein Lustiges an:

»Ein Reiter, der wollt pi–hir–schen, Halerieh halerah fallaaah, Auf Reechlein nit noch Hi–hir–schen, Halerieh halerah fallaaah, Er fing sich da ein Jungfeinsmaid, Wozu brauchst du ein Nunnenkleid, Ja Ni–na–nunnenkleid, Wozu ein weißes Pfaid? Hurrjeeh, stampeeh, Was liegt im grünen Klee?«

Während die sechse so sangen, zog die Straße zu einer Biegung. Und da sprang Malimmes aus dem Sattel. »Teufel, jetzt ist meinem Gaul ein Eisen locker!« Mit dem Zügel des Ingolstädters wand sich Malimmes auch den Zügel des Falbe um den Arm. Zu den sechsen sagte er: »Nur weiter! Gleich hinter dem Eck da drüben ist der Wirt.«

Durch den Wald her war ein gleichmäßiges Geräusch zu hören. Auch bei Aufham schien es Sensenschmiede zu geben. Die Singenden hörten den Klang dieser Hämmer nicht. Malimmes vernahm ihn. Und während er so tat, als schlüge er mit einem Stein auf das Hufeisen des Gaules, machte sein Gehirn verzweifelte Sprünge. Mußte der Wirt von Aufham Speck bekommen? Gab's keinen anderen Weg? Ein Ausbrechen rechts von der Straße war unmöglich. Struppige Waldhügel, die kein Gaul überwinden konnte, verwehrten es. Eine Wegschlucht, die nordwärts gegen den See von Waging führte, kam erst weit da vorne – dort, wo die fleißigen Hämmer immer vernehmlicher pochten. – Und die Gefahr nach links umreiten, wie bei Piding? Dazu reichte die Zeit nimmer, wenn Herzog Heinrich wach werden sollte vor der elften Glock. Bei der Sensenschmiede von Aufhausen hieß es: durch! Der Speck mußte die eisernen Mäuse beschäftigen, mußte den geschlossenen Zug des Chiemseer Haufens auseinander reißen.

Die vergnügten Sänger näherten sich der Straßenbiegung:

»Das ist von Gott erscha–haf–fen, Halerieh halerah fallaaah, Da braucht's ihm keinen Pfa–haf–fen, Halerieh halerah fallaaah!«

Malimmes ließ den Stein fallen und sah den Buben an. Sein Gesicht wurde hart. Der Bub? Und die anderen beim Fuchsenstein? Hundert gute Köpfe? Und sechse, die nicht viel taugten?

Da vorne sangen sie:

»Und wenn du laufst mit einem Kind, Tu langsam, 's geht nit so geschwind «

Die Faust des Malimmes umklammerte das Knie des Jul. »Jetzt schau nur meinem Gaul auf den Schwanz. Und her hinter mir!« Er sprang in den Sattel. Von den Sängern bogen die zwei ersten um das Eck der Straße:

»Geschwie–schwa–schwiaschwind, Schön heimlich wachst die Sünd!«

Malimmes haschte die Hand des Buben: »Tu geloben: Wenn ich ›Fürwärts‹ schrei, da hau deinem Gaul die Sporen in den Bauch und laß ihn rennen!« Ein leises Lachen. »Ich hol dich wieder ein. Da kannst dich verlassen drauf!« Er löste den Bidenhänder von der Brust. Auch Jul, mit großen Augen, stumm, das schmale Gesicht gespannt von einer ruhigen Strenge, griff nach seinem Eisen. Und da vorne verschwanden die zwei letzten der fröhlichen Sänger:

»Hurrjeeh, stampeeh, Mich laß in Ruh, hadjeeh!«

Seite an Seite jagten der Ingolstädter und der Falbe nach links in die von der Abendglut umbrannte Waldung hinein.

Die sechse auf der Straße sangen:

»Wird's ihm ein Bub, heißt Pe–he–ter, Halerieh halerah fallaaah, Der macht's wie seine Vä–hä–ter, Halerieh halerah fallaaah! Wird's ein Feinsmaid, heißt Adelheid, Und braucht's ihm auch kein Nunnenkleid, Ja Ni–na–nunnenkleid Und auch kein weißes Pfaid. Hurrjeeh, stampeeh, Das erstemal tut's weh!«

Das lustige Lied klang gegen das Ende hin ein bißchen schütter, weil ein paar von den Sängern nimmer mittaten. Die hatten ihre Gäule verhalten und guckten verdutzt über die Straße hinaus, auf der ein langgezogener Reiterhauf einherzog. Der kluge Sachse schrie nach dem Fürmann. Die Spitze des fremden Reiterschwarmes kam für ein paar Augenblicke ins Stocken; dann zogen die Chiemseer vom Leder und ließen die Gäule jagen. Jetzt begannen auch die anderen fünf Speckbrocken zu schreien: »Fürmann! Fürmann!« Sie zogen blank, warfen die schlechten Klepper herum, flüchteten gegen die Sensenschmiede von Piding, und immer wieder schrien sie: »Fürmann! Fürmann!«

Ihr Geschrei klang laut hinein in das Gehölz. Und Jul, dessen Falbe hinter dem Ingolstädter herflog, stammelte flehend: »Mensch! So hör doch, die Unseren schreien!«

Malimmes hatte das böse Gesicht. »Laß schreien!«

Von der Straße war ein Gerassel zu hören, als hätte man eiserne Pfannen zu Boden geworfen.

»Mensch!« Dem Buben versagte fast bei dem auf und nieder tollenden Ritt die Stimme. »So tu doch den Unseren helfen!«

»Fürwärts! Fürwärts!«

Und der Bub im Zorn: »Wie schlecht du bist!«

Bei sausendem Ritt ein hartes Lachen. »Weiß schon! Ein Lumpenkerl bin ich. Tut man, was sein muß – das ist allweil schlecht.« Da merkte Malimmes, daß Jul den Falben verhalten wollte. Ein knirschender Fluch. »Gotts Teufel, Bub, du bist wahrhaftig so dumm wie ein Weibsbild!« Er riß den Ingolstädter wie einen Kreisel herum, fuhr dabei mit dem Gesicht in einen Wust von dürren Ästen und haschte den Zügel des Falben. »Fürwärts!« In der engen Gasse zwischen den Bäumen legte sich der Falbe an den Ingolstädter hin. »Schlecht? So? Aber vergessen, was man gelobt hat, das ist redlich!« Ein jähes Anhalten. Ganz nah bei der Straße war's. Im Blut des Abends schien alles rot zu sein, die polternde Kammerbüchse da draußen, die Pulverkarren und Kugelwagen. Nur Fußknechte waren dabei. Die Geleitsreiter waren vorausgesprengt – dorthin, wo die Mäuse den Speck fraßen. »Bub!« Die Stimme des Malimmes klang wie erwürgt: »Da müssen wir durch, eh die Nachhut kommt. Laß dein Eisen hängen! Das meinige reicht. Pack den Gaul an der Mahn! Und los!«

Ein wildes Geschrei erhob sich auf der Straße, als hinter der Kammerbüchse die beiden Gäule mit den geduckten Reitern gleich gehetzten Hirschen über den Weg hinüberstoben. Drei Spieße fielen gegen die Rosse vor – ein Streich des Bidenhänders machte die Hölzer splittern, riß von einem Chiemseer noch ein Stück gepanzerten Lebens mit davon – und bevor noch ein Schwarm des Fußvolks zusammenspringen konnte, waren die beiden in eine enge, von der Straße nordwärts führende Bachschlucht hineingetaucht.

Bei diesem rasenden Jagen – über steinigen Waldboden und durch das Bett des Baches – blieben die zwei Gäule Hals an Hals, und Malimmes drückte sich über den gebeugten Rücken des Buben hin. Jul wollte sich aufrichten, doch Malimmes preßte ihn mit grober Faust wieder auf die Mähne des Gaules. Ein Klatschen ging durch das Buchenlaub – wie von schweren Hagelkörnern, die nicht senkrecht vom Himmel fielen, sondern quer hinausfuhren durch das Gezweig der Bäume. Nun ein kurzes, rasseliges Klingen. Es war wie ein Hammerschlag auf eine schlechte Glocke. »Ja! Schnecken!« lachte Malimmes. »Nit auf den Küraß kommt's an. Auf den Mann, der drinsteckt.«

Da machte der Falbe schnaubend einen wilden Ruck. Jul stöhnte: »Mein Gaul –«

»Fürwärts!« Malimmes riß den klunkernden Bolzenschaft aus dem Backenfleisch des Gaules. »Das tut ihm nichts! Ein lützel Pfeffer im Blut – da springt er besser.« Wieder so ein klirrender Hammerschlag. Malimmes machte mit dem Oberleib einen schweren Tunker auf den Buben hin. »So! Nit schlecht! Wenn sie mir noch viere, fünfe auf den Küraß pelzen, ist mein Buckel eine Leiter. Da kannst über mich in den Himmel steigen.« Im aufspritzenden Wasser des Baches tauchten die beiden Gäule um die Deckung eines Hügels. Und Malimmes schrie wie ein froh Betrunkener: »Bub, schnauf auf!« Er saß wieder grad im Sattel, und seine Augen spähten im schwindenden Glanz des Abends nach einem besseren Weg. Von dem fahrigen Ritt geschüttelt und geworfen, richtete Jul sich auf, wie einer, den alle Glieder schmerzten. Erschrocken fragte Malimmes: »Hab ich dir weh getan?«

Jul schüttelte den Kopf.

»Ein lützel doch! Gelt ja? Und da bin ich noch einer von den Leichten. Ach, du Weible! Das wirst du noch merken müssen, wie schwer so ein Mannsbild werden kann!« Während Malimmes schwatzte, war er mit Ohr und Auge über der Schulter. Und sooft er den Hals bewegte, ging es wie Schmerz über sein blutiges, von Ästen zerkratztes Gesicht. Nun fand er einen freien Weg zwischen hohen, dunklen Waldmauern, über denen die gelbe Flamme des Abendhimmels brannte. Seite an Seite galoppierten die beiden Gäule, der starkblutende Falbe immer um eine halbe Kopflänge voraus.

Eine erstickte Stimme: »Malimmes! Die Unseren?«

»Da mußt nit Sorge haben. Die sind ausgerissen wie schlechte Knopflöcher und sind vor der Nacht daheim.« Das sagte er ruhig. »Komm! Jetzt denk nit rückwärts, Bub! Denk fürwärts. Und daß du auch weißt, warum –« Nun sagte er die halbe Wahrheit. Zur Hälfte verschwieg er sie noch. Weil die Gefahr noch nicht überstanden war. Vom Rücken her durfte er sich sicher fühlen. Bis das Geschrei der Fußknechte die Reiter herbeigerufen hatte, war's zu spät geworden, um den Flüchtigen ins Blinde des dämmernden Waldes nachzujagen. Doch hinter den Wiesen da draußen, die noch hell im Glanz des Abends schimmerten, mußte Malimmes auf weitem Umweg das Uferinger Moor umreiten, während von der Nachhut der Chiemseer eine feste, gerade Straße zum See von Waging lief. Und daß hier eine Botschaft zu Herzog Heinrich ging, die am Waginger See vorbei mußte, auf schmalem Gelände zwischen Moor und Wasser – um das zu erraten, brauchten die Chiemseer das Gras nicht wachsen zu hören. Ob da nicht schon ein Dutzend losgeritten waren? Oder hatten sie auf gutem Boden den Wald umsprungen? Und lauerten da draußen, wo es noch hell war?

Während diese flinken Gedanken durch das Hirn des Malimmes zuckten, fühlte er plötzlich den Arm des Buben um seinen Hals. Mürrisch entzog er sich dieser dankenden Zärtlichkeit, bei der unter dem Gehops des Rittes die stählernen Schienen klapperten.

Nahe dem Waldsaum verhielt Malimmes die Gäule. Jul, in seiner Sorge um jene, die beim Seipelstorfer in der Falle saßen, bettelte heiß: »Tu reiten! Jesus, Mensch, so tu doch reiten!«

Der Söldner lachte ein bißchen. »Dir wird das Reiten heut noch genug werden!« Er sprang aus dem Sattel. »Da bleib! Und tu die Gäul halten! Wenn du mich pfeifen hörst, so komm!« Mit der Hand strich er über die Wunde des Falben hin; der zückte kaum merklich; also war's nicht schlimm. Dann sprang Malimmes davon, mit einer sonderbar steifen Kopfhaltung, Im Springen riß er am Küraß die Schnallen auf und schälte den Rückenteil herunter. Der eine Bolz hatte nur eine Dulle geschlagen, der andere war durchs Eisen gegangen und saß wie festgeschmiedet. »Du Luder! Einen Zoll tiefer – und wo läg der Bub?« Der Bolz war nicht herauszuziehen. Mit einem Stein mußte Malimmes außen den gefiederten Schaft und innen die birkenblattförmige Klinge vom Küraß schlagen. Er griff am Rücken unter das Wams hinauf. »Teufel, da nässelet's ein lützel!« Im Weiterspringen schnallte er sich den Stahl wieder um den Buckel. Am Waldsaum blieb er stehen und spähte. Ebene Wiesen bis zum Uferinger Moor hin. Nur kleine Stauden, hinter denen kein Kind sich hätte verstecken können. Malimmes pfiff. Als Jul mit den Gäulen aus dem Walde kam, bot ihm der Söldner die mit Wasser gefüllte Eisenschaller hinauf. »So, Bub, trink!«

Jul beugte sich herunter. »Vergelt's Gott!«

Dann soff Malimmes. Von dem, was in der Schaller blieb, spritzte er dem Buben eine Handvoll ins Gesicht, den Rest goß er sich über Kopf und Nacken hinunter. Und wieder hinauf in den Sattel. Nun tranken die Gäule. Gierig schlürften sie von dem Grabenwasser, in dem sich der gelbe Himmel spiegelte.

»Los! Jetzt allweil hinter mir!«

Die zwei dunklen Reitergestalten jagten über die feuchten, fein dampfenden Wiesen hin. Im Uferinger Moor, das sie umreiten mußten, sangen die Frösche den wundervollen Abend an. Bei diesem Lied der Dämmerstunde wurde Jul von einer quälenden Erinnerung befallen. Die nassen Tropfen, die von seinem vorgebeugten Gesicht über den Hals des Falben rollten – das waren nicht nur die Tropfen des Reiterschweißes.

Nun eine gute Straße. Sanft wogende Ährenfelder in der letzten Farbe des Lichtes. Einzelne Hütten, kleine, friedsame Dörfer. Manchmal ein zärtliches Paar, das sich hinter Stauden verlor. Und vor den Haustüren heiterschwatzende Menschen, die stumm wurden, wenn die Reiter kamen.

Der Himmel hatte noch milde Helle. Über der Erde lag schon ein stilles Grau, als die beiden den See von Waging gleich einem großen, weißen Schneefleck in der Dämmerung liegen sahen.

Es kam ein dunkler Wald, in den der Straßenboden wie ein mattgrauer Strich hineinlief. »Bub! Voraus!« Malimmes hatte eine so heisere Stimme wie der Jungherr Someiner. »Und nimm das Eisen!« Stumm gehorchte Jul. Und als er den Falben voraustrieb, blieb der Ingolstädter für einige Sprünge an seiner Seite. Die von Erregung gewürgte Stimme des Söldners raunte: »Vergiß nit, was du gelobt hast! Wenn ich ›Fürwärts!‹ schrei, so schau dich nimmer um. Da reit, reit, reit! Allweil der guten Straß nach. Und kommst du nach Burghausen, so mußt du dem Herzog melden –«

Jetzt wollte Malimmes die Wahrheit sagen, die ganze. Aber da reichte die Zeit nimmer. In der Finsternis des Waldes war's lebendig geworden. Von beiden Seiten rasselten die schwarzen Klumpen der Chiemseer gegen die Straße her. Wie ein Irrsinniger fing Malimmes zu brüllen an: »Bub, fürwärts! Fürwärts! Fürwärts!« Er riß den Ingolstädter herum und versetzte dem Falben noch einen wütenden Fußtritt. Schnaubend raste der schlanke Gaul des Buben davon. Und Malimmes sperrte mit dem kreisenden Bidenhänder die Straße. Geschrei und Flüche, das Stampfen und Keuchen der auf einen Haufen zusammengedrängten Gäule, klirrendes Eisen, das Gerassel der Platten und Schienen. In der Dunkelheit ein Funkensprühen wie vom Amboß eines Schmiedes. Ein schwarzer Eisenbrocken kollerte über den Wegrain – Malimmes hatte einen der Angreifer aus dem Sattel gestochen. Der reiterlos gewordene Gaul, der immer nach hinten ausschlug, raste durch die Finsternis davon. Und im Straßengraben gurgelte der schwer Verwundete mit junger Stimme: »Aschacher, hilf mir – Aschacher – Aschacher –«

Da jagte Jul gegen diesen tobenden Knäuel her. Nicht nur die zerrenden Fäuste des Buben, der dem Malimmes beispringen wollte, hatten den Gaul gewendet. Der Falbe war selber umgekehrt, weil er als guter Kamerad den Ingolstädter suchte. In Gaul und Reiter war der gleiche Wille. Die Stimme des Buben schrillte: »Gesell, ich komm!« Er hörte noch den wütenden Schrei des Malimmes, dieses zornig keuchende »Fürwärts! Fürwärts!« Aber da schlug er schon mit dem Eisen drein, zum erstenmal erfüllt von einem Wunsch, der töten mußte, weil er helfen wollte. Ein gellender Laut – ein stürzender Mensch, ein Roß, das sich überschlug – dann war es dem Buben, als fiele plötzlich etwas Fürchterliches über seinen Kopf, so schwer wie ein Berg. Unter dem Schwinden seiner Sinne fühlte er noch, daß er den Sattel verlor und im Sturz von einer starken Faust hinübergerissen wurde auf einen anderen Gaul. Dann war vor seinen Augen eine farbige Nacht. Und jene schmerzvolle Stimme, die im Straßengraben stöhnte: »Aschacher, hilf mir, Aschacher, Aschacher!« – diese Stimme blieb in dunkler Ferne zurück und erlosch wie ein starkes Kinderwimmern in der Finsternis.

Verfolgt von schreienden Reitern, an seiner Brust den ohnmächtigen Buben umklammernd, jagte Malimmes auf keuchendem Roß in den schütteren Wald hinein, dem matten Schimmer entgegen, mit dem der Waginger See hinter schwarzen Bäumen blinkte.

3

Im schmerzenden Gehirn des Jul ein zusammenhangloses Gewirr von grau umschleierten Bildern. Dazu ein Gerüttel, das beim Jagen des Gaules zu schaukelndem Fliegen wird; ein quälendes Anprallen der Arme und Beine gegen schwarze Baumstämme; zärtliche Laute des Malimmes und grimmige Flüche; Geklirr von Waffen und der Todesschrei eines Erschlagenen; ein Niedersausen durch dämmernde Luft; der Sturz in den kalten See; ein würgendes Wasserschlucken; jetzt ein Auftauchen, ein peinvolles Erwachen; ein Rauschen und Plätschern; schwarz und triefend beugt sich ein Gesicht unter heißem Geflüster über den stöhnenden Buben her; die Hufschläge klirren über festes Land; immer keucht und hämmert ein Roß; und noch ein zweiter Gaul ist da, der in Kreisen läuft und so schmetternd wiehert, als wär's der Falbe! Alles schwere Eisen löst sich vom gerüttelten Leib – Malimmes reißt dem Buben die Wehrstücke herunter und schleudert sie in die Nacht hinaus – die gequälte Brust kann leichter atmen, nur diese eiserne Pein um die Stirn herum ist immer da und ist wie ein Schmerz, an dem man sterben muß.

Ist das der Tod? Dieses müde, auch unter Qual noch wohlige Dämmern? Und träumen die Toten? Träumen sie von glühenden Küssen auf Wangen und Augen? Hat der Tod zwei starke, harte Arme, mit denen er die Gestorbenen an seinem stählernen Herzen wiegt? Ist der Tod ein Reiter? Ein ruheloser Reiter? Warum brüllt der Tod mit so fürchterlicher Stimme: »Kohlmann, stoß mir das Kienholz in deinen Meiler!« Jetzt lacht der Tod, als hätte er das Lachen von Malimmes gelernt. Und ein Feuer ist da, dicht vor den Augen, immer tanzt es und gaukelt. Neben dem Feuer flammt ein zweites auf. Und eins von diesen beiden Feuern wird ein brennender Stern, der schön davonfliegt. Immer reitet der Tod. Und immer wieder sind diese beiden Flammen da, und wieder wirbelt eine von ihnen in die schwarze Nacht hinaus. Hinter dem reitenden Tode schreien verzweifelte Menschen. Und wo sie schreien, dort muß das Leben sein, dost ist es so hell, wie brennende Häuser sind.

Der Tod wird müde. Er reitet langsam. Nun ist er daheim, in tiefer Finsternis. Eine ferne, ferne Stimme: »Höi, Bäurin, komm her, sei so gut und hilf mir den Buben tragen!« Es lösen sich Stricke und Ketten, die wie schneidende Schmerzen waren. Da rauscht ein Bach, dessen Wellen wie Eisen klingen. In der Wohnung des Todes gibt es viele Gepanzerte auf schwarzen Rossen. Unter den Kriegsleuten des Todes muß Malimmes sein. Man hört ihn reden. Seine Stimme ist greisenhaft. Und plötzlich kreischt eine andere Stimme in schrillendem Zorn: »Den Törring zerreib ich auf Mus! Die Chiemseer sollen ihr eigenes Wasser saufen. Gott soll's wollen!« Und dann ist alles eine schwarze Nacht, ein martervolles Schweigen.

Kann man sich bewegen in einem Grab? Leiden auch die Toten noch Schmerzen, unerträgliche Schmerzen in allen Gelenken? Schmeckt die Erde, die ein Toter im Munde hat, nach Zimmet und gewürztem Wein? Liegt man im Grab auf linden Decken und Kissen? Glüht in der Wohnung des Todes ein rotes Kohlenfeuer? Haust der Tod in einer armen, kleinen Bauernstube mit winzigem Fensterloch, durch das die mager gewordene Sichel des Mondes hereinblickt? Und wie das seltsam ist, daß die Toten nicht einsam sind! Immer ist einer da, der sie mit zitterndem Arm umschlungen hält, nach Schweiß und mooriger Erde riecht und einen heißen Atem hat.

Ein sanftes. Rütteln an den Schultern des erwachenden Buben. Und eine bettelnde Stimme: »Kennst du mich noch allweil nit?«

»Malimmes?«

Da lachte ein Glücklicher: »Heilige Mutter, hab ich jetzt noch ein Quentl Speck am Leib, so laß ich mir's aussieden auf ein Kerzl für dich!« Malimmes sprang zu dem niederen Herd, auf dem das Kopienfeuer züngelte, und brachte in einer Kupferschale was Dampfendes, das nach Wein und Gewürzen roch. »Geh, tu noch ein Schlückl! Das mischt dir das müde Blut schön auf.«

Der Bub, als er getrunken hatte, sah wirr umher und tastete an seinem Körper herum.

»Nichts, Bub, nichts! Du bist gesund an allen Gliedern. Ein lützel verprellt und übermüdet. Dritthalb Stund so hängen müssen, vor mir, auf dem Sattelknopf – das zerbröselt einem die Knochen.«

Noch immer tastete der Bub. Nun schrie er wie ein Menschenkind, dessen Seele verzweifelt: »Mein Helm? Mein Helm?«

»Ist alles da!« Ein müdes und leises Lachen. »Seinen Helm hast du, auf seinem Gaul bist du gehangen, in seinem Bett bist du gelegen. Jetzt brauchst du ihn bloß selber noch.«

Jul schien nicht zu hören. Immer griffen seine Hände. »Mein Helm? Mein Helm?«

»So schau doch, da drüben liegt er! Dein ganzes Wehrzeug hab ich verschmeißen müssen beim Ritt. Bloß dein Eisenhütl hat nit auslassen. Das hat dir so ein Chiemseer Lauskerl aufs Köpfl gedroschen, daß ich mit der Bäuerin ihrer Beißzang das Schirmdach, hab aufzwicken müssen. Aber geh, komm, Bub, tu noch ein Schlückl! Unter deinem Haardächl nebelt's noch allweil ein lützel.« Malimmes hob die Kupferschale an den Mund des Buben.

Jul erwachte völlig. »Der Vater? Was ist mit dem Vater?«

»Tu nit Angst haben! Der Herzog reitet schon. Vierhundert Harnischer sausen. Wir haben die zweite Morgenstund. Eh's wieder nächtet, ist der Vater bei dir.«

Da wurde der Bub ruhiger, fiel auf die groben Kissen hin und atmete tief. »Wo bin ich denn?«

»In Raitenhaslach. Da ist Burghausen nit weit.«

Die Sinne des Buben schienen wieder zu erlöschen. Oder kam in seiner Erschöpfung der Schlummer?

Malimmes rüttelte ihn heftig an den Schultern. »Nit schlafen! Tu dich aufrichten!«

Jul versuchte sich aufzuheben und fiel mit übereinander gebissenen Zähnen wieder auf die Kissen hin. »Ich kann nit.«

»Wollen mußt du! Dann geht's.« Malimmes faßte den Buben unter den Ellenbogen. Und da konnte Jul sich aufrichten. »Gelt, es geht?« Malimmes lachte. »Ich bring dich schon wieder zu Kräften. Aber ein lützel gescheit mußt du sein! Gelt ja?«

Jul nickte unter schweren Atemzügen.

»So komm!« Malimmes wollte das lederne Wams des Buben öffnen.

Der wehrte sich erschrocken. »Mensch! Was tust du mir?«

»Hast nit gesagt, du willst gescheit sein? Anders kann ich nit helfen. Da mußt du den Kittel wegtun lassen. Und alles.«

In Scham und Erschöpfung zitternd, sah Jul den Söldner mit flehenden Augen an.

Malimmes sagte ruhig: »Bist doch ein Bub! Nit? Da mußt du auch tun können wie ein Mannsbild. Und hab nit Sorg! Es ist niemand im Haus. Der Bauer und sein Bub haben mit dem Herzog fort müssen. Und die Bäurin hab ich nach Burghausen geschickt. Du brauchst doch einen neuen Küraß. Nit?«

Zitternd klammerte Jul am Hals die Lappen des Lederwamses übereinander.

»Geh, wirst dich doch nit scheuen vor mir? Ich bin dein Blutgesell und Zeltkamerad. Das ist heiliger als ein Bruder. Komm, Gesell, tu dir helfen lassen! Oder morgen bist du so starr wie ein Stückl Holz. Und mußt liegenbleiben und kannst nit mitreiten, wenn der Bauer kommt.«

Ein mühsamer Atemzug. »Tu dich umdrehen.«

»Ich geh zum Brunnen um Wasser. Aber tu nit umfallen! Jetzt mußt du aufrecht bleiben.« Malimmes nahm einen hölzernen Zuber, der neben dem müden Herdfeuerchen stand, und verließ die Stube. Als er nach einer Weile wiederkam, war auf dem Herd keine Flamme mehr. Und Jul stand mit geschlossenen Augen da, in den Mantel des Söldners gewickelt.

»Komm, laß aus!« Malimmes faßte den Mantel. Von den paar Kohlen, die auf dem Herd noch glühten, und von dem schwachen Mondlicht, das durch die Fensterlöcher hereinflimmerte, war eine matte Helle in dem schwülen Raum. Malimmes sagte leise: »Was für ein feiner Bub du bist!« Dann goß er das kalte Wasser über den schlanken, schauernden Körper hin und begann mit einem nassen Tuch die Arme, den Rücken und die Beine zu schlagen. Er wickelte das Tuch um seine Faust und rieb, bis die Haut an allen Gelenken zu glühen begann. »Paß auf jetzt! Das wird dir ein lützel weh tun. Aber es hilft. So hab ich auf dem Schwarzeneck dem Bauer geholfen. Weißt du's nimmer?« Er nahm des Buben Kinn in seine Linke, drückte ihm den Kopf in den Nacken und führte mit der Schneide der rechten Hand drei feste Schläge gegen eine Stelle des Rückgrats.

Jul drohte niederzubrechen. Aber Malimmes hielt ihn aufrecht. »So! Jetzt mach ein paar feste Schrittlen! – Also? Wie geht's?«

»Viel besser.«

»Gelt ja?« Ein glückliches Lachen. Und Malimmes wickelte seinen Mantel um den Buben, hüllte ihn noch fest in eine Pferdekotze, hob den Zitternden auf seine Arme, trug ihn zum Lager hin und legte ihn achtsam auf die Kissen. »So, lieber Gesell! Jetzt schlaf! Gut Nacht! Wenn's Tag ist, komm ich wieder.«

Draußen vor der Türe stieß er seinen schweren Dolch als Riegel in den Pfosten. Auf der Hausschwelle stand eine Laterne. Die nahm er und ging in die Scheune, um nach den Gäulen zu sehen. Wie müde Hunde lagen sie im Stroh, ließen die Bäuche auf und nieder gehen und streckten die starren Beine von sich. Dicke Blutkrusten standen auf ihren Fleischwunden. Und der Burghausener Falbe, der eine zärtliche Seele hatte, lag mit verdrehter Kehle auf dem Hals des Ingolstädters.

Wie ein Schlafwandler legte Malimmes den Gäulen das Futter vor die Schnauzen hin. Die Tiere rührten sich nicht. Sie ließen nur ein bißchen die vorgequollenen Augen rollen, als er einen dicken Strohbusch nahm und davonging. Den trug er in den Hausflur und warf ihn vor der Stubentür auf den Lehmboden. Und wollte noch eine Garbe holen, um besser zu liegen. Bevor er die Scheune erreichte, mußte er sich gegen die Mauer lehnen.

Die Nacht unter der kleinen Sichel des Mondes war aschengrau.

Irgendwo ein rotglostender Feuerschein. Und verschwommene Stimmen in der Ferne.

»Die schlafen auch nit!« Mit tappenden Schritten, die Fäuste gegen seine schmerzenden Lenden pressend, ging Malimmes zur Scheune. Als er mit der Laterne und dem Strohbündel wieder herauskam, fing sein gebeugter Körper zu taumeln an. »Höia, guck!« Seine Zunge war schwer; doch seine Stimme hatte noch heiteren Klang. »Ich kenn mich aus. In einem Keller bin ich und hab gesoffen. Ich schlechter Kerl! Jetzt komm ich an die Luft –« Er ließ das Stroh und die Laterne fallen und wollte zum Brunnen, wollte den Kopf in kaltes Wasser stecken. Auf halbem Wege stürzte er lautlos über den Rasen hin.

Der Morgen begann zu dämmern.

Vom Tal der Salzach näherte sich ein dumpfes Pochen und Knattern, ein lärmendes Stimmengewirr.

Im Erwachen des Tages, dessen östlicher Himmel übergössen war vom Feuerblut der kommenden Sonne, zog an dem einsamen Bauernhaus ein langer Zug von Spießknechten vorüber, mit schweren Hauptbüchsen, mit gaukelnden Antwerken und Sturmkatzen, mit einer fast endlosen Zeile von Troßkarren. Hinter dem singenden Schwärm der Heerweiber kam als letztes Schwänzlein dieses Kriegsungeheuers noch der hohe Blachenwagen des Feldschers angefahren und hielt vor dem Gehöft. Es stieg eine alte Bäuerin aus, der man einen klirrenden Pack herunterreichte. Munter schwatzte das Weiblein noch mit einem, der unter der Blache hockte. Dann lud es den Pack auf den Rücken und ging zum Haus.

Neben dem Brunnen sah die Bäuerin den Malimmes im Grase liegen. Sie warf den Pack zu Boden, erkannte an dem Bewußtlosen eine Spur von Leben und rannte schreiend hinter dem Blachwagen her. Der Feldscher wollte nicht aus seinem Karrenbett heraus und wurde erst barmherzig, als die Bäuerin beteuerte, das wär' ein herzoglicher Harnischer, den Herr Heinrich in der Nacht geküßt hätte, zum Dank für kostbare Botschaft. Jetzt bekam es der Mann im Karren eilig. Einen, den der Herzog küßte, darf man nicht sterben lassen.

Es dauerte lang, bis der Feldscher, seine zwei Gehilfen und die Bäuerin den Söldner wieder zum taumelndem Leben brachten. Sie setzten ihn auf den Brunnen und ließen den kalten Strahl über seinen Kopf herunterplätschern. Unter dem Gepritschel des Wassers fing Malimmes zu lallen an: »Daß mir keiner hinein? rennt in die Stub! Oder ich hack das Luder auf Würst zusammen.«

Die viere mußten lachen, weil dieser grimmig Drohende doch selber ein bißchen wie Wurstfleisch aussah. Sein Gewand war starr von eingetrocknetem Blut. Als sie das Wams heruntergezogen hatten, gab's eine Heiterkeit. Denn dieser Brocken Mannsbild stak mit seinem sehnigen, rot überronnenen Leib in einem Weibsbilderhemd, das an den Achseln gehäkelte Spitzen und vor der Brust einen himmelblauen Bändel hatte. Doch hinter dem Lachen kam ein barmherziger Schreck. Während man dem Söldner das nette Hemd über den Kopf herunterschälte, kreischte die Bäuerin: »O du heilige Mutter, das ist ja kein Pfaid nimmer, das ist doch ein Sieb!«

»Flick's halt wieder!« brummte Malimmes. »Ich schenk dir's. Da hast du was Feines für die hohen Feiertäg.«

Die Bäuerin konnte nicht lachen. Auch der Feldscher, als der diesen von der Bolzenklinge zersägten Rücken und die Wunden an Schultern und Armen sah, machte ein ernstes Gesicht. »Kerl, gegen dich ist der heilig Sebastian am Marterpfahl ein unschuldigs Kindl! Da glaub ich freilich, daß es dich umgeschmissen hat.«

»So, meinst?« Malimmes stieß ein wildes, kurzes Gelächter vor sich hin. »Die paar Kratzer! Viel verstehst! Mich hat's umgeschmissen, weil ich gesund bin. Frag einen jungen Kapuziner, wie weh das tut, allweil zu einer Heiligen beten, die ein herzliebes Weibl ist!«

Die Bäuerin guckte verwundert drein. Und der Feldscher tuschelte: »Der weiß noch allweil nit, was er redet.«

Stumm nickte Malimmes.

Die Morgensonne blinzelte grell zwischen den mit Purpur gesäumten Wolkenstreifen heraus, während der Feldscher wusch und Zunder schnitt und pflasterte. Dann holte er aus seinem Blachenwagen ein richtiges Mannsbilderhemd und erbat sich dafür den Dank: »Sag deinem gnädigsten Herrn ein gutes Wörtl über mich!« Er meinte den Herzog, der den Harnischer geküßt hatte.

»Mein Herr?« Mühsam erhob sich Malimmes vom Brunnen. Hart schnaufend, spähte er in die südliche Ferne. Man sah da keine Berge, nur dunkle Wälderkämme und grauen Dunst. »Mein Herr?«

Der hohe Blachenwagen ratterte flink davon, um den verschwundenen Kriegshaufen einzuholen.

Im Flur des Bauernhauses saß Malimmes auf dem Stroh. Er lauschte. In der Stube war es still. Da sagte er leise zu der Bäuerin: »Guck durchs Fenster hinein! Und mach die Läden zu, recht still!« Unbeweglich blieb er sitzen, bis die Alte wieder kam.

»Das Bübel schlaft wie ein Iltis im Winter.«

»Vergelt's Gott, Weibl!« Malimmes fiel auf das Stroh zurück. »Im Haus muß Ruh sein! Und wenn du Zeit hast, schau nach den Gäulen!« Er tat einen müden Atemzug und drehte sich gegen die Stubenschwelle hin. Die Bäuerin holte aus ihrer Kammer ein Kissen. Als sie es brachte, schlief Malimmes schon. Sie hob seinen Kopf und schob ihm das Kissen unter den Nacken.

Während der Morgen eine dunstige Sonne bekam, klang aus der südlichen Ferne ein dumpfes Murren. Das hörte sich an, als wäre in den Bergen ein schweres Gewitter, bei dem jeder Donnerschlag hinüberrollte in den nächsten. Aber man sah im Süden kein Wettergewölk, nur einen bräunlichen Rauch, der alle Höhen umschleierte. Sehr bald verstummte das Gebrumm. Doch jenes rauchige Braun wurde um die Mittagsstunde dicker und dicker; aus dem Tal der Saalach kroch es nach der einen Seite immer weiter gegen das Salzburger Land, nach der anderen Seite immer weiter gegen den Chiemgau hin.

Unter diesen braunen Schleiern rollte der Krieg aus den Bergen heraus in das ebene Land.

Als der trübe Abend dämmerte, bekam der ferne Dunst eine rötliche Färbung. Sie kam vom Widerscheine brennender Dörfer und vom Feuerglanz der flammenden Haferfelder, die am verwichenen Nachmittag zu Füßen des Untersberges noch geleuchtet, hatten wie goldene Schüsseln des Friedens.

Im Dunkel zwischen Abend und Nacht wurde Malimmes, der noch immer schlief wie ein Klotz, von der Bäuerin aufgerüttelt: »Jesus, Mensch, so spring doch hinaus und guck, was da los ist in der Welt!«

Im Erwachen fuhr Malimmes mit beiden Händen nach dem Mund des Weibes. »Wirst du deinen Schnabel halten!« Er lauschte gegen die Stube. »Komm!« Mit starren Knochen richtete er sich auf, drehte die Gelenke und streckte die Beine. Das Gehen wurde ihm sauer. Und immer spürte er etwas an seinem Hinterkopf wie das Pochen eines kleinen Hammers. Die Kopfwunde, die ihm der Hautschneider beim Hallturm zugenäht hatte, fing zu eitern an. Das machte ihn mißmutig. Doch als er draußen unter dem dichtverhangenen Himmel stand und das Glutspiel der südlichen Ferne sah, fuhr ihm ein froher Schrei aus der Kehle: »Höia! Mein Herr ist ledig! Die Fall ist in Scherben geschlagen.«

Das ferne Gemisch von Rauch und Wolken glutete wie Abendröte, die sich versäumt hat bis in die Nacht hinein. In der matt zerflossenen Farbe sah man kleine, hellere Glutflecken. Drei lagen dicht beisammen, die Feuermale von Marzoll, Piding und Aufham. Diese Dörfer gehörten dem Herzog Heinrich – da hatten wohl die von Salzburg, der Törring und die Chiemseer den heißen Gockel fliegen lassen. Und deutlich unterschied man unter dem Gewölk zwei lange Glutgassen: Die eine züngelte gegen die Lande des Törring hin – da war wohl Herzog Heinrich dem bayrischen Oberstjägermeister hinter den Waden und machte ihm die Lehensdächer warm; die andere streckte sich gegen den Chiemsee – da peitschte der Seipelstorfer die Chorbrüder des heiligen Peter nach Hause und brannte die Steuerbüchsen der geistlichen Herren aus. Oder umgekehrt. Man konnte unter den rötlich angestrahlten Wolken an die dreißig von diesen kleinen, helleren Glutflecken zählen. So viel leuchtende Scheinkreise da droben am Himmel waren, so viele Dörfer brannten auf der Erde.

Nur dieser rotgewordene Himmel erzählte. Den Brand in der fernen Menschentiefe verdeckten die waldigen Hügel. Aber die alte Bäuerin, deren Hausdach um der Fehden ihres gnädigsten Herzogs willen schon dreimal in Feuer aufgegangen war, sah auch diese unsichtbaren Flammen, sah tausend armgewordene, schreiende, verzweifelte Menschen und fing in Sorge und Barmherzigkeit zu klagen und zu beten an, zu fluchen und hilflos zu weinen.

»Ja, Weibl! Krieg ist in der Welt!« sagte Malimmes hart. »Und übers Jahr ist das schöne Bayerland ein Wurmloch und Äschenhaufen. Da kannst du ein Menschenherz billiger haben als einen Hennendreck.« Er ging zur Scheune. Die jammernde Bäuerin hinter ihm her. Von ihrem gnädigsten Herzog sprach sie noch immer ehrerbietig; doch dem Ingolstädter wünschte sie die übelsten Krankheiten an den Hals. »Sind Vettersleut, die zwei Herren! Sollten wie Brüder sein!«

»Brüder? So? Brüder speien einander ins Gesicht.« Malimmes trat in den Stall, in dem die Laterne brannte. Der Burghausener Falbe und der Ingolstädter hatten sich leidlich erholt, standen auf steif gespreizten Beinen, lehnten sich mit den Schultern gegeneinander und kauten einträchtig ihr ungeteiltes Heu. »Sind Viecher nit gescheiter wie Menschen? Guck her da! So sollt man die gnädigen Vettern aneinander halftern, bis sie friedsam fressen lernen aus der gleichen Kripp.« Er tränkte die Gäule, wusch ihre Wunden und legte Spinnweben drauf, die ihm die Bäuerin aus den Winkeln des Stalles in reichlicher Menge herbeiholte. Dann nahm er die Laterne. »Hast du was Gutes im Haus? Jetzt muß ich für den Buben kochen.« Die Bäuerin erbot sich gleich: Das wäre doch Arbeit für eine Weiberhand. Er lachte. »Ungekostet, ich kann's besser wie du! Und mein feiner Gesell hat heut ein heikliges Mäglein. Mit dem Buben sei fürsichtig, Weibl! Sein Vater ist so reich, daß man an seinem Erbgut den Zaun nimmer sieht.« Barfüßig trat Malimmes in die stille Stube und hängte über dem Herd die Laterne an einen Balkennagel. Lautlos ging er auf das Lager zu.

Jul schlief, wie Kinder schlafen, mit den Fäusten vor den Augen. Gleich einem dicken Mäntelchen lag das schwarze Haar um die heiße Wange her. Unter den Decken machten die Beine manchmal eine zuckende Bewegung. Und die nackte Schulter hatte sich ein bißchen herausgeschoben. Malimmes zog sein Wams herunter und hüllte das linde Leder achtsam über die rosige Blöße. Dann ging er zum Herd, legte dünnes Astwerk übereinander und entzündete am Laternenlicht einen Span. Das Feuerchen züngelte. Und Malimmes schürte die Flamme nur mit Reisig. Weil die Scheite krachen.

Auch die Bäuerin, als sie das Beste aus ihren Schränken: brachte, mußte barfuß gehen. Kein Wort durfte sie reden. Aber während sie zuguckte, wie geschickt und reinlich Malimmes kochte, mußte sie doch in ihrem Staunen flüstern: »Von dir kann ein Weibsbild lernen. Nit ein einzigsmal hast du beim Kochen die Näs mit der Hand geputzt. Allweil mit dem Ärmel. Und, den Kopf hast schön auf die Seit getan, daß kein Schweißtröpfel nit in die Supp fallt.«

»Das hab ich dem Hofkoch des deutschen Königs abgeschaut. Der hat's allweil so gemacht, solang er nit allein in der Kuchl gewesen ist.« Malimmes machte es aber auch so, nachdem er die Bäuerin aus der Stube geschickt hatte. Und als der Würzwein dampfte und die reichliche Mahlzeit fertig war, ging er zum Lager hin, ließ sich etwas sperrig auf den Lehmboden nieder und schob seinen Arm unter den Nacken des schlummernden Gesellen.

Jul tat die großen, blauen Augen auf und fragte: »Ist er schon da?«

»Noch nit.« Lächelnd verschluckte Malimmes einen Tag. »Ist ja noch allweil Nacht. Vor Abend kann der Bauer nit kommen. Der reitet im Häuf. Da geht's nit so geschwind wie bei uns. Auch mußt du dich richtig ausschlafen, eh du wieder in den Sattel kommst. Jetzt mußt du essen und trinken. Ist alles schon fertig. Und ich mein', nit schlecht. Ich selber hab aufgekocht.«

Erschrocken fragte Jul. »Hast du denn nit geschlafen?«

»Ein lützel, freilich! Wenn wir gegessen haben, streck ich mich gleich wieder auf die Haut. Jetzt hab ich kochen müssen.«

Da legte Jul den nackten Arm um den Hals des Malimmes und schmiegte die Wange an seine Schulter. »Wie ein Bruder bist du zu mir!«

Ein müdes Lächeln. »Nit ganz.« Er wollte den halb noch Liegenden aufrichten und das lederne Wams fortschieben. Der Bub hielt es fest an seinem Hals. »Geh«, sagte Malimmes, »das ist, doch mein Kittel. Den mußt du wegtun. Ich sorg, er stinkt ein lützel nach –« Fast wäre ihm das herausgefahren: »Nach Schweiß und Blut.« Doch er sagte: »Nach meiner Reitermüh.«

Jul sah den Söldner an, mit einem herzlichen Glanz in den Augen. Und plötzlich drückte er in stummer Dankbarkeit das Gesicht auf dieses mürbe Leder.

Malimmes erhob sich schweigend und ging zum Herd. Seine Hände zitterten, während er die heiße Suppe aus dem irdenen Hafen in die zinnerne Schüssel goß. Dabei sagte er ruhig: »Ich mein', du solltest dich ein lützel anziehen. Die Nacht ist kühl. Ich rühr derweil das Ei in die Supp.«

Nach einer Weile sagte Jul: »Kannst schon kommen.« Er saß auf dem Lager, in Wams und Reithosen, mit nackten Füßen.

Lachend fragte Malimmes: »Was machen die Knöchelen?«

»So viel gut ist mir.«

»Gelt, ja« Der Söldner zog einen dreibeinigen Schemel vor das Lager hin und stellte die Schüssel drauf. Nun hockten sie bei dem zitternden Schein des kleinen Feuers nebeneinander, löffelten die Suppe und aßen Brot und geschmortes Rauchfleisch.

Da sagte Jul, ganz leise: »Die drei schneidigen Streich, die du mir auf den Rucken gegeben hast? Wie kommt das, Malimmes? Mir ist gewesen, als tät ich jäh wieder aufleben.«

»Ja, das ist seltsam! Gelt? Warum das so ist, das weiß ich nit. Aber helfen tut's. Nie, wenn einer Wunden hat. Bloß allweil, wenn kein Blut geronnen ist, und wenn einer vor Schwäch verscheinen will. So hab ich schon oft wieder einen lebig gemacht. Das hat mir einer gewiesen einmal, im Ungerland, einer, der in Jerusalem gewesen ist.« Malimmes griff nach dem Nacken des Jul. »Spürst du das Plätzl, wo ich den Daumen hab?«

»Wohl.«

»Das tu dir merken! Von da mußt abwärts zählen um sieben Wirbel. Dort ist das Fleckl, wo man hinschlagen muß, dreimal, fest und schneidig.« Malimmes dämpfte die Stimme. »Dir sag ich's, Bub! Das ist ein kostbar Ding. Ich hab's noch keinem verraten. Du bist der einzige, dem ich's gönn.«

Mit großen Augen, wie berührt vom Hauch eines alten Geheimnisses, sah Jul den Söldner an und sagte tief atmend: »In dir ist viel, was stark ist. Du solltest Medikus werden und allweil helfen.«

Malimmes schüttelte streng den Kopf. »Jeder ist der Hilf nit wert.« Er lachte scharf. »Oft hat's ein Gutes, wenn dem Erdboden leichter wird.«

Staunen und Kümmernis waren in den Augen des Buben. »Du pst aber gar nit reden, wie –«

»Wie wer?«

»Wie ein Christ.«

»Und du nit wie ein Mannsbild.« Lächelnd faßte Malimmes das Gesicht des Jul zwischen seine schweren Hände, mit einem linden Griff, und sagte zärtlich: »Bist nit die erste, die mich schilt. Und wirst nit die letzte sein. Aber komm –« Er trug das Geschirr zum Herde. »Jetzt kriegst du den Würzwein. Nachher mußt du wieder schlafen. Aber magst du nit erst ein paar hundert Schrittlein machen draußen in der frischen Luft? Brauchst die Reitstiefel nit antun. Da stehen der Bäuerin ihre Schlorpen. Und draußen ist trücken Wetter.« Als Malimmes dem Buben die plumpen Patschen unter die schöngeformten Füße schob, sagte er lustig: »Guck! Da haben sich jetzt zwei weiße Mäuslein verschloffen, jedes in einem Kälberstall.«

Der Bub, dem ein dunkles Erröten über die Wangen geflossen war, legte dem Söldner die beiden Hände auf die Schulten. »Wenn alle Unchristen sind wie du, so müssen sie auch in den Himmel kommen.« Er nahm den Mantel des Malimmes um, ging zur Tür und trat in die Nacht hinaus.

Der Söldner blieb auf den Knien liegen, sah die Tür an und schmunzelte. Dann begann er vorsichtig an seinem Hinterkopf herumzutasten und verzog das Gesicht ein bißchen. »Ui, da ist Butter drin!« Langsam erhob er sich, schüttelte das Lager des Buben auf, nahm einen festen Trunk von dem Würzwein, füllte die kupfernde Schale wieder und stellte sie auf den dreibeinigen Schemel hin.

Mit Sorge in den Augen kam Jul zur Türe herein. »Du! Der ganze Himmel ist rot, gegen das Bergland hin.«

»So ist's oft am Morgen, im Flachland, wenn das Wetter umschlagen will. Du, vom Bergland, du kennst das nit.«

Jul atmete erleichtert auf.

»Aber komm! Dein Bett ist wieder lind. Und trink fest! Da schlafst du bald ein.«

In den Kleidern streckte der Bub sich auf das Lager hin. Und trank. Und ließ sich zurückfallen auf das Kissen. Malimmes blieb sitzen bei ihm. Ein langes Schweigen war, während auf dem Herd das kleine Feuer in Glut versank. Plötzlich sagte der Bub wie mit erwürgtem Schrei: »Allweil muß ich denken an ihn.«

»Sorg brauchst du um den Bauren nit haben.« Malimmes lächelte. »Mit der Sonn ist der Herzog in Piding. Und alles ist gut. Da sind die Feindlichen und die Bayrischen einander gleich, nehmen Vernunft an und reden den Frieden aus.«

»Wenn ich seh, wie ruhig du bist, kann ich auch wieder schnaufen.«

»Gelt ja? Und komm, trink wieder ein Schlückl!« Malimmes hob dem Buben die Schale an den Mund. Als er sie wieder auf den Schemel stellte, fragte er: »Denkst du neben dem Bauren nit auch noch an wen?«

Nach einer Weile die leisen Worte: »Wohl! An unsere Leut!«

»Ich hab mir eh gedacht, daß du an die nit vergessen wirst.«

Wieder ein langes Schweigen. Dann umklammerte Jul die Faust des Malimmes. »An alles, wie's gewesen ist am Abend, kann ich mich nimmer besinnen. Aber eins ist allweil in mir. Allweil hör ich einen Namen. Aschacher, Aschacher, Aschacher! Hast du den Namen nit auch gehört? Gestern? Beim See von Waging? Aschacher, Aschacher, Aschacher! So hat in Schmerzen ein Mensch geschrien, ich weiß nit, wer.«

Malimmes schüttelte den Kopf. »Ohren hab ich doch auch.« Tiefer Ernst war in seiner ruhigen Stimme. »Nein, Bub, das mußt du geträumt haben.«

Leis sagte Jul: »Kann sein. Weil ich an den Namen Hartneid Aschacher allweil denken muß, derzeit ich ein Kind gewesen.« Er atmete schwer und schloß die Augen.

Die Schmeerkerze in der Laterne hatte einen dicken Räuber und brannte trüb. Aber die Kohlen glühten. Und in diesem rötlichen Dunkel sah Malimmes die Tränen, die von den geschlossenen Lidern des Jul herunterkollerten über das strenge Knabengesicht. Schweigend erhob sich der Söldner, holte von der Fensterbank den zierlichen Helm mit den geknickten Reihergranen, mit der schweren Dulle und dem aufgezwickten Stirnblech – und stellte ihn neben das Kissen des Buben hin.

Jul fuhr auf. Doch er schwieg. Nur die großen, erschrockenen Augen fragten.

»Weißt«, sagte Malimmes, »ich stell ihn bloß her. Sonst tust du dich am End wieder sorgen drum.« Er nahm die Laterne vom Nagel, setzte sie auf den Boden hin und holte sein Wams. »Jetzt geh ich schlafen. Gut Nacht, Gesell!«

»Schlafst du nit in der Stub?«

»Die Bäurin gibt mir die Sohnkammer. Da lieg ich besser.« Er wollte in sein Wams schlüpfen, zog den Arm wieder heraus, ging auf das Lager zu, rüttelte an dem groben Linnen seines weitfaltigen Hemdärmels und sagte vorwurfsvoll: »Weil du allweil so ungläubig bist – da, greif her – ist das ein Weibsbilderpfaid, oder ist das ein Mannsbilderhemd?«

Ein Laut, kaum hörbar: »Geh, du!« Und schweigend drehte Jul das Gesicht auf die Seite.

»Also!« Malimmes warf das Wams über die Schulter, griff nach der Laterne und nahm den Bidenhänder aus der Stube mit hinaus.

Sobald die Türe geschlossen war, zog Jul mit hastigem Griff das übel zugerichtete Eisenhütel bis dicht an die Kissen her, ließ die Hand auf ihm liegen und schloß die Augen.

Er schlief bereits, als Malimmes – der noch im Stall gewesen und über die finstere Straße hinausgelauscht hatte – vor der Stubentüre sein Strohlager aufschüttete.

Der Söldner hatte eine unruhige Nacht. Wenn ihn die Sorge nicht weckte, machte ihn das Blutpochen an seiner schwärenden Wunde munter. Auf dem Hinterkopf konnte er nimmer liegen; da spürte er jeden Strohhalm wie ein Messer. Noch unbehaglicher war ihm das Liegen auf dem Bauch. Als der Morgen nur ein bißchen zu grauen anfing, stand er auf und hielt den Kopf zehn Vaterunser lang unter den Brunnenstrahl. Dann musterte er den Pack, in dem die Bäuerin das neue Wehrzeug für den Buben aus des Herzogs Rüstkammer gebracht hatte. Die Bäuerin hatte kein so gutes Augenmaß bewiesen, wie es Malimmes besaß. Am übelsten gefiel ihm der plumpe Küraß. »Gotts Teufel, da wird der Bub drin ausschauen wie ein Häslein im Wolfsmagen.« Lautlos hob er das Rüstzeug durch das Fenster in die Stube hinein, auf die Mauerbank und drückte den Laden wieder zu.

Während aus dem niedrig hängenden Graugewölk ein kühles Nebelreißen herunterging, trieb Malimmes den Gäulen die Starrheit aus den Gelenken. Er führte sie an den Halftern auf der Straße hin und her, zuerst im Schritt, dann ließ er sie traben und galoppieren. Es ging. Wieder in den Stall. Er legte das Sattelzeug auf die Gäule. Wo er sie anrührte, schütterten sie mit der wehleidig gewordenen Haut. Und immer ließen sie die Wunden zittern, um die Fliegen von den Blutkrusten zu scheuchen.

Zuerst ritt Malimmes den Falben. Als er auf der Straße schon ein paarmal gewendet hatte, verhielt er plötzlich den Gaul und spähte scharf in die hell gewordene Ferne. Im Galopp zur Haustür hin, ein Schwung aus dem Sattel, ein Griff nach dem Bidenhänder, wieder auf den Gaul, der Straße zu – und jetzt, mit dem Eisen in der Hand, jetzt glaubte Malimmes seinen Augen. Die Reiter, die da geritten kamen, an die vierzig oder fünfzig, brachten keine mordlustige Kriegerseele mit. Sehr friedfertig ritten sie einher, bei gemütlichem Schritt der müden, reichlich verpflasterten Gäule. Keine Waffe blitzte, und kein Harnisch funkelte. Der Glanz des Eisens, das sie trugen, war erloschen unter Staub, Morast und Blutrost. Die meisten hatten ihre Eisenhüte am Sattel hängen. Und neben den bunten Farben der Mäntel und Wämser war sehr viel Weiß zu sehen: Stirnverbände, Backenbinden, Schulterwülste, Armschlingen und Kniebauschen. Die vierzig oder fünfzig, die da kamen, waren Spittelreiter, die der Herzog nach Burghausen schickte.

Malimmes ließ den Falben ein paar Sprünge machen, hob den Bidenhänder und schrie mit gellender Stimme den Namen seines Herrn. Im Reiterschwarm antwortete eine rauhe Kehle, ein Arm erhob sich. Lachend warf Malimmes den Bidenhänder auf den Rasen, sprengte zum Fenster hin und rief in die Stube: »Bub! Auf! Der Bauer kommt.« In der Stube ein erstickter Freudenlaut. »Tu dich rüsten! Steht alles auf der Bank, was du brauchst. Das Eisenhütl häng an den Arm! Das mußt nit aufsetzen. Es tät dich kratzen. Tummel dich! Ich reit dem Bauer entgegen.« Er ließ den steifbeinigen Falben im feinen Geriesel des Regens über die Straße hinausklappern.

Runotter, völlig gerüstet, den rechten Arm in einer breiten Leinenschlinge, kam auf dem starr hopsenden Schimmel dem Schwarm der anderen voraus.

Die erste Frage des Malimmes war: »Herr? Sind am Arm die Flaxen noch ganz?«

»Wohl. Der Knochen hat ausgehalten. Sechs Wochen, meint der Feldscher.« Die heißen Augen des Bauern suchten. »Wo ist der Bub?«

»Der lacht. Wird gleich bei dir sein.«

Runotter atmete tief. »Vergelt's Gott!« Dann ritten sie nebeneinander zu dem einsamen Bauernhaus.

Der brennende Glanz in den Augen des Runotter schien dem Malimmes nicht zu gefallen. Er fragte in einer seltsamen Spannung: »Herr? Hast du heut schon wieder den Krug gelupft?«

»Heut bin ich nüchtern. Und gestern hab ich gelobt, daß ich außer lauterem Wasser keinen Tropfen nimmer trink, eh mein Krieg nit zu End ist.«

Die Augen des Malimmes erweiterten sich. »Dein Krieg?«

»Mein Krieg! Wohl!« Das erschöpfte Gesicht des Bauern spannte sich zu einer Strenge, die wie Andacht war. Und seine Stimme dämpfte sich. »Lus, Malimmes! Gestern, im Gefecht bei Aufham, bin ich dem Chorherren Hartneid Aschacher begegnet.«

»Hab mir's eh schon gedacht.«

»Achtzehn Jahr ist's her. Heut schaut er anders aus. Mir hat's ein Zittern in meiner Seel gesagt: Der ist's! Und wie ich das Eisen auflupf, krieg ich von einem anderen den Streich auf den Arm da. Der Aschacher ist mir entronnen. Malimmes! Jetzt weiß ich, warum Krieg ist. Daß ich den Hartneid Aschacher wieder find.«

Ein Schauer des brennenden Zornes, der in dieser Stimme zitterte, faßte auch den Malimmes. Doch er zwang sich zu einem heiteren Wort: »Freilich! Wenn nur jedes Häfelein seinen Deckel findt. Nachher ist die Welt so gut eingerichtet, daß sie der Herrgott nimmer besser hätt machen können.« Er wurde wieder ernst. »Verschweigt vor dem Buben! Der hat's eh schon im Wind gehabt. Ich hab lügen müssen.«

Der Bauer verhielt den Gaul. »Lügen?«

»Bei dem Schwarm, der uns fürgestern vor dem Waginger See in den Weg gerumpelt ist, muß der Aschacher gewesen sein. Ich hab einen adligen Jungherren in den Graben hinuntergeschlagen. Der hat mit einer süßen Stimm gekreistet: Aschacher, hilf mir! – Der und der Aschacher? Brüder sind das nit gewesen.«

»Ich versteh nit. Was meinst?«

»Sei Kriegsknecht an die achtzehn Jahr lang, nachher verstehst du schon. Einmal, da hab ich auch nit verstanden. Und bin neugierig worden. Im Clevischen.« Malimmes plusterte ein bißchen den Hals. »Aber du kommst allein? Wo sind die unseren?«

Erst nach einer Weile gab der Bauer Antwort. »Ich weiß nit. Der Altknecht ist nimmer nachgekommen. Dem Heiner haben sie im ersten Anlauf den Gaul erstochen. Kann sein, die zwei haben sich durchgeschlagen mit den Spießknechten. Kann sein, sie haben saufen müssen – von meiner Treu. Gott soll sie gnädig haben. Jetzt geht's über alles weg. Bis ich den Aschacher find.«

Von der Bauernstube klang der heiße Schrei einer Mädchenstimme. Doch aus der Haustür kam ein schlanker Bub in schwerem Eisen heraus. Und während Runotter aus dem Sattel stieg, mußte Malimmes lustig lachen, weil Jul in diesem plumpen, unpassenden Wehrzeug aussah wie ein junger Vogel, der mit kurzem Hals aus dem Kobel guckt.

Jul und Runotter standen Hand in Hand; nur ein paar Worte sprachen sie; ihre Augen redeten; und das Gesicht des Buben war weiß wie Linnen, als seine Finger über die Armbinde des anderen herunterstrichen.

Malimmes klaubte in Hast sein Zeug zusammen, hängte die Eisenschaller an seinen Arm, gab der Bäuerin die paar Silberbleche, die er im Hosensack hatte, und holte den Ingolstädter aus dem Stall.

Auf der Straße kroch der Zug der Spittelreiter vorüber; die meisten saßen stumm und gebeugt im Sattel; nur wenige schwatzten; in ihren Stimmen war Galle und Verdrossenheit; von allen, die da redeten oder schwiegen, schien keiner an diesem grauen, rieselnden Morgen den Krieg für eine fröhliche oder notwendige Sache zu halten.

Und weit über den abgemähten Wiesen draußen, gegen Süden, wo die schwarzen Dachstrünke eines als ›Weckfeuer‹ niedergebrannten Bauernhauses gegen den trüben Himmel starrten, erschien auf der Straße ein langer, brauner, wackeliger Wurm: die Reihe der vielen Karren, in denen man die Schwerverwundeten brachte, die nimmer reiten konnten; es waren auch Tote dabei, die man am verwichenen Nachmittage noch als Lebendige in das Karrenheu hinauf gehoben hatte. Manchen von diesen Ungeduldigen, die das Burghausener Spittel nimmer erwarten konnten, hatten die Karrenführer, um ihren Gäulen das Ziehen zu erleichtern, schon hinausgeworfen in die Straßengräben; aber gewissenhaft brachte man von diesen Abgeladenen alles, was Kleidung oder Wehrstück hieß, mit heim in die landsherrliche Rüstkammer. Der herzogliche Zeugmeister nahm es in solchen Dingen sehr genau; nur bei den Hemden, die man den Toten mitgab in die Ewigkeit, hielt er die Führung eines Registers für überflüssig.

Ehe der lange, braun und grau gesprenkelte Karrenwurm zu dem einsamen Bauernhause herangeschlängelt kam, waren die drei Ramsauer schon dem Trupp der Spittelreiter nachgezogen.

Immer dichter fing der Regen zu strömen an. In diesem eintönigen Rauschen erfuhr der Bub über die Sensenschmiede von Piding und Aufham die ganze Wahrheit. Sie war so hart zu hören, daß in die Augen des jungen, schlecht gewaffneten Harnischers ein Entsetzen kam. Seine Zügelhand, an deren Arm der eingebeulte Helm mit den geknickten Reihergranen hing, zitterte wie die Hand eines Fieberkranken, während Runotter in seiner kurzen, strengen Art diese roten Dinge vor sich hin sagte. –

– Hauptmann Seipelstorfer hatte die Verläßlichkeit seines Boten als eine feste Ziffer in die Rechnung jener Nacht und jenes blutigen Morgens eingestellt. Als der Abend dunkelte, ließ er die Fronbauern und den Rest der Troßleute entspringen. Beim Sperrwall blieben nur die zwanzig Schanzleute vom Hirschanger zurück, denen – wie Herr Grans behauptete – der heilige Peter die Höfe gebrandschatzt hatte. Auf den Bauernzorn dieser obdachlos Gewordenen, die den Gadnischen ihre heiße Not auch heiß wieder heimzahlen wollten, konnte Herr Seipelstorfer sich verlassen. Nach der vierten Morgenstunde, als der Himmel sich zu lichten begann, kniff der Hauptmann mit seinen Reitern aus. Das geschah nicht ohne Lärm; man konnte in der windstillen Dämmerung das Hufgestampf und Eisengerüttel weit vernehmen.

Vor den Trümmern des Hallturmes, im Aschenfelde, standen die Salzburger und der heilige Peter schon zum Sturm bereit. Hauptmann Hochenecher witterte die Lunte, die hinter der Sperrschanze brenzelte. Doch weil ihm bang wurde um die Freunde bei Aufham, Piding und Marzoll, wagte er im Vertrauen auf seine Übermacht einen Gewaltstreich und befahl in der ersten Morgenhelle den Sturm. Als die tapferen Springer die Sperrschanze erklettert hatten, sah man, daß die Bayerischen ausgerissen waren. In rasender Hast wurde eine Bresche durch die Schanze gebrochen. Und los mit der ganzen Reiterei, auf der Straße hinter dem Seipelstorfer her! Schon wollte das Fußvolk mit den Büchsen nachrücken. Da glommen kleine Feuerchen in zwanzig Buschverstecken auf, Fackeln flogen in die Reisighaufen der Sperrschanze, eine rasche Flamme rannte quer über das schmale Tal, die Bäume des Walles fingen Feuer, und eine lodernde Flamme legte sich hinter dem Reiterschwarm als unüberwindlicher Riegel vor die Salzburger Büchsen und den Haupthaufen der Spießknechte.

Für den Hochenecher gab's nur noch einen einzigen Weg: hinaus gegen Marzoll! Als die dicke Reitermasse unter der Plaienburg vorüberklirrte, fingen da droben die Faustbüchsen zu knattern an, brüllend spien die Landshuterin und die Hornaussin schwere Eisenschachteln mit Bleibrocken aus, und ruhelos knarrte die Trommelkanone. Unter schweren Verlusten geriet der Reiterhaufen in Verwirrung, spritzte gegen die schüzenden Wälder auseinander, und bevor er sich bei der Saalach wieder sammeln konnte, begann der Seipelstorfer ein grimmiges Dreinschlagen. Die Sonne war da. Herr Heinrich, den Hinterhalt vom Rücken auseinanderkeilend, rasselte über Piding herein. Und der Boden und die Saalach wurden rot, während die Berge sich einwickelten in den Qualm des flammenden Waldes und in den Rauch der brennenden Dörfer.

Dann war's gekommen, wie es Malimmes vom Himmel abgelesen hatte. Der Seipelstorfer hetzte mit Eisen und Feuer den flüchtenden Häuf der Chiemseer. Und Herr Heinrich – auch im Jähzorn noch wirtschaftlich seine Kräfte sparend – ließ die Reste vom Reitertrupp des Hochenechers und der Gadnischen hinausbrechen nach Salzburg, gegen dessen Mauern nicht aufgekommen war, und tobte brandschatzend hinter dem Törring her. Die Burg des bayerischen Oberstjägermeisters und seiner weltberühmten Jagdhunde mußte fallen, ehe die Salzburger ihr Fußvolk und ihre Büchsen über Berchtesgaden herausziehen, den Stand der Dinge überschauen und zum Entsatz des Törring heranrücken konnten. –

– Während Runotter, zwischen den beiden anderen reitend, das alles mit harten Worten hersagte, hielt Jul die Stirn so tief gebeugt, daß ihm das schwarze, vom Regen durchnäßte Haar gleich hängenden Rabenflügeln das Gesicht verhüllte. Und als der Bauer schwieg, blieb Jul noch immer so gebeugt. Er fand keinen Laut, tat keine Frage und klagte nicht. Doch die Schulterkacheln seiner Rüstung gingen knirschend auf und nieder. So mühsam atmete er. Immer wieder warf Malimmes einen Sorgenblick zu ihm hinüber.

Die Straße zog von der Raitenhaslacher Höhe hinunter in das Tal der Salzach. Für das wundervolle Bild des herzoglichen Schlosses, das wie ein geheimnisvolles Märchen hinter den Schleiern des Regens dämmerte, hatten die drei kein Auge. Sie hörten auch das Geschrei der Menschen nicht, deren wirre, aufgeregte Stimmen von den Torwerken herauftönten.

