Vancouver, August 1899.
Ihr Brief hat mich unendlich erfreut – vor allem, weil er weniger traurig klingt, als ich gefürchtet hatte. Es wäre mir ja beinahe beschämend, wenn Ihnen Peking ohne mich nicht ein bisschen grauer und öder erschiene, und ich möchte etwas von Ihnen vermisst werden – aber nicht zu sehr. Es ist alles eine Frage von Nüancen, und Sie haben, vielleicht durch das jahrelange Studium alter chinesischer Brokate und Porzellane, ein merkwürdig feines Verständnis für Nüancen, und haben genau diejenige getroffen, die mir wohltuend sein musste.
Haben Sie also Dank für Ihren Brief, wie für so manches andere!
Unsere kurzen Ferien in Japan sind mit jener erschreckenden Geschwindigkeit
vergangen, die den guten Zeiten nun einmal eigen ist. Ich will Ihnen
Das erfreulichste Wiedersehen feierte ich aber in Japan mit den vielen Blumen, die ich daheim und anderswo als japonica oder japonicum kennen gelernt hatte, und die ich nun in ihrer Heimat wiedersah, nur viel schöner und duftender; wie ja auch wahrhaft nette Menschen meist am nettesten in ihrem eigenen Hause sind.
Japan ist das erste und einzige aussereuropäische Land, in dem ich mich ankaufen und
»for good«
An unserem letzten Morgen in Yokohama hatten wir noch zwei Erlebnisse, ohne die Japan nicht recht Japan gewesen wäre: wir wurden früh durch ein Erdbeben geweckt, und wir sahen den Fusiyama. Der hohe weisse Herr hatte sich bis dahin übellaunig hinter einer Wolkenkappe verborgen, was ich den hohen, einsamen Bergesgipfeln nie verdenke, denn auch jüngeren, geringeren Wesen ist der Anblick der Welt ja oft verdriesslich genug. Als wir schon im Boot sassen, um hinaus an unseren Dampfer zu fahren, ward es plötzlich lichter, und wir sahen die schneeweisse Kuppe, die in Wirklichkeit ganz ebenso unwahrscheinlich aussieht wie auf ihren zahllosen Abbildungen. Es war mir gesagt worden, dass wer am Tage der Abfahrt den grossen Herrn Fusi sieht, sicher nach Japan zurückkehrt. Sie wissen, dass ich, faute de mieux, ziemlich abergläubisch bin – nun wollen wir sehen, ob mich mein Nomaden-Schicksal noch einmal nach dem Lande des Lächelns und der Blumen zurückführen wird.
Der erste Mensch, den wir auf dem Dampfer trafen, war Bartolo, der grosse
Konzessionenjäger, der so viele Monate im Hotel de Pékin sass, während
Bartolo erzählte uns gleich strahlend, er hätte seine letzte Konzession erlangt,
nicht die von der Wüste Gobi, sondern eine allerletzte, zur Ausbeutung von
Rubinminen. Anfänglich sei er nicht recht sicher gewesen, für welche Provinz er die
Konzession erbitten solle, ob Kwangsü oder Kwangtung, da er ja beide nicht persönlich
kannte und nicht wisse, ob es dort Rubinen gäbe. Schliesslich habe er sich für
Kwangtung entschieden,
Mein Bruder und ich waren etwas erstaunt, dass Bartolo diese Konzession so rasch erlangt haben will, um so mehr als die Chinesen ja gerade eine Minenbehörde ernannt haben, deren Hauptaufgabe darin besteht, derartige Angelegenheiten zu verschleppen. Bartolo erzählte uns aber, in dieser Behörde sässen als einflussreichste Mitglieder der alte Tsü und der junge Tsi – dem jungen Tsi habe er in Tientsin die Bekanntschaft einer ebenso gefälligen wie schönen Amerikanerin vermittelt, und der »Nebenfrau« des alten Tsü habe er nächtlicherweile ein goldenes Teeservice zugesandt. Von da ab seien seinem Anliegen in der Kommission von den Chinesen nur noch pro forma ein paar kleine Schwierigkeiten gemacht worden.
Bartolo ist nun auf dem Wege nach London, um eine Aktiengesellschaft zu gründen zur
Ausbeutung seiner Rubinminen, von denen er sich Millionen verspricht. Er hatte sich
für die Überfahrt mit einer Menge Konserven und Delikatessen versehen, von denen er
all seinen Bekannten auf dem Schiffe bei jeder Mahlzeit reichliche Portionen
zusandte. Da er eigentlich ein sehr gutmütiger Mensch ist, wollte er hierdurch schon
jetzt alle
Ich werde immer ganz traurig über die schönen Illusionen, wenn ich Menschen so reden höre von all den Reichtümern, die sie in China erwerben wollen, und mich dabei der unendlichen, herzbeklemmenden Armut erinnere, die ich dort, ärger als irgend sonst wo, gesehen habe. Wo sollen nur die Reichtümer herkommen? Ich mag mich aber irren, denn ich kenne ja nur den trostlosen Norden Chinas, und vielleicht liegen wirklich Rubinen auf den Strassen in Kwangtung, wo ich so wenig wie Bartolo je gewesen bin.
Ich muss meinen heutigen Brief schliessen, denn wir wollen hinaus in den Wald, aber ich werde Ihnen noch von hier weiter schreiben, da wir einige Tage hier bleiben wollen, um uns von der bisherigen für die weitere Reise zu erholen. Dieser erste Gruss soll Ihnen nur sagen, dass ich jenseits des grossen Wassers gut angelangt bin. Nun schlage ich in Gedanken eine grosse Brücke darüber, deren eines Ende hier ruht, während das andere in der Gegend von Pei-ta-ho die Erde berührt, und über diese Brücke eilen tausend herzliche Gedanken freundschaftlichen Erinnerns zu Ihnen.
Vancouver, August 1899.
Mein gestriger Brief, lieber Freund, handelte so sehr von Bartolo, dass ich fürchte, er wird den Eindruck bei Ihnen erwecken, als seien wir mit ihm die einzigen Passagiere auf dieser langen Fahrt gewesen. Drum sende ich gleich diesen zweiten Brief nach, der Ihnen von unserer übrigen Reisegesellschaft erzählen soll.
Am interessantesten waren mir zwei Japaner, die sich ein Stückchen Heimat mitnahmen,
in Gestalt einer zwei Quadratfuss grossen, erdgefüllten Kiste, in der mit Steinen und
verkrüppelten Zwergbäumchen eine japanische Miniaturlandschaft dargestellt war. Sie
hüteten dies Gärtchen mit rührender Sorgfalt. Beide litten offenbar sehr an
Seekrankheit und ihre gelbliche Haut hatte allmählich seltsam grüne und violette
Schattierungen angenommen, aber, mochten sie noch so elend sein, sobald ein
Sonnenstrahl durch das dicke, schwere Gewölk drang, krochen sie aus der Kajüte und
trugen ihr Kästchen auf das Deck in die Sonne, und sobald sich der Wind dann erhob
und es kälter wurde, schwankten sie wieder hinunter, ihr Stückchen Japan in den
Armen. Sie reisten nach Amerika zu
Auf unserem Schiff waren auch ein paar russische Reisende, sowie englische und
belgische Ingenieure, die aus Peking zurückkamen. Sie hatten sich dort um
Konzessionen für Eisenbahnen beworben, die möglicherweise erst in Jahrzehnten,
vielleicht auch nie gebaut werden dürften. Ich erinnere mich sehr gut, wie Sie mir
oftmals sagten, gerade dies Drängen um Eisenbahnen erbittere die Chinesen besonders.
Und dabei waren die meisten dieser nur mit Drohungen errungenen Zugeständnisse für
lange hinaus ganz zwecklos, und wurden nur verlangt, um etwaigen anderen Bewerbern
zuvorzukommen. Man prahlte in Peking mit den erlangten Konzessionen, wie die Indianer
mit
Auf dem Schiff hörte man endlose Debatten über die Zukunft Chinas, über »offene Tür«
und »Interessensphären«, über Aufteilung und die Ansprüche der einzelnen Länder. Was
aber in Pekinger Kreisen nur leicht angedeutet wurde, das sprachen diese Reisenden
mit brutaler Offenheit aus. Man sah sich da plötzlich der bête humaine gegenüber, wie
sie wirklich ist: stets erscheint ihr der eigene Anteil zu klein, der des anderen zu
gross. Mit harmloser Naivität wurde da enthüllt, was jedes einzelnen Herzenswunsch
war: für sich selbst abgeschlossene und möglichst grosse Interessensphären, bei dem
Nachbar dagegen ein möglichst offenes Scheunentor. Mich stimmten diese Debatten oft
unendlich traurig, denn sie eröffneten für die Zukunft weite hässliche Aussichten auf
Kampf und
Draussen war es sehr neblig, sehr grau und eisig kalt geworden.
Ein oder der andere Passagier fragte wohl mal, ob keine Kollisionsgefahr sei. Dann wurde geantwortet: »In diesen nördlichen Breitengraden fahren gar keine anderen Dampfer, und sollten wir unwahrscheinlicher Weise einem Segelschiff begegnen, so sind wir eben die Wuchtigeren.«
So ging es im dicken Nebel weiter, und in langen gleichmässigen Zwischenräumen ertönte das schauerliche Nebelhorn.
Die übrigen Reisenden hatten das Rauchzimmer
Der Nebel war dichter als je zuvor, die sichtbare Welt schien auf ein paar Fuss
zusammengeschrumpft zu sein, drüber hinaus war alles ein unheimliches Grau, das
lautlos hin und her wogte. Zentnerschwer fühlte ich eine Last, die sich mir aufs Herz
legte, so dass ich kaum zu atmen wagte – und diese Last war eine namenlose Angst vor
dem grauen Etwas, das die ganze Welt um mich her erfüllte. Ich kam mir so einsam vor
wie noch nie im Leben, als sei ich ganz allein, als letztes Lebewesen, und als
schwebte ich angstvoll suchend durch den endlos leeren Weltenraum. Und wie ich so
hinausstarrte, begann es in dem Grau zu wogen, zu steigen und sinken; es war, als
wehe der Wind dicke, schwere Schleier hinweg, und plötzlich lag klar und dicht vor
mir ein Stück kalte, dunkle, nordische See. Ein Felsen erhob sich daraus,
schneebedeckt und an all seinen Zacken Eiszapfen tragend, die bis zu dem schaurigen
Wasser herabhingen. Oben aber auf dem Felsen sass ein riesiger Eisbär, in den Tatzen
das Gerippe des letzten Tieres haltend, das er in der Einöde gefunden. Er schaute
sich um, als wollte er sagen, »nun bin ich Alleinherrscher der Welt«. – Aber da tat
sich das schwarze Wasser auf, und heraus
»Wir waren heute den Aleuten ganz nah,« sagte der Kapitän beim Abendbrot, »einen Augenblick konnte man eine der kleinen Inseln durch den Nebel sehen.«
Ich aber hatte die Empfindung, als hätten sich die Wolken, die uns umgeben, einen Augenblick geteilt, und ich hätte einen Blick getan in die Geschichte der Welt, die ja oft eine Geschichte wilder Tiere ist. –
Vancouver, August 1899.