Warum hatte Runotter von den Gadnischen nichts erzählt? Kein Wort vom jungen Someiner? War da nichts Übles zu berichten? Um dem Buben die Ruhe zu geben, glaubte Malimmes eine Frage, die wie gleichgültige Neugier aussah, wagen zu dürfen: »Hast du nit gesehen, Bauer, was mit den Gadnischen gewesen ist?«

»Wohl! Und da muß ich dir ein Hartes sagen.«

»Mir bloß? Sag's!«

»Dein Bruder, als ein halb Heiler, ist mit ausgeruckt. Der liegt. Zwei von des Hauptmanns Trabanten haben ihn aus dem Sattel gestochen. Mir hast du ihn genommen. Und recht war's. Um deintwegen ist mir leid um ihn. Auch muß er arg an seiner Mutter gehangen haben. Wie's ihn auf dem Gaul überworfen hat, da hab ich ihn dreimal brüllen hören: Mutter, Mutter, Mutter ...«

Das Gesicht des Malimmes verzerrte sich, als möchte jenes wilde Lachen aus seiner Kehle brechen. Dann war's, als hätte ihm eine unsichtbare Hand über die Augen gestrichen. Er sagte ernst: »Das kommt für jeden, daß er sich seines Bluts besinnt.« Und nach einer Weile: »Red weiter! Von den anderen.«

»Der Fürst hat sich mit dem Hochenecher gegen Salzburg durchgeschlagen. Das muß er dem jungen Someiner danken. Der hat sich für seinen Herren ins Zeug geschmissen wie ein Bärbeißer.« In die Stimme des Bauern kam ein Schwanken. »Mich hat er gemieden. Ich hab ihn auch nit gesucht. Gefechten hat er noch als der Beste, derweil ihm schon wie ein rotes Bächl das Blut über den Schenkel geronnen ist.«

Erschrocken warf Malimmes einen Blick zu dem Buben hinüber. Der saß noch immer tief gebeugt.

Schweigend ritten die drei dem Tor entgegen, bei dem das Häuflein der Spittelreiter schon eingetroffen war. Ein Gewimmel von Menschen. Die fingen zu jauchzen und zu jubeln an, als sie die Nachricht des Sieges hörten.

»Guck«, sagte Runotter, der verwundert aufblickte, »da gibt's Menschen, die sich freuen.«

Dieses Wort schien den Krampf zu lösen, der den Körper des Buben gefesselt hielt. Er hob das kalkweiße Gesicht mit den verzweifelten Augen, griff über den Gaul des Vaters hinüber, klammerte die Hand an den Ärmel des Malimmes und schrie: »Mensch, Mensch, warum hast du mich bei Aufham nit sterben lassen!«

»Geh, Jul, sei gescheit!« Malimmes befreite seinen Arm und trieb den Ingolstädter neben den Falben hin. »Hätt ich dich sterben lassen, so tat ich liegen, wo du liegst. Und unser Bauer tät nit in Burghausen einreiten als lebendiger Gast des Herzogs.«

»Laß den Buben!« sagte Runotter hart. »Ganz unrecht hat er nit. Hätt ich schmecken können, was herauswachst aus dem gesiegelten Ochsenbrief – ich hätt die siebzehn Küh auf der Mordau niedergestochen, Stuck um Stuck, und hätt mich totschlagen lassen vom Seppi Ruechsam und den andern.« Er streckte sich im Sattel. »Jetzt ist's, wie's ist. Jetzt will ich den Kopf aufheben und dem Ding in die Augen schauen, das kommen muß.«

Sie ritten in das Tor. Die Menschen, die sich drängten in der Halle, kreischten den drei Gepanzerten, denen man die Schwere des Krieges ansah, in aufgeregter Freude entgegen. Wie betrunken waren diese Leute. Und hübsche und häßliche Mädchen, die sich wie irrsinnig gebärdeten, warfen dem jungen, leichenblassen Harnischer Kußhände und Blumen zu. Von ihren Hälsen rissen sie die seidenen Tüchlein, die dünnen Silberketten, die Schaumünzen und schleuderten alles vor die Pferde hin – und sahen aus dabei, als wäre ein großes Glück in ihren Herzen.

Der Falbe, als er aus dem Torbogen herausstampfte auf die Straße, fing hell zu wiehern an, weil er seine Heimat erkannte und den gewohnten Stall in der Nähe wußte. Und der Ingolstädter, den das Geschrei der Menschen zapplig machte, begann trotz seiner schweren Verwundung zu tänzeln und wollte schneller vom Fleck. Lachend sagte Malimmes: »Du Rössel aus Ingolstadt! Jetzt reitest du ein bei Herzog Heinrich in Burghausen! Und du wehrst dich nit. Wär's dein Ingolstädter Herzog, der tät sich spreißen!«

Das jubelnde Geschrei der vielen Leute, immer wachsend, schob sich durch die enge Häuserzeile gegen den Marktplatz hin. Und schöne Glocken fingen zu läuten an.

Draußen vor dem Stadttor keuchte eine zerrissene Reihe von schweigsamen Menschen über die steile Straße hinauf, alte Mütter mit suchenden Augen, junge Frauen mit verstörten Gesichtern, täppelnde Kinder mit ratlosem Blick. Sie rannten gegen Raitenhaslach hin, immer schneller, schneller, schneller, dem langen, braun und grau gefleckten Karrenwurm entgegen, der die Sterbenden brachte und die Toten schon abgeladen hatte.

4

Herren-Chiemsee brannte.

Und rings um den See herum stiegen die Feuersäulen der geschatzten Dörfer auf, wie kleine Kerzen einen schimmernden Altar umglänzen.

Damit Herrn Heinrichs Schwur – »Gott soll's wollen!« – Erfüllung fände, ließ der Seipelstorfer zwei junge Chorherren, die man hinter Aufham gefaßt hatte, in den See stoßen. Drei, die man im Stift gefangen, mußten je tausend Dukaten Lösegeld bezahlen. Jene, die auf guten Gäulen entronnen waren – unter ihnen Bischof Engelmar und der Chorherr Hartneid Aschacher – flüchteten nach Ingolstadt.

Eine lange Reihe von Bauernkarren unter scharfer Bewachung, mit Plündergut aus Stift und Münster, mit Lösegeldsäcken und Sackmacherbinkeln, wurde nach Burghausen geschickt. Dann zog der Seipelstorfer mit dem zusammengeschmolzenen Trupp seiner Harnischer nach der Burg des Kaspar Törring, um den Belagerungshauf seines Herrn zu verstärken. Da kam er gerade noch recht, um das Ende der flinken Arbeit zu sehen, die Herzog Heinrich geleistet hatte.

Tag und Nacht waren die Büchsen und Bliden in ruheloser Tätigkeit gewesen und hatten vierzehnhundert Steinkugeln in die Burg geworfen. Die Antwerke hatten pechgetränkte Strohbauschen und glühende Lumpensäcke geschleudert und alles Brennbare der Burg in Flammen gesteckt. Nur der starke, aus gewaltigen Quadern erbaute Wachturm Hochtörring stand noch – ohne der Besatzung viel Schutz zu bieten; in diesem sicheren Turme hatte Kaspar Törring seine sechzig geliebten und berühmten Leithunde mit ihren Wärtern, mit ihrem Koch und ihrer Küche untergebracht. Schauerlich klang mit dem Gebrüll der Hauptbüchsen das tobende Hundegeheul zusammen, das immerzu aus den Wehrscharten des Hochtörring herausscholl. Neben diesem Turme, der die zentnerschweren Steinkugeln wie dürre Kletten von sich abschüttelte, war alles andere der schönen, stolzen Burg, die vor wenigen Tagen noch als ein steinernes Kleinod hinausgefunkelt hatte über die waldreichen Lande, eine qualmende Brandstätte und ein formloser Schutthaufen geworden.

Dennoch befahl Herr Heinrich den Sturm nicht. Er wollte sein Volk schonen. Durch die Geschütze des Törring und bei den verzweifelten Ausfällen, mit denen die Besatzung den feuerspeienden Ring zu sprengen versuchte, hatte der Herzog schon ein halbes Hundert seiner Leute verloren. Aber auch die Besatzung der Burg hatte sich um mehr als die Hälfte vermindert; ihre Toten schwammen im braungewordenen Wasser des Burggrabens; und siebenunddreißig, die lebendig in die Fäuste der Herzoglichen gefallen waren, hingen an der Eiche, die das Zelt des Burghausener Profosen beschattete – eines Profosen, der seinem Salzburger Amtsbruder an Wohlwollen bedenklich nachstand. Die Äste des Baumes bogen sich unter dem Gewicht der vielen zweibeinigen Früchte. Manche von diesen sanft und schweigsam Schaukelnden hingen so tief herunter, daß die Gehilfen des Profosen, wenn sie aus dem Zelte heraus oder in das Zelt hinein wollten, sich bücken mußten, um nicht an die schwankenden Füße der Gerichteten zu stoßen. Wenn die noch Lebenden der Besatzung das bunt gesprenkelte Grün dieser Eiche sahen, dachten sie: »Die haben's überstanden!«

Die Übergabe des unhaltbar gewordenen Trümmerhaufens war stündlich zu erwarten. Aus Sorge vor dem Anrücken der Salzburger wollten die Belagerer das Letzte beschleunigen und nützten zu diesem Zweck eine alte Erfindung des Büchsenmeisters Kuen, der jetzt in der Plaienburg unter den heißen Luftwellen brennender Wälder schwitzte. Man nannte das in der Kriegssprache: ›den Dachs ausschwefeln‹. Aller Unrat des Belagerungsheeres, fest und flüssig, dazu noch alle Jauche der benachbarten Bauernhöfe wurde in Fässer geladen und aus den Antwerken in die Höfe der qualmenden Burgruine und in die Turmscharten hineingeschleudert. Das war nicht nur den Leuten des Törring, auch seinen edlen, an Reinlichkeit gewöhnten Hunden zu viel. Sie heulten und winselten, als wären die Steinkammern des Hochtörring die qualvollsten Höllenschlünde.

Es war am Nachmittag. Eine Schönwettersonne begann schon den lieben Weltboden und sein lebendes Gewimmel rot zu vergolden. Da verstummte das Gebrüll der Belagerungsgeschütze.

Herzog Heinrich, der in seinem großen, durch einen Wall geschützten Zelte angekleidet auf dem Feldbett lag, fuhr aus den Kissen auf und kreischte lachend: »Käsperlein? Kommst du?« Er saß und lauschte mit vorgestrecktem Hals, heißen Glanz in den Augen, die hageren Wangen von einer krankhaften Röte glühend, den kleinen Kopf umstarrt von dem dicken, kräuseligen Schwarzhaar.

Erschöpft durch die schweren Strapazen, denen sein zierlicher Körper nicht gewachsen war, litt Herr Heinrich seit dem verwichenen Abend wieder an einem Anfall seines rätselhaften Fiebers, das die Ärzte bald als Folge geistiger Übermüdung, bald als Wirkung eines schleichenden Giftes, bald als welsches Erbgut des Hauses Visconti erklärten, ohne ein Mittel dagegen zu finden. In aufgeregten Zeiten erschien das Fieber. Wurden die Tage ruhig, so verschwand es wieder. Im Volke tuschelte man, das käme von dem Fluch, den die Wittib des an einem Ostertage geköpften Landshuter Ratsherrn Leitgeb über den damals vierundzwanzigjährigen Herzog gesprochen. In jener Osterwoche – während der Herzog zu Regensburg turnierte – wurden vierundfünfzig Landshuter Bürger, weil sie aus der herzoglichen Residenz eine freie Reichsstadt machen wollten, um Haus und Habe gebüßt. Dreißig wurden verbannt, einem Dutzend stach man die Augen aus, ein Dutzend wurde hingerichtet, ihre Witwen und Kinder wurden des Landes verwiesen. Aber das war schon lange her. Genau zwölf Jahre. An dieses Vergangene dachte Herr Heinrich selten. Und was nach seinem Glauben notwendige Gerechtigkeit gewesen, beschwerte ihm die Seele nicht und beschleunigte ihm keinen Pulsschlag seines Blutes. Nur daß er seit damals nicht gerne in Landshut residierte. Er zog das verläßliche Burghausen vor.

Der jüngste Anfall seines rätselhaften Fiebers war so hitzig, daß die Sache dem Leibarzt bedenklich wurde. Herr Heinrich selbst war sorglos. Er hatte das unbequeme Leiden noch immer überstanden. Jetzt spielte zu seiner Beruhigung auch ein bißchen Aberglaube mit: Jener Nürnberger Galgenvogel, der ihm vor Jahren zu Landshut die lustige Botschaft von der Himmelstür gebracht, und dem er in diesen Tagen einen kostbaren Vorsprung gegen die Ingolstädter verdankte, der saß, wenn auch etwas beschädigt, doch ganz lebendig in einer gesunden Stube des Burghausener Schlosses.

Heiter lachte Herr Heinrich vor sich hin, als er die klirrenden Schritte vernahm, die sich dem Zelte näherten. Was da kam, erriet er. »Loys! Denk an den heutigen Tag! Du Starker! Heut hab ich dir deinen Besten auf Mus zerrieben. Gott hat's wollen.«

Einer von den schwergepanzerten Leibtrabanten trat in das Zelt.

»Das weiße Fähnl?«

»Ja, gnädigster Herr! Auf dem Hochtörring haben sie's ausgesteckt.«

»Der Dachs will frische Luft haben?« Ein Lachen. Und während sein Körper im Fieber schauerte, nahm Herr Heinrich den schwarz umstruwwelten Kopf zwischen die glühenden Hände. Nach kurzem Nachdenken rief er ruhig: »Oswald!«

Ein schmucker, dreißigjähriger Mann, der hinter dem Bett gestanden, trat schnell herbei: »Oswald Aheimer, des Herzogs Marschalk.«

»Geh hinauf zu diesem wilden Jäger! Ich möchte wetten, er denkt zuerst an seine berühmten Hunde und dann erst an Weib und Gesind. Ist binnen einer halben Stunde die Übergab vollzogen, so will ich ihm das gewähren –« Der Herzog schwieg eine Weile. »Seine Leute haben sich rechtschaffen gehalten, sie sollen freien Abzug auf Urfehd haben. Seiner edlen Hausfrau schwör ich Leben und Ehre zu. Dem Kaspar Törring geb ich ritterliche Freiheit nach demütiger Kopfbeugung vor meinem Bett.« Herrn Heinrichs Stimme wurde langsam: »Und wir wollen ihm gestatten, daß er – seine berühmten Hunde mitnimmt. Alle!« Er lächelte. »Wiederhole mir das!«

Der Marschalk hatte gut aufgepaßt. Er konnte den Willen seines Herrn wörtlich nachsagen. Der Herzog nickte heiter.

»Die Burg wird geplündert. Das hab ich meinen braven Blutzapfen versprochen. Viel werden sie nimmer finden in dem Mus da droben. Jetzt geh! Wenn's dem Käsperlein taugt, dann soll er kommen. Mißfällt's ihm, so wird weitergeschwefelt.«

Als der Marschalk das Zelt verlassen hatte, kam der Leibarzt mit vier Dienern, reichte dem Herzog unter Ruhemahnungen einen Kühltrank, entblößte ihm den Oberkörper bis zum Gürtel und wusch diese zarte Knabenbrust und den schmalen Rücken mit Essig, dessen Sauerduft durch feine Wohlgerüche gemildert war.

Herr Heinrich, sobald er wieder in seinem grauen Kittel stak, legte sich still und geduldig auf die Kissen hin. Immer lächelte er. Und wartete.

Man öffnete die Zelttücher, um die letzte Sonne hereinzulassen. Wie goldroter Sammet lag ihr Glanz auf dem zertretenen Rasen des Zeltbodens. Und der Lärm des Lagers da draußen glich dem Rauschen einer großen Mühle.

Nun ein lustiges Geschrei von vielen Stimmen.

Der Herzog setzte sich auf. Eine dürstende Spannung war in seinem Gesicht. Mit erloschener Stimme befahl er seinem Diener: »Schau, was los ist!« Dann griff er nach seinem schwarzen Mantel und wollte sich erheben. Der Leibarzt beschwor ihn, seiner Gesundheit zu denken und sich ruhig zu halten. Herr Heinrich nickte und blieb in den Kissen sitzen, den Mantel über dem Schoß. Da kehrte der Diener in das Zelt zurück. »Kommt er?«

»Ja, gnädigster Herr! Und zehn von den Unseren führen die vielen Hund gekoppelt über den Burgberg herunter.« Man hörte schon das näher kommende Gekläff wie eine fröhliche Jagd.

Heiter stieß der Herzog die kleinen Fäuste vor sich hin. »Gott hat's wollen!« Er wurde ernst. »Zehn schwere Parzer mit blankem Eisen zu meinem Bett! Der Kaspar Törring ist einer von den Starken, die gern gewalttätig werden.« Nun lachte er wieder und streckte dem Leibarzt die Hand hin. »Fühl den Puls! Ich spür, daß mein Fieber minder wird.«

Der Doktor machte ein freudig staunendes Gesicht. »Wahrhaftig, gnädigster Herr, die Krise scheint überstanden zu sein.«

»Scheint mir auch so!« Herr Heinrich schüttelte das Haar und streckte sich. »Ob's nicht ein Wechselfieber ist? Mich verläßt es heut. Einen anderen wird es packen. Gott soll's wollen!«

Die zehn Harnischer traten an, postierten sich zu Füßen und Häupten des Bettes, zogen vom Leder und stellten die blanken Schwerter vor sich hin. Hinter den Gepanzerten war einer mit der Hauptmannsbinde gekommen. Der flüsterte dem Herzog ein paar Worte zu.

»Oh? Guck! Die Salzburger!« Herr Heinrich hatte vergnügte Augen. »Daß die Freunde des Loys doch immer zu spät kommen! Du sagst, sie stehen beim Waginger See? Da brauchen sie noch zwei Stunden.« Wieder nahm er den Kopf zwischen die Hände. »Eine halbe Stunde für die Plünderung. Sag meinen braven Blutzapfen, sie sollen sich eilen. Dann laß Alarm blasen. Das Fußvolk mit Troß und Geschütz voraus im Flinkmarsch. Mich soll man in einem Stangensessel tragen. Mein Roß bleibt neben mir. Der Seipelstorfer mit der ganzen Reiterei deckt mir den Rücken. Weiter!« Der mit der Hauptmannsbinde sprang davon, während man das Kläffen und Winseln der vielen Jagdhunde schon nahe vor dem Zelt vernahm. Lachend faßte der Herzog einen Diener an der Kittelfalte, zog ihn zu sich her und tuschelte ihm ein paar flinke Worte ins Ohr. Erschrocken sah der Diener seinen Herrn an, wagte aber keinen Widerspruch und ging mit verstörtem Gesicht davon.

Unter dem Lärm, den die vielen Hunde aufschlugen, hörte man weit und verschwommen vom Burgberg her das Toben und lustige Schreien der Sackmacher und das angstvolle Kreischen weiblicher Stimmen.

Mit vorgebeugtem Kopfe lauschend, regungslos, die Fäuste in den schwarzen Mantel geklammert, saß Herr Heinrich auf dem Feldbett.

Der Marschalk Oswald Aheimer, von draußen erscheinend, schob das Tuch des Zeltspaltes noch weiter auseinander. In der dunkelroten Sonne vor dem Zelte sah man ein Gewühl von rostbraunen, von schwarz und weiß, von weiß und braun gefleckten Jagdhunden. Die vielen, aufgestarrten und hurtig wedelnden Schwänze gaben dem Gewühl der kläffenden Bracken das Bild eines wunderlich bewegten Ährenfeldes. In diesem Gekläff war eine rauhe, von Zorn bebende Stimme zu hören: »Eures Herrn Wort ist Bürge. Wer meine Hunde nicht redlich betreut, versündigt sich wider seines Fürsten heilig Wort.«

Herr Heinrich lächelte. »So? Meinst du?«

Da trat in die purpurne Sonne des Zeltspaltes ein hochgewachsener, sehniger Mann mit sonngebräuntem, verwittertem Gesicht und grauem Knebelbart, ohne Hut und ohne Waffen. Er war wie ein alter Jäger, aus einem Forsthaus der Berge hausgeholt. Nur kostbarer gekleidet. Doch diese grüne Seide war nicht reinlich und verbreitete einen schlechten Geruch. Der sie tragen mußte, war der ›ausgeschwefelte Dachs‹, der Oberstjägermeister der bayerischen Herzöge, Herr Kaspar Törring, den der Volksmund den ›Teufel von Jettenbach‹ nannte. Man verstand dieses Volkswort, wenn man des Törring kühne Adlernase und seine funkelnden Augen sah.

Als er stumm, mit übereinandergebissenen Zähnen und geballten Fäusten auf das Feldbett des Herzogs zuging, ließ Oswald Ahaimer das Tuch der Zeltspalte fallen. Eine violette Dämmerung war in der großen Leinwandstube, deren Ritzen wie feurige Linien schimmerten.

Törring wollte sich neigen. Herr Heinrich winkte ab und sagte freundlich: »Laß die Förmlichkeit, mein guter Kaspar! Unter uns Jägern ist das entbehrlich. Wir wollen uns daran genügen, daß du gekommen bist. Wie geht's dir? Wir haben uns lange nicht gesehen. Seit dem Scharmützel bei Piding nimmer.«

»Ja, Herr Herzog!« murrte Törring. »Bei Piding hab ich Buch gesehen. Ein lützel weit. Einer mit minder scharfen Augen, als ich sie hab, hätt Euch schwerlich erkannt. So ferne habt Ihr Euch gehalten.«

»Du Närrlein!« Herr Heinrich schmunzelte. »Ich werde doch mit dir nicht fechten! Ich, ein Zwerg. Mit einem Riesen und Teufel! Aber sag, was macht dein edles Weidwerk? Haben die guten Hirsche in meinen Wäldern schon verfegt? In meinen Wäldern bist du ja mit deinen berühmten Bracken viel mehr zu, Hause als wir selbst.«

In Zorn machte Kaspar Törring einen Schritt und wollte sprechen.

Flink erhob der Herzog die schlanke Hand. »Nicht so nahe, mein lieber Kaspar! Du riechst nicht gut.«

Der andere in heißem Grimm: »Wer hat mich denn so verstunken?«

»Ich glaube, das war dein seltsamer Einfall, nach Piding zu reiten. Aber ehrlich, guter Kaspar, mir ist leid um dein kostbares Kleid. Seidene Strümpfe? Oooh! Hat dir die dein gnädiger Loys geschenkt? Oder hast du sie bezahlen müssen nach Pariser Preis? Ihr Lebensfrohen, ihr tut euch leichter als ich in meinem Bauernkittel. Seidene Strümpfe! Wenn ich so verschwenden wollte, wohin kam ich? – Oswald! Geh mit diesem kostbar Gekleideten in die Zeltkammer und laß ihn bürsten. Jäger pflegen auf Reinlichkeit zu halten.«

»Herzog Heinrich«, sagte Törring mit erdrosselter Stimme, »spart mir den Hohn! Eure empfindsame Nase werde ich nicht lang belästigen. Da mir die Nackenbeugung gnädig erlassen wurde, ist mein Geschäft zu Ende. Laßt mich nach Eurem fürstlichen Wort mit meinen Hunden –«

Seine rauhe Stimme erlosch in dem aufgeregten Geschrei, das sich vor dem Zelt mit dem Gekläff und Gewinsel der Bracken mischte. Eine schrillende Frauenstimme. Die Türbehänge wurden auseinandergerissen. Vom Purpur der Sonne umschimmert, taumelte eine hohe, blonde Frau in das Zelt herein, noch schön bei vierzig Jahren, mit Strümpfen und zierlichen Schuhen ah den Füßen, doch nur bekleidet mit einem langen Hemd, dessen dünne Leinwand vor dem Sonnenpurpur einen blauen Schattenriß des Körpers gewahren ließ – die Hausfrau des Kaspar Törring. Während sie zitternd den Hals ihres Mannes umklammerte und das Gesicht an seiner Brust verbarg, schrie Törring in Wut gegen den Herzog hin: »Du Wortbrüchiger! Du schnöder Frauenschänder!« Seine funkelnden Augen sahen die Fäuste der zehn Gepanzerten an.

Herr Heinrich hatte sich vom Feldbett erhoben. »Ich hoffe nicht, daß unser fürstliches Wort mißachtet wurde! Edle Frau? Ist Euch ein ernstliches Leid geschehen?«

Sie schüttelte an der Brust ihres Mannes den Kopf.

»Also, Kaspar? Wozu dein Zorn? Meine Blutzapfen waren in beklagenswertem Grade unhöflich und haben deiner Gemahlin den Schmuck und das Seidenkleid mit den goldenen Tressen genommen. Alles andere hat sie noch. Sieh nach!« Während Herr Heinrich so sprach und seinen schwarzen Mantel vom Feldbett nahm, verwandelte sich draußen das Gekläff und Gewinsel in ein grauenvolles Geheul. Dazu hörte man dumpfe Schläge und ein Knirschen wie von brechenden Knochen. »Edle Frau!« sagte der Herzog mit sehr lauter Stimme. »Wollet Euch meines Mantels bedienen!« Und während der kleine zierliche Herr sich streckte, um ihr den schwarzen Mantel über die Schultern zu hängen, sagte er liebenswürdig: »Wie strack und hoch – und wie schön rund Ihr seid! Ihr solltet einen Mann haben, der zuerst an Euch denkt. Und dann erst an seine berühmten Hunde.«

Kaspar Törring schien nicht zu hören, was der Herzog redete. Den Arm um seine Hausfrau geschlungen, streckte er sich in lauschendem Schreck. Nun sprang er keuchend zur Zelttüre, riß den Vorhang weg und sah da draußen einen Haufen erschlagener und noch zuckender Hunde liegen, mit wirr durcheinander gekrampften Beinen, umronnen von einer grauenvollen Blutlache – und sah, wie die Lagerknechte mit Knüppeln auf die noch lebenden losschlugen, welche keuchten und heulten. Törring deutete da hinaus und schrie wie ein Irrsinniger: »Herzog! Dein Wort? Dein Wort?«

Ruhig sagte Herr Heinrich: »Ich versprach dir ritterliche Freiheit. Und daß du deine berühmten Bracken mitnehmen kannst. Man kann auch tote Hunde mitnehmen. Nicht?« Er wandte sich zum Marschalk Ahaimer. »Oswald? Hast du ihm was anderes gesagt?«

Erschrocken fing Ahaimer zu stammeln an. Und Törring, wie ein Tobsüchtiger, sprang auf einen der Gepanzerten zu und riß ihm das blanke Langschwert aus den Fäusten.

Die Fieberröte im Gesicht des Herzogs verwandelte sich jäh in aschige Blässe.

Ehe die Harnischer zuspringen konnten, sauste die schwere Klinge schon. Und Marschalk Ahaimer, der keinen Kopf mehr hatte, setzte sich rot auf den Boden hin.

Die Harnischer wanden dem Törring das Eisen aus den Händen und hielten seine Arme gefesselt. Einer fragte: »Herr? Was soll geschehen mit ihm?«

In seiner kalkigen Blässe sah der Herzog die Gemahlin des Törring an, die den schwarzen Mantel um das Gesicht gewunden hielt. Dann sagte er ruhig: »Ihm soll geschehen, was ich versprach. Man soll ihm die ritterliche Freiheit geben.«

Törring keuchte: »O du Laus du! Recht hat der Loys!«

»Mein guter Kaspar!« Herr Heinrich lächelte. »Heut hast du mich enttäuscht. Ich habe dich immer für einen großen Jäger gehalten. Der bist du nicht. Ein ganz kleiner bist du. Hättest einen edlen Hirsch erlegen können. Mich! Und hast dich mit einem armen Hasen begnügt. Mit dem Oswald! Und wie dir heute nicht klargeworden, was du tun sollst, so hast du auch nicht gewußt, warum du neulich nach Piding rittest. Ich verzeihe dir.« Der Herzog verneigte sich: »Edle Frau! Behaltet, meinen Mantel und führt Euren kleinen Jäger, wohin Euch, beliebt.« Er ging zur Zeltkammer. Unter dem Vorhang sagte, er: »Man soll den Oswald mit Ehren bestatten. Er hatte ein schlechtes Gedächtnis. Das ist eine Krankheit, an der man sterben kann.« Herr Heinrich verschwand.

Während man Leib und Kopf des Oswald Ahaimer davontrug, sah Kaspar Törring wie ein Erwachender den stillen, rostfarbenen, schwarz und weiß, und Weiß und braun gefleckten Hügel der erschlagenen Bracken an und begann zu weinen wie ein Kind.

Da nahm ihn seine Frau am Arm. »Komm, Kaspar! Laß dich führen! Vielleicht merkst du dabei, daß deine Frau noch lebt. Hunde kannst du ja wieder züchten.«

Er klagte: »Ach, was versteht denn ein Weib! Gibt's nicht! Weiber zu Hunderttausenden? Solche Bracken hat's nur sechzig auf Erden gegeben.«

Die zehn Harnischer geleiteten das Ehepaar durch die Lagergasse, in der man mit heiterem Lärm das schwere Plündergut auf die Troßkarren lud und zum Abmarsch rüstete.

Bei dämmerndem Abend ließ sich Herzog Heinrich im Stangensessel hinter Geschütz und Fußvolk hertragen, das im Flinkmarsch über Kay und Tittmoning gegen Raitenhaslach zog. Seipelstorfer mit den Harnischern deckte den Herzog gegen einen Überfall der Salzburger, die ›zum Entsatz des Törring‹ heranrückten.

Während des ganzen Nachtweges von Törring bis Burghausen plauderte Herr Heinrich leutselig mit den Sesselträgern. Als er einmal eine kleine Weile geschwiegen hatte, lachte er lustig auf; er hatte in diesem Schweigen beschlossen, den Turm Hochtörring abbrechen und die mächtigen Quadern nach Burghausen führen zu lassen, um dort einen Turm ›Hunds-Törring‹ zu erbauen – –

– Um die elfte Nachtstunde traf der Salzburger Entsatzhaufe bei der Törringer Trümmerstätte ein, wo es unter den funkelnden Sternen noch übler duftete, als es beim Hallturm in der Sonne gerochen hatte.

Herr Kaspar, in einer Mischung von wehmutsvollem Jägergram und schäumendem Ritterzorn, nahm mit der Salzburger Reiterei die Verfolgung des Herzogs auf. Er kam bis Raitenhaslach. Hier mußte er in der Morgendämmerung umkehren, wenn er nicht in das Geschützfeuer der herzoglichen Burg geraten wollte. Während des Heimrittes erzählte er dem Salzburger Hauptmann von jedem der sechzig seligen Hunde eine lange, wundersame Geschichte, welche bewies, daß auch der dümmste von ihnen noch immer klüger war, als Aristoteles gewesen. –

Der Salzburger Heerhaufe rückte wieder in die heimatliche Stadt, ohne einen Toten zu beklagen oder einen Verwundeten mitzubringen. Die erzbischöflichen Wundärzte hatten schon reichlich mit jenen zu schaffen, die ein Karrenwurm von der Saalach und von Marzoll gebracht hatte.

Einer von diesen Leidenden, dem der linke Schenkel mit Lehm geschindelt war, machte zur Nachtzeit eine beschwerliche Reise nach Berchtesgaden. Er tat es gegen den Willen der Ärzte, weil ihm seine Mutter die verzweifelte Botschaft geschickt hatte: »Komm! Dein Vater muß sterben!« Die flämische Rüstung, der Helm mit den Fasanenflügeln, die Waffen und zwei Krücken wurden dem Pongauer Rappen auf den Sattel gebunden. In einer Bettlade, an die man zwei feste Stangen genagelt hatte, trugen acht Männer den Verwundeten. Immer ging ihm die Reise zu langsam, immer bat er die Träger um Eile. Seine Stimme hatte einen Schleier, den sie im Leben niemals wieder verlieren sollte.

Wenn Lampert bei dem flinken Gehops der Träger stumm in den Kissen lag, sah er hinauf zu den funkelnden Sternen der Sommernacht und suchte das Antlitz Gottes, an den er glaubte. Gottes Gesicht sah aus wie die unbegrenzte Nacht, wie ein riesenhafter Panzer aus blauem Stahl und hatte unzählbar viele Augen, solche, die groß und klar und herrlich, und solche, die winzig und geheimnisvoll waren.

»Gott hat Augen nur für den Sehenden. Gott ist augenlos für die Blinden.«

In den stillen, dunklen Dörfern brannte kein Feuer, nirgends sah man den Qualm einer Brandstätte, und dennoch war ein scharfer Rauchgeruch in der Luft. Er kam mit den Windstößen, die über den Untersberg herunterwehten, schwül wie ein Frühlingsföhn; sie bliesen über den Kamm der Felswände die heiße Luft herüber, die hinter dem Untersberg von den brennenden Wäldern gekocht wurde.

Je näher der kleine Trupp dem Tal von Berchtesgaden kam, um so nebliger wurde die Nachtluft. Und als es von der Ache hinaufging zum Stift des heiligen Peter, sah man in dem weißlichen Dunst auf keine hundert Schritte mehr. Die grauen, treibenden Schwaden, die wie der Dampf einer großen Badestube waren, rochen jetzt nach Harz, Wacholder und Fichtennadeln. Einer von den Trägern sagte: »Tät man den Husten haben, so wär's gesund.«

Eine Glocke schlug die dritte Morgenstunde, als die Reisenden durch den Stiftshof kamen. Der war wie ausgestorben. Kein Eisen klirrte, keine Wache rief. Die ganze, noch übrige Wehrmacht des verwaisten Ländleins war in der Ramsau, die man wieder sanktpetrisch machte, war im Schwarzbachtal und beim heiligen Zeno, dessen herzogliche Hilfstruppe sich fast ohne Schwertstreich den Gadnischen ergeben hatte. Und da wurde der heilige Zeno so schwer um Gut und Besitz gebüßt, daß er für alle Zeiten aufhörte, eine politische Person zu sein und daß den geweihten Söhnen seiner Kirche aus Mangel an Beschäftigung nichts andres übrigblieb, als ihrem geistlichen Amt zu dienen und gute Priester zu werden. Herr Konrad Otmar Scherchofer tröstete sich als lächelnder Philosoph, der innerlich dem Besseren immer gewogen war. Doch sein sauerriechender Kaplan, Herr Franzikopus Weiß, der mit schweren Beulen und blauen Malen aus der Ramsau entronnen, konnte es nicht ertragen, daß seiner staatsmännischen Begabung der große Wirkungskreis entzogen werden sollte. Er konspirierte hinter dem Rücken seines Propstes und schrieb geheime Briefe.

– In dem dichten Dunste, der über dem Marktplatz von Berchtesgaden lag, waren die Häuser still und dunkel. Nur ein einziges war wach. Gleich großen, trüb verschwommenen Laternen hingen die erleuchteten Fenster des Someinerschen Hauses im grauen Nebel. Überall war Licht, vom Erdgeschoß bis hinauf zur Dachstube der alten Magd. Als Lampert die hellen Fenster sah, fiel ihm ein weher Schreck in das Herz. Bevor noch seine Träger die Bettlade auf das Pflaster niederstellten, streckte er die Hände und stammelte: »Meine Krücken – meine Krücken –« Da fing der Moorle zu wiehern an. Droben am Erker klirrte das Schubfenster. Ein Schrei. Der Schlag einer Türe. Im Haus ein Geraschel. Schwere Riegel klirrten, das Tor wurde aufgerissen, und aus dem Hausflur quoll der Geruch von starkem Räucherwerk. Bei trübem Lichtschein taumelte die schwarze Frau Marianne auf die Gasse heraus. »Bub, mein Bub –« Zitternd hing sie in den Armen des Sohnes, ließ sich hinfallen auf die Kante des Bettes und wußte nicht, was in ihr das Größere war, der Jammer und Gram dieser Nacht oder die Freude dieses Augenblicks.

»Mutter? Er lebt doch?«

Sie konnte nicht reden, konnte nur schluchzen an Lamperts Hals. Und als ihr nach Tränen die Sprache kam, fand sie nur zwei gallige Worte: »Siebzehn Ochsen!« Die acht Träger, als sie die zwei unbegreiflichen Worte der Amtmännin hörten, hielten die Frau für irrsinnig.

Lampert nahm den Kopf der Schluchzenden zwischen seine Hände. »Komm, Mutter! Sei ruhig! Komm, ich führ dich hinauf!« Mit beiden Beinen stieg er aus der Bettlade, biß die Zähne übereinander und knirschte: »Die zwei Stecken her!«

Beim Anblick der Krücken schrie Frau Marianne den Namen des Heilands in die Nacht hinaus.

»Nein, Mutter! Hab keine Sorg! Das ist nur jetzt – weil ich den Knochen geschindelt hab und das Knie nicht biegen kann. Das wird schon wieder.«

Jetzt war Frau Marianne keine schluchzende Witib mehr – war nur die Mutter noch, die ihrem Sohne helfen muß. Zu den Schwachen hatte sie nie gezählt. Der alten Magd, die mit einem Windlicht auf der Hausschwelle stand, befahl sie: »Flink! Tu besser leuchten!« Die Schulter unter dem Arm des Sohnes schiebend, faßte sie ihn fest um den Rücken. Und den stärksten der acht Träger schrie sie zornig an: »Du Muckenfanger, so komm doch und hilf!«

Die beiden trugen den Wunden über die steile Treppe hinauf. Als sie ihn bei der Stubentür vorbeibringen wollten, bat er: »Mutter! Ich will ihn sehen!«

»Morgen, Bub! Heut nimmer! Du mußt ins Bett. Und mußt dich ausrasten und mußt deine Ruh haben.«

»Ich will, Mutter –«

»Morgen, morgen!«

Frau Marianne log. Schon seit dem Abend war der selige Amtmann Someiner nimmer im Hause. Kaum daß er kalt geworden, hatte man ihn hinuntergelegt in geweihten Boden und hatte Sarg und Grube zugeschüttet mit gelöschtem Kalk. In der Marktgasse waren schon sieben Leute von dem gleichen, bösen Leiden befallen. Um das Gift der Krankheit im Hause zu zerstören, brannten in allen Räumen die Wacholderkerzen und das beizende Räucherwerk. Bei Anbruch der Nacht hatte ein Siechenwärter das Bettzeug und die Wäsche des Entschlafenen geholt, um alles in einen glühenden Ziegelofen zu werfen.

Der Morgen fing matt zu grauen an, als Lampert in seiner kleinen, weißen Stube gebettet lag, in der so viele Wacholderkerzen brannten, daß der Raum sich ansah wie eine Weihnachtsstube. Der gleißende Schein, der in das erste trübe Grau des Tages hinausstrahlte, lockte die Dämmerungsfalter so zahlreich an, daß man meinen konnte, da draußen wären zwei unsichtbare Hände, die rastlos mit den Fingernägeln gegen die Fensterscheiben trommelten. Eine Werbetrommel des Todes! Jeder klirrende Laut am Fenster rührte von einem kleinen Leben her, das sich in Lichtsehnsucht und Eigensinn am harten Glase den Kopf zerschlug. Erst bei wachsendem Morgen, dessen Helle stärker wurde als der Kerzenschimmer, endete der ruhelose Todesflug der Schmetterlinge. Nach diesem Kriege zwischen Nacht und Helle sah es da draußen auf dem steinernen Fenstergesims wie bei der Hallturmer Mauer aus: Viele Leichname lagen in der Sonne. Nur ein bißchen kleiner waren sie als jene Zweibeinigen; und der Sieger plünderte ihnen nicht den glänzenden Schuppenpanzer vom toten Leib herunter.

Frau Marianne hatte den Medikus holen lassen, der den locker gewordenen Verband erneuerte und die Sorge dieser verstörten Mutterseele durch die heiligsten Schwüre beruhigte.

Als die Frühsonne in die weiße Stube hereinglänzte, saß die Amtmännin neben dem Bett ihres Sohnes, liebkoste seine schlaffe Hand und erzählte vom letzten Leiden des armen Ruppert. »Schon gestern in der Früh, wie's auf die siebente Morgenstund gegangen, hab ich gemeint, er muß verscheiden. So schwach ist er gewesen, so ganz von Kräften gefallen. Und da ist das Ärgste noch erst gekommen.«

»Mutter?«

»Er hat mich schon nimmer kennen mögen, den geistlichen Herren nimmer, den Pießböcker nimmer, keinen Menschen mehr. Und derweil ihm die kalten Tropfen über das magere Gesicht heruntergelaufen sind, hat er allweil angstvoll auf das gleiche Fleckl in der Luft geschaut, hat geredet mit einem Unsichtbaren und hat gerungen mit ihm. Ach, Bub, wie grausam ist das gewesen! Sechs Stund lang hat der Vater kämpfen müssen wider den Teufel. Und allweil das gleiche Wörtl: ›Siebzehn! Siebzehn!‹ Und noch ein anders hat er allweil gesagt: ›Nicht schlagen!‹ Mir ist das Herz schier auseinandergebrochen.« Tränen erstickten die Stimme der Amtmännin.

In tiefer Erschütterung bedeckte Lampert das Gesicht mit den Händen. »Nicht schlagen! Denken!«

»Verstehst du, was er sagen hat wollen?«

Lampert nickte.

»Und allweil, allweil, allweil so! Sechs Stund lang. Bis zum Nachmittag um die zweite Stund. Da hat ihm der gütige Herrgott beigestanden im Krieg wider den bösen Feind. Und da ist er ruhig geworden. Und ist so dagelegen und hat ein lützel leichter geschnauft. Und jählings tut er sich in den Kissen aufsetzen. Erst hatt' ich gemeint, er kennt mich, weil er allweil gesucht hat nach meiner Hand. Aber mit den Augen ist er im Leeren gewesen. Und ich sag dir, Bub, was Heiliges ist ihm ins magere Gesicht gekommen. In seinen Augen ist ein Glanz gewesen, daß ich gemeint hab, es sitzt ein biblischer Erzvater in dem schiechen Bett. Und da tut er die Hand strecken – grad so, wie's im Krieg die Hauptleut machen – und sagt mit einer festen Stimm: ›Jetzt weiß er's! Jetzt hab ich's ihm bewiesen nach Brief und Siegel. Daß keiner schlagen darf! Auch der nicht. Gottes Recht verbietet's.‹ So hat er geredet, Bub! Und hat sich hinfallen lassen auf meinen Arm. Es ist sein letztes Wörtl gewesen. Um die vierte Stund ist er schön und ruhig eingeschlafen.«

Lampert umklammerte die Hand der Mutter. Und nach einer Weile fragte er mit zerdrückter Stimme: »Hat er nimmer geredet – von mir?«

Die Amtmännin stammelte hastig: »Wohl, Bub! Freilich!« Eine heiße Röte schlug ihr über das vergrämte Gesicht. »Fürgestern Abend oder gestern in der Früh – recht weiß ich's nimmer – da hat er mich bei der Hand genommen und hat gesagt: ›An unserem Buben wird der Fürst einen guten Amtmann haben.‹«

Ernst sah Lampert die Mutter an, behielt ihre Hand in der seinen und drehte schweigend das Gesicht gegen die weiße Mauer:

Frau Marianne atmete schwer. Sie hörte keinen Laut ihres Sohnes. Aber sie merkte es an seinen zuckenden Schultern und konnte es fühlen an seiner Hand, wie der Schmerz in ihm wühlte.

»Ach, Bub, was soll ich noch sagen? Sie haben mich wegtun wollen vom Bett, aber ich hab's nicht gelitten und hab ihm selber die letzte Pfleg gereicht. Ohne Beistand hab ich ihn lupfen können. So ein stattliches Mannsbild ist er gewesen, einmal. Und ist auf dem letzten Brett gelegen wie ein Hehndl, so klein und mager.« Unter fließenden Zähren sah die Amtmännin ins Leere. »Dann hat der Pießböcker die Tür versiegelt. Und in der lieben Stub, wo ich sechsundzwanzig Jahr lang mit meinem guten Ruppert gelegen hab in Glück und Sorgen – da brennt der Schwefel, und Stank und Gift ist drin –«

Lampert hob sich erschrocken aus den Kissen. »Mutter?« Er hatte verstanden.

Sie sah ihn hilflos an. »Muß ich's halt sagen. Der Vater ist seit dem Abend nimmer im Haus.«

Die Sonne strahlte durch das verbleite Glas und spannte schimmernde Stege über den herbduftenden Rauch der Wacholderkerzen.

Nach einer Weile schob die alte Magd das scheue Gesicht durch einen Spalt der Tür herein. »Im Stall beim Moorle ist ein fremder Mensch. Der geht nimmer fort. Will Essen und Trinken haben und ein Bett.«

»Bub? Wer ist das?«

»Mein neuer Knecht.« –

Man reichte dem Manne Trank und Speise und gab ihm die Stube des früheren Knechtes, der nimmer kam. Das war ein froher, lustiger Bursch gewesen, der gerne sang und lachte. Dieser Neue war schweigsam und ängstlich.

Graue, dumpfe, sorgenvolle Tage.

In vielen Häusern mußten die Wacholderkerzen und der Schwefel brennen.

Die schwüle, giftige Luft, die über Berchtesgaden dunstete, wurde besser, als ein schwerer Gewitterregen den Brand der Wälder bei der bayerischen Plaienburg erstickte.

Nun konnte man in der Krankenstube des Someinerschen Hauses an jenem schönen Morgen das Fenster öffnen, um die Sonne und den Duft der Gartenblumen hereinzulassen.

Als das Wundfieber überstanden war, begann sich Lamperts Befinden langsam zu bessern.

Um sein Bett frisch überziehen zu können, hob man ihn eines Morgens vom Lager auf eine Matratze, die man auf den Fußboden der Stube gelegt hatte. Und während Frau Marianne den Schilfsack des Bettes wendete und die zerlegenen Binsen locker machte, fiel etwas Schweres auf den Boden, kollerte unter der Bettlade heraus und blieb neben Lamperts Matratze liegen. Er streckte die Hand und griff nach dem kleinen, wunderlichen Ding, das zu ihm gekommen war. Ein Brocken Blei. Wie eine zerquetschte Nuß.

»Schau, Mutter! Eine Büchsenkugel. Die muß man am Hallturmer Elendstag in meine Stube hereingeschossen haben.«

»Ich glaub, das muß anders sein. Selbigsmal ist zu Berchtesgaden nicht viel geschossen worden. Und am Fenster ist nie ein Loch gewesen.«

»Ich hab sie nicht mitgebracht. Wie kommt die Kugel in meine Stub?« Lampert betrachtete das zerdrückte Klümplein Blei, das auf seiner flachen Hand lag. »Die Kugel sieht aus, als war sie durch einen Harnisch geflogen. Aber es ist an dem Blei kein trockenes Blut.«

Frau Marianne setzte sich neben Lampert auf die Matratze hin und beguckte das rätselhafte Ding. Eine Erinnerung wurde in ihr wach. »Ob die Kugel nicht von dem Buben ist?«

Rasch fragte Lampert. »Der in meinem Bett geschlafen hat?«

»Zwei Nächte lang. Ja! Und ich besinn mich. Der Bub ist heil gewesen. Aber ich hab auf seinem Küraßbrüstling eine Dull gesehen.«

Lamperts Augen wurden groß. Und sein erregtes Gesicht fing zu brennen an, als käme ein Rückfall seines Wundfiebers.

»Die Kugel«, sagte Frau Marianne, »muß dem guten Buben zwischen Küraß und Leib gehangen haben. Und wie er sich in seiner Müdigkeit zum Schlaf in das Bett gelegt hat, muß sich das Blei in die Binsen verschloffen haben.« Sie erhob sich und breitete das frische Linnen über das Lager ihres Sohnes.

Von dem jungen Harnischer, der dem Someinerschen Haus ein Schutzengel wider die Sackmacher geworden war, hatte die Amtmännin schon viel erzählen müssen. Und immer hatte Lampert so seltsam gefragt, daß ihn die Mutter manchmal verwundert ansah. Jetzt, da sie wieder von dem Buben redete, den sie immer den ›guten‹ nannte, geschah es zum erstenmal, daß Lampert keine Frage stellte. Schweigend, mit Sorge und Sehnsucht in den Augen, betrachtete er das zerquetschte Ding auf seiner Hand. Und während die Amtmännin die Kissen des Bettes aufschüttelte, preßte Lampert plötzlich die Lippen in heißer Zärtlichkeit auf das graue Blei.

»Ach, was für Zeiten das sind!« seufzte Frau Marianne bei ihrem fürsorglichen Mutterwerke. »Es wird doch der gute Bub nicht auch in der Saalach liegen?«

»Nein, Mutter! Der war beim Fechten neben dem Runotter gewesen. Meinen Helm mit den Reihergranen hätt ich sehen müssen. Der Bub hat bei Marzoll und Piding nicht mitgefochten. Auch der ander ist nicht dabeigewesen.«

»Wer?«

»Der mit der schweren Narb.« Der Jungherr schwieg. Und nach einer Weile sagte er leise: »Der so viel von dem Buben weiß.« Er lächelte wie ein Träumender. »Auf dem Boden ist ein schlechtes Liegen, Mutter! Laß mich wieder in das Bett heben!«

Der neue Knecht und die alte Magd mußten helfen, um ihn auf das frisch gerichtete Lager hinaufzulupfen, für das dieser zweifellos tapfere Kriegsmann, der sich bei Marzoll wie ein Held für seinen Fürsten geschlagen hatte, eine höchst unkriegerische Vorliebe zu empfinden schien. Er drückte wohlig das Gesicht ins linde Kissen.

Im Verlaufe des Tages mußte Frau Marianne sich darüber wundern, daß ein erwachsenes, leidendes Mannsbild stundenlang gleich einem heiteren Jungen spielen konnte mit einem Stücklein Blei. Oder war diese Kugel, die nahe zum Herzen eines jungen Lebens gedrungen, ein Amulett mit geheimnisvollen Kräften? Denn Lamperts Besserung machte seit diesem Tag so flinke Fortschritte, daß in Frau Marianne die gläubige, hoffnungsvolle Mutterfreude sich in einem steten Kriege gegen ihre Witibstrauer um den seligen Ruppert befand. Neben dieser Trauer hatte die Amtmännin auch beklommene Zeitsorgen. Sie erzitterte bei jeder bösen Botschaft, die von der entfesselten Kriegsfurie der bayerischen Vettern nach Berchtesgaden drang. Vor Schreck wurde sie kreidebleich als sie vernahm, daß Fürst Pienzenauer im Stifte eingetroffen wäre, um für seinen herzoglichen Freund zu Ingolstadt eine Hilfstruppe von vierzig Harnischreitern, achtzig Spießknechten und zehn Faustschützen auszurüsten. Auch war am Münstertor zu Berchtesgaden einer von den vielen Werbebriefen angeschlagen, die Herzog Ludwig in alle Welt entsandt hatte.

Da stand zu lesen: »Wer zu Uns reiten will um Gewinn, dem wollen Wir Unsere Burg öffnen und für Rechnung Proviant auf einen Monat liefern. Wer zu Uns reiten will um Geld und Sold, dem bieten wir auf drei Gewappnete und drei Pferde monatlich fünfzehn Rheinische Gulden und Ersatz des Pferdeschadens im Gefecht nebst Anteil an der Beute. Wer aber soldlos zu Uns reiten will, um Ritterschaft zu suchen, dem versprechen Wir Stechen, Rennen, Tanz und Spiel mit schönen Frauen, Sturm und Scharmützel nach Herzenslust.«

Zwei Gadnische Herren, der junge Hundswieben und der Dichter Jettenrösch verließen die erfolgreiche Pflege der frummen Pfennigweiblein im Badhaus zu Berchtesgaden und zogen gen Ingolstadt – um ›Ritterschaft‹ zu suchen.

Darüber wurde in der Marktgasse viel, doch sehr verschieden geredet. Im Someinerschen Hause sprach man von solchen Dingen kein Wort. Frau Marianne war, soweit es den Krieg betraf, eine heroische Schweigerin geworden; und die alte Magd wie der neue Knecht hatten heilige Eide schwören müssen, den Schnabel zu halten. Unter dem gleichen Schwure stand auch der Medikus. Sooft er bei Lampert eine erfreuliche Besserung wahrnahm, zog die Amtmännin erschrocken die beiden Daumen ein. Und wenn Fürst Pienzenauer sich nach Lamperts Befinden erkundigen ließ, schickte sie sehr schlechte Nachrichten in das Stift hinüber. Sie sagte zur Magd, das täte sie, weil sie abergläubisch wäre. Und in den immer länger werdenden Nächten betete sie um ein Wunder, das der Allmächtige beim besten Willen nicht wirken konnte: Ihr Lampert sollte flink so gesund werden, wie eine Forelle im Bergbach ist und sollte dabei für den Propst so leidend erscheinen, daß er als Invalide dem grauenvollen Morden und Brennen entzogen blieb, zu dem der Krieg der bayerischen Herzöge sich aus wuchs.

Immer schrecklicher lauteten die Botschaften, die von gebrochenen Burgen, geplünderten Städten, gebrandschatzten Dörfern, erschlagenen, gehenkten, erstochenen, verbrannten und ersäuften Menschen aus dem ebenen Lande hereindrangen in das wieder friedsam gewordene Bergtal, wo man keine toten Kriegshelden mehr zu begraben hatte, nur noch mager gewordene Lazarusse, die gleich dem Amtmann Someiner an der roten Ruhr das Zeitliche ›gesegnet‹ hatten.

Nach der zweiten Augustwoche, an einem Berglandsmorgen von wundersamer Schönheit wanderte die vom heiligen Peter für Herzog Ludwig ausgerüstete Hilfstruppe mit fröhlichem Pfeifenklang gegen Salzburg davon.

Lampert, in seiner weißen Genesungsstube, hörte von der kriegerischen Musik und dem Lärm der Menschen noch einen verworrenen Schall. Er hob sich aus den Kissen. Seine tiefliegenden Augen fingen zu glänzen an. »Mutter? Marschieren da nicht Kriegsleut aus?«

»Was dir einfallt!« Mutter Marianne log mit geschulter Seelenruhe. »Heut ist Hochzeit. Einer von den Burghausener Kriegsgefangenen heiratet eine Gadnische Hofmannstochter. Da gönnen ihm die Hofleut ein lützel Kriegsmannsehr und spielen einen Lustigen auf.«

Ernst sah Lampert die lächelnde Mutter an und ließ sich stumm auf das Kissen zurückfallen. Dann sprach er ruhig vor sich hin: »Jetzt kann ich auch bald wieder reiten.«

Frau Marianne erschrak, daß ihr der Herzschlag zu stocken drohte.

5

Während Herzog Ludwigs Hauptmann Christoph Laiminger mit seinem Heerhauf seit Wochen die fränkischen Güter des Fritz von Zollern verwüstete, fielen entlang allen Grenzen des Landshuter Gaues die Ingolstädtischen Truppen unter Marschall Frauenberger, unter Hauptmann Muracher und dem Pfleger von Wasserburg in Herzog Heinrichs Lande und hinterließen in Hunderten von niedergebrannten Dörfern die Spuren ihrer Wege.

Wie eine laufende Flamme brannte der Krieg an allen Ecken und Enden der bayerischen Herzogtümer auf.

Wilhelm und Ernst von München, der Kurfürst von der Pfalz und Johann von Neumarkt – die Herr Heinrich zur Hilfe wider den unbequemen Ingolstädter gewonnen hatte – sandten ihre Fehdebriefe an Ludwig im Bart. So standen alle Wittelsbacher im Kampfe gegen diesen Einen ihres Blutes, der durch seine gewalttätige und hochfahrende Art, durch seinen ›französischen Übermut‹, sie alle schon einmal gekränkt, verhöhnt, beleidigt und geschädigt hatte.

Der auflodernde Zorn der Fürsten übertrug sich auf ihre Untertanen. In Städten und Dörfern, in Burgen und Handwerkerstuben, überall, wo Bürger der Wittelsbachischen Herzöge bisher friedlich beisammen gewohnt hatten, ergriffen sie Partei für ihre Fürsten und zerschlugen einander die Köpfe unter dem Geschrei: »Hie Ludwig! Hie München! Hie Heinrich!« Auf den Universitäten zu Prag, Wien, Heidelberg und Leipzig stachen in den Bursen die Studenten einander die Rapiere in den Leib, auf den Märkten der deutschen Städte prügelten sich die Kaufleute und ihre Kunden, die Viehtreiber und Karrenführer.

Wie die Fürsten, so wechselten die ihnen verbündeten Ritter und Städte ihre Fehdebriefe. Mehr als fünfhundert Lehensherren der Münchener Herzöge und des Landshuters begannen Krieg wider Ludwig. Und fast ebensoviel ritterliche Freunde des Ingolstädters, der nach seinen Werbebriefen Zuzug auch aus Frankreich, Ungarn, Italien, Holland und Dänemark bekam, kündeten dem Herzog Heinrich und den Münchener Fürsten den Frieden auf. Die Briefe, die man noch immer wechselte, während das Morden und Brennen schon begonnen hatte, flossen über von Hohn, Verdächtigung und Haß. Die gegenseitigen Beschimpfungen häuften sich wie bei den Homerischen Helden vor dem Zweikampf.

Da seit der unglückseligen Erbteilung der bayerischen Lande die Besitzungen der Wittelsbachischen Fürsten in Flicken und Lappen die Länder des Gegners durchsetzten, stand Nachbar gegen Nachbar im Kriege: Burghausen gegen Wasserburg, Landshut gegen Freising, Tölz gegen München, Schrobenhausen gegen Pfaffenhofen, Traunstein gegen Rosenheim, Kufstein gegen Marquartstein. Durch Überredung gewonnnen oder durch Vorteil verlockt, durch Drohung eingeschüchtert oder durch Geld bestochen, fielen die Lehensleute von ihren Herren ab, innerhalb der Städte entzweite sich Volk und Regierung, der Bruder schlug gegen den Bruder, Vater und Sohn wurden Feinde.

So standen auf allem Boden, der bayerisch hieß, von der Ulmer Gegend bis zum Böhmerwald und bis Linz hinunter, vom Main bis nach Tirol, die Bewohner schwesterlicher Erde mit Feuer und Eisen, mit Galgen und Pulver gegeneinander im Kampfe, und es entbrannte ein Krieg verwandter Stämme, schmachvoll und schauerlich, wie er unerhört war in der Geschichte eines von gleichem Blute durchströmten Volkes.

König Sigismund, der in Sorge geriet um die Säulen des Reiches, mahnte durch Briefe und Gesandte zum Frieden, bat mit herzlichen Worten, wurde streng und drohte mit der Reichsacht. Und Rom, das seine Klöster und Kirchen gebrandschatzt und geplündert sah, rückte mit Kirchenbann und gräßlichen Strafen der Ewigkeit wider die vom Zwietrachtsteufel besessenen Fürsten aus. Aber keiner von den Wittelsbachern hörte auf die Stimme des deutschen Königs, keiner auf den Schrei des Papstes. Herzog Heinrich wie Herzog Ludwig schworen mit heiligen Eiden, das dem König gegebene Friedensgelöbnis unverbrüchlich gewahrt zu haben; der königstreue Ingolstädter schob die Schuld auf den ›heimtückischen‹ Landshuter, der königstreue Landshuter schob sie auf den ›allzeit gefährlichen‹ Ingolstädter, einer beschuldigte den anderen des schnöden Friedensbruches, und jeder beteuerte, daß er wider Willen gezwungen wäre, sich seiner bedrohten Haut zu wehren. Nur die Münchener Herzöge konnten mit gutem Rechte sagen: »Wir müssen als redliche Leute die Treue wahren, die wir dem Vetter Heinrich zugelobten.«

Von allen Fürsten, die in diesen Krieg verwickelt wurden, hörte nur ein einziger auf die Friedensmahnungen des deutschen Königs: Friedrich von Zollern, der Burggraf von Nürnberg und neue Herr der ehemals Wittelsbachischen Mark Brandenburg, mit der ihn König Sigismund auf dem Konzil von Konstanz für treue Dienste belehnt hatte. Obwohl ihn Ludwig mit Pikenstößen reizte und brandschatzend seine fränkischen Lande verwüstete, zögerte Friedrich noch immer, in den Kampf zu treten. Jeder Werbung seines Schwagers Heinrich von Landshut entzog er sich. »Was kümmert mich euer Vetterngezänk, ich will in Frieden meinen jungen Acker bauen.« Er blieb in seiner Mark, machte aus der Ferne noch einen Versuch zur Herstellung des Friedens in den bayerischen Landen, vereitelte einen Anschlag seiner Verbündeten auf den Ingolstädter und bot ihm die Hand zur Versöhnung. Sein Dank war ein mit Hohn und Schimpf beladener Brief, der ihn des Raubes am Hause Wittelsbach beschuldigte, ihn die brandenburgische Elster nannte und mit den Worten begann: »Du kürzlich hochgemachter Markgraf!« Da schob auch Fritz von Zollern die Faust in den eisernen Handschuh und erschien im Felde. Mit raschen Stößen warf er dem Ingolstädter die Feste Parkstein nieder und eroberte die Burgen von Hilpoltstein, von Weiden und Floß.

Was Herzog Ludwig hier im Norden verlor, das ließ er seine Gegner südlich der Donau in sinnloser Verwüstung büßen. Während dieses roten Herbstes wurden die bayerischen Lande durch Eisen, Feuer und Raub so schwer geschädigt, daß innerhalb weniger Monate mehr Leute verdarben und arm gemacht wurden als sonst in hundert Jahren. Immer wieder das gleiche: fallende Burgen, stürzende Mauern, geplünderte Städte, brennende Dörfer, verwüstetes Feld, geschändete Weiber, verstümmelte Mannskörper ohne Augen und Ohren, ohne Nasen und Lebner, große Lachen geronnenen Blutes und verwesende Leichname von Mensch und Tier, die zu begraben der Krieg keine Zeit gefunden. In allen bayerischen Landen begann es zu riechen, wie es beim Gadnischen Hallturm gerochen hatte. Und während das Volk verdarb, ohne Obdach war und hungerte, füllte die Ritterschaft jede Kriegspause mit Turnier und Festen, mit Tanz und Frauenspiel.

Des Brennens und Mordens wurde weniger, als bei Anbruch der Winterkälte die Kinnhaut kleben blieb an der stählernen Halsberge und die blauen, starren Finger anfroren an den Schwertgriff.

Nachdem die Truppen bis zur Adventzeit im Felde gelegen, waren Waffen und Harnisch verdorben, die Kleider am Leib der Kriegsleute verfault, das Sattelzeug der Gäule von Nässe und Frost zermürbt.

Fast alle Dorfleute der bayerischen Lande mußten sich während des Winters in den Städten und Burgen halten. Außerhalb der Stadtmauern stand oft zwölf und fünfzehn Meilen weit kein Dorf und kein Haus mehr. Zwischen dem Main und den Bergen war an Dörfern ein halbes Tausend geplündert und niedergebrannt. Und manches Dorf war so ganz verderbt, daß weder Haus noch Kirche mehr übrig waren.

In den Städten, Burgen und umwallten Märkten, wo sich die Flüchtlinge in gedrängten Massen bei Not und Hunger zusammenhuschelten, brachen fressende Seuchen aus. Unter Armut, Leiden und Hilflosigkeit verzagten die Menschen und wurden des Lebens müde. Sie sagten: »Sterben ist das Beste.« Nur die Siechenträger und Totengräber hatten Erntezeit, und die Pulvermüller, Schwertfeger, Pfeilschäfter und Waffenschmiede fanden bei ruheloser Arbeit reichlichen Verdienst. Das stählerne Klopfen bei Tag und Nacht war wie der fiebernde Pulsschlag dieses Winters in allen Städten und Burgen.

Im schmelzenden Schnee des Febers jagten die Briefreiter durch die verwüsteten Länder, die belebt waren von Dohlenkrächzen und Geierflug. Eine böse Unsicherheit lauerte bei den schwarzen Resten der niedergebrannten Dörfer. Gauner, kranke Weiber, Bettler und Ausgestoßene sammelten sich zu Schwärmen des Elends und hausten in den Wäldern. Diebstahl, Raub und Meuchelmord durchtaumelten das Land. Ritterliche Heckenreiter machten gemeinschaftliche Sache mit den niedrig geborenen Räubern. Sogar des Königs Boten wurden auf den Straßen niedergeworfen und beraubt.

Herzog Heinrich verstand es, zwischen Landshut und Burghausen eine Art von Sicherheit aufrechtzuerhalten. An den vielen, die seinem Landfrieden in die Quere gerieten, hatten die entlaubten Bäume neben den niederbayerischen Straßen schwer zu tragen. Herr Heinrich pflegte zu sagen: »Das sind Wölfe. Weg damit!« Es sah auch sonst im Herzen seines Landes während dieses Winters ein wenig besser aus als anderwärts. Er hatte den Gegner nach Kräften geschädigt, doch immer nach Möglichkeit seine eigenen Leute geschont. Es war eines von seinen klugen Worten: »Wenn alle Bauern erstochen werden, wo nehmen wir andere her, um uns zu ernähren?«

Bei Beginn des lauen Frühlings stand er mit erfrischten, gut bewaffneten Truppen wieder als erster im Feld und berannte die noch winterschläfrigen Burgen seines Gegners. Er wandte sich immer gegen Plätze, deren Bezwingung nur ein mäßiges Opfer an Geld, Zeit und Menschen von ihm verlangte.

Ehe die blauen Veilchen kamen, war von den Bergen bis zum Main der Krieg schon wieder in roter Blüte.

Herr Heinrich – ohne Rücksicht auf seine Verbündeten nur den eigenen Vorteil wahrend – führte diesen Frühlingsfeldzug so vorsichtig und sandte den treuen Vettern nur so bescheidene Hilfe zu, daß die Herzöge von München unwillig wurden und klagten: »Willst du nicht besser beispringen, so müssen wir von diesem Kriege abstehen.«

Mit Heinrichs sparsamer Hilfstruppe, mit ihren Münchener Bürgern und ihren Oberländer Bauern brachen Herzog Ernst und Wilhelm dem Ingolstädter die Feste Friedberg, die Burgen Schwabeck, Türkheim und Grainsbach und bedrohten die Städte Neuburg und Rain, zwischen denen die Fackeln von hundert Dörfern loderten.

Noch übler als südlich der Donau stand die Sache des von Feinden umkreisten Ingolstädters im Nordgau. Als Markgraf Friedrich die festen Plätze Kirchberg, Monheim und Dingolfing mit dem Schwerte genommen und zur Huldigung gezwungen hatte, mußte Ludwigs Hauptmann Christoph Laiminger nach dem Falle von Lauf bei Fritz von Zollern um einen Waffenstillstand ansuchen.

Herzog Ludwig geriet in eine erbitterte Stimmung. Der Ausgang des Unternehmens konnte bei der Übermacht seiner Gegner nicht zweifelhaft sein. Die Zahl seiner Feinde mehrte sich noch immer, und seine eigenen Leute begannen irr an ihm zu werden. Die kleinen Mäuse verließen das sinkende Schiff. Auch einer von Ludwigs mächtigsten Vasallen, der Abendsberger, fiel von ihm ab und öffnete den Münchener Herzögen seine Burgen. Doch was in Ludwig die strotzende Kraft am gefährlichsten zerbröselte und sein helles Lachen erlöschen machte, war sein begründetes Mißtrauen gegen den eigenen Sohn. Prinz Höckerlein, obwohl er in diesen knirschenden Zeiten Töne von kindlicher Herzlichkeit gegen den Vater zu finden wußte, entwickelte hinter des Herzogs Rücken eine unheimliche Tätigkeit, zog des Vaters Freunde durch goldene Versprechungen an sich und gewann des Herzogs Vertrautesten, den Lautenspieler Nachtigall. Herr Ludwig fühlte das graue Spinnennetz, das da gewoben wurde, und konnte es doch mit seiner starken Faust nicht fassen, nicht zerreißen. Er ließ sich bei Tag und Nacht von seinen roten Einrössern bewachen und genoß keine Speise, ohne daß Prinz Höckerlein die Mahlzeit mit ihm teilte. Das Gefühl der Unsicherheit, seine ruhelose Sorge um Macht und Leben, seine gereizte Laune und sein Jähzorn verleiteten ihn zu Grausamkeiten, die sonst nicht in seiner Art lagen.

Als eine seiner reichsten Städte, Donauwörth, von ihm abfiel und ihm die schweren Steuerlasten mit offener Fehde heimzahlte, zwang er den Bürger Lang, der den Fehdebrief überbrachte, das Pergament mit Schnur und Siegel zu verschlucken. »Du bist kein Gesandter. Du bist ein meineidiger Schuft. Allen deinen Mitbürgern, wenn ich sie fange, soll es ergehen wie dir!« Dieser leutselige und frohe Fürst, der noch nie in seinem Leben ein Todesurteil unterschrieben hatte, gab den Befehl, dem städtischen Gesandten die Augen auszustechen, die Zunge und den Lebner abzuschneiden und die beiden Hände vom Leib zu hacken.

Als dem Herzog in seiner kostbaren Stube gemeldet wurde, daß es geschehen wäre, deutete er auf den aus Bronze gegossenen Bluthund und sagte im Ekel: »Jetzt bin ich auch wie der! Heraufsteigen zu mir hat sie nicht können, die Laus! Jetzt hat sie mich zu sich hinuntergezogen.« Beim Auf- und Niederschreiten durch die von Vogelgezwitscher erfüllte Stube sah er in einem Silberspiegel sein Bild, lachte grell und spie es an. Dann plötzlich umklammerte er den Hals seines alten Gleslin, weinte wie ein Kind und bettelte: »Laß ihn töten! Daß er nicht leiden muß!«

Nach diesen Tränen schien die alte Kraft in ihm wieder wach zu werden. Er wehrte sich wie ein Verzweifelter gegen eine Welt in Waffen, verpfändete seine kunstvollen Kostbarkeiten an Juden und reiche Bürger, rüstete ein neues Heer und gewann im Unglück eine Seelengröße, eine Festigkeit und Ruhe, daß auch unter seinen Gegnern mancher Gerechte ihn einen ›herrlichen, preiswerten Fürsten‹ zu nennen begann.

Die Münchener Herzöge – durch Ludwig zum Abzug von Rain und Neuburg gezwungen – wurden immer drängender gegen den Vetter Heinrich, dem sie trotz allem Mißtrauen noch immer die Treue hielten.

Heinrich schickte neue Versprechungen und bundsbrüderliche Briefe, doch keinen Gaul, keinen Spießknecht, keine Büchse, und blieb persönlich dem Feldlager fern, sich entschuldigend mit einem Anfall seiner Krankheit. Durch Kundschafter gut unterrichtet, witterte er mit seiner klugen Nase das Erwachen einer neuen, bedrohlichen Kraft in dem ›Unverwüstlichen zu Ingolstadt‹. Und da hielt er mit Vorsicht das Seine zusammen, und während er am Tage zu Burghausen und seiner pflichtschuldigen Fiebers willen das Bett hütete und erst nach Anbruch der Dunkelheit einen erfrischenden Ausritt unternahm, betrieb er innerhalb seiner Mauern mit Hast und aller Gewalt ein neues Rüsten.

Da wurde ihm zu Anfang des August, in später Nachtstunde, eine Botschaft gebracht, die ihn barfüßig aus dem Bett trieb und zu so wildem Jähzorn reizte, daß sich nun ein Anfall seines Erbübels ganz ehrlich bei ihm einstellte.

Sein Schwager Zollern hatte ihm sagen lassen: »Wehre dich mit eigenen Fäusten deiner Haut, wenn du glaubst, daß du noch immer fechten mußt! Mich erbarmt dieses schönen, deutschen Landes. Und der König will's. Ich schließe Frieden. Willst du dir raten lassen und nicht den Zorn des Königs wider dich heraufbeschwören, so tue das gleiche! Meinst du es aufrichtig, so will ich Mittler sein zwischen dir und dem Loys.«

Jagenden Puls in den Adern, mit nackten Füßen, nur in einen Mantel gewickelt, tobte Herr Heinrich in den schlecht beleuchteten, schmucklosen Stuben seiner Burg umher, während man den geheimen Rat Nikodemus aus der Stadt heraufholte.

Die Zähne des Herzogs knirschten, die Nägel seiner Finger gruben sich in das Fleisch seiner zarten Fäuste, und die Augen traten ihm vor wie bei einem, den die Angst vor dem Tode rüttelt.

Sein wühlender Haß schon fast erfüllt! Seine Sehn sucht schon fast zur Wahrheit geworden! Das erdürstete Glück schon in den Händen! Jener ›Starke‹ mit der gebeugten Stirn und dem erloschenen Lachen schon fast in den Staub gedrückt! Und jetzt alles nur ein Halbes! Alles zunichte, allem die Kehle durchschnitten. Und ihm, diesem Schwachen und Kleinen, war wieder das Schwert aus der Hand gewunden – wie damals auf der dunklen Gasse zu Konstanz!

In der großen, vielfenstrigen Stube, vor deren Scheiben eine schöne Sommernacht mit funkelnden Sternen blaute, setzte sich Herr Heinrich unter keuchenden Atemzügen, die flehende Mahnung seines Kämmerers mißachtend, an den Tisch und begann zu schreiben.

Als Nikodemus kam, war die Antwort an Fritz von Zollern vollendet. Und Herr Heinrich war ruhig. Er reichte seinem geheimen Rat die Botschaft des Schwagers. »Lies!« Lächelnd schlüpfte er in die warmen Schlafschuhe, die ihm der Kämmerer gebracht hatte, und zog seinen schwarzen Mantel fester um das Hemd.

Nikodemus, als er gelesen hatte, sah den Fürsten erschrocken an. Der lachte leis und gab ihm die schief gekritzelte Antwort zu entziffern.

Man sah es dem Kahlköpfigen an den Augen an, daß er den Inhalt dieses Blattes nicht begriff.

»Wie heißt der letzte Satz?« fragte Herr Heinrich.

Nikodemus las: »So tue in deinem und meinem Namen, was ich als notwendig, hilfreich und redlich erkenne.«

Mit heiterer Spannung in den fieberglänzenden Augen fragte der Herzog: »Das verstehst du doch?«

»Nicht ganz.«

»Dann mußt du dich noch ein wenig besinnen. Treue Diener müssen die Gedanken ihres Herrn erraten. Siegle das Pergament! Und fort damit! Der Bote meines deutschen Schwagers wartet.« Herr Heinrich hatte das ›deutsch‹ wie ein spottendes Wort betont. Nun trat er zu einem Fenster hin. Da draußen dämmerte ein klarer Morgen. »Schön Wetter wird! Dieser gute König, der in Eilmärschen zu uns bösen Vettern kommt, um uns friedsam zu machen, wird feines Reisewetter haben.« Ein kurzes Lachen. »Ob Herr Sigismund, der sich um unseren Frieden bemüht, nicht besser Ursach hätte, den Frieden in seinem Ehebett herzustellen? So viele Hirsche habe ich in meinem Leben noch nicht geschossen, als Königin Barbara ihrem hohen Gemahl schon durch das schöngesalbte Lockenhaar springen ließ.«

»Auch Simson wurde betrogen.«

»Dann bin ich lieber ein Schwacher. Aber wahr ist's, lernen kann man von diesem König. Er liebte zu sagen: ›Wer nicht zu heucheln weiß, versteht nicht zu regieren.‹ Ein gutes Wort! Seiner hab ich mich heut erinnert. Die Weisheit des Königs wird mir Früchte bringen. Gott soll's wollen.« Während Herr Heinrich zur Türe ging, glitt sein heiterer Blick über die Spruchbänder an der weißen Mauer. »Heut hab ich an den Loys gedacht! Jetzt leg ich mich ins Bett. Guten Morgen, Nikodemus!« Dem Kämmerer befahl er: »Ruf mir den Medikus!« Unter seinem Mantel schauernd, trat er in den kahlen Korridor hinaus.

Vor der Schlafstube des Herzogs hielten zwei Harnischer mit blankem Eisen die Wache – ein langer, sehniger Mensch mit einer schweren weißen Narbe über das sonnengebräunte Gesicht herunter; der andere ein klobiges Mannsbild in wuchtigem Panzer, mit steinernen Zügen und heißen Augen. Diese beiden schienen bei Herzog Heinrich in hoher Gunst zu stehen, da er ihnen seinen Schlaf und sein Leben anvertraute. Er nickte ihnen freundlich zu. Und zu dem Mageren mit der schweren Narbe sagte er lustig: »He, du, mein Nüremberger Galgenvogel? Bist du gesund?«

»Nit ganz, Herr!« Der Harnischer lachte, doch etwas Mürrisches war im Klang seiner Stimme. »Faule Zeit vertrag ich nit recht.«

»Dann wirst du gesünder werden.« Herr Heinrich, sich streckend, legte dem anderen die Hand auf die eiserne Schulter. »Und du, Ramsauer? Warum dürsten deine Augen so heiß?«

»Weil ich sterben muß, wenn ich nit bald zu schaffen krieg.«

Der Herzog betrachtete die zwei. »Hätt ich tausend wie ihr beide seid, so würde Gott immer wollen, was mir wohlgefällt.«

In einem Schüttelfrost fingen ihm die Zähne zu schnattern an. Dabei kicherte er vergnügt vor sich hin: »Arbeit kommt. Wir kleinen Läuse wollen einen Stier umschmeißen.«

Es erschien der Leibarzt mit dem Heiltrank; hinter ihm zwei Diener mit der Essigschüssel und den Tüchern.

Bei der Schlafstubentüre des Herzogs gab es ein ruheloses Hin und Her. Im Nachtkleide kam die Herzogin Margarete gelaufen, Schreck in den Augen, und wollte eintreten. Aus der Stube hörte man die schnatternde Stimme des Herzogs: »Sei verständig, Gretl! Denk an das junge Leben in dir und bleib in deinem Bett. Und weck mir den Jungen nicht auf. Der soll schlafen. Hörst du?«

Links und rechts von der Schwelle standen die beiden Harnischer wie starre Eisenbilder. Solange sie auf Wache waren, durften sie nicht reden miteinander. Doch ihre Blicke hielten Zwiesprache. In dem Schwergepanzerten, unter dessen Eisenschaller das völlig weiß gewordene Haar herausquoll, schien eine wilde Freude zu wühlen; sie verzerrte sein steinernes Gesicht und war wie ein Brand in seinen Augen. Aus dem Blick des anderen, über dessen sonnverbranntes, in Leiden hager gewordenes Gesicht die schreckliche Narbe lief, sprach eine flackernde Ungeduld, in der sich Hohn und Sorge miteinander mischten.

Als der Morgen hell wurde, rasselte eine Ronde von sechs Harnischern, die ein ritterlicher Hofmann des Herzogs führte, durch den kahlen Gang herauf. Die zwei bei der Türe wurden abgelöst; dann die zwei alten Doppelsöldner vor dem Schlafzimmer der Herzogin und die zwei Gepanzerten vor der Stube des fünfjährigen Prinzen Ludwig.

Die Ronde der Abgelösten klirrte in den Schloßhof hinunter. Hier war es ruhig. Doch Hof- und Wehrgänge waren so dick mit Spießknechten, Armbrustern und Faustschützen besetzt, als wäre ein Angriff in jeder nächsten Stunde zu besorgen. Vor dem grauen Schatzturm – den Herr Heinrich den ›Sieger‹ nannte – bewachten vier Gepanzerte die schwer mit Eisen beschlagene Türe. Junge Weibsleute gingen mit leisem Schwatzen umher und verteilten an die Soldleute die Morgensuppe und den Frühwein.

Über eine Zugbrücke, unter der ein faules Wasser den weißblauen Himmel des erwachenden Tages spiegelte, kam die Ronde in den zweiten Burghof. Das gleiche Gewimmel von Waffen wie im Hof des Schlosses. Und ein Schwarm von Handwerksleuten kam zur Arbeit. Schweres Balkenfachwerk umhüllte den noch unvollendeten Hunds-Törring; der gewaltige Turm war bis zur dritten Schartenreihe gewachsen und sollte vollendet stehen, ehe der Winter käme.

Im dritten Burghof, wo die neugegossenen Hauptbüchsen Maul gegen Maul in zwei Reihen standen, waren die Schlafhäuser und Turmstuben der Trabanten und Doppelsöldner. Hier ging die Ronde der Abgelösten auseinander.

Die beiden, die vor der Schlafstube des Herzogs gestanden, traten in einen kleinen, alten Turm. In dem dunklen Stiegenraum umklammerte der Ältere den stahlgeschienten Arm des anderen. Eine rauhe Stimme: »Was uns der Herr vertraut hat, muß man verschweigen. Auch vor dem müden Buben da droben.«

»Ich hätt mir den Schnabel eh nit zerrissen!« gab der andere mürrisch zurück und wollte über die steile Treppe hinauf.

»Bleib!«

»Was willst?«

»Wer kann sagen, was kommt? Ich möcht nit haben, daß auch du noch saufen mußt – von meiner Treu. Du! Unter den Meinen der Beste. Besser, als ich selber bin. Und ich sah, du leidest. Ich mein auch, daß ich weiß, warum.«

Ein hartes Lachen. »So? Meinst? Könnt auch sein, daß du dich irren tust.«

»Ich irr mich nit. Willst du frei sein, so bist du's. In meiner Seel wirst du bleiben, so lang ich leb. Jetzt kannst du dir noch allweil ein neues Leben machen. Das meinig ist aus, ich weiß nit, wann. Sobald der Streich gefallen ist, auf den ich wart! Ich mag dich nit mit hinunterreißen. Du sollst weiterschnaufen.«

»So? Weiterschnaufen? Da mußt du mich bleiben lassen. Magst du mich nimmer als Knecht, so laß mich bleiben als des Buben Bruder. Dich und den Buben hab ich. Sonst nichts. Das mußt du mir lassen. Komm! Auf der finsteren Stiegen wispern? Wir sind doch keine Liebesleut. Tät ich nit wissen, daß du nüchtern bist wie der Schloßkaplan vor der Frühmess', so tät ich glauben: Du bist voll und hast einen Jammer. Komm! Und mach keinen Lärm! Der Bub muß Ruh haben. Die braucht er wie ein kranker Vogel die Federn. Tu fürsichtig auftrappen!«

Runotter nahm die Eisenschaller vom Kopf, legte den klirrenden Arm um den Nacken des Malimmes und preßte die Stirn an seine zerhackte Wange.

Vorsichtig stiegen sie über die drei steilen Treppen hinauf, die wie schmale Leitern waren.

Eine kleine Turmstube mit zwei Betten; drei Holzstühle und ein plumper Tisch bei dem winzigen Fenster; zinnernes Geschirr in einer Rahme; und an den Holznägeln der Mauer hingen die Kleider und das Waffenzeug.

Während Malimmes neben dem Herd die Rüstung lautlos von sich herunterschälte, trat Runotter in die Helle des Fensters. Mit den weißen, dünnen Haarsträhnen sah er aus wie ein Siebzigjähriger, der noch den Körper eines kraftvollen Mannes hat. Er legte jedes Wehrstück, das er von sich abtat, auf sein Bett hin. Malimmes kam mit nackten Füßen aus dem Herdwinkel und half. Dieses Jahr des Burgenbrechens, des Mordens und Brennens, der Gefahr und Mühsal, hatte den Bauernsöldner äußerlich kaum verändert. Nur ein bißchen mager war er geworden, und in dem sonnverbrannten Gesicht war die große Narbe jetzt wie ein weißer Kreidestrich. Noch immer war das Lachen um seinen Mund, doch mit einem Zug von Hohn und Starrheit. Und ein müdes Leiden dämmerte in seinen Augen.

Runotter ging auf die niedere Kammertüre zu.

Rasch fragte Malimmes: »Wär's nit besser, du tatst dich schlafenlegen?«

»Ich muß das Kind sehen.«

»Höi, Bauer! Ich müßt viel! Und tu's nit.«

Runotter zögerte. Dann griff er hastig nach der Klinke und trat in die Kammer. Ein Raum, der gerade ausreichte, um ein Bett, einen kleinen Tisch und einen schmalen Kasten zu fassen. Das Fenster ging nach Osten, von wo die kommende Frühsonne ein glimmerndes Feuerband über die Balkendecke hinwarf. Auf dem Gesimse standen drei Töpfe mit rotblühenden Blumen; sie sahen in der ersten Morgenglut der Sonne wie kleine, stille Flammen aus. Über dem Bett war ein plumpes Kreuzbild, mit Blüten und Grün geschmückt. Auf einem Sessel lag die bunte Kleidung eines Jungsöldners.

Jul, in einen braunen Mantel gewickelt, ruhte schlafend auf dem Bett, mit den Fäusten vor den Augen. Das dichte, langgewordene Haar umschleierte die heiße Wange und verhüllte die Schultern. Während Runotter neben dem Bette stand, schlief Jul noch immer weiter; doch als der schwere Mann die Kammer lautlos verlassen wollte, fuhr Jul mit dem Kopf und dem rieselnden Schwarzhaar vom Kissen auf. Dieser Kopf mit diesem Haar und den entrückten Augen war von ergreifender Schönheit, lieblich und dennoch erschreckend. Das strenge, schmale, sonngebräunte Knabengesicht hatte noch nie so deutlich den Zügen eines Weibes geglichen wie jetzt nach diesem Jahr der Reiterplage, nach dem Anblick alles kriegerischen Grauens, nach dem Miterleben des gehäuften menschlichen Jammers. In den großen, blauen Augen, die im Erwachen ratlos ein Ziel der Ruhe zu suchen schienen, brannte ein seelenkranker Blick, der wie das Träumen einer ekstatischen Nonne war.

»Gottes Gruß zum Morgen, Kind!«

Juls Augen, die noch immer nicht völlig erwachen wollten, irrten über die Mauern des kleinen Raumes hin und blieben verstört an dem gebeugten Manne haften. »Kommt schon wieder ein Tag?« Das klang, wie die Rettungslosen fragen: »Kommt der Tod?«

Bekümmert sagte Runotter: »Kind! Die Sonn ist da. Siehst du's nit?«

Stumm schüttelte Jul den Kopf, und eine gramvolle Müdigkeit veränderte sein Gesicht.

»Ich bin schuld.« Runotter atmete schwer. »Der ander hat wieder recht gehabt, ich hätt deine Ruh nit stören sollen. Geh, tu noch weiterschlafen!« Er wollte die Kammer verlassen.

Da streckte Jul die zitternde Hand und flüsterte mit der Angst eines Kindes, das sich vor Gespenstern fürchtet: »Vater!«

Runotter kam, setzte sich auf den Rand des Bettes und faßte die glühenden Hände: »Um Gott, was ist denn mir dir?«

Und Jul, wie im Fieber: »Vater! Tu mich anschauen! Was siehst du an mir?«

»Was soll ich denn sehen?«

»Meine Stirn schau an! Siehst du da nicht, was anders ist wie sonst?«

»Du bist wie allweil.«

Ein tiefes Atmen, ein dumpfes Besinnen. Und dann die hastige Frage: »Vater? Sag mir, ob das sein kann?«

»Sein kann alles. Was meinst du?«

»Ob das sein kann? Daß man ein zwiefacher Mensch ist und ein doppeltes Leben hat? Das eine im traurigen Wachen und das ander – ich weiß nit, wann? Und ich weiß nit, wo?«

Runotter erschrak. Bevor er antworten konnte, befreite Jul. die zitternden Hände, warf sich auf das Lager hin und preßte unter ersticktem Schreikrampf das Gesicht ins Kissen.

Hilflos sah Runotter diesen zuckenden Körper im braunen Mantel an und ballte die Fäuste. »Aschacher? Wo bist du?«

Tappende Sprünge. Mit nackten Füßen, halb entkleidet, stand Malimmes am Bett, faßte den Jul an beiden Schultern, rüttelte ihn heftig und befahl: »Wie, Bub! Sei gescheit! Flink, steh auf!« Er lupfte ihn aus dem Bett heraus und stellte ihn aufrecht hin. »Jetzt tu dich waschen! Fest! Der Tag wird schön. Wir zwei, wir reiten ein paarmal in der Sonn um die Stadt herum.« Malimmes packte den Runotter am Arm und zog ihn aus der Kammer. »Komm, Bauer! Ich koch derweil, bis der Bub sich fertig macht!«

Gewaffnet, in bunten, schmucken Kleidern und im Funkelglanz der Stahlplatten, ritten Malimmes und Jul um die siebente Morgenstunde zum Tor hinaus. Der Falbe und der Jngolstädter schmiegten sich im Traben gegeneinander, und immer scherzte der eine mit der Schnauze nach dem anderen hin. In der Sonne schimmerte das Fell der Gäule, das am Hals und auf den Hinterbacken von vielen, weißgrauen Narben durchrissen war. – –

– Auf der gleichen Straße war im Grau des Morgens der Bote des Brandenburgers mit starkem Geleit davongeritten, gegen die Donau hinunter.

Fünf Tage später jagte dieser Bote von Nürnberg nach Ingolstadt.

Als er um die Mittagsstunde bei Herzog Ludwig einritt in den von heiterm Lärm und buntem Leben erfüllten Schloßhof, mußte er verwundert dreingucken, mußte lachen, mußte an Burghausen denken. Was er dort gesehen hatte, war die wache, schweigende, bis an die Zähne bewaffnete, des Angriffs harrende Kraft. Und hier – wo er das Elend und die Trostlosigkeit des Besiegten zu schauen erwartet hatte – hier lärmte und jubelte in der Mittagssonne aller farbige Leichtsinn des Lebens. Da war ein fröhliches Gewimmel von Jägern und Falknern, von huschenden Windspielen und kläffenden Jagdhunden, von scharlachfarbenen Einrössern und ritterlichen Herren in reichem Hofkleid, von Gauklern, Musikanten und geschmückten und geschminkten Weibern. In den großen Hallen, die den Hof umgaben, waren Tische zum Mahl gestellt. An gesonderten Tafeln hatten jene Fremdländer, die zu Herzog Ludwig gekommen waren, um Ritterschaft zu suchen, sich landsmännisch zusammengetan. Während die Tafelmusik den Lärm durchschrillte, wurde an dem einen Tisch französisch geschwatzt, am anderen italienisch; hier flämische Laute, dort das wunderliche Wortgesprudel der Ungarn. In einer Ecke der Halle saßen die Edelleute der Salzburgischen und Berchtesgadnischen Hilfstruppe.

Neben dem mürrisch dreinschauenden Hauptmann Hochenecher pokulierte schwatzlustig der junge Sigwart von Hundswieben mit dem Chorherrn Jettenrösch. Der Krieg und das emsige Suchen nach Ritterschaft hatte die beiden so sehr verwildert, daß von dem geistlichen Stande, dem sie angehörten, nimmer viel an ihnen zu merken war. Den zwei vergnügten Freunden gegenüber hielt ein Fünfzigjähriger eine hübsche, kichernde Weibsperson auf den Knien und tuschelte ihr Spaße ins Ohr, über die auch dieses geschminkte Laster noch zu erröten drohte. Er war wie ein eitler Jungherr gekleidet, obwohl ihm der zierlich gestutzte Knebelbart schon zu ergrauen begann; die blauroten Äderchen des Trinkers überkräuselten seine Wangen, und in den grauen Augen glänzte eine freche Lustigkeit. Es war der Chiemseer Chorherr Hartneid Aschacher, der vor neunzehn Jahren aus dem Stift zu Berchtesgaden hatte verschwinden müssen.

Einem jungen, sonngebräunten, ernstblickenden Kriegsmarine, der über schmuckloser Kleidung den spiegelblanken Brüstling einer flämischen Rüstung trug, schienen die Tafelspäße des Chiemseers zu mißfallen. Schweigend erhob er sich vom Tisch und trat aus der kühlen Halle in den sonnigen, von heiterem Lärm erfüllten Hof hinaus. Bei raschem Gange knappte er ein bißchen mit dem linken Bein.

»He, Someiner!« rief der Chorherr Jettenrösch. »Wohin denn?«

»Laß ihn laufen!« wehrte der junge Hundswieben. »So ein muckischer Spielverderb! Der tät besser nach Burghausen taugen als nach Ingolstadt.«

Lampert, der diese Worte noch gehört hatte, drehte das Gesicht, kam zurück und sagte ruhig: »Hundswieblin! Jetzt sind wir des Herzogs Leut und haben kein Recht über uns. Sagst du aber ein zweites Mal so ein Wort, so denk ich nimmer, sondern schlag dich mit der Faust unter den Tisch hinunter.«

Der junge Hundswieben wollte vom Leder ziehen. Aber Jettenrösch, während Hartneid Aschacher lustig hetzte, faßte den Erbosten am Arm. Und Hauptmann Hochenecher nahm Lamperts Partei und sagte: »Recht hat er. Das ist ein Mensch. Wo die Ferken schmatzen, ist ihm nit wohl. Mir auch nit.« Er hängte sich in Lamperts Arm und verließ mit ihm die Halle.

Hundswieben und Aschacher fingen zu lärmen an. Ihr Geschrei ging unter in dem spannungsvollen Aufruhr, den der Eintritt des brandenburgischen Boten er regte.

Um die Mittagsstunde hörte man in Herzog Ludwigs Stube, die während der letzten Wochen minder kostbar geworden war, nach langer Zeit zum ersten Male wieder jenes helle, kräftige Lachen. Ganz so hell und fröhlich wie früher klang es freilich nickt. In der erlösenden Freude, die da gekommen war, bitterte auch ein Tropfen Demütigung und Ärger. Aber es war doch ein Lachen, bei dem der alte Gleslin mit frohem Verwundern aufblickte. Der Lautenspieler Nachtigall unterbrach die kunstvolle Weise, die er im Erker klimperte; und weil er seinem Fürsten eine wühlende Gedankenarbeit ansah, verhängte er die Käfige der zwitschernden Vögel; die kleinen Sänger wurden stumm, und da war nun ein wunderlich bedrückendes Schweigen in der Stube.

Prinz Ludwig, der in einer Fensternische saß und an den Fingernägeln biß, sah den froherregten Vater an und wurde blaß bis in die Halskrause. Seine Augen forschten, während er langsam den mißgestalteten Körper aufrichtete. Lächelnd machte er ein paar von seinen wippenden Käferschritten gegen den Herzog, der dem alten Gleslin das Pergament des Brandenburgers über den Tisch hinüberreichte: »Gleslin? Wie gefällt dir das?« Wieder lachte Herr Ludwig.

Mit zärtlichem Augenaufschlag lispelte der bucklige Knabe: »Mein geliebter Vater scheint Botschaft er halten zu haben, die gut ist?«

»Ja, mein Honigwürmchen!« erwiderte der Herzog, halb heiter, halb in Zorn. »Diese Botschaft ist für mich so gut, daß sie dich schwermütig machen könnte. Drum verschweig ich sie dir. Wolltest du nicht heute mit dem Sperber reiten? Es soll dir gestattet sein.« Der Prinz lächelte, während in seinen Mundwinkeln das Zucken eines leidenden Kindes war. »Die Sonne brennt. Mein Sperber ermüdet leicht in der Hitze. Ich will warten auf einen kühleren Tag.« »So tu, was du willst!« Der Herzog deutete nach der Tür. »Ich gebe dir Urlaub.«

Stumm, den großen Kopf zwischen die gekrümmten Schultern ziehend, wippte Prinz Höckerlein durch die Stube. Auf der Schwelle, schon halb verborgen von den Brokatvorhängen, drehte er sich beim Komplimentieren wie ein ungeschickter Tänzer und warf dem Lautenschläger Nachtigall einen funkelnden Blick zu. Herr Ludwig, der diesen Blick nicht sehen konnte, sagte hart: »Gott erlöse uns von allem Übel!« Draußen vor der Türe knurrten die beiden Doggen. »Hörst du, Gleslin? Sie hassen ihn.« Er tat einen scharfen Pfiff. Lärmend kamen die zwei großen Hunde in die Stube gefahren und sprangen mit Gewinsel an der hohen Gestalt des Herzogs hinauf. Er liebkoste ihre schönen Köpfe. »So! Jetzt legt euch wieder! Ihr meine Getreuen!« Die Bracken, als hätten sie jedes Wort ihres Herrn verstanden, gingen Seite an Seite und mit ruhigem Schritt aus der Stube. In den Augen des alten Gleslin war ein tiefer Kummer. Was er da zwischen Vater und Sohn hatte spielen sehen, ließ ihn fast des wichtigen Pergamentes vergessen, das er zwischen seinen dürren, zitternden Händen hielt. Der Herzog mußte nochmals fragen: »Also? Wie gefällt dir das?«

Gleslin sah das Blatt an. Erst nach einer Weile konnte er antworten: »Herr, das ist die Rettung.«

»Das ist mehr! Nicht nur die Rettung aus meiner Klemme. Auch ein Wegweis zu neuem Aufstieg. Es wird mir hart, dir einzugestehen, daß du recht hattest, damals, als ich losschlug wider deinen Rat. Aber Wahrheit geht durch alle Greuel, ohne den Saum ihres Kleides zu beschmutzen. Ja, Gleslin, er ist ein Starker. Jetzt weiß ich, daß er auch gut ist. Drum mußte er mich besiegen, der ich stark war und bösartig bin. Ich will lernen von ihm.«

Ein Aufatmen hob die Schultern des Greises, während Herzog Ludwig nach dem Pergamente griff, um wieder zu lesen, was seine Rettung war.

Eine kurze Botschaft: Friedrich von Zollern trug sich als Mittler zwischen Loys und Heinrich an, der es redlich meine und eine Verständigung zwischen Ingolstadt und Landshut als notwendig und hilfreich erkenne. Die Botschaft schloß mit den Worten: »Ehe wir handeln wegen des anderen, wollen wir das Unsere reinlich in Ordnung bringen. Ich biete dir abermals die Hand zum Frieden. Willst du?« Herr Ludwig antwortete: »Ich will nicht. Aber ich muß. Du bist der Stärkere.«

Den reichbeschenkten Boten, der diese Worte nach Nürnberg davontrug, begleitete des Herzogs Vizedom Brunorio von der Leiter, um mit Zollern den Frieden abzuschließen und wegen der Sühne zu verhandeln, die Herzog Heinrich für seine meuchlerische Tat von Konstanz leisten sollte. Gegen die sechste Nachmittagsstunde ritten sie mit verschwenderisch ausgestattetem Geleit davon. Außer dem Herzog, dem alten Gleslin und dem getreuen Nachtigall wußte niemand zu Ingolstadt, welche Botschaft da getragen wurde. Wieder glänzte ein goldroter Abend durch die Scheiben des Erkers herein, in dem der Lautenspieler seine klingende Kunst erwies. Herzog Ludwig, während er rastlos durch die Stube wanderte, mußte Musik hören, um des frohen Aufruhrs Herr zu werden, der ihn erfüllte, und um die wirbelnden Pläne dieser Stunde zu ordnen. Was jetzt vor ihm lag, war neues Leben, neue Macht. Das wiederholte Friedensgebot des deutschen Königs? Die mit der Hölle spielenden Drohungen des päpstlichen Legaten Branda? »Gleslin? Sind das Dinge, die mich bezwingen? Das deutsche Königtum ist ein leerer Sack. Laß ich Gold hineinschöpfen, so kann ich mich draufsetzen. Und die Hölle ist eine zweifelhafte Sache. Da spar ich mir die Neugier auf eine spätere Stunde, die alle Nüsse knackt. Jetzt leb ich wieder. Und so lang ich lebe, will ich mit festen Füßen auf meiner Erde stehen. Jetzt hab ich nur noch einen Feind, der mir Sorge macht. Meinen Sohn und Erben!« Herr Ludwig sah zur Türe hin. »Diesen Honigwurm muß ich in eine Wabe setzen, die er härter als Stein und Eisen finden soll! Dann will ich wider die minder Gefährlichen tun, was ›notwendig und hilfreich‹ ist – wie diese kleingewordene Laus von Burghausen sagt.«

Gleslin, der die Gedanken seines Herrn erriet, begann in Sorge zu warnen, noch ehe der Herzog den keimenden Plan dieser Stunde deutlich ausgesprochen hatte: gegen die Vettern zu München, die ihn bitter bedrängt und schwer geschädigt hatten, alle Reste seiner Macht zu einem schnellen und vernichtenden Schlag zu sammeln, jetzt, da er durch den Frieden mit Fritz von Zollern von seinem gefährlichsten Gegner im Rücken erlöst war und auch des anderen ledig wurde, der untätig zu Burghausen saß und ängstlich um seinen dünnen Hals zu feilschen begann.

»Herr! Herr!« jammerte Gleslin. »An diese friedsame Untätigkeit zu Burghausen glaub ich nicht.«

»Da magst du recht haben! Eine Laus kann das Beißen nicht lassen, solange sie nicht geknickt wird!« Herr Ludwig hatte wieder völlig sein frohes Lachen von ehedem. »Drum will ich mich vorsehen und die günstige Stunde nützen, die mir heute kam. Das ist meine Stunde, Gleslin! Vor einem Jahr warst du der Klügere. Das hab ich eingesehen. Heute bin ich es. Und das sollst du begreifen müssen. Nein, schweige! Oder du wirfst mir mit deiner Ängstlichkeit eine neu erstehende, schöne Welt über den Haufen. Jener Kleine von Burghausen möchte Dach sein. Dieses in Treue törichte München ist seine tragende Mauer. Schmeiß ich die Mauer nieder, so fällt das Dach. Dann habe ich Ruhe für immer.«

Gleslin warnte und flehte in der zitternden Schwäche seines Alters.

Doch dieser Lachende wuchs mit jedem Worte fester in seinen neugeborenen Willen hinein. »Ich schlage los, sobald ich viertausend Helme ins Feld stellen kann. Vor meinem Haupthaufen schick ich meinen Verläßlichsten voraus, den Hauptmann Wessenacker. Der soll mit einem Handstreich das gute München nehmen. Da reichen siebenhundert Pferde. Die Zeit hat Rosen für mich, dieweil sie verblühen für die anderen. Ich weiß, das Volk von München grollt mit seinen Herren um der schweren Steuer willen und ist müde des Fechtens. Mir waren die Münchener immer gut. Weil sie gesunde Menschen sind, lieben sie das Starke und Frohe. Sie werden zu mir stehen, sobald der Wessenacker die erste Mauer niederstößt. Das soll geschehen am Tage vor Matthäi. Mein Heiliger, Gleslin, mein Heiliger! Der hält zu mir!«

Dem gewalttätigen Strom dieser Worte stand Gleslin hilflos gegenüber. Mit Tränen in den Augen, keines Wortes mächtig, faßte er den durch die rote Sonne schreitenden Fürsten am Sammetärmel.

Diese körperliche Berührung schien Herr Ludwig übel zu vermerken. Doch rasch bezwang er den aufsteigenden Jähzorn, sah den erschrockenen Greis freundlich an und sagte heiter: »Aber Gleslin! Sei doch nicht wie ein feuchtes Mädel! Du! Ein Mann in trockenen Jahren!« Er wurde ernst. »Und jetzt ein Ende! Ich hab's gesagt. Es wird geschehen.« Vom Blutglanz des Abends umwoben, trat er zum Erker hin. »Nachtigall! Spiel! mir das frohe Liedchen, das ich liebe! Heut soll es mir singen von meinem erneuten Glück.« Ein feines, gaukelndes Saitengezwitscher. Und während Gleslin auf einen Sessel hinsank und die schwachgewordenen Knie zittern ließ, stand Herzog Ludwig hoch und straff an die Mauerkante des Erkers gelehnt und sah unter gläubigen Träumen hinaus in das rote Feuer des versinkenden Tages.

Noch in der Nacht begann das fieberhafte Rüsten. Unter den Lehensleuten wurde die Rede ausgegeben, Herzog Ludwig, um den deutschen König zu versöhnen, erfülle einen frommen Wunsch des Gesalbten und rüste einen Heerhaufen wider die böhmischen Ketzer, die in drohenden Schwärmen gegen die Ostgrenze der fränkischen Lande herandrängten. –

Eines Tages – der nicht kühl war, sondern eine brennende Sonne über den wolkenlosen Himmel heraufschickte – zog Prinz Höckerlein zur Flugjagd aus, auf der Faust den empfindlichen Sperber, der schon am Morgen vor Hitze schmachtete. Sieben Falkner, denen Herr Ludwig die Jagdpferde versagt hatte, begleiteten den Prinzen als unberittene Jagdgesellen. Und zur Bewachung des ›Honigwurmes‹ ritten auf guten Gäulen sechs rote Einrösser mit aus, unter Führung des getreuen Nachtigall. Der saß auf einem von des Herzogs flinksten Jagdrossen und trug nicht wie sonst die Laute, sondern war gepanzert und hatte eine scharfschießende Armbrust.

Lange vor Abend kam die Jagdtruppe des Prinzen, der in grimmiger Laune zu sein schien, in das Schloß zurück. Der Herzog, als er den Zug erscheinen sah, wurde stutzig. Die Jäger brachten keinen Reiher, auf der Faust des Prinzen fehlte der Sperber, einer von den Falknern war verschwunden, und Peter Nachtigall, der um sein Pferd gekommen, wanderte sorgenvoll hinter den sechs Einrössern einher, die den Prinzen umgaben.

Auf der Treppe trat Ludwig dem Sohn entgegen. Der fing beim Anblick des Vaters zu weinen und zu schreien an, beschuldigte den Nachtigall des heimtückischen Mordes an seinem Sperber und forderte als Sühne, daß man dem Missetäter die Hände vom Leib herunterhacke.

Der Lautenspieler stammelte: »Gnädigster Herr, ich bin unschuldig.«

Da wurde der Bucklige von solchem Jähzorn befallen, daß er Krämpfe bekam, sich in gräßlichen Zuckungen auf dem Boden wälzte und unter gellendem Geschrei mit den Fäusten gegen den Kämmerer Wolfl Graumann und gegen die Lakaien losschlug, die ihn zu seiner Stube trugen.

In den Augen des Herzogs funkelte das Mißtrauen. Er wußte, daß der Honigwurm dieses üble Leiden auch sehr geschickt zu spielen verstand, um einer unbequemen Zwiesprache mit dem Vater zu entrinnen. Stumm klammerte Herr Ludwig die Faust um den Arm des Lautenspielers, zog ihn zu einem Fenster hin und sah ihm forschend in das erblaßte Gesicht.

»Rede! Was war da?«

»Herr, ich bin unschuldig –«

Der Herzog schrie: »Du sollst mir sagen, was geschehen ist.«

»Der Sperber hat wegen der Hitze den Flug verweigert. Wir sind im Wald gelegen, um den kühleren Abend herzuwarten. Der Sperber hat arg geschmachtet. Und weil der gnädigste Prinz sich grob um den edlen Vogel gesorgt hat, hab ich gemeint, man müßte dem Sperber ein Bad geben. Ich selber hab in meiner Eisenschaller das Wasser geholt. Aber mich hat der gnädigste Prinz dem Vogel nit in die Näh gelassen.«

»So?«

»Der Falkner Laitzinger, des Prinzen Liebling, hat den Sperber baden müssen. Und da ist geschehen, ich weiß nit, was. Eh man ein Vaterunser hätt beten können, ist der Vogel umgestanden. Und der gnädigste Prinz, in der ersten Wut, haut mit den Fäusten auf den Laitzinger los. Der will entrinnen. Da zieht der gnädigste Prinz das Waidmesser und will den Buben niederstechen. Und der, mit Geschrei, auf meinen Gaul hinauf!«

»Auf deinen Gaul? Auf den besten?«

»Wohl, Herr! Und davon wie der Teufel!«

»Und du?«

»Ich spring nach meiner Armbrust. Aber da hat schon der gnädigste Prinz mein Schießzeug in Händen –«

»Und fehlt den Buben? Mit jedem Bolz, der in deinem Leder war? Nicht? Nicht? Nicht?« Herr Ludwig lachte in Zorn.

»Wohl, gnädigster Fürst!« Der blasse Lautenspieler machte erstaunte Augen. »Sechsmal hat er daneben geschossen –«

»Sechsmal einen Gaul und Reiter fehlen? Der? Und schießt den Spatzen vom Dach herunter, den Fasanengockel aus der Luft!«

»Herr, ich hab mich selber verwundert. Zwei von den Einrössern, die zwei verläßlichsten, hab ich als Hüter bei dem gnädigsten Prinzen gelassen. Mit den anderen bin ich hinter dem flüchtigen Buben hergehetzt –«

»Der verschwunden war?«

Kleinlaut nickte der Lautenspieler: »Wohl, Herr! Und da hat mich der gnädigste Prinz in Zorn beschuldigt, mit dem Wasser in meiner Eisenschaller hätt ich den Vogel vergiftet – daß der Prinz sich ärgern müßt und mein gnädigster Herr was Lustigs zu lachen hätt.«

»Nachtigall?« Herr Ludwig faßte mit seiner wuchtigen Faust den blassen, zitternden Menschen an der Schulter. »Nachtigall? Bist du falsch?«

»Jesus, Herr –«

»Oder bist du bei deiner hundertmal erprobten Schläue doch so ein Rindvieh des Lebens wie viele Musikanten?«

Der Lautenspieler atmete erleichtert auf und sagte drollig: »Jetzt schimpft der gnädigste Herr, da zürnt er nimmer.«

»Dir? Nein! Mit der Dummheit muß man gütiges Erbarmen haben. Nachtigall?« Herr Ludwig nahm den Musikanten beim Ohr. »Hast du denn wirklich nicht gemerkt, daß diese ganze Sperbergeschichte ein abgeredetes Ding war? Eine gut gespielte Komödie meines holden Herzkäfers? Mit seinem Liebling Laitzinger? Und daß da eine Botschaft fortging? Welche? Ich kann's nicht raten. Wohin? Ich weiß es nicht.« Er lachte über das hilflos verblüffte Gesicht des Nachtigall. »Erschrick nit, mein guter Peter! Laß ihn spinnen, was ihm taugt. Meine Faust ist stärker als seine kleinen, krummen Fäden sind. Er weiß nur immer das Halbe. Und das Beste dieser Tage – das kennen nur ich, der Gleslin und du!« Der Herzog wurde ernst. »Das ist sicher vor den Fledermauszähnen meines lieben Kindleins.« Ein kurzes Besinnen in wühlendem Unbehagen. Dann wieder ein Lächeln. »Vielleicht nur eine Weibergeschichte? Kann sein, er knappert in seines Leibes Armut an einem Kuchen, den ich beiseite schob? Und will es verbergen vor mir?«

Rasch flüsterte der Lautenspieler: »Ob's nicht die rote Bärbel ist, die der gnädigste Herr nach Neuburg verschickt hat?«

»Die? Nein!« Herr Ludwig wurde heiter. »Die hatte die gradgewachsenen Tiere lieb und konnte nie eine Spinne sehen.« Dieses Wort schien ihn zu reuen, kaum es gesprochen war. In seinem Gesichte stritt der Ärger über sich selbst mit dem Mißtrauen gegen den Sohn. Einer väterlichen Regung des Augenblicks gehorchend, ließ er den Musikanten stehen und ging mit raschen Schritten durch den Korridor auf die Stube des Prinzen zu.

Vor der Türe standen die verschüchterten Diener, die Prinz Höckerlein aus seinem Schlafzimmer verjagt hatte.

Als der Herzog eintrat, lag der Bucklige halb entkleidet auf dem seidenen Bett und hielt wie ein Toter die blassen, durchsichtigen Lider geschlossen. Dicker, weißer Schaum quoll über die Lippen heraus, und ein heftiges Zucken lief über den mißgestalteten Körper hin, der in dieser halben Todesähnlichkeit von erschreckender Häßlichkeit war.

Nein! Das kann man nicht heucheln! Ob diese Sperbergeschichte und die Flucht des geängstigten Falkners vor einem mörderischen Jähzorn nicht doch eine ehrliche Sache war? Und im Zorne zittern die Hände, daß auch dem besten Schützen die Bolzen nicht fliegen, wie er will. Und dieser selige Sperber? War er nicht das einzige Geschöpf, für das in dieser menschlichen Mißgestalt so etwas wie Liebe wohnte? Man kann um törichter Dinge willen nicht das einzige töten, an dem man mit Liebe hängt. Das kann auch der da nicht! Obwohl er sich auf üble Dinge versteht. Der Sperber starb. Und aus Kummer um den geliebten Vogel muß dieser Unglückliche leiden an allem Elend seines verkrümmten Körpers. Mit diesem Glauben erwachte in Herzog Ludwig das Erbarmen des Vaters. In Sorge, fast zärtlich, schob er den Arm unter den unförmigen Kopf des Prinzen und versuchte ihn aufzurichten.

Die Gliederzuckungen des Buckligen erloschen. Er tat einen tiefen Atemzug. Doch er blinzelte erst vorsichtig unter den Lidern hervor, bevor er sie völlig aufschlug. Seine Augen gingen noch irr, während er klagend fragte: »Was war mit mir?«

»Ich mußte sehen, daß du leidest. Denk nimmer an den Sperber! Ich schenke dir den schönsten von meinen Falken. Ist dir besser?«

»Ich glaube, ja!« Ein seelenvoller Blick. »Viel Dank, lieber Vater!« Der Prinz versuchte sich zu erheben.

»Nein! Bleib ruhig liegen! Man soll dich pflegen, wie es nötig ist. Ich lasse dir meinen Leibarzt holen.« Herr Ludwig ging rasch zur Türe.

Während draußen des Herzogs laute, befehlende Stimme klang, spuckte Prinz Höckerlein den weißen Seifenschaum, den er noch reichlich im Munde hatte, hinter das seidene Bett, huschelte sich in gekrümmter Lage auf die Kissen nieder und kicherte spöttisch gegen die Türe hin:

»Matthäi? Dein Heiliger, glaubst du? Ob's nicht der meine wird?«

6

Der Falkner Laitzinger, der sich bei Tag verstecken mußte, hetzte in den kurzen Sommernächten das gute Roß des Peter Nachtigall zuschanden. Dreimal war er auf diesem flinken Sattel den Straßenräubern entronnen. Zu Ende der fünften Nacht, zwischen Ampfing und Mühldorf, brach der erschöpfte Gaul zu Boden und stand nimmer auf. Laitzinger mußte laufen. Immer hielt er sich in den Wäldern, den ganzen Tag, schlug sich durch Dickungen und watete durch Moor und Sumpf. Zu Tod erschöpft, dem Verhungern nahe, in zerrissenen Kleidern, mit Schlamm behangen, sah er am sinkenden Abend von der Raitenhaslacher Höhe die Pfannenfeuer flammen, die man zu Burghausen entzündete, um die Arbeit am Hunds-Törring auch in den Nachtstunden vorwärts zu bringen.

Laitzinger wollte über das steile Waldgehänge hinunterklettern. Da kam von der Saalach ein klirrender Reiterzug die Straße herauf. Herzog Heinrich, von seinem ehrlichen Fieberanfall noch nicht völlig genesen, machte seinen abendlichen Erquickungsritt. Seine Leibtrabanten, an die vierzig Harnischer, waren ihm Schutz und Gefolge. Zwei mit Wachsfackeln ritten voraus.

Der Falkner hatte kein schweres Raten: Dieser kleine, flinke, braune Herr, der gesondert von den anderen trabte, trug an seinem zierlichen Leibe die Hand, für die das winzige, mit Schweiß durchtränkte, an einer Silberschnur um den Hals des Laitzinger gesiegelte Röllchen bestimmt war.

Als der schmutzige, zerlumpte Strolch so jäh aus den Stauden schnellte und auf den Herzog zusprang, wollten die Harnischer mit dem Eisen dreinschlagen. »Botschaft für den Herzog«, kreischte der Falkner, »von seinem besten Freund.« Er streckte die leeren Hände hoch. »Ich bin ohne Waffen.«

Herr Heinrich, der ein bißchen erschrocken war, befahl: »Nüremberger, Ramsauer! Faßt den Kerl an den Händen!« Er musterte beim Fackelschein den vor Erschöpfung Zitternden. »Von meinem besten Freund? Das ist gelogen. Unter Fürsten und Herren hab ich nur einen Freund. Der bin ich selber. Wer ist der Wunderliche, den du meinst?«

»Ich hab schwören müssen, daß ich schweig. Die Botschaft ist um meinen Hals gesiegelt. Nur Ihr allein, Herr, dürft sie lösen von mir.«

Auf einen Wink des Herzogs sprang Malimmes vom Gaul und entblößte die Brust des Laitzinger. Herr Heinrich schnitt mit seinem Dolche die silberne Schnur an des Falkners Hals entzwei, wickelte das mürbe, feuchte Röllchen auseinander und las bei der Fackelhelle. Er wurde bleich, und sein Gesicht verzerrte sich. Mit funkelnden Augen beugte er sich aus dem Sattel herunter und sah dem Boten ins Gesicht. Und las wieder. »Heim!« Seine Stimme schrillte. War's Zorn? Oder wilde Freude? »Hebt ihn hinter dem Jul auf den Gaul hinauf. Zwei magere Buben machen den Falben nicht müd. Und fort! Fort! Heim!« Der Herzog hatte sein Roß gewendet und ließ es jagen. Die Harnischer mußten ihre schlechteren Gäule treiben. Bei dem schnellen Ritt wehten die Fackelflammen, daß sie zu erlöschen drohten.

In diesem zuckenden Wechsel von Dunkelheit und Helle saß der Bote hinter Jul auf dem Falben und hielt die Arme um den jungen Reiter geklammert.

Malimmes, in einer galligen Verdrossenheit, murrte dem Runotter zu: »Guck! Dem Jul ist ungemütlich. Das paßt, ihm nit, daß der ander die Arm so fest um ihn her hat.«

Der Ramsauer nickte, neigte sich im Ritte gegen den Söldner hin und flüsterte: »Ich selber merk's. Und das ist seltsam. Früher einmal – ich weiß nimmer, wann – ist ein Maidl gewesen, das allweil ein lützel gebubnet hat. Jetzt seh ich einen Buben, der maidelen tut.«

Ein rauhes Lachen. Und Malimmes schlug seinem Gaul die Sporen in den Leib, ließ ihn ein paar Sätze nach vorwärts machen, faßte mit eiserner Faust den Boten am Nacken, riß ihn von dem scheuenden Falben zu sich auf den Ingolstädter herüber und hielt ihn umklammert, daß der Laitzinger stöhnen mußte. »Gelt, du? Bei mir ist das Hocken ein lützel gröber.«

Es wurde Nacht, bis der Reiterzug über die letzte Brücke hineinklirrte unter die Hallendächer des Schloßhofes.

In der großen, vielfenstrigen Stube brannten die Kerzen. Nikodemus saß mit vier Schreibern am Tische. Als Herr Heinrich so zu Türe hereinstürmte, wie er aus dem Sattel gesprungen war, in Panzer, Mantel und Helm, da merkte der Kahlköpfige gleich, daß ein schweres Ding sich ereignet hatte. Er schickte die Schreiber aus der Stube und fragte erschrocken: »Herr?«

Der Herzog sah mit blitzenden Augen die Spruchbänder an der Mauer an, lachte grell und rief über die Schulter: »Den Kerl herein!«

Die vier Harnischer, die seit dem Winter immer um seine Person waren – Malimmes, Runotter, Jul und ein alter Doppelsöldner – brachten den Laitzinger in seinem Schmutz und seiner bleichen, zitternden Angst über die Schwelle und führten vor den Herzog hin. Drei von diesen vieren schienen sich bei dem Vorgang nicht aufzuregen; sie hatten gleichgültige, strenge Gesichter. Doch in den großen heißen Augen des Jul war ein scheues Erbarmen mit dem jungen Menschen, der sich vor Angst und Erschöpfung kaum noch auf den Beinen erhalten konnte.

Schweigend hatte der Herzog seinem Rat das kleine, mürbe, zerknitterte Pergament gereicht; und schweigend, mit vorgebeugtem Gesicht und unter raschen Atemzügen wartete er, bis Nikodemus gelesen hatte.

Der Kahlköpfige betrachtete das Blatt, sah verdutzt den Herzog an und las wieder.

»Nun?«

Nikodemus hob stumm die Schultern.

»Kennst du diese Schrift?«

»Das ist zierlich gemalte Klosterschrift, die keine Hand erkennen läßt.«

In Zorn geratend, drängte der Herzog: »Und die Botschaft? So rede doch!«

»Herr! Die muß man mit Vorsicht beschauen. Das kann ein furchtbares Ding sein. Aber auch ein dummer Schabernack.«

»Dreck oder Gold!« Herr Heinrich nickte: »Gold, wenn ich weiß, von wem die Botschaft kommt.« Er ging mit flinkem Schritt auf den Laitzinger zu. »Hast du Kenntnis von dem Inhalt dieses Blattes?«

Der Bote schüttelte den Kopf.

»Wer hat dich geschickt?«

»Herr, ich hab auf das heilige Brot geschworen, daß ich schweig.«

Da lächelte Nikodemus. »Als Priester sag ich dir: Erzwungener Eid ist keiner, Reden aus Zwang ist Schweigen. Ich absolviere dich.«

»Und bleibst du schweigsam«, fiel Herr Heinrich ein, »so laß ich dich auf die spanische Bank legen und schicke dich morgen mit diesem Blatt nach Ingolstadt zu meinem Vetter Loys. Dann wird der dich fragen.«

Der Bote schloß die Augen und wankte, daß man ihn stützen mußte.

»Redest du aber, so sollst du leben bei mir wie einer, der mich beschenkte mit einer unbezahlbaren Kostbarkeit.«

Laitzinger tat die verstörten Augen auf und kämpfte in seiner verlorenen Seele einen langen, stummen Kampf. Dann keuchte er: »Laßt mich leben, Herr! Ich will es Euch ins Ohr sagen.«

Gierig streckte Herr Heinrich den Hals. Und Laitzinger flüsterte am Ohr des Herzogs. Ein paar Worte nur.

Erschrocken wich Herr Heinrich zurück. Und während er sprachlos stand, war Entsetzen in seinen Augen. Den Arm des Kahlköpfigen umklammernd, stammelte er: »Nikodemus! Ich bin nicht der übelste der Menschen. Es gibt noch Dinge, die auch mich empören.« Mit jagendem Schritt verließ er die Stube. Und eilte durch den kahlen Gang zu einer Türe, vor der zwei Harnischer auf Wache standen. Als er im Geklirr seines Stahlkleides den kleinen dämmerigen Raum betrat, der von einer verschleierten Ampel nur matt erleuchtet war, erwachte der schlafende Knabe. Der Herzog riß ihn aus den Kissen und schüttelte heftig das feste, gesunde Körperchen. »Du! Du! Wirst du mich auch einmal verraten?« Er sah nicht das blasse Gesicht der Wärterin, sah nicht die Herzogin in ihrem Schreck. Nur immer die Augen seines Kindes sah er an, diese noch schlaftrunkenen und doch schon neugierigen Knabenaugen. Der kleine Hemdschütz wollte unter dem harten Griff der gepanzerten Fäuste ein bißchen greinen. Aber da erkannte er den Vater, lachte, schlang die Ärmchen um Herrn Heinrichs Halsberge und sagte munter: »Gut Nacht, Vatti! Denk des Lllloys!«

»Ich denke!« Herr Heinrich hielt an seiner eisernen Brust das Kind umschlungen. »Gott! Schicke mir alles Üble, ich hab's verdient. Nur dieses Eine nicht! Dieses Fürchterliche! Daß mein eigen Kind mich verrät!« Nun war er ruhig. Er küßte und, herzte den Knaben, schwatzte lustig mit ihm, huschelte ihn auf die Kissen hin und deckte ihn sorglich zu. »Schlaf, mein Jung! Schlaf nur wieder! Ich arbeite für dich.« Ohne der bleichen, zitternden Frau einen Blick zu gönnen, verließ er die Kammer.

Als er wieder in die große Stube kam, legte er den Helm, das Schwert und den Mantel ab und ließ sich von Malimmes die Wehrstücke herunterschnallen. Dabei sagte er zum Laitzinger, der zitternd auf einem der dreibeinigen Stühle saß, weil ihn, seine Knie nicht trugen: »Deine Botschaft ist Gold geworden. Aber du hast nur halb geredet. Jetzt rede ganz! Wieviel Helme kann der Vetter zu Ingolstadt noch aufbringen? Wer steht noch zu ihm? Wer ist in Ingolstadt?«

Der Laitzinger schätzte den Rest von Herzog Ludwigs Macht auf dreitausend Helme. Und zählte die Namen der fremden Herren auf, die nach Ingolstadt gekommen waren, um Ritterschaft zu suchen. Und nannte die Verbündeten, die dem Herzog mit Hilfstruppen zugezogen waren, nannte den Kaspar von Törring, den Hochenecher von Salzburg, den Bischof Engelmar und den Chorherrn Hartneid Aschacher von Chiemsee, den Fürstpropst Pienzenauer und den Ritter Lampert Someiner von Berchtesgaden.

Der Herzog nickte heiter vor sich hin. Dann sah er ein bißchen verwundert den Runotter und den jungen Harnischer an. Doch um Erregung und Sturm in den Gesichtern seiner Leute pflegte sich Herr Heinrich nicht viel zu kümmern. Und was er in den Augen dieser beiden sah und im brennenden Gesicht des Malimmes, das deutete er als kriegsmännische Ahnung der Dinge, die jetzt kommen würden. »Ja, Leut!« In seiner Stimme war ein fröhlicher Hohn. »Arbeit kommt. Die letzte. Dann wollen wir uns als friedsame Seelen des schönen Lebens freuen!« Er wurde ernst und betrachtete den Laitzinger. »Du! Man wird dich speisen und kleiden, wird dich ruhen lassen, bis du nimmer zitterst. Ich schenke dir als Botenlohn einen Waldhof im Innviertel, mit Knechten, Vieh und Feldern. Morgen wird man dich hinbringen. Dort lebe! Ich mag dich nimmer sehen. Fort mit ihm!« Er wandte sich von den Harnischern, die den Laitzinger aus der Stube führten. Und lachend faßte er den Kahlköpfigen an der Schulter. »Nikodemus! Dieser andere ist der Starke. Ich bin der Kleine, bin seine Laus. Aber bei ihm ist Verrat und Dummheit. Bei mir das Glück.«

Herr Heinrich und Nikodemus arbeiteten bis zum Morgen. Als die Sonne kam, jagten sieben berittene Boten davon. Und während der folgenden Wochen verließ an jedem Abend ein kleiner Trupp von Harnischern, die den Landfrieden bewachen sollten, oder ein Häuflein von Spießknechten mit Armbrustern, Faustschützen und Troßwagen die Mauern von Burghausen. Alle Leute erfuhren es: Das waren Hilfstruppen, die der Herzog Heinrich über Mühldorf, Landshut und Kehlheim nach Nürnberg schickte, um das Reichsheer mehren zu helfen, das der deutsche König wider die Hussiten in Böhmen rüstete. Als Führer dieser getrennt und auf verschiedenen Wegen marschierenden Kriegshäuflein wählte Herr Heinrich seine Verläßlichsten; sie beschworen auf das Kruzifix die geheime Order, sich bis zum 12. September in der Nähe von Landshut zu halten, dann in Nachtmärschen auf versteckten Wegen an Freising vorbeizuziehen und sich zwei Tage vor Matthäi, am Abend des 18. September, in den Wäldern zwischen Dachau und dem Webelsbach zu sammeln. – –

– König Sigismund war zu Nürnberg eingetroffen, erließ unter Androhung der Reichsacht ein neues Friedensgebot an die kriegführenden Herzöge von Bayern und beschied sie auf den 1. Oktober zu einem Fürstentag nach Regensburg. Hier sollten alle Gegner sich versöhnen und einen heilsamen Frieden beschwören, um Gott, der Kirche, dem Reich und dem König als deutsche Herren und fromme Christen zu dienen. Hundert Königsboten trugen dieses Geheiß durch die fränkischen, pfälzischen und bayerischen Lande, trugen es durch verödete Gebiete, an Verwüstung und Elend vorbei, an Brandschutt und Ruinen vorüber, zu allen Herzögen, Grafen, Baronen und Kirchenfürsten, zu Lehensherren und freien Städten, zu Burgen und Klöstern.

Wie beim Sieben des Getreides der Staub und die Spelten durch das Gitter fallen, so rieselte eine kleingewordene Kunde dieser Königsbotschaft aus den Schlössern, Klöstern, Burgen und städtischen Ratsstuben herunter in die Bürgerhäuser, in die der Vernichtung entronnenen Hütten des Volkes.

Durch jene Dörfer, die halb entseelt waren, aber doch mit unverbrannten Häusern noch auf der bayerischen Erde standen, ging ein Aufatmen der Hoffnung, ein froher Schrei des Glaubens an die Rettung.

»Der deutsche König ist kommen und hilft den Bauren.«

Um die Mitte dieses schönen, in milder Sonne leuchtenden September, in dem gar manche, mit Blut, Verwesungssäften und Asche gedüngte Blume ein zweitesmal blühen wollte, sah man viele, viele von diesen Königsgläubigen gegen die Donau wandern. Es waren Hunderte und Tausende, die den hilfreichen König sehen, zum deutschen König einen Schrei ihres Elends tragen wollten. Darbend, in Durst und Hunger, auf dem Rücken den mageren Binkel der Armut, in zermürbten Kleidern, die Gesichter von Not und Gram zerfressen, wanderten sie auf versteckten Wegen oder hielten sich aus Furcht vor den ritterlichen und gemeinen Straßenräubern am Tage verborgen und sprangen um so flinker in den milden, sternschönen Septembernächten. Wo zwei und drei und mehr von ihnen zusammentrafen, redeten sie unermüdlich vom deutschen König, wie hochgewachsen und schön er wäre, wie freundlich, leutselig und hilfreich, wie gerecht und stark! Doch ein lützel ginge es auch dem König so wie den Bauern. Auch bei ihm wäre das bare Geld ein mageres Ding. Weil ihm die Fürsten und Pfaffen alles nehmen, was er hat.

Wenn diese heimlich Wandernden so redeten, sagten sie nur selten: König. Fast immer sagten sie: Kaiser. Deutsch und König und Kaiser – das sind drei Worte, die zusammengehören. Mag der römische Papst Herrn Sigismund die Krönung verweigern und noch zehn Jahre lang seinen feilschenden Handel um die Kaiserkrone treiben! Der deutsche König trägt sie. Ob der Papst sie ihm aufsetzt oder nicht.

Als in einem Schwärme der Wandernden dieses Wort gesprochen wurde, nickte ein langer, magerer Bergbauer und sagte: »Was denn sonst!« Seit dem Tode des Seppi Ruechsam hatte der Fischbauer von Hintersee diese drei kostbaren Weisheitsworte sich angeeignet, gleichsam als unverliehene Krone seiner Albmeisterwürde.

Neben diesen Wanderzügen des Elends und der Sehnsucht sah man auch andere Schwärme reisen. Gauner, Gaukler und käufliche Weiber taten sich zu Erwerbsgenossenschaften zusammen, um unter dem Sonnenglanz des königlichen Hofes ihre Ernte zu halten.

Die vornehmen Herren, die auf guten Gäulen ein flinkes Reisen hatten, brauchten sich nicht so frühzeitig auf den Weg zu machen.

Dennoch brach Herr Heinrich schon am Abend des 14. September, sechs Tage vor Matthäi, von Burghausen auf. Er tat es leider den Rat seiner Ärzte. Die Erregung, die in ihm wühlte, hatte sein rätselhaftes Leiden, von dem er vor kurzer Zeit erst genesen war, wieder wach gemacht. Der Leibarzt beschwor ihn, seiner kostbaren Gesundheit zu gedenken und die Reise zu verschieben. Mit schnatternden Zähnen sagte der Herzog: »Wär ich du, so blieb ich im Bette. Wärst du ich, so würdest du reiten.«

Am Morgen vor seiner Reise lag er in der Schloßkapelle drei Stunden im Gebet auf den Knien. Und erhob sich mit den Worten: »Gott soll's wollen!« Er stiftete an diesem Tage drei ewige Messen: eine für die Schloßkapelle, eine für die Pfarrkirche von Burghausen, eine für das Münster von Raitenhaslach, wo seine zierliche Mutter Maddalena Visconti begraben lag. Und dieser Sparsame, der bei Feinden und Freunden den Namen ›der Filz‹ hatte, verschenkte an diesem gleichen Tag erschreckende Geldsummen und kostbare Kleinode an Kirchen und Klöster seines Landes und an den römischen Stuhl.

Am Abend, beim Anbruch der Dämmerung, begann er die Reise, als sein Stern, der Mars, wie eine feine, rötlich blitzende Nadelspitze schon am wolkenlosen Himmel stand. Sein Leibarzt und vier Diener begleiteten ihn. Zweihundert Harnischer und hundert berittene Faustschützen waren ihm Schutz und Gefolge. Kein Troßwagen ging mit. Pulver, Blei, Geldsäcke, Ersatz an Waffen, Zehrung, Zeltbedarf und Kleider waren auf hundertfünfzig Maultiere und Gäule gepackt, die zwischen den Harnischern und Schützen traben mußten. Dieser Zug, der nicht ausgerüstet war wie zu einer fürstlichen Prunkreise, sondern wie zu schwerem Gefechte, wurde vom Hauptmann Seipelstorfer und vom Schützenmeister Kuen geführt, der seit den heißen Tagen von Plaien große Brandnarben im Gesicht und an den Händen trug. Auch diese beiden kannten den Weg nicht, den Herzog Heinrich nehmen wollte, und waren der Meinung, es ginge nach Regensburg.

Nur Nikodemus – der am 18. September die zwanzig Troßwagen mit den Hofkleidern, dem fürstlichen Prunk und einem großen Vorrat an gemünztem Golde nach Regensburg geleiten sollte – wußte um alle Wahrheit dieser verfrühten Reise.

Gleich außerhalb des nördlichen Tores von Burghausen begann Herr Heinrich einen sausenden Trab.

»Gnädigster Herr«, mahnte der Seipelstorfer, »ich mein', Ihr solltet um Eurer Gesundheit willen langsamer tun. Das Glück versäumt Ihr nicht. Das ist allweil mit Euch.«

Der Herzog lachte und spornte den Gaul.

Zwischen den Leibtrabanten, die hinter dem Fürsten waren, ritten Malimmes, Runotter und Jul. Als der Reisezug das Gehäng des Salzachtales überwunden hatte und zu freier Höhe kam, drehte Malimmes das Gesicht. Er sah die Mauern und Türme des herzoglichen Schlosses und den vom Balkengerüst umsponnenen Hunds-Törring gegen den stahlblauen Abendhimmel ragen. Bei einem Abschied für immer pflegen viele Menschen zu weinen. Malimmes lachte. Und sagte mit heiterem Hohn einen alten Vers:

»Zwischen Ach, Elend und Grausen Liegt Burghausen.«

Jul und Runotter hörten das nicht. Sie hatten auch keinen Blick für den lachenden Malimmes, hörten nur die Stimme, die unter ihren Kürassen redete, und hatten nur Augen für die noch in gelbe Helle getauchte westliche Ferne, der sie entgegenritten.

Herr Heinrich trabte ohne Rast die ganze Nacht, neun Stunden lang. Hauptmann Seipelstorfer gewann schon in dieser ersten Nacht die Meinung, das wäre nicht der Weg nach Regensburg. Als er eine Frage stellte, sagte Herr Heinrich mit einem wunderlichen Gekicher: »Mein alter Seipelstorfer, laß du die Kinderfragen! Kannst du dich nicht gedulden, bis ich rede, so bleibe neugierig!«

Als der Morgen hell wurde, gebot Herr Heinrich die erste Rast. Die Stelle schien vorausbestimmt; drei Kundschafter mit abgehetzten Gäulen warteten hier, brachten Briefe und ritten wieder davon. Weit entfernt von der Straße in einem Buchenwald, der sich schon gelblich färbte, wurde Lager gehalten und das Zelt für den Herzog aufgeschlagen. Aus dem Sattel hob man ihn auf das Feldbett. Der Leibarzt mischte den Kühltrank und verbrauchte für die Waschungen eine reichliche Menge von Essig und Wohlgerüchen.

Man schlief von zehn Uhr morgens bis zur fünften Nachmittagsstunde. Die Gäule grasten an den Pflockleinen. Als es dunkel wurde, brach man auf.

Und so drei Nächte und drei Tage.

Im Morgengrauen des 18. September erreichte Herr Heinrich, der während dieser letzten Nacht an drei kleinen, vorsichtig ziehenden Heerhaufen vorbeigeritten war, die Wälder zwischen Dachau und dem Webeisbache. Der Zug der Harnischreiter und Schützen mit den Troßtieren mußte lagern. Herr Heinrich ließ sich nicht auf das Feldbett heben, ließ sich nicht mit Essig waschen. Er blieb im Sattel. Nur den Becher mit dem Kühltrank schlürfte er gierig aus. Er befahl: »Heute darf kein Feuer brennen. Wer Rauch macht, den laß ich hängen.« Und obwohl ihm das steigende Fieber dunkelrote Flecken auf seine braunen Wangen brannte, ritt er mit dem Seipelstorfer und sechs Trabanten davon. Unter diesen sechsen waren die drei Ramsauer.

Ehe die Sonne heraufstieg, kam der kleine Trupp zu einem Waldsaum, von dem man hinuntersah in ein langes und breites Bachtal. Auch hier die schwarzen Kohlflecken niedergebrannter Dörfer. Durch das Tal bachab und bachauf war nirgends ein Mensch zu sehen. Das Wiesengras, das man nicht eingeheut hatte, stand hoch und welkte. Auf den Feldern waren Weizen und Hafer vom Hochwild durchwatet und niedergetreten. Viele Rudel sah man; bei einem stand ein Hirsch mit herrlich verästeltem Kronengeweih.