Wir sind noch immer hier, ohne besonderen Grund. Aber es ist herbstlich kühl und schattig, und die kleine Ruhepause gibt uns die kurze Illusion, wie andere Menschen sesshafte Wesen zu sein.
In den meisten Strassen sind hier Alleen grüner Bäume gepflanzt, unter denen rotbäckige Kinder morgens zur Schule radeln. Überall sieht man Gärten voll später Rosen, Rittersporn und Astern; die Mauern sind mit Kapuzinerblumen bedeckt, und an den kleinen Kieswegen blühen Reihen von Georginen und Malven. Gärten in so nordischen Ländern wie hier haben mir immer etwas Rührendes; es ist, als wollten die Pflanzen in der kurzen Sommerzeit möglichst viel leisten, und die Blumen, die es so eilig haben, zu erblühen, mahnen, dass wir ja alle nicht wissen, wie kurz uns die Spanne Zeit bemessen sein mag, da für uns noch die Sonne scheint.
Inmitten der wohlgepflegten Gärtchen stehen kleine Landhäuser; sie alle sehen
behaglich und behäbig aus. Bei ihrem Anblick denkt man unwillkürlich an jene Gattung
englischer Romane, die junge Mädchen lesen dürfen, und in denen
Die Leute, denen wir an diesem fichtenumwachsenen, bergumgebenen Hafen begegnen, sehen alle tüchtig und tätig aus; man merkt ihnen gleich an, dass es freie, kräftige Persönlichkeiten sind, die sich hier, unabhängig von obrigkeitlicher Hilfe, wie von Bevormundung, eine Heimat gegründet haben. Sie sind stolz auf das, was sie schon jetzt aus dieser entlegenen Bucht gemacht haben, und voll Zuversicht auf das, was die eigene, selbständige Expansions- und Betätigungskraft noch schaffen wird.
Wir sind hier weit von jenen künstlich gezüchteten Kanzlei-Kolonien, denen durch einen Geheimrat aus der Hauptstadt des Mutterlandes als wichtigste Grundlage eines beginnenden Gemeinwesens das Schema eines heimatlichen Grundbuches, sowie Polizeivorschriften für die Stunde des Lichtauslöschens und für das Maulkorbtragen der Hunde gesandt werden.
Maulkörbe trägt hier niemand.
Es wird auch wenig regiert. Die Gesetze, die sich allmählich als notwendig herausbilden, entspringen den örtlichen Bedürfnissen und Erfahrungen – sie werden nicht »ready made« importiert.
Ich entbehre es sehr, mich über diese und tausend andere Fragen nicht mehr mit Ihnen,
lieber Freund, aussprechen zu können. Wer weiss, wann ich eine Antwort von Ihnen
erhalten werde, denn in Ihrem Briefe, den ich hier vorfand, schreiben Sie ja, dass
Sie nächstens wieder eine grosse Reise in das Innere Chinas unternehmen müssten. All
meine Briefe werden Sie wohl lange erwarten und Sie erst nach Ihrer Rückkehr
erreichen. Könnte ich den kleinen weissen Bogen doch Flügel geben, um Ihnen wie
Brieftauben auf Ihrer Expedition nachzufliegen – dann fänden Sie jeden Abend, wenn
Vancouver, August 1899.
Meine grosse Freude hier in Vancouver ist es, endlich einmal wieder lange Spaziergänge im Schatten schöner Bäume machen zu können. Wer, wie ich, in einem Waldland aufgewachsen, sehnt sich immer danach zurück. Bäume sind mir wie lebende Wesen und jeder hat seine eigene Physiognomie, seinen Ausdruck, den er, wie wir Menschen auch, durch besondere Erfahrungen und Erlebnisse allmählich gewonnen hat. Ich begreife so gut, dass die alten Germanen sich die Bäume als Sitz besonderer Gottheiten dachten, und schon als Kind hatte ich einen wahren Abscheu vor Sankt Bonifatius, der den heiligen Baum fällte.
Sie erinnern sich gewiss noch, wie oft ich Ihnen von meiner Sehnsucht nach schattigen
Erinnern Sie sich, wie oft wir dort oben auf der Mauer standen und hinüberschauten auf die verbotene Stadt mit ihren verfallenden Mauern? Stets hatte ich das Gefühl, als läge ein Alp auf der Stadt, wie der Schatten kommenden Unheils! Mit welcher Sehnsucht habe ich von dort oben weit hinaus geschaut, über die unendliche Ebene und dabei anderer Länder gedacht, wo uns nicht alles unverständlich ist, wo die Men schen sich grüssen, freuen und küssen, sprechen, lachen und trauern wie wir. Am Vorabend meiner Abreise haben wir noch einmal dort oben zusammen gestanden, und Sie wiederholten die Worte, die Sie in den letzten Wochen so oft gesagt hatten: »Ja, Sie müssen fort von hier – es ist besser so.«
Als wir dann nach Hause gingen über die Kanalbrücke und an dem kleinen Tempel vorbeikamen, in dessen Hof ein Kuriositätenhändler seinen kleinen Laden alter Vasen und seltsamen Gerümpels eröffnet hatte, da sagten Sie mir: »Ihr nächster Spaziergang wird Sie unter alte schattige Bäume führen, wie Sie es sich hier so oft gewünscht haben.«
Sie schienen so traurig, als Sie das sagten,
Und jetzt bin ich in einem Lande schattiger, grüner Bäume und täglich seit wir hier sind, gehe ich stundenlang tief in den Wald hinein. Das Schönste hier ist der Viktoria-Park, mit seinen uralten Bäumen und den herrlichen Blicken auf die See, vor allem mit seiner Ruhe, seinem Schweigen und Frieden. Wie würde ein Böcklin diesen Wald geniessen, der dem unberührten Naturzustand noch so nahe scheint, dass man sich gar nicht wundern würde, über das dicke, weiche Moos Faune und Einhorne schreiten zu sehen.
Gestern bin ich besonders lange im Park gewesen. Ich ging träumend immer weiter, bis
ich an sein äusserstes Ende kam, wo er zur schmalsten Stelle einer Meerenge führt.
Das felsige Ufer fällt dort steil ab, und tief unten strömt das Wasser reissend
vorbei. Ich setzte mich nieder zwischen Farnen und allerhand Ranken und schaute in
die Tiefe auf die Meeresstrasse, durch die alle Schiffe fahren, die vom fernen Osten
nach Vancouver kommen. Und ich träumte, wie hübsch es sein müsste, hier irgendwo ein
waldverborgenes Häuschen zu besitzen; dann würde ich alle Tage bis zu dieser
äussersten Spitze gehen, setzte mich dort unter die alten Bäume und schaute aus, ob
Schiffe
Denn nicht wahr, Sie bleiben doch nur gerade so lange in China, als es durchaus nötig ist? Ich mache ja schon so viel schöne Pläne für die Zeit, wo wir uns wiedersehen werden. Wann, wo wird das sein?
Banff, September 1899.
Die Frühsonne scheint in mein Zimmer, lieber Freund, draussen zwitschern Spatzen, die sich in der Jahreszeit irren und jetzt beim nahenden Herbst noch an Frühlingsidyllen denken, und ich will den Tag beginnen, indem ich Ihnen guten Morgen zurufe, hinaus in die unergründliche Weite. Möge Ihnen ein freundlicher Lufthauch meinen Gruss bringen – wo Sie auch sein mögen. Ich fürchte, es kann dort nicht so schön sein wie hier.
Das hiesige Hotel liegt auf waldigem Bergrücken, in grösster Einsamkeit, und erinnert
an manche Tiroler Burgen. Von unseren Fenstern
Nach der langen Reise ist die hiesige Behaglichkeit an sich ein Genuss. Es ist herrlich, wieder mal in einem Bett zu schlafen, das weder schwankt noch schüttelt, und Mahlzeiten einzunehmen, ohne Sorge, dass der Zug abfährt, oder dass der gegenübersitzende Reisende seekrank wird.
Dicht neben dem Hotel ist ein grosses, offenes Schwimmbassin, das von warmen
Schwefelquellen gespeist wird. Fichten stehen ringsherum und das laue Wasser, der
Sonnenschein und die köstliche würzige Luft bilden zusammen einen so wonnigen
Aufenthalt, dass man im Sommer sicher gern Stunden dort verbrächte. Weiter unten, dem
Tale zu, sind natürliche Grotten mit sprudelnden Quellen und tiefen Teichen, die
geheimnisvoll unter den überhängenden Felsen verschwinden. Das Wasser ist so klar,
dass man tief unten auf dem Grund die weissen Sandflächen und die einzelnen
Kieselsteinchen schimmern sieht. Ich muss dort immer an die schöne Undine denken. In
solch tiefen, klaren Wassern ist sie gewiss, unbewusst glücklich, wie die silbrigen
Fischchen, herumgeschwommen,
Wir haben hier einen Offizier kennen gelernt, der die Mounted Police des Distriktes
befehligt. Im Winter muss das ein recht einsamer Posten sein, wenn das Hotel
geschlossen ist und die ganze Welt weit und breit unter tiefem Schnee begraben liegt.
Im Sommer dagegen und auch jetzt noch in den schönen Herbsttagen scheint Kapitän
White ein ganz lustiges Leben zu führen. Er ist beständig hier im Hotel und die Damen
sehen ihn alle als eine Art Badedirektor an, der für die Vergnügungen der ganzen
Gesellschaft verantwortlich ist. In der Halle, wo in zwei grossen Kaminen halbe
Baumstämme knisternd verbrennen und an den Wänden und auf dem Boden herrliche dicke
Felle liegen, flirtet er mit schönen blauäugigen Kanadierinnen, die hier mit
allerhand Sports die Saison zubringen; er flirtet mit amerikanischen »Summer Girls«,
die es origineller gefunden haben, sich Kanada statt Europa
Wir fuhren gestern nach dem Devil's Lake, einem tiefblauen See klarsten Wassers, der von hohen Felsen umgeben ist. Warum er gerade mit diesem Namen bedacht worden ist, konnte ich nicht ergründen. In allen Ländern kommt aber diese Benennung so häufig vor, dass man unwillkürlich annehmen muss, der Glaube an die Allgegenwart des Teufels sei weit mehr als derjenige an eine andere Allgegenwart im tiefinnersten Bewusstsein der Menschen lebendig.
Der Glaube an Gespenster, an böse Geister, anders auch Teufel genannt, ist ja sicherlich älter als der eigentliche Gottesglauben, denn aus der Angst vor bösen, unerklärlichen Mächten ist aller Kultus entstanden; er diente anfänglich immer dazu, Unheil von den armen Menschen abzuwenden, die von den bösen Geistern verfolgt wurden: die ursprünglichen Kultformen sind immer abwehrender Art und vielen, vielleicht den meisten Menschen, erscheint ihre Gottheit auch heute ja noch als ein erzürntes Wesen, das versöhnt werden muss.
Banff, September 1899.
Lieber Freund! Die Welt ist hier so schön, dass ich Ihnen gleich wieder schreiben muss! Ich fürchte, dieser Briefanfang ist nicht sehr logisch – aber Sie werden ihn doch verstehen, Sie haben ja immer alles verstanden – Gesprochenes und Unausgesprochenes.
Wir haben uns in einem Lande gekannt, das
Es ist so schön, wieder etwas schön finden zu können, plötzlich zu fühlen, dass die
Jugend
Doch auch für die kurze Rast sei diesen Wäldern Dank!
Banff, September 1899.
In der hiesigen Waldesstille, die so beruhigend auf uns Weitgewanderte wirkt, denke ich oft staunend an das Hasten und Ringen zurück, in dem wir in Peking gelebt haben. Dort schien Streben und Kämpfen, andere verdrängen und sich selbst einen Platz erobern der einzige Zweck des Daseins zu sein. Ich glaube, dass Sie, lieber Freund, verstehen werden, welche Erquickung dieser weltabgeschiedene Frieden mir gewährt. Denn oft, wenn ich Sie in Peking reden hörte, hatte ich die Empfindung, dass Sie das ganze dortige Treiben und Drängen wie von einer Höhe aus betrachteten, zu der all die kleinlichen Motive nicht heranreichten, dass Sie mit Ihren Gedanken in einer Stadt lebten, die allem Niedrigen wirklich eine »verbotene« war.
Sie dachten und fühlten ja sogar für die Chinesen, deren Wünsche und Anschauungen
allen anderen als eine quantité négligeable erschienen, und die nur dazu da waren, um
mit Gewalt in sogenannte Fortschritte getrieben zu werden, die dafür gestraft wurden,
dass sie sich von dem einen hatten berauben lassen, indem der andere sie noch mehr
beraubte. Ein jeder stachelte die Chinesen dazu an, gegen die Forderungen des an
deren scharf aufzutreten
Ich habe nirgends so sehr wie in Peking den Erfolg verachten gelernt, weil ich einmal ganz aus der Nähe gesehen habe, womit er erreicht wurde, von den einen durch Bestechung, von den anderen durch Drohen mit roher Gewalt. Die armen Chinesen sind nun einmal gegen Geld und Kanonen, innerlich und äusserlich, widerstandslos. Setzen sie sich aber einmal zur Wehr, so steckt immer eine andere Macht dahinter, die eben mehr bestochen, oder mehr gedroht hat, von der mehr zu gewinnen oder mehr zu fürchten war. Ich erinnere mich sehr gut, wie Ihr Freund Li Hung Tschang sich ein paarmal fremden Forderungen widersetzte und auch wirklich nicht nachgab. Das war eben, weil hinter ihm eine andere fremde Macht stand, vor der er noch mehr Angst hatte als vor den Fordernden. Und die ganze europäische Erbärmlichkeit kam dann zutage, indem man wohl über Li Hung Tschang herfiel, die fremde Macht aber unerwähnt liess – weil man vor der eben selbst auch Furcht hatte.
Die Pekinger Luft hat nun einmal einen ganz
Im Eisenbahnzuge, Oktober 1899.
Lieber Freund, wir haben das reizende Banff verlassen. Die Bergketten, die tiefen
grünen Wälder liegen längst hinter uns. Einen ganzen Tag schon fahren wir durch die
weite Ebene. Wir haben zum Fenster hinaus geschaut, haben hier und da ein paar Seiten
eines Buches gelesen und die anderen Reisenden beobachtet. Nun wird es Abend, die
Schatten werden länger, und im fernen purpurnen Westen neigt sich die Sonne anderen
Welten zu. Mir ist, als ob graue Wesen aus der Erde aufsteigen, die mich stumm
anblicken und in deren toten Augen ich die Frage lese: »Was hast Du aus uns gemacht?«
Es sind Pläne und Hoffnungen, Träume, Wünsche und Ideale – lauter Dinge, mit denen
wir vor langen Zeiten, am frühen Morgen
In den Mühen und Sorgen des täglichen Lebens, die uns wie Opium vom Schicksal gegeben
werden, um die grösseren Leiden zu vergessen, denken wir kaum all des vielen
Verlorenen. Aber an den Abenden langer Reisetage, wenn das Buch der Hand entgleitet
und wir müde aus dem Fenster hinausstarren, wenn der Zug durch weite Ebenen braust
und sein Schatten, riesengross verlängert, über der wehenden Grasfläche neben uns
dahineilt,
Der geträumte Märchengarten liegt plötzlich wieder vor uns, so schön, so beglückend, wie wir ihn einst geplant, in jener Zeit, da wir das felsenfeste Bewusstsein hatten, zu ganz Besonderem berufen zu sein; aber statt der damaligen Zuversicht, statt des Glaubens an uns und unsere Bestimmung, erfüllt uns heute nur bitteres Weh; wir wissen ja, dass wir all die goldigen Blumensaaten verloren haben, die einen erstarrten in Eis und Schnee, die anderen verbrannten in sengender Glut – nimmer werden sie keimen und blühen. Mit Nichtigkeiten und Eitelkeiten sind die Jahre verstrichen, wir haben sie vergeudet in der Jagd nach dem Unwesentlichen und vertrauert in den Sümpfen der Entmutigung – und darüber ist das Höchste und Beste in uns gestorben, das Kostbarste ist verloren gegangen.
Und nun ist es zu spät! –
Wir möchten die Zeit anhalten, zurückeilen, nochmals anfangen und alles so ganz
anders und
Und die ganze Fahrt – wohin? wozu? –
Selig, wer sich aus der Kette der Verluste, als Opium letzter Stunde, den Glauben an ein Ziel gerettet.
New York, Oktober 1899.
Lieber Freund! Nach viertägiger Fahrt sind wir endlich hier eingetroffen. Müde und
verstaubt kamen wir gestern Abend an und fuhren gleich nach dem Waldorf Astoria. Ich
wartete in der grossen Halle des Hotels, während mein Bruder sich nach unseren
Zimmern bei den Direktoren erkundigte, die wie Kronjuwelen oder Verbrecher hinter
Gittern sitzen. Während ich so wartete, bildete sich allmählich ein Gedränge um mich,
das
Die unmittelbare Folge von Tas Aufsehen erregender Anwesenheit war, dass sich sofort
Reporter der verschiedensten Zeitungen bei uns melden liessen. Sie waren voller
Neugier, China und besonders die alte Kaiserin betreffend, über die sich
Heute Morgen stand ich ganz früh auf, setzte mich ans Fenster und sah die grosse
Stadt erwachen. Wir wohnen im achten Stock, die Menschen unten in der Avenue sehen
wie Ameisen aus, und
Das erste, was ich heute tat, war, mich mit der Ausschmückung meines äusseren
Menschen zu beschäftigen, denn ach, im Sonnenlicht westlichster Zivilisation besehen,
erscheint meine chinesische
Andre Städtchen! andre Mädchen! Wie würde Tientai staunen, wenn er hörte, dass die Säle mit den Spiegelscheiben, vor denen die blonden Houris auf und ab paradieren, die Behausung eines amerikanischen Tientais sind.
Als ich meinen Namen und meine Adresse angab, ertönten kleine Schreie freudigen Erstaunens von der Direktrice, den Verkäuferinnen und den schönen Probiermamsells: »Was, Sie sind die Dame, die gestern aus Peking angekommen ist?« »Wir haben es alles in den Morgenblättern gelesen.« »Sie wohnen im Waldorf und haben einen Chinesen mitgebracht.«
Alle wollten mich nun bedienen, und jede hatte eine andere Frage über China und vor allem über die alte Kaiserin; die Existenz anderer Kunden schien vergessen. Aber die Direktrice, Madame Blanche, führte mich in einen kleinen Nebensalon, und während ich die ausgewählten Kleider anprobierte, schwirrten Fragen an mich und Weisungen an die Rock- und Taillenarbeiterinnen wirr durcheinander.
»Und ist die alte Kaiserin wirklich eine so böse Frau?«
(»Miss Caroline, bitte die Taille etwas enger.«)
(»Miss Harriet, bitte, straff über den Hüften und von den Knieen an weit und faltig.«)
»Ist es wahr, dass sie ihn auf einer kleinen Insel gefangen hält?«
(»Recht weit über die Büste, Miss Caroline, das Fichu voll drapiert, du flou toujours du flou.«)
»Was kann man aber auch von einer Heidin erwarten!«
(»Miss Harriet, den Rock recht lang, das gibt etwas schwebendes.«)
»Und hat der Kaiser wirklich dreihundert Frauen?«
(»Die Ärmel enger, Miss Caroline.«)
»Natürlich haben Sie die Kaiserin gesehen! Wie interessant muss das gewesen sein! Aber von Toilette haben die Damen des Pekinger Hofes wohl nur wenig Idee?«
(»Mehr Grazie im Faltenwurf, Miss Harriet, soignez la ligne.«)
»Sass die Kaiserin wirklich auf einem goldenen Drachen?«
(»Miss Caroline, il faut avantager madame.«)
»Nein, es geht doch nichts über reisen und fremde Völker sehen. Aber man darf sie
natürlich
(»Miss Harriet, nehmen Sie noch einmal genau die Masse.«)
»Seien Sie versichert, dass wir alles aufs beste für Sie liefern werden. Wir interessieren uns ausserordentlich für Sie. Wir haben noch nie eine Kundin gehabt, die bei der Kaiserin von China gewesen ist.«
Und so verdanke ich es denn der Kaiserin von China, wenn meine New Yorker Kleider wirklich ganz besonders schön ausfallen!
New York, Oktober 1899.