Herr Heinrich, von jäh erwachender Jagdleidenschaft befallen, vergaß seiner Krankheit und verlangte nach seiner Armbrust. Doch als man ihm die Waffe reichte, hatte er die weidmännische Gier schon niedergerungen. Er lachte: »Wär ich jetzt der Kaspar Törring, so ließ ich meine Welt zugrunde gehen und schösse den Hirsch da drunten. Aber so kleine Läuse, wie ich eine bin, haben starke Seelen. Die bringen das Übermenschliche fertig.« Ein spitzes Kichern. »Das kostbare Gut meiner Münchener Vettern soll mir heilig sein. Heute.«

Die Pferde wurden tief in den Wald gestellt. Ein alter Harnischer blieb bei ihnen. Die anderen sieben setzten sich am Waldsaum zwischen welkenden Weißdornstauden in das hohe Gras. Weil Herzog Heinrich immer nach Norden spähte, taten es auch die sechse, die bei ihm waren. Gegen die neunte Morgenstunde sagte Malimmes: »Weit da draußen seh ich den Staub eines großen Heerhaufens.«

»Nüremberger!« Die Stimme des Herzogs klang wie ersticktes Jauchzen. »Deine Augen sind Gold. Verlange von mir, was du willst. Ich geb's.«

Das Gesicht des Malimmes spannte sich. Dann sagte er leise gegen den Herzog hin: »So verlang ich für mich den Gadnischen Ritter Lampert Someiner, wenn er morgen oder übermorgen gefangen wird.«

In seltsamer Verwunderung sah Herr Heinrich auf. »Mensch? Woher weißt du?«

»Aber, Herr! Man ist doch kein Hammel, der die Blumen erst schmeckt, wenn sie verschluckt sind.«

Lachend nickte der Herzog und spähte wieder in die nördliche Ferne, in der die Staubwolke deutlicher wurde. »Der Mann ist dein.« Er zitterte heftig, und immer heißer brannte das Fieber auf seinen Wangen.

Hauptmann Seipelstorfer guckte verdutzt den Fürsten an, stellte aber keine Frage. Und Runotter, mit den Fäusten den Schwertgriff umklammernd, hatte um den harten Mund ein ruhiges Lächeln; nichts anderes sah er als die graue, wachsende Wolke in der Ferne. Er hörte auch nicht an seiner Seite diesen mühsamen Atemzug, der wie das zerbissene Stöhnen eines unerträglichen Schmerzes war. Nur Malimmes vernahm diesen Laut. Mit ein paar flinken Sätzen sprang er zu Jul hinüber, ließ sich neben dem gebeugten Buben nieder und legte ihm den Arm um die Schultern. Jul beugte das Gesicht noch tiefer gegen die stahlgeschienten Knie. Da rüttelte ihn Malimmes und flüsterte: »Eine Nacht und einen Tag noch! Und du leidest nimmer. Oder wir alle liegen da drunten im Dachauer Moos. So oder so, die Ruh finden wir allweil.«

Langsam hob Jul das Gesicht. Malimmes erschrak vor diesen irrenden, von Gram und Sehnsucht verbrannten Augen und preßte ungestüm mit seinem eisernen Arm das junge Menschenkind an sich, das kränker an seiner Seele war als Herzog Heinrich in seinem Fieber.

Einer von den Trabanten sah die beiden spöttisch an, gab seinem Nebenmann einen Puff mit dem Ellbogen und zwinkerte gegen Jul und Malimmes hin.

In der näher kommenden Staubwolke, deren graue Schleier über die Wiesen und Felder auseinanderflossen, war schon das Waffengefunkel der Reiterschwärme zu erkennen; bald sah man einzelne Banner, unterschied die langen Klötze des geschlossen marschierenden Fußvolkes und den endlos scheinenden Schwanz, den hinter dem mächtigen Heerhaufen die Troßwagen bildeten.

Herr Heinrich, dem die Zähne schauerten, beugte sich kichernd gegen den Hauptmann Seipelstorfer hin. »Jetzt frage, wo Regensburg liegt!«

»Herr?«

»Weißt du noch immer nicht, wer da kommt? Eine große, große Maus. Die hungrig ist, aber das Schlageisen nicht wittert. Gott ist gerecht, lieber Seipelstorfer! Da drunten zwischen dem Dachauer Moos und dem Haspelmoor? Weißt du, was da den starken Loys erwartet? Die Vergeltung für Marzoll und Piding.« Der Herzog lachte. »Und der da drunten hat keinen Galgenvogel, der morgen in fünfthalb Stunden vom Dachauer Moos nach Ingolstadt reitet.« Mit leisen Worten, die immer langsamer wurden, sprach er vor sich hin: »Er ist klug, dieser starke Loys! Sehr klug! Aber die Schwachen sind zuweilen noch klüger. Und Krüppel gibt es, die zu hilfreichen Vipern werden. Was sagst du, Seipelstorfer? War das nicht ein feiner Gedanke des Loys: die Münchener Vettern zu zwicken, während die friedsame Laus von Burghausen nach Regensburg zum König kriecht?«

»Herr?« fragte der Seipelstorfer unwillig und deutete gegen den von Staubwolken umdampften Heerhaufen. »Wissen das die Fürsten zu München?«

Lächelnd schüttelte der Herzog den Kopf. »Die schlafen den Schlaf der Biederen. Sie werden erwachen heut nacht, derweil sie von Frieden träumen.« Er kicherte in einem Schauer seines Fiebers. »Der Wessenacker – der Beste, den der Loys noch hat – ist gestern am Abend mit siebenhundert Gäulen da drunten durchgezogen. Jetzt liegt er an der Würm. Wenn der Abend dunkelt, wird er München überrumpeln.«

Seipelstorfer sprang erschrocken auf und rief: »Einen Boten! Einen flinken Boten! Malimmes –«

Da faßte ihn der Herzog, dessen brennendes Gesicht sich verzerrte, mit krallender Faust am Saum des Waffenrockes. Der Hauptmann wollte reden. Doch beim Anblick der zornglühenden Augen seines Fürsten verstummte er. Und Herr Heinrich zog an dem Waffenrocke, bis der Seipelstorfer sich wieder ins Gras setzte. »Du? Bist du ein Kind? Ich denke, du bist ein Mann! Und der meine! Da solltest du rechnen können. Für deinen schwachen Herrn. Ein geschröpftes München ist mir tauglicher als ein blutstrotzendes, das mir den Ellbogen und die Lende bedrückt. Grob werden sie dreinschlagen, diese biederen Münchener, heute nacht, wenn sie aufwachen aus ihrem friedlichen Bierschlummer. Aber Blut werden sie lassen. Und der starke Loys wird an Mark und Knochen verlieren. Sehr merklich. Und dann klopfen wir ihm den müden Rücken.«

»Gnädigster Herr! Das wird Euch der König übel vermerken.«

»Meinst du? Ich glaube, es gibt für seinen Groll ein beruhigendes Pflaster. Herr Sigismund ist wieder in der Klemme. Ich will ihm dreißigtausend Dukaten borgen. Die reisen heute von Burghausen nach Regensburg.« Herr Heinrich wollte lachen. Aber da machte er plötzlich mit dem Oberkörper einen sonderbaren Tunker gegen den Boden hin.

Erschrocken griff der Hauptmann mit beiden Händen zu, und auch Malimmes sprang zu dem Fürsten hin.

Der Herzog hatte sich schon wieder aufgerichtet. Mit der Hand wehrte er die Besorgten von sich ab. Seine Augen hatten den ziellosen Blick eines halb Bewußtlosen, doch seine Stimme klang fest und ruhig: »Seipelstorfer! Paß auf! Am Abend wird der Loys da draußen sein Lager machen, vor dem schmalen Hartboden, der zwischen dem Haspelmoor und dem Dachauer Moos gegen Bruck und Alling zieht. Da wird er warten, bis ihm von München her vier Feuersäulen künden, daß die Stadt genommen ist. Manches wird gehen, wie Gott will. Eins wird kommen nach des Teufels Wunsch. Zuweilen ist er hilfreich. Dieser Böse! Die vier Feuersäulen werden brennen um die zehnte Abendstunde. Ein süßes Kinderherz wird sorgen dafür. Und rückt der Loys in der Nacht mit seinem Haupthaufen in den festen Landsack zwischen den Sümpfen hinein, so sperrst du am Morgen der Rückweg. Hast du verstanden?«

»Herr?« fragte Seipelstorfer ratlos. »Mit unseren dreihundert Gäulen?«

Der Herzog, der wieder taumelig wurde, antwortete heiter: »Wenn es dämmert, stehen im Wald zwischen Dachau und dem Webelsbache dritthalbtausend von meinen Helmen.« Er schloß die Augen und tastete mit der Hand. »Den Kühltrank! Meinen Kühltrank muß ich haben.« Weil er ins Gras zu rollen drohte, hoben der Hauptmann und Malimmes ihn auf und stützten seine tappenden Schritte. Lallend, doch immer noch mit einem Klang von Lustigkeit, sagte er: »Jetzt wird sich mein Leibarzt freuen, weil er recht behält. Ich muß ins Bett.« Als man ihn durch den Wald zu den Gäulen führte, versagten ihm die Knie. Mit erlöschenden Sinnen befahl er noch: »Mein gesunder Galgenvogel soll mich tragen.« Dann schwanden ihm die Sinne.

Bis zum Abend lag Herr Heinrich bewußtlos in seinem Zelte.

Als es zu dämmern anfing, flüsterte Jul, der mit drei anderen die Wache hielt, dem Malimmes mit heißem Betteln zu: »So hilf ihm doch!«

Der Söldner schwieg; er nahm nur das blanke Eisen von der rechten Armbeuge in die linke.

Bei Anbruch der Dunkelheit wurde es laut und lebendig im Wald. Die Harnischer und Spießknechte, die vor vielen Tagen von Burghausen aufgebrochen waren, begannen sich zu sammeln, wie es Herr Heinrich befohlen hatte. Sie waren verstärkt durch Kriegshaufen, die von Landshut und anderen Städten und Burgen des Herzogs kamen. Ohne Feuer verbrachte das Heer die Nacht. Nur im Zelte des kranken Fürsten flackerte das Kerzenlicht, während der Leibarzt, das Übelste besorgend, den Fiebernden aus seinen Delirien zu wecken suchte. Der Herzog schwatzte wirre Worte, die sehr heiter klangen, lachte und kicherte, stieß mit den Füßen wie beim Reiten, und gleich einem Kämpfenden schlug er mit der rechten Faust gegen einen unsichtbaren Feind. – –

– Zu Beginn der gleichen Nacht brach Herzog Ludwigs Hauptmann Wessenacker mit siebenhundert Gäulen bei Planegg aus den Wäldern an der Würm heraus. Durch stille Dörfer, die unter dem Schutz der nahen und starken Hauptstadt von schweren Kriegsschäden bisher verschont geblieben, und über abgeerntete Wiesen und Felder jagte die klirrende Reitermasse auf das schlafende München zu.

Ein feiner, schwarzer Schattenriß, hundertfältig ausgezähnelt, heben sich die Basteien, Mauern, Dächer und Türme der Isarstadt gegen den mit funkelnden Sternen besäten Himmel. An vielen Stellen ist dieses Schattenbild unruhig überschimmert vom Schein der Pfannenfeuer, die bei den Toren und über den Zinnen der Wachtürme brennen.

Gleich einem Murmellied von vielen Stimmen gaukelt das Rauschen der Isar durch die stille Nacht und übertönt den Hufschlag der Pferde. Kleine Häuser und Hütten, die schon dunkel sind, stehen vereinzelt unter Stauden und Bäumen am Ufer des breiten Stromes, in dem die weißen Kiesbeete wie mächtige Linnenstücke schimmern. Mit dem Rauschen des Wassers mischt sich das Fauchen des kräftigen Nachtwindes, der kühl aus den Bergen kommt und die ersten welken Blätter von den Bäumen schüttelt. Im Wehen dieses Windes tönt von der Stadt ein verschwommener Hall, zehn Schläge einer großen Glocke.

Bei den Holzhöfen zwischen dem Glockenbach und der Isar klingen ein paar Männerstimmen. Hier sind zu dieser späten Stunde noch Menschen bei der Arbeit, heitere Menschen. Sie lachen, sie schwatzen lustig. Eine Jünglingsstimme trällert einen kecken Vierzeiler. Es sind Oberländer Flößer, die sich auf der Fahrt versäumten und ihre Flöße noch festlegen wollen. Nun steigen sie schwatzend über die Böschung des Ufers herauf, um die Herberge zu suchen. Verwundert gucken sie die vielen Reiter an, die neben dem Glockenbach aus den Sätteln springen. Freundlich grüßen sie: »Gut Nacht, ihr Herren!« Das ist das letzte Wort ihres fröhlichen Lebens. Ein Klingen von Eisen, klatschende Schläge, wehes Stöhnen und ein gräßlicher Schrei. Fünf blutende Körper rollen über steiles Ufer in das rauschende Wasser hinunter.

Hundert Reiter sind abgesessen. Zwei Feldbüchsen, unter deren Gewicht die Saumtiere gekeucht hatten, werden abgeladen und hastig aufgeholzt; ihre kopfgroßen Kugeln sollen Bresche in das Tor schießen; vierzig Gepanzerte spannen sich an die Zugstränge. Und Hauptmann Wessenacker sprengt von einem Reitertrupp zum andern und verteilt die Befehle zum Sturm auf das Angertor, das er für den Handstreich wählte, weil es unter den Toren Münchens das älteste und schwächste ist.

Da sieht er in der Gegend, aus der die siebenhundert gekommen waren, eine grelle Feuerröte gegen den Himmel steigen. »Teufel, was ist das?« Und dort, gegen Pasing hin, steigt eine zweite Feuersäule auf! Eine dritte! Eine vierte!

Im ›Milchwinkel‹ der Hauptstadt München brennen die Dörfer Germaring, Gauting, Pasing und Aubing. Wer hat den roten Hahn auf diese Hunderte von Dächern gesetzt? Ein feindlicher Zufall? Oder haben wider den strengen Befehl des Wessenacker die Nachzügler das Sackmachen und Brandschatzen schon vor dem Sieg begonnen? Oder ist Verrat im Spiel?

Der Hauptmann zittert vor Wut und findet in dieser brennenden Gefahr keinen Rat. Diese vier verfrühten Feuersäulen können für Herzog Ludwig zu einem bösen Irrtum werden. Sie lügen ihm vor, daß München genommen ist. Und der Ingolstädter Haupthaufe rückt sorglos in den schmalen Landsack ein, der zwischen den weglosen Sümpfen des Haspelmoors und des Dachauer Mooses liegt.

Boten schicken? Oder umkehren mit den siebenhundert Gäulen? Und den wachwerdenden Gegner hinter sich herziehen, gegen den Herzog hin?

Da quillt von der nahen Stadt ein dumpfes Summen und Tönen durch das Rauschen der dunklen Nacht. Die vier Feuersäulen, die immer höher zum Himmel lodern, haben das schlafende München geweckt.

Hauptmann Wessenacker – ratlos, wütend, halb verzweifelnd, halb an die Hilfe durch einen raschen Gewaltstreich glaubend – gibt den Befehl zum Angriff auf das Angertor.

Auf allen Kirchtürmen von München läuten die Glocken Sturm. Geschrei und Lärm durchrennt alle Gassen. Helle Feuer brennen auf. Grausen in Eisen wirbelt mit kleiner Komik im Hemde durcheinander. Und als die ersten Schüsse aus den Feldbüchsen des Wessenacker gegen das Tor und die Mauer krachen, sind alle Wehrgänge und Turmscharten schon besetzt mit vielen Hunderten von bewaffneten Bürgern. Aller Hader und Steuerzank zwischen dem Volk, der Stadt und seinen Fürsten ist vergessen. Volk und Fürsten sind in dieser Stunde der Gefahr verwachsen zu einem Körper, der sich grimmig und erbittert seiner Ehre und seines Lebens wehrt. Und in der gesunden Stadt ist kein Bürger mehr, der sich aus alter Anhänglichkeit des leutseligen Ingolstädters, seines heiteren Lachens und seiner fröhlichen Kraft erinnern möchte. Für sie alle ist Herzog Ludwig in dieser Nacht der böse Feind geworden, den man verfluchen und er schlagen muß.

Der Wessenacker mit den Seinen kämpft wie ein wütender Stier gegen den hauenden Löwen. Aber die Bresche, die er geschossen, ist ausgefüllt mit einer lebendigen Mauer von Bürgern in Eisen. Aus den Scharten der Wehrgänge regnet's Bleikugeln, gefiederte Bolzen, kochendes Wasser und brennendes Pech. Und auf einem Wallturm arbeitet der Münchener Büchsenmeister Völschel mit zwei Trommelkanonen, die er in seiner Lehrzeit beim Kuen in Burghausen gießen lernte. Das Geschrei der Kämpfenden, das Glockenläuten, das Feuergeprassel, das Gerassel des Stahls und das Büchsenkrachen sind wie das Rauschen eines angeschwollenen Stromes, in dessen wildem Liede das matte Seufzen der Stürzenden versinkt.

Als der Morgen grauen will, ist der Boden in der Bresche des alten Tores mit einem hohen, festgestampften Pflaster von Leichen bedeckt. Ingolstädter und Münchener liegen verträglich durcheinander, kreuz und quer, mit verschlungenen Armen und verflochtenen Beinen. Aus den Wehrgängen schleppt man die verwundeten Bürger in die nahen Häuser. Und draußen, am Fuß der Mauer, im Stadtgraben und vor dem umstrittenen Angertor, da liegen die Getreuen des Loys in dicken Haufen, zweihundert friedlich Gewordene, mit zerbrochenen Gliedern, erstochen, erschlagen, vom siedenden Wasser verbrüht, von den flammenden Pechkränzen angefressen.

Noch immer will der Wessenacker nicht weichen. Der Gefahr seines Fürsten denkend, stoßt er immer wieder mit hundert Köpfen gegen die Eisenbrüste der Münchener.

Die Haufen der Bürger, die aus zwei anderen Toren herausfallen, fassen die Ingolstädter von beiden Seiten. Und von allen Dörfern in der Nähe der Stadt, gerufen durch das Sturmgeläut der Glocken, kommen die Bauern gelaufen, stechen mit Spießen und schlagen drein, mit Sensen, Drischeln und Morgensternen.

Beim ersten Blick der steigenden Sonne wendet Hauptmann Wessenacker den Gaul. Und die vierhundert von den Seinen, die noch laufen oder reiten können, taumeln hinter ihm her, gegen das brennende Pasing hinaus.

Tor und Mauer am Anger sind verwandelt zu Denkmalen auf dem Leichenacker dieses Morgens. Ein halbes Tausend liegt im Blute, stumm geworden oder noch stöhnend in Schmerzen. Doch fünfmal tausend, zehnmal tausend jubeln in trunkener Freude: »Sieg! Sieg! Sieg!« Die Männer lachen im Stolz der Tapferen, die Weiber und Mädchen umhalsen sich in den sonnig gewordenen Gassen, und auch die Kinder jubeln, ohne zu wissen warum – sie sehen's bei den anderen und machen es nach. In dieser schreienden Freude hört man die paar hundert nicht, die weinen müssen.

Herzog Wilhelm, ein frommer und rechtschaffener Mann, den die Armen von München lieben, übernimmt es, die Stadt zu hüten und in der Bürgerschaft die Ordnung und Ruhe zu wahren. Herzog Ernst und sein Sohn, Prinz Albrecht, beginnen die Verfolgung des fliehenden Gegners. Mit ihnen ziehen die fürstlichen Söldner und die drei Bürgerhaufen unter ihren Hauptleuten Lorenz Schrenk, Franz Tichtel und Hans Pütrich; die siebenunddreißig Münchener Zünfte haben dreihundert Berittene und zwölfhundert Mann zu Fuß gestellt. Meister Völschel – ein dicker, lustiger Münchener, der für seine Heimatstadt die große ›Stachlerin‹, den ›Pecker‹ und vier Kammerbüchsen gegossen hat – reitet auf festem Gaul dem Trupp der zweihundert Faustschützen voraus; und hinter dem Stadtheer drängen die Schwärme der Bauern nach, die sich gesammelt haben aus zwanzig Ortschaften.

Diese Bauern wollen nicht in Reih und Glied marschieren, beim Marsche nicht Ordnung halten. Wenn's losgeht wider die Loysischen Brandschatzer, möchten sie die ersten sein, die dabei sind. Und viele von ihnen haben ihre Herzöge noch nie gesehen; denen möchten sie einmal in die Augen schauen. Im Staubgewirbel, das den Flinkmarsch des Heeres begleitet, springen die Bauern von der Straße auf die Wiesen und Felder, rennen dem geschlossen marschierenden Zug der zünftigen Bürger voraus und schreien, schwingen die plumpen Waffen, schwenken die Hüte und umdrängen die unruhig werdenden Gäule der beiden Fürsten.

Der Hauptmann des herzoglichen Söldnerhaufens will das hindern und abschaffen. Doch Herzog Ernst befiehlt ihm: »Laß die Leute! Sie tragen ihr Blut und Leben zu uns. Daß der Untertan uns beschauen kann, ist das mindest, was wir dem Volk zu schenken haben.« Den jubelnden Bauern freundlich zunickend, reitet er hinter dem herzoglichen Banner her, das zwiefach im Geviert den Löwen und die blauweißen Rautenfelder zeigt. Er zwingt mit ruhiger Faust das scheuende Roß. Kraftvoll, ein Fünfzigjähriger, sitzt er fest im Sattel, obwohl sein Oberkörper in nachlässiger Haltung gegen die linke Hüfte hängt. Der mit Adlerfedern und dem Rautenflügel geschmückte Helm bedeckt einen wuchtigen Kopf. Das dicke Haar ist bräunlich, der starke Vollbart mit dem lang herunterhängenden Schnauzer ist dunkelblond. Blaue Augen glänzen unter dem aufgeschlagenen Helmvisier über die scharfgeschnittene Nase heraus. Der vorgeschobene Mund, obwohl er freundlich lächelt, gibt dem Gesichte ungerecht einen Zug von Härte und übler Laune.

Am Gürtel hängt das breite Schwert und daneben ein klobiger Streithammer. Über den Brüstling des Panzers geht eine Goldkette mit großem, blitzendem Rubin. Auf den roten, die Halsberge deckenden Samtkragen sind die Wappen der Städte von Bayern-München gestickt. Und der starre Waffenrock ist wie das Bannertuch gewürfelt mit den Rautenfeldern und dem silbergestickten Löwen.

An der Seite des Vaters, auf einem schweren Apfelschimmel, reitet Prinz Albrecht, der Einundzwanzigjährige, den das Volk den Schmucksten unter allen Fürstensöhnen des Reiches nennt. Auch wenn er nicht den gleichen Helm, die gleiche Wehr und den gleichen Waffenrock trüge wie Herzog Ernst, müßte er als ein verjüngtes Bild seines Vaters erscheinen, freundlich, gütig und kraftvoll. Er ist von jenen Menschen einer, die man liebt, weil sie leben und lächeln.

Die Bauern jubeln, haschen nach seiner Hand, schwatzen und scherzen mit ihm. Heiter gibt er Antwort und nickt ihnen zu. In dem drängenden Schwärme fällt ihm ein junger Bursch auf, gewachsen wie ein Frühlingsbaum, mit gesunden Gliedern, strotzend von Kraft und Leben, mit froh blitzenden Blauaugen und dickem Blondhaar, das um die heißen Wangen baumelt. Der Prinz sagt zum Herzog: »Schau, Vater! Was für Leut wir haben!« Er deutet auf den jungen Bauern, der ein altes, rostiges Langschwert über der Schulter trägt.

Herzog Ernst winkt den Bursch zu sich heran. »Wer bist du?«

»Ich bin aus Schwabing, Herr! Einer Stalzstößerin einziger Sohn.«

»Wie heißt du?«

»Michel Ungeraten.«

Der Herzog sagt: »Da hat das Schwabinger Kirchenbuch eine Dummheit gemacht. Ein so wohlgeschaffener Mensch sollt anders heißen. Halte dich tapfer, wenn es zum Schlagen kommt. Und ich gebe dir einen gerechten Namen.«

Der Bub schreit einen Jauchzer in die Sonne.

Und der Marsch geht weiter. Bei der Feuerstätte von Pasing, wo die halbverbrannten Hütten noch flackern und qualmen, gibt's einen kleinen Aufenthalt. Männer und kreischende Weiber, die sich wie wahnwitzig gebärden, schleppen zwei Gefangene vor die Rosse des Fürsten hin. Das wären zwei von den feindlichen Brandschatzern; man hätte sie festgenommen, als sie in der Nacht das Feuer in die Kirche von Pasing warfen. Von den Weibern zetert eines: »Die sollt man in einen Ziegelofen schmeißen, daß sie am Tag verschmecken, wie den Bauern in der Nacht das Brennen tut!«

Der Herzog mustert die beiden, die in ihren Prügelwunden und blauen Malen schrecklich aussehen. Es scheinen fahrende Musikanten zu sein; der eine, klein und dick, hat eine zerfetzte Blatterpfeife um den Hals hängen, der andere, in dessen fahlem Gesicht die Augen scheu und angstvoll rollen, trägt auf dem Rücken eine verbeulte Laute.

Ruhig sagt der Herzog: »Strafen? Diese zwei? Die haben mitgeholfen, um uns zu wecken in der Nacht. Wir wollen diese Wohltäter mit Dank zurückschicken zu ihrem Herren.«

Da sprengen vier Kundschaftsreiter über die Straße her. Sie haben bei Freiham den fliehenden Feind entdeckt, der über Alling und Puechheim hinaus entrinnen und zwischen den weglosen Mooren die feste Landbrücke bei Olehing gewinnen will.

»Drauf und dran!« Mit diesem frohen Kampfschrei läßt Prinz Albrecht seinen Schimmel jagen.

»Jung! Sei bedächtig!« mahnt der Herzog. Aber da drängen schon alle Gäule dem Schimmel nach. Mitten in dem Reiterschwarme springen und hopsen keuchend die beiden Musikanten, jeder mit der Hand an einen Sattel gefesselt. Und hinter den Gäulen, von Staub umwirbelt, folgen im Laufschritt die drei Heerhaufen der Zünfte und das Gewirr der Bauern.

Bei Freiham, auf einer Wiese, sitzen Verwundete, die dem fliehenden Trupp des Wessenacker nimmer folgen konnten. Erschöpfte Menschen und niedergebrochene Rosse liegen in dem Buchenwald, durch den der Weg des rasselnden Reiterhaufens geht. Und als die Herzöge das breite, lange Wiesental des Starzelbaches erreichen, das sich beim Jägerhause von Hoflach aus bewaldeten Hügeln nach Norden gegen die Sümpfe des Dachauer Mooses hinzieht, sehen sie aus den Dächern von Puechheim und Alling, die der fliehende Wessenacker in Brand gesteckt, den Rauch und die Flammen aufgehen. Und weit da draußen, über tausend Schritte vom Hügel des Jägerhauses, gegen Olching hin, gewahren sie in der Mittagssonne das bunte, funkelnde, blitzende Gewirr eines großen, auf vierhalbtausend Helme zu schätzenden Heerhaufens, dessen gestaute Massen von zwei Seiten gegeneinander drängen und sich zu ordnen suchen.

Während die Flammen der Dörfer wachsen und von den Brandstätten das Jammergeschrei der Bauern und ihrer Weiber herüberschrillt, faßt Herzog Ernst den Gaul des Sohnes am Zügel. »Langsam, Brechtl! Das Ding wird ernst. Der Vetter Loys ist da. Er ist der Stärkere.«

»Wir sind die Besseren!« trotzt der Junge.

»Jetzt wirst du den Schnabel halten und dich gedulden.« Ruhig gleiten die Augen des Herzogs und rechnen und messen. Da drüben eine schwere Übermacht. Und ein Heerhaufe, dessen Kern aus einer geschulten Söldnertruppe und aus vielen Hunderten von ritterlichen Herren besteht, die aller Dinge des Krieges kundig sind. Herüben nur an die zwanzig adlige Leute, eine kleine Söldnerschar, dazu das bescheidene Heer der Städter, die gestern noch bei ihrem bürgerlichen Handwerk waren, und der regellose Schwarm der Bauern, die schlechtbewaffnet von der Drischeltenne gelaufen kamen. Doch hier der feste Boden, und für den Notfall die waldigen Hügel der Heimat als Deckung. Und die da drüben stehen auf feuchten, schlüpfrigen Wiesen, zwischen Dreck und Moos. Da drüben der übermütige Friedensbruch, herüben die ehrliche Notwehr, das stärkere Recht. »Mit Gottes Gnad! Wir wollen es wagen.«

Zwei adlige Herren des Hofes mit einem Trompeter reiten hinüber, um Herzog Ludwig von Ingolstadt zur Schlacht zu fordern. Vier Söldner begleiten sie und führen die zwei gefesselten Musikanten, die Herzog Ernst seinem gütigen Vetter Loys ›zurückerstattet‹, mit freundlichem Dank für den roten Weckruf dieser Nacht.

Während die Rauchfahnen der beiden brennenden Dörfer sich in der Sonne hinkräuseln über die welkenden Buchenwälder, nimmt Herzog Ernst mit zwanzig Trabanten seinen Stand auf dem Hügel, der das kleine Jägerhaus von Hoflach trägt. Von hier aus kann er das ganze Wiesental, das ein Schlachtfeld werden soll, und die Anordnung seines Heerhaufens überschauen.

In die Mitte des Treffens stellt er unter Führung des Prinzen Albrecht seine adligen Herren, die kleine Schar seiner Harnischreiter, die Berittenen der Bürgerschaft und den Kriegshaufen der ›schweren Zünfte‹, der Schmiede, Schlosser, Zimmerleute und Bräuer. Zur Linken und Rechten die Schwärme der Bauern. Beiderseitig ist das Treffen geflügelt durch die Armbruster und Leichtbewaffneten der Bürgerschaft, jeder Haufe gestützt durch hundert Faustschützen. Hinter dem Treffen steht ein Trupp von Nothelfern, deren Führung der Herzog sich vorbehält.

In dieser ernsten Stunde, während das Treffen sich ordnet, hört man plötzlich aus einem hinter Stauden versteckt liegenden Bauerngehöft das klägliche Schreien und drollige Glucksen eines Schweines, das abgestochen wird. Und da ruft der schmucke Michel Ungeraten mit seiner starken, lustigen Stimme in das ernste Schweigen hinein: »Die schlauen Luder denken halt: Selber schlucken macht fett. Und stechen die gute Sau noch ab, eh die Raubleut kommen.«

Über die Breite des Treffens rollt, jede Beklommenheit bezwingend, ein fröhliches Gelächter hin.

Auch Herzog Ernst – in aller Sorge, die ihn bedrückt – muß schmunzeln. Und heiter sagte er zu den Kriegsleuten, die ihn umgeben: »Müssen wir sterben, so ist unser Tod kein hartes Ding. Wir sterben mit Lachen.«

7

In dem großen Zelte, das man am Ufer der Amper mit aller Hast auf dem feuchten Bruchboden der Olchinger Wiesen errichtete, stehen die beiden Münchener Herren und ihre Gefolgsleute mit verbundenen Augen vor Herzog Ludwig. Und hinter ihnen zittern die zwei, dem gütigen Vetter Loys zurückerstatteten Musikanten.

Von draußen rauscht der wirre Lärm des gestauten Heerhaufens in das Zelt herein, dessen Tuchspalten verbrämt sind vom Glanz der Mittagssonne. Das Schreien und Fluchen, das Geklirr und Geknatter, das Stampfen und Keuchen der Gäule, die vielen Trompetenstöße, die von weit her Antwort erhalten – das alles klingt zu einer üblen Stimme zusammen. Der flüchtende Schwarm des Wessenacker, mit den Verwundeten und Erschöpften, mit den scheuen, keinem Zaum mehr gehorchenden Gäulen, verwirrte den Aufmarsch des Ingolstädter Haupthaufens, dessen Nachhut und Karrenwurm sich auf der Straße von Geiselbullach noch weit hinauszieht gegen Feldgreding und Dachau hin. Bis die Nachzügler eintreffen, wird's noch eine Stunde dauern; sie können nur langsam, nur in dünner Zeile marschieren; bei jedem Schritt, der hinausgeht über die schmale Straße, tappt der Fuß in den nassen Filzboden, den von der einen Seite das Dachauer Moos, von der anderen das stundenlange, den trägen Lauf der schwarzen Maisach geleitende Haspelmoor heranschiebt.

Immer lauschte Herr Ludwig hinaus in diesen bösen Lärm. Etwas Grauenvolles wühlte in seinem zornroten Gesicht. Im Schimmer seiner französischen Rüstung saß er auf einem Feldsessel. Ein Dutzend von seinen Freunden und Hauptleuten war um ihn her. In einem Winkel des Zeltes nähte des Herzogs Leibarzt dem rotgefärbten Wessenacker die Wunden zu. Und gesondert von den anderen – auf einer kleinen Truhe, die Ludwigs Feldschatz, die Kleinode seiner Herzogswürde und sein Majestätssiegel enthielt – auf dieser Truhe saß mit lang übereinander geschlagenen Beinen eine wunderlich sinnwidrige Gestalt aus Silber, Gold und bunten Farben: Prinz Höckerlein, für den Kampf gerüstet. Er schien die zwei Musikanten nicht zu sehen. Mit ruhigem Lächeln betrachtete er bald die Münchener Herren, bald den Vater. Der schwieg und biß die Zähne übereinander, sah immer den einen der beiden Musikanten an, der die verbeulte Laute hinter dem Rücken trug, und nun plötzlich drehte der Herzog das Gesicht und musterte mit einem funkelnden Zornblick seinen Sohn.

Da sagte einer der Münchener Herren, während er den Kopf mit der Augenbinde unmutig gegen den Nacken legte: »Euer Gnaden lassen uns lang auf Antwort harren. Mit der Tapferkeit und den ritterlichen Sitten, die man Euch nachrühmt, ist das übel zu vereinen.«

»Du!« Herzog Ludwig sprang vom Sessel auf. »Nimm das Maul nicht so voll. Und deinen zwei Fürsten sagt, sie sollen des Fechtens heute noch satt werden. Ich hoffe, sie haben für flinke Gäule gesorgt. Die werden sie brauchen.« Er machte einen Wink mit der Hand. Und als die Münchener Herren aus dem Zelt geführt waren, sagte er in wühlender Erregung zu seinen Hauptleuten: »Wir müssen Zeit gewinnen. Man soll die Münchener Kindlein mit verbundenen Augen im Kreis herumführen, bis sie die Geduld verlieren. Alles andere ist beredet. Dieses München, das meiner vergaß, soll merken, wer ich bin. Ich will rote Hochzeit mit ihm halten.« An seiner kostbar inkrustierten Rüstung zerrte er eine Schnalle auf, als wäre der Stahl für seine Brust zu eng geworden. »Von den Frauen, die ich genommen, hat sich noch keine als sturmfest erwiesen. Sie starben an meinen Umarmungen. So soll München fallen, wenn ich es umklammere. Jeder an seinen Platz! Mit Gott, meine Treuen! Helft mir! Und ich will's euch danken.« Er reichte jedem die Hand; den Prinzen übersah er.

Die Herren verließen das Zelt – nur der Wessenacker blieb und ließ sich den nackten Oberkörper mit den nötigen Pflastern belegen. Auch Prinz Ludwig tat so, als wollte er sich mit den Hauptleuten entfernen.

»Mein Seelenwürmchen?« Herr Ludwig lachte in galligem Hohn. »Willst du nicht bleiben?«

»Gerne, lieber Vater! Wenn du mich duldest in deiner Nähe?« Der Bucklige setzte sich wieder auf die Truhe hin.

Der Herzog riß abermals eine Schnalle seiner Rüstung auf. Und schrie: »Wo ist der Wolfl?«

Aus der Zeltkammer, in der man zwei Hunde winseln hörte, huschte der Kämmerer Graumann heraus. Er sah, daß dem Herzog etwas an seiner Rüstung nicht taugte, und wollte zugreifen.

Mißtrauisch, mit groben Fäusten, packte Herr Ludwig den Greis an den Handgelenken. »Wolfl? Bist du auch schon falsch? Hab ich von denen, die in meinem Hause waren, nur meine zwei Hunde noch?«

»Herr!« Dem Alten wurden die Augen naß.

Da sagte der Herzog rasch: »Verzeih mir!« Er küßte ihn auf die Wange. Nun war er ruhig. »Mein guter Wolfl, heut muß ich mich wehren um mein Leben. Schnalle mir diesen glitzrigen Pariser Dreck herunter! Und gib mir die blaue deutsche Rüstung, die mir meine Ingolstädter schenkten! Und giß mir das schwerste von meinen deutschen Schwertern!«

Im Winkel des Zeltes brummte der Wessenacker: »Gott sei Dank!«

Das hörte Herr Ludwig nicht. Während Wolfl die Arbeit begann, sah der Herzog immer die zwei Musikanten an, die, grau von Staub, mit ihren verprügelten Köpfen und den blutig zerkratzten Gesichtern zitternd neben dem Spalt des Zeltes standen. »Du!« Er meinte den kleinen Dicken mit der zerfetzten Blatterpfeife. »Dich kenn ich nicht. Was gehst du mich an? Auf Erden gibt's viele Menschen, die keine Ursach haben, mir treu zu sein. Spring zu den Dunklen, die dich bezahlen für dein leuchtendes Feuerwerk von gestern. Mach, daß du weiterkommst!« Wie eine Ratte, die der Falle entronnen, surrte der Dicke durch den Spalt des Zeltes hinaus. »Aber du?« Herr Ludwig nickte gegen den Lautner. »Warum bleibst du heute so fern? Sonst warst du doch immer sehr nahe bei mir. Komm her! Oder hast du Angst? Vor mir? Hab ich dir nicht tausendmal bewiesen, wie gütig ich sein kann?«

Zitternd machte der Lautner ein paar taumelige Schritte, während das Gesicht des Prinzen, der lächelnd in seiner Mißgestalt auf der Truhe saß, eine gelbliche Färbung bekam.

Der Herzog sah den hinkenden Musikanten an. »Wahrhaftig! Das Gehen wird dir sauer. Warum bist du mit dem rätselhaften Dorn in deinem Fußballen nicht daheimgeblieben? Um mir den Verläßlichsten meiner Verläßlichen wieder gesund zu machen? Warum nicht, mein treuer Nachtigall?«

In einem Schreck, der zum Verwechseln einer Wahrheit ähnelte, sprang Prinz Höckerlein von der Truhe auf. »Vater! Um Christi Barmherzigkeit! Der da? Dein Peter Nachtigall? Jetzt erkenn ich ihn erst! Gott, Gott, ich sorge, er hat was Böses getan. Laß ihn in Ketten legen! Laß ihn verwahren –«

»Schweige!« schrie Herr Ludwig. »Gestern hat dir mein treuer Peter keinen Sperber vergiftet. Gestern hat er nur mir einen Tropfen Gift ins Leben geschüttet. Wem zuliebe?«

Da sagte der Bucklige sanft: »Mein treuer Vater ist seiner Sinne nicht mächtig und redet, er weiß nicht was.« Während er sich gegen die Truhe hindrehte, warf er einen beruhigenden Augenwink zu dem zitternden Musikanten hinüber.

Der atmete auf und fing von seiner Ehrlichkeit zu reden an. Ein Dorn, den man sich in den Fußballen trat, kann ausschwären. Freilich, das Gehen bleibt eine schmerzhafte Sache. Aber reiten kann man. Und da reitet man mit einem guten Gesellen durch Tag und Nacht zu seinem Herrn, auf dem kürzesten Wege. Und da sieht man bei München die Dörfer brennen. Und da muß man glauben: Wo die Flammen aufsteigen, ist unser Herr, unser siegreicher Fürst! Man reitet auf diese weisenden Feuer zu. Aber die dummen Bauern! In ihrem Grimm und Wahnsinn fassen sie zwei Unschuldige.

»Wessenacker?« Herr Ludwig, dem der Kämmerer die blauen Stahlplatten der deutschen Rüstung um den hohen, kraftvollen Körper schnallte, stieß einen lachenden Laut vor sich hin. »Klingt das nicht so bieder, als war es auf Münchener Malzboden gewachsen? Und darf ich diesem Menschen zürnen? Hundertmal befahl ich ihm, als Meister für mich zu lügen. Jetzt lügt er als Meister wider mich. Sancta justitia!«

»Ach, gnädigster Herr! Wollt Ihr meinen ehrlichen Worten nicht glauben«, flötete Nachtigall, »so laßt meinen blutigen Schädel für meine Unschuld reden! Den hab ich den wütigen Bauren geduldig hingehalten, daß sie mir nit das Lautenspiel beschädigen. Schauet, Herr! Mein Spiel hab ich mitgenommen. Weil ich doch als Halbgenesener hergeritten bin, um meinem Herren für müde Lagerstunden eine Kurzweil zu bringen, wie er sie lieb hat!«

Bei diesem Beweise, der sieghaft hätte werden können, vergriff sich Meister Nachtigall im Ton. Und Herzog Ludwig packte die verbeulte Laute, riß sie vom Band und schlug sie dem Musikanten von rechts und links um die Ohren, daß die Saiten kreischten und der hohle Holzbauch in Scherben ging. Den Halsstumpf mit den geringelten Stahlfäden schleuderte er gegen die Zeltwand. Bei dieser Gewalttätigkeit schien sein wühlender Zorn sich völlig entladen zu haben. »Peter!« sagte er ruhig. »Bei allem hast du noch Glück! War ich die kluge Laus von Burghausen, so ließe ich dich jetzt auf die spanische Bank legen, bis du redest, was wahr ist. Aber dein Glück erkor dich zu einem Getreuen des dummen Stieres von Ingolstadt. Tausend Stunden Hast du mir schön gemacht. Ich kann dich nicht ermorden um einer einzigen willen, die mir häßlich wird. Geh mir aus den Augen! Und suche den verschwundenen Laitzinger! Den auf einem süßen Botenweg die Straßenräuber erschlugen – wie mein zärtlicher Herzkäfer vermutet.«

»Glaubt mein geliebter Vater, daß es anders wäre?« fragte der Bucklige unter aufatmendem Lächeln, während Peter Nachtigall seine blutenden Ohren flink aus dem Zelte hinaustrug.

In der blaublinkenden Rüstung trat Herzog Ludwig vor den Prinzen hin. »Was du getan hast, weiß ich nicht.« Aus seinen Augen sprach eine schwere Trauer. »Ich weiß nur, es war ein schlechtes Ding. Und ich spüre, daß mir die Münchener Vettern, noch ehe die Schlacht begann, einen mörderischen Streich versetzten.« Er preßte die zitternden Fäuste auf den Panzer. »Verraten werden? Das ist, seit Jesus sterben mußte, kein allzu hartes Ding. Man sollt es nur nicht erfahren. Das ist das Harte.«

Auch Hauptmann Wessenacker war wieder in den Stahlmuscheln seiner mit Dullen besäten Rüstung. Er sagte ernst: »Herr! Um der Ehre Eures fürstlichen Sohnes willen hättet Ihr den Nachtigall nicht so barmherzig entlassen dürfen.«

Da knirschte der Herzog: »Ich hab's getan, weil ein meineidiger Knecht nicht zeugen soll wider meinen einzigen Sohn und Erben.«

»Dein einziger Erbe? Ja, Vater!« Prinz Ludwig richtete sich auf. »Dein einziger Sohn? Stimmt das?« In den Augen des buckeligen Knaben war ein kalter und böser Blick. »Da du immer von anderen die Wahrheit willst, solltest auch du bei der Wahrheit bleiben.«

Der Herzog lachte. »Du? Bist du mein Blut? Oder bist du der Sohn eines Kochs?« Er faßte den Wessenacker am Arm und zog ihn vor den Prinzen hin. »Sieh dieses verbogene Geschöpf an! Das nur mein Erbe sein will. Und sag mir, ob es denkbar ist, daß mich der da verraten hat?« Er atmete schwer. »Wenn's nicht Wahrheit wäre, daß die Salzacher Laus daheim in ihrem Pelze sitzt und durch den Zollern um Frieden bettelt, so müßte ich glauben – –« Herr Ludwig biß die Zähne übereinander. »Nein! Ich mag's nicht sagen. Wer einen schlechten Gedanken ausspeit, macht die Welt unsauber.« Er stülpte den Helm über die Kettenhaube. »Komm, Wessenacker! Kampf ist ein Wille Gottes. Sonst hätte der Himmlische die Menschen ohne Falsch erschaffen.« Ruhig sagte er zu seinem Sohne: »Gott allein soll zeugen für oder wider dich. Mit meinen Einrössern stell ich dich in die erste Reihe des Treffens. Da soll sich erweisen, ob du schuldlos bist. Wie Gott dich zeigt in dieser Schlacht, so stell ich dich morgen zu München vor deine Richter, die ich aus Heer und Volk berufe.«

Lächelnd sagte Ludwig Höckerlein: »Dann bin ich morgen ein Gereinigter.«

Ohne zu antworten, ging der Herzog aus dem Zelte. Wolfl Graumann trug ihm das schwere Schwert und die mit Stahl geplatteten Handschuhe nach.

Der Prinz guckte den Medikus an. »Ich bin gesund. Um meintwillen brauchst du nicht zu bleiben.« Er rief mit scharfer Stimme zwei Namen. Während der Medikus davonging, kamen aus der Zeltkammer zwei Diener gesprungen, ein junger und ein alter. Erschrocken sahen sie, wie Prinz Ludwig den Deckel der Truhe öffnete, den kleinen Lederbeutel mit des Herzogs Majestätssiegel herausnahm und unter dem Brüstling des höckerigen Panzers verwahrte.

Der Alte flüsterte zitternd: »Herr! Ihr rennet in Euer Verderben! Laßt Euch raten, schauet mein weißes Haar an, Alter macht das Gehirn hellsichtig.«

»Aber die Lenden schlaff und das Feuchte in der Nase trocken. Die Kräfte fallen aus, aber in den Ohren wachsen die Haare.« Ludwig Höckerlein war heiter. »So seh ich es an meinem Vater und an dir. Drückt dich dein Gewissen, so beichte morgen. Heut ist Arbeitstag. Sobald die letzte Dummheit meines Vaters da draußen anfängt, schafft ihr den Wolfl beiseite. Dann alles, was da in der Truhe ist, auf meine Troßtiere! Und fort! Nehmt die Straße nach Emmering. In den Stauden des Buchenwaldes sollen mich zwei von den Meinen mit vier guten Gäulen erwarten. Ihr mit den Troßtieren flink voraus, über Bruck nach Augsburg! Dort verbergt ihr euch –« Prinz Ludwig sah mit funkelnden Augen in die Truhe, »bis ich diese schönen Dinge von euch fordere. Ein Drittel des gemünzten Goldes ist euer. Und bin ich Herzog, so seid ihr die Besten unter den Meinen.« Seine Stimme bekam einen klagenden Ton. »Ich fürchte, mit meinem törichten Vater geht's hinunter. Vielleicht schon heute. Kluge Menschen halten sich an jene, die emporkommen. Aber tut, was ihr wollt. Wenn ich die Krone trage, laß ich meine Feinde hängen.« Er klappte lautlos an der Truhe den Deckel zu. »Geht, ihr Treuen! Gott wird euch segnen.« Die beiden blieben ratlos noch immer stehen. »Der Wolfl kommt.« Da sprangen sie flink in die Zeltkammer hinaus, und lächelnd wandte Prinz Ludwig das Gesicht.

Wolfl Graumann kam mit sechs Einrössern in blankem Stahl und in scharlachroten Wappenröcken. Einer von ihnen sagte streng: »Gnädigster Prinz! Wir müssen Euch holen. Die Arbeit will anheben, wenn die Sonn, die uns widrig ist, hinuntergeht hinter die Wälder.«

»Die Sonne? So? Diese Sonne! Immer geht sie hinunter, wenn das Helle sterben will. Ich komme. Habt nur ein bißchen Geduld, ihr Gradgewachsenen! Einer wie ich bewegt sich langsam.« Prinz Ludwig machte einen wippenden Spinnenschritt und legte einen herzlichen Klang in seine dünne Knabenstimme. »Komm, guter Wolfl! Mache mich bereit! Heut will ich sterben für meinen geliebten Vater. Zieh mir die Schnallen fest! Gib mir den Degen, den mein Vater ablegte! Der ist so scharf wie leicht. Und hüll mir den grauen Mantel um das Höckerchen, das mein Panzer hat.« Er lächelte. »Sonst erkennen mich die Feinde zu schnell. Wenn sie fliehen, bevor ich fechte, bleib ich ohne Ruhm.«

Schweigend tat der Kämmerer, was der Prinz ihm befohlen hatte.

»Guter Wolfl? Warum so mürrisch? Weil der Vater ungerecht wider mich redet? Ich will ihn lieben dafür, wie es der Heiland befiehlt. Sag ihm das, wenn ich in der Schlacht für ihn gestorben bin. Und ehrlich: Hab ich dich schon zur Untreu verleiten wollen? Nein? Also! Und hab ich den Vater nicht immer vor diesem bösen Nachtigall gewarnt? Erst gestern noch! Dieser Nachtigall ist ein Meister in schönen Dingen. Alles Schöne ist falsch.« Seine Stimme wurde leis. »Und diese beiden, die der Vater noch mit ins Feld genommen –« Prinz Ludwig flüsterte dem Kämmerer zwei Namen ins Ohr, doch immer noch so laut, daß die sechs Einrösser diese zwei Namen deutlich hören konnten. »Mir glaubt der Vater nicht. Warne du ihn vor diesen beiden! Das sind Diebe. Gestern auf dem Marsche hab ich sie reden hören von meines Vaters Truhe. Sei wachsam, guter Wolfl! Hüte meines Vaters Gut und Leben! Gott wird dich segnen dafür. Wenn ich heute sterben muß und hinaufkomme, will ich die Heiligen bitten, daß sie dir beistehen. Um meines geliebten Vaters willen.«

In diesen Worten war ein Klang von rührender Kindlichkeit. Und als der Greis verwundert aufblickte, sah er unanzweifelbare Tränen über das breite, blasse Gesicht des Prinzen herunterkollern.

Draußen unter dumpfem Sausen ein Trommelgerassel und rasche Trompetenstöße. Der Führer der Einrösser sagte: »Gnädigster Prinz! Es ist an der Zeit!«

Mit den nassen Augen nickte Prinz Ludwig den sechs Gepanzerten herzlich zu. Wippend trat er zu ihnen, reichte jedem die Hand, wickelte den mausgrauen Mantel um seine Rüstung und sagte: »Schützet den Sohn eures Fürsten!« Als die sieben hinaustraten durch den Spalt des Zeltes, fiel wieder die Sonne herein.

Wolfl Graumann strich mit dem Handrücken über seine Stirn, als müßte er einen Nebel vor seinem Blick verscheuchen. Da faßten ihn grobe Fäuste vom Rücken her und rissen ihn zu Boden. Bevor er schreien konnte, hatte er einen Leinenbausch im Munde. Die beiden, vor denen der Prinz ihn gewarnt hatte, fesselten ihm Hände und Füße, wickelten ihm einen Mantel seines Herrn um das Gesicht herum, und so ließen sie ihn liegen.

In der Zeltkammer winselten und kläfften die zwei Hunde, während die schweren Säcke aus der Truhe gehoben und davongetragen wurden.

Hinter dem Zelte machte sich ein Trupp von berittenen Leuten mit zwei schwerschleppenden Saumtieren und vier leeren Gäulen durch den schönen Abend davon, kreuzte die auf der Dachauer Straße im Laufschritt anrückende Nachhut des Heeres und mußte sich bei der Amperbrücke durch einen Knäuel von Troßwagen winden, mußte einem Schwarm der kreischenden Gelägerdirnen entrinnen.

Der letzte Zug der Spießknechte, der den breitgezogenen Rücken des gegen die brennenden Dörfer Puechheim und Alling vorrückenden Schlachthaufens einzuholen versuchte, geriet auf der feuchten, von Menschen und Rossen zerstampften Wiese aus dem Zusammenhang, schließlich sprang ein jeder, wohin er wollte und wo er besseren Grund zu finden hoffte. Noch ehe diese Moosgaukler den vordrängenden Heerschwarm erreichen konnten, blieb er stehen. Nach allem Lärm war plötzlich eine wunderliche Stille in der Luft. Die Menschenmassen waren unbeweglich. Nur die Rosse, die der schlechte Boden unruhig machte, blieben nicht still; sie trampelten und keuchten. Und im Rücken des Heeres, unter dem Schwarm der wirren Springer, hallten aufgeregte Stimmen in die beklommene Stille hinein: »Sie beten! Nieder auf die Knie! Sie beten schon!«

Ein paar Soldknechte sprangen noch bis zum Heerhaufen hin und gerieten hinter die Hilfstruppe des heiligen Peter von Berchtesgaden, der mit Salzburg und Chiemsee die linke Flanke neben Herzog Ludwig stützte. Unter den Rittern war ein schmuck Gerüsteter, dem der ergrauende, zierlich gestutzte Knebelbart über die Halsberge herausstach. Mit dem Eisen puffte er seinen Nachbar zur Rechten an, der in flämischer Rüstung auf einem Pongauer Rappen saß und sich im Gebet auf den Hals seines Gaules beugte: »Du! Jetzt möcht ich das Gesicht Gottes sehen!«

Der in der flämischen Rüstung blieb versunken in sein Gebet. Doch des Neugierigen Nachbar zur Linken, der junge Hundswieben, tuschelte: »Gesicht Gottes? Aschacher? Denkst du ans Sterben?«

»Ich? Sterben? Noch lang nicht. Was geht mich das alles an? Wenn man nur gesund ist. Ich hab das Gesicht gemeint, das der Herrgott jetzt machen muß, bis er weiß, mit wem er's halten soll, mit Ingolstadt oder mit München? Seine lieben Kinder sind wir alle. Und da beten wir, und es beten die andern. Wem soll er helfen, wen soll er hauen? Heut ist das ein hartes Geschäft: Herrgott sein!« Hartneid Aschacher legte den Kopf zurück und sah durch die Klumsen des Schlachtvisiers in die blaue Luft hinauf.

Ein reiner, leuchtender Himmel wölbte sich mit milder Schönheit über den zwei betenden Heeren. Die niedergehende Sonne hing wie eine große, blitzende Goldkugel zwischen den Kronen des welkenden Buchenwaldes, der hinter dem Hoflacher Jägerhause lag. Alle Spitzen der Bäume waren wie zierliche, glitzernde Glutfäden, von so starkem Schimmer, daß das menschliche Feuerwerk der in Flammen stehenden Dörfer neben dem strahlenden Glanz des Waldes und Himmels eine schwächliche Sache wurde. Sogar der dicke, braune Rauch der Brandstätte – da ihn die Abendsonne in Purpur und Gold verwandelte – war heller und schöner als die matte Knisterflamme dieser hundert Hütten, in die der Mensch seine sengende Kunst getragen. Je höher die purpurnen Qualmwolken in die Sonne stiegen, um so leuchtender erschienen sie und waren zuletzt wie zarte, aus Rosenschimmer gewobene Schleier, hinter denen die langen Züge der von der Sonne angestrahlten Waldhügel gleich Ketten wundersam geschliffener Topase funkelten.

Vor den brennenden Dörfern und im Wiesentale zwischen den Hügeln waren die knienden Münchener schon umwoben von blauem Schatten. Über das breite Treffen der Ingolstädter zuckten von der Höhe des Hoflacher Waldsaumes noch die schimmernden Lanzen der Sonne herunter, ließen die Waffen und Panzer funkeln, setzten blitzende Flämmchen auf die blanken Helme und machten aus den scharlachfarbenen Einrössern einen Tanz von grellroten Lichtern. Und hinter Herzog Ludwigs betendem Schlachthaufen fielen die Schatten von Menschen und Pferden lang und blauschwarz über die zerstampfte Wiese hinaus, die Schatten der Fußknechte wie die Schwarzbilder knorriger Baumstämme, die Schatten der Reiter wie die Nachtgestalten märchenhafter Ungeheuer. Dann floß die schöne Sonne, die diese schwarze Fabel erfunden hatte, wie geschmolzenes Gold über die Wiesen zur Amper und Maisach hinunter, weit, weit hinaus über das öde Sumpfgelände der endlos scheinenden Moorflächen, und in der Ferne verwandelte sie die Waldberge von Dachau in lange Frühlingshecken, an denen die Blutrosen blühten.

Zahllose Wassertümpel des weiten Moorlandes, große und winzige, spiegelten den hellen Glanz des Himmels und waren wie blitzende Silberschilde und wie verschwenderisch ausgestreute Goldmünzen. Und die kleinen, unsichtbaren Zwerge, die diesen Hort von Gold und Silber bewachten, sangen eine geheimnisvolle Weise. Millionen von Fröschen und Kröten unkten im schönen Abend: »Gwo gwo gwo gwo gwo ...« Es war wie ein Urweltslied mit einem einzigen Worte, wie ein Schwingen und Beben der abendlichen Erde, wie eine Todesstimme der unerforschlichen Tiefe.

Einer von den Rittern, die mit Herzog Ludwig beteten, drehte beim Klang dieses Liedes das Gesicht, das bedeckt war vom Visier des mit Fasanenschwingen geflügelten Helmes. Eine tiefe Erschütterung befiel ihn. Während er die mit Stahl geplattete Zügelfaust in die Mähne seines Rappens wühlte, war ein schmerzender Schrei in seiner Seele. »Moorle! Auf dem Hängmoos? Wie du dich geweigert hast, in den Dreck zu springen? Bist du da nicht klüger gewesen, als Menschen sind?«

So stark und mächtig wurde das Getön der Sümpfe, daß es noch zu hören war unter dem frommen Schlachtgesang, den die beiden Heere zu singen begannen, als sie gegeneinander rückten.

Herzog Ludwig hatte die Losung ausgegeben: »Vorwärts! Mit einem wilden Stoß! Dem festen Boden zu, auf dem wir siegen! Alles niedergeritten! Die Schlacht muß gewonnen sein, eh man hundert Vaterunser betet. In München steht unser Bett.«

So wollten es seine Ritter und Reiter. Doch die Gäule versagten. Wie Kinder vor der Nacht, so zitterten die Rosse vor diesem schwarzen, mürben Boden. Kein Reiten und Rennen war's, ein grauenvolles Auf und Nieder, ein Kämpfen um jeden Sprung, ein Klatschen und Keuchen. Von den Waldhügeln knatterten die Büchsen der Stadtschützen gegen die langsam vordringende Reitermasse. Wer aus dem Sattel stürzte, wurde von den scheuenden Rossen in den Morast gestampft. Auch auf den Flanken des Ingolstädter Haufens fing man zu feuern an. Dieses Gebummer machte die scheuen Gäule noch wilder. Schon drohte die ganze Reihe des Treffens in Verwirrung zu geraten. Da kam der bessere Boden. Endlich! Endlich! Unter Trommelschlag und Trompetenstößen hörte man Herzog Ludwigs mächtige Stimme über alle Köpfe hallen. Doch bevor die Übermacht seiner Ritter und Reiter den wilden Stoß und das sieghafte Niederreiten beginnen konnte, sauste der Kern des Münchener Treffens auf den zerrissenen Gegner los, voraus der junge Prinz mit seinem jauchzenden: »Drauf und dran!«

Nun sind die beiden Heere von Schatten umflossen. Und diesen wilden Zusammenstoß begleitet ein Gerassel, als kollerten schwere Eisenpfannen, Kupferkessel und zerspringende Glocken zu Tausenden über einen steilen Berg herunter. In dem grauenvollen Geschütter geht alles unter, was der Wehschrei eines Menschen ist, der Jauchzer eines Tapferen, der zu sie gen hofft, das Röcheln eines Verlorenen, der sterben muß.

Hoch über dem wirren Schattengebalge von Menschen und Gäulen, von Blei und Eisen, von Dampf und Feuer – droben im Glanz der Sonne – rudert ein riesiger Schwarm von Wildgänsen durch die leuchtende Luft. Sie kommen vom Haspelmoor und fliegen den Seen der Berge zu. Während sie über das Schlachtfeld ziehen, bleibt der lange Keil ihres Heeres ruhig und verwirrt sich nicht – sie fliegen so hoch, daß alles, was unter ihnen auf der Erde wimmelt, ein winziges, träges, kriechendes Ding wird, dessen sie nicht zu achten brauchen.

Von der roten Sonne beschienen, sehen die vielen Vögel, die den Hügel von Hoflach überfliegen, wie eine Wolke wehender Rosenblätter aus.

Unter den Gepanzerten, die vor dem Jägerhause bei Herzog Ernst zurückgeblieben sind, schreit ein Frommer und Abergläubischer: »Jesus, ihr Leut, schauet hinauf in die Luft! Uns fliegen die Engel des Himmels zu. Wir müssen siegen.«

Herzog Ernst, auf seinem schweren, unbeweglich stehenden Rosse, wirft einen raschen Blick in die Höhe und murrt: »Deine Engel haben Flügel. Aber sie schnattern.« Dann späht er mit vorgebeugtem Halse wieder hinunter auf das wirre Bild der Schlacht, deren ohrenbetäubendes Getöse zu ihm heraufquillt. Er wird unruhig. Eine bange Sorge beschleicht ihn. Der bescheidene Häuf seiner Reiterei ist zu hitzig vorgeprellt. »Ich sag's ja, der verrückte Jung! Wenn's schiefgeht, reiß ich ihm die Ohren weg.« Er späht und streckt sich über den Rist des Gaules hin. Unter der Halsberge pocht ihm der Blutschlag wie ein Hammer. Immer mehr mißfällt ihm das gefährliche Spiel da drunten. Wohl hat sich Prinz Albrecht mit den sechshundert, die hinter ihm herjagten, in tollkühner Tapferkeit schon hineingekeilt zwischen die Massen des Gegners und sägt sich noch immer weiter gegen das Fürstenbanner des Ingolstädters hin. Doch hinter dem Prinzen und seinen Reitern ist ein böses Loch geblieben; der Kernhaufe des Münchener Fußtreffens kann so schnell nicht folgen, obwohl die schweren Männer wie junge Buben rennen; und die Flanken, bedrückt durch den regellos hetzenden Schwärm der Bauern, ziehen sich zu weit auseinander und werden gegen die Hügel geschoben. Wenn die berittene Übermacht der Feinde sich völlig herausstampft aus dem schlechteren Boden, ist alles verloren, und alles wird niedergerasselt.

Aus des Herzogs Kehle fährt ein rauher Schrei. Sein Sohn ist verschwunden, ist gesunken, vom Gaul gerissen. Ein wildes Gebrüll da drunten, halb wie Jubel und halb wie Schreck. Für einen Augenblick schließt der Herzog die Lider. Dann reißt er den schweren Streithammer vom Gürtel, wirft durch einen Zuck des Kopfes das Helmvisier herunter und schreit: »Ihr Männer! Los! Und drauf und dran! Oder mein lieber Sohn ist hin. Und alles!«

Die zwanzig gepanzerten Rosse jagen über den Hügel hinunter, durch eine Lücke des Treffens gegen den Feind.

Schon kreischt man über die stockenden Reihen hin: »Der Prinz ist tot!« Und Hunderte stehen erschrocken, Hunderte wollen sich wenden. Da hallt die Stimme des Herzogs: »Fürwärts, ihr guten Leut! Erschrecket nit! Mein Sohn ist wie ein anderer. Rettet euer Volk und Land! Drauf und dran! Hie gutes München! Seht, wie der Feind entflieht!« Dieses letzte Wort ist eine Lüge; doch eine hilfreiche. Gleich einer Mauer, die zu laufen verstand und jetzt das Springen lernte, drängt die neugeschlossene Reihe des Städter-und Bauernheeres dem Herzog nach und fällt mit Sensen, mit Bidenhändern und Morgensternen gegen Ludwigs ankeuchende Reitermenge. Und Herzog Ernst bahnt eine Gasse, faßt den Streitkolben mit beiden Fäusten und haut nach links und rechts hinunter, mit plumpen, klobigen Streichen, mit gewaltigen Hammerschlägen, unter denen die Helme und Schädel, die Platten und Knochen splittern. Hinter dem Herzog schiebt sich der Hauf der schweren Zünfte nach und ein Trupp von Bauern, die mit grimmigen Hieben dreinschlagen. Allen voran ist der Michel Ungeraten mit seinem rostigen Eisen. Er hält dem Herzog den Rücken frei und hat für jeden, den er mit wütendem Streiche niederdrischt, die drei gleichen Worte: »Schmeck, wie's tut!«

Ein wüstes Geraufe und Stoßen, Schreien und Fluchen ist um den niedergestochenen Apfelschimmel des Prinzen her. Vom schweren Körper des Gaules halb in den Morast gepreßt, wehrt sich der Liegende mit ermattenden Kräften. Einer schlägt ihm das Eisen aus der Faust, ein roter Einrösser reißt ihm den Helm herunter, faßt ihn am Hals und drückt den vom Blondhaar umringelten Kopf des Prinzen in den Kot: »Ergebt Euch, Herd« Da saust in dem wirren Gewühl der Streitkolben des Herzogs auf den Nacken des Einrössers. Der bricht zusammen. Über ihm ein lachender Schrei: »Ui? Wolltest du meinen Jungen fangen? Den brauch ich selber.« Die Münchener wollen jubeln, doch sie müssen sich ihres Lebens wehren. Zwei Reiterhaufen des Ingolstädters überflügeln das Gebalge, das um den Prinzen ist. Ludwigs Hauptmann Christoph Laiminger rennt gegen den Herzog an. Ein Streich des Michel Ungeraten wirft ihn vom Gaul. Und der Michel will noch schreien: »Schmeck, wie's –« Doch das dritte seiner Worte findet er nimmer. Stummgeworden rollt er unter die Hufe der Rosse.

In dicken Schwärmen prellen die Ingolstädter vor. Und ohne zu lügen, jauchzen schon viele von ihnen: »Sieg! Sieg!«

Da schrillt zwischen den roten Einrössern eine dünne Knabenstimme: »Rettet euch! Alles verloren! Rettet euch! Wendet die Gäule! Unser Herzog in Gefahr!« Der vordringende Schwarm der Ingolstädter stockt. Eine dumpfe Verwirrung. Und einer in mausgrauem Mantel reißt mit zerrenden Fäusten sein Roß zur Flucht. Wieder und wieder zetert er die zwei gleichen Worte: »Rettet euch! Rettet euch!« Zwanzig, dreißig, hundert beginnen zu fliehen. In langen Reihen wanken und weichen sie.

Herzog Ludwig mit den fremden Hilftruppen, die im Treffen die Nachhut hatten und noch zu keinem Streiche gekommen waren, wirft sich dem Gewirr der Fliehenden entgegen, will das rennende Unglück zum Stehen bringen, befiehlt und droht und bittet, reitet gegen das eigene Volk und schlägt mit seinem deutschen Schwert die eigenen Leute nieder.

Wie eine eiserne Mauer preßt sich das Heer der Münchener gegen die weichenden Reihen des Gegners und drängt die letzten, die noch stehen möchten, auf den moorigen Boden zurück. Hier wird jedes Roß zu einem Feinde seines Reiters. Die fuchtelnden Hufe schlagen auf Menschenleiber. Ein Stöhnen, Keuchen und Schreien. Und während die Frösche millionenstimmig das ewige Lied der Tiefe singen, wälzt ein verzweifelter Knäuel von Menschen und Tieren sich immer weiter gegen die weglosen Sümpfe hin. Rosse versinken bis über den Bauch, gestürzte Reiter tappen und waten, werden vom Gewicht der Rüstung immer tiefer gezogen und bleiben hängen wie Fliegen im bösen Honig.

Keine Rettung mehr! Herzog Ludwig muß das Elend der Stunde erkennen. Doch alles Zähe seiner Kräfte bäumt sich in ihm, und seine Fäuste greifen nach einem neuen Schimmer von Hoffnung. Noch ist nicht alles verloren. Nur sein Sohn ist ein Verräter geworden oder noch ein Ekelhafteres: ein Feigling. Sonst nur ein Tag verspielt! Wohl liegen tausend von Ludwigs Treuen auf der Wiese oder hängen im Moor oder rennen, wer weiß wohin. Zweittausend hat er noch! Und mehr! Die muß er retten, zusammenhalten und führen, muß ihnen die Straße sichern, muß sie bei Dachau auf festen, verläßlichen Boden bringen. Dort will er sie sammeln, will sie ruhen lassen bis zum Morgen. Und wenn sie erkannten, daß nur der Haß des Bodens und die Widrigkeit einer Stunde sie besiegte, will er sie zu einem neuen, glückreicheren Stoße gegen München führen, morgen, in dieser jungen Sonne, die seine Sonne ist, die Sonne von Sankt Matthäi!

Mit den Truppen, die noch frisch geblieben – mit den Salzburgern und Gadnischen, mit dem Zug der Chiemseer und des Törring – besetzt er im Blutglanz des sinkenden Abends die Amperbrücke bei Olching und formiert einen langen, weit auseinanderstrebenden Trichter, der die verwirrten Schwärme der Fliehenden auffangen und sie zu ruhigem Rückmarsch in dünner Reihe zwingen soll.

Das gelingt ihm.