Lieber Freund! Haben Sie je von Charles William O'Doyle gehört? anders auch
»Chinalack-O'Doyle« genannt? Dieser 50fache Millionär, der heute an der Spitze der
grössten Eisenbahnen steht, der Bergwerke, Schiffe und Ländereien, gross wie ein
Königreich, besitzt, hat seine Laufbahn vor Jahren als Apothekergehilfe in San
Francisco begonnen. Wie er dahin gekommen, wer seine Eltern waren, erzählt er heute
wahrscheinlich niemandem
In Amerika wird jetzt alles fabriziert, wie in Europa – auch Stammbäume!
Charles W. legte den Grund zu seinem Vermögen durch einen wahrhaft genialen Einfall. Er hatte in San Francisco Gelegenheit, die Chinesen zu beobachten, die damals noch massenweise frei nach Kalifornien einwandern durften und ebenso massenweise nach ihrem Tode in grossen schweren Holzsärgen nach Kanton zurückbefördert wurden. Chinesen glauben ja nun einmal nur im eigenen Lande regelrecht begraben werden zu können. Aber die schweren Holzsärge und der teure Transport verschlangen oft alles, was sich der Tote während Jahren erspart hatte, zum grossen Ärger der bezopften Erben. Da erfand Charles W. einen eigenen Lack, den er zuerst an allerhand toten Tieren ausprobierte. Damit bestrichen, konserviert sich jeder Tote monate-, ja jahrelang; er dörrt vollkommen aus, wird hart wie Stein und erscheint, als sei er mit einer gelben Lederhaut überzogen.
Dies war die Grundlage der O'Doyleschen Millionen!
Seitdem macht Charles W. Geschäfte in allen Ländern der Welt, er ist längst aus San
Francisco fortgezogen und nach New York übergesiedelt, aber er ist mit China stets in
besonderen Beziehungen geblieben. Es wird gemunkelt, dass er, abgesehen von seinen
grossen chinesischen Bank- und Bahninteressen, durch die Dankbarkeit seiner ersten
chinesischen Klienten, denen sein Chinalack manch kleine Erbschaft erhalten, Anteile
an kantonesischen Pfandinstituten, Teehäusern und Blumenbooten erworben hat. Mein
Bruder kannte ihn schon lange, hat auch von Peking aus Geschäfte mit ihm gemacht, und
so war denn Charles W. O'Doyle
Sein Haus liegt dicht am Central-Park. Es hat hohe Türme und eine breite Bogen-Loggia, von der aus man in die herbstlich gefärbten Bäume des Parks und auf den fortwährenden Strom der vorbeifahrenden Equipagen blickt. Auf dem mit blitzenden Kupferplatten belegten Dach stehen zwei grosse Bronzereiter, ähnlich wie die auf dem deutschen Reichstagsgebäude, bei denen man sich auch immer staunend fragt, wie sie wohl da hinaufgeraten sind. Die Haustür ist massiv geschnitzt und entstammt einem alten befestigten Hause bei Golconda; sie ist mit weit vorspringenden eisernen Spitzen versehen, die einst dazu dienten, den Anprall feindlicher Elefantenreiterei aufzuhalten. Durch diese Tür tritt man in eine weite, weissgoldene Halle. Zwei ägyptische Mumienkasten, reich bemalt und vergoldet, mit Deckeln, deren obere Enden Sperberköpfe darstellen, stehen aufrecht, wie Schildwachen zu beiden Seiten einer wunderbaren Malachittreppe, die zu den oberen Stockwerken führt.
Es ist eine weltbekannte Treppe, über die die Lebemänner zweier Kontinente
geschritten; führten ihre Stufen doch einst zu jener berühmten Aspasia des zweiten
Kaiserreiches, der sie ein russischer
Gepuderte Diener mit respektablen englischen Gesichtern standen sich auf den Treppenabsätzen stumm gegenüber.
»Als der Herzog von Hardup neulich verkrachte«, erklärte mir Charles W. O'Doyle, »habe ich nach London telegraphiert und seine ganze Dienerschaft rüberkommen lassen – so war ich doch sicher, Leute zu haben, die in einem anständigen Hause trainiert wor den sind.«
O'Doyle ist ein breitschultriger, stämmiger Mann. Sein rotes glattrasiertes Gesicht
ist unter dem Kinn bis zu den Ohren von einem kurzen Bart umgeben, der einer
Halskrause ähnlich sieht. Grosse Perlen prangen auf dem Hemde, eine Kette mit
allerhand seltenen Berlocks hängt ihm quer über dem Magen. Mit dem spitzen
vorspringenden Bauche, über dem sich die breiten haarigen Hände
Mrs. O'Doyle merkt man es auf den ersten Blick an, dass sie aus der früheren Lebensepoche ihres Mannes stammt, und dass sie sich unter ihrer Perlenlast und zwischen den gepuderten Dienern nicht recht wohl fühlt. Von Zeit zu Zeit schaut sie ängstlich nach ihrem Mann, wenn sie sich einer besonderen gesellschaftlichen Schwierigkeit gegenüber sieht, oder wenn sie fürchtet, eine Dummheit gesagt zu haben. Ihr ängstliches, um Vergebung flehendes Benehmen und die kalten, lauernden Augen von O'Doyle – welche Faktoren für eine jener häuslichen Tragödien, die sich täglich neben uns abspielen, ohne dass wir es ahnen!
Zwei entfernte junge Vettern von Mrs. O'Doyle waren auch anwesend. Der eine erfreut sich der klangvollen Vornamen Washington Montgomery. Ich war ganz gespannt, welcher Familienname für solchen Anfang hochtrabend genug sein würde, und denken Sie sich, er heisst Baggs. Washington Montgomery – Baggs! Es ist ein Sprung wie von einem Palais am Central-Park in eine Mietskaserne der neunten Avenue!
Der zweite Vetter, dessen Name ich mich nicht entsinne, ist offenbar erst ganz kürzlich in das O'Doylesche Millionenreich verpflanzt worden. Als Champagner serviert wurde, ward er ganz aufgeregt und rief laut über den Tisch: »Drink, drink, gentlemen, whilst it's fizzing!«
Der Speisetisch war übrigens ein wahres Entzücken! Ich habe noch nie eine solche
Fülle von Orchideen gesehen, ausser vielleicht in dem Botanischen Garten von
Kalkutta. Ich hätte sie gern alle einzeln bewundert: die langen weissen Dolden, die
vom Kronleuchter herabhingen, die grünlichen, braungeäderten, die wie kleine samtige
Schuhe aussehen, in denen Feen nachts im Mondschein tanzen; die grossen blasslila,
die auf ihren hohen Stengeln so stolz und abwehrend erscheinen, bis dass man ihre
verlangend geöffneten purpurnen Lippen gewahrt. Orchideen kommen mir immer vor wie
manche schöne Frauen, in deren Nähe man gleich fühlt, dass sie wunderbare
geheimnisvolle
Bei diesem New Yorker Diner fehlte es übrigens auch nicht an Geschichten. Beim Öffnen der Servietten fiel jedem Gast ein Etui in die Hand, das irgendein Geschenk enthielt: Manschettenknöpfe, Portebonheurs, Nadeln, Schnallen. Alles im modernsten art nouveau-Geschmack! Kolonel Patterson, der bisherige amerikanische Vertreter in Kairo, rief seinem alten Freund O'Doyle über den Tisch zu: »Aber Charles, wozu hast du denn das gemacht? Hier ist doch niemand, der bestochen werden soll?«
Darauf stürzte sich der Kolonel in eine Flut türkischer Bestechungsgeschichten, die mir aber ziemlich zahm erschienen, weil ich drei Jahre lang chinesische Bestechungsgeschichten gehört habe und der fernste Osten darin dem näheren Orient doch noch über ist. Der Prinzess, die nie die Gegenwart der herzoglich Hardupschen Diener vergisst, war diese Konversation offenbar unangenehm, sie suchte den Kolonel davon abzulenken und fragte ihn, welche bedeutenden Leute er in Kairo gekannt habe, worauf sie die Antwort erhielt: »Well, Mrs. Princess, da ist ein Mann, der Cromer heisst, who bosses the show, und ausser ihm war ich da!«
Möchte mein Brief Sie wohl antreffen, wo Sie auch sein mögen, und möchten Sie nicht gar zu lang dort bleiben, wo »dort« auch sein möge, da es doch auf alle Fälle von mir sehr weit fort ist!
New York, November 1899.
Lieber Freund! Heute besuchten mich der alte Mr. Bridgewater und seine Töchter. Er hat lange Jahre in Europa zugebracht und war amerikanischer Gesandter in Petersburg, woher mein Bruder und ich ihn kennen. Jetzt lebt er mit seinen Töchtern ganz in New York und in Tuxedo Park. Er steht hier an der Spitze grosser, wohltätiger Institutionen, schriftstellert und reist häufig nach Europa, mit jener amerikanischen Leichtigkeit, die eine Art Gottähnlichkeit an sich hat, da sie über Raum, Zeit und Geld erhaben zu sein scheint.
Mr. Bridgewater erzählte mir von der grossen Veränderung, die sich in Amerika seit
dem Kriege gegen Spanien in der öffentlichen Meinung und in
Wie der einzelne Amerikaner sich schon seit jeher stets den Besten jedes anderen
Landes gleichgefühlt
Eine Folge ihrer kräftigen Jugendlichkeit ist es, dass sie die politische Nervosität,
an der man in Europa so oft leidet, noch nicht kennen. Die
Das ist das Weltzukunftsbild, wie es mir ein Amerikaner entwarf. Ich sende es Ihnen in jenes ferne Land, dessen urprosaische, enthusiasmuslose Söhne nur in den Sorgen der täglichen Gegenwart aufgehen und nie Spekulationen über die Zukunft anzustellen scheinen. Und doch könnten vielleicht gerade diese, allen Zukunftsgedanken so abgewandten Leute in der Weltzukunft ein grosser Faktor werden – – denn über uns allen steht das Schicksal, und es lässt Handlungen und Gedankenströmungen, einzelne Menschen und Völker oftmals genau den entgegengesetzten Zwecken nützen, denen sie ursprünglich dienen wollten.
New York, November 1899.
Lieber Freund!
Wir haben einen sehr angenehmen Abend bei Bridgewaters verbracht. Schon ihr Haus zu
sehen, ist eine wahre Freude. Alle Räume sind mit individuellem Geschmack
eingerichtet und mit viel schönen Dingen geschmückt, die Mr. Bridgewater
Nach dem O'Doyleschen Fest war dieses Diner wie die Offenbarung einer anderen
amerikanischen Welt – und beide Häuser liegen doch nur ein paar Blocks von einander
entfernt! Wir hören aber so viel von der amerikanischen Gleichheit reden, davon, dass
der Präsident aller Welt die Hände schüttelt, dass wir leicht auf den Gedanken kommen
könnten, die amerikanische Gesellschaft sei eine einzige gleiche Brühsuppe, aus der,
als Klösse, nur etliche Vanderbilts herausragen. Aber ganz im Gegenteil. Die hiesige
Gesellschaft zerfällt in zahllose verschiedene Koterien, die himmelweit von einander
entfernt sind. Es sind ja alles Amerikaner, und gewisse Rasseneigenschaften werden
sie wohl gemeinsam haben, aber zwischen der O'Doyleschen und der Bridgewaterschen
Koterie z.B. ist ein Unterschied, wie zwischen einem rohen Stück Rindfleisch und
einem im Café Anglais servierten Tournedos à la Rossini. Und die Tournedos
achten
Bei Mr. Bridgewater wird offenbar sehr fein gesiebt, und ich habe da angenehme
Menschen getroffen. Ich glaube, die Gäste waren alle reich. Ich habe aber für diese
Annahme nur den einen Anhaltspunkt, dass sie vieles als durchaus selbstverständlich
ansahen, von dem ich weiss, wie schrecklich teuer es hier ist. Keiner von ihnen
erwähnte
Ich sass bei Tisch neben einem Mr. Anstruther, der zum Klub der vierzig amüsantesten Männer New Yorks gehört. Er war recht nett und unterhaltend, äusserte aber leider nichts so erstaunlich Amüsantes, dass es nicht auch ausserhalb dieses Klubs hätte erdacht werden können. Ich wartete den ganzen Abend darauf, wie auf das Bukett beim Feuerwerk. Aber es stiegen nur einzelne Raketen auf.
Es gehört doch Selbstvertrauen dazu, sich um die Mitgliedschaft dieses Klubs zu bewerben! Ich fragte, was man denn täte, wenn man blackballiert würde, und ob man dann sein Lebenlang die Etikette trüge, ein langweiliger Mensch zu sein? Mr. Anstruther antwortete: »Dann geht man nach Hause und schreibt ein gescheites Buch und nennt es: a clever book by a bore.«
»Das ist möglicher, als es zuerst klingt,« meinte Bridgewater, »denn es ist leichter,
ein gescheites Buch zu schreiben, als im täglichen Leben amüsant zu sein – Bücher
werden mit dem esprit d'escalier
»Und wegen dieses Sinns für Humor sind amüsante Menschen eigentlich nie lustige Menschen,« sagte Anstruther, »denn der Humor sieht die traurige Komik des Lebens, den Widerspruch zwischen Aspirationen und Leistungen, zwischen dem, was man sich einbildet, und dem, was wirklich ist. Humor existiert deshalb auch selten bei jungen Menschen, er kommt mit den Jahren, und in gleichem Masse, wie er wächst, schwindet die Fähigkeit eigentlicher Lustigkeit.«
Da Mr. Bridgewater soviel im Ausland gelebt hat, sind Fremde häufig bei ihm zu Gaste,
und wir trafen dort eine russische Witwe, Madame Baltykoff, eine Schriftstellerin,
die Mr. Bridgewater in Petersburg gekannt hat und die nach New York gekommen ist, um
das amerikanische Leben zu studieren und dann das unvermeidliche Buch darüber zu
schreiben. Madame Baltykoff ist jung und hübsch, voller Interesse und Begeisterung
für amerikanische Einrichtungen; natürlich erwidern das die Amerikaner, indem sie
ihrerseits von Madame Baltykoff begeistert sind. Anstruther scheint besonders für sie
zu schwärmen. Mir gefällt an ihr, wie sie aus dem Enthusiasmus leicht in Witz
Die Amerikaner, die bei dem Diner zugegen waren, sind alle weitgereiste und gebildete Leute, besonders auch die Frauen. Aber keiner von ihnen scheint tätigen Anteil am amerikanischen politischen Leben zu nehmen. Sie waren offenbar stolz auf ihr Land, aber sie schienen es als einen Eilzug anzusehen, mit dem sie gern zu reisen bereit sind, aber dessen Führung sie lieber andern überlassen. Denn in Amerika zeigen gerade die Besten eine gewisse Scheu davor, sich an den öffentlichen Angelegenheiten handelnd zu beteiligen – na, um so besser, denn es ist auch so schon ein genügend gefährlicher Konkurrent.
Der alte Mr. Bridgewater schien am meisten Interesse an Regierungsgeschäften zu nehmen; vielleicht ist es eine Folge seines langen Aufenthalts in Ländern, wo die geringste Verbindung mit der offiziellen Welt denjenigen Glanz verleiht, den hier eine noch so entfernte Verwandtschaft mit den Vanderbilts oder Astors gewährt.
Von Mr. Bridgewater geleitet, langte die Konversation bald beim Imperialismus und der
wachsenden Wichtigkeit der Vereinigten Staaten an.
»Halten Sie es wirklich für denkbar, dass amerikanische Anschauungen über Verfassungen sich in Europa verbreiten werden?« fragte Madame Baltykoff eifrig.
»Im letzten Ende ganz sicherlich ja«, antwortete Mr. Bridgewater.
»Da bin ich doch anderer Ansicht«, sagte mein Bruder, »denn das Wachsen der
imperialistischen Tendenz in den Vereinigten Staaten, die Sie uns eben als wichtigste
Tatsache dieses Jahrhundertsendes geschildert haben, ist ein speziell europäischer
und monarchischer Zug. Je mehr Gewicht der äussern Expansion und einer starken
auswärtigen Politik beigemessen wird, um so mehr werden die Volksvertreter, die sich
notwendigerweise mehr mit inneren Fragen beschäftigen müssen, an Bedeutung verlieren.
Eine grosse imperialistische Politik bedingt
»Sehen Sie, Bridgewater«, sagte Anstruther lachend, »dieser Fremde prophezeit uns einen Kaiser, wenn wir auf dem Pfade der Intervention, Protektion, Expansion, der Kriege und des Inselschluckens verharren.«
»So wollen wir ihn aus dem Klub der Vierzig wählen«, antwortete unser Wirt, »dann werden wir sicher sein, dass er gescheit ist.«
»Ja, gescheit und voll moderner Ideen sollte Sam I. von Amerika freilich sein – sonst müsste er sich ja vor den europäischen Kollegen schämen.«
Auf dem Heimweg sprachen mein Bruder und ich davon, wie oft man hier die Empfindung
bekommt, dass die Amerikaner uns Europäer als bemitleidenswert zurückgeblieben
ansehen. Nachdem sie uns moderne Geschäftsmethoden gelehrt haben, wollen sie uns
jetzt mit modernen Prinzipien im allgemeinen versehen und mit allem, was uns sonst
auf geistigem Gebiet fehlen mag. Klingt das nicht sonderbar? Und sie haben doch
eigentlich alles von uns, stehen auf unseren Schultern. Mein Bruder sagt, er erinnere
sich noch sehr gut der Zeit, wo man nach Amerika kam und für alles so ein gewisses
elterliches Wohlwollen hatte; die Amerikaner
Na, es muss ja vorkommen, dass Kinder ihren Eltern über sind – wie wäre sonst das erste Genie entstanden?
New York, Dezember 1899.
Lieber Freund! Wir sind seit einigen Tagen aus dem ebenso schönen wie teuren
Waldorf-Astoria fortgezogen und haben sehr nette Zimmer in einem Boarding House in
der Nähe des Central-Parks gefunden, wo auch Mme. Baltykoff wohnt. Ta ist natürlich
bei uns und bildet hier wie im Waldorf die Freude der weissbemützten Stubenmädchen.
Er ist hier viel weniger reserviert gegen uns als in Peking. Dort erfuhren wir
eigentlich nie etwas über das Leben unserer Boys. Sie waren immer da, wenn man sie
brauchte, verrichteten ihre Arbeit lautlos, kannten all unsere kleinen Gewohnheiten
offenbar ganz genau – aber mit dem Augenblick, da sie aus unseren Häusern hinaus auf
die Strasse traten, verloren sie sich in einer uns unbekannten
Ta hat ein paarmal Briefe von seiner Heimat bekommen. Er ist an solchen Tagen immer
sehr
Mit Tas Hilfe habe ich jetzt ausgepackt und unsere Wohnung eingerichtet. Es war eine solche Freude, all die lieben gewohnten Dinge wiederzusehen: die Nephritschalen und Bronzevasen, die Figuren des Laotse, mit dem langen Kopf, aus Elfenbein geschnitzt, die chinesischen Sammte, die mit dem Alter einen ganz chinesischen Charakter angenommen haben, die feinen verblassten Damaste und Stickereien. Ich habe alles möglichst so gestellt und drapiert, wie es im Pekinger Häuschen war; in der Dämmerstunde, wenn Ta lautlos ins Zimmer tritt, glaube ich manchmal, wieder dort zu sein und würde mich gar nicht wundern, wenn er Sie anmeldete.
Auch einen Buddha-Altar habe ich über dem Kamin aufgebaut, und da thronen all die
seltsamen Gestalten, die Sie allmählich bei bestechlichen
Es ist ja auch nicht eben leicht! –
New York, Dezember 1899.
Die letzten Tage, lieber Freund, sind noch ganz der Wohnungseinrichtung gewidmet
gewesen.
Bei Ihnen fand ich gleich Interesse für mein Malen. Wie viel haben Sie mir erzählt
von Kunst und Künstlern all der Länder, in denen Sie gelebt, wie oft haben Sie mich
zu malerischen Punkten im altersgrauen Peking geführt, die sonst Fremde wohl nie zu
sehen bekommen und deren völlige Eigenart so manches Motiv bot? Wenn Sie mir so den
Zutritt zu einem sonst stets verschlossenen Tempel verschafften und ich seltsame
Götzen oder stille Klosterhöfe malte, in denen das Licht zwischen den Zweigen uralter
Bäume spielte und über einen gelbgekleideten Priester glitt, der am Sockel eines
riesigen mit Patina überzogenen Bronzelöwen lehnte und weltentrückt den
buddhistischen Rosenkranz durch die Finger gleiten liess – wie manchesmal habe ich da
Ihre Augen auf mir ruhen gefühlt und eine neue Arbeitslust, ein grösseres Können
empfunden durch die Macht der Freude, die Sie an mir hatten! – Von einem andern in
unseren liebsten Beschäftigungen, in unserer individuellsten Eigenart verstanden zu
werden, ist wie eine geistige Liebkosung. So vieles erstirbt ja in uns, aus Mangel an
etwas Interesse und Pflege. Und jene, die am meisten in uns getötet und begraben
haben, sind
New York, 25 Dezember 1899.