Es gelingt, weil Herzog Ernst bei dämmerndem Abend die Seinen sammelt, um sie von einer hetzenden Verfolgung auf gefährlichem Boden abzuhalten. Und weil er ein genügsamer Sieger ist. »Gott hat uns aus der Not gehoben. Jetzt wollen wir barmherzige Menschen sein.«

Im sinkenden Zwielicht werden die Verwundeten zusammengetragen, Freunde und Feinde. An die dreihundert hocken und liegen im Wiesgarten vor dem Hoflacher Jägerhause. Nur wenige sind schwer verletzt. Gefallen ist vom Heer der Münchener nur ein einziger. Er liegt wie ein steifes Holz im Gras, ist in den Mantel des Herzogs eingewickelt und hat einen neuen Namen bekommen. Man wird ihn zu München in der Schloßkirche bestatten, und der Büchsenmeister Völschel, der alle Verse für seine Haupt- und Kammerbüchsen selber macht, hat schon eine Grabschrift für ihn gefunden:

»Ein Bauer hieß Michel Ungeraten, Da seine Äuglein noch blitzen taten, Hat gelacht für sieben, gefochten für zehn, Heißet im Himmel: Herr Seelenschön!«

Das Verslein gefiel den Fürsten, Bürgern und Bauern. Nur ein alter Schwabinger schüttelte den Kopf und sagte: »Seiner einschichtigen Mutter wird's nit zusagen. Der wär ein lebendiger Ungeraten lieber.«

In der matten Helle, die der versinkende Brand der beiden Dörfer am späten Abend noch machte, musterte Herzog Ernst die Schar der Gefangenen. Fast ein halbes Tausend. Nicht viele waren in der Schlacht gewonnen; unter ihnen ein paar von des Ingolstädters besten Leuten, der verwundete Hauptmann Christoph Laiminger, Herr Jörg von Frauenberg und Seiz Marschall von Oberndorf. Die meisten der Gefangenen – darunter mehr als zweihundert adlige Herren – hatte man nach der Schlacht aus dem grauen Pfuhl gezogen. Wie man Fische im Moorwasser fängt, mit der hohlen Hand. Bevor man diese erbeuteten Grafen und Barone unter Siegesjubel und Glockengeläut nach München einbringen konnte, mußte man sie ein bißchen säubern. Mit plätschernden Wassergüssen spülte man ihnen den Morast von den kostbaren Rüstungen. Lachend sagte Herzog Ernst: »Ihr Herren, verzeihet der groben Wäsch! Meinem Sohn ist's auch nicht feiner ergangen. Der putzt noch allweil an seinem langen Haar und riecht wie ein fauler Karpf.«

Von irgendwo – aus einem Dorfe, das noch nicht verbrannt war – klang im Grau des Abends der Hall einer Glocke.

Der Herzog und die Seinen beugten das Knie zur Andacht. Sie dankten dem Himmel für den flinken Sieg, den sie im Gold dieses sinkenden Tages erfochten hatten, bevor eine langsame Christenseele hundert Vaterunser hätte beten können.

Nach dem Amen tat Herzog Ernst das Gelübde: »Wo Gott uns geholfen hat, will ich zu ewigem Gedächtnis eine Kapell erbauen.«

Unter einem Himmel, der noch hell war, begann das Heer der Münchener den fröhlichen Rückmarsch. Die Bürger schwatzten, die Bauern sangen.

Von den glostenden Feuerstätten der niedergebrannten Dörfer huschten Männer und Weiber am schwarzen Waldsaum gegen das stillgewordene Schlachtfeld hinunter und holten sich von den kaltgewordenen Ingolstädtern, die Herzog Ludwig wider Willen zurückgelassen hatte, eine kleine Vergütung für ihren Brandschaden. Bei der Plünderung des vergessenen Fürstenzeltes fanden sie einen Gefesselten, dem sie die Freiheit gaben, weil sie glaubten, das wäre einer von Herzog Ludwigs Feinden.

Gelächter, harte Flüche und leise Stimmen. Und manchmal ein lautes Klatschen in den weißlichen Wassertümpeln, die noch immer einen Schimmer von Helle zu spiegeln hatten.

Über den großen Pfützen zuweilen ein Flügelrauschen, ein aufgeregtes Entengeschnatter.

Und noch immer sangen die Frösche.

In der Dämmerung huschten zwei große Hunde wie rasend zwischen dem Schlachtfeld und dem Lauf der Amper umher. Winselnd und kläffend verschwanden sie im Dunkel.

8

Wie ein schwingender Orgelton, verschwebend und wieder wachsend, scholl das Lied der weiten Sümpfe in die kommende Nacht. Von den Rändern der flachgedehnten Moore klang es noch über das feste Land hinaus bis zu den schwarzgewordenen Waldhügeln, die zwischen Günding und Dachau einen großen, dunklen Wiesenkessel umzogen.

In den schwarzen Wäldern nirgends ein Feuerschein. Doch immer wieder das Geräusch von brechenden Zweigen, ein Stampfen ungeduldiger Pferde, ein leises Klirren von Eisen.

Aus einer finsteren Wand des von unsichtbarem Leben durchlispelten Waldes lösten sich zwei graue Reiter und hielten auf einem Wiesenhügel: Malimmes und Jul. Ihre Gäule standen Seite an Seite, während die beiden schweigend hinausspähten über das singende Moor.

Gegen Westen streifte den Horizont noch ein matter Blutschein des versunkenen Tages. Und in der südlichen Ferne, wo der Himmel zwischen dem Stahlblau der vorrückenden Nacht und dem glimmenden Rot des Westens eine gelbgrüne Tönung hatte, hing etwas Traumhaftes in den Lüften. Es war von rätselhafter Form, hatte ein zartes Leuchten und drohte hinter den dampfenden Herbstnebeln zu versinken. Fast glich es den schimmernden Zacken einer großen Krone, die ein unsichtbarer König trug, die Kette der Berge, auf deren höchsten Zinnen noch ein roter Nachglanz der untergegangenen Sonne lag.

In dem leiser werdenden Lied der Frösche ließ sich von Westen ein Geräusch vernehmen, ähnlich dem fernen Lärm jener Elendsnacht, in der die Ramsauer den andächtigen Bittgang zum heiligen Zeno unternommen hatten. Wie ein Gerüttel von Erbsen in einer eisernen Schüssel.

Ruhig sagte Malimmes: »Da kommen sie. Herr Heinrich hat gut gerechnet. Wenn er die wilde Fiebernacht übersteht, wird Gott wieder wollen müssen, was der Herzog will. Wär ich der Herrgott, so hätt ich einen anderen Willen.«

Stumm und unbeweglich kauerte Jul im Sattel, war auf den Hals des Pferdes gebeugt und spähte über das klingende Moor hinaus.

»Was wir da schaffen müssen, ist ein übles Ding.« Malimmes redete durch die Zähne. »Einen Feind totschlagen? Gut! Einen Erschlagenen drosseln? Ich versteh's nit.« Er lachte. »Muß wohl sein, daß ein niedriger Lumpenkerl nit weiß, wie ein fürnehmer Herzog rechnet: Zweimal zwei ist drei für die andern, zweimal zwei ist sieben für den Herzog. Sein Turm wird fett dabei. Unsereins bleibt mager.«

In der nebligen Ferne, wo die ruhelosen Erbsen rasselten, glommen die Fackeln auf, die der fliehende Heerhauf entzünden mußte, um zwischen Sumpf und Sumpf die feste Straße nicht zu verlieren. Und im Süden wuchs ein rötlicher Schein: das Freudenfeuer, das man zu München entzündete. Um die heimkehrenden Sieger zu begrüßen, läutete man in der Stadt mit allen Glocken. Das vielstimmige, durch Ferne und Nebel sanft gedämpfte Geläut schwamm über den singenden Sumpf herüber und mischte sich mit dem Lied der Frösche, das wie eine zärtlich flüsternde Stimme im Dunkel schwebte: »Komm, komm, komm, komm, komm, komm –«

Schaudernd unter den stählernen Schienen, fiel Jul im Sattel vornüber und preßte das Gesicht in die Mähne des Gaules.

Malimmes ließ den Zügel fallen, griff mit beiden Armen hinüber und richtete den zitternden Gesellen auf: »Sei gescheit! Tu dich aufrecht halten! Was ist denn das?«

»Malimmes! Ich sterb, ich sterb!«

Da lachte der Bauernsöldner mit einem wunderlich wehen Klang. »Sterben? Das glauben die Maidlen all weil, wenn ihr Leben erst richtig anheben will.«

Jul hob den Kopf und sagte mit der Stimme einer verzweifelten Seele: »Mensch, ich versteh dich nit! Du redest wieder, ich weiß nit, was.«

»Ganz gut verstehst du mich. Guck übers Moor hinaus!« Malimmes deutete nach den Fackeln, die weit da draußen gaukelten. »Da kommt einer. Der lebt! Er muß leben. Da glaub ich dran, du Kind meines gütigen Herren! Eh zwei Tag versinken, ist das Lachen in dir. Oder seit Adam ist kein Prophet auf der Welt gewesen, und der Malimmes vom Taubensee ist ein Schaf mit sieben Haxen.« Das heitere Schwänzlein, das er hinter den Ernst seiner Worte gehängt hatte, wollte nicht wirken.

»Du tust mich martern.«

»So mußt du's halt ein lützel aushalten. Ein junges Mannsbild darf nicht wehleidig sein. Jetzt bist du eins. Was du sein wirst, bis der Neumond ins Wachsen kommt, das mag ich nit wissen. Und paß auf, Gesell, ich sag dir was! Die irdischen Leut in ihrer Torheit reden von allerlei Sachen. Die sagen: Tod oder Leben, Ehr oder Schand, Hab oder Armut, Licht oder Finsternis. Für alles, nach dem sie dürsten oder was sie fürchten, haben die narrischen Menschen so einen Laut. Ist alles bloß ein lausiges Wörtl. Alles ist Nußhaut. Kern ist bloß ein einzigs. Die's richtig erleben, können nit sagen, was es ist. Bloß die wissen es, die's nie nit finden und allweil hungern. Die sagen: Glück! – – Bub? Hörst du, was ich sag?«

Ein schluchzender Laut.

In der Höhe fingen die Sterne zu blitzen an, während über dem Moor das Nebelziehen der Herbstnacht immer dichter qualmte. Die Feuerhelle der siegreichen Stadt war schon verschwunden. Und auch der Schein der vielen Fackeln, die sich über die Moorstraße herbewegten, drohte zu erlöschen in diesem schwärzlichen Grau. Doch immer lauter scholl das Erbsengerüttel in der Eisenschüssel.

Während die Köpfe der zwei ruhig stehenden Gäule zärtlich miteinander scherzten, waren die Worte des Malimmes ein heißes Flüstern: »Muß ein hurtiges Ding sein! Das Glück! Hat zwei springende Füß, will nit stehen bleiben und mag nit warten. Lauft einem allweil davon. Wer's haben will, muß es greifen im richtigen Schnaufer. Ich Esel hab den richtigen verpaßt. Liebs Maidl, tu die Augen auf! Wenn dein Glück kommt, so pack's!« Seine Stimme wurde wie das Knirschen eines Fieberkranken. »Laß nimmer aus! Das Glück ist alles. Und was du brauchst dazu, das nimm! Ist alles dein! Mein Sack und Geld, mein Roß und Eisen, mein Blut und Leben. Nimm's! Und daß du's weißt: Fürgestern hat mir der Herzog einen geschenkt, den ich fangen will. Und der ist dein! Nimm ihn! Nimm ihn!«

Taumelnde Worte: »Ich weiß nit, wen du meinst!«

»Den du lieb hast!«

»Mensch!« Eine Stimme in heißem Zorn. »Bist du ein Narr? Oder redest du im Rausch?«

Nach langem Schweigen sagte Malimmes heiter: »Jetzt hast du's troffen! Ist wahr, heut hab ich den Becher fest gelupft. Ich fürcht mich nit so leicht. Aber heut? Recht hast du! Heut hab ich mir ein lützel Mut in die Leber gegossen. Weil ich sorg, daß morgen Verliertag ist. Das Letzte verlier ich nie. Ich selber bleib mir noch allweil. Aber morgen verlier ich das Beste.« Er faßte mit einem wilden Griff den Zügel des Falben. »Komm! Wir müssen dem Seipelstorfer Meldung machen, daß die Mäus ins Wasser hupfen.« Er ließ die zwei Gäule keuchend hinaufjagen über den steilen Hügel, auf dem der Wald begann.

Draußen im Moor verwandelte sich das Gerüttel der Erbsen in schweres Eisengerassel. Gäule stampften, man hörte das Räderknarren flink fahrender Karren, den dumpfen Schritt marschierender Haufen. Das Wiehern und Schnauben der Rosse, schreiende Befehle und die vielen aufgeregten Stimmen – alles schmolz ineinander zu einem wirren Lärm. Auf der festen Wiesenfläche, die vom Halbkreis der im Nebel unsichtbaren Waldhügel umzogen war, sammelte sich das fliehende Heer des Ingolstädters. Zelte wurden aufgeschlagen, Lagerfeuer angezündet. Bei den Troßkarren rauften sich die Hungrigen um die Zehrung, die man austeilte. Die geleerten Karren verkeilte man gegen die Moorstraße zu einer Schanze, um das rastende Kriegsvolk gegen einen nächtlichen Überfall der Münchener zu schützen.

Als die Erschöpften bei den Feuern ruhen konnten, ihren Hunger stillen und den Durst ersäufen, kam in den Lärm des von Nebeln umsponnenen Lagers ein heiterer Klang. Die Lagerdirnen sorgten für Aufmunterung der betrübten Helden.

Den Herzog hatte man zu einem Hauptmannszelte geführt, vor das Fürst Pienzenauer die Gadnischen als Wache stellte. Seinen scharlachfarbenen Einrössern traute Herr Ludwig nimmer.

Während ihm beim Schein einer Fackel der zitternde Wolfl, der ein gedunsenes Gesicht und an den Handgelenken dicke Striemen hatte, die blauen, unter Schlammkrusten erloschenen Stahlschienen herunterschnallte, blieb der Herzog schweigsam. Er schien nicht zu hören, was die Herren und Hauptleute redeten, die im Zelte waren. Immer sah er die zwei abgehetzten Hunde an, die in ihrem schlammigen Haar auf einer Pferdedecke lagen und die jappenden Zungen über die schwarzen Lefzen hängen ließen.

Sein stolzer Körper war gebeugt, sein Gesicht gealtert. Dunkle Ringe lagen um die Augen, tiefe Schnitte um den Mund. Was ihm der Wolfl hatte sagen müssen, hatte ihm die letzte Kraft zerbrochen. Als er des Eisens ledig war, sah er die Herren an und machte mit der Hand eine dankende Bewegung. »Morgen! Heut sind wir müde. Wer schlafen kann, soll es tun!« Er lächelte ein bißchen. »Laßt euch was Holdes träumen! Die schönen Dinge muß man im Schlafe finden. Für den Wachenden sind sie, man weiß nicht, wo.«

Nun war Herr Ludwig allein mit dem Kämmerer. Geduldig ließ er sich säubern und pflegen, nahm einen Bissen und leerte den Becher. Schon auf das Lager hingestreckt, umklammerte er plötzlich mit seinen starken Fäusten die dünnen Waden des bejahrten Dieners und schrie: »Wolfl? Kannst du es glauben? Ein Sohn! Glaubst du das?«

Der Alte schüttelte den weißen Kopf. »Er hat mich doch selber vor den zwei Dieben gewarnt, die ihm verdächtig waren. So hätt er nit geredet, wenn er –«

»Gelt, nein? Und das mit dem Nachtigall? Das kann doch so sein! Und diese Feigheit in der Schlacht? Nicht Feigheit. Nein. Ich will Schreck sagen. Auch in gradgewachsenen Menschen muß erst erzogen werden, was Mut heißt. Ein Kind. Halb noch ein Kind. Und die erste Schlacht. Schreck ist ein menschliches Ding. Sein Schreck kostet mich viel. Das ist wahr. Aber auch ich erschrecke noch manchmal. Ich erschrecke vor Ratten. Weil mir ekelt. Und auch das ist wahr: Er ist nicht gut, Wolfl. Böse Dinge sind in ihm. Wie in uns allen. Aber solch ein Fürchterliches? Nein. Was ich denken muß, ist nur ein Wechselbalg des bösen Mißtrauens in mir. Wolfl! Spei aus vor mir! Ich verrate. Nicht dieses verirrte Kind, das heute nacht um meiner Torheit willen seinen Kopf hinlegen muß, ich weiß nicht wo.« Er fiel auf das Lager hin. Eine Weile – bis Wolfl Graumann die Hunde gesäubert hatte – blieb er unbeweglich. Dann fuhr er mit dem Oberkörper auf, streckte die Arme und lockte mit zärtlichem Laut. Die zwei Bracken kamen gesprungen, duckten sich zu ihrem Herrn auf das Lager und machten sich klein unter seinen Armen. Mit den Händen preßte er die braun und weiß gefleckten Köpfe der Törringer Bärenfinder an seine Brust, wurde ruhig und lächelte. »Sieh her da, Wolfl! Das sind Tiere. Viele Menschen wissen nicht, warum es Tiere gibt.« Er schmiegte das Gesicht gegen die Schnauzen der beiden Hunde. »Wie gut sie riechen!« So blieb er ruhig liegen, mit den Runzeln eines wühlenden Denkens auf der Stirne.

Als eine der Bracken lauschend den Kopf erhob, fuhr auch Herr Ludwig auf und fragte heftig: »Wer hat die Wache vor unserem Zelt?«

Wolfl stammelte: »Ich weiß nit, Herr!«

»Hole mir den Mann, der da draußen befiehlt!«

Der Alte huschte davon. Und in der flämischen Rüstung – grau von Schlamm, der auch die Fasanenschwingen des Helmes noch so dick bespritzt hatte, daß sie wie Sperberflügel waren – trat Lampert Someiner in das Zelt. »Der gnädigste Herr gebietet?«

Weit die Augen öffnend, setzte der Herzog sich auf und nahm die Köpfe der Bärenfinder unter die Arme, als müßte er sie vor einem Fremden zur Ruhe zwingen. Doch sie murrten nicht. »Ei, schau doch! Der Ritter Someiner! Mein Berchtesgadner! Nimmer so schmuck wie vor einem Jahr. Und doch gefällst du mir besser.« Er tat einen tiefen Atemzug. »Freund Pienzenauer hat es gut mit mir gemeint. Du vor dem Zelt da draußen? Da kann ich schlafen ohne Sorg. Und ich bin müde.« Herr Ludwig sah wie verwundert die Köpfe seiner ruhigen Hunde an und nickte. »Die wissen, wer du bist.« Er hob das Gesicht. »Jetzt weiß ich es auch. Zu Ingolstadt bist du mir in der Masse entronnen. Die Masse ist dünner geworden. Da sieht man den einzelnen. Heut hast du mir Arbeit getan, bei der die Tapfersten verzagten. Viele Hunderte von meinen verstörten Schöpsen hast du zu Vernunft und auf ruhigen Weg gebracht.«

»Herr, die haben sich selber besonnen.«

Dem Herzog fiel die heiser umflorte Stimme auf. Er lächelte. »Hast du schon wieder einen verkühlten Hals?«

»Nein, Herr! Das ist noch allweil so. Es bleibt. Was schadet's? Ich bin kein Kirchensänger.«

Schweigend betrachtete Herr Ludwig diesen ruhigen, festen Mann, der noch die Jahre des Jünglings hatte. Dann sagte er ernst und langsam: »Die Törichten fragen. Und irgendwann kommt eine Stunde, die ihnen Antwort gibt. Daß du vor mir stehst so fest, heute in meiner Schmach, das ist eine Antwort. Für mich.« Seine Worte wurden schwer wie Blei. »Warum hab ich dich nicht besser beschaut? Damals? Ich hätte auf deine junge, redliche Stimme hören sollen. Dann säß ich heute nicht, wo ich sitze. Und unsere Heimat wäre nicht ärmer geworden um viele Tausende von Menschen! – Damals, weil du heiser warst, habe ich dich ein bißchen drollig gefunden. Und wenn ich mich recht besinne, sagte ich dir ein höhnisches Wort. Willst du mir das verzeihen?« Der Herzog streckte die Hand.

Lampert umklammerte mit seiner gepanzerten Faust diese Hand, die von den Konstanzer Narben durchschnitten war. In seiner tiefen Erschütterung wußte er nicht, was er sprach. Er sagte: »Herr, für Euch in den Tod!«

Der Herzog schüttelte den Kopf. »Tod? Nein, Someiner! Jetzt weiß ich, was ich will. Morgen wollen wir einen Weg zu erträglichem Leben suchen. Und heimziehen, den Stolz zerbrechen und unser Haus bestellen. Der Fritz von Zollern würde sagen: ›Meinen jungen Acker bauen.‹ Und lernen wollen wir, wie man sein muß als Vater, um einen treuen Sohn zu haben.« Herr Ludwig erhob sich und drückte schmeichelnd die Hunde auf das Lager hin. Nun hatte seine Stimme fast einen heiteren Ton. »Kluge Greise sagen gerne: ›Zu spät!‹ Sie sind Narren. Weise sind nur die Hoffenden. Morgen kommt die Sonne von Matthäi. Sobald der Moornebel verschwindet, sollst du zu meinen Vettern nach München reiten. Dich will ich schicken. Du sollst meine Versöhnung mit ihnen bereden. Komm zu mir, wenn es Tag wird. Da besprechen wir alles. Jetzt lege dich ein paar Stunden schlafen! Hier in diesem Waldloch sind wir sicher.«

In froher Erregung sagte Lampert: »Ich will wachen.«

Der Herzog lachte: »Tue, was du mußt! So lautet das Gesetz der Verläßlichen. Jetzt kann ich schlafen. Gute Nacht, Someiner!«

Ein glückliches Leuchten war in Lamperts Augen. »Gesegneten Morgen, Herr!«

»Someiner? Bist du vermählt?«

Eine dunkle Welle ging über das braune Gesicht. »Nein, Herr!«

»Friede kommt. Nimm dir ein gesundes Weib! Und zeuge gradgewachsene und redliche Söhne! Man braucht sie auf Erden.« Der Herzog wandte sich zu seinen Hunden und streichelte ihnen die schönen Köpfe. Als Lampert Someiner das Zelt verlassen hatte, sagte Herr Ludwig: »Wolfl? Wie kommt das? Ein Mensch. Und redet keine zwanzig Worte. Und wird ein Stab und ein Wegweis. Wie kommt das?«

»Gnädigster Herr, das weiß ich nit.«

»Wolfl, du bist ein altes, dummes Huhn.« Heiter faßte der Herzog den Kämmerer am Ohrläppchen. »Das kommt so, weil in graden und gesunden Menschen die reiche Seele zu reden anfängt, wenn die Lippen arm werden.« Er streckte sich auf das Lager hin. »Lösche die Fackel! Dann kannst du schlafen gehen.«

Draußen klirrte der Stampfschritt einer gepanzerten Ronde, die von Feuer zu Feuer ging, um Ruhe zu gebieten.

Die Flammen erloschen bei den Zelten und zwischen den wirren Haufen der Menschen, die in den Mänteln auf der blanken Erde lagen. Nur vor der Wagenschanze, bei der man, gegen die Moorstraße hin, eine starke Wache postiert hatte, loderte noch eine hohe Feuersäule. Ihre Helle lockte das Nachtleben des Moores an. Pfeifende Bekassinen schössen vorüber, dicke Rohrdommeln, die wie Raben krächzten, überflatterten mit schwerem Flug die hohe Flamme, und manchmal sauste ein kleines Entenvolk heran, wendete mit ängstlichem Geschnatter und verschwand wieder. Das Gewimmel der Moosschnaken hing wie ein wogender Schleier in der Helle, und ruhelos kam ein immer wachsender Flug von Nachtschmetterlingen gegen die Flamme her; das war wie ein rötliches Schneegestöber; jene, die tief in das Feuer flogen, verwandelten sich in aufblitzende Sternchen; und die anderen, die sich nur versengt hatten, begannen rings den Boden mit kleinen Leichen und mit einem Gewühl von kribbelnden, in Schmerzen taumelnden Insektenleibern zu bedecken. – –

Als der Morgen graute, wurde Lampert, der wachend die ganze Nacht vor dem Fürstenzelt gestanden, zum Herzog gerufen.

Träg ermunterte sich das Lager. Die Leute, die bei der quälenden Insektenplage keinen Schlaf gefunden hatten, waren übernächtig, müd, erschöpft, voll übler Laune; und immer scharrten die angepflöckten Gäule, unruhig und gereizt.

Gegen die siebente Morgenstunde begann der Nebel sich aufzuhellen und kroch nach Westen über das Moor hinaus. Manchmal sah man einen Schimmer, als wäre irgendwo die Sonne.

Mit kleinem Geleit – an den langen Speeren die weißen Friedenslappen – trabte Lampert Someiner als Gesandter des Herzogs von der Wagenschanze über die Moorstraße hinaus, auf München zu. Beim Reiten schlössen sich manchmal seine Lider über den heißen, rotgeränderten Augen.

Sonnbeglänzte Waldkämme tauchten aus dem schwindenden Grau; wie kleines, glitzerndes Spielzeug sah man zwischen leuchtenden Schleiern und blauen Himmelsflecken die Dachauer Höhe mit Mauern, Turm und spitzigen Firsten; und in der Tiefe blinkten schon die vielen Wassertümpel des Moores wie funkelnde Silberschilde zwischen goldgetönten Nebelstreifen.

Da scholl von dem Waldloch, in dem das Lager war, ein wüstes, grauenvolles Geschrei.

Lampert verhielt seinen Pongauer Rappen, streckte sich in den Bügeln und spähte. Zwischen den wehenden Dünsten, aus denen das fürchterliche Stimmengekreisch herausschrillte, sah er ein braunes Gewühl von Menschen und Rossen. Und über die sonnbeglänzten Waldhügel rollten blitzende Wogen von Eisen gegen das verwirrte Lager hinunter, dicke Reiterschwärme und breite Züge von Fußknechten.

»Wendet! Jesus Maria! Wendet!« brüllte Lampert mit seiner rauhen Stimme, warf den Rappen herum und riß das Eisen aus dem Leder. »Wendet, ihr guten Leut! Der Herzog in Not!«

Er jagte mit den sechsen, die sein Geleit waren, gegen das Lager zu. Auf der Straße, die schmal durch die weglosen Sümpfe hinzog, quoll ihm ein tobendes Gedräng von Fliehenden entgegen, von springenden Männern, schrillenden Dirnen und hopsenden Reitern. Lampert sperrte mit seinem Geleit den Weg, befahl und schrie und bettelte und stach die Rosse nieder, die an ihm vorüber wollten. Aber da half kein Mut und kein Wille eines Menschen mehr. Die Angst dieser waffenlos Entfliehenden war wie eine sinnlose Walze, die alles niederdrückte, was ihr im Wege stand.

Die junge Sonne von Matthäi lächelte goldschön aus dem reingewordenen Blau herunter, und vom Dachauer Kirchturm klang das Geläut der frommen Sonntagsglocken, während auf der Moorstraße die niedergerittenen Menschen sich unter den Hufen der jagenden Rosse wälzten und schreiend über die Straßenböschung hinunterkollerten in den grundlosen Schlamm. Die vielen im Moraste auf- und niedertauchenden Hände waren wie hüpfende Fische, und gleich aufgeblähten Fröschen waren die irrenden Menschenköpfe, die mit starren, weit aufgerissenen Augen aus den Tümpeln ragten. Rosse tappten und keuchten durch den schwarzen Pfuhl, versanken und tauchten wieder auf, wühlten sich in den Tod hinein oder hingen mit den Vorderbeinen geduldig an einen Moosbuckel angeklammert. Und eines von diesen Rossen – ein Pongauer Rappe – stand reiterlos und mit enggestellten Hufen auf einer kleinen Raseninsel, peitschte seine graugewordenen Flanken mit dem schlammtriefenden Schweif und wieherte klingend über den von Sonne schimmernden Sumpf hinaus.

Und drüben, gegen Norden hin, auf der anderen Seite des von Heinrichs Truppen schon umzingelten Lagers, war ein klirrendes Gehämmer wie von tausend Schmieden.

Herzog Ludwig, im blauen Stahl seiner Ingolstädter Rüstung und mit dem breiten deutschen Schwerte, brach unter verzweifelten Streichen eine Bresche in die eiserne Mauer der Landshuter Harnischer. »Lieber den Tod, als mich fangen lassen von dieser giftigen Spinne!« Er schlug und focht und erkämpfte Schritt um Schritt – mit ihm Herr Peter Pienzenauer und die Chiemseer, der Hochenecher mit den Salzburgischen Rittern und gegen dreihundert von Ludwigs Lehensherren und adligen Söldnern. Und allen voraus, immer an der Seite des Herzogs oder vor ihm her, drosch und hämmerte Kaspar Törring, der aus dem ›Teufel von Jettenbach‹ verwandelt war in den mörderischen Satan von St. Matthäi. Das Gekläff von Ludwigs Hunden, die hin und her durch das Gewühl der Kämpfenden sausten, schien die tollkühnen Kräfte des Törring zu verdoppeln. Sooft er das Zorngeläut der Bärenfinder hörte, lachte er unter dem blutbespritzten Visier und schlug und schmetterte alles vor sich nieder. Und immer suchten seine Augen, immer schrie er: »Die Laus? Wo hat sich denn die winzige Laus versteckt?« Er brüllte: »So eine Laus! Ich will ihr einen Tod bescheren, gegen den das Leiden meiner sechzig Bracken ein seliges Verschnaufen war!« Und als er die Landshuter Mauer durchbrochen hatte, wandte er den schweren, in Eisen gehüllten Gaul und schlug und riß den Herzog aus dem Gewühl heraus, das ihn bedrängte.

In Erschöpfung keuchte Herr Ludwig: »Durch! Nach Regensburg zum König! Oder alles ist verloren für mich.«

Die letzten, die um den Herzog waren, begannen schon mit dem Fürsten die Flucht gegen das enge Waldtal beim Webelsbache. Da rasselte eine neue Mauer lebendigen Eisens gegen sie heran: Herzog Heinrichs Kerntruppe, die Harnischreiter und Trabanten von Burghausen. Beim Zusammenstoß ein Stahlgeschütter, daß es weithin durch die Lüfte klirrte und allen Stimmenlärm verschlang, der über der Kampfstätte fieberte. In dicken Haufen rasselten die Burghausener gegen den Herzog an, jeder wollte den goldenen Preis der tausend Dukaten verdienen, mit denen Herr Heinrich den kostbaren Gefangenen zu bezahlen versprochen hatte. Ein wüstes Hauen, Stoßen und Stechen. Nur einer von diesen Schwergepanzerten, ein klobiger Mann, dem das weiße Schläfenhaar unter dem Helmsturz herausquoll, schlug mit seinem langen, breiten Eisen nicht zu und hob es nur, um die niedersausenden Hiebe von sich abzuwehren. Doch immer tiefer drängte er den Gaul in das klirrende Gewühl und streckte sich und spähte, atmete schwer unter den stählernen Platten und suchte, wie ein Dürstender den Brunnen sucht. Nun ein Zucken, ein Aufstraffen des Körpers. Und ein wilder, jauchzender Schrei:

»Hartneid Aschacher!«

Ein schmuck Gerüsteter, dem unter dem kurzen Schlachtvisier der ergrauende Knebelbart wie eine zierliche Sache herausstach, drehte bei diesem schrillen Anruf wie in Verblüffung den Kopf. »Wer bist du?«

»Wehr dich, Lump! Einen Gruß von meinem Weib und Kind! Ich bin der Ramsauer Richtmann.«

Ein Lachen unter dem Visier. Und der Chiemseer schwang sein Eisen. Da fuhr die schwere, in der Sonne blitzende Klinge des Bauern schon herunter wie ein zuckendes Licht. Und fuhr dem Hartneid Aschacher unter dem Arm in den Panzer und durch die Lende hinunter bis ins Geschlecht.

Aufatmend löste Runotter die Fäuste vom Griff seines Schwertes, das in dem rot aus dem Sattel stürzenden Mannskörper stecken blieb.

»Du nötest kein Weib nimmer!«

Runotter wandte den Gaul und suchte einen Weg aus dem tobenden Gewühl. Für den Ramsauer Richtmann war der Krieg zu Ende. Einen Hieb, den er kommen sah, parierte er mit dem geschienten Arm.

»Bauer, Gotts Teufel«, brüllte hinter ihm eine Stimme, »wenn du nit schlagen magst, so wehr dich doch!« Und weil dieser Schreiende sah, daß der Bauer ohne Waffe war, entriß er einem adligen Herrn den Streitkolben. »Nimm, Bauer! Gotts Teufel, so nimm doch!« Das Gewühl des Kampfes keilte die beiden auseinander. Und Runotter, der einen niedersausenden Streich mit dem Arm nicht völlig parieren konnte, sagte ruhig zu dem Gegner: »Wie, Mensch, tu nit so grob! Dir bin ich nit feind!« Da stach ein anderer dem Herrn, der den Streich geführt hatte, das Roß zu Boden. Der Stürzende, der halb unter den Pferdeleib zu liegen kam, verlor den Helm: ein strenger Graukopf, bärtig, mit hagerem Gesicht und blitzenden Augen, die klug waren und ohne Schreck.

Runotter, dieses Gesicht erkennend, sprang erschrocken aus dem Sattel. »Jesus!« Mit den blutenden Armen zerrte er den Gestürzten unter dem Gaul heraus, stülpte ihm den Helm über das Grauhaar, gab ihm die Waffe in die Faust und half ihm auf das eigene Roß hinauf.

Fürst Pienzenauer in seiner Erschöpfung stammelte: »Deinen Namen!«

Schweigend wandte sich der Ramsauer ab und verschwand im Gewirr der Gäule.

Das war in dem gleichen Augenblick, in dem der Hauptmann Seipelstorfer den Herzog Ludwig halb aus dem Sattel gerissen hatte. Doch er brachte ihn nicht ganz zu Boden, mußte ihn wieder lassen, weil ein übles Versehen geschah. Ein Söldner, der die Landshuter Farben trug und dem unter dem Helmsturz eine weiße Narbe gegen das braune, magere Kinn herunterlief, verbeulte dem Fürstenfänger mit einem verirrten Flachhieb den Helm so fürchterlich, daß der Seipelstorfer duselig wurde. Und Kaspar Törring, diese hilfreiche Sekunde nützend, riß den Herzog in eine freie Gasse – und drosch und sägte mit seinem schartig gewordenen Eisen – und schrie dem taumeligen Seipelstorfer höhnend zu: »Sag deiner hundsmörderischen Laus, daß ich ihr den Loys genommen hab!«

Hinter dem klein zusammengeschmolzenen Häuflein der Ingolstädter, das die Umzingelung durchbrochen hatte und im Tal des Webelsbaches einen Fluchtweg gegen Norden fand, ging noch lange die hetzende Verfolgung her. Der Weg, den sie nahm, wurde bestreut mit niedergebrochenen Rossen und blutenden Menschen.

Um die Mittagsstunde – während die Sieger zu Sackmachern wurden, das Lager plünderten, die große Zahl der adligen Gefangenen um alle kostbaren Waffenstücke erleichterten und mit etwas unchristlicher Sonntagsarbeit die kaltgewordenen Feinde bis auf die letzte Leinwand schälten – in dieser sonnenschönen Mittagsstunde von St. Matthäi war Hauptmann Seipelstorfer noch immer ein bißchen duselig und wurde geplagt von stetem Brechreiz. In so üblem Zustand mußte er seinem Herrn die Meldung bringen, daß Herzog Ludwig der eisernen Schlinge entronnen war. Fluchend ritt er zum Fürstenzelt hinauf, das in mitten einer freien Waldhöhe in der Sonne stand, umzogen von einer Schanze und einem blitzenden Ringe stahlgeschienter Wachen, die der Büchsenmeister Kuen befehligte. Herr Heinrich hatte reichlich für die Sicherheit seines Lebens gesorgt, das an diesem Tage minder vom Feinde als von dem brennenden Fieber in seinem Blute bedroht war.

Der Eingang des Zeltes war bewacht von vier Trabanten, die mit blankem Eisen neben ihren Gäulen standen – unter ihnen Jul, dessen bleiches Gesicht mit irrendem Blick heraussah unter dem geflickten Schirmblech des Reiherhelmes.

Hauptmann Seipelstorfer bekreuzte sich, bevor er das Zelt betrat.

Ein Bündel senkrechter Sonnenstrahlen, durchwoben vom bläulichen Dampfe des Räucherwerkes, fiel von der Zeltgabel in den dämmerigen Raum. Der Leibarzt und vier Diener waren da; und weiße Tücher sah man, Schüsseln mit Essig und Wasser, Näpfe mit qualmenden Wohlgerüchen. Neben dem Tragsessel stand das Feldbett, auf dem der kleine braune Herzog im Zittern und Zähneschauer seines Leidens ruhte, mit nacktem Oberkörper und in den mit Stahl geschienten Reithosen. Sein Gesicht war verzerrt und brannte heiß. Die dünnen Lippen hatten eine weiße Kruste vom Fieberschorf. Und unter dem wirren Schwarzhaar, das sich buschig nach zwei Seiten sträubte, brannten die Augen wie ruhelose Flammen.

Beim Eintritt des Seipelstorfer fuhr Herr Heinrich auf, griff mit den kleinen, mageren Fäusten in die Luft und schrie: »Wo ist er? Habt ihr ihn?« Der Hauptmann brauchte nicht zu antworten; sein Gesicht hatte dem Herzog schon alles gesagt. Ein welscher Fluch. Eine jagende Flut von Schimpfworten. Und mit den Zuckungen eines Tobsüchtigen fiel Herzog Heinrich auf die Kissen zurück.

Während der Arzt und die Diener um den von Fieber und Jähzorn geschüttelten Fürsten beschäftigt waren, blieb der Seipelstorfer ratlos stehen, noch lange. Endlich ging er. Als er das Zelt verließ und in die Sonne hinaustrat, hörte er den Herzog lallen: »Gott hat's nicht wollen. Aber ein Gutes hat auch Gottes Unlust. Heut hab ich tausend Dukaten gespart.«

Draußen sagte der Hauptmann zum Büchsenmeister Kuen: »So, du! Jetzt spei mich an! Ich bin in Ungnad.«

Der andere, mit den Brandnarben von Plaien im Gesichte, antwortete ruhig: »Das ist allweil so. Sobald er dich braucht, schießt ihm die Gnad schon wieder ein.«

Seipelstorfer nickte. »Hast recht! Ich tu, was sein muß. Fragt der Herr, so sag ihm, daß ich die Gefangenen nach Landshut führen laß. Viel Ehr stecken wir heut nicht auf den Helm.« Mürrisch ging er davon und schwang sich in den Sattel.

Nach einer Weile kam einer von den Dienern aus dem Zelt gesprungen: »Flink, ihr Leut! Drei, viere sollen reiten! Nach Dachau hinauf. Und einen geistlichen Herren holen! Schnell!«

Jul und die drei anderen, die vor dem Zelt die Wache hatten, jagten davon. Zu Dachau fanden sie einen alten, kleinen, dicken Pfarrer. Der nahm sein frommes Heilgerät in einem Schnerfsack auf den Rücken. Dann schnallten sie ihn auf den Gaul des Jul, weil der Falbe unter den vier Rossen das frömmste war. Im Saus davon. Der hochwürdige Herr, der über dem Sattel wie ein Kleiensack hin und her schotterte und vor Angst und Mühsal fürchterlich zu schwitzen begann, wurde auch von der Frage noch gemartert, wie man mit einem Herzog vor seinem letzten Stündlein reden müsse. So wie mit einem Dachauer Bauern? Das ging nicht. Da mußte man feiner kommen. Aber wie? Der Hochwürdige fand es nicht. Er wollte sich nach der Titulatur des Herzogs erkundigen und wandte sich an den gepanzerten Buben, der mit der Hand an einen Sattelriemen des Falben geklammert hing und die Sprünge des Gaules klirrend mitmachte. Doch ehe der hopsende Pfarrer seine Frage stellen konnte, mußte Jul in Erschöpfung den Riemen auslassen und taumelte auf den Moosboden hin. Er blieb eine Weile liegen, mit den Fäusten auf dem Brüstling seines Panzers. Dann erhob er sich und fing im Walde zu rennen an und verlor den Weg. Oder zog ihn der wirre Lärm, der von irgendwo aus der Tiefe des Moorlandes zu ihm herauftönte? Er sprang immer schneller, seine jungen Glieder schienen die Last des Eisens, das sie beschwerte, nicht zu fühlen. In seinen Zügen war der Ausdruck einer quälenden Angst, in seinen Augen der Blick einer gehetzten Seele.

Der Waldsaum. Und ein freier Blick von der Höhe hinunter in das Wiesental, in dem eine wilde Fröhlichkeit das eroberte Lager füllte. Zelte, Karren, Rosse, Kriegsleute und Weiber, alles war klein durcheinandergeschüttelt, wirr und farbig, von Sonne funkelnd und lebendig. Schallendes Gelächter, schreiende Stimmen, johlender Liederklang und grelles Dirnengekreisch – das Bild eines siegreichen Heerhaufens, wie es Jul seit dem Sommer des vergangenen Jahres zu dutzendmalen gesehen hatte. Und dennoch hatte das Bild des Sieges nur ein halbes Gesicht. Es fehlten die verzweifelten Bauern, und man sah keine brennenden Dörfer, weil man im Land der Freunde und Verbündeten war und weil die Ingolstädter an diesem Morgen zum Brennen keine Zeit mehr gefunden hatten. Und noch ein anderes Ding war da drunten, das dem üblichen Bild der Siege nicht gleichen wollte. Auf der Moorstraße und am Rand der Sümpfe waren viele, viele Menschen mit Brettern und Stangen wunderlich beschäftigt. Fischten sie nach Fröschen und Mooskarpfen? Oder suchten sie nach versunkenen Menschen?

Auf der anderen Seite des Lagers war es wie sonst nach einem Gefecht: viele Pferdeleichen; eine lange Reihe von Lastträgern; und immer zwei von ihnen trugen etwas, das einem steifen Pfahl oder einem eingeknickten Sacke glich.

In der Seele des Buben schrie die Sorge: »Der Vater? Malimmes? Und –« Mit sinnlosen Sprüngen hetzte er über den steilen Hang hinunter. Jäh ein Erstarren des jungen, schlanken Körpers. Und mit vorgestrecktem Hals ein entsetztes Spähen.

Weit da draußen im Moor, scharf abgehoben von einem glänzenden Tümpel, stand die zierliche Schwarzgestalt eines Rosses mit dicker Mähne und langem, wehenden Schweif.

Wer von Kind auf bei Tieren war, die Tiere liebt und dreimal ein Tier gesehen hat, erkennt es wieder.

Ein gellender Schrei. Und in taumelnder Seele eine jagende Bilderflucht: das Hängmoos mit den singenden Fröschen und der Rappe auf einer kleinen, grünen Insel im Sumpf; eine Feuerstätte mit brüllenden Ochsen und der Rappe, der den buckligen Tod im Sattel trägt; das Hallturmer Aschenfeld, von dem ein schaudervoller Geruch zum Fuchsenstein herüberweht, und dieser von Asche graugewordene Rappe, auf dem ein aschengrauer Reiter sitzt – –

Da draußen steht dieser Rappe. Und wiehert über den Sumpf hinaus – mit leerem Sattel –

Und der Reiter, den er getragen? Wo ist dieser Reiter? Dieser Reiter?

»Moorle!«

Wie die Schwalbe einen rauschenden Strom überfliegt, so schwimmt dieser klingende Schrei über den Lärm der Tiefe. Und der Gaul da draußen steht wie versteinert, mit gestrecktem Hals.

Durch das Gewirr der Leute, die am Ufer des Sumpfes mit Brettern, mit Spießen und langen Stangen fischen – die einen aufgeregt und barmherzig, die anderen roh belustigt, und den Fisch, den sie angeln wollen, nach dem Gewicht seines Lösegeldes schätzend – durch dieses Leutgewirr kämpft sich ein junger Harnischer, stößt andere nieder, schlägt mit den Fäusten zu, wenn der Weg sich sperren will, gewinnt die Moorstraße, jagt an der Böschung hin, späht mit huschenden Augen nach einem Pfad im Sumpfe, und immer wieder klingt seine gellende Mädchenstimme über die von Sonne glitzernden Tümpel: »Moorle – Moorle, ich komm –« Er sieht nicht, daß ein Schwarm von Leuten hinter ihm her ist, hört nicht, was sie schreien, hört auch jene zornige Stimme nicht, die immer die gleiche Silbe brüllt, nur die eine Silbe: »Jul! Jul! Jul!« So schrien einmal auf der Straße vom Hallturm nach Berchtesgaden zwei Stimmen in Zorn und Sorge. Jetzt schreit nur eine, immer die gleiche Silber wieder: »Jul, Jul, Jul ...«

Am Hang der Straße jagend, reißt der gepanzerte Bub die stählernen Armkacheln von seinen Schultern, die Platten von den Armen, die Schienen von den Schenkeln. Ein paar Augenblicke unter keuchenden Atemzügen rastend, zerrt er die gespornten Schuhe und die leinenen Lappen von den Füßen. »Moorle, ich komm!« Und während er leichtfüßig, mit nackten Sohlen von einem Moosbuckel zum anderen springt, manchmal bis übers Knie hinuntertappend, schleudert er das Schwert in den Sumpf, das Dolchgehenk und den Kettenschurz.

Manchmal ein Stücklein besseren Bodens, dann wieder das fürchterliche Grau, mit großen, trüben Lachen, mit Watspuren und Moorlöchern. Hat hier ein Roß sich durchgestampft? Ist dort ein Mensch versunken? Ein Speer ragt mit der Spitze aus dem Sumpf, dort schwimmt ein roter Mantel in einer Pfütze, hier zittert das trübe Wasser um ein regungsloses Ding, das aussieht wie ein blasses Menschengesicht.

Um den Buben herum ist eine Wolke der Moosschnaken. Immer müder und kürzer werden seine Sprünge. Das Eisen, das er noch trägt, ist schwer und zieht. Während die Augen suchen, in Angst und Hoffnung, reißt er die Halsberge und die Kettenhaube herunter, stülpt den geflickten, schlechtgewordenen Helm mit den Reihergranen wieder auf das dicht um die Schultern fallende Schwarzhaar, reißt am Brüstung seines Panzers die Schnallen auf, schleudert die stählernen Muscheln von seinem Leib, zerrt mit dem Lederwams den wunderlichen Polster herunter, der wie eine große Brille ist, und trägt nur noch das grobe Bubenhemd und die lederne Reithose, die bis zu den Hüften schon behangen ist mit Schlamm.

Das nahe Wiehern eines Gaules, aufgeregt und schmetternd.

»Moorle! Moorle!«

Durch dick verflochtenes Schilf ein verzweifelter Kampf. Ein Niederbrechen bis zu den Rippen, ein mühsames Aufwärtsklimmen. Jetzt wieder das offene Moor, mit grünen Buckeln, mit großen Silberschilden und kleinen Goldmünzen, mit den schlammig vollgeronnenen Stapfen eines Rosses. Und da drüben, auf halbe Steinwurfweite, steht der graugefärbte Pongauer, hat vorgequollene, weißgeränderte Augen und wiehert dem Leben entgegen, das er kommen sieht.

Es kommt; mit wilden Sprüngen, die den Tod verhöhnen. Und sooft sich die nackten, von Moor und Wasser triefenden Füße aus einem tragenden Rasenschopf hinüberschwingen zum andern, strafft und streckt sich der schlanke Mädchenkörper. Und unter dem schlammbespritzten Hemde zittern leise bei jedem Sprung die strengen Brüste.

Ein verstörtes Innehalten. Rings um den wiehernden Pongauer nur das glitzernde Wasser. Wo ist der Reiter? Julas verzweifelte Augen suchen, suchen, suchen. Schrei um Schrei. Doch keine Antwort. Nur von der Moorstraße quillt der Leutlärm herüber. Und ein Söldner, der zwei lange feste Bretter von einem Troßkarren losgerissen, springt von der Straßenböschung hinunter und verschwindet im Schilf.

Immer schreit die Suchende. Ein jähes Besinnen in dieser ratlosen Angst. Nicht hier, wo der geduldige Rappe steht – da drüben muß sie suchen, wo die schlammigen Watstapfen des Pferdes herausführen aus einem Gewirr grüner Moosschöpfe! Sie springt und springt. Und sieht zwei graugewordene Fasanenflügel, die sich zwischen den Moosgräsern matt bewegen. Ein jauchzender Schrei der Suchenden, die gefunden hat. In ihrer Freude wagt sie einen unmöglichen Sprung, verfehlt den Rasenbuckel, tappt daneben und sinkt, zerrt sich in die Höhe, lacht und weint, macht sieben Sprünge noch, bei denen der Tod mit schwarzen Fäusten nach ihren Füßen greift – und da sieht sie über dunklem Wasser den geflügelten Helm und dieses bleiche, mit Schlamm bespritzte Mannsgesicht.

Ein zerwühlter, schwarzer Teig ist um ihn her. Vom Gewicht des Eisens hinuntergezogen, hängt er bis über die Halsberge im Moor, die geschienten Arme seitwärts gestreckt, mit den gepanzerten Fäusten eingeklammert in zwei kleine Moosschöpfe. Seit dem Morgen hing er so und wagte sich nimmer zu rühren, um nicht völlig zu versinken. Die Erschöpfung hat sein Gesicht gelähmt, doch die Augen sind offen. Sein Blick ist stumpf, er scheint die schwarz und grau umwickelte Gestalt, die immer näher kommt, nicht zu erkennen. Doch die schreiende Stimme hört er. Nun plötzlich ein Aufleuchten in den starren Augen. Er hat den Helm mit den Reihergranen erkannt. Wer ihn trägt, das weiß er – und nun weiß er auch, wer gekommen ist und um seinetwillen den Tod nicht fürchtete. Ein Aufatmen, ein Versuch, sich höher emporzuziehen – ein Lächeln wie in einem schönen, aber wunderlich verrückten Traum – dann schließen sich die Lider, während der Kopf mit dem schweren Eisenhute langsam gegen den Nacken sinkt.

Aufschreiend wagt Jula den Sprung nach einem Rasenschopf, der unerreichbar scheint. Und sie gewinnt ihn, die kleine Insel trägt, doch die Wucht des Sprunges wirft ihr den Helm vom Kopf. Sie will ihn haschen und könnte ihn noch greifen, bevor er niedertaucht. Aber da muß sie die Arme nach jenem sinkenden Leben strecken, das ihr mehr gilt als das eigene. Sie hat sich niedergeworfen. Von dem Rasen, der sie trägt, vermag sie den Arm des Niedergleitenden nicht zu fassen. Um ihn zu erreichen, muß sie hinunter in den schwarzgrauen Pfuhl. Die linke Faust in das zähe Wurzelwerk einklammernd, gleitet sie bis an die Arme hinunter – und kann mit der freien Rechten den Sinkenden greifen, faßt ihn am Wangenkamm der Halsberge, zerrt ihn langsam, langsam durch den zähen Schlamm an ihre Brust heran, hält seinen Nacken umklammert, fängt zu schreien an – und verstummt plötzlich und wird ruhig, weil sie sieht, daß einer kommt, der helfen wird. Gott will ihr beistehen und schickt den stärksten und treuesten der Menschen.

Es rauscht im Schilfe. Über die Kolben und Blätter taucht ein graues, flinkes Rad herauf, verschwindet, ist wieder da, kommt immer näher und näher. Etwas Farbiges taucht aus dem Röhricht heraus: Malimmes, seiner eisernen Wehr entkleidet, in der bunten Söldnertracht, mit nackten Füßen. Er hat zwei lange, feste Bretter. Auf dem einen steht er, das andere läßt er ein Rad schlagen, wirft es vor sich hin, springt hinüber, packt das Brett, auf dem er gestanden, schwingt es herum und baut die fliegende Brücke immer flinker gegen die beiden hin, die im Moor gefangen hängen. Immer lacht er, weil Lachen mutig macht; doch bei diesem Lachen zittert's wie Zorn in seiner fröhlich tuenden Stimme: »Höia, huppla, ihr zwei süßen Moosvögel, nur ein lützel Geduld, jetzt haben wir's gleich.« Und während er das feste Brett hinschmeißt, daß die Schlammfetzen aufspritzen, höhnt er im Grimm seiner galligen Laune: »Ui, fein stecket ihr da beisammen, ihr zwei! Aber eine schieche Gelegenheit habt ihr euch ausgesucht. Sonst, wenn Glück und Lieb bei der Jugend Einstand halten, duftet's nach Rosmarin und Veiglein. Bei eurer Seligkeit schmeckt's wie auf dem Nüremberger Fischmarkt am Karsamstag!«

Erschrocken starren ihn Julas Augen an. Und ihre Stimme bettelt und zürnt: »So hilf doch, du! So hilf doch! Hilf!«

Er lacht in seiner Qual. »Gotts Teufel, ja, was soll ich denn machen sonst? Zwei, die speisen können, und einer, der hungern muß, ist allweil noch besser, als müßten alle drei das Maul an den Bindfaden hängen.« Er hat das zweite Brett vor die beiden hingeschoben, betrachtet ihre Gesichter, und das Lachen vergeht ihm. Mit einer wunderlichen Trauer sagt er: »So ein Krieg halt, gelt! Alles, was schön ist, muß er versauen! Wie du und der da, Maidl, so schaut die liebe bayerische Welt jetzt aus.« Mit beiden Armen hat er zugegriffen und lupft den in halber Ohnmacht taumelnden Ritter Someiner aus dem Schlamm heraus.

Jula schwingt sich ohne Hilfe auf die Bretterbrücke.

Schweigend schält Malimmes dem Lallenden das schwere, schlammige Eisen der flämischen Rüstung vom Leib und schleudert Stück um Stück hinaus in das Moor. Auf der Brust und am Halse reißt er ihm den Koller und das Hemd auseinander. Und Jula schöpft immer Wasser mit den hohlen Händen und wäscht dem Taumelnden das Gesicht, die Brust und an den Handgelenken die Stellen, wo die matten Pulse ticken.

Beim Anblick dieser stummen, sorgenden Zärtlichkeit wird Malimmes ungeduldig: »Wie, du, jetzt laß einmal gut sein! Gar so päppeln brauchst du ihn nit. Der reißt schon von selber die Augen wieder auf – und greift nach dir.«

Verstört sieht Jula an ihm hinauf und stammelt: »Malimmes? Bist du's? Oder ist's ein andrer?«

Er vermeidet ihre Augen und murrt vor sich hin: »Krieg ist überall. Ich weiß nimmer, was recht und gut ist.« Verstummend kniet er auf die Bretter nieder, schiebt seinen Nacken unter den Ohnmächtigen und nimmt ihn auf den Rücken und streckt sich auf. Er steht unter der schweren Menschenlast ein bißchen gebeugt. Dann sagte er ruhig: »Sei zufrieden! Ich trag hin hinaus. Mit den Brettern mußt du den Weg machen. Das ist leichter.«

Während Jula über die Moosbuckeln des Schlammes die fliegende Brücke baut und die Bretter schwingt, sieht Malimmes sie ein paarmal an und wendet immer gleich den Blick wieder von ihr ab. Was sie noch am Leib hat, klebt an ihr. Wie ein schönes, nacktes Weib, das aus dem Moorbad herausgestiegen ist – so sieht sie aus.

Ein Schilfboden mit besserem Grund. Und als der vergessene Pongauer die drei im Röhricht verschwinden sieht, beginnt er zu wiehern, daß es klingt wie eine Trompete.

»Sein Gaul!« schreit Jula erschrocken auf.

Da verliert Malimmes die Ruhe wieder. »Mußt du denn alles haben? Dem Gaul ist nit zu helfen. Sei zufrieden, weil du dein Mannsbild hast.«

Stumm, mit Schmerz und Trauer in den Augen, sieht Jula ihn an. Und schweigend, in beginnendem Ermüden, baut sie die Bretterbrücke durch das Schilf.

Die Moorstraße war schon nahe. Deutlich hörte man das Schreien der Leute. Aber in dem hohen Röhricht und unter dieser dicken Wolke der in der Sonne schwärmenden Moosschnaken sah man nicht weit.

Und überall im Schilf die lärmenden, lachenden Menschen. Sie machten dem Malimmes das Brückenbauen mit den Brettern nach und fischten noch an die zwanzig von den eisernen Karpfen heraus. Wie viele hinunter gesunken waren in die schwarze Ewigkeit, das wußte man nicht.

Als das Röhricht dünner wurde und der Boden fester, ließ Malimmes die Last, die er trug, auf das Brett heruntergleiten. »Herr Someiner? Könnet Ihr stehen?«

Lampert hatte die Augen offen. Mühsam straffte er die von allem Grauen dieses Tages zerbrochenen Glieder. Er nickte. Und sah die Jula an, immer die Jula. Matt umklammerte er die Hand des Malimmes. »Ich danke dir.«

»Braucht's nit, Herr! Heut ist Zahltag für das Rappenholz von Berchtesgaden. Und für das Ingolstädter Rössel. Das müßt Ihr jetzt wieder reiten. Es ist mit dem Falben zusammengewöhnt. Was sich lieb hat, därf man nit auseinandreißen.« Malimmes lachte. »Wie, Maidl, komm her da! Tu deinen Herren schön in der Höh halten. Sonst fallt er um. Wie ihr ausschaut, ihr zwei, so laß ich euch nit hinaus. Ich mag nit, daß die Leut spotten, wenn so ein feines Paar daherkommt. Erst muß ich euch ein lützel säubern.« Weil Jula nicht kommen wollte, ließ er den schwarzen, lächelnden Träumer allein auf dem Brette stehen. Da kam sie erschrocken gesprungen und griff mit beiden Armen zu. Und Malimmes hopste davon. Gleich kam er wieder, mit einem Mantel und einem Eisenhut.

Jula hielt die Arme um den taumeligen Mann geklammert, sah ihn aber nicht an, sah immer gegen die Moorstraße hin, auf der die vielen Leute lärmten. »Der Vater? Wo ist denn der Vater?«

»Ich weiß nit, Maidl! Aber da mußt du nit Sorg haben.« Malimmes sagte, was er selber glaubte. »Aus dem Treffen ist er aufrecht und lebendig heraus. Derzeit hab ich ihn nimmer gesehen.« Unter den Toten und Verwundeten, die man zusammentrug, hatte er den Bauer nicht gefunden. »Ein Schub von adligen Herren, die man gefangen hat, ist nach Landshut abgegangen. Kann sein, da hat ihn der Seipelstorfer als Geleitsmann mitgeschickt. Mußt nit Angst haben! Komm, jetzt laß dich sauber machen – wie du sein mußt – heut –«

Er füllte den Eisenhut mit Wasser und goß es über Julas Schultern hinunter, um ihr den Moorschlamm von den Gliedern zu spülen. Den zweiten Guß bekam der Ritter Someiner. Dann Jula wieder einen. Guß um Guß. Malimmes teilte redlich. Und als die beiden auf dem schmalen Brett sich schauernd aneinander preßten, schöpfte er immer flinker und goß so reichlich, daß an den Triefenden bald keine Spur von Moorschlamm mehr zu entdecken war. »Gelt, ja?« Er lachte wild. »Das ist gut für euch zwei, ein lützel kalt Wasser!« Dann wurde er ernst. Und seine Hände zitterten, als er den Mantel um Julas Körper hüllte. »Nimm! Da draußen sind Leut. Ich mag nit, daß die Grasaffen dich anschauen.« Ein Zug von Schmerz erschien in seinem braunen, hageren Gesicht, dessen große Narbe so weiß wurde wie ein Kreidestrich. Und da fand er sein Lachen wieder und stülpte lustig den Eisenhut über Julas Kopf. »So! Du Kriegsmann! Laß nur dein feines Raubgut nimmer aus!«

Lachend watete er den beiden voraus dem festen Boden entgegen.

9

Der Sonntagabend von St. Matthäi brannte mit allem Farbenzauber der Moorluft über dem trunkenen Lager, das erfüllt war von einem johlenden Gewühl. Hunderte von Bauersleuten waren aus den nahen Dörfern herbeigelaufen. Unternehmungslustige Wirte kamen mit großen Karren angefahren und verzapften Bier, Branntwein und gesüßten Roten. Fiedler und Blatterpfeifer spielten auf, und die Heertrödler handelten den Kriegsleuten die Beute ab. Von den Fußknechten des Ingolstädters, die man gefangen, entwaffnet und gegen Schwur auf Urfehde entlassen hatte, war die Hälfte geblieben, um sich mit den Siegern anzubrüdern und bei leeren Hosensäcken zu einem Trunk und Bissen zu kommen. Und die zahlreichen Lagerdirnen des Ingolstädtischen Trosses hatten sich, den Wechsel des Lebens klug erfassend, zu Herzog Heinrichs beutereichem Heer geschlagen; eins von ihren großen Huschelzelten stand mit Pfeifenklang und Gelächter nicht weit von dem Wiesenfleck, auf dem in langen, stillen Reihen die Kaltgewordenen lagen, deren Bestattung man wegen des heiligen Sonntags auf den kommenden Morgen verschoben hatte.

Der Lärm in den Lagergassen, das Gequiekse der Musikanten, die brüllenden Liederklänge, das Gelächter und Aufkreischen der Weiber und das emsige Dullenklopfen eitler oder gewissenhafter Kriegsleute – das alles schwoll zu einem Brummton ineinander wie von einer schwingenden Riesensaite.

Inmitten des in Tollheit schwärmenden Menschenhaufens stand ein stilles Zelt mit geschlossenen Tüchern. Malimmes hatte dieses Leindwandhaus einem Landshuter Söldner abgehandelt, dessen Beute es geworden war. Als Jula den erschöpften, taumelnden Mann da hereinführte, wurde Lampert von einer grauenvollen, an seinen letzten Kräften reißenden Erschütterung befallen. Es war das Hauptmannszelt, in welchem Herzog Ludwig die müde Rast dieser mörderischen Nacht gehalten hatte. Die erloschene Kienfackel stak noch im Eisenring, im Winkel war noch die schlammige Pferdekotze, auf der die beiden Hunde gelegen, und daneben das grobe Deckenlager, niedergedrückt und zerwühlt von einem schweren Körper, der sich hin und her gewälzt hatte in unruhigem Schlaf.

Beim Anblick des leeren Lagers riß sich Lampert von Julas Händen los, griff mit suchenden Fäusten ins Leere und schrie: »Ein Roß – nach München – ich muß nach München –«

Malimmes mußte den besinnungslos zu Boden Taumelnden auffangen und auf das Lager heben.

»Hilf ihm! Hilf ihm!« bettelte Jula in Sorge.

»Eins nach dem andern«, sagte Malimmes, »fliegen kann ich nit.« Er holte dürres Holz und Reisig, schlug Funken und schürte ein kleines Feuer an, dessen Rauch durch die Zeltgabel hinausquirlte. »Da tu dich trücknen, Maidl! Sonst mußt du morgen dein Glück mit Niesen und Husterei beginnen. Was ihr sonst noch nötig habt, ihr zwei, das treib ich schon auf.«

Als er gehen wollte, umklammerte Jula seinen Arm.

Er sagte ruhig: »Laß aus! Heut tu ich den letzten Dienst als meines Bauren redlicher Knecht. Der Krieg ist aus. Ich muß auch was haben. Morgen reit ich nach Regensburg. Da geht mein freies, lustiges Leben an.« Das heitere Lachen, das er bei diesem letzten Wort versuchte, gelang ihm nicht.

Stumm, mit nassen Augen, sah Jula ihm nach, als er davonging.

Er brachte Wasser in zwei Tränkeimern, brachte Leinwand und Wäsche, Zehrung, Brot, Geschirr und Löffel, einen zinnernen Becher und einen Krug mit Wein, Gewürz und Honig; er brachte nach seinem erprobten Augenmaße Kleider, Mäntel, Wehrstücke, Waffen, brachte alles, was man braucht zu einer Reise durch unsicheres Land. Wie ein Zaubermeister war er. Und wenn ihm einer nicht gutwillig geben wollte, redete Malimmes mit seiner Faust. Um alles herzu schaffen, tat er Dinge, für die ein strenger Profos ihn zu Stock und Bank, vielleicht zum Galgen gesprochen hätte. »So! Da liegt, was nötig ist!« Während seine schwer atmende Brust sich hob, betrachtete er prüfend den jungen Someiner, der auf Herzog Ludwigs letztem Kriegsbett in einem bleischweren Schlafe seiner Erschöpfung lag. Ohne Jula anzusehen, murrte Malimmes: »Ein Stündl darfst du ihn schlafen lassen. Nit länger. Sonst kreißtet er morgen wie ein Mühsamer. Wenn er sich rührt einmal, da mußt du ihn wecken. Und nachher hilfst ihm. Hast es ja gelernt von mir.« Unter dem Zeltspalt sagte er noch: »Ich geh derweil und hol dir den kostbaren Gaul noch aus der Schmier. Es müßt mir leid sein, wenn du von deinen Sachen was mängeln tatst.«

Draußen blieb er stehen und preßte den Arm über die Augen. »Gotts Teufel und Not! Was ist ein verliebter Mensch für ein haariger Ochs! Die siebzehn, die auf dem Hängmoos hätten grasen sollen, sind nackete Mäus dagegen!«

Der leuchtende Abend drohte schon seine schönsten Farben zu verlieren, und die Frösche sangen. Im Lärm des Lagers hörte man das Lied der Sümpfe nicht. Aber draußen auf der Moorstraße – als Malimmes mit drei Verwegenen, die ihm helfen wollten, die fliegende Brücke mit vier Brettern baute – war das Unken der Kröten und Frösche wie ein Glockenton in der Luft.

Der Pongauer, den man als schwarzes Figürchen gegen den gelben Himmel sah, graste ganz gemütlich auf seiner verläßlichen Insel.

»Freilich! Der weiß, daß ein Ochs um seintwegen in die schwarze Supp springen muß!«

Das wurde eine schauerliche Arbeit. Malimmes, zwischen seinen grimmigen Flüchen, brüllte immer: »Es hilft dir nichts! Heraus mußt du!« Und als die drei Verwegenen mutlos wurden und den Malimmes im Stiche ließen, brachte er den Gaul allein heraus. Während er das keuchende Tier durch das letzte Röhricht zerrte, begann die Nacht zu sinken, und die Sterne funkelten. Wie er Jula und Lampert gesäubert hatte, so machte er auch den Pongauer blank. An den eigenen Kleidern ließ er den Sumpfschlamm hängen. Und den linken Arm bewegte er ein bißchen langsam; der Gaul hatte ihn geschlagen.

Hinter dem Hauptmannszelte wurde der Pongauer angepflöckt. Dann schickte Malimmes einen davon, um den Falben von der Zeltstätte des kranken Herzogs herunterzuholen. »Und frag den Hauptmann, wohin man den Runotter verschickt hat.« Er selber holte den eigenen Gaul und pflöckte ihn neben den Pongauer.

Dann saß er in der sternhellen Nacht neben den beiden Rossen auf der Erde und hielt den Kopf zwischen die Arme gewühlt. Er wollte die linde, zärtlich klingende Knabenstimme nicht hören, die im Zelte redete. Und dennoch mußte er lauschen und diesen Klang in seine Seele trinken. Deutlich hörte er, wie die Stimme sagte: »Paß auf jetzt! Ein lützel weh wird's tun. Aber das mußt du aushalten. Es hilft. So hat der Malimmes auf dem Schwarzeneck meinem Vater geholfen!«

Der Lauschende knirschte durch die Zähne. »Guck! Mit meinen eigenen Wörtlen redet sie.«

Er hörte die drei Streiche der Handschneide; dann die Stimme der Jula: »Jetzt mußt du ein paar feste Schritt machen! ... Gelt? Viel besser geht's?«

Ein leises, frohes Lachen, nur ein bißchen heiser: »Ich schau dir in die Augen und bin gesund.« Lange war kein Laut mehr zu hören. Nun die gleiche Stimme: »Warum wirst du immer stumm, wenn ich rede?«

»Weil mir deine kranke Stimm so weh tut. Und weil sie mir so lieb ist.«

Malimmes rannte in die sternhelle Nacht hinaus, die sich von den Moorflächen her mit dünnen Nebeln zu füllen begann.

Im Lager war es ruhig geworden. Viele hatten sich schon auf den Heimweg gemacht. Und viele, die müd oder betrunken waren, schliefen schon. Nur vor den Wirtsbuden gröhlten die noch immer Durstigen, und aus den Huschelzelten wirbelte die tolle Heiterkeit, der Fiedelklang und das Pfeifengetriller zu den halb verschleierten Sternen hinauf.