Es ist wieder Weihnachten geworden, lieber Freund! Weihnachten in einem Lande, wo ich
das Fest noch nie erlebt habe, wo es mir darum besonders fremd vorkommt. Warum haben
wir nur diesen rührenden und zugleich etwas komischen Zug, an bestimmten Jahrestagen
so besonders zu hängen? Was wissen wir eigentlich von dem Tag der Geburt Christi und
was ist uns dieser Tag? Und doch, so wenig Bedeutung er für viele unter uns heute
noch in der Hast des Lebens hat, und so wenig wir von Frieden auf Erden wissen, an
diesem Jahrestage scheint es uns, als hätte jeder Mensch ein besonderes Recht auf
Freude, und wir stecken viel Lichtchen an, um doch ja die Freude sehen zu können,
falls sie wirklich mal zu uns käme. Aber bei uns Einsamen, die wir in fremden Welten
leben, pocht gerade an dem Abend selten
Und wie es raschelte und knisterte in den Blättern des grossen Bilderbuchs! wie es darin lebendig ward und längst verstummte Stimmen wieder klangen in vergessenem Lachen und verhalltem Schluchzen. Lauter Dinge, die einst gewesen, füllten das Zimmer und umwogten uns; kleine graue Geisterchen sassen lichtbeschienen in den Zweigen des Weihnachtsbaumes und flüsterten leise von Vergangenem; und auch all das, was nie gewesen, was nur gewünscht und ersehnt worden – nun lebte es für den einen Abend wieder auf.
Am längsten verweilte ich bei den letzten
Und erinnern Sie sich der Bescherungen in unserem lieben chinesischen Häuschen, zu denen Sie und ein paar Freunde meines Bruders jedesmal kamen? Tagelang vorher war grosse Aufregung, um für jeden eine Überraschung in den Kuriositätenläden aufzutreiben, und als erst die Bahn eröffnet war, fuhren unternehmungslustige Leute nach Tientsin, um zu schauen, was etwa die dortigen europäischen Magazine böten.
Sie, lieber Freund, entdeckten aber immer die reizendsten Dinge! Vor mir steht heute
die kleine altfranzösische Bronzenuhr, die einst in der
Als Sie mir diese Uhr schenkten, sagten Sie: »Die passt so gut zu Ihnen: ein Fundament altererbten Geschmacks, der von vielen Generationen herstammt; die Drachen, der Hang zum Absonderlichen, der Zug zum Unbegreiflichen, Mystischen, der in uns erwacht, je mehr wir sehen, dass das Exakte, Vernünftige, Realistische doch nichts erklärt und schliesslich immer wieder alles mit einem grossen Fragezeichen endet – und als Spitze des ganzen Gebäudes der kleine tapfere Hahn, der nach Aufklärung und Freiheit quand même ruft, der viel graue, trübe Tage erlebt hat und zu sagen scheint, nach all dem Krähen müsste die Sonne doch endlich aufgehen.«
Mein Bruder und ich sassen in dem New Yorker Boarding-House-Zimmer unter dem Weihnachtsbaum, hielten uns schweigend an der Hand und dachten vergangener Zeiten. Ta löschte eins nach dem andern die Lichtchen aus, die herabgebrannt waren – ganz wie an anderen Weihnachtsabenden. Manchmal fingen ein paar grüne Tannennadeln Feuer, knisterten und glühten, und ein harziger Waldduft zog durchs Zimmer – ja, ganz wie an allen Weihnachtsabenden! –
New York, 26. Dezember 1899.
Gestern, lieber Freund, ward ich unterbrochen und musste meinen Brief schliessen, ohne Ihnen unsern ganzen Weihnachtsabend geschildert zu haben. Denn er war mit unserm kleinen Aufbau nicht zu Ende, sondern wir waren noch zur Bescherung im Hause unseres Konsuls eingeladen.
Mit allerhand Paketen beladen, fuhren wir auf der Hochbahn dorthin.
»Meine Frau baut auf,« sagte der Konsul. Da kam sie schon selbst herein, sehr jung, mit aschblonden Zöpfen um den Kopf gesteckt, erstaunten blauen Augen, das ganze Gesichtchen von der Arbeit gerötet. Auf dem Arm trug sie einen dicken, einjährigen Jungen, mit denselben erstaunten blauen Augen; und neben ihr trippelte ein kleines, dreijähriges Mädchen, das mit wichtiger Miene eine Klingel hielt.
»Es ist alles fertig,« rief sie, »Evchen, nun klingle mal schön.«
Und Evchen klingelte, und wir alle folgten in das Wohnzimmer, wo der Baum strahlte.
Mit
Der kleine Junge wurde auf den Teppich gesetzt und ein zusammenlegbares,
unzerreissbares Bilderbuch um ihn aufgestellt, und wir halfen der Frau Konsul die
Kiste auspacken, die von ihrer Mutter gekommen war. Wie sorgfältig war alles gepackt,
in Seidenpapier eingewickelt, mit blauen Bändchen jedes einzelne Paket gebunden und
ein Zettel dran gesteckt, mit ein paar lieben Worten für den Empfänger in zittriger
Handschrift darauf geschrieben. Lauter Dinge waren darin, die man in New York ganz
ebenso bekommen kann. Recht unpraktisch und doch so rührend deutsch! Selbstgestrickte
und gehäkelte Dinge für die Kinder, selbstgebackener Kuchen und Würste von dem für
Weihnachten geschlachteten Schwein, und auf dem Grund der Kiste ein paar dicke
wissenschaftliche Bücher für den Herrn Konsul und, in modernstem Rahmen, eine grosse
Photographie von Böcklins
Evchen hatte sich den Böcklin andächtig betrachtet, nun lief sie ans Fenster und drückte sich das Näschen an den Scheiben platt.
»Was machst Du denn da,« fragte ich sie.
»Ich gucke, ob da draussen auch Engelchen herumfliegen,« antwortete sie und setzte dann hinzu: »nein, hier gibt's keine.«
Ich schaute mit dem Kind hinaus in die Strasse mit den vielen gleichmässigen Häusern, an deren einem Ende, ganz nah von uns, eine Station der Hochbahn war. Ein hellleuchtender Zug kam herangesaust, hielt einen Augenblick und brauste dann weiter.
»Der Eisenbahn gefällt es hier nicht,« sagte Evchen, »sie eilt sich so sehr her zu kommen und dann geht sie immer ganz schnell wieder fort.«
»Liebes Kind,« sagte der Konsul zu seiner Frau, »gibt es nicht bald was zu essen?«
Sie fuhr aus all den heimatlichen Paketen empor: »Aber ja, es muss alles schon fertig sein.«
Sie klingelte, aber Ursache und Wirkung folgten nicht aufeinander. Nun ging sie
hinaus, kam aber bald mit bestürztem Gesicht zurück, trat an ihren
Nun ging der Konsul hinaus, und bald hörten wir erregte Stimmen und darauf etwas Schweres, das die Treppe hinabpolterte. Der Konsul kam wieder herein, etwas aufgeregt und ausser Atem: »Meine Herrschaften, ich bitte sehr um Entschuldigung – ein kleiner amerikanischer Zwischenfall – der Neger Sam war schwer betrunken – ich fand ihn, mit dem Eidamer Käse Ball spielend. – Da habe ich die Rollen umgekehrt und mit ihm etwas Ball gespielt – und dabei ist er die Treppe hinab und auf die Strasse geflogen.«
»Und als ich vorhin draussen war,« erzählte die Frau Konsul mit kläglicher Stimme, »ass er die Austern auf und sagte mir, er nähme ja nur die schlechten, um uns vor Vergiftung zu bewahren.«
Der Generalkonsul lachte in seiner herzhaften Art, und wir alle stimmten mit ein. Und
dann folgte das komischste Weihnachtssouper, das ich je mitgemacht, denn es stellte
sich heraus, dass die irische Köchin dem schwarzen Sam nachgelaufen war. So gingen
wir denn mit der Frau Konsul in die Küche, retteten, was zu retten war, trugen die
Gerichte hinauf in das Speisezimmer und sprachen ausserdem tüchtig den Würsten zu,
die wir aus der Weihnachtskiste ausgepackt hatten.
New York, 1. Januar 1900.
Lieber Freund! Möchte das Jahr Sie mit allem Guten beschenken, das ich Ihnen wünsche!
Gleich die ersten Gedanken heute früh flogen hinaus über die grollenden Wintermeere
und die weiten hart gefrorenen Ebenen, in denen der Sturm heult, flogen aus, Sie zu
suchen, und konnten Sie nicht finden, und flattern nun weiter unstet umher, können
nirgends zur Ruhe kommen, sehnen sich so sehr, Ihnen ein kleines Zeichen zu geben.
Alles Schöne und alles Glückliche möchte ich in Ihr Leben hinein zaubern – und konnte
Ihnen doch am Weihnachtsabend kein Bäumchen schmücken, kann Ihnen heute zu Neujahr
nicht einmal die Hände reichen! Den ganzen Tag war mir, als müsse heute durchaus ein
Wort von Ihnen zu mir dringen, als müsse Ihre Stimme ganz leise aus der Ferne
klingen, wie einstmals in vergangenen Tagen, als Sie mir sagten: »Und darf es nicht
Glück sein,
Auf dass Ihnen aber die Lektüre dieses Briefes nicht schlecht bekomme und Sie nicht
etwa dem Hochmutsteufelchen verfallen, werde ich gleich hinzusetzen, dass ich immer
etwas am grossen Heimweh der Vergangenheit leide, und dass, wenn man mehrere Jahre in
einem so eigenartigen Ort wie Peking gelebt und dort Wurzel gefasst hat, es schwer
fällt, in einer so absolut entgegengesetzten Welt wie New York heimisch zu werden.
Wer sich in Brüssel wohl fühlt, dem wird auch Paris gefallen, wer sich in Dresden
eingelebt, der wird es auch in München fertig bringen. – Da sind keine
weltentrennende Rassen- und Anschauungsgegensätze zu überwinden. Wer aber den Osten
wirklich mal kennt und liebt, der passt nicht mehr in diese westliche Welt. Man
staunt sie an, sagt sich wohl auch mit dem Verstand, dass ihr das neue Jahrhundert
gehören wird, aber man wird in ihr nie mehr heimisch, man fühlt sich in stetem
Widerspruch. – Wie mag es nur Kipling, dieser grosse Orientale, hier je ausgehalten
haben! Wie sehr
Ich muss heute soviel an manche englische Beamte denken, die ich vor Jahren in Indien gekannt und dann pensioniert und gealtert in irgend einem Städtchen Englands wiedergesehen habe. Dort in Indien hatten sie viel räsonniert, über Klima, Natives und Silberkurs, aber trotz aller Klagen fühlten sie sich doch immer als Götter, wenn auch nur als Achtel-, Viertel-oder Halbgötter; und es waren doch, ohne dass sie es recht wussten, ihre glücklichsten Jahre gewesen, die sie dort verlebt – man ist ja meist glücklich, ohne es zu wissen, und merkt, dass man es war, daran, dass man aufhört es zu sein. In Bath oder Torquay, unter grauem Himmel, in engen Zimmern, mit einer ungeschickten, schlecht kochenden Mary Ann, der sie nie einen hindustanischen Fluch nachschmettern durften, umgeben von lauter Leuten, die nichts wussten von der Gottgleichheit, die jedem weissen Sahib in den Städten auf »abad« oder »epore« zu eigen ist, da verstanden die Armen es erst ganz, wie schön es einst gewesen; und das grosse Heimweh nach dem Osten schlich sich in ihre Herzen und nistete sich fest ein.
Das Bewustsein der eigenen Kleinheit und Belanglosigkeit lastet auf uns modernen
Menschen allen wie ein schweres Gewicht. Wir leiden unter der eigenen Winzigkeit,
unter den engen Grenzen unseres Wissens und Lebens, seitdem uns die Endlosigkeit von
Raum und Zeit gelehrt ward. Leute früherer Epochen kannten diesen Gegensatz zwischen
menschlicher Kleinheit und Weltenunendlichkeit nicht; sie müssen zufriedener gewesen
sein, weil sie sich selbst im richtigen Massstab zu allem übrigen vorkamen. Diese
Menschen, die in alten Häusern mit hohen Giebeln wohnten, und auch noch heute die
Leute, die in ganz kleinen Zentren leben, wo jeder jeden kennt und der Glaube an die
eigene Wichtigkeit nie getrübt wird, scheinen mir beneidenswerte Wesen; denn es gibt
ja nichts
Und weil ich das alles heute so sehr empfinde, hier in der Fremde, wo es jedem offenbar ganz gleichgültig ist, wie arme, kleine, vertriebene Königinnen das neue Jahr beginnen – drum habe ich Heimweh nach ... sagen wir nach Peking!
New York, Januar 1900.
Ein kalter, grauer Tag. Zum Malen viel zu dunkel. Ein allgemeines Gefühl des
Unbehagens. Das Buch, das man am Kamin sitzend liest, langweilt. Der Blick hinaus
durch die Fenster langweilt ganz ebenso. Beinah möchte man die Menschen beneiden, die
selbstgefällig sagen, »ich habe mich noch nie gelangweilt«, und die damit nur den
Beweis liefern, wie grenzenlos langweilig sie selbst sein müssen, wenn sie wirklich
nicht
Ich wünschte – ja, was wünsche ich eigentlich? Ich wünschte, ich wäre mit Ihnen auf einer weiten, merkwürdigen, gefahrvollen Entdeckungsreise in irgend ein seltsames Land – womöglich einen unerforschten Stern. Bitte, werden Sie nun aber nicht gleich eitel! Dass Sie nicht eitel sind, ist ja gerade eine Ihrer nettesten Eigenschaften, und jede echte Frau muss einen eitlen Mann unausstehlich finden, denn er nimmt ihr damit etwas weg, worauf sie ihr spezielles, anerkanntes Frauenrecht hat. Ich suche Sie ja auch nur deshalb zum Begleiter auf den unerforschten Stern aus, weil Livingstone, der dort sicher sofort Bescheid gewusst hätte, nun doch schon tot ist.
Aber wahrhaftig und im Ernst – ich habe manchmal eine so brennende Sehnsucht, etwas
zu werden, zu sein, zu leisten! Ich komme mir zuweilen vor, als bestände ich aus
lauter ungenutzten Fähigkeiten und als gingen alle Gelegenheiten, sich zu betätigen,
die die meinen sein sollten, an mir vorbei und zu anderen hin, die nicht wissen, was
sie damit beginnen sollen. Wir Menschen bestehen eben aus solchen, von denen nie
annähernd das verlangt wird, was sie zu leisten imstande wären, und aus anderen, an
die Anforderungen gestellt
Das Ergebnis dieser Welteinrichtung ist, dass niemand da steht, wo er stehen sollte. Wenn jemand plötzlich einen verantwortungsvollen Posten bekommt, gratuliert man ihm und sagt: »endlich, the right man in the right place« und denkt dabei: »what a mess he will make of it!« Und gewöhnlich hat man mit letzterer Vermutung recht.
Und ein grosser »mess« der Weltenregierung ist es offenbar, dass ich hier sitze, abwechselnd in den Kamin oder auf die Strasse starre, und dass alles andere, was ich etwa sonst noch tun könnte, ganz ebenso zwecklos wäre.
Frauen sitzen eigentlich immer da und warten, ob die Türe aufgeht und jemand kommt.
New York, Januar 1900.
Ich ward gestern unterbrochen, lieber Freund! Weiss nicht, wie lange ich Ihnen sonst
noch grau in graue Weltenbetrachtungen geschrieben hätte!
»Nein, wie beneidenswert unbeschäftigt Sie aussehen!« sagte Madame Baltykoff. »Und ich bin so abgehetzt durch alles, was ich mitmachen und wobei ich gesehen werden soll. In keinem Lande der Welt habe ich noch so viel von ›sozialen Pflichten‹ reden hören! Ich glaube, sie ersetzen alle anderen! Heute war ich schon mit einer New Yorkerin, die mich ins Schlepptau genommen, auf einem Dejeuner, einem Wohltätigkeitsbazar und drei Jours. Und jedesmal, wenn ich die gewisse Ankunftslangweile überwunden hatte und gerade anfing mich etwas zu amüsieren, machte mir mein sozialer Pilot verzweifelte Aufbruchszeichen, weil wir noch in so und soviel Häusern gesehen werden müssten. Ich kam mir schliesslich wie eine Verbrecherin vor, die sich Alibis schafft! Nun habe ich noch einen Besuch vor, bei einer ehemaligen Landsmännin, und da müssen Sie mich durchaus begleiten. Es ist Ihnen auch gar nicht gut, so vor sich hin zu brüten, wie ein weiblicher Oblomoff.«
Und da all mein Tätigkeitsdrang von jeher damit geendet hat, mich von äusseren
Mächten treiben zu lassen, ging ich mit Madame Baltykoff
Wenn Sie den Namen auch dreimal lesen, lieber Freund, sie heisst wirklich so, und das Miss hat auch seine Berechtigung.
Tatianas Vater war natürlich Russe, ihre Mutter dagegen war die Tochter eines aus Illinois stammenden amerikanischen Konsuls Carmichael in Archangel, und in jener kalten Weltecke hat auch die Wiege der kleinen Tatiana gestanden. Madame de Gribojedoff, née Carmichael, scheint sich dort aber nie so recht behaglich gefühlt zu haben, woraus ihr meinerseits kein Vorwurf gemacht werden soll. Ihr Bestreben ging dahin, Tatiana in der Kritik und Missachtung alles Russischen zu erziehen und ihr eine unbedingte Bewunderung für alles Angelsächsische beizubringen. Als der Vater Tatianas starb, ein bedeutendes Vermögen hinterlassend, wanderten beide Damen nach Amerika zurück; seit dem Tode ihrer Mutter lebt Tatiana als unabhängige alte Jungfer in New York.
Ihr Häuschen ist vollgepfropft mit all denjenigen Dingen, die gewitzigte Leute auf
Reisen sorgfältig zu kaufen vermeiden. So hat sie sich von den Niagarafällen
indianische Mokassins mitgebracht, die an einer Wand hängen, dicht neben einem
spanischen Fächer, auf dem ein Stiergefecht
Sie sass an einer Seite des Kamins, und auf der andern sass ein kleiner, dicker,
älterer Herr, den Madame Baltykoff als Iwan Iwanowitsch begrüsste und der mir als
Herr Baschmakoff vorgestellt wurde. Die Wirtin und ihr Gast schienen eben eine
politische Debatte gehabt zu haben; sie sah erregt aus, und nachdem wir uns gesetzt
hatten,
»Aber liebe Tatiana Feodorowna«, antwortete der kleine, dicke Herr, »es wäre Ihnen doch nichts in Russland geschehen – Sie sind ja gar keine Finnländerin.«
»Das ist eine feige Ausrede. In solchen Fällen muss man sich eins fühlen mit den Unterdrückten. Da ich all dem Unrecht, das in Russland geschieht, nicht abhelfen konnte, habe ich wenigstens durch meine Auswanderung dagegen protestiert.«
»Immer die gleiche, immer dasselbe Feuer bei unserer lieben Tatiana Feodorowna,« seufzte der alte Herr.
»Und bei Ihnen immer der gleiche Eigensinn, in jedem Satz wenigstens einmal diese komische russische Anrede anzubringen – Tatiana Feodorowna!«
Herr Baschmakoff legte die Hand auf seinen vorspringenden Magen, in der Gegend, wo hinter all dem Fett das Herz sitzen muss, und erwiderte: »Es ist mir eben mein Leben lang der liebste Name der Welt gewesen.«
Das alte Fräulein schien hierdurch etwas besänftigt,
»Vergessen Sie nicht, liebe Tatiana Feodorowna, wie oft ich Ihnen angeboten habe, diesen Namen zu vertauschen,« sagte der kleine dicke Herr und drückte wieder die Hand auf den vorspringenden Magen.
Da lachte die alte Dame laut. »Nein, wissen Sie, Gribojedoff oder Baschmakoff – das bleibt sich nun schon gleich. Ja, wenn Sie Washington, Lincoln oder meinethalben auch nur Brown oder Smith hiessen, hätte ich's mir überlegen können – aber so!«
Und beide, der alte Herr und das alte Fräulein, lachten über diese Neckerei, die immer wieder aufgefrischt wird, wenn Herr Baschmakoff alljährlich aus Archangel nach New York kommt, um seine Jugendliebe im Lande ihrer Wahl zu besuchen.
»Die Philippinen machen mir viel Sorge«, erzählte uns die russische Amerikanerin,
indem sie auf eine neben ihr liegende Zeitung wies, »es ist offenbar notwendig, dass
neue Truppen hingeschickt werden. Ich hoffe nur, dass das State Departement zu
äusserster Energie in der Bekämpfung der
»Vielleicht werden Ihre westlichen Methoden im fernen Osten nicht so recht gewürdigt und verstanden, liebe Tatiana Feodorowna, vielleicht passen sie auch nicht so recht dorthin«, warf Herr Baschmakoff schüchtern ein.
»Die Wahrheit und das Recht passen überall, aber Ihr Russen denkt immer, dass Ihr allein den Osten versteht. Ich gebe Euch ja gern zu, dass Ihr jenen Völkern näher steht als wir, aber warum sollen sie erst noch auf dem weiten Umweg über Knute, Sibirien und Orthodoxie zu endlicher Freiheit und wahrem Glauben geführt werden?«
»Was ist denn der wahre Glaube?« fragte Madame Baltykoff.