Wie angesteckt von dieser Lustigkeit schrie Malimmes plötzlich einen wilden Jauchzer in die Nacht. Dann sang er vor sich hin:

»Ich leb, weiß nit, wie lang, Ja leb, wie lang? Ich sterb und weiß nit, wann, Ja sterb, und wann? Ich reit, weiß nit, wohin, Wohin? Weiß nit, warum ich so fröhlich bin.«

Ohne daß er es wollte, war er wieder dem Hauptmannszelte zugegangen und saß neben den zwei Gäulen wieder auf der Erde, mit der Stirne zwischen den Fäusten. Und hörte die Stimme des jungen Someiner, der immer redete, heiß und drängend:

»Jula, das muß ich tun. Ich muß nach München. Noch heut in der Nacht, in dieser Stunde, jetzt. Leben und Freiheit, die ich dir und deinem Mut verdanke, will ich nützen für den Pursten, dem ich diene. Sein Elend hebt nicht auf, was er in meine Hand gegeben. Ich muß. Mein Weg nach München in dieser Nacht ist nötiger, als er's am Morgen war. Ich reite. Dich lasse ich nicht im Lager. Wir gehören zueinander. Komm! Von München schicke ich dich heim zu meiner Mutter. Willst du? – – Jula? Willst du? So rede doch!«

Ein Schweigen.

Und Malimmes wußte, daß Jula um ihres Vaters willen den Kopf geschüttelt hatte.

Lampert fing wieder zu reden an. Er bat. Dann wurde seine Stimme streng. Aber das hörte Malimmes nimmer; er hatte den Hufschlag eines Gaules vernommen und sprang dem Gesellen entgegen, der den Falben brachte. »Hast du droben gefragt? Wo ist er?«

»Keiner weiß was. Beim Geleit der Landshuter ist er nit. Ich hab den Kuen gefragt und den Seipelstorfer –«

»Schweig! Vergelt's Gott, Mensch! Und geh!«

Unbeweglich stand Malimmes in der Nacht, mit dem Zügel des Falben in der Hand. Eine Sorge war ihm kalt durch das Herz geronnen. Aber was er fürchtete, das mußte nicht so sein. Unter Tausenden von Menschen verlauft sich einer leicht. Nur der Runotter nicht. Der weiß, wo er hin muß. Freilich, in solch einer Wirrnis kann es hundert mögliche Dinge geben, an die man nicht denkt. Aber das Ungewisse ist eine Pein, die härter als die Wahrheit ist. Darf dem lieben Mädel solch ein würgender Schatten über das junge Glück dieser Stunde fallen?

»Das tät der Bauer nit wollen. Und ich will's auch nit.«

Malimmes pflöckte den Gaul neben den beiden Kameraden an. Der Ingolstädter und der Falbe waren gleich wieder mit den zärtlichen Ohren beieinander, und der Pongauer guckte bei diesem Gesellenspiel verwundert zu.

Im Gesicht eine steinerne Ruhe, schob Malimmes das Zelttuch beiseite. Unter dem Loderschein der Fackel standen die beiden und hielten sich an den Händen.

»So, Maidl! Jetzt hab ich eine verläßliche Botschaft. Es ist so, wie ich geraten hab. Der Seipelstorfer hat den Bauer mit dem Herrenschub nach Landshut und Burghausen geschickt. Von Burghausen muß er ins Gadnische, weil er mit dem Propst seinen Ramsauer Unfried auf gleich bringen will. Er laßt dich grüßen, sagt der Seipelstorfer. Und laßt dir sagen, du sollst eine Gelegenheit ins Gadnische suchen, wie bälder, wie besser. Mich hat er freigegeben. Der Krieg hat ein End. Ich reit nach Regensburg. Gott behüt dich!« Seine Stimme blieb wie Eisen. »Ist ein Jahr voll Grausen und doch eine schöne Gesellenzeit gewesen. Aber jeder Faden muß einen Zipfel haben. Ein Landl gibt's, das man Heimat heißt.« Malimmes lachte. »Da sehen wir uns schon wieder einmal! Gott behüt dich, Maidl! Gottes Gruß, Herr Someiner!«

Er sah das Erblassen in Julas Gesicht und wandte sich ab und ging mit schweren Schritten davon. Draußen in der Nacht begann er zu rennen, wie ein Dieb, der den Profosen fürchtet. Er hörte noch diesen wehen, in Tränen erstickenden Schrei: »Malimmes, Malimmes –«

Springend keuchte er: »Schrei, wie du magst! Morgen lachst du!«

Neben der Moorstraße, die nach München führte und schon vom Nebel umhangen war, stand er zwischen dem Röhricht bis zu den Hüften im Sumpf. Und wartete.

Ein paar von den Feuerkröten, die auch in der Nacht nicht schweigen, sangen noch ihr eintöniges und dumpfes Lied.

Malimmes wartete.

Droben auf dem schwarzen Hügel, wo Dachau stand, schlug eine Glocke die zweite Morgenstunde.

Malimmes wartete.

Da kamen die beiden, in dunklen Mänteln, auf dem Falben und dem Pongauer.

Sie ritten im Nebel vorüber und verschwanden im Grau.

Einer, der aussah wie ein gebeugter Greis, stieg aus dem Moor heraus.

Noch immer horte man von vier oder fünf Stellen des Lagers her jene tolle Heiterkeit, den Fiedelklang und das Pfeifengetriller.

»Die haben's gut!«

Malimmes ging hinüber zum Hauptmannszelt und trat in den leeren Raum. Allerlei Zeug war auf dem Deckenlager und auf der Erde. Die Kohlen glommen noch. Und die Fackel brannte.

Er nahm sie aus dem Eisenring und ging davon.

Da hörte er ein wildes Gewieher und sah, wie der Ingolstädter aufgeregt an der Pflockleine zerrte und wütend ausschlug. »Ui, guck! Einer, der nit einschichtig bleiben mag!« Malimmes löste die Leine, gab dem ungebärdigen Gaul einen zärtlichen Schlag auf den Hinterbacken und ließ ihn laufen. »In Gottesnamen! So renn halt deinem Gesellen nach, den du nit missen kannst!«

Der Gaul, mit gestrecktem Hals und wehendem Mähnenhaar, stob in die neblige Nacht hinaus.

Malimmes wanderte mit der Fackel durch das Lager – an einem der Huschelzelte vorüber, in dem es lebhaft zuging – und stieg durch den Wald zu der Höhe hinauf, wo Herzog Heinrich in den glühenden Zangen seines Fiebers lag.

Der steile Weg war schon halb überwunden. Da blieb Malimmes plötzlich stehen, hob die Fackel und lauschte in den Wald hinein. Ihm war, als hätte er den Laut einer menschlichen Stimme gehört. »Höia! Was ist denn da?« Er hörte das müde Stöhnen wieder und sprang der Richtung zu, aus der es kam.

Zwischen den Wurzeln eines dicken Baumes hockte einer und sah aus wie ein plumper Hügel aus rotbraunem Eisen mit einem Menschenkopf, um den die weißen Haarsträhnen hingen.

»Jesus! Bauer!« Malimmes preßte den Fackelstumpf in die Gabel eines doppelten Baumes. »Wie, was ist denn, Bauer? Wie geht's denn?«

Eine ruhige, wunderlich versunkene Stimme: »Nit schlecht. Überall erträgliche Schmerzen.«

Der Söldner wollte den Kauernden aufrichten.

Runotter schüttelte den weißen Kopf und sagte wie ein Schlaftrunkener: »Laß mich hocken! Zum letzten Weg hat's nimmer gereicht. Mein Krieg ist aus gewesen. Ich hab hinauf wollen zum Buben. Da hat's mich umgeschmissen.«

Schweigend sah Malimmes das entfärbte Gesicht an, das die Hand des Todes schon berühren wollte. Und da wurde er ganz ruhig, setzte sich neben seinen Herrn, zog ihm die gepanzerten Fäustlinge herunter und faßte die feuchten, erkaltenden Hände.

Langsam drehte Runotter den Kopf. »Dich hab ich auch mit hineingerissen in meine Not. Verzeih mir's!«

»Geh, Narr, was redest du denn da?« Malimmes lachte. »Ich bin ein Einschichtiger. Du bist mein Herr. Ich bin dein Knecht.

Und bleib's.«

Auch Runotter, den der Rotschein der Fackel umzüngelte, fand ein mattes Lächeln. »Die Leut lügen, die auf die Menschen schelten. Auf der Welt ist Treu. Weil du lebendig bist. Bleib, wie du sein mußt! Wo einer Untreu übt, geht Feuer nieder, daß ihm die Hand verbrennen.« Mühsam hob er die geschienten Arme, streckte sie gegen den Schein der Fackel, drehte die von trockenem Blut umkrusteten Hände hin und her – und nickte – und sah immer diese Hände an. Dann ließ er sie fallen. »Mein Kind ist ohne Schuld. Gott muß gerecht sein! – Gelt, Malimmes? Und du bist da? Jetzt, wenn Fried wird, kann's ja noch allweil werden. Zwischen meinem Maidl und dir.«

»Ui, Bauer, da ist mir der Ofen kalt worden.« Wieder lachte Malimmes. Aber es klang nicht froh. »Dein Maidl braucht mich nimmer. Jetzt ist ein andrer da. Der jung Someiner. Nie hast du mir glauben wollen. Heut in der Nacht ist's Wahrheit worden. Die zwei, die mögen einander.«

Nach langem Schweigen murmelte der Sterbende heiter vor sich hin: »Der jung Someiner! Schau! Der jung Someiner!« Seine Stimme wurde kräftiger. »Das ist ein fester und grader Mensch. Der wird's anders machen als sein Vater. Da möcht ich wieder leben.«

Ein Aufzucken und Flackern des Lichtes. Die Fackel neigte sich, fiel aus der Baumgabel heraus, kollerte über den Waldboden und erlosch.

Die zwei Männer saßen in der Finsternis.

»Malimmes! Tu mich auf lupfen! Ich möcht die Welt nochmal anschauen – von so hoch herunter, wie ein Mensch seinen Kopf aufheben darf.«

Der Söldner schlang die Arme um die gepanzerte Brust seines Herrn und zog ihn vom Boden auf.

Immer drehte Runotter den Kopf hin und her und sah in die Nacht hinaus. »Mensch, wie schön ist alles!« Der schwere Mann begann zu taumeln. Er wollte noch sagen: »Gott soll mir gnädig sein!« Aber nur die zwei ersten Worte wurden noch laut: »Gott soll – –« Das andere erlosch in der Finsternis.

Malimmes, während er den Entseelten auf den Boden niederlegte, sprach in das schwarze Schweigen hinein: »So! Wenn jetzt der Herrgott nit selber weiß, was er tun soll, nachher sagt's ihm keiner mehr.«

Er blieb bei dem Toten sitzen, bis das Gesicht und die Hände kalt waren.

Dann sprach er, auf beiden Knien liegend und mit hoch gefalteten Händen, laut und langsam ein Vaterunser – wie die Fußknechte beten vor einer Schlacht. Nach dem Amen legte er dem Toten einen großen Moosballen über das Gesicht, um die gebrochenen Augen vor den Vögeln des Morgens zu schützen.

Mit schweren Schritten tappte Malimmes durch den finsteren Wald hinunter.

Vom Moorland dampfte der Nebel schon dick über das Lager her.

Eine Ronde rief den Malimmes an. Weil er nicht antwortete, wurde er festgenommen. Das versetzte den Erwachenden in so rasenden Zorn, daß er mit den Fäusten losschlug. Einem anderen wäre es übel ergangen. Diesen Liebling des Herzogs ließ man laufen.

Lange saß er am Waldsaum und sah den Schanzknechten zu, die seit Mitternacht an einer großen Grube arbeiteten.

Dann schritt er langsam an einer Reihe der Kaltgewordenen hin und sagte zu einem Wächter: »Da droben im Wald, wo's zum Herzog hinaufgeht, da liegt noch einer. Dem müßt ihr ein gutes Plätzl geben.«

Unter den ziehenden Dünsten waren alle Sterne schon erloschen.

Malimmes ging auf das Lager zu und kehrte wieder um; wanderte gegen den Wald hinüber und kehrte wieder um; suchte das leere Hauptmannszelt und kehrte wieder um; er wußte nimmer, wohin.

Als der kühle Herbstmorgen matt zu grauen anfing, trat Malimmes in eines der lustigen Zelte, wo man Durchnacht machte bei Saitengedudel, Pfeifengetriller und lustigem Dirnengekreisch.

Über dem wüsten Bilde hing ein dicker Schleier des Qualmes, mit dem eine brennende Pechpfanne den großen Raum erfüllte. Hinter einem Schanktisch, den man aus Karrenwänden aufgeschlagen, verzapfte ein flinkes, mageres Weib den Wein. Auf dem Schanktisch saßen auch die drei Musikanten, deren hurtiges Gequiekse halb unterging in dem Stimmengebrüll der Betrunkenen. An die dreißig oder vierzig – Gepanzerte und Ungewaffnete, Sieger und Ausgeklopfte – saßen auf Bänken und leeren Fässern oder lagen auf dem Boden umher, grob mit den halbnackten Weibern scherzend.

Malimmes trat zum Schanktisch: »Einen Stutz Wein!«

Bei seinem Anblick kreischten die Dirnen, vor Lustigkeit die einen, vor Schauder die anderen. Der neue Gast sah grauenvoll aus mit dem kalkig verzerrten Gesicht, mit dem Moorschlamm bis über die Hüften herauf und in dem roten Blut, das droben im Wald seine Hände, seine Arme und seine Brust überrieselt hatte. Unter den Weibern waren ein paar, denen das gefiel. Sie hängten sich an den Schweigsamen, schwatzten, lockten, kicherten und streichelten ihm die große Narbe. Er sah diese heißen, schwitzenden Gesichter mit halbgeschlossenen Augen an und machte, um die Zudringlichen loszuwerden, mit dem Arm einen groben Schub. Lachend stürmten sie wieder gegen seine Brust.

Da schrie von den Bänken her ein Betrunkener, der den Panzer von Herzog Heinrichs Trabanten trug: »Den lasset in Ruh, ihr süßen Knospen! Die Weiblein mag er nit leiden. Der hat in seinem Zelt einen schmucken Buben –« Was er weiter noch sagte, ging unter in dem höhnischen Gelächter dieser vierzig, fünfzig Menschen.

Im Gesicht des Malimmes brannte die Narbe so rot, als wäre sie wieder eine offene Wunde geworden. Er hatte schon den zinnernen Weinstutz in der Hand, stellte ihn wieder auf den Schanktisch hin, ballte die Faust und sprang auf den Schreier zu.

Beim Weinfaß kreischte die magere Budenmutter: »Bei uns gibt's keine Händel nit, bei uns ist friedsame Ruh, wir sind christliche Leut, gehorsam vor Gott und Obrigkeit.« Noch ehe sie mit diesen Worten zu Ende kam, war der Handel schon erledigt, mit einem einzigen Faustschlag.

Der Gepanzerte rollte klirrend über die Bank hinunter, mit Geschrei liefen die Dirnen aus dem Zelt, und ein Wald von Fäusten fiel über den Malimmes her. Sie rissen ihn zu Boden. Er wehrte sich nicht und ließ seine Hände fesseln. Und als ihn die Erbitterten, die sich bei ihrer schönen Freude so übel gestört sahen, in das neblige Morgengrau hinausführten, schrie er lachend zu den Schleiern des Himmels empor: »Zigeunerweibl! Den Siebenten schenk ich dir. Das Sterben ist ein kostbares Ding.«

Im Zelt des Profosen, der bei einer Wachsfackel zwischen seinen vier handfesten Gehilfen saß, redeten zuerst die Zeugen der bösen Tat. Dann fragte der Strenge: »Was kannst du sagen dagegen?«

»So viel wie ein Floh, der nimmer beißen mag.«

»Hoppla!« Der Profos machte die Augen rund. »Dich kenn ich als lustiges Luder. Es muß wohl wahr sein: Wie einer lebt, so stirbt er. Hast du getan, was die da sagen?«

»Biederleut reden die Wahrheit. Ich hab ihn erschlagen.«

»Warum?«

»Weil ich an meinem Tun drei gute Eigenschaften gesehen hab. Es war notwendig, ehrlich und gesund.«

»So? Da muß ich halt auch tun, was ehrlich und notwendig ist. Ob's dich gesünder machen wird, das muß ich bezweifeln.« Dieser Profos war einer von Herzog Heinrichs flinken Richtern. Wohl wußte er, daß Malimmes zu den begünstigten Leibwächtern des Fürsten zählte. Aber wenn ein Gesetz redete, ließ Herr Heinrich auch jene hängen, die er liebte. Und das Gesetz war streng: Auf Totschlag im Lager und in der eigenen Truppe stand der Galgen. »Hast du einen letzten Wunsch?«

»Wohl, Herr! Bloß die Begrabenen wünschen nimmer. Die Lebendigen noch allweil. Ich will einen Rinken Brot und Wurst. Und vier Maß guten Wein dazu. Im Himmel tät's schiech ausschauen, wenn mein erstes Wörtl sein müßt: ›Mich dürstet und hungert.‹«

»Ist bewilligt. Aber sag mir, Christenmensch, was machst du in der Seligkeit mit einem vollen Magen?«

»Was drin ist, laß ich auf die irdische Gerechtigkeit herunterfallen.«

Um den Richtertisch erhob sich ein Gelächter. Und der Strenge ärgerte sich. »Ein halbes Stündl laß ich dir Zeit. Fiat justitia!«

Die Gerechtigkeit entfernte sich. Und der Profos schickte einen Läufer zum Hauptmann Seipelstorfer, um die Bestätigung des Spruches einzuholen.

Als der Läufer die Waldhöhe schon fast erreicht hatte, tauchte er über den Nebel hinaus und kam zu einer wundersamen Landschaft: Eine von der ersten Morgensonne umflossene Föhreninsel schwamm inmitten eines silbernen Meeres. Wie ein Eiland der Seligen war's.

Fast lautloses Schweigen träumte um das Zelt des Herzogs her, der seit achtzehn Stunden bewustlos im Fieber lag. Die Wachen saßen im Gras und flüsterten. Man sah auf ihren übernächtigen Gesichtern keine Trauer oder Sorge, nur Müdigkeit.

Auch der Läufer, als er zum Hauptmann geführt wurde, mußte leise reden.

Herr Seipelstorfer zog die Brauen hoch und nickte. »Der Spruch ist gerecht. Fort mit ihm!« Und zum Kuen sagte er: »Einmal, da hab ich von dem Tropf was gehalten. Gestern hat er schlecht gefochten. Mit seinem täppischen Dreinschlagen hat er mich um tausend Dukaten gebracht.«

Die beiden beredeten, wie sie sich halten müßten, wenn mit dem Herzog das Übelste geschehen sollte. Denn der Leibarzt, dessen duftende Künste völlig versagten, hatte allen Glauben an die Erhaltung dieses kostbaren Lebens schon aufgegeben.

Aus dem Zelt klang eine müde Stimme, die lateinisch psalmodierte.

Der kleine, dicke Pfarrer von Dachau war noch immer da. Er war schon sehr erschöpft. Von der Schwüle, welche die vielen brennenden Kerzen erzeugten, hingen ihm die Schweißtropfen an den Augenbrauen. Zu Füßen des Feldbettes saß er auf einem Klappstuhl, zwischen den Händen das abgegriffene Buch, aus dem er die lateinischen Gebete herauslas.

In einem Winkel des Zeltes kauerten zwei Diener und kämpften bei diesem eintönigen Betgesang in Ermüdung gegen den Schlaf. Von den zwei anderen Dienern kniete der eine links, der andere rechts vom Bette; sie hielten die zwei brennenden Weihkerzen aufrecht, die man dem Bewußtlosen in die schlaffen Hände gegeben hatte. Sein zierlicher Körper ruhte nackt unter dem Leintuch, das ihn von den Füßen bis zur Brust bedeckte. Der Kerzenglanz umschimmerte das braune, heiße Schmalgesicht, das in der Fülle des wolligen Haares wie in einem schwarzen Kissen lag. Kaum merklich hob und senkte sich die Brust des Kranken. Unter den geschlossenen Lidern rollten manchmal die Augensterne hin und her, die als dunkle Schatten hinter dem dünnen, olivenfarbenen Häutlein mit den schwarzen Wimpern zu erkennen waren.

Der sorgenvolle Leibarzt tauchte immer wieder ein Tuch in die Essigschale und befeuchtete die spröden, von weißlichem Fieberschorf überkrusteten Lippen des Kranken.

So tat er wieder einmal. Und da atmete Herr Heinrich tief und öffnete die Augen. Erst schien er die Dinge und Menschen, die ihn umgaben, nicht zu erkennen. Nun kam ein Schreck in seine Augen. Er starrte die brennenden Kerzen an, die er in den Händen hielt, und sagte leis und ängstlich: »So steht's mit mir?« In seinen Schreck mischte sich ein kindliches Verwundern. Den kleinen, dicken, lateinisch betenden Pfarrer betrachtend, deutete er mit der brennenden Kerze: »Was sagt denn der?«

In sichtlicher Freude schloß der Dachauer Seelenhirt das Buch und schien diesen Augenblick des Erwachens für geeignet zu halten, um den hohen Sterbenden christlich für die Himmelsreise vorzubereiten. Er streckte die gedrungene Gestalt, hob den Zeigefinger und mahnte mit einer tapferen und redlichen Strenge: »Du Herzog von Bayern! Reinige deine sündhafte Seele und versöhn dich mit dem Himmel. Laß dir raten, und besinn dich deiner Christenpflicht! Oder glaubst du, Gott wird mit einem Herzog von Bayern besondere Umstand machen? Da wirst du dich irren! Da droben bist du nit mehr als wie der geringste von deinen Knechten!«

Herr Heinrich hatte die zwei brennenden Kerzen den Dienern hingeboten, richtete sich mühsam auf und betrachtete halb in Angst und halb mit freundlicher Neugier den unerschrockenen Mann Gottes.

»Da droben wird's heißen: Heinerich, hast du verziehen oder nit verziehen? Wenn du verziehen hast, wird's heißen, so will ich dir auch verzeihen. Hast du aber nit verziehen, so verdamm ich auch dich!«

In den heißglänzenden Augen des Kranken war ein fröhlicher Blick. Er sagte mit schwacher Stimme: »Vor Gott hab ich Ehrfurcht. Aber ich denke noch nicht ans Sterben. Ich habe Besseres zu tun.« Und da fing er leis zu lachen an, weil er bemerkte, daß der schwarze Rock des Pfarrers vom Kinn bis zum Bäuchlein hinunter mit einem Strich von Eiergelb betrenst war.

Als die Leute, die draußen vor dem Zelte standen, den Herzog lachen hörten, kamen der Seipelstorfer und der Kuen hereingesprungen.

Herr Heinrich winkte dem Pfarrer mit freundlicher Hand. »Braves Männlein! Du kannst heimgehen! An deinen Augen seh ich, daß du müde bist. Ich danke dir. Wenn es wieder mit mir zum Sterben kommen sollte, will ich dich holen lassen. Du gefällst mir.«

Als der Pfarrer von Dachau mit seinem Schnerfsacke sehr schnell das Zelt verließ, schien den Herzog eine neue Ohnmacht überfallen zu wollen. Gewaltsam hielt er sich aufrecht in den Kissen, straffte den Körper, griff ins Leere, suchte mit den Augen und kreischte gleich einem ängstlichen Kind: »Wo ist mein gesunder Galgenvogel? Mein Nüremberger? Wo ist er? Ich will ihn haben. Ich will sehen, daß er gesund ist.«

Erschrocken sagte der Seipelstorfer: »Herr! Der hat einen Gesellen erschlagen. Jetzt hängt man ihn eben.«

»Ihr Narren!« schrie der Herzog, dessen Züge sich verzerrten. »Wollt ihr mich ermorden?« Seine Stimme und seine Hände bettelten. »Holt ihn! Holt ihn! Er ist begnadigt. Und hätte er zehntausend erschlagen wie König David! Holt ihn! Her mit ihm! Ich will ihn haben. Ich will ihn sehen. Er muß gesund sein. Weil ich leben will.«

Der Hauptmann war mit dem Büchsenmeister schon davongesprungen.

Zittend saß der Herzog in den Kissen, streckte den Hals und lauschte auf das Hufgeklapper der Gäule, die davonjagten. Er hörte nicht, was der Leibarzt mit ihm redete, und schien der Pflege nicht zu achten, die man ihm widmete. Immer lauschte er. Und was ihn so schüttelte, war nimmer sein Fieber, sondern ein Schauer seiner abergläubischen Todesangst. Obwohl man die brennenden Kerzen ausgeblasen, den Spalt des Zeltes geöffnet und die kühle Morgenluft hereingelassen hatte, rannen ihm die Schweißtropfen über Gesicht und Brust und Arme herunter.

Da spannten sich seine Züge in lauschender Erregung. Mit seinen scharfen Wieselohren hörte er früher als die anderen das Keuchen und die Hufe der Gäule, die vom Lager über das Waldgehänge heraufkamen. Er hörte die Stimmen und verstand, was sie schrien. Und lachend ließ er sich auf die Kissen zurückfallen. »Ich lebe!« So lag er eine Weile, während draußen der heitere Lärm sich näherte. Als der Seipelstorfer schon im Spalt des Zeltes erschien, streckte Herr Heinrich dem Leibarzt die linke Hand hin: »Greif, du! Mir ist besser.«

Der Hauptmann kam. »Herr, der Faden hat grad noch gereicht«, erzählte er vergnügt, »ich selber hab den zwiefüßigen Apfel mit meinem Eisen vom Baum heruntergeschlagen.«

Jetzt brachten die anderen den Malimmes. Er hatte ein verdrossenes Gesicht und war übel anzusehen. Nur die mit Moorschlamm behangene Reithose trug er und das offene, mit Blutflecken durchtränkte Hemd. Um den mageren Hals lief eine rote Strieme. Auch das gerade Stehen fiel ihm schwer. Aber das kam nicht von irgendwelchen nachteiligen Folgen des Rappenholzes, nur von den vier Maß Wein, die der Profos dem armen Sünder als letzte Lebensfreude bewilligt hatte.

Herr Heinrich in seiner Schwäche sagte heiter: »Das Schwein ist besoffen. Aber sonst gesund. Gott sei Dank!«

»Mit dem Suff ist's nit so arg«, erklärte Malimmes in galligem Mißmut, »vier Maß, die reichen mir bloß vom Zehennagel bis zum Knie.«

Immer munterer wurde der Herzog. »Wieviel mußt du schlucken, bis du voll wirst?«

»Sechs Maß gehen mir bis zum Nabel, acht Maß bis zu den Ohren. Höher ist mir's noch nie gegangen. Das Hirn ist allweil hell geblieben.«

»Und solch einen glückseligen Magen gibt Gott den armen Knechten!« Herr Heinrich betrachtete vorwurfsvoll den Leibarzt. »Mir wird schon übel nach einer Maß.« Stumm, mit einer Handbewegung, befahl er den Leuten, das Zelt zu verlassen. Den Malimmes winkte er zu sich heran. Neugierig streckte er sich und beguckte die rote Strieme am Hals des Söldners. »Hat's arg gekitzelt?«

Malimmes schüttelte ärgerlich den Kopf. »Ich bin's gewohnt, Herr! Jetzt ist von meinen ungefährlichen Hänfenen der siebente überstanden, ohne daß ich's wollen hab. Der achte wird gefährlich. Wenn ich jetzt noch leben möcht, müßt ich werden, was die Biederleut einen braven Menschen heißen. Da tat mir grausen vor mir. Tut mir den Gefallen, Herr, und laßt mich aufknüpfen! Nachher hab ich Ruh.«

»Nein, du! Ich will, daß du leben sollst. In meiner Gnade.«

»Die verdien ich nit. Ich bin ein falscher Knecht. Das muß ich Euch ehrlich sagen.« Malimmes musterte den kleinen Herzog mit bösem Blick. »Seit gestern hab ich an Euch kein Wohlgefallen nimmer.«

»Seit gestern erst?« Herr Heinrich lächelte. »Da bist du spät auf den rechten Geschmack gekommen. Ich habe mir noch nie gefallen.«

»Und gestern –«

»Was?«

Der Söldner geriet in eine zornige Erbitterung. »Gestern hab ich wider Euch ein untreues Ding getan.«

»Du? Das glaub ich nicht.«

»Wohl, Herr! Das ist kein Versehen gewesen. Das hab ich wollen! Wie der Seipelstorfer den Herzog Ludwig hätt greifen können, hab ich dem Hauptmann einen Streich aufs Dach gehauen, daß er den Fürsten hat müssen fahrenlassen. Und da hat der Törring den Ingolstädter aus der Not gerissen. Also, Herr! Jetzt laßt mich hängen!«

Über das heiße Gesicht des Herzogs war ein Erblassen geronnen. Lange schwieg er. Dann fragte er in einem Zähneschauer: »Warum hast du das getan?«

»Weil mich des edlen Herrn erbarmt hat in seiner tückischen Not.«

Mit funkelnden Augen betrachtete Herr Heinrich den Söldner. Etwas Schweres schien im Herzog zu kämpfen. Dann rief er die Diener und ließ den Hauptmann kommen: »Drei Stunden nach Mittag brechen wir auf. Zweihundert Harnischer reiten mit mir nach Regensburg. Die anderen in ihre Heimat. Was an Troß und Waffen erbeutet wurde, nach Burghausen. Man soll mich kleiden und in den Sessel heben. Ich will hinunterschauen in das Dreckloch, aus dem mein Vetter Loys nach Gottes und eines Menschen Willen entsprungen ist.« Er entließ den Hauptmann mit einem gnädigen Lächeln. Dann befahl er den Dienern: »Den Malimmes soll man säubern und soll ihm eine Ruhstatt schaffen. Sechs Stunden kann er schlafen. Dann soll man ihn kleiden und rüsten. Er reitet mit mir nach Regensburg.«

»Teufel«, murrte Malimmes kummervoll, »es ist ein Elend auf der Welt, wenn der Mensch das Sterben nit fertigbringt.« Er wollte auf den betrunkenen Knien seinen unbekneipten Verstand aus dem Zelte tragen.

Da winkte ihm der Herzog. »Du! Beuge dich herunter zu mir!« Und als der lange Mensch sich neigte, sagte ihm Herr Heinrich ins Ohr: »Ich bin, der ich bin. Drum muß ich wollen, was dir mißfällt. Wär ich du, so hätt ich gestern vielleicht getan, was vielen gefallen würde. Du bist von den Wohlgeratenen des Lebens einer. Solche, wie du bist, müssen wir Fürsten um uns haben. Willst du der Meinige werden?«

Ein bißchen verwundert guckte Malimmes den Herzog an. »Ich will's bedenken, Herr! Erst muß ich's überschlafen.« Er ging. Unter dem Spalt des Zeltes drehte er das Gesicht. »Herr! Wenn Euch nach der Mittagsstund noch allweil nit besser ist, so laßt mich wecken. Kann sein, ich weiß ein Ding, das hilfreich wider Euer Leiden ist. Aber da muß ich nüchtern sein. Auch in den Waden.«

Im Zelt der Dienstleute wurde Malimmes gewaschen und gekleidet. Schweigend ließ er alles mit sich machen. Auf dem Lager, das man für ihn richtete, saß er noch lange wach, krumm zusammengebogen, mit dem Gesicht zwischen den Händen.

Dann schlief er. Um die zweite Mittagsstunde wurde er geweckt und zum Herzog geholt.

Er blieb mit Herrn Heinrich allein im Fürstenzelt. Auch der Leibarzt mußte sich entfernen, bevor Malimmes dem Herzog half.

Als man nach Regensburg aufbrach, brannte das Fieber des Kranken noch immer; er mußte kurze Tagesmärsche machen und lange Ruhepausen halten; aber mit jedem Morgen wurden seine Pulse ruhiger, und am vierten Tage fühlte er sich körperlich so sehr gekräftigt, daß er den Tragsessel nimmer nötig hatte, sondern reiten konnte.

Der Leibarzt, der ein bißchen kleinlaut geworden war, hielt sich immer in der Nähe des schmuck gekleideten, nach Art eines ritterlichen Herrn gewaffneten Söldners. Endlich kam er mit der Frage: »Wie hast du dem Fürsten geholfen?«

Mißlaunisch schüttelte Malimmes den Kopf. »Jedem das Seine, Ihr seid ein Medikus, ich bin ein Kriegsmann. Alles im Leben ist Handel. Weiset mir einen Bolz, mit dem man einen im Küraß auf tausend Gang aus dem Sattel schießt, so will ich Euch weisen, wie man die Müden munter macht.«

In der Abenddämmerung, nicht weit hinter Landshut, überholte Herzog Heinrichs klirrender Reiterschwarm den gemächlich reisenden Zug der Herzöge von München.

Herr Heinrich begrüßte die Vettern mit lebhafter Herzlichkeit. Der Gegengruß war minder freundlich. Herzog Wilhelm und Prinz Albrecht blieben stumm; im Gesicht des Prinzen war eine heiße Zornflamme; und Herzog Ernst lachte in seiner schwerfälligen Art.

»Warum so wunderlich, meine lieben Vettern?« fragte Herr Heinrich mit dem Anschein eines Gekränkten. »Solltet Ihr noch nicht vernommen haben, wie kräftig wir euch bei Dachau zu Hilfe kamen?«

»Vernommen?« sagte Herzog Ernst. »Ob das ein zutreffendes Wort ist? Sollte man nicht sagen: wahr genommen? Ja, Vetter Heinrich! Wir haben wahrgenommen. Deine klugen Taten sind wie stille Seufzer. Man hört nicht viel von ihnen. Aber sie werden ruchbar.«

Herr Heinrich legte den Kopf zurück. »Sehr höfisch redest du nicht, mein derber Vetter! Ich hätte wohl besser das Eisen im Leder gelassen. Jetzt muß ich an ein Wort meines Schwagers Zollern denken. Wenn er Gutes tat und Undank erfährt, pflegt er zu sagen: ›Es ist mein Schicksal, mißverstanden zu werden.‹« Er nickte einen Gruß. »Ihr reiset langsam. Ich habe Grund zur Eile. In Regensburg!« Herzog Heinrich rasselte mit seinem Schwarm davon.

Er überholte während der beiden folgenden Tage noch manchen Reiterzug, der von Städten, Burgen oder Klöstern kam.

Die Reise ging vorüber an Feldern, auf denen die Ernte faul geworden, vorüber an öden Kohlstätten verbrannter Dörfer und an gebrochenen Mauern. Überall lungerte das Elend neben der Straße, und in der schönen, milden Sonnenluft waren üble Gerüche. In den Stauden und Gräben kauerten müde oder kranke Menschen, die aussahen, als wären sie hinter einem Wanderzuge erschöpft zurückgeblieben. Niemand kümmerte sich um die Niedergebrochenen; jeder, den die Füße noch trugen, hatte mit sich selbst zu schaffen; unter den Schrecken dieses Kriegsjahres war die Barmherzigkeit abgestumpft, das Erbarmen erloschen. Wer sterben mußte, blieb liegen, wo er lag, und war umschwärmt von Ungeziefer, von Krähen und Geiern.

Am letzten Reisemorgen geriet Herr Heinrich in lange Züge von wandernden Menschen und mußte vorsichtig reiten, weil diese Müden und Erschöpften die Straße nur langsam räumen konnten.

Als der ungeduldige Reiterschwarm des Herzogs solch einen Hauf von grau verstaubten Wandersleuten zerkeilte, verhielt Malimmes plötzlich den schönen, feurigen Schimmel, den ihm der Herzog geschenkt hatte. In einem Trupp, der neben dem Straßengraben rastete, war ihm ein langer, magerer Bauer aufgefallen.

»Höi! Du! Bist du nicht der Fischbauer vom Hintersee?«

»Was denn sonst?«

Da fand Malimmes seit dem Tage von Dachau das erste heitere Lächeln. »Guck, der Seppi Ruechsam ist noch allweil lebendig. Die Guten sterben nit.« Er sah den Bauer an, der ihn mißtrauisch betrachtete. »Mensch? Was tust denn du in Regensburg?«

»Du mußt mich ja nit hintragen.«

»Willst du am End gar zum deutschen König?«

»Was denn sonst?«

Malimmes wollte nach Mutter und Bruder fragen. Doch schweigend gab er dem Schimmel die Sporen und jagte dem Schwarm des Herzogs nach, wieder mit jener stumpfen Trauer in den Augen.

Um die Mittagsstunde, als die Scharen der Wandernden immer dichter wurden, sah man von einer Waldhöhe in das liebliche Tal der Donau hinunter, das zärtlich begleitet war von lind geschwungenen Hügeln und herbstlich gefärbten Buchenwäldern. In ihrer Mitte, wie ein feiner Kern in der Schale, lag das von Mauern und Wällen umschlossene Dächergewirre der freien Stadt mit schlanken Kirchtumspitzen und plumpen Streittürmen.

Ein dumpfes Murren von Bumbardenschüssen und ein sanft verschwommenes Tönen vom Geläute vieler Glocken.

Es war zu der Stunde, in der die edlen Geschlechter und der große und kleine Rat von Regensburg mit Pomp und Jubel ausrücken wollten, um auf der Nürnberger Straße den König Sigismund und die Königin Barbara feierlich einzuholen.

Den deutschen König, den Kaiser zu empfangen, hatte die alte, freie Donaustadt sich schön gemacht mit Gewinden der letzten Herbstblumen, mit bunten Tüchern und wehenden Fahnen.

In den letzten Nächten hatte man große Schweineherden durch die Stadt getrieben, damit die braven, für Reinlichkeit sorgenden Tiere alles verschlingen möchten, was bequeme Bürgersfrauen an üblen Dingen aus ihren Fenstern auf die Straße zu werfen pflegen. Und was die Schweine zu entfernen verschmähten, wurde in fleißiger Nachlese von den ruhelos umherwandernden Buttenknechten gesammelt.

Man hatte das Stadthaus gesäubert und geziert, hatte Trommler und Ausrufer durch die Stadt geschickt, um die strengen Festtagsgesetze zu verkünden und das Volk zu gesittetem Verhalten zu ermahnen. In alle Häusern, die zu Quartieren für hohe Gäste und ihr Hofgesinde bestimmt waren, hatte man rastlos gefegt und gescheuert, das Silber geputzt und die Zinngeschirre blankgerieben. Und unter den Betten, in denen die Fürstlichkeiten ungestörten Schlummer finden sollten, hatte man Flohfallen aufgestellt und Leimruten für sonstiges Ungeziefer.

Während die schöne Herbstsonne über den Gassen und um die steilen Dächer funkelte, rauchten alle Schornsteine, und überall spürte man den Duft von Honigkuchen, Schmalzgebackenem, Gewürz, Wacholder und Räucherwerk.

Unter dem Donner der Regensburger Kammerbüchsen und dem Geläut der Glocken waren die engen Straßen und der große Marktplatz, auf dem sich der Zug zur Einholung des Königs ordnete, von einer farbigen, freudig erregten Menschenmenge erfüllt. Um die städtischen Standarten und die vielen Kirchenfahnen ein Gewimmel von Geistlichen in prunkvollen Ornaten, von reichgekleideten Ratsherren und wappenfähigen Geschlechtern, von gepanzerten Stadtknechten, Söldnern und Schützen, von Frauen mit Blumenkränzen im Haar, von geputzten Jünglingen und Jungfrauen mit gebänderten Stäben und von vielen, vielen kleinen Mädchen und Knaben mit langen Birkenreisern, an denen die herbstlich gefärbten Blätter in der Sonne wie kleine, goldene Herzen flimmerten. Und rings um diesen farbigen Prunk herum, hinter den Zäunen der Spießknechte, staute sich die graubraune Masse des mühsamen Volkes mit kreischenden Kinderschwärmen; da hatte jede Mutter, die in reifen Jahren war, einen Ring von struwweligen Köpfen um sich her; und manche mußte flink die Augen bewegen, wenn sie verläßlich wachen wollte über das Dutzend ihrer Knospen.

Dieser fröhliche Lärm und dieses Festgepränge ließ nichts von den Schrecken des Krieges gewahren, der seit Jahresfrist die bayerischen Lande mit blinder Zerstörungswut durchtobte. Wie Augsburg und Nürnberg, so hatte es auch Regensburg durch kluge Politik verstanden, sich fern von den Wirren dieses Krieges zu halten, und hatte das Aufblühen der Stadt gefördert, während außerhalb ihrer schützenden Mauern die trotzigen Burgen fielen und die Kräfte des Rittertums vor dem Ansturm der Söldnerscharen und unter den Streichen der Bürger- und Bauernfäuste versagten. Tausend Dörfer waren in Flammen aufgegangen, und der Verzweiflungsschrei eines namenlosen Elends durchschrillte alles offene Land, über das der Fürstenzank mit Eisen, Feuer, Galgen, Büchsen, Hunger und Seuchen seine sinnlose Verwüstung hatte hinrollen lassen, wie ein Bergsturz mit springenden Trümmern alles blühende Leben verschwinden läßt unter seinem Schutt. Doch in den ummauerten, von fester Kraft geschützten und mit kaiserlichen Freiheitsbriefen begnadeten Städten war unbedrücktes Atmen, rühriger Handel, wachsender Wohlstand und friedsame Arbeit, bei der ein Umschwung aller Dinge im Reich und neue Zeiten sich vorbereiteten, die Zeiten eines machtvollen Bürgertums.

Zu Regensburg, in dieser sonnenschönen, feierlichen Mittagsstunde, mischte sich mit dem frohen, alle Gassen und den Marktplatz füllenden Festlärm ein fernes, dumpfes Sausen, das der brausenden Stimme eines gewaltigen Stromes glich. Es war das Stimmengewirr der dreißigtausend zugewanderten Bauern, denen man den Einlaß durch die Mauer verweigert hatte, um die friedliche, gesunde Stadt vor allem zu behüten, was da ah Armut und Zorn, an Aufruhr und Mordgefahr, an Unsitten und Krankheit zusammenströmte aus allen Weiten der verwüsteten Lande.

Auf dem großen Anger vor dem Ostentore lagerte dieses graue Heer des Elends und der Sehnsucht, des stumpfen Grames und der seufzenden Erschöpfung, des suchenden Lasters und eines quirlenden Leichtsinns, der alle Not und Trauer betäubte mit lachendem Schrei.

Während die von Süden ankommenden Fürstlichkeiten durch Gepanzerte des städtischen Heeres empfangen und in die Stadt geleitet wurden, irrten ruhelose Scharen der ausgesperrten Volksmenge an den Wällen und Mauern entlang, kamen zum Ufer der Donau und kehrten zurück zum Ostenanger. Mit jeder Minute vermehrte sich das graue Heer durch neue Zuzüge von allen Landstraßen. Die vom Stadtrat aufgestellten Zehrbuden, Brothütten und Schankzelte konnten den Hunger der vielen Tausende nicht stillen, wurden geplündert und niedergerissen. Das Gelärme der Ungeduldigen schmolz zusammen mit dem festlichen Dröhnen der Kammerbüchsen und dem Freudengeläut der städtischen Glocken. Und plötzlich brauste über den wimmelnden Aufruhr ein wilder, tausendstimmiger Schrei erneuter Hoffnung hin: »Der König kommt! Der Kaiser ist da!«

Das tosende Gewühl begann sich vorwärts zu schieben, gegen das Ufer der Donau hinunter. Tolle Neugier und leidende Sehnsucht keilten sich gegeneinander. Die Ellenbogen wühlten, und die Fäuste droschen. Schwachgewordene wurden niedergestoßen: und zertreten. Und weil den Ausgesperrten auch der Zugang zur Steinernen Brücke verwehrt blieb, rissen sie bei den Fischerhäusern die Kähne und Fähren los, um die Donau zu übersetzen, und dem deutschen König entgegenzuziehen; an die dick mit Menschen gefüllten Boote klammerten sich noch Dutzende an und ließen sich von den abwärtstreibenden Schiffen durch das Wasser schleifen; und wenn eine ermattete Faust die Finger öffnen mußte und ein Mensch in den schießenden Wellen versank, so war's für die anderen, wie wenn im herbstlichen Wald ein welkes Blatt zwischen Moos und Stein verschwindet.

Hunderte kamen über den Strom, und viele Tausende füllten dichtgedrängt die schmale Schiffslände zwischen dem Fuß der Stadtmauer und dem Ufer der Donau. Über dem Strome drüben und hinter der befestigten Vorstadt ›Am Hofe‹ sahen sie auf den falben Wiesenhügeln, über welche die Nürnberger Straße herunterkam, das feine Funkeln und Farbenleuchten des Königszuges, der seiner Einholung wartete. Und während auf der Steinernen Brücke, deren Türme und Türmchen von bunten Tüchern flatterten, die festliche Menge der Städter mit Standarten und Fahnen, mit zwei purpurnen Traghimmeln, mit Zinkengeschmetter und Pfeifenklängen dem König entgegenzog, streckten auf der Schiffslände die vielen Tausende des zugewanderten, eng zusammengepferchten Volkes in gläubiger Hoffnung jenem fernen Königsgeglitzer die Arme entgegen und schrien immer wieder mit rauh gewordenen Stimmen: »Der König ist kommen, der Kaiser ist da!« Die Worte verstand man nicht. Doch flehende Sehnsucht war in dem wogenden Gebrüll. Es klang, wie wenn eine riesige Wallfahrtsmenge von Leidenden, Verzweifelten und Besessenen litaneit:

»Allmächtiger, erhöre uns! Allmächtiger, beschütze uns! Allmächtiger, erlöse uns von allem Übel!«

10

In den großen Zelten, die auf der Wiesenhöhe der Nürnberger Straße für das Königspaar und sein Gefolge errichtet standen, hatten Herr Sigismund und Frau Barbara die verstaubten Reisekleider abgelegt und für den Einzug in Regensburg sich angetan mit dem Schmuck der Herrscherwürde.

Während die Königin, die immer geraumer Zeit bedurfte, um sich schön zu machen, noch vor dem silbernen Reisespiegel saß, hatte der König schon das Zelt verlassen und stand in der milden Sonne. Noch trug er die Krone nicht. Doch seine hohe Gestalt, in der sich Majestät und Anmut paarten, war schon umflossen von den starren Falten des schwer mit Gold bestickten und mit Hermelin verbrämten Purpurmantels. Darunter schimmerte der lange, bis zum Gürtel geschlitzte Reitrock von mattgrüner, mit Perlenblumen benähter Seide. An den Füßen glitzerten die goldgespornten Schnabelschuhe; und die großen, bunten Emailglieder des Gürtels trugen das breite Schwert, an dessen Knauf ein grüner Smaragd von der Größe einer Welschnuß funkelte – ein Stück geschliffenen Glases – den echten kostbaren Schwertstein hatte Herr Sigismund zu Nürnberg verpfänden müssen, um Geld für die Regensburger Reise zu beschaffen. Dieses Geld war auch schon wieder ausgegeben, war auf der langen Reisestrecke in die flehenden Hände des verarmten Volkes geflossen, das überall in hoffendem Glauben die Straße des schönen, hilfreichen Königs belagert hatte. Er kam zu seiner treuen Reichsstadt Regensburg mit einer Tasche, die so leer war wie ein junges Grab, aus dem der Schaufelmann soeben herausgestiegen.

Von den widerlichen Sorgen, die seine häusliche Wirtschaft bedrückten, war in seinen hellen, heiteren Augen kein Schatten zu gewahren. Er schwatzte munter und stand unter dem reinen Himmel wie ein menschgewordener Sonnenstrahl. Das kurzgelockte Braunhaar des Vierundfünfzigjährigen war noch ohne grauen Faden. Ein sorgsam gepflegter, in zwei Spitzen geteilter Vollbart mit lichterem, hübsch geschwungenem Schnauzer umrahmte das längliche, edelgeformte Gesicht, das frische, gesunde Farben hatte. Doch rings um die frohen Augen waren viele feingerissene Faltenzüge; sie erzählten von Blutstürmen und von Dingen, die nach Meinung der Frommen vor Gott kein Wohlgefallen finden. Wer nicht dicht vor dem König stand, sah diese Runenschrift eines wild durchrüttelten Lebens nimmer, sah nur den fürstlichen Kopf, diese herrliche, anmutsvoll bewegte Mannesgestalt, diesen König von unverwüstlicher Jugend und Schönheit, dem die Herzen des Volkes entgegenjubelten, wenn er lächelte und freundlich grüßte.

Neben ihm stand der päpstliche Legat Branda in scharlachfarbener Kardinalstracht mit einem wie aus Marmor geschnittenem Greisenkopf. Den beiden las der junge Kanzler Schlick eine Botschaft vor, die aus München gekommen war. Der Bote, der sie gebracht hatte – Lampert Someiner –, stand bei den Herren des Hofes, grau verstaubt nach einem jagenden Ritt, in den Augen ein ruhiges Leuchten.

Während der Kanzler mit halblauter Stimme las, wurde ein Imbiß eingenommen. Wie beim Mahl auf einer Falkenbeize stand man zwischen angepflöckten Rossen oder saß auf Wiesenbuckeln und aß aus kleinen, billigen Zinnschüsseln. Das goldene Reisegeschirr der Majestät war zu Nürnberg bei dem großen Schwertsmaragd zurückgeblieben.

Der König hörte die Botschaft, die da gelesen wurde, mit Lächeln an. Eine leichte Röte auf seiner Stirn verriet den Zorn, den er stumm bezwang. Der Kardinal erregte sich: »Die Fürsten zu München sind begabt mit versöhnlichen Seelen. Sie verzeihen dem Ingolstädter flink. Rom wird zögern müssen mit seiner Güte.«

»Wie immer!« Herr Sigismund sah zu einer Herrengruppe hinüber, die den zwerghaften, großköpfigen Narren des Königs umstand und in schallendes Gelächter ausgebrochen war. »Was ist da drüben? Laßt euren sorgenvollen Herrscher mitlachen!«

Einer kam: »Wir sprachen von heißblütigen Frauen. Da sagte der Narr: In den Leib jener Frauen, die als Liebende unersättlich sind, müßte von ungefähr ein Pantherhaar geraten sein, das sich nimmer entfernt und ruhelos kitzelt.«

Die Majestät wurde verdrießlich. »Unser Narr kennt die Frauen, wie der Neid die Freude.« Und in böhmischer Sprache, die der Kardinal nicht verstand, sagte Sigismund seufzend zum Kanzler: »Wenn der Wirrsinn des Narren Wahrheit wäre, müßte unsere Königin einen ganzen Panther verschluckt haben.«

Da griffen plötzlich viele Herren nach ihren Waffen. Hinter dem Lagerplatz jagte auf der Nürnberger Straße eine dicke Staubwolke heran. Als man die Reiter und zwei braun und weiß gefleckte Hunde erkennen konnte, flüsterte Schlick: »Der Ingolstädter, mit dem Pienzenauer und Törring.«

Stumm, in aufbrennendem Zorne, wandte sich der König und trat so hastig ins Zelt, daß sich der Purpurmantel wie eine schwere Fahne hinter ihm herbauschte. Der Kanzler ihm nach. Im Zelt schrie Herr Sigismund: »Ich will ihn nicht sehen. Er hat wider uns und das Reich gesündigt. Ich muß ihn von der Herrschaft stoßen.«

Da stand der zwerghafte, großköpfige Narr bei ihm, zupfte am Mantel des Königs und pisperte mit seinem Kastratenstimmchen: »Vetter, überschrei dir die Lunge nicht! Sonst wirst du zu Regensburg vor den schönen Frauen husten müssen, statt daß du gewinnend redest.«

Diese Stimme floß wie Öl auf den Zorn des Herrschers. Ratlos sagte er zu Schlick: »Was soll ich tun?«

Lächelnd flüsterte der junge Rat: »Eine gütige Strenge wählen, die für heute zu nichts verpflichtet. Und warten, bis Vetter Heinrich sprach. Der Schatzturm von Burghausen hat eine Stimme, auf die man in knappen Zeitläuften hören muß.«

Alles Redliche in Sigismund wallte auf. »Schlick! Das ist ein Grauenvolles an meinem Leben. Immer will ich das Gute und Gerechte und muß es biegen und beschmutzen –«

»Warum?« piepste der Zwerg. »Weil wir sonst den Schneid der, Schuster und Bäcker nicht bezahlen können.«

»Schweige, Narr! Deine Spaße lügen. Den König belügen alle. Vor dreißig Jahren hat mir einer, den ich vom Schwert zum Leben begnaden wollte, ins Gesicht gerufen: ›Ich nehme nichts geschenkt von dir, du böhmisches Schwein!‹ Und hat seinen Kopf auf den Block gelegt. Seit damals hat mir keiner mehr die Wahrheit gesagt! – Nur einer. Wo ist er? Narr! Hole mir den Fritz!«

Das großköpfige Männlein zappelte davon. Dann trat mit ihm ein kraftvoller Mann von fünfzig Jahren in das Zelt, schwer und schmucklos gepanzert, ohne Helm, mit dem roten Adler zwischen den schwarzweißen Gevierten des Waffenrockes. Der Kopf hatte in der Art des Braunhaares und des geteilten Vollbartes eine leichte Ähnlichkeit mit der Majestät, doch das sonnverbrannte Gesicht war gröber, fester und ruhiger; dazu ein Mund, der gerne und kräftig lachte, und kluge, graublaue Augen wie blanker Stahl – Friedrich von Zollern, der Burggraf von Nürnberg, der neue Herr der Brandenburger Mark.

In Erregung fragte der König: »Weißt du, wer kommt?«

»Er ist schon da.« Der Markgraf lachte. Er redete laut und rasch. »Rom setzt ihn bereits auf glühende Kohlen und röstet ihm das christliche Fundament. Ich besorge, man wird ihn um mancher Sünde willen brennen, die er nicht beging.«

»Hinter deinen Worten ist Erbarmen. Bist du nicht sein Feind?«

»Ich? Nein! Ich keines Mannes Feind. Schlägt einer her, so schlag ich hin, um ein gut Teil gröber als der andere. Kann er sich vertragen, so bin ich friedsam. Oheim Ludwig ist ein Baum mit Ästen, die gut sind. Die maßlos aufgeschossenen sind ihm gestutzt worden. Jetzt mögen die gesunden treiben. Das sollte die Majestät in Güte fördern.«

»Du weißt nicht, was bei München geschehen ist. Schlick! Gib ihm das Blatt zu lesen!«

Der Markgraf nahm das Pergament. Als er las, bedeckte sich seine Stirn mit harten Falten. »Ein garstiges Ding! Macht Waffenruhe mit mir, vertrödelt den wohlgemeinten Friedenshandel mit Landshut und nützt die unbedrängten Ellenbogen, um ruhige Leute zu puffen. Die gesunden Hiebe von Alling vergönn ich ihm. Das Leben hat heitere Gerechtigkeiten. Ich merke, daß er mich täuschte. Aber das haben die Münchener wettgemacht. Das friedsame Wort, das ich ihm sagte, soll gelten.«

»Lies weiter! Da wirst du von deinem Schwager Heinrich hören. Der Kleine hat wieder flinke Arbeit getan. Und sein treues Glück ist mit ihm gelaufen.«

»So?« Der Markgraf schien das gerne zu vernehmen. Doch als er weiterlas, fuhr ihm eine dunkle Blutwelle ins Gesicht. Die Lippen vorschiebend, faltete er das Pergament zusammen, bot es dem Kanzler hin und schwieg.

»Rede!« mahnte der König ungeduldig.

»Das fällt mir schwer. Der eine täuschte mich, der andere tat's noch übler. Man muß da immer wieder lernen, von neuem zu glauben. Die Majestät möchte mich eines Ratschlages entbinden! Den einen will ich nicht tiefer hinunterstoßen, als er fiel. Und ich kann nicht reden wider den Bruder meines Weibes, das mir eine tapfere Hausfrau ist und mich beschenkte mit dem Besten des Lebens, mit gesunden Jungen.«

Sigismund, der ohne Sohn war und dieses Wort mit Mißvergnügen gehört hatte, rief ärgerlich: »Versagst du auch? Was soll ich tun?«

Hinter dem Rücken der Majestät guckte der Kanzler mit verständlicher Trauer in seine Gürteltasche.

»Ach so?« Für den Markgrafen schien die Stunde plötzlich an Ernst verloren zu haben. Er nickte. »Freilich, der Fink muß Hanf haben, wenn er nicht unschön pfeifen soll. An schöne Lieder bei Darbenden glaub ich nicht.«

»Was soll ich tun?« wiederholte der König gereizt, während man vor dem Zelt einen heftigen Wortwechsel zwischen dem Kardinal Branda und Herzog Ludwig vernahm. »Was soll ich tun?«

»Was kein Verständiger schelten darf. Geld kann man von den Juden borgen. Wenn's nicht billiger geht, um hohen Zins. Man braucht sie drum nicht zu verbrennen. Man kann sie auch bezahlen. Das ist minder schmerzhaft. Ich will gutstehen. Und der Fink kann pfeifen, wie er soll.«

»Gutstehen?« fragte Sigismund freundlicher. »Selber geben kannst du nicht?«

»Nicht jetzt. Die Majestät möge verzeihen. Ich bin erschöpft.«

»Du schüttest zu viel in den Sand deiner Mark.«

»Ohne Samen kein Weizen.«

Der König lächelte auf eine Art, die dem Markgrafen zu mißfallen schien. »So muß ich schauen, wo Samen sich findet.«

Vor dem Zelt die erregte Stimme des Kardinals: »Um Euretwillen wurde Glockenläuten, Gesang und Gottesdienst zerschlagen.«

Dann die zornbebende Stimme des Ingolstädters: »Warum sperrt Ihr um meinetwillen die Kirchen? Laßt sie offen für die anderen! Dann könnt Ihr läuten, singen und Messe lesen nach Herzenslust. Belagert nicht meinen Weg! Ich will zum König. Wozu das Reich, wozu der Herrscher, wenn die beiden sich verschließen vor der Not eines Deutschen?«

Im Zelt sagte Sigismund heiter: »Oh? Wo bleibt Paris? Mein Land ist reicher geworden um einen deutschen Mann.«

Da stürmte Herzog Ludwig in das Zelt, mit Staub bedeckt, das Gesicht von Gram zerstört, in den Augen den zerbrochenen Stolz. Schweigend biß er die Zähne übereinander und beugte das Knie.

Die Majestät trat zurück, blieb stumm und streckte abwehrend, mit einer anmutsvollen Geste, die schönen Hände vor sich hin.

Herzog Ludwig drückte den starren Nacken noch tiefer hinunter und harrte zitternd auf ein gütiges Wort. Weil es nicht kommen wollte, erbarmte sich der Markgraf dieses Gebeugten, wollte ihm mit einem freundlichen Scherz über den bösen Augenblick hinüberhelfen und sagte freundlich: »Oheim? Ihr habt keine gute Farbe. Seid Ihr ein so strenger Christ, daß Ihr im Übermaße fastet?«

Die gute Absicht dieses Scherzes mißverstehend, fuhr Herzog Ludwig vom Boden auf, mit brennender Stirne, mit Trauer und erneutem Haß in den Augen. »Willst du mich höhnen? Du? Der verschlang, was in meines großen Ahnherren goldenem Kessel gekocht wurde für Witteisbach?«

»So ist es nicht. Aber wenn es so wäre, könnt ich nicht leugnen, daß es mir mundet.«

Noch heißer gereizt durch diese lächelnde Ruhe, wandte sich der Herzog an die Majestät. »König! Leidende haben ein helles Gesicht. Laß dich warnen vor diesem allzu Gesunden. Er wird dir die deutsche Krone nehmen, wie er meinem Hause die Mark genommen.«

»Die gab ich ihm doch. Als Dank für redliche Dienste.«

»Laß dich warnen!« Die Stimme des Herzogs war rauh von Zorn. »Seine Federn sind schwarz und weiß wie die der Elster. Was eine richtige Elster ist, die läßt ihr Hüpfen nicht.«

Herr Sigismund lachte heiter. Dennoch war es ihm anzumerken, daß diese Warnung bei seinem leicht erregbaren Mißtrauen ihr Ziel nicht völlig verfehlt hatte.

Des Königs achtete der Markgraf in diesem Augenblick nicht. Er sah nur den von Zorn und Leid durchwühlten Herzog an und sagte ernst: »Leidende haben kein helles Gesicht, sie haben verschleierte Sinne. Dieses Wissen versöhnt mit ihnen. Ihr seid ein vergrämter Vogel, Oheim! Man merkt es an Eurem verstimmten Gesang. Ich habe schon bessere Lieder von Euch vernommen. Seht zu, daß Eure Kehle sich bald wieder bessern möge.« Er neigte sich vor der Majestät und ging im Geklirr seines schweren Panzers aus dem Zelt.

Die Augen des Königs, die ihm folgten, hatten eine unmutigen Blick. Dann sagte er zu Herzog Ludwig mit jener gütigen Strenge, deren Ton er glücklich zu treffen wußte: »Oheim, du bist ein männlicher Fürst. Auch warst du ein Mächtiger an Barschaft. Das haben Wir zu Unseren Gunsten oft erfahren. Wir schulden dir viel. Des wollen Wir gedenk bleiben. Aber dir ist es ergangen, wie es allen ergeht, die mehr Vertrauen in sich selbst haben als in Gott.«

Während immer das ferne Glockenläuten summte und das Zinkengeschmetter des festlichen Zuges näher und näher tönte, zwang Herr Ludwig die Worte heraus: »Was ich habe, will ich geben. Jetzt bin ich arm. Reichtum wird wiederkommen. Die Majestät verspreche mir nur, mich ungeschädigt bei meiner ererbten Herrschaft zu halten. Was ich erbitte, ist mein fürstliches Recht.«

»Der Schuldige muß empfangen, was ihm zugesprochen wird, um christlicher Güte willen. Du bist besiegt durch die Kraft der anderen und durch die eigene Torheit.«

Das Gesicht des Herzogs entstellte sich. »Mich besiegte einer, den ich nicht nenne. Man kann einen Menschen beugen. Sein Recht bleibt stehen. Ich fordere mein Recht.«

»Wer fordert und nicht die Macht hat, seinen Willen durchzusetzen, ist ein Narr.« Bei diesem Worte nahm die heiter gewordene Majestät dem Herzog die pelzverbrämte Mütze vom Kopf und setzte ihm die Schellenkappe der Narren auf.

Herr Ludwig stand unbeweglich.

Draußen erscholl ein süßer, lieblicher Gesang von tausend Kinderstimmen.

»Wir werden entscheiden im Rat der Fürsten!« sagte Sigismund. »Unsere treuen Regensburger kommen.« Er wandte sich. »Meine Krone?«

Unter spöttischem Grinsen brachte der Zwerg das von edlen Steinen funkelnde Königsgeschmeid: »Nimm, barmherziger Vetter, das ist deine Narrenkappe!«

»Meinst du, Wir hätten nicht den klugen Kopf, den sie verlangt?«

»Den hast du, leider! Du versäuerst mir mein hartes Brot, das wir zuweilen schuldig bleiben. Oft bist du witziger als ich.« Der Narr hörte das Rauschen eines seidenen Kleides und schmunzelte. »Die Funken deines Witzes erlöschen nur, wenn du Ehemann wirst. Und da kann ich meinen Witz nicht zeigen. Weil ich außerhalb des Türchens bleibe, hinter dem du klein und töricht wirst.«

Königin Barbara, die zweite Gemahlin der Majestät, trat aus der Zeltkammer, in milchblaue Seide gekleidet, die jede Form des schönen Körpers nachzeichnete. Funkelnd thronte das Krönlein über dem kupferroten Haar, und wie ein Glitzerhauch umfloß der silberne Schleier die reizvolle Gestalt. Eine Dreißigjährige, die einem jungfräulichen Mädchen glich, mit rosigen Wangen, mit schwellendem Mund und mit suchenden Schwarzaugen voll kindlicher Neugier.

Sigismund küßte sein Ehgemahl vorsichtig auf die Wange und sagte scherzend: »So schnell bereit?«

Die Narrenkappe fortschiebend, beugte Herzog Ludwig sich nieder. »Vor der Schönheit kniet man leichter als vor der Würde.« Freundlich hob ihn Frau Barbara auf und fing munter zu schwatzen an. Der Ingolstädter plauderte mit ihr, ritterlich und bilderreich, während sein entstelltes Gesicht wie Asche war.

Die Majestäten traten Hand in Hand aus dem Zelte. Brausender Jubel verschlang das Lied der Kinder, deren Schar mit den gelbgeblätterten Birkenzweigen in der Sonne wie ein goldenes Wäldchen war. Der König sah freundlich die vielen Kinder an und sagte: »Da wächst uns eine neue Welt.«

In weitem Ringe standen die Hochwürdigen, die Edelfesten und Ehrbaren der freien Stadt, die Zünfte mit ihren Fahnen, hinter ihnen die berittenen Söldner, die Fußknechte und Schützen, und dann das graue Volk.

Herzlich begrüßte der König den Fürstpropst Pienzenauer und den Kaspar Törring, die nicht sonderlich festlich aussahen.

Trompeten schmetterten, eine schwer atmende Stille lagerte sich in der Sonne, und während von der Stadt das Geläut der Glocken scholl, fing der Bürgermeister in Ehrfurcht zu reden an. Der König lauschte wohlwollend. Minder aufmerksam war die Königin, die in lächelnder Neugier die schmucken Geschlechtersöhne musterte. Zum Willkomm verehrte die Stadt der Majestät einen großen goldenen Kupf, der bis zum Rande gefüllt war mit rheinischen Dukaten; auch Frau Barbara, der Kanzler und der Narr bekamen Becher mit Geldgeschenken.

Nun bewegte sich der Zug mit Sang und Klang der Stadt entgegen. Immer segnete der päpstliche Legat das Volk; er ritt unter dem ersten Purpurhimmel.

Auf einem ungrischen Goldfuchs, dessen seidene Schabracke den Boden berührte, ritt die deutsche Majestät unter dem zweiten, kleineren Traghimmel; voraus schritten vier Edelknaben mit großen Gürteltaschen, aus denen sie neugeprägte Silberpfennige mit dem Bild des Königs in die Massen des jubelnden Volkes warfen. Hinter dem Herrscher, unter einem Pfauenfächer, ritt Königin Barbara auf einem Berberschimmel, der so zierlich war wie die schöne Frau in seinem Sattel. Dann kam die Schar der Fürsten und Herren, unter ihnen Herzog Ludwig mit entblößtem Haupt, zu jeder Seite seines abgehetzten Pferdes einer von den ruhig schreitenden Hunden; mit den lang herabhängenden Zungen und den mager gewordenen Leibern sahen sie aus wie lebendige Wappentiere. Und außerhalb der von Waffen starrenden Spaliere drängte sich eine graue, jubelnde Menschenmenge und raufte sich auf dem Boden um die Silberpfennige, die unter dem Purpurhimmel der Majestät herausflatterten.

Jetzt kam der Königszug zu dem Märchenbau der Steinernen Brücke. Ein wundervolles Bild: der mächtige, rauschende Strom und diese hochgeschwungenen, steinernen Bogen mit Toren und Türmchen, mit Fahnen, Kränzen und wirbelndem Bänderwerk; und drüben die feste, schöne Stadt, umflossen von goldener Sonne, mit den langen Mauerzügen, mit den von Menschen wimmelnden Wehrgängen und Basteien, mit den eng zusammengehuschelten Firsten und Türmen, die von bunten Tüchern umflattert, von Scharen der aufgescheuchten Dohlen und Tauben umflogen waren. Ein Dröhnen und Hallen, als wäre der ganze Himmel eine schwingende Glocke. Und jetzt – als der König auf der Höhe der Brücke für die da drüben sichtbar wurde – jetzt übertönte den klangvollen Lärm ein dumpfer, schwerer, den Himmel und die Erde erfüllender Laut wie der Ton einer Riesenorgel, wie das grauenvolle Stöhnen eines leidenden Ungeheuers: das sehnsüchtige Gebrüll der vierzigtausend Zugewanderten, die eng gepfercht zwischen Wasser und Mauer standen, in gläubiger Hoffnung immer »Kaiser! Kaiser! Kaiser!« schrien und die braunen, von grauen Lumpen umhangenen Hände hinauf streckten zum erwarteten Retter.

Das Gesicht des Königs entfärbte sich in tiefer Erschütterung. Er stammelte einen Namen; zwei von den Ordnern des Zuges liefen nach rückwärts und brachten den Fürstpropst Peter Pienzenauer. Herr Sigismund umklammerte den Arm des Propstes: »Siehst du das? Da drunten? Das arme Volk! Und ich kann nicht helfen. Rom und die Fürsten machen mich zu einer Puppe, die an Drähten zuckt. Ich möchte das Gute und Rechte. Doch die Kleinen sträuben sich. Sie sind wie Mäuse, die sich in der Falle sicher vor der Katze glauben.« Zorn und Erregung zerdrückten ihm die Stimme. »Peter! Reite heim nach Berchtesgaden! Und rüttle in deinem Untersberg den alten, schlafenden Kaiser wach!«

Die Wirkung des Bildes, das er gesehen hatte, blieb in ihm, als er durch das Brückentor zu Regensburg einritt und umjubelt wurde von der Bürgerschaft. Er hörte nicht das Freudengeschrei und sah nicht die mit weißen Tüchern aus allen Fenstern winkenden Frauen. Zerstreut betrachtete er, was er sonst sehr gerne zu sehen liebte: den Flötenreigen der in durchsichtige Schleier gekleideten Hübschlerinnen und geschuhten Wachteln, die man zu Regensburg ›die armen Töchter‹ nannte. Die schmucken Weibchen, die sehr heiter waren, sperrten mit einem Seil aus roter Seide und mit Rosengewinde die Straßen und luden den König in galanten Versen zu einem Fest in ihrer süßen Herberg. Immer nickte, dankte und lächelte er. Doch etwas Müdes und Steinernes war in der heiteren Schönheit seines Gesichtes. Immer schienen seine Augen nach einwärts zu schauen in die trauernde Herrscherseele.

Als er in der gewölbten Halle des Stadthauses von den zu Regensburg eingetroffenen Fürsten empfangen wurde, eilte er, alle höfische Regel mißachtend, auf den kleinen Herzog Heinrich zu, nahm ihn beiseite und flüsterte ihm heiß ins Ohr: »Oheim Landshut! Wir wollen dir alles verzeihen! Alles! Kannst du uns Geld geben? Viel Geld?« Seine Augen wurden fröhlich, als er von den dreißigtausend Dukaten hörte, die Herzog Heinrich schon in das Quartier der Majestät, in das alte Patrizierhaus der Gumprecht, hatte schaffen lassen. »Lieber Oheim!« Der König lachte. »Wir wollen dir danken. Morgen. Was Wir tun, ist verwerflich. Aber helfen ist von den Freuden des Lebens die schönste.«

Er befahl den Bürgermeister und die drei Almosenherren der Stadt zu sich. Noch in der gleichen Stunde sollte man aufkaufen, was in der Stadt an Zelten, Kleidern, Mänteln, Zehrung und Trank für das zugewanderte Volk zu erschwingen war. Auf vielen Wagen sollte man alles hinausfahren zum Anger vor dem Ostentor. Jede arme, leere Hand, die sich da draußen verlangend streckte, sollte empfangen von der Güte des deutschen Königs. Der Bürgermeister neigte sich dankbar vor dem Herrscher; doch der Auftrag, den er übernommen, machte ihm Sorge; er hatte Ursach, alle Tore fest verschlossen zu halten. Von da draußen war eine Meldung in die Stadt gedrungen, die man verschweigen mußte – eine Meldung, vor der auch Tapfere erzitterten bis ins Blut. Da draußen, unter den vierzig Tausenden, war einer zugewandert. Der hatte leere Augenhöhlen und schlug mit der Knochenfaust an das Ostentor. Von allen Siegern der gewaltigste!

In der gewölbten, reich gezierten Halle des Stadthauses brannte, obwohl der Abend noch nicht dämmerte, schon die Fülle der Wachsfackeln und Kerzen. Um die schönen, freundlichen Majestäten bewegte sich ein funkelndes Gewirre von Fürsten und edlen Frauen, von geistlichen Würdenträgern, von ritterlichen Herren und wappenfähigen Bürgern.

Ein bißchen außerhalb des funkelnden Gewimmels stand in kostbarem Hofkleid der kleine Herzog Heinrich an eine Säule gelehnt, völlig genesen, belustigt und zufrieden. Seine blitzenden Schwarzaugen gingen suchend über das Gewühl der Gesichter hin, und ein feines Schmunzeln huschte um seine schmalen Lippen, sooft im Gewirr das unbedeckte Haupt und die grau bestäubten Schultern des Ingolstädters erschienen.

Da trat im schweren Panzer sein Schwager Zollern vor ihn hin, sah ihn an, nickte, schob die Lippen vor und schwieg.

Mit lebhafter Herzlichkeit sagte der Kleine: »Gott grüß dich, Schwager! Wir haben uns lange nicht gesehen. Jetzt geschieht es zu guter Stunde. Wir hatten Glück, wir beide.«

»Jeder auf seine Weise. Um das recht zu sehen, mußt du mein Gedächtnis auffrischen. Wie lautete, was du mir nach Nüremberg geschrieben?«

»Daß du tun möchtest in meinem Namen, was ich als notwendig, hilfreich und redlich erkenne. Als redlich hab ich erkannt, was du tatest. Notwendig und hilfreich erschien es mir nicht. Drum hab ich es anders gemacht.« Herr Heinrich schmunzelte. »Mißfällt es dir?«

Zollern bekam die harten Furchen auf der Stirn. Dann lachte er plötzlich, laut und kräftig. »Schwager! Man kann dir im Ernst nicht grollen. Das ist manchmal ein schwierig Ding, zu wissen, was gut oder böse ist. An den sieben Häuten deiner Seele ist kein klarer Fleck. Aber dein Land und Volk wird gewinnen dabei. Das läßt milder über dich denken.« Er wollte gehen. Und sah neben der Säule den barhäuptigen Herzog Ludwig stehen mit aschfarbenem Gesicht und brennenden Augen. »Nur näher, Oheim! Hier findet Ihr, einen klugen und heiteren Mann. Jetzt, vermute ich, wird er redlich mit Euch unterhandeln.« Klirrend schritt er davon.

Herr Heinrich verlor ein wenig an fröhlicher Farbe, als der hochgewachsene Ingolstädter in seiner gewalttätigen Art so dicht vor ihn hintrat.

»Wir sahen uns zum letztenmal in Konstanz. Nicht? Fünf Jahre sind eine lange Zeit. Gute Vettern sollten sich zuweilen besuchen. Um sich auszusprechen. Damals in Konstanz wurdest du am Reden behindert. Nicht? Es war sehr finster. Damals. Heut ist es hell. Warum zitterst du? Die Stunde ist höfisch. Die Nähe des schönen Königs umschleiert die häßlichen Dinge. Da muß man zierliche Worte finden. Muß Brücken über alles Dunkle schlagen. Ich schaue nicht hinunter. Nein!« Herzog Ludwig sah die Narben an seinen Händen an. »Ich will dich nur etwas fragen. Eine kleine Sache. Das mußt du mir sagen.«

»Was, du Großer und Starker?« Herr Heinrich war wieder heiter geworden und streckte sich, weil er merkte, wie viele Augen in Neugier auf ihn und den anderen hersahen.

»Hast du in deinem Lebern schon einmal die Wahrheit gesagt?«

Herzog Heinrich schien sich zu besinnen und nickte. »Doch. Manchmal. Wenn es nützlich war.«

»Dann sage sie mir jetzt!« Der Ingolstädter beugte sich langsam zu dem kleinen Vetter hinunter. Er lachte, wie man zu lustigen Dingen lacht. Doch seine Stimme keuchte: »Wer verriet mich?«

In Heinrichs schwarzen Augen blitzte es wie eine geschliffene Klinge. Seine Seele war durchwühlt von dem gierigen Wunsch, diesem Starken, noch immer nicht völlig Gebeugten den letzten Stoß in das Herz zu bohren. Seine Klugheit widerriet es ihm. Er sagte: »Niemand!« Schmetternde Trompetenstöße klangen vom Saal herunter, und die Majestäten stiegen auf lindem Teppich über die steinerne Treppe hinauf. »Das Mahl beginnt. Es möge dir schmecken, Vetter!« Herzog Heinrich ging rasch davon und wollte sich in das glitzernde Gewühl verlieren.

Da sprang ihm der. Ingolstädter nach, faßte ihn mit eisernem Griff am Handgelenk, zerrte ihn hinter sich her zu einem Winkel in der Halle hin und deutete auf eine mit kostbarem Hofkleid geschmückte Mißform. »Vetter? Kennst du den da? Ist das jemand? Oder niemand? Wer ist das?«

Prinz Höckerlein hatte ein weißes Gesicht, doch ein verwundertes Lächeln und einen sanften Knabenblick.

»Wer ist das?« schrie Herzog Ludwig so laut, daß die über die Treppe hinaufsteigenden Mahlgäste erstaunt die Köpfe drehten.

In Zorn hatte Heinrich seine Hand befreit. Nun sah er den Buckligen kalt und gleichgültig an und antwortete ruhig: »Die Ähnlichkeit versagt. Aber man weiß: Es ist dein Sohn.« Er ging zur Treppe hinüber.

Gebeugt stand Herzog Ludwig vor dem Prinzen, dem eine zarte Röte die Blässe vertrieben hatte. »Wann kamst du?«

»Jetzt eben, Vater!«

»Wo warst du seit deiner Heldentat von Alling?«

Mit dem Gesicht eines hilflos Bekümmerten klagte der Prinz: »Daß der große Feldherr, der mein Vater ist, in die Sümpfe reitet, konnte ich bei der Jugend meiner Kriegserfahrungen nicht vermuten. Als deine treulosen Einrösser meine Tapferkeit behinderten, nahm ich eine Straße, die mir fest erschien.«

»Ja, mein Würmchen, reite auf dieser Straße!« Herzog Ludwig, unter heiserem Lachen, klopfte dem Buckligen auf die Schulter. »Reite! Reite! Nur immer zu! Da wirst du weit kommen.« Er wollte gehen, wandte sich wieder und sagte rauh: »Weißt du, daß man mich zu Alling in meinem Zelt bestahl?«

Erschrocken fragte Prinz Höckerlein: »Um viel?«

Bei aller Qual belustigt, brach Herr Ludwig in Gelächter aus. »Um viel? Ach nein! Nur um Kornreif, Siegel und Stab. Das bißchen Bargeld soll außer Rechnung bleiben.«

»Die Diebe muß man ausforschen. Willst du mir das überlassen, Vater? Ich finde sie.« Die Augen des Buckligen erweiterten sich. »Solltest du verhindert werden, nach Ingolstadt heimzureiten, so will ich sie hängen lassen, diese bösen Diebe. Wie alle, die meinem Vater treulos waren.«

Im Gesicht des Herzogs eine jähe, grauenvolle Veränderung. Und mit schwerer, dumpfer Trauer sagte er leis: »Einen wirst du begnadigen müssen! Wenn du leben willst.« Er wandte sich und stieg über die festliche Treppe hinauf. Der mißgestaltete Knabe, in der schimmernden Seide seines reichen Hofkleides und mit seinem wippenden Spinnenschritt, ging lächelnd hinter ihm her.

Draußen auf der Straße eine brausende Woge des Jubels. Vom kleinen Erker des großen Rathaussaales hatte sich das Königspaar der Bürgerschaft gezeigt, die im Glänze des nahenden Abends Kopf an Kopf den Platz und die abziehenden Gassen füllte. Als die Majestäten vom Fenster verschwanden und droben im Saal die schmetternde Bankettmusik begann, entstand auf dem Platz ein schiebendes Gewühl unter Kreischen und lustigem Gelächter. Auch Streitreden und Händel gab's. Die jungen Bürgersöhne vermerkten es übel, daß ihren Schwestern und Bäschen die fremden Fürstenknechte so gut gefielen.

Ein Burghausener Harnischer hatte ein blondes Mädel gefischt und zog es hinüber zum Wadmarkt. Der war abgesperrt. Vor dem Mallerschen Patrizierhause, wo Herzog Heinrich Quartier genommen, standen die Zelte seiner Söldner und die angepflöckten Rosse. Als der Harnischer das blonde Mädel durch die Wache schmuggelte, fragte ein Stadtknecht nach dem Malimmes vom Taubensee. Man wies den Knecht zu einem Zelt, in dem ein schmuck gekleideter Söldner auf den Pferdedecken lag. »Du? Bist du der Malimmes vom Taubensee?«

Ein Müder richtete sich auf. »Ich bin's gewesen einmal. Was ich jetzt bin, weiß ich nimmer. Der Krieg macht böses Vieh aus den Leuten. Was willst du?«

»Beim Ostentor ist einer festgenommen worden, der die Mauer hat übersteigen wollen. Der sagt, er müßt mit dem deutschen König reden und wär aus der Ramsau. Du tatst ihn kennen, sagt er.«

Verdrießlich murrte Malimmes: »Was geht mich die Ramsau an? Ruh will ich haben.« Doch er nahm seinen Hut und das Eisen. »Komm! Das Gewesene laßt einen nimmer aus.«

Als sie den Zaun der Wache durchschritten hatten und hineintauchen wollten in das heitere Menschengewühl, blieb Malimmes stehen und musterte ein geputztes Weib, das einen grünen Schleier um Haar und Gesicht gewickelt trug und wie wartend dastand. »Ist die schon wieder um den Weg?« Seit er zu Regensburg eingeritten, hatte er diesen grünen Schleier schon viermal gesehen. »So eine geschuhte Wachtel! Was die nur will von mir? Komm!«

Es war eine harte Mühe, in diesem Gedräng das Ostentor zu erreichen. Hier ging es lärmend zu. Hochbeladene Karren wurden in langer Reihe zum Tor hinausgefahren, ein dumpfes Brausen scholl herein, und Stadtknechte mit gefällten Piken verteidigten die Torlücken, um die von draußen andrängenden Menschen abzuwehren.

In einer kleinen, schon vom Abend durchschleierten Kammer neben der Wachtstube fand Malimmes den Hinterseer Fischbauer, der die Würde und das Wort des Seppi Ruechsam geerbt hatte. In der braunen Faust umklammerte der Bauer eine blecherne Pergamentkapsel. Sonst war er splitternackt. Ein Medikus untersuchte ihn und sagte: »Redet sonst nichts wider ihn, so kann man ihm Einlaß gönnen. Der Mann ist gesund.«

»Was denn sonst?«

Malimmes mußte für den Verdächtigen zeugen. Er nickte. »Das ist ein guter Mensch. Der hat mit dem Vieh zu tun. Das Vieh verdirbt einen Menschen nit.« Und während der Fischbauer in das Hemd fuhr, fragte der Söldner zögernd: »Wie geht's denn allweil? Daheim?«

»Recht muß Recht sein. Sonst geht's nit schlecht. Langsam macht sich schon alles wieder. Drei von meinen Buben hat man totgeschlagen. Aber von den fünfen, die noch übrig sind, hat jeder ein Gütl gekriegt, das leer geworden ist.«

»So so? – Und der Mareiner?«

Der Albmeister lachte. »Dein Bruder ist angerumpelt und muß das Maul wieder halten. Sein Zenonisches Erbrecht hat man nit gelten lassen. Jetzt ist er wieder Sanktpetrischer Frongütler. Aber sonst ist Segen in seinem Haus. An Ostern hat seine Bäurin Drilling gekriegt. Drei Buben.«

»Nit mehr?« Auch Malimmes wurde heiter.

»Gelt, ja! Heuer ist in der Ramsau ein gutes Kinderjahr. Jedes Weibl und Maidl tragt in der Sonn was Lebendiges umeinander.«

»Wo man viel totgeschlagen hat, müssen viel wieder herwachsen. Geh's wie's mag!«

»Was denn sonst?« Der Fischbauer bändelte die zwei Schäfte seiner grauen Hose zusammen.

»Und außer den drei Buben?« Das Gesicht des Malimmes, das eben noch überleuchtet war von einer wilden Fröhlichkeit, wurde hart und ernst. »Ist da sonst noch ein Kindl im Haus? Beim Bruder?«

»Geh, du Narr!« Der Albmeister schlüpfte in die genagelten Schuhe. »Meinst, deine Schwägerin kann hexen? Freilich, ein lützel was lernt man im Krieg. Die Mareinerin hat allweil gezittert vor Angst, wenn ein Herrenknecht in der Näh gewesen. Jetzt lacht das tapfere Weibl, so oft einer kommt. Was denn sonst?«

»So so?« Nach langem Schweigen, während der Albmeister die Riemen seiner Schuhe knüpfte, fragte Malimmes rauh: »Wie geht's meiner Mutter?«

»Jeh, du, die ist doch gestorben, selbigsmal, wie der Marimpfel bei Piding hat bleiben müssen. Den besten von ihren Buben verliert eine Mutter hart.«

Diesen Erfahrungssatz des Albmeisters hörte Malimmes nimmer. Der Strich seiner großen Narbe war so bleich geworden, als hinge ein weißer Zwirnfaden über das braune Gesicht herunter. So ging er stumm und mit schwerem Schritt aus der Kammer.

Draußen in der Glut des schönen Abends ließ er sich einkeilen in das Gewühl der Menschen und ließ sich schieben, stoßen und treiben von der Menge – er wußte nicht, wohin. Und wo dieser bunte, frohe, rauschende, vom Blut des Abends überleuchtete Lebensstrom den Malimmes hinschwemmte, in jeder Gasse, überall und immer war jener grüne Wachtelschleier in seiner Nähe. Jetzt wieder. In der engen Brückengasse. Und da wühlte sich Malimmes plötzlich zu dem Frauenzimmer hin und griff nach dem grünen Schleier. Das Weib wehrte sich schweigend und wollte entrinnen. Aber Malimmes hatte den Schleier schon in der Faust und riß ihn herunter.

Blonde Zöpfe, große, angstvolle Augen und ein geschminktes Gesicht, das nicht erblassen konnte. Die Traudi war's. Stumm und zitternd stand sie vor ihm, Furcht, Liebe, Gram und Freude im nassen Blick.

Beim ersten Erkennen leuchtete in Malimmes etwas auf, als wäre in seine frierende Einsamkeit ein bißchen Wärme gekommen. Doch beim ersten Blick gewahrte er auch das Fürchterliche im Gesicht dieser armen Tochter: die französischen Krankheitsflecken unter der weißen und roten Schminke. Wortlos, die Zähne übereinander knirschend, faßte er die Traudi am Arm.

Sie entzog sich ihm und sagte traurig: »Du sollst mich nimmer anrühren! Du nit. Die Kriegsleut haben mich versaut.«

Er brauchte lang, bis er fragen konnte: »Warum bist du fort von daheim?«

»Wie die Mutter tot war, hat's mich nimmer gelitten. Weil du nit kommen bist, hab ich dich suchen müssen. So bin ich auf Wasserburg gekommen, das man beschossen hat. Jeden hab ich gefragt nach dir. Und einer –« Sie konnte nimmer weiterreden.

Er sagte heiser: »Wasserburg? Das ist im vorigen Herbst gewesen.« Sein Gesicht entstellte sich. »Wann hast du dein Kind geboren?«

»Wie man Friedberg verwüstet hat, heuer in der Osterwoch.«

Die Augen des Malimmes irrten flackernd über das vergnügte Gewühl der Menschen hin. »Gott wird wollen haben, daß dein Kindl tot ist?«

Sie schüttelte den Kopf.

Da schrie er wild: »Es lebt?«

Sie nickte.

Den Kopf beugend, keuchte er: »Wo hast du's?«

»Drunten, im Holzländgässel, bei meiner Herbergsmutter.«

Schweigend stand er vor ihr, wie mit gebrochenem Nacken. Dann sagte er müde: »Komm!«

Sie rührte sich nicht und sah ihn verzweifelt an.

»Hörst nit? Komm!« Er wühlte einen Weg durch das Menschengedräng. Und die Traudi schmiegte sich hinter ihm her; heimlich berührte sie mit den Fingerspitzen seine Arme, seinen Rücken, seine Schultern; dabei war in ihren klagenden Augen ein kleines, armes Glück.

Zwischen hohen Häusern mit feuchten, muffigen Mauern lag eine enge, lange Gasse, in die vom leuchtenden Abendhimmel noch ein matter Glanz herunterfiel. Nur wenig Leute liefen da hin und her. Immer jagender wurde der Schritt des Malimmes. Schwer atmend täppelte die Traudi neben ihm her. Ein paarmal versuchte sie zu reden. Immer schwieg er. Da sagte sie leise: »Deinen Goldpfennig hat mir einer vom Hals gerissen. Das ist mir das Ärgste gewesen.«

Er schwieg.

»Aber ein lützel was hab ich schon noch von dir.« Sie wartete, ob er fragen würde.

Er schwieg.

»Das Hemmed, das du mir beim Hallturm in den Binkel geschoben hast. Das hab ich noch. Ich hab's gewaschen und gut geflickt. An jedem Sonntag, wenn die anderen in der Kirche sind, schlupf ich allweil ein lützel hinein und geh mit dem Kind in meiner Stub herum. Da bet ich.«

Schweigend nahm er ihre Hand und machte kürzere Schritte, damit sie nicht so schnaufen müßte.

Unter einem verträumten Lächeln fragte sie: »Ist der Heiner auch bei dir?«

»Der ist tot.«

»Jesus! Aber der Altknecht, gelt?«

»Der ist tot.«

»Herr Jesus! Und der Bauer?«

»Der ist tot.«

»Allmächtiger! Muß denn alles –« Die Stimme zerbrach ihr. »Und –«

Er senkte schweigend den Kopf.

Da fragte sie scheu: »Wo ist denn der Bub?« Erschrocken umklammerte sie seinen Arm; denn sie sah ein Gesicht, als wäre das nicht der Malimmes, sondern ein Fremder, den sie nie im Leben gesehen hatte.

Ruhig befreite er seinen Arm und sagte mit Worten, die wie Eisen waren: »Wer fragt, geht irr. Krieg ist Krieg. Die Lieb macht lebendig, der Krieg macht tot. Frag nit um die andern! Dein Kind lebt.« Er lachte.

Die Traudi verstand den Malimmes nimmer. Hilflos sah sie zu ihm auf. »Tust du denn nit trauern?«

»Die Zeit ist so. Da muß man sein Herz an die Wand werfen können, daß es hängen bleibt.«

Sie wagte kein Wort mehr zu reden. Ganz am Ende der Gasse blieb sie vor einem schlechten Hause stehen, über dessen Tür, obwohl es noch nicht dunkelte, eine rote Laterne brannte.

»Kommst du mit herauf?«

Er schüttelte den Kopf.

»So wart ein lützel, ich bring's.« Sie wollte ins Haus treten, blieb stehen, sah ihn glücklich an und machte eine Bewegung, als möchte sie mit dem Finger an seine große Narbe rühren. »Schier gar nimmer sieht man's.«

Malimmes nickte. Und als sie im Haus verschwunden war, setzte er sich auf die Bank neben der Türe.

Über der Mauer draußen rauschte die Donau. Der Lärm der Menschen hing über der Stadt wie das Summen eines riesigen Bienenschwarmes, vom Stadthaus klang die Bankettmusik gleich einem feintönenden Gezirpe, und der lange Strich des abendroten Himmels über den Dächern der schmalen Gasse war wie eine große, blutende Wunde, die man mit einem schartigen Schwert in Gottes Gesicht geschlagen hatte.

Langsam kam die Traudi aus dem dunklen Türloch heraus, an der Brust ein kleines, rotes, blaues und grünes Binkelchen, mit einem weißen Schleierlappen.

Er streckte sich und nahm das von Bändern umwickelte Kissen auf seine Arme.

Die Traudi sagte: »Ist ein Büblein. Und heißt Maria Lichtmeß. Wie du.« Als er den Schleier wegzog, war eine flehende Angst in ihrem Blick. »Jetzt schaut es ein lützel ungut aus. Ist allweil wie ein Röslein gewesen. Jetzt hat es – ich weiß nit, was – aber das vergeht schon wieder. Gelt, ja?«

Das Gesicht des Malimmes versteinte, während er dieses kleine, wunde, rettungslose Leiden betrachtete, aus dem zwei klagende Lichterchen hervorguckten wie die Augen eines jungen, sterbenden Tierchens.

»Gelt, ja? Gelt, ja? Das wird schon wieder gut? Das ist halt so, wie's die Kinder oft haben.«

Er nickte und schloß die Augen. Und so, mit geschlossenen Augen, sagte er ruhig: »Da tu dich nit sorgen, gutes Maidl! Das ist, was die Leut den Dreißiger heißen. Da gibt's ein Mittel dafür.«

»Gelt, ja?«

»Da hilf ich, Maidl, jetzt gleich.«

»Jesus!«

»Und vergelt's Gott für das liebe Kind! Dem will ich ein guter Vater sein.«

Die Traudi lachte, als wäre ihr der leuchtende Himmel ins Herz gefallen.

»Hast du einen Mantel?«

Sie sprang ins Haus.

Malimmes öffnete die Augen. Er sah das wunde Gesichtchen des Kindes an. Und sah wie ein Irrsinniger die Gasse hinauf. Und sah zur Mauer hinunter. War da drunten nicht ein Törlein, das zur Holzländ führte? War da draußen nicht die rauschende, reißende Donau?

Nun strich er mit der Hand über die dünnen Härchen des Kindes hin, hüllte den kleinen Schleier drüber und sagte leis und zärtlich: »Paß auf, Kindl, was du für einen guten Vater hast! Was ich für dich tu, das bringen die besten nit fertig.« Die Augen schließend, spannte er seine stählerne Faust um die Schläfe dieses kleinen, vergifteten Lebens.

Da kam die Traudi mit einem grünen Mantel.

»Recht so, Maidl! Auf dich ist Verlaß! Bist noch allweil die Richtige.« Er hüllte den Mantel um das Kissen und ging der Mauer zu. »Jetzt komm!«

Sie lief neben ihm her wie ein treues, gläubiges Tier neben seinem Herrn. Und da fing er ruhig und heiter zu reden an. »So ein Dreißiger bei einem Kind, das ist nur wie bei einem großen Menschen ein Schnitt in den Finger. Man taucht das kranke Kind in fließendes Wasser. Dreimal. Und in drei Wochen ist das Kind wieder heil, ist gesünder und schöner als je. Dann reitet man in die Ramsau, selbdritt auf einem guten und festen Gaul. Da kauft man sich in ein Gütl hinein, das leer geworden. Und da schafft man und ist zufrieden. Und da ist man beisammen und lebt, wird alt und stirbt, und Kreuz darüber, und aus und gar ist's, und schöner hätt's nit sein können!«

Traudi, ein bißchen zweifelnd, fragte in ihrer bangen Freude: »Tust dich nit scheuen vor mir?«

Er schüttelte den Kopf. »Der Krieg ist schuld. Du bist die Beste gewesen. Und bist's noch allweil. Gott will nit, daß eins büßen muß durch ein langes Leben, was andere verschuldet haben.«

Die Traudi bekam Augen, als hätte sie schweren, süßen Wein getrunken.

Malimmes ging auf den Wärter des kleinen Tores zu und flüsterte die Losung des Tages: »König und Reich!« Und sagte laut: »Befehl meines Fürsten. Ich muß eine gute Mutter und ihr liebes Kind geleiten. Nachher komm ich wieder.«

Der Strom und drüben die Insel Wöhrd und die Bogen der Steinernen Brücke, alles war schon von den grauen Schleiern der Dämmerung umhangen. Das starke Rauschen des nahen Wassers verschlang jedes andere Geräusch.

Die schmale Holzländ zwischen Mauer und Strom, wo in der Mittagsstunde viele Tausende ihr »Kaiser! Kaiser! Kaiser!« geschrien hatten, war öde geworden. Nicht völlig. Ein paar graue Menschen saßen wie schlafend gegen die Mauer gelehnt. Sie gaben keine Antwort, als Malimmes grüßte: »Guten Abend, Leut!« Und einer lag ausgestreckt auf der Erde, mit dem Gesicht nach unten. »Maidl, da mußt du ausweichen! Wird wohl ein Rauschiger sein.« Er stieg zu einem Floß hinunter. Den Mantel knüpfte er wie ein Bündel um das Kissen herum. »So, Majdl! Jetzt beten wir. Alles Hilfreiche muß mit Gott geschehen.« Auf den Knien liegend, betete er mit hochgefalteten Händen, wie die Kriegsknechte beten, bevor sie morden müssen.

Die Traudi betete froh und gläubig, mit heller Stimme.

»Also, Maidl! Jetzt nimm den Mantelknoten um den Hals herum. Da hebst du das gute Kindl leichter. Und dreimal eintauchen, flink und fest. Und jedesmal mußt du sagen: ›Gott soll uns gnädig sein!‹«

Malimmes erhob sich, während Traudi auf den Knien blieb. Sie hatte ein bißchen Angst vor dem starken Rauschen des Wassers. Aber was der Malimmes will, das tut man, weil es das Gute und Rechte ist. Gehorsam schob sie den Kopf unter den Kreuzknoten des Mantels. »Gott soll uns gnädig sein!« Sie ließ den dunklen Binkel hurtig hinuntertauchen. Das reißende Wasser schoß in den Mantelsack und zog wie ein Riese. Die Traudi kreischte noch: »Hilf, Malimmes!« Und verschwand im jagenden Schuß der Wellen.

»Ist schon geholfen, du arme Tochter!« Malimmes bekreuzte sich. »Gott soll mir gnädig sein! Die Menschen täten mich verdammen.«

Lange stand er unbeweglich und sah dem Gewirbel der rauschenden Wellen nach, bis der Abend ihn umhüllte mit dunklem Grau.

Als er langsam zurückging zu der Mauerpforte, brannten auf den Türmen und Basteien unter Glockengeläut die Pfannenfeuer und Ehrenflammen auf.

Über allen Dächern glomm ein strahlendes Leuchten, vor allen Fenstern flackerten die Lichterschnüre auf den Gesimsen. Griechische Feuer wechselten in weißen, roten und grünen Farben.

Ein jubelnder Lärm in allen Gassen. Und auf dem Platz vor dem Stadthaus ein wogendes Stimmengebrause.

So dick standen da die Menschen, daß Malimmes den Weg zum Wadmarkte nur mühsam erzwang. Er sah noch, wie auf dem kleinen Erker des großen Ratssaales der König und die Königin mit den Herzögen von München und Landshut im strahlenden Glanz der tausend Lichter erschienen. Und da begann im Jubel der anderen auch Malimmes zu schreien: »Kaiser! Kaiser! Kaiser!« Seine Stimme war wie eine Trompete und schmetterte, daß alle Leute, die um ihn her waren, zu lachen anfingen.

Wie betrunken war er. Und immer wieder schrie er: »Kaiser! Kaiser! Kaiser!«

Die grelle Stimme flog so scharf über das brausende Jubelgewoge hinaus, daß sie auf dem Erker der Fürstlichkeiten deutlich zu hören war. Die schöne Königin lachte belustigt auf. »So hört doch! Hört! Da drunten wiehert ein Elefant!«

»Die Stimme kenn ich«, sagte Herr Heinrich, dem das braune Gesicht vom genossenen Weine brannte, »das ist einer von den meinen, mein Bester, mein Galgenvogel Malimmes. So hab ich ihn schreien hören einmal in hartem Gefecht, wie er in Sorg um einen jungen Buben war. Der hat eine Gurgel wie keiner mehr. Und alles kann er besser als andere.«

»Alles?« Frau Barbara kicherte, und neugierig suchten ihre Augen in dem von Lichterschein beglänzten Gewühl des Volkes.

»Alles?« wiederholte der kleine Herzog. Er lachte. »Da bin ich überfragt. Aber was ich weiß von ihm, reicht aus. Das ist das mannhafteste Mannsbild, das ich je gesehen hab auf der Welt. Ist schlechter als schlecht und besser als gut.«

Die wunderliche Neugier der Königin wuchs.

»Der beweist das Leben und widerlegt den Tod. Schon siebenmal hat er im hänfenen Strick gehangen und ist jedesmal aus der Schling lebendig wieder herausgesprungen ins unsterbliche Lachen.«

»Siebenmal gehangen? Und siebenmal wieder auferstanden?« Die Königin hatte die glänzenden Augen eines staunenden und begehrlichen Kindes. »Den will ich sehen.«

Der Herzog sagte scherzend: »Aber da müßt Ihr Eure Zofen ermahnen, daß sich keine in ihn verliebt. Der Mann ist so keusch wie ein steinernes Heiligenbild.«

»Gibt es solche?«

»Der ist einer.«

»Das glaub ich nicht.« Belustigt schüttelte die schöne Frau das von kupferroten Locken umzitterte Köpfchen, das die zierliche Krone trug. »Heilige gibt es nur im Himmel. Auf Erden sind auch die Männer selten.«

Als der König mit anmutsvollen Handbewegungen das jubelnde Volk zum Abschied grüßte und dem Hochsitz der Fürstentafel zuging, hängte sich Königin Barbara an den Arm des kleinen Herzogs.

Über dem bunten Farbengewirr der sieben lärmvollen Tafeln schimmerte der große, schöne Saal von strahlendem Licht. Der Wein begann schon die Stimmen rauh und laut zu machen. Das Schwatzen wurde zum Geschrei, die Heiterkeit zum Gebrüll. Der König, der die Ausbrüche trunkener Stunden kannte, hatte seiner Gemahlin schon einen Wink zum Aufbruch der Frauen gegeben. Das wollte die Königin nicht bemerken; in Eifer und mit schimmernden Augen lauschte sie den seltsamen Dingen, die Herzog Heinrich von seinem Galgenvogel Malimmes berichtete.

Zwei Ratsherren kamen mit dem Goldenen Buche der Stadt zur Fürstentafel, damit der Herrscher und die Herzöge den festlichen Tag durch weise Worte verewigen möchten. Freundlich plauderte der König mit den beiden Bürgern über die Not der Zeit und schrieb in das Buch: »Streitigkeiten sollte man mit guten Worten schlichten, nicht aber mit bösen Streichen.« Diesen Weisheitsspruch der Majestät glossierte der Narr durch die Anmerkung: »Könige wissen immer das Rechte. Aber sie tun es nie.«

Darunter schrieb Herzog Ernst von Bayern-München: »Gott hat den Frieden erfunden, der Teufel erfand den Krieg.«

Friedrich von Zollern schrieb: »Wird ein Bauer erschlagen, so zittert die Krone seines Fürsten; wird ein Bauer geboren, so wächst das Reich. Das Volk ist Volk auch ohne uns Fürsten, wir sind nicht Fürsten ohne das Volk.«

Als Herzog Heinrich diese Worte las, nickte er seinem Schwager lächelnd zu und schrieb mit seinen flinken, kritzeligen Buchstäbchen darunter: »Leichter als den Verlust eines Dukaten verschmerzt die Welt den Totschlag von tausend Menschen. Wo Menschen sterben, gewinnt das bleibende Leben. Da werden die Leute tüchtiger, weil vier Fleißige leisten müssen, was früher zehn Faule nicht zustande brachten.«

Herzog Wilhelm von München, der nicht las, was die anderen geschrieben hatten, bereicherte das Goldene Buch durch den alten Vers:

»Was du weißt, verschweig, Wo dir wohl ist, bleib, Was du hast, behalt, Werd mit Lachen alt!«

Kardinal Branda schrieb lateinisch: »Gott und Petrus. Dann das andere.«

Der Ingolstädter, als man das Buch vor ihn hinlegte, lachte heiser, tat aus seinem Becher einen schweren Trank, sah zum Ende der Tafel hinunter, wo der Bucklige in guter Laune zwei junge Damen der Königin zu verlegenem Gelächter brachte – und schrieb:

»Ich hab an einer Gewohnheit gelitten: So oft ich bin von Haus geritten, Tat ich zu Gott ein heiß Gebet, Daß ich bald wieder heimkommen tat. Jetzt bitt ich meinen Herrgott sehr, Daß ich heimkomm nimmermehr.«

Als das Goldene Buch nach langem Wandern zum Ende der Tafel kam, schrieb Ludwig Höckerlein mit zierlicher Klosterschrift ein einziges Wort unter die Verse seines Vaters:

»Amen!«

Während er neben dieses Wort ein gekröntes Kreuzlein malte, gab es im Saal einen scharrenden Lärm. Frau Barbara hatte sich erhoben. Der König küßte seine schöne Gemahlin vorsichtig auf beide Wangen. Geführt von Edelknaben mit Windlichtern, unter einem Schmettertusch der Musikanten und unter den jubelnden Zurufen der Fürsten, Ritter und Ratsherren verließ die Königin mit allen Frauen den Saal.

Ihrer Sänfte gingen die städtischen Pfeifer voran, und in den lichtschimmernden Gassen begleitete sie der fröhliche Jubel des Volkes bis zur Türe des Gumbrechtischen Hauses.

Eine Stunde später, als die strenge Bierglocke der Stadtpolizei schon geläutet hatte und die dunkelgewordenen Gassen zu veröden begannen, huschte eine verhüllte Magd durch ein enges Gäßlein. Sie lief zum Platze vor dem Stadthaus und blieb da wartend in einem Winkel stehen.

Droben im Saal war die Bankettmusik verstummt. Doch hinter den erleuchteten Fenstern tobte noch immer der heitere Lärm der betrunkenen Herren.

Vornehmen Gästen, die den Saal verließen, wurde mit Wachsfackeln heimgeleuchtet. Mancher ging aufrecht, mancher taumelte.

Den Herzog Heinrich, dem sehr übel geworden war, trug man zum Mallerschen Hause auf den Wadmarkt.

Dann kam eine kleine Schar junger Hofleute. Bei ihnen war der Narr des Königs und ein Mißgestalteter in schimmerndem Festkleid. Er benahm sich sehr übermütig und machte Scherze, die seine Begleiter bei stetem Gelächter erhielten. Inmitten dieser Überfröhlichen ging ein hochgewachsener Mann mit anmutigem Schritt, schweigsam, über dem Kopf einen schwarzen Ratsherrenmantel. Die Nachtschwärmer zogen hinunter zum Latron. Hier lag, der alten Kapelle gegenüber, das von einem Gärtlein umzogene Frauenhaus, der armen Töchter süße Herberg, in der die Stadt auf ihre Kosten ein heiteres Nachtfest bestellt hatte.

Dem lärmenden Häuflein war die verhüllte Magd bis zum Latron nachgegangen. Als sie den Mann mit dem schwarzen Ratsherrenmantel im Gärtlein des Frauenhauses verschwinden sah, lief sie schnell durch die stillen Gassen zurück.

Das Rauschen der Donau schwamm in der kühlen, sternhellen Herbstnacht. Aus der Richtung des Ostentores klang ruhelos ein dumpfes Summen. Und vom Tiergarten dröhnten die Orgeltöne brünstiger Hirsche.

Auf dem Wadmarkt, in einem Zelte vor dem Haus der Maller, wurde ein Schläfer geweckt, der in den Kleidern auf den Pferdedecken lag. »Komm!« flüsterte der Hämischer, der ihn aufgerüttelt hatte.

Eine ruhige Stimme: »Was ist denn?«

»Komm nur!«

Als Malimmes vor das Zelt hinaustrat, wurde ihm rasch eine dicke Binde um die Augen geknüpft. »So so?« Er lachte ein bißchen. »Jetzt weiß ich nit, holt mich der Henker, oder ist was anderes los?« Eine linde Hand umfaßte seine knöcherne Faust. Er sagte verdrießlich: »Höia, jetzt weiß ich, wie ich dran bin. Die Menschen leben in harter Zeit. Da muß man so einer armen Seel einen Spaß vergönnen.«

Es ging sehr flink durch die stillen Gassen. Neben dem festen Schritt des Söldners rauschte immer das Kleid der Magd.

11

Malimmes, noch immer mit der Binde um die Augen, spürte einen zarten Duft von Rosenwasser, Lavendel und reifen Birnen. »Teufel, da schmeckt's aber fein. Beim Hallturm hat's übler gerochen.«

Ein leises Kichern.

Er hob den Kopf. »Ui, jetzt bin ich angeschmiert. Ich hab gemeint, man holt mich zu einer. Da kudern viere. Und eine steht hinter mir, die sich nit zu mucksen traut.«

»Deine Sinne sind scharf!« sagte ein leises, heiteres Stimmchen. »Wer bist du?«

»Kluge Frauen fragen nit, was sie schon wissen. Warum die Zeit vergeuden?«

Wieder das vierstimmige Kichern. Und das heitere, leise Stimmchen: »Bist du jener Malimmes, der schreien kann wie ein Elefant?«

»Soll ich's tun, Frau?«

Ein erschrockenes Nein. Dann die flüsternde Frage: »Bist du jener Malimmes, der siebenmal hängen mußte und siebenmal wieder auferstand?«

»Siebenmal? Ganz sicher weiß ich's nit. Kann auch bloß sechsmal sein. Oder der Hänfene des Fischbauren vom Hintersee müßt gelten als voll!« Seine Stimme wurde ernst. »Nachher wird's wohl so sein, daß jetzt der achte kommt, der gefährlich ist.« Er streckte sich. »So in der Finsternis, das taugt mir nit. Ich muß Licht haben. Frau, ich bin ein Verläßlicher. Ich red nit aus, was ich seh.« Er nahm die Binde herunter und warf sie fort. Die Magd, die ihn hergeführt hatte, hob das Tuch vom Teppich und verschwand.

Eine große, schöne, matt beleuchtete Stube mit kunstvoll geschnitzem Getäfel, mit wertvollen Bildern auf Goldgrund, mit dem Gefunkel silberner Geräte. Gegen die Gasse lag ein mächtiges Fenster, in dessen bunten Scheiben die Wappen des Bayerlandes einen aufrechten, mit der Tatze schlagenden Löwen umgaben. Eine offene Türe führte zu einer Kammer, in der eine farbige Helle war.

Ein leerer Sessel vor einem kleinen Tisch, auf dem eine Platte mit Früchten, ein schwerer Krug und fünf zierliche Becher standen. Hinter dem Tisch eine geschnitzte Bank mit roten Polstern. Da saßen vier junge schmucke Weiblein, alle gleich gekleidet wie die Dienerinnen einer fürstlichen Frau. Jede von ihnen hatte um den Kopf einen rötlichen Schleierbund, der die Stirn, die Augen und auch das halbe Naschen bedeckte.

Malimmes guckte rasch über die vier Frauen hin, und forschend blieb sein Blick an der einen haften, die zierlicher war als die anderen; sie hatte ein rosiges, heiteres Mädchengesicht; doch die schweren, schwarzen Locken, die wie zwei starre Wände über die nackten Schultern bis zu den halb entblößten Brüsten herunterhingen, machten das kleingesichtige Köpfchen ein bißchen unförmig. Und immer betrachtete sie den Malimmes, immer lächelte sie; er schien ihr zu gefallen.

Der lange Söldner tat einen schwülen Atemzug; dann sagte er ruhig: »Da sieht man so viel schöne Sachen, daß man gar nimmer weiß, wo man hinschauen muß.« Er sah die Platte mit den Früchten an. »Das tät mir taugen. Am Abend bin ich nit zum Speisen gekommen. Da hab ich nötige Sachen erledigen müssen. Jetzt hungert mich. Darf ich zugreifen?«

Die mit den schwarzen Locken sagte: »Alles darfst du!« Die drei anderen kicherten.

»Das wär ein lützel zu viel. Man muß genügsam nach dem Besten greifen.« Er nahm die schönste Birne von der Platte, ließ sich auf den Sessel nieder und biß in die Frucht. Sie schmeckte ihm, und während er wortlos schmauste, guckte er ein bißchen spöttisch die vier jungen Frauen an. Auch gab er sich Mühe, nett und reinlich zu essen. Bevor er nach einer neuen Birne griff, säuberte er an seinem braunen Langhaar die Finger.

Mit vorgestreckten Hälsen sahen ihm die munteren Weibchen in wunderlicher Neugier zu. Immer hatten sie über ihn zu lachen. Halb war's ein Auslachen, halb ein Gekicher des Wohlgefallens.

»Warum bist du so schweigsam?«

Ohne zu antworten, aß er eine Frucht zu Ende. Dann sagte er: »Man schwätzt nit, derweil man schluckt. Das können die Herren tun, die keiner anraunzt. Ein Knecht muß gute Sitten haben. Jetzt bin ich satt, jetzt kann ich reden. Also, ihr feinen Knösplein? Weswegen bin ich da? Man wird's mir sagen müssen.« Er schmunzelte. »Selber komm ich nit drauf.«

»Du sollst uns erzählen, warum man dich siebenmal gehangen hat.« Immer sprach nur die Schwarzgelockte. »Und wie du siebenmal wieder lebendig wurdest. Willst du?«

»Meintwegen! Aber bloß ein Karren pfeift, wenn er trücken ist. Ein Mensch, der reden soll, muß den Schnabel feuchten.«

Alle viere griffen nach dem Krug. Die mit den schwarzen Locken sagte: »Ich will ihm geben.« Sie füllte die kleinen Becher.

Als vier Becher gefüllt waren, stülpte Malimmes den fünften um. »Die taugen für eure dünnen Hälslein. Ich hab noch nie aus einem Fingerhütl getrunken. Ich nimm den Krug.«

Ein heiteres Lachen. Und die Schwarze sagte lustig: »Nein, du Genügsamer! Für uns soll auch noch bleiben.« Sie glitt zur Wand hinüber und streckte sich, um von dem Bord mit dem Silbergerät einen getriebenen Kupf herunterzunehmen. Dabei sah man, wie leicht sie gekleidet war.

Malimmes bekam eine Furche auf der Stirn und schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, versuchte er zu lachen und nahm den großen Becher, den man für ihn gefüllt hatte. Ein leichtes Beben war in seiner Stimme: »Euch zum Wohlsein, ihr feinen Frauen! Auf alles Gute und Schöne der Welt! Dessen ist so viel, daß man nit greifen muß nach dem Schlechten. Wer's tut, soll hängen.« Er hielt ihnen mit der eisernen Faust den Becher hin, den sie ein bißchen verwundert und ein bißchen erregt mit den kleinen Kelchen antippten. Zuerst nahm Malimmes nur einen kurzen Schluck, um zu kosten. »Teufel! Ist das einer!« Er leerte den Becher mit einem flinken Sturz und lachte: »Der kann einen Heiligen um die fromme Seel betrügen und einen Sünder um die letzte Reu.« Die Hand streckend, fragte er, in der Stimme ein heißes Betteln: »Also, krieg ich noch einen?«

Unter übermütigem Lachen füllte ihm die Schwarzgelockte den Silberkupf; die drei anderen wurden ängstlich, guckten einander an und hätten es gern gehindert.

Malimmes merkte ihre Sorge. »Um meinetwegen, ihr feinen Knösplein, müssen euch nit die Graushaar wachsen. Mich hat noch kein Roter und kein Weißer umgeschmissen. Meine Seel bleibt hell.« Er leerte den tiefen Kelch, als wär's eine Haselnußschale. »Das ist gewesen wie ein Tröpfl auf glühendem Ofen.« Die Schwarze, deren Lachen einen seltsam gereizten Klang bekam, füllte ihm gleich den Becher wieder. Er sah den dunkel rinnenden Strahl des Weines an. »Den hab ich noch nie gekostet. Wie heißt denn der?«

Sie neigte sich flüsternd zu ihm: »Lacrimae Christi, Tränen des lieben Herrn.«

Die Augen des Malimmes wurden groß. Er hielt den vollen Becher vor sich hin. »So ist's ein billiger. Weil's mehr von ihm geben muß als Wasser und Blut. Das ist ein Jahr gewesen, in dem der liebe Herr hat weinen müssen vom ersten Morgen auf dem Hängmoos bis zum heutigen Abend bei der Steinernen Brück.« Er stand vom Sessel auf, hob den Kelch und sah zur Stubendecke: »Du lieber Herr, schau her, ich trink, daß du bald wieder lachen sollst!« Er schlürfte den Wein mit ruhigen Zügen. Und stellte den Becher auf den Tisch. Und als die wunderlich erregte Schenkin den Krug wieder heben wollte, sagte Malimmes streng: »Nit schöne Frau! Heut trink ich keinen Tropfen nimmer!«

Sie reichte den Krug den drei anderen hin, trat flink auf den langen Söldner zu, streckte sich, hob den Arm, dessen weiter Ärmel bis zur Schulter fiel, und während in ihrem halbverhüllten Gesicht eine heiße Spannung war – wie im Gesicht eines Kindes, das einen seltenen Schmetterling gefangen – strich sie mit dem Finger langsam und zart über die große Narbe herunter.

Das kitzelte den Malimmes, daß er sich schütteln mußte. Er sagte mit einer tollen Lustigkeit: »Gotts Tod! Wenn die Leut mich hängen das achtemal, und ich bleib im Hanfsamen und rühr mich nimmer, schöne Frau, da müßt Ihr kommen mit Eurem Fingerlein. Und ich steh wieder auf.« Er strich mit dem Arm über seine Stirn und warf sich lachend in den Sessel. »Guck, ich vergiß ja schier, weswegen ich da bin. Und daß ich erzählen muß! Ich will doch die Tränen des lieben Herrn nit umsonst genossen haben. Also!« Er zog das rechte Bein übers linke Knie herauf. »Wie ich zum erstenmal hab hängen müssen, das ist im Ungerland gewesen –« Dieses hänfene Abenteuer berichtete er so ähnlich, wie er's im Ramsauer Leuthaus erzählt hatte, damals, als er wider Willen die Traudi mit Herz und Leib gewonnen. Doch alles hatte jetzt einen noch heißeren Puls, ein tieferes Grauen, eine wildere Freude. Die zierliche Frau mit den schwarzen Locken bekam schon bei dieser ersten Geschichte vor prickelndem Schauer ein leises Zähneschnattern.

Als Malimmes den zweiten Hänfenen an den Eichbaum im Clevischen knüpfte, wurden die lauschenden Weiblein zappelig vor Neugier nach der bösen Sünde, durch die er des Rappenholzes schuldig geworden. Sie baten, wurden ärgerlich, reizten ihn durch Spott und wollten ihm die Wahrheit abschmeicheln. Er schüttelte lachend den Kopf. »Und nit ums Leben! Ich sag's nit. Und nit um euren süßen Leib. Das Ding ist grauslich gewesen. Ich tät mir lieber die Hand abhacken, eh daß ich was Schieches hinlegen möcht vor eure lieben, sauberen Füßlein.« Und während sie noch baten und schmeichelten, erzählte er schon weiter, ließ den Blitz mit Gerassel herunterfahren in den Eichbaum und malte den Heiligenschein, der die Sünde des Malimmes umlodert hatte, mit so schaudervollem Humor, daß die Frauen stumm wurden und sich zitternd aneinanderhuschelten. Dann wandelte die lustige Geschichte vom Ulmer Schragen und vom ungeschickten Freimann ihr abergläubisches Gruseln in heiteres Gelächter. Und als er vom Wolf erzählte, der den mageren Schultheiß zu Landshut fraß, vom empfindsamen Henker, der das Frieren nicht vertrug, und von der Schlittenfahrt auf dem dünnen Hosenboden, spickte er das Bild des kleinen, verdutzten Herzogs mit den Kletten eines so beißenden Spottes, daß die Zierliche vor Freude und Lachen ganz närrisch wurde.

Nun rauschte die Ramsauer Ache. Und es zitterte ein weher Ton durch die übermütige Lustigkeit des Malimmes, als sein Bidenhänder die fliegenden Eier in der Luft zerschnitt und als der schlechte Reusenstrick des Fischbauern vom Hintersee entzweisprang wie eine kraftlose Saite bei verrücktem Spiel.

»Das will ich sehen!« bettelte die junge Frau wie eine Fiebernde. »Das mußt du mir zeigen. Willst du? Willst du?«

Er lachte rauh. »Einer schmucken Frau tut man alles zulieb.«

Ihr Stimmchen zitterte. »Komm her zu mir! Knie nieder vor meinem Schoß! Ich will die Schlinge machen. Ich lege sie um deinen Hals. Dann mußt du wieder auferstehen. Willst du? Willst du?«

Malimmes nickte und ließ sich niederfallen.

Immer lachte sie, war wie eine hübsch Betrunkene, und während sie die Gürtelschnur an ihrem leichten Kleide löste, wies sie die anderen Frauen mit einem herrischen Wink aus der Stube.

Er hörte die leisen Schritte und das Rauschen der Gewänder. Seine Augen wurden klein. Doch er wandte keinen Blick. Mit einem sonderbar starren Lächeln sah er an der zarten, heiß erregten Frau hinauf. Und als sie ihm mit bebenden Händen die Schlinge der Gürtelschnur um den Hals legte, beugte er den Kopf zurück, wie in Sorge, daß ihre Brüste sein Gesicht berühren könnten.

»Darf ich?« fragte sie mit der Ungeduld eines glühenden Kindes und wollte die Schlinge straffen.

Da faßte er die Schnur mit den Fäusten und lachte müd, während ihm das Gesicht wie Feuer brannte. »Ein lützel langsam! Das ist der achte. Der könnt mir gefährlich werden. Da muß ich Fürsicht üben. Und für den Fall, daß der Spaß heut schiefgeht – da möcht ich mich erst noch ledig machen von meiner Pflicht. Ich muß doch erst erzählen vom sechsten und vom siebenten Hänfenen. Nit?« In seinen Worten war etwas so Unheimliches, daß die junge Frau erschrocken vor ihm zurückwich und schlaffe Hände bekam. »Das sechstemal, das ist zu Berchtesgaden gewesen. Da haben sie mich hängen wollen, weil ich ein Esel war. Und einer hat mich gelöst. Dem hab ich's teuer bezahlen müssen.« Seine Stimme zerbrach. »Und das siebentemal, das ist bei Dachau geschehen. Da wär ich von Herzen gern gestorben, schöne Frau!«

Sie fragte leise: »Warum?«

»Weil ich am selbigen Tag so arm geworden bin wie eine Maus, der man die Kirch verbronnen hat. Und da hat mich ein Grausamer wieder herausgerissen ins Leben. Ich hab's ihm nit gedankt. Aber seit heut am Abend weiß ich, warum es sein hat müssen. Bei allem Harten ist ein Gutes.« Er machte eine Bewegung, wie um etwas Schweres von sich abzuschütteln. »Und jetzt? Wenn's dumm geht? Soll ich mich da erwürgen lassen von Eurer spaßigen Lust? Da müßt mir leid sein um Eure weißen Fingerlein! Auch möcht ich noch leben, bis ich auf der Welt ein rechtschaffenes Ding getan.« Durch eine Drehung der Fäuste sprengte er die feste, mit Silber durchwobene Schnur entzwei, ließ die Stücke auf den Teppich fallen und lachte ein bißchen.

Stumm betrachtete sie den Unbegreiflichen. Seine wunderlichen Worte waren dunkle Rätsel für sie gewesen. Doch im Klang seiner Stimme war eine Macht, die sie empfand. Und ganz verstand sie die brennende Marter in seinen Augen. Rasch sich vorbeugend, nahm sie seine Gesicht zwischen ihre Hände und wollte ihn küssen. Er faßte ihre Handgelenke und schob sie zurück. »Nit, schöne Frau! Auf die Letzt ist jeder ein schwacher Mensch. Auch der Stärkste.« Schwül atmend erhob er sich und gab ihre Hände frei.

Seinen Kampf erkennend, fragte sie lächelnd: »Mißfall ich dir?«

Er schüttelte den Kopf. »So ein feines Weibl hab ich im Leben nit oft gesehen.« Und ganz leise: »Nur ein einziges Mal.«

»Heute?« Weil er nicht antwortete, streckte sie die Hand zu seiner Schulter hinauf und schmiegte sich an ihn. Und als er so unbeweglich blieb wie ein hölzerner Pfahl, griff sie nach seinem ergrauenden Bart, zupfte ein bißchen und fragte scherzend: »Du? Bist du kein Mann?«

»Das bin ich mehr, als mir lieb ist. Ein Jahr lang hab ich hart gehungert. Jetzt ist alles in mir wie ein böses Feuer. Vom Hirn bis hinunter zu meinen Sohlen brennt ein siedender Durst nach Eurem Leib.«

Sie fragte gleich einem verwunderten Kinde: »Warum nimmst du mich nicht?«

»Weil ein Mannsbild, das sein Blut nit in der Faust hat, minder ist als ein Vieh.« Seine Augen wurden ruhig. »Und weil ein deutscher Bauer seinen König nit verschimpft.«

Erschrocken fuhr sie zurück und knirschte: »Wer hat dir verraten, wo du bist?«

Malimmes lachte leis. »Ui, mein, Frau Königin! Ich bin doch kein heuriger Has nit. Ein Tüchl macht zwei gute Augen nit blind. Und Ohren hat man doch auch. Und man weiß, was echt und was falsch ist. Möget Ihr nit die fremden, wüsten Haar ein lützel heruntertun? Bitt schön, Frau Königin, lasset einen armen Teufel anschaun, wie schön Ihr seid!«

Schweigend streifte sie den Schleierbund und die schwarze Perücke fort. Das kupferrote Geringel fiel ihr um das heiße Gesicht. Und als sie die Freude in seinen Augen sah, wurde sie verdrießlich und klagte in Zorn: »Du bist ein Narr! Soll ich dir sagen, wo mein Gemahl sich belustigt? In dieser Nacht?«

Gleich verstand er. »Das müßt Ihr ihm abgewöhnen, Frau Königin! So was ist nit gesund. Und tut man's in der Nacht mit Lachen, so kommt am Morgen das Grausen.« Eine Weile standen die beiden stumm voreinander, bis Malimmes in Unbehagen sagte: »Jetzt darf ich wohl gehen? Nit?« Er schritt zur Türe.

Rasch vertrat ihm Frau Barbara den Weg und sah ihn mit glänzenden Augen an. »Ich bin ein verdorbenes Geschöpf. Wären die Männer wie du, wir Frauen wären Heilige.«

Sie hatte das so ernst gesagt, daß er lachen mußte. »Frau Königin, das glaub ich nit recht.«

Heiß fragte sie: »Willst du mir dienen?«

Malimmes schüttelte den Kopf und sagte heiter: »Nit ums Leben! Da könnt's noch schieche Sachen absetzen.« Er wurde ernst. »Ich bin schlechter dran als wie die andern. Jedweder Mensch hat einen doppelten Weg zur Wahl. Der eine geht zur Sonn und der ander zum Unrat. Ich hab bloß einen. Der Weg zur Sonn ist mir vermauert. Und im Unsauberen leidt's mich nit. Muß ich halt zwischendurch.«

Nun hatte die Königin wieder ganz die Augen eines verwunderten Kindes, das ratlos ein unbegreifliches Ding betrachtet. Und schweigend und traurig stand sie, während Malimmes den Saum ihres seidenen Ärmels küßte und zur Türe ging. Bevor er die Klinke niederdrückte, sah er die kleine, zierliche Frau noch einmal an. Er hörte sie noch leise sagen: »Wir sehen uns wieder!« Dann verließ er die reiche Stube.

Draußen beugte er tief den Kopf herunter, um das Knüpfen der Tuchbinde zu erleichtern. »So! Jetzt bin ich wieder ein blinder Ochs!«

Die Magd verließ mit ihm das Haus. Auf dem Haidplatz hörte Malimmes einem Arbeitslärm von vielen Menschen, das Hämmern, Sägen und Hobeln der Handwerksleute, die für das feierliche Friedensfest den Thronhimmel des Königs bauten, die Hochsitze für die Fürsten und die Schranken für das Volk.

Man schanzte und schaffte da die ganze Nacht. Das Brettergerüst wurde beim Flackerschein der Fackeln mit rotem und gelbem Tuch beschlagen. Die Arbeitsleute, die ihren Bürgerschlaf für eine prunkvolle Bekundung des Friedens opferten, bekamen Freiwein und gerieten in schwatzlustige Stimmung. Sie machten unziemliche Scherze, als bei grauendem Morgen ein Häuflein lärmender Nachtschwärmer von Flötenbläsern und Lautenschlägern heimbegleitet wurde. Daß ein hochgewachsener Mann und eine taumelnde Zwergengestalt beim Gumbrechtischen Hause verschwanden, bemerkte niemand. Doch einen unfreundlichen Zusammenlauf der Arbeitsleute gab es beim hochtürmigen Hause der Weltenburger, wo man einen Mißgestalteten, der ein von Rotweinflecken verwüstetes Hofkleid trug und schwer betrunken war, gewaltsam zur Ruhe bringen mußte. Er hatte einen Anfall von Krämpfen, schlug mit den Fäusten um sich, und immer schrillte seine dünne Stimme: »Wenn ich Herzog bin – wenn ich Herzog bin –«

Im ersten Weiß des Morgens bekamen die Gerüste, die man auf dem Haidplatz aufgeschlagen hatte, ein festliches Ansehen. Der Thron des Königs und die Hochsitze der Fürsten wurden mit Wappen behangen, mit Standarten und Laubgewinden geschmückt.

Bei Aufgang der Sonne bezogen zwölf junge Ritter im Gumbrechtischen Hause die Ehrenwache vor den Zimmern des Königs und der Königin und vor der unruhigen Amtsstube des Kanzlers Schlick. Weil die zwölf aus dem Geleit aller Fürsten und Prälaten gewählt waren, die einander bekriegt hatten und sich heute versöhnen sollten, fanden sie für sich selbst den scherzhaften Namen: die zwölf Friedensengel.

Für den heiligen Peter von Berchtesgaden war Lampert Someiner da. Er stand mit drei anderen bei der Türe des Königs, mit dem Ellbogen auf den Knauf des blanken Eisens gestützt. Für das leise Geplauder seiner Gesellen hatte er kein Ohr. Immer sah er in das flimmernde Sonnenband, das durch ein hohes Spitzbogenfenster in den gewölbten Treppengang hereinfiel. Draußen kam ein schöner und reiner Tag. Da funkelte wohl heut die gleiche milde Herbstsonne auch über den blauen Bergen seiner Heimat? Und über der Straße von Salzburg nach Berchtesgaden? Während Lampert in die Sonne guckte, sah er immer diese Straße und einen kleinen, eilig trabenden Reisezug von vierzehn Gäulen.

Am verwichenen Abend mußte Jula zu Salzburg eingetroffen sein, auf ihrem Falben, mit dem Knechte, der den zärtlichen Ingolstädter ritt, und mit den zwölf Geleitsreitern, die Lampert zu München angeworben hatte. Durch das schwarze, kahlgebrannte Land von Plaien und über den Trümmerhaufen des Hallturms hatte er seine Jula nicht reisen lassen. Um dieses Grauenvolle nicht zu sehen, mußte sie den Umweg über Salzburg nehmen. Und weil der Morgen so klar und sonnig wurde, war sie wohl schon vor Tag von Salzburg aufgebrochen? Da mußte sie um die siebente Morgenstunde nach Berchtesgaden kommen – um diese siebente Morgenstunde, vor der die abergläubisch gewordene Frau Marianne bei jedem Tageserwachen aufs neue zitterte.

Lampert lachte vor sich hin. Die anderen, die mit ihm die Wache hielten, guckten ihn verwundert an.

Das merkte er nicht. Immer sah er nur die schöne, von der Morgensonne umglänzte Straße zwischen der Gadnischen Ache und dem Untersberg. Sah diese schlanke Reiterin im graugrünen Reisemantel auf dem rasch und zierlich trabenden Falben. Sah die Türme und Firste von Berchtesgaden, sah den Marktplatz, auf dem viel weniger Menschen als im Sommer vor einem Jahr zur Messe gingen, und sah das stillgewordene Amtmannshaus mit den in der ersten Sonne blinkenden Erkerscheiben.

Die Mutter ist schon wach. Frau Marianne ist eine fleißige Frühaufsteherin. Noch immer, obwohl das Trauerjahr schon zu Ende gegangen, ist sie schwarz gekleidet. Aber Glockenschürze, Ärmelschoner und Morgenhäubchen machen sie ganz weiß. Wie an jedem Tage, so denkt sie auch heute, seit sie die Augen aufgetan, immer und immer an ihren Buben. Und bei der Frühsuppe, die sie einsam löffelt, guckt sie immer wieder mit ihrem Sorgenblick zu dieser schrecklichen Uhr hinauf, die sie lieb hat und hassen muß. Im alten, hohen Pendelkasten immer die gleiche Stimme: »Bau! Bau! Bau!« Und gleich wird der Hammer schlagen, siebenmal. Und wie an jedem Morgen so denkt Frau Marianne auch jetzt in Zittern: ›Ob heut das Unglück kommen wird? Um die siebente Morgenstund?‹

Vom groben Pflaster des Marktplatzes klingt das Gehämmer vieler Hufe herauf. Die Rosse halten vor des seligen Amtmanns Haus. Erschrocken springt Frau Marianne zum Erker, stößt das Schubfensterchen in die Höhe, fährt mit dem Kopf in die Morgensonne hinaus und schreit beklommen: »Jesus! Was ist denn?«

Da drunten beugt eine Reiterin in graugrünem Mantel den Kopf zurück. Dichtes Haar quillt aus der dunklen Gugel heraus. Und zwischen den schwarzen Strähnen sieht Frau Marianne ein schmales, sonnverbranntes Mädchengesicht mit der Leidensschrift eines bösen Jahres in den strengen Zügen, mit scheuer Freude im Blau der großen Augen. Und eine linde, von der Aufregung ein bißchen zugeschnürte Stimme ruft von da drunten zum Erker herauf: »Gute Botschaft von Eurem Sohn!«

»Jesus!«

Das gleiche Wort, das vor wenigen Sekunden ein Laut des Schreckens war, ist jetzt der Schrei eines heißen Jubels. Und Frau Marianne – obwohl ihr das vergangene Jahr ein Bleigewicht auf alle Gelenke legte, fährt wie ein junges Mädel zur Stube hinaus und über die Treppe hinunter. Und drunten im Hausflur steht sie ratlos und starrt betroffen auf das schlanke Mädchen, das die Gugel des Reisemantels zurückstreift in den Nacken und leise sagt: »Kennet Ihr mich nimmer, Frau? Ich bin der Bub gewesen, dem Ihr das Eisenhütl gegeben habt. Jetzt soll ich die Ehfrau Eures lieben Sohnes werden.«

Frau Marianne steht noch immer stumm. Nun fängt sie zu lachen an. Und mit beiden Händen muß sie nach ihren Knien greifen, die befallen sind von einem heftigen Zittern. »Ich muß mich niederhocken ein lützel.« Sie taumelt zur Steinbank im Hausflur und wird umschlungen von einem jungen Arm, der zärtlich und stark ist. –

– Klirrende Schritte im Treppenflur des Gumbrechtischen Hauses und zwei erregte Stimmen. Lampert Someiner war aufgerüttelt aus seinem Sonnentraum. Er straffte sich und machte mit dem blanken Eisen die höfische Reverenz vor dem Markgrafen von Brandenburg und dem Kanzler Schlick.

Die beiden hatten gut ausgeschlafene Gesichter, doch Augen voll Sorge. Mit dem Morgen war böse Zeitung gekommen. Draußen vor dem Ostentor geschah, was die Stadtväter vor dem Kanzler nicht länger zu verschweigen wagten: Im Geläger der vierzigtausend, die trunken waren vom Freiwein des gütigen Königs, fielen die pestkranken Menschen um wie Fliegen nach einer kalten Nacht. Doch an solche Dinge war man gewöhnt seit vielen Jahrzehnten, seit der schwarze Tod ein seßhafter Bürger im Reich geworden. Das war die mindere Sorge. Was den Kanzler bewogen hatte, den Markgrafen aus der Morgenruhe aufzustören und zum König zu rufen, war eine schwere Kunde, die aus weiter Ferne gekommen – Botschaft von gewaltigen Rüstungen des türkischen Sultans Murad wider Siebenbürgen und Ungarn – und die Botschaft, daß die Hussiten mit zahllosen Heerschwärmen verwüstend aus den böhmischen Wäldern herausbrachen in die oberpfälzischen Lande. Sie äscherten Städte und Dörfer nieder, zerstörten Kirchen und Klöster, verbrannten die Priester, die sie fingen, erwürgten die Herren, die in ihre Hände fielen, predigten dem Volk alle Freiheit und sprachen es los von der Pflicht des Gehorsams gegen Papst und Fürsten. Friedrich von Zollern und der Kanzler betraten die königlichen Gemächer. Durch einen prunkvollen Raum, in dem der Haarkräusler des Königs seine wohlriechenden Siebensachen aus einer Tasche kramte, kamen die beiden in die große Schlafstube. Hier stand eine neue, kupferne Badewanne, in der das heiße Wasser qualmte. Das große Himmelbett war in die Mitte der Stube gerückt, und auf den roten Seidenkissen lag entblößt der König, dem zwei weißgekleidete Badmägde die Gelenke kneteten. Um das mit Salbe belegte Gesicht war ein dicker Bausch von heißer, dampfender Leinwand herumgebunden. Unter diesen Tüchern fragte Sigismund mit erloschener Stimme: »Schlick? Bringst du ihn?«

Statt des Kanzlers antwortete Fritz von Zollern: »Ich stehe vor der Majestät.«

»Was sagst du zur üblen Zeitung dieses Morgens?«

»Man hat gesät. Da müssen die Ähren kommen, wie der Same war.«

Der König machte eine mißmutige Bewegung. Dann befahl er den Mägden: »Hebt Uns in die Wanne! Und verlaßt Uns!«

Die Mägde schoben ihm ihre roten Arme unter Rücken und Knie, trugen die Majestät zur Wanne, hoben sie vorsichtig in das duftende, mit Rosenessenz gefärbte Wasser und erneuerten noch den Dunstumschlag auf dem Gesicht; dann verschwanden sie.

Die Haltung des Badenden war sehr anmutsvoll. Doch weil das Wasser immer schwankte, schien der schöne Mannskörper, der nur wenige Spuren des beginnenden Alters zeigte, unablässig in weiße, rotgeränderte Stücke zerrissen zu werden. Und der gesichtslose Kopf, um dessen dampfenden Leinwandbausch die verwüsteten Braunlocken wirr herumhingen, hatte etwas Unheimliches.

Fritz von Zollern betrachtete in stummer Trauer den Beherrscher des Heiligen Römischen Reichs.

»Unsere Geduld ist erschöpft«, sagte der König unter den dunstenden Tüchern. »Wir gedenken dieser böhmischen Tollheit ein rasches Ende zu bereiten.«

»Wenn das so schnell geschehen könnte, wie es gesagt wird!«

»Wir mußten Lehrgeld bezahlen.« Sigismund lachte. »Jetzt kennt man ihre neue Art, zu fechten.« Während er so redete, spielten seine schönen Hände mit dem rosigen Wasser. »Wir stellen hundertzwanzigtausend Helme ins Feld, die Wir deiner bewährten Führung anvertrauen.«

Der Markgraf schob die Lippen vor und schwieg.

Unwillig fragte die Majestät: »Besinnst du dich?«

»Ein wenig, ja. Sichere Hiebe sind kein erquicklich Ding.«

Da hob der König rasch den Kopf mit der augenlosen Leinwand. »Du? Der immer Starke, immer Gläubige? Seit wann bist du ein Ängstlicher geworden?«

»Das bin ich nicht. Aber eh zwei Kräfte sich messen sollen, muß man sie wägen. Die Schalen stehen ungleich. Bei uns ist Zerwürfnis, Hader und Widerspruch, ein zerrissener Leib und eine versumpfte Seele. Die Gegner haben ein Ziel, nach dem sie brennen, einen führenden Gedanken und einen reinen, unerschütterlichen Glauben, der ihre Kräfte in Stahl verwandelt.«

»Fritz!« Die augenlose Majestät tauchte bis über die halbe Brust aus dem rosigen Wasser. »Bist du ketzerisch angekränkelt von der böhmischen Luft?«

»Ich? Nein. Oder jedes aufrichtige Wort ist Ketzerei. Man braucht kein Gärtner zu sein, um zu wissen, was gesunder Kohl ist. Und man kann auch ein Christ bleiben und dennoch der Meinung sein, daß im Garten Petri viel übles Unkraut wuchert. Man liebt es, die Böhmen kranke Köpfe zu nennen. Aber Fieber ist keine Krankheit, nur Wirkung einer Ursach. Die müßte man heilen. Die Hussiten bekehrt man nimmer. Will man sie nicht zu verstehen suchen, so muß man sie alle totschlagen. Und schlägt man sie alle tot, so wachsen neue nach, mit anderen Worten und mit frischen Zungen, die gegen die kranke Ursach reden.«

Der König, mit einer völlig veränderten Stimme, sagte heiter: »Wir waren töricht in dieser Nacht. Ein schwerer Kopf ist undankbar für große Weisheiten. Wir verstehen nicht, was du meinst.«

»Das läßt sich sagen mit einem kurzen Wort. Ich will die Fahne wider die Böhmen führen, wenn ich nur zu schlagen brauche im Notfall und unbeschränkte Vollmacht habe, mit den Hussiten zu verhandeln.«

»Verhandeln?« Sigismund schien nachdenklich zu werden. »Was soll bei solchem Handel zutage kommen?«

Mit schwerem Ernst beugte sich der Markgraf gegen das blinde Gesicht des Königs: »Vielleicht ein Weg, auf dem wir in Deutschland die Kirche deutsch und einig machen.«

Ein langes Schweigen. Nun ein leichtes Geplätscher in der Wanne. Und belustigt sagte Sigismund: »Mancher wird heute Ursach haben, saure Fische zu essen. Du wirst beichten müssen.«

Dem Markgrafen ging es heiß über die Stirne. Doch ruhig sagte er: »Ich fühle mein Gewissen nicht beschwert. Die Majestät möge meinen Rat bedenken. Jetzt kommen die Böhmen. Hinter ihnen die Türken und Heiden. Sie niederzuwerfen, wäre für die eingeborene Kraft des Reiches ein Kinderspiel. Aber der deutsche Riese hat viele Nächte voll ungesunder Torheit hinter sich. Saure Fische helfen ihm nimmer. Soll er vor den Dingen, die kommen, nicht in Schwäche zittern, so muß man ihm die Stirn mit Feuer salben, die Augen sehend machen und den erschöpften Leib in erfrischenden Gedanken baden.«

Nach kurzem Schweigen schob der König mit einer anmutsvollen Armbewegung den Leinenbausch über die Stirne hinauf. Sein edles Gesicht war ohne Runzeln und hatte rosige Farben. »Hochgeborener Herr Markgraf!« Er lächelte. »Euch verdanken Wir viel. Unser Dank hat Euch emporgehoben zum Mut dieser Stunde. Manches mögen wir Euch gestatten. Nicht alles!« Mit beiden Händen faßte Sigismund die Kanten der Kupferwanne. »Wo sind die Mägde? Unser Bad ist kühl geworden.«

Fritz von Zollern öffnete die Tür und rief in den anstoßenden Raum hinaus: »Ihr! Heda! Flink! Die Majestät muß frieren.«

Die zwei Mägde und der Haarkräusler waren rasch zur Hand, sorgten für neue Wärme und wuschen dem König die von einer törichten Nacht verwüsteten Locken. –

Gegen die neunte Morgenstunde begannen alle Glocken der Stadt zu läuten, um den jungen Frieden der bayerischen Lande zu grüßen, den diese Stunde gebären sollte. Die Fürsten und Prälaten, mit ihnen die Bürgermeister der freien Städte und der herzoglichen Residenzen, kamen zum Gumbrechtischen Hause, um die Majestät in feierlichem Zuge nach dem Stadthaus zu geleiten. Mancher von den edlen Herren sah sehr ungemütlich drein, nicht aus politischen Gründen. Der kleine Herzog von Bayern-Landshut hatte ein Gesicht, das einer grünen Olive glich; er litt, obwohl er nicht unmäßig getrunken hatte, an einem Katzenjammer, bei dem er jedes Haar auf seinem gesalbten Haupte wie einen giftigen Nadelstich empfand.

Der Haidpiatz war erfüllt von einer drängenden Volksmenge, die den freundlich grüßenden König mit stürmischer Zärtlichkeit umjubelte.

Und immer war das Stadthaus von Stimmengewirr umgeben, während im großen Ratszimmer hinter verschlossenen Türen um den Frieden gehandelt wurde. Es ging da drinnen sehr lärmvoll zu, und die erregten Stimmen wuchsen immer kräftiger, während im Vorraum die Tische zu einem Erquickungsmahl gedeckt und mit leichten Weinen, mit gesäuerten Getränken, geräucherten Saiblingen, gesulzten Renken und mit Bratwürstchen auf Sauerkraut bestellt wurden. Das alles duftete sehr einladend, und mancher von den edlen Herren kam schon aus dem Ratszimmer heraus, noch ehe der erste Teil der Verhandlung erledigt war: die Schlichtung des persönlichen Streites zwischen den Herzögen Heinrich und Ludwig wegen des Konstanzer Überfalles.

Der Ingolstädter war im Zorn der Stunde wie ein gereizter Tiger und stellte maßloße Forderungen: »Man soll den fahrigen Mörder Heinrich aller Ehren und Würden entkleiden und soll ihn richten nach dem Spruche: Aug um Auge, Zahn um Zahn! Man soll ihm sieben Wunden an seinen Leib machen, darunter zwei auf den Tod. Und man soll ihm die Hand abhacken, mit der er nach unserem fürstlichen Leib gestochen.«

Herr Heinrich, in der Bitterkeit seines hämmernden Katzenjammers, antwortete klagend: »Unser edler Vetter Loys verlangt der gerechten Dinge so viel, daß wir in Sorge um sein kostbares Dasein geraten. Menschen, die des Guten auf Erden zu viel begehren, leben nicht lange.« Mit diesen Worten brachte er die Lacher auf seine Seite, nachdem der Ingolstädter durch das Übermaß seiner Forderungen die Herren gröblich verstimmt hatte.

Der König entschied unter dem Beifall des Fürstenrates: Herzog Heinrich soll zur Sühne seiner unvetterlichen Tat sechshundert Helme wider die Hussiten stellen, einen Kriegszug gegen die Heiden unternehmen, eine bußfertige Wallfahrt nach Rom machen, drei ewige Messen stiften, dem Vetter Loys alle Kurkosten ersetzen und ihn vor König, Fürsten und Volk um Gottes und unserer lieben Gottesmutter willen demütig um Verzeihung bitten. Der kleine Herzog beeilte sich, zu erklären: »Wir beugen uns dem Urteil der weisen Majestät.«

Herzog Ludwig schrie mit einem Auflachen seines Hohnes in den Saal: »Man ehrt mich über Gebühr und hält mich für kostbarer als unseren Herren Christum. Der ward um dreißig Silberlinge verraten. Mich verkauft man um dreißigtausend Dukaten.«

Bei dem Lärm, den der Aufbruch zum Frühstück verursachte, schien niemand diesen Zornschrei zu hören. Alle schwere Stimmung war plötzlich verwandelt in schwatzende Heiterkeit. Während im Vorraum die Tische sich füllten, standen die Herzöge von München mit dem Brandenburger abseits in ernstem Gespräch. Im Ratszimmer war nur Herzog Ludwig mit seinem getreuen Kaspar Törring zurückgeblieben, der in Zorn die irdische Gerechtigkeit eine feile Metze schalt und die Welt als würdig eines baldigen Untergangs erklärte.

Um alle Folgen der törichten Nacht zu dämpfen, frühstückte die Majestät sehr reichlich. Herzog Heinrich, der außerhalb seines Schlosses zu Burghausen niemals ohne Vorkoster speiste, berührte den Imbiß nicht, obwohl eine heftige Sehnsucht nach sauren Dingen in seinen Augen war. Sehr aufmerksam betrachtete er den König, dem die duftenden Würstchen trefflich zu munden schienen. Und leise fragte der kleine Herzog: »Fürchtet die Majestät nicht, vergiftet zu werden?«

»Nein! Unsere Brüder sind tot.« Der König lachte. »Auch sind Wir unempfindlich gegen Gift geworden. Übung gewöhnt den Körper an alle Dinge.« Heiter erzählte er von mannigfachen Giften, die man ihm schon verabreicht hatte, und von der scharfsinnigen Kur eines schwäbischen Arztes. Der hatte den im Lager vor Znaym vergifteten König durch vierundzwanzig Stunden bei den Füßen aufhängen lassen, bis das genossene Gift durch Mund und Nase völlig abfließen konnte! »Das war nicht lieblich. Aber hilfreich.« Nach dieser Erzählung sprach die Majestät sehr fleißig wieder dem Sauerkraut und den Würstchen zu. Aber vielen an des Königs Tafel war die Lust zum Essen vergangen.

Unter dem betretenen Schweigen, das am Tische herrschte, sagte plötzlich ein Regensburger Ratsherr: »Eure Majestät schneiden die Würstlein in die Quere. Das ist nicht empfehlenswert. Ist das Würstlein in die Quer gebröckelt, so beißt man beim Speisen auf die Haut und hat den minderen Geschmack. Man muß es nach der Länge schneiden und mit dem Fleisch auf die Zunge legen.«

Am Tisch erwachte ein heiteres Lachen. Alle griffen von neuem zu, versuchten die ratsame Sache, nickten zustimmend mit den Köpfen, und die Majestät sagte freundlich: »Wir danken Euch, Ehrenfester! Unser Dasein ist um eine köstliche Weisheit bereichert. Ihr seid ein Meister in der Kunst zu leben.«

Während dieses Frühmahls erfuhr der Propst des heiligen Zeno, Herr Konrad Otmar Scherchofer, eine kleine Überraschung. Der Kanzler Schlick beschenkte ihn mit einem schön und zierlich beschriebenen Pergament. Es war ein Brief, in dem sich Franzikopus Weiß bei Sigismund um einen Bischofsstab bewarb und sich erbötig machte, das Zenonische Land und Volk der Hausmacht des Königs anzugliedern. »Das wäre ein schlechter Handel«, sagte Herr Konrad Otmar, »von meinem Volk und Land ist weniger übrig geblieben, als von aufgespeisten Fischen zu bleiben pflegt.« Er besah den Brief und wurde heiter. »Dieser Heilige riecht nicht gut. Ich will ihn mit Wohlgerüchen waschen lassen.«

Die Majestät erhob sich und gab das Zeichen zum Neubeginn des Fürstenrates.

Während die edlen Herren sich schon im Ratszimmer zu sammeln begannen, trat der schwere Bürgermeister von Landshut auf den kleinen Herzog Heinrich zu, und um die Treue der guten Stadt zu erweisen, erbot er sich, dem gnädigen Herrn die Wallfahrt nach Rom abzunehmen, mit zwölf angesehenen Bürgern durch Italien bis zur Peterskirche zu reiten, dort inbrünstig zu beten und kostbare Spenden zu Füßen des heiligen Apostels niederzulegen.

»Nein!« Herr Heinrich preßte die Hand an den schmerzenden Hinterkopf. »Das kostet schweres Geld. Laßt unser Geld im Lande bleiben! Warum wollt ihr's nach Rom tragen? Beten kann man in Landshut auch. Die Wallfahrt nach Rom – weil es schon sein muß – soll einer machen. Einer, der nichts versäumt. Der muß sich durchbetteln. Sonst wäre das kein frommes Werk, das wohlgefällig vor Gottes Augen ist. Stiftungen macht man vor dem Gelingen. Nach dem Gelingen behält man, was Gott so wollen hat.«

Im Fürstenzimmer begann schon wieder der gleiche aufgeregte Lärm, wie er vor dem Imbiß geherrscht hatte. Kaspar Törring wollte bei König und Reich um seiner erschlagenen Hunde willen Klage führen. Man mußte dem Erbitterten bedeuten, daß die Sache der erschlagenen Menschen den Vorrang hätte und daß man die noch Lebenden durch einen raschen Frieden beglücken müßte.

Nach gereizten Reden und Gegenreden entschied die Majestät, es solle Friede sein; die Not der Zeit verlange, daß man sich gegen die äußeren Feinde wende, statt sich selbst zu zerfleischen; dem lieben Oheim zu Ingolstadt wäre der Vorwurf nicht zu ersparen, daß er wider Gott, König und Reich gesündigt und vor bayerischen Bäumen den deutschen Wald nicht mehr gesehen hätte; Bayern, das Herz der deutschen Lande, müsse deutscher sein als deutsch; des lieben Oheims großer Ahnherr Ludwig hätte die richtige Glocke aufgehangen; doch sein Enkel hätte ihr mit Hader und Zwist wider die friedlichen Vettern den hallenden Schwengel ausgerissen, daß sie zu einer tauben Schelle wurde; der frevelhaft begonnene Krieg müßte gesühnt werden nach irdischer Gerechtigkeit und nach billigem Anspruch der Sieger; wer sich dem Spruch der Majestät und den Bedingungen des von ihr gebotenen Friedens widersetze, bliebe dem Kirchenbann und der Acht des Reiches verfallen.

Sehr feierlich bekräftigte der päpstliche Legat die Worte des Königs.

Dann verlas der Kanzler Schlick die Bedingungen des Friedens: »Alle Gegner sollen sich vor König und Volk zu christlicher Versöhnung umarmen. Die Gefangenen werden ausgelöst, die noch nicht bezahlten Lösegelder von beiden Seiten erlassen. Was Herzog Ludwig im Kampfe verlor – sechs Städte, achtzehn Burgen, sieben Marktflecken und hundertzweiunddreißig Dörfer – soll im Besitz der siegreichen Gegner bleiben. Alles übrige Land von Bayern-Ingolstadt soll an den König übergeben werden. Herzog Ludwig soll als Fürst ohne Land und Diener dem König nach Ungarn folgen und unter den Augen der Majestät wider Ketzer und Heiden fechten. Als Verweser des fürstenlos gewordenen Landes bestellt die Majestät den Prinzen Ludwig unter Aufsicht des Ingolstädtischen Hofmeisters Brunorio von der Leiter.«

Die Augen der Herren suchten bei diesem Spruch den mißgestalteten Knaben, der zum Hüter über die Lande seines Vaters gesetzt wurde. Er war nicht im Saal.

Durch den Stimmenlärm, der sich zu erheben begann, schrillten die wütenden Worte des Kaspar Törring: »Ei, wie klug! Ei, wie klug! Meine totgeschlagenen Hunde, wenn sie noch lebendig wären, hätten es klüger gemacht.«

Herzog Heinrich, dessen Katzenjammer sich zu mildern schien, sagte lachend zu dem Erbitterten: »Mein guter Kaspar! Es ist von aller Klugheit die beste: Glück haben! Deine gescheiten Hunde litten unter einem unverständlichen Mißerfolg.«

Während Törring allen Zorn seiner ehrlichen Jägerseele über den kleinen Herzog ausschüttete, stand Herr Ludwig stumm und bleich inmitten der erregten Fürsten. Langsam streckte sich sein stolzer Körper. Eine wunderliche Heiterkeit erwachte in seinen heißen Augen. Und plötzlich rief er lachend über alle Köpfe hin: »Ihr lieben Kinder! Gehabt euch wohl!« Er wandte sich und verließ den Saal.

Drunten auf der Gasse mußte er sich durch ein dickes Gedräng des Volkes wühlen, um sein Quartier, das Haus der Weltenburger auf dem Haidplatz zu erreichen.

In der großen, fremden Stube, die er betrat, sprangen ihm die zwei braun und weiß gefleckten Törringer Bracken entgegen und hoben sich unter täppischen Zärtlichkeiten zu seiner Brust hinauf. Mit den Armen umschlang er ihre Köpfe und preßte sie an sich: »Ihr Treuen! Wir bleiben beisammen.« Er setzte sich auf das Bett. Die Hunde sprangen an seine Seite und schmiegten sich unter seine Arme.

So saß Herr Ludwig unbeweglich fast eine Stunde. Unter den Fenstern wogte das Gesumm des Volkes. Und die sonnige Luft war erfüllt vom Geläut der Glocken. Es klangen alle Türme der Stadt. Nur der neue Dom, der noch keinen Turm und keine Glocke hatte, konnte nach außen hin den feierlichen Vorgang nicht verkünden, der sich unter den Spitzgewölben seiner steinernen Riesenhalle vollzog. Hier zelebrierte Kardinal Branda, der päpstliche Legat, vor dem Königspaar und den Fürsten das festliche Hochamt, stimmte zum Danke für den vom Himmel niedergesunkenen Frieden das Tedeum an und predigte nach dem Sanktus wider die böhmischen Ketzer und die mosleminischen Heiden. Während er den begeisterten Gottesstreitern, die für den Feldzug gegen die Hussiten nur sehr bescheidene Hilfstruppen bewilligt hatten, die geweihten Kreuze aus weißer Seide an die Stelle des Herzens heftete, übergab die Majestät das Reichsbanner dem Markgrafen von Brandenburg. Der nahm es, sah den schönen, lächelnden König mit ernsten Augen an und sprach: »Vor Gottes Gesicht muß ein kleiner Mensch sich des eigenen Willens begeben.«

Als der Zug der Fürsten unter Glockengeläut und Bumbardenschüssen den Dom verließ, saß Herzog Ludwig im Haus der Weltenburger noch immer auf dem Bett, mit den Köpfen der Bärenfinder an seiner Brust.

Er hörte nicht, daß die Tür der Stube leise geöffnet wurde. Nur weil die Hunde zu murren begannen, sah er auf. Sein Gesicht entstellte sich. Doch unbeweglich blieb er sitzen und betrachtete den mißgestalteten Landverweser, der in seinem reichen Hofkleid ein Gesicht von sehr üblem Ansehen hatte.

Den Blick des Vaters vermeidend, immer irgendwo in eine dunkle Ecke guckend, fing Ludwig Höckerlein zu reden an, nicht mehr so sanft, kindlich und demütig wie sonst, doch immer noch mit redlicher Herzlichkeit. In Trauer beklagte er das ungerechte Los des teuren, geliebten Vaters und erbat sich Ratschläge für sein ernstes, schwieriges Amt der Landverwesung.

Herr Ludwig blieb stumm. Er lachte nur.

Der Prinz wurde drängender, sprach von dürren Zeiten, von nötigem Gelde, verglich das verwüstete Land mit einem abgebrannten Acker, der reichlich des frischen Samens bedürftig wäre, und bat den geliebten Vater um Aufklärung über verpfändete Kostbarkeiten und verstecktes Gold.

Da sprang der Herzog auf. Und während er die Hunde, die gegen den Buckligen kläfften, an den Halsbändern festhielt, schrie er dem Sohn ins Gesicht: »Nimm ein Schwert und stich es in mich und sprich, du wolltest Geld haben! So lang, bis die Seele mir entfährt, will ich dir antworten: Nichts sollst du haben! Nichts! Nichts!«

Draußen vor der Türe war ein Lärm als möchte einer den Eintritt erzwingen, den die Diener ihm verwehrten.

Lauschend streckte sich der Herzog. Er schien die Stimme zu erkennen. Freude war in seinen Augen. Und plötzlich schrie er mit aller Kraft seiner Kehle: »Den Treuen steht jede Schwelle offen. Der da kam zu mir, soll eintreten.«

Unter der Tür erschien ein schlanker Jüngling in schwarzem Studentenkleid, das Gewand von einem weiten Ritt verstaubt, mit blassem Gesicht, mit heißer Sorge im Blick. Als er sich vor dem Herzog beugen wollte, faßte ihn Herr Ludwig an den Armen, hielt ihn aufrecht und sah ihn an. »Nicht reden, Liebling! Ein ungeschicktes Wort könnte mir einen wundervollen Augenblick verderben. Weshalb du gekommen bist, das weiß ich. Nur eines sag mir! Ich muß als Fürst ohne Land und Diener dem König nach Ungarn folgen.« Seine Augen dürsteten. »Gehst du mit mir?« Er brauchte nicht auf Worte zu harren, las die Antwort in Wieland Swelhers glänzenden Augen, riß ihn an sich, und während er ihn umklammerte, sagte er ruhig und froh: »Ich hab einen Sohn.«

Stumm, das verzerrte Gesicht wie von Asche überschüttet, ging der Landverweser von Bayern-Ingolstadt mit seinem wippenden Spinnenschritt zur Tür hinaus.

Drunten auf dem Haidplatz klangen die brausenden, alles Glockengeläut übertönenden Jubelstimmen des Volkes, das den funkelnden Zug des Königspaares und der Fürsten unter Zinkenklang und Pfeifengetriller feierlich herankommen sah zum festlich gezierten, von schöner Sonne umwobenen Friedensthron.

12

Auf dem Haidplatz, den die hochgegiebelten und getürmten Häuser der reichen Bürger in buntem Schmuck umgaben, drängte sich Kopf an Kopf.

Wie eine eiserne Mauer standen die fürstlichen Harnischer und die gepanzerten Stadtknechte um die Schranken her und ließen hinter ihren Schultern das Gedräng des Volkes verbranden.

Innerhalb des abgesperrten Raumes war ein Gewirre von Fahnen und Standarten, ein Gewirbel von hundert leuchtenden Farben und ein Gefunkel von blanken Waffen und Edelsteinen.

Als das Königspaar mit dem päpstlichen Legaten den Friedensthron und die Fürsten ihre roten, mit Wappen gezierten Hochsitze schon bestiegen hatten, füllten die Prälaten, die Ritter und Ehrbaren die Bänke. Dabei gewahrte Propst Pienzenauer in der ersten Reihe der Söldner einen Harnischer, dem über das braune, ernste Gesicht eine schwere Narbe herunterlief. An dieser Narbe erkannte er ihn wieder. Rasch trat er auf ihn zu und fragte erregt: »Du? Warst du nicht bei Dachau im Gefecht, als der Seipelstorfer den Herzog von Ingolstadt fangen wollte?«

»Wohl, Herr! Da hab ich mitgedroschen.« In die harte Stimme des Söldners kam ein leichtes Schwanken, als er neben dem Fürstpropst den Ritter Someiner stehen sah. »Und ich bin nit weit gewesen, wie Euch ein redlicher Mann unter dem niedergestochenen Gaul herausgezogen hat.«

»Mensch! Weißt du, wer das war?«

»Wohl!« Malimmes vermied es, den Ritter Someiner anzusehen. »Das ist mein guter Herr gewesen, der Richtmann Runotter von der Ramsau.«

»Wo find ich ihn?«

Ein rauhes Lachen. »Da braucht Ihr Euch mit dem Suchen nit plagen. Der ist weiter, als Menschen laufen oder reiten können.« Malimmes sah zur Sonne auf. »Wer den Runotter finden möcht, müßt fliegen lernen und höher steigen als ein Isländer Falk.«

Während Herr Pienzenauer erschüttert schwieg, stammelte Lampert Someiner mit heiserem Laut: »Malimmes –«

Neben dem Friedensthron begannen die Trompeten zu blasen. Ihr Geschmetter weckte ein dreifaches Echo an den hohen Mauern, und Hall und Widerhall verschmolzen miteinander zu einem rasselnden Tongewirr, das sich anhörte wie das Gelächter eines Riesen.

Nun eine summende Stille.

Auf dem Friedensthron erhob sich die Majestät im funkelnden Prunk der königlichen Würde.

Alle Gesichter der vielen Tausende, der Hohen und Niederen, waren dem schönen, lächelnden König zugewendet. Nur ein einziges nicht, das schmale, rosige Gesichtchen der zierlichen Königin. Die streckte das schlanke Hälslein und lugte hinüber zu den Reihen der Harnischer.

In anmutsvoller Bewegung die beringte Hand erhebend, begann die Majestät mit gutgeschulter, klingender Stimme zu sprechen:

»Ihr meine lieben Oheime und Vettern! Ihr hochgeborenen Fürsten und Herren, die Ihr Beschirmer der Gerechtigkeit und Liebhaber des Guten seid, Ausreuter des Übels, Vertilger von Schande und Laster, eine sichere Zuflucht für alle Betrübten, gepeinigten und hilflosen Menschen!«

Die Fürsten blieben ernst, obwohl sie bei dieser Ansprache ein bißchen verwundert dreinguckten. Doch das Volk, das die spottende Heiterkeit flink erfaßte, brach in munteres Gelächter aus.

Durch die ganze Rede, die ein blühendes Loblied des Friedens wurde, schwang der König die anmutige Geißel des Spottes, der ihm die Herzen des Volkes eroberte. Und als er den Tausenden gebot, den in die bayerischen Lande heimgekehrten Engel des Friedens mit deutschem Heilruf zu begrüßen, rauschte ihm aus aufgereckten Händen eine brausende Woge der Freude und Begeisterung entgegen.

Noch ehe das frohe, dankende Geschrei verhallte, kam vom Hause der Weltenburger ein wunderlicher, gar nicht festlicher Zug einhergewandert; voraus der land- und dienerlos gewordene Herzog Ludwig, der die beiden Hunde an seinen Gürtel gekoppelt hatte; ihm folgten Kaspar Törring und Wieland Swelher mit zwölf von Ludwigs letzten Getreuen, und sie alle, der Herzog wie die Seinen, waren gleich gekleidet und trugen graue Knechtshosen, graue Bauernkittel und graue Kappen, die mit Marderschwänzen gezottelt waren.

Ein Lachen und Hälserecken im Volk, wie auf allen Bänken der Herren. Und belustigt fragte der König: »Oheim Ludwig? Was soll zu ernster Stunde dieser wunderliche Fasching?«

»Fasching? Nein, Majestät!« Stolz und ruhig hob Herr Ludwig den Kopf. »Das ist Würde und Weihe. Mit diesem grauen Gewande wollen wir die Sieger ehren, die uns in solchen Bauernkitteln bekriegten.«

Über den weiten Haidplatz rann ein Fragen und Schwatzen hin. Und Herzog Heinrich murrte geärgert: »Wollte ich so viel Geld an jeden billigen Spaß vergeuden, so wäre mein Schatzturm bald eine Flohfalle, aus der die gelben Flöhe bis auf den letzten entsprangen.«

Dieser heiteren Minute folgte eine ernste Zeremonie. Während umflorte Kirchenfahnen entschleiert und geknickte Wachskerzen aufgerichtet und entzündet wurden, bliesen dumpfe Posaunen. Würdevolle Spannung lag auf allen Gesichtern. Nur Kaspar Törring war nicht völlig bei dieser ernsten Sache. Immer musterte er die beiden Hunde, die an Herzog Ludwigs Gürtel gekoppelt waren. Und in Erregung flüsterte er gegen das Ohr des Freundes: »Du, Loys, das sind die zwei schönsten aus meinem Zwinger! Ein Rüd und eine Hündin. Die sollen der Welt ein neu Geschlecht erwecken. Fällt von ihnen der erste Wurf, so will ich dabeisein. Ich gehe mit dir nach Ungarn.«

Die feierlichen Posaunen schwiegen, und unter dem Baldachin des Friedensthrones erhob sich der päpstliche Legat, um den Ingolstädter vom Kirchenbanne loszusprechen und als reuige Seele in den Schoß der römischen Mutter zurückzuführen.

Während Herr Ludwig das gebeugte Knie streckte, sprach er mit starker Stimme: »Gott im Himmel wird mich richten nach meinem Herzen, nicht nach der Torheit meiner Fäuste und meines Blutes.« Er ging auf den Markgrafen von Brandenburg zu: »Verzeihe mir! Nach Verdienst belehnte mich die Majestät mit der Narrenkappe. Dich hätt ich erkennen und für mich gewinnen sollen.«

Fritz von Zollern reichte ihm die Hand und sagte lächelnd: »Mich mißversteht man immer. Ich weiß nicht, woher das kommt.«

»Ferne Berge sind den Narren wie Maulwurfshügel.« Und Herr Ludwig wandte sich zu den Herzögen von München: »Wider Euch hab ich schweres Unrecht getan. Wollt Ihr meiner üblen Torheit vergessen?«

Freundlich nickend, bot ihm Herzog Ernst seine schwere Rechte. »Dinge, die geschehen sind, sollen ein Gutes nicht bedrücken, das kommen will. Waren wir keine guten Vettern, so wollen wir's werden. Gelt?«

Schweigend sah Herr Ludwig dem Vetter in das lachende Bartgesicht. Dann wandte er sich, betrachtete den Herzog Heinrich, blieb wie steinern vor ihm stehen und wartete.

Mit langsamen Schritten kam der kleine Herzog näher: »Nach Inhalt des Urteils, das die Majestät gesprochen, bitte ich dich in schuldiger Demut um Verzeihung.«

Herr Ludwig sah die Narben an seinen Händen und sagte rauh: »Du gibst mir schöne Worte. Wenn es dir wahrhaft leid wäre, müßtest du andere Augen haben.«

Ein feines Lächeln. »Ich habe Augen, wie Gott es wollte.«

Freundlich mahnte die Majestät: »Oheim Ludwig? Wollt Ihr diesem Bittenden nicht vergeben?«

Ruhig sagte Herzog Ludwig: »Ich vergebe ihm nach Form und Seele des Urteils.«

Ein Summen über den Köpfen der Menge. Und von dem goldenen Sessel, der höher war als der rote Stuhl des Königs, segnete der päpstliche Legat die Fürsten und das Volk. Freundlich streckte der Kardinal die Hände nach der Königin, hob sie zu sich empor und küßte sie auf beide Wangen, während der König die Herzöge von Bayern der Reihe nach umarmte. Herzog Ernst umarmte den Ingolstädter, Herzog Heinrich den Brunorio von der Leiter. Der Erzbischof von Salzburg und der Bischof von Chiemsee umarmten den Propst des heiligen Zeno. Herr Konrad Otmar umarmte den Fürstpropst Pienzenauer von Berchtesgaden, der heilige Zeno den heiligen Peter. Hauptmann Hochenecher umarmte den Hauptmann Seipelstorfer. Es umarmten sich die Ritter, von denen einer dem anderen die Burg gebrochen hatte. Und es umarmten sich die Bürgermeister von München und Ingolstadt, von Burghausen und Wasserburg, von Landshut und Freising, von Schrobenhausen und Pfaffenhofen, von Traunstein und Rosenheim, von Kufstein und Marquartstein.

Inmitten einer andächtigen Stille wirkte dieses Bild der Versöhnung und christlichen Liebe so ergreifend, daß die Kinder zu beten, die Frauen und Jungfrauen zu weinen begannen. Und plötzlich, in diesem von Andacht und Rührung beträufelten Schweigen brüllte von irgendwo eine grobe Bauernstimme: »So? So? Nit schlecht! Tut sich da jetzt alles umarmen? Macht alles Fried? Und die Hängmooser Ochsen? Was? Wer nimmt denn jetzt die Hängmooser Ochsen um den Hals?«

Ein Sturm von Heiterkeit brauste nach diesen Worten über den weiten Haidplatz hin.

»Man soll erkunden«, befahl die Majestät, »was dieser Biedere von Uns begehrt!«

Bei der Schranke rief ein Harnischer mit der Stimme eines trompetenden Elefanten: »Das ist der Ramsauer Albmeister. Den Ramsauern ist ein schweres Unrecht an Kühen und Ochsen widerfahren. Drum will der Albmeister reden mit der deutschen Majestät.«

Während die Königin ein bißchen blaß wurde und trauernde Augen bekam, lachte der König in leutseliger Heiterkeit. »Man soll diesen Braven vor Unser Angesicht führen.«

Unter lustigem Rumor des Volkes und aller Herren brachten die Festordner den langen, mageren Fischbauer vom Hintersee vor den Friedensthron.

Freundlich sagte die Majestät: »Wir hören, du bist der Ramsauer Albmeister.«

»Was denn sonst?«

Ein vergnügtes Gebrüll rings um die Schranken her.

»Und mit dem deutschen König willst du reden?«

»Was denn sonst?«

Wieder dieses schallende Gelächter, während der Albmeister vorsichtig aus einer Blechkapsel ein zerknülltes Pergament herausdrehte.

»Warum willst du reden mit Uns?«

»Weil unsere Ochsen grad so viel Recht haben als wie die anderen. Unsere Ochsen müssen heut auch dabeisein. Was denn sonst? Um unsere Ochsen geht doch der ganze Krieg. Und Recht muß Recht sein. Unser Recht ist verbrieft und gewächsnet.«

Lustig streckten sich tausend Hälse, und der Ramsauer Albmeister machte einen plumpen, komisch wirkenden Fußfall vor der Majestät und reichte ihr das alte Pergament empor, das rot und grau gefleckt war vom Blute des Seppi Ruechsam und vom Sattelschmutz des Marimpfel.

Während das Schwatzen und Kichern in der Menge immer lauter wuchs, sagte der König zu Peter Pienzenauer: »Lieber Neffe von Berchtesgaden! Wollt Ihr Uns dieses wunderliche Rätsel deuten?«

Der Fürstpropst hatte kummervolle Augen. »Herr! In dieser Sache bin ich ein Schuldiger. Da soll einer sprechen, der rein zwischen Recht und Schuld gestanden.« Er winkte dem Ritter Someiner. »Rede, Lampert!«

Vor König, Fürsten und Volk fing Lampert Someiner zu sprechen an. Aus jedem seiner Worte zitterte die tiefe Erschütterung, die ihm die Nachricht vom Tode des Runotter ins Herz geworfen hatte. Doch was er selbst als ein schweres Trauerspiel der Menschheit empfand, das wurde – durch den widersinnigen Gegensatz von Ursache und Wirkung – für diese tausend in lustiger Neugier Lauschenden zu einer grotesken Lächerlichkeit des Lebens, die keine Träne wecken, nur wilden Hohn oder schallende Heiterkeit erzielen konnte.

Siebzehn Ochsen! Siebzehn Ochsen! Und Volk und Reich geschädigt und zerrüttet, die Zeit zurückgeworfen um Jahrzehnte und bedrückt durch blutende Verluste, weite Länder bis zum Grauen verwüstet, Städte zerstört, Burgen gebrochen, zahllose Dörfer in Asche verwandelt, die Münze verschlechtert, alles Gut entwertet, Arbeit und Handel erdrosselt, hunderttausend Menschen verarmt und viele Tausende erschlagen, erwürgt, erstochen, verbrannt, vergiftet von Seuchen, verfault und verstunken! Und siebzehn Ochsen! Siebzehn Ochsen!

Indes den Haidplatz ein höhnendes Gejohl erfüllte, sagte der König, halb noch lachend, halb bedrückt von einer schreckvollen Schwermut: »Wahrlich! Ein Ochsenkrieg! Um Ochsen begonnen – –« Weil die Majestät verstummte, fiel das spottende Kastratenstimmchen des Narren ein: »Von Weisen geführt! Und friedsam beschlossen von einem klugen König.« Mit beiden Händen machte der grinsende Narr bei dem Wörtchen ›klug‹ über seinem Kopf eine Bewegung, die von allen, welche sie sahen, sehr heiter gedeutet und mit Gelächter aufgenommen wurde. Auch der König lachte mit. Nicht gerne. Doch gnädig beugte er sich zum Ramsauer Albmeister hinunter und entschied, daß der Friedensvertrag der Fürsten – der unterzeichnet und gesiegelt war von einem Kurfürsten, drei Herzögen, einem Erzbischof, einem Bischof, von zwei Pröpsten und zur Zeugschaft von vielen Kirchenfürsten und Baronen – noch einen klärenden Nachtrag in causa bovum Hengismosianorum sive Mordaviensium erhalten sollte.

In dieser Klausel wurden die Ramsauer berechtigt, den zu Unrecht niedergebrannten Käser auf Kosten des heiligen Peter von Berchtesgaden neu zu errichten. Und nach Gutdünken und Verstand der Bauern sollten von nun an bis zu ewigen Zeiten an Stelle der Ochsen auch Milchkühe auf dem Hängmoos, nein, in der Mordau grasen dürfen.

So entschied die Majestät. Und der Ramsauer Albmeister sagte stolz und ruhig: »Was denn sonst? Jetzt haben wir's wieder, wie's allweil war. Da hätt's den ganzen Krieg nit braucht.«

Inmitten der Heiterkeit, die den funkelnden Friedensthron umwogte, scholl aus dem Gewühl der Menge ein wilder Schrei, dem ein Gezeter angstvoller Stimmen folgte. Von den Hochsitzen der Fürsten sah man im Gedräng der Leute plötzlich einen leeren, rasch auseinanderfließenden Pflasterfleck. In dieser Leere, die mit jeder Sekunde wuchs, lag ein dicker, reichgekleideter Bürger unter sinnlosen Gliederzuckungen auf dem Boden, mit dem Gesicht gegen die Erde. Und in der Menge, die entsetzt vor ihm zurückwich und sich qualvoll staute, fingen zwanzig, vierzig, hundert, tausend Stimmen zu schreien an: »Der Tod ist in der Stadt! Der schwarze Tod!«

Auf dem Brettergerüst der Fürsten, bei den Bänken der Ritter und Ehrenfesten wie bei den Schranken des gemeinen Volkes, überall begann ein schreiendes oder stumm erschrockenes Drängen und Entweichen. Vor diesem stärksten aller Kriegsfürsten entflohen Sieger und Besiegte, König und Bettler, Weib und Mann, der Greis und die Kinder.

Ein Söldner blieb ohne Schreck. Und ging auf den einsam Gewordenen zu, der in Todesangst und Schmerzen stöhnte. »Höia, du armes Männdl! Fehlt's denn so weit?« Er drehte den Zuckenden herum und sah ein verzerrtes Gesicht, auf dessen fahler Haut ein paar kleine, schwärzliche Pestflecken waren. »Ui, Teufel, Brüderlein, da müssen wir schauen, daß wir zum Medikus kommen!« Mit beiden Armen griff er zu. »Herrgott, Mensch, hast du ein Gewicht!« Während er fester Zugriff, beugte er den Kopf hinunter. »Wie, sei gescheit! Und nimm mich um den Hals herum! Da trag ich dich leichter.«

Der Stöhnende umarmte den Malimmes, der die Richtung nach dem Sondersiechenhaus vor dem Jakobstore nahm.

Wo der hastig Schreitende mit diesem klobigen, in Samt und Seide gewickelten Binkel des Elends erschien, wichen die Menschen zurück.

»Ui, guck!« Malimmes lachte. »Mir macht man die Gassen frei, als ob ich der König wär!«

Prüfend sah er das Gesicht des Kranken an. Der stöhnte nimmer. Die schwärzlichen Flecken auf Stirn und Wangen waren gewachsen, und neue waren dazu gekommen. Und während der schwere Mann mit offenen Augen duselte, spannten sich seine Arme wie eine eiserne Klammer um den Nacken des Söldners.

»Höia, laß luck ein lützel! Du druckst ja ärger als wie ein Hänfener!« Die Klammer, die den Hals des Malimmes umschnürte, wurde nicht linder. Unter dem Druck dieser Arme fiel ihm das Atmen schwer. Doch heiter schwatzte er vor sich hin: »Mir daucht, jetzt kommt der Achte. Vor dem ich mich hüten hätt müssen. Aber ein Rindvieh bin ich allweil gewesen. Und bleib's.« Er machte schnellere Schritte und fing zu keuchen an.

In einer Gasse, wo man nicht wußte, was auf dem Haidplatz geschehen war, blieben die Leute stehen und betrachteten in Neugier diesen Flinken mit seiner kostbaren Last. Spottend schrie Malimmes: »Obacht, Leut! Da kommt einer, der ein lützel grob ist.«

Die Leute verstanden nicht und wurden lustig. Malimmes mußte deutlicher werden. »Leut! Da kommt der Tod! Der ist anmaßiger als wie der König, ist mit Kraut und Bratwurst nie zufrieden, frißt die Menschen mit Haut und Haar!«

Nun ging ein dumpfes Geschrei und angstvolles Gerenne vor ihm her. Und Malimmes rief den Springenden nach: »Ein lützel gemütlicher! Auf die Letzt entrinnet ihr ihm doch nit!« Und weil er sah, daß ihm viele voraushopsten zum Jakobstor, schwatzte er mit dem Bewußtlosen, den er trug: »Ei guck, jetzt haben wir Vorläufer und Melder, wie der Propst vom heiligen Zeno in der Ramsau.« Er lachte. »Bloß ein Trompeter geht uns noch ab!« Mit geblähten Backen, die Lippen aufeinander pressend, begann er in drolligem Trompetenklang das Liedchen der sechs Speckbrocken von Aufham zu blasen:

»Ein Reiter, der wollt pi–hir–schen, Halerieh halerah fallaaah, Nach Reechlein nit noch Hi–hir–schen, Halerieh halerah fallaaah –«

Ein tobender Aufruhr war beim Jakobstor. Die vielen, die dem Malimmes vorausgesprungen waren, hatten dem Torwart schon gemeldet, welch einen hohen Herrn man da getragen brächte. Und wie irrsinnig schrien sie: »Das Gatter hinauf! Der muß hinaus! Hinaus! Hinaus!«

Die schwere Balkensperre war schon emporgezogen, noch ehe Malimmes rufen konnte: »Weg frei! Da kommt der Tod!« Im leeren Torbogen hallte sein Schritt. Und dicht hinter seinem Rücken fiel das eisenbeschlagene Gatter mit Gerassel herunter. »So, du! Jetzt sind wir ausgesperrt. Die lassen uns nimmer hinein. Jetzt wartet eine schöne Frau umsonst.«

Vom Jakobstor ein paar hundert Schritte entfernt, stand hinter einer dichten Wand von welkenden Bäumen und Stauden das große Sondersiechenhaus zum heiligen Lazarus.

Malimmes schnupperte. »Mir daucht, da räuchert man einen Dachs aus?« Es roch nach Essig, nach Schwefel und Wacholderqualm.

Jetzt brauchte er nimmer zu schreien: »Obacht, Leut! Es kommt der Tod!« Für den heiligen Lazarus war das keine Neuigkeit. Hier war der große Sieger schon lange anwesend. Mit zahlreichem Gefolge. Man hatte von der Holzlände, vom Anger vor dem Ostentor und von den Freiweinbuden des gütigen Königs schon über zweihundert herbeigetragen. Die verdächtigen Taumler hatte man in den Saal der harten Geduld gesperrt, die Kranken in die Bettstuben gebracht, die Stillgewordenen im Garten der Barmherzigkeit versenkt in eine mächtige Kalkgrube. Und als Malimmes mit seiner kühlen, regungslosen Last die Torhalle des schmerzvollen Heiligen erreichte, kam mit dem Söldner zugleich ein Zug von vermummten Bahrenträgern.

Ein Arzt und zwei Wärter, welche lederne Fäustlinge, mit Essig getränkte Leinwandkutten und Gugeln mit kleinen Augenlöchern trugen, mühten sich unter dem großen Kreuz in der Halle vergebens, die starrverkrampften Arme des Sterbenden vom Halse des Söldners loszubringen. »Ich sag's ja! Der laßt nimmer aus. Was ein richtiger Strick ist, reißt nit. Auf der Welt gibt's schlechte Seiler. Da drüben ist einer, der's besser kann.« Gewaltsam mußte Malimmes den Kopf aus dieser unnachgiebigen Schlinge herauszerren. Als er sich aufrichtete, sagte er lachend: »So hart und mühselig bin ich noch nie aus einem Hänfenen herausgeschlupft. Gott soll euch gnädig sein, ihr Leut! Ich geh.«

Da faßte ihn der vermummte Medikus am Arm. »Hab noch ein wenig Geduld, du Lustiger! Wir müssen dich behalten als verdächtig.«

Malimmes nickte. »Ja ja! Ich bin schon allweil so ein verdächtiger Lumpenkerl gewesen, dem man das Übelste hat zutrauen müssen.«

Man führte ihn zu einem dunstigen Raum, in dem es sehr heftig roch. Hier wurde er entkleidet und mit einer Mischung aus Essig und Lauge gewaschen. Er machte dabei so muntere Spaße, daß die Wärter nicht aus dem Lachen kamen. Einer sagte: »Wären alle wie du, so gäb's beim heiligen Lazarus kein Zittern und Grausen.«

»Gelt, ja! Die Menschen sind arge Narren. Wie leichter einem das Schnaufen wird, um so mühsamer finden sie's.« Er bekam eine mit Essig getränkte Leinwandkutte, an der eine Gugel mit kleinen Augenlöchern war. »So! Jetzt wird der Kapuziner bald fertig sein. Ein lützel bräuner muß er noch werden.«

Man führte den Vermummten in den Saal der harten Geduld. Hier waren schon an die hundert zugegen, alle in den gleichen, säuerlich duftenden Kutten und Gugeln. Man unterschied da nimmer, was ein Alter oder ein Junger, ein Schmucker oder ein Häßlicher, ein Männlein oder ein Weiblein war. Schweigend saßen und standen die weißen Masken in dem großen Saal umher. Und es war die einzige Regung ihres bedrohten Lebens, daß sie sich gerne an jenen Stellen des Saales hielten, die farbig überglänzt waren von der schönen, durch die hohen Buntscheibenfenster hereinfallenden Nachmittagssonne.

Als der weißvermummte Malimmes in den Saal geschoben wurde, drehten alle anderen Masken die kleinen Augenlöcher gegen die Türe. Mit drolligen Tanzbewegungen kam der neue Bruder des letzten Wartens über die Schwelle gesprungen und begann den gleichen lustigen Rumor, wie damals im Leuthaus der Ramsau. Viele von den Verhüllten guckten ihn schweigend an, einige wurden mißmutig, schalten den übermütigen Gesellen und sprachen von der Heiligkeit des Ortes und von der dunklen Nähe des Todes. Eine der Masken, ein schlankes, flinkes Figürchen klatschte die Hände ineinander, tat mit junger Stimme einen etwas beklommenen Jauchzer und rief unter frohem Aufatmen: »Dem Herrgott sei Lob und Dank! Gucket, ihr Angstmäuser, da kommt ein Mensch!«

»Gelt, ja? Komm her, du guter Gesell! Wir zwei, wir halten zusammen als lustige Gnoten. Ich wüßt nit, warum ich greinen müßt. Bin ich gesund, so geht's wieder heim ins Leben. Und müßt ich sterben? Gut! So geht's hinauf in die ewige Seligkeit, wo man die Kerzen nit putzen muß, weil sie allweil sauber und ohne Räuber brennen. Komm her, Gesell! Vor uns das Schönste und hinter uns das Liebste! Warum denn traurig sein in der Mitten?«

Die beiden, von denen der eine aussah wie der andere, ließen sich Seite an Seite in der linden Sonne nieder und begannen ein so munter mit Spaßen durchspicktes Geplauder, daß sie bald einen dicken Zirkel lachender Masken um sich hatten. Auch die von dunklem Grauen durchrüttelten Angstmäuser mußten schließlich unter den weißen Gugeln ein bißchen schmunzeln, kamen näher, lauschten in scheuer Neu gier und wurden Menschen, in denen Zuversicht und Hoffnung war.

Als der junge, blasse Priester – der jede dritte Stunde kam, um mit den Verdächtigen zu beten – das nächstemal den Saal der harten Geduld betrat und diese heiter schwatzende Gesellschaft fand, war ein ratloser Blick in seinen Augen. Schweigend ging er auf das an die Wand genagelte Kreuzbild zu, ließ sich auf die Knie fallen und begann erregt das Gebet zu sprechen.

Langsam verstummte das Schwatzen und Kichern. Stimme um Stimme fiel in die frommen Worte des Priesters ein, und mit hoch erhobenen Händen beteten die weißen Masken. Jetzt war es anders als bei den früheren Gebeten; da hatte man mir lallende, von Angst erwürgte Laute vernommen; jetzt klangen alle Stimmen hell und ruhig, und in den frommen Worten, die sie sprachen, glühte eine Inbrunst, die so fröhlich wie gläubig war.

Während der junge Priester nach dem Amen rasch den Saal verließ, rief eine weiße Maske den anderen heiter zu: »Ihr lieben Knospen! Nur wieder her zu mir! Jetzt haben wir sauber gebürstete Seelen, da können wir desto lustiger sein. Wir leben noch allweil, gelt? Das Leben ist wie ein fester, gesunder Stier, der an eisernen Strängen zieht. Die reißen nit leicht. Mich hat der Tod schon beim Ohrläppel erwuschen, ich weiß nit, wie oft. Und an den Fingern kann ich's nit auszählen, wie oft schon der Hänfene das Zäpfl gekitzelt hat. Und jedsmal bin ich wieder gesund ins Leben gesprungen. Ui, ihr lieben Gnoten, wenn ich das alles erzählen möcht, da tätet ihr lachen müssen.«

Ein heiteres Gedräng, man witterte abenteuerliche Schwänke, setzte sich um den Lustigen her, und hundert Stimmen bettelten: »Erzähl! Erzähl!«

Auf dem Boden in der Sonne hockend, die beiden Arme um die aufgezogenen Knie geschlungen, fing die weiße Maske zu erzählen an: vom Birnbaum im Ungerland, von der Blitzeiche im Clevischen, vom Schragen der gescheiten Ulmer, von den Landshuter Wölfen und von der Schlittenfahrt auf dünnem Hosenboden, vom schlechten Reusenstrick des Fischbauern, vom genügsamen Rappenholz, das mehr als ein Dutzend nicht tragen wollte – von Herzog Heinrichs ängstlichem Profosen, der seit dem Tag von Dachau immer hinauf schauen muß zum Himmel, ob da nicht ein gefährliches Ding herunterfällt auf seine irdische Gerechtigkeit, und vom lieben Lendenschnürlein einer schönen Frau, die gerne reich geworden wäre und das unzufriedene Weiblein des Ärmsten unter allen Deutschen hatte werden müssen.

Was das Leben an Ernst und Schmerz in die Wahrheit dieser Geschichten hineingesponnen hatte, verwandelte sich im Saal der harten Geduld zu einer gaukelnden Heiterkeit. Und als das bedrohliche Lendenschnürlein der schönen Frau von Irgendwo entzweigerissen war und die freudige Runde der Lauschenden wieder und wieder was Lustiges hören wollte, begann die unermüdliche weiße Maske immer neue Galgengeschichten zu ersinnen, eine drolliger als die andere. Immer wundersamer stellten sich die Rettungen ein. Beim dreiundzwanzigsten Hänfenen wurde ein Übermütiger, der die für den König gebratenen Würstlein verspeisen wollte, zum unzerreißbaren Strang verdammt; und als er baumelte, kam ein feiner zierlicher Engel vom Himmel heruntergeflogen und brannte mit einem Sonnenstrahl den stählernen Strick entzwei. Der Engel hatte kupferfarbene Löcklein um das zarte Gesicht, hatte Wangen wie rote Äpfel, hatte einen rosenfarbenen Mund und Kinderaugen wie dunkle Kirschen. Und weil die große, vom Baum gefallene Birne sehr lange brauchte, um wieder ein lebendiger Mensch zu werden, beugte sich der liebliche Engel zu dem halb Entseelten hin, der im Gesicht eine große Narbe hatte. Und mit silbrigem Fingerlein strich der Engel ganz leis über die Narbe herunter. Da fing die auferweckte Menschenseele zu niesen an und sagte lachend: »Hör auf, liebs Engelein, das kitzelt so schauderhaft, ich halt's nit aus!«

Während die weiße Maske diese aus Sehnsucht, Spott und seltsamer Verzückung gewobene Auferstehungsgeschichte erzählte, ging ein vermummter Arzt im Saal der leicht gewordenen Geduld umher, zog von den heiter Lauschenden einen nach dem anderen auf die Seite, guckte ihm unter die Gugel hinauf und fühlte nach Puls und Herzschlag. Zu jedem Verhüllten sagte er die gleichen Worte: »Sei ohne Sorg! Morgen wirst du heimgehen dürfen!« Dann stellte er sich hinter den Kreis der Lauschenden, die unter den letzten, dünnen Streifen der roten Abendsonne auf dem Boden des Saales hockten. Und prüfend sah er immer die eine Maske an, die mit einer wunderlich sprunghaften Lustigkeit, fast in der taumeligen Art eines Betrunkenen und unter wiegenden Kopfbewegungen erzählte, wie die vom dreiundzwanzigsten Tod erweckte Menschenseele und das wundertätige Engelein miteinander schwatzten. Der Engel wollte die geplagte Seele von der bösen Erde fortlocken und in den Himmel führen. Aber die Menschenseele hatte gegen die ewige Seligkeit allerlei witzige Bedenken.

»Ja, Leut! Und derweil die zwei so plauschen, kommt der Teufel des Wegs, als wär's der Kaplan von Reichenhall. Jöia, Leut, was für ein schiecher Kerl ist das gewesen! Hat einen Schweif gehabt als wie zusammengenäht von siebzehn Ochsen. Nit der Kaplan. Der Teufel! Und hockt sich her zu mir und nimmt das Schweifquästl über den Arm und erzählt mir von der Höll so viel schöne Sachen, daß ich hab denken müssen: ›Teufel, da geht's ja zu wie beim Königsmahl im Regensburger Stadthaus!‹ Aber den Teufel kennt man doch. Nit, Leut? Der; lügt als wie ein Burghausener Doppelsöldner, den der Herzog lieb hat. ›Geh‹, sagt meine schlaue Seel, ›fahr ab, du Stinker! In deiner Näh, da schmeckt's, als wie vor dem Regensburger Jakobstor!‹ Und der Teufel schaut mich an voller Wut und sagt: ›Du Feinschmecker, was willst denn du? Mag nit in den Himmel und mag nit in die Höll? Was will denn der?‹ Und da schreit meine lustige Seel: "›Lebendig bleiben!‹ Wahr ist's, Leut! Und der Seppi Ruechsam tät sagen: Was denn sonst?«

Die Maske hatte das so trunken und drollig herausgesprudelt, daß ihre hundert weißen Brüder lange lachen mußten, ohne recht zu wissen, warum.

Nur einer lachte nicht: der vermummte Medikus. Der legte der weißen Maske, die beim Wort des Seppi Ruechsam mit dem Kopf einen wunderlichen Tunker gegen das Knie gemacht hatte, seine von Leder umhüllte Hand auf die Schulter und sprach: »Du bist gesund. Dich können wir gleich entlassen. Komm!«

»Gelt, ja?« Ein langsames Aufrichten mit schweren Gliedern. Auch das war komisch. »Hab mir eh schon gedacht, daß ich bis morgen nimmer warten muß.«

Nun gab's ein klagendes und doch so lustiges Durcheinanderschwatzen, als würde von einer vergnügten Tafelrunde ein Überfröhlicher verfrüht nach Hause geholt. Nur daß man das Küssen und Händedrücken unterließ. Das galt unter dem Dache des heiligen Lazarus als üble Sitte.

Bei der Türe rief die weiße Maske noch lachend über die Schulter: »Auf Wiedersehen, ihr lieben Gesellen! Seid ihr genesen, so treffen wir uns im Bratwursthäusl. Da laß ich allweil ein Dutzend über der Glut halten, daß keiner warten muß, wenn er kommt!«

Hundert heitere Stimmen. Eine Tür fiel ins Schloß. Und während der Scheidende durch die dämmerige Halle taumelte, konnte er vom Saal der Geduld noch immer das Lachen und das heitere Schwatzen der Zurückbleibenden hören. Ruhig fragte er den vermummten Arzt: »Wo steht mein Bett?«

»Nicht weit! Komm, du Tapferer!«

Als man in der Bettstube aus der weißen Gugel den kranken Malimmes herausschälte, hatte der Duselnde schon einen so dichten Schleier vor den Augen, daß er die anderen Betten nimmer sah.

Er fragte in seinem Taumel: »Nächtet's schon?«

Wie aus weiter Ferne antwortete eine müde Stimme: »Nach aller Nacht kommt wieder ein Morgen.«

»So so?« Malimmes schmunzelte.

Nun lag er ausgestreckt auf den feuchten Kissen, dehnte die Glieder, die zu schmerzen begannen, und plauderte ganz leise vor sich hin: »Jetzt, Frau Königin! Wo ist das wundertätige Fingerlein?« Tief atmend schloß er die Augen.

Man wollte ihn aus diesem Dusel noch einmal ermuntern, um die heilige Zehrung auf seine Zunge zu legen.

Er tat die Augen auf, tastete mit den Händen ins Leere und lallte schwer: »Der Bub – wo ist denn der Bub –«

Dann sprach er nimmer.

Irgendwo läutete eine kleine, dünne Glocke. Die läutete immer, die ganze Nacht hindurch, den ganzen Tag. Manchmal schwieg sie so lange, daß man halb ein Vaterunser hätte beten können. Bis zum Amen wäre man nicht gekommen. So hurtig und ohne Geduld fing ihr leichter, zappliger Schwengel wieder zu tingeln an. Sie läutete, läutete, läutete –

Diese Friedensglocke! Der die Ärzte prophezeiten, daß sie bis in den Winter tönen würde. –

Am dritten Tage bekam der heilige Lazarus schon zahlreiche Gäste aus der Stadt, neben Verdächtigen auch solche, über die kein Zweifel herrschte. Doch der Zuzug von der Holzlände und von den Wiesen außerhalb der Mauer versiegte langsam. Vor dem Ostentor war es still und öd geworden. In den leeren Zehrbuden wurde der Freiwein des gütigen Königs in den halbverzapften Fässern sauer. Und auf dem Anger, obwohl da kein Schwertstreich gefallen war, sah es aus wie nach einer grimmigen Schlacht – nur mit dem Unterschied, daß kein Mensch die grauen Beutestücke haben wollte, die in schrecklicher Menge umherlagen. Und wenn die Schweine, die hungrig von den Dörfern gelaufen kamen, in dieser herrenlosen Erbschaft wühlten, geschah es manchmal, daß eins von den Tieren umfiel, wie vom Blitz erschlagen.

Die vierzigtausend, die den geliebten König und ersehnten Retter nur auf der Steinernen Brücke gesehen hatten, waren vor dem großen Sieger, dem auch der König wich, in alle Windrichtungen davongelaufen, vermindert um einige Hunderte. Und sie ließen noch auf allen Straßen, am Wegrain und in den Gräben viele Müdgewordene zurück, die über Nacht des Wanderns völlig vergaßen.

Auf den Reisestrecken der Fürsten mußten die Wegmacher vorausreiten, um die Straßen von aller Gefahr zu säubern, die man sehen konnte. Die unsichtbare blieb. Sie lief mit den Laufenden, ritt mit den Reitenden und ließ sich mit den Bequemen in der Sänfte tragen.

Am vierten Tage nach dem Friedensfeste war von allen Fürsten nur Herzog Heinrich noch in der Stadt. Er blieb, weil er nicht reisen konnte. Sein Arzt glaubte, das wäre wieder das alte Fieber mit neuen Erscheinungen. Aber es war nur die Wirkung der abergläubischen Todesangst, die den Herzog in der Stunde befallen hatte, als er aus dem Sondersiechenhaus die Nachricht erhielt, daß sein Hofstaat um den Galgenvogel Malimmes vermindert wäre. Herr Heinrich wand sich in Qualen, die mehr seelischer als körperlicher Art waren und sich durch ein ruheloses Nervenzucken in der Magengrube äußerten. Doch als er von Burghausen die Kunde empfing, daß in seinen Bergwäldern die Hirsche gut zu röhren begännen und daß besonders auf den abgebrannten Waldflächen bei Plaien die Brunft eine selten lebendige wäre, machte seine niedergedrückte Seele einen gewaltsamen Ruck nach aufwärts: »Da muß man genesen! Gott soll's wollen!« Aber er wurde schwächer und elender mit jeder Stunde.

Schließlich begehrte er von seinem Leibarzt: »Hilf mir, wie der selige Malimmes geholfen hat!« Der Medikus war ratlos. Herr Heinrich erklärte ihm die Sache sehr umständlich und genau. Doch als der Leibarzt mit der Handschneide kräftig zuschlug, ging's daneben. Der Herzog purzelte stöhnend über das Bett hin, raffte sich wütend auf und verabreichte dem Medikus eine fürchterliche Maulschelle. Diese Aufwallung des Geblütes erwies sich als segensreich. Wie ein neues Wunder des Malimmes war's. Herr Heinrich konnte am folgenden Morgen zu seinen schreienden Hirschen reisen.

Er reiste mit solcher Hast, daß er an einem schwülen, wolkenschweren Morgen bei Mühldorf den kleinen Reiterzug der Berchtesgadnischen und den Reiseschwarm der Salzburger überholte, die zwei Tage früher von Regensburg aufgebrochen waren.

Gegen Abend drohte vom schwarzgewordenen Himmel ein schweres Oktobergewitter herunterzufallen. Man mußte einen Wolkenbruch besorgen.

Fürst Pienzenauer, der weit hinter den Salzburgischen zurückgeblieben war, beschleunigte die gemächliche Reise, um vor dem drohenden Wasserguß das Städtchen Laufen noch zu erreichen.

Als durch eine Waldgasse schon die Türme und Mauern der kleinen festen Stadt zu erblicken waren, hörte man über die Straße her ein wildes, zorniges Geschrei.

Lampert Someiner jagte voraus und brachte seinem Fürsten die Nachricht, zu Laufen wüßte man schon, daß von Regensburg der schwarze Tod in die Welt liefe; jetzt hätte der Rat von Laufen das Tor gesperrt, gedächte keinen Reisenden in die Stadt zu lassen und hielte mit einem Häuflein von Spießknechten und bewehrten Bürgern die Straße verriegelt; darüber wäre ein Zank zwischen den Salzburgischen und denen von Laufen ausgebrochen und die Streithähne wären schon nahe daran, mit dem Eisen aufeinander loszuschlagen.

»Ein Jammer, Lampert!« klagte Herr Pienzenauer. »Die Menschen mögen nicht lernen. Komm! Da müssen wir Frieden stiften.« Die beiden spornten ihre Gäule. Ehe sie die Stelle erreichen konnten, von der das wüste Geschrei zu hören war, wurde zwischen denen von Salzburg und Laufen schon mit dem Eisen geredet. In der Abenddämmerung gab es Funken. Doch die kleine Straßenschlacht, die da begonnen hatte, war noch zu keinem Toten, nicht einmal zu einem leicht Verwundeten gediehen und nahm mit verblüffender Schnelligkeit ein Ende. Aus dem Himmel fuhr ein Blitz in den Wald herunter, wie ein brennender Baum so dick; ein Donner rasselte, daß die Erde beben mußte; und plötzlich wurde die dunkle Höhe der Lüfte weiß, so weiß wie Schnee. Ein grauenvolles Sausen und Geknatter. Und mit Körnern, die größer als eine Nuß und nicht viel kleiner als ein Hühnerei waren, prasselte der Hagel in dicker Masse auf die erschrockene Welt herunter. Das klang auf den Kürassen und Eisenhüten derer von Salzburg und Laufen, als würde mit tausend harten Löffeln auf tausend blecherne Pfannen getrommelt. Die Gäule wurden scheu, die Knechte zu Fuß begannen wie Narren zu rennen, und immer hörte man die flinkversöhnten Helden schreien: »Au! Au! Au!«

Propst Pienzenauer und Lampert hatten sich mit ihren Rossen in einen Heuschuppen geflüchtet. Durch den weißen Schnürchenvorhang der Hagelkörner sahen sie ein komisches Gezappel von Gäulen und Menschen, die nach allen Richtungen auseinanderstoben. Das war anzuschauen wie der lustige Hohn und Übermut eines Fastnachtspieles.

»Seht nur, Herr«, sagte Lampert Someiner, »der Himmel kann doch das! Warum macht er's nicht immer so, bevor die Menschen zu stoßenden Ochsen werden?«

»Da müßte der Himmel hageln lassen durch Tag und Nacht.« Lächelnd sah der Graubärtige den jungen Gesellen an. »Und der Himmel hat auch Blumen erschaffen. Die wollen Zeit haben, um zu blühen.«

Hinter dem Hagel kamen unter Blitz und Donner noch so schwere Regengüsse, daß es die Schindeln des Heuschuppens diesem Wassersturz nicht verwehren konnten, die zwei Philosophen einzuweichen bis auf die Haut. Fürst Peter sagte: »Komm! Wir wollen reiten. Draußen werden wir auch nicht nässer!«

Sie trabten durch den strömenden Regen. Hinter Laufen fand sich auf dunkler Straße ihr halbes Geleit und ein Trupp der Salzburger mit ihnen zusammen. Erst blieb man stumm. Dann wurde man heiter. Weil alle so lieblich plätscherten, spottete einer über den andern.

Drei Stunden nach Mitternacht, als man Salzburg erreichte, begann der Regen zu versiegen. Sterne guckten durch die ziehenden Nebel, und frischbeschneite Bergspitzen sahen aus, als hätten sie Mondschein.

»Ich will rasten und mich trocken legen!« sagte Fürst Pienzenauer in der Herberg. »In dir ist Ungeduld. Dich will ich nicht halten. Reite voraus!«

Lampert fand keinen höflichen Widerspruch. Er leerte einen Becher Glühwein, genoß einen Bissen und sprang in den Sattel.

Die rein werdende Frühe dämmerte, während er durch die stillen Gassen der Stadt davontrabte. Draußen auf der freien Straße ließ er den Moorle jagen.

Der Pongauer, der bei aller Müdigkeit die nahe Heimat witterte, machte Sprünge, als müßte er einem Sumpf entrinnen und festen Boden finden. Und wurde der Gaul ein bißchen ruhiger, so brauchte der vorgebeugte Reiter, dessen Eisenzeug sich nach dem Regen und bei der frischen Morgenluft in roten Rost zu tauchen begann, nur leise mit der Zunge zu schnalzen. Und der Pongauer stieß mit keuchenden Sprüngen vorwärts.

Die Ache rauschte mit so vielem Wasser neben dem Untersberge her, daß man das Röhren der Hirsche von den Wiesen des engen Tales und aus den steilen Wäldern nur wie ein dumpfes Murren vernahm.

Immer heller wurde der Morgen, immer blauer der klare Himmel.

Um eine dunkle Bergrippe herum, die letzte Wende.

Und der weite herrliche Talkessel von Berchtesgaden tat sich auf mit nebeldampfenden Tiefen, mit einem Kranze rot und gelb gewordener Wälder unter den sammetgrünen Fichtengehängen, mit den weißbeschneiten Almen und den silbernen Zinnen, die sich vor der kommenden Sonne schon in glühendes Gold verwandelten.

Lampert Someiner mußte schreien wie ein Trunkener.

Schmerz und Freude brannten in seiner Seele, in seinem Herzen, in seinem Blut.

Tausende von Menschen waren hinuntergesunken, waren zertreten und zerstampft. Kostbare Werte waren vernichtet, stolze Werke des Lebens lagen zerbrochen, zerbröselt, in Staub zerrieben.

Das schöne, ewige Antlitz Gottes war unverwüstet.

Mit dem Brausen seiner Gewässer, mit dem Rauschen seiner Wälder, mit dem Schrei der brünstigen Hirsche und mit dem Schweigen seiner wundervollen Ferne sprach es in Größe und Herrlichkeit das gleiche mahnende Wort wie die kleine, alte Uhr im Hause des seligen Amtmanns Ruppert Someiner.