»Der wahre Glaube?« Miss Tatiana stockte einen Augenblick und antwortete dann rasch entschlossen: »Der wahre Glaube ist, was man in den Vereinigten Staaten glaubt.«
»So so«, sagte Madame Baltykoff und fuhr dann nachdenklich fort, als sinne sie über
ein schweres Rechenexempel nach, »Methodisten und
Miss Tatiana unterhielt uns noch längere Zeit mit der erregten Diskussion verschiedener politischer Fragen. Der geduldige Baschmakoff bekam noch viel Schlimmes über Russland von ihr zu hören und sie gab ihm zu verstehen, dass, wer nicht angelsächsischer Abstammung ist, nur schlaue Berechnung und Eigennutz zu Motiven seiner Handlungen haben könne.
Wenn Madame Baltykoff mir zuweilen als wandelndes Fragezeichen erscheint, so habe ich in Miss Tatiana eine lebende Assertion kennen gelernt. Sie erinnert mich an eine pommersche Gutsbesitzerin, die ich vor Jahren gegen direkte Steuern eifern hörte; in meiner damaligen Jugend und Unwissenheit fragte ich sie, was das sei, und erhielt die Antwort: direkte Steuern sind die, die man selbst bezahlt, indirekte Steuern solche, die andere Leute bezahlen, drum sind die ersteren schlecht und die anderen gut.
Miss Tatiana besitzt auch diese Gabe anschaulicher Definition und rascher Schlussfolgerung.
New York, Januar 1900.
Lieber Freund, heute Nachmittag wollte ich die Frau unseres Konsuls besuchen. Ich fuhr mit der Hochbahn zu ihr, denn sie wohnt weit draussen, in einer der Strassen mit den ganz hohen Nummern, die mich immer an neuformierte, an den Grenzen aufgestellte Regimenter erinnern. Die Häuser sehen alle ganz gleich aus, man könnte jedes mit jedem verwechseln, und darin liegt wohl gerade das Militärische; sagte mir doch mal mit Begeisterung ein junger Verwandter, der seit ein paar Wochen Leutnant war: »Vollkommene Gleichmässigkeit ist das Ziel, Verwischung der Individualitäten die erste Aufgabe.«
Da ich die Frau Konsul nicht zu Hause traf, ging ich von dort aus noch etwas auf eigene Faust explorieren, was mir immer viel interessanter ist, als wenn ich von patriotischen New Yorkern herumgeführt werde, die erwarten, dass ich mich für irgendein turmartiges Haus begeistere, in dem eine Zeitung gedruckt, Korn verkauft, oder Geld gewechselt wird.
Ich ging noch durch einige allerletzte Strassen. Weiter hinaus sieht es sehr bald
aus, als sei man im fernen Westen. Weite leere Grundstücke erstrecken sich dort mit
den seltsamsten kleinen
Heute war es aber unendlich melancholisch da draussen. Ein eisiger Wind wehte über
das flache Land. Kältebeladen kam er aus der Richtung der grossen nordamerikanischen
Seen angesaust, fegte alles vor sich her und pfiff unbarmherzig durch
Bei meinem heutigen Spaziergang dachte ich viel an ähnliche in Peking verlebte Wintertage. Besonders eines Rittes musste ich gedenken, den wir jetzt vor einem Jahre dort gemacht. Da war es auch so kalt, wie heute hier. Der Wind kam von der sibirisch-mongolischen Ebene hergeweht, so eisig, als könne es nie wieder Frühling werden. Der Weg dehnte sich endlos an der grauen Stadtmauer entlang. Die Türme mit den verfallenen grünen Kacheldächern standen dräuend gegen den fahlen Winterhimmel. Stellenweise lag etwas hart gefrorener Schnee. Krähen flohen krächzend vor dem Wind.
Im hiesigen Winter habe ich des dortigen gedacht und ich sende Ihnen dies kleine Gedicht, das mir dabei in den Sinn kam:
Wie so oft in Peking, war mir an jenem Tage, als sei die ganze Welt erstarrt in Angst, als harre sie atemlos, Unbekanntem, Unheimlichem. – Stadt des Leidens, Stadt des Verhängnisses habe ich Peking oft genannt – und doch liebe ich die graue, düstre Stadt. Ich habe jetzt oftmals ganz deutlich die Empfindung, als gehöre ich ihr, als hielte sie mich für ewig, so fern ich ihr auch räumlich bin.
Ich fürchte, ich bin wie alle Leute geworden, die in Peking gelebt haben und es nachher nicht mehr lassen können, immerwährend darüber zu reden oder zu schreiben.
Das ist die Rache, die China an den weissen Menschen nimmt dafür, dass sie beinahe alle doch nur deshalb hingehen, um ihm ein Stückchen seines Bodens oder sonst irgend einen Vorteil und Besitz abzuringen-schliesslich sind sie es, die von China absorbiert werden.
Lassen Sie sich nicht zu sehr absorbieren, lieber Freund!
New York, Februar 1900.
Lieber Freund, meine letzte Wanderung im winterlichen New York ist mir recht schlecht bekommen. Ich bin seitdem krank gewesen an Husten und Fieber. Husten und Fieber sind ja nun schon seit Jahren die Meilensteine, die an meinem Lebensweg stehen. Schliesslich wird solch Meilenstein zu einem Kreuzchen werden. Und wohin der Weg dann weiter geht und ob es überhaupt noch einen gibt, das weiss man nicht.
Es geht mir aber jetzt schon ein bisschen besser. Ich liege auf dem Sofa am Kamin. Die weisse tibetanische Ziegenfelldecke, die Sie kennen, ist über mich gebreitet. Ta geht mit bekümmertem Gesicht ein und aus. Ich weiss nicht, gilt seine Sorge mir, oder den vielen Briefen, die er in letzter Zeit von zu Hause erhalten hat.
Gestern schenkte mir mein Bruder ein paar Zweige weissen Treibhausflieders. In
Seidenpapier wohl eingewickelt brachte er sie von draussen mit – so ein armer,
winterlicher Flieder – all die Blütchen schienen zu frösteln und sich zu wundern,
warum man sie gezwungen habe, sich so sehr zu beeilen, in diese unfreundliche Welt
hinein zu kommen.
Er weckt viel Erinnerungen. Denn Flieder mahnt mich an gar verschiedene Zeiten und Orte.
In Garzin, dem märkischen Gut, wo ich aufgewachsen, da blühte der Flieder im Mai. Vier grosse Büsche standen auf dem Rasen vor dem Schloss, in ihrer Mitte eine alte Sonnenuhr. Jeden Frühling, wenn der Flieder blühte, kam derselbe alte Invalide auf einem Stelzfuss angehumpelt; er stellte sich im Schlosshof auf und spielte uns auf seiner Drehorgel »Die letzte Rose« und »Lang, lang ist's her«. Ich weiss nicht, wo er Winters blieb, aber in all meinen frühesten Frühlingserinnerungen steht der Invalide mit der Drehorgel, und der Flieder duftet, und wir Kinder suchen fünfblättrige Fliederblüten – denn die sollten Glück bringen wie vierblättriger Klee. Einmal schenkte ich dem alten Drehorgelmann solch ein fünfblättriges Blümchen – aber der glaubte nicht recht daran.
An so viele Zeiten und Orte mahnt der Duft!
In den Tagen der Fliederblüte gab Sir Robert Hart regelmässig eines seiner
Gartenfeste. Die chinesische, uniformierte Kapelle, die er sich hielt und auf die er
sehr stolz war, spielte die paar europäischen Weisen, die ihr ein portugiesischer
Kapellmeister aus Macao beigebracht hatte. Mit den altbekannten, nur zuweilen
unfreiwilligerweise etwas veränderten Melodien zog durch den Garten der heimatliche
Fliederduft. Männlein und Weiblein der Société de Pékin wandelten in den paar Alleen
auf und ab und zeigten Tientais neueste Modeschöpfungen; sie gingen paarweise,
persönlicher Neigung folgend, oder gruppierten sich je nach der augenblicklichen
politischen Konstellation. Politik ist eine Würze, die in Peking gern allem
beigemischt wird. – Zum Schluss dieser geselligen Vereinigungen wurde dann immer eine
Quadrille auf dem kleinen holperigen Rasenplatz getanzt. Man tat jedesmal so, als sei
diese Quadrille der
Das war alles ganz stereotyp – denn alle Dinge in China haben die Neigung, stereotyp zu werden!
Solche Vergnügungen in entlegenen Plätzen haben mir immer etwas so unendlich Wehmütiges. Sie sind ein offenbarer Versuch der Selbsttäuschung, zu dem so sehr viel guter Wille gehört. Kleine rührend traurige Bemühungen, um zu vergessen, wo man ist, was alles fehlt. Der festgefasste und ernsthaft durchgeführte Vorsatz, auch einmal »grosse Welt« zu sein.
Wie tieftraurig bin ich doch schon oft inmitten solch künstlich verpflanzter und betriebener Amüsements gewesen – sie erinnern an kümmerlichen weissen Winterflieder – der ist auch nichts Rechtes!
New York, Februar 1900.
Ich bin noch recht elend, möchte Ihnen aber doch ein bisschen schreiben, um mir dadurch die Illusion zu geben, als seien Sie hier.
Solche kleinen Damenfeste werden, wie alle sonstigen geselligen Begebenheiten auch,
am nächsten Tage in all ihren Einzelheiten von den Zeitungen beschrieben. Die
Öffentlichkeit des Privatlebens in Amerika ist immer von neuem ein Gegenstand des
Staunens für uns Fremde. Sie erstreckt sich auf die kleinsten Handlungen der oberen
400. Das gesellschaftliche Debut einer jungen Dame aus
Inmitten dieses verkünstelten Daseins berührt es seltsam, welche Vergötterung mit
Kindern getrieben wird. Es ist das ein ganz charakteristischer Zug der hiesigen
Gesellschaft. Vielleicht stammt er noch aus der Zeit her, wo es hier so wenig
Einwohner für das riesige Land gab, dass man sich über jeden neuen kleinen
amerikanischen Bürger ganz unsinnig freute; vielleicht ist es im Gegenteil ein
allermodernstes Gefühl, weil in der neuesten Zeit in der elegantesten, reichsten New
Yorker Gesellschaft die Kinderzahl stetig abnimmt und
Auffallend ist, welches Gewicht dem Urteil amerikanischer Damen auf allen Gebieten zugestanden wird. Literarischer, künstlerischer Ruf wird von ihnen bestimmt; wer vorwärts kommen will, muss so malen, schreiben oder musizieren, dass er den leitenden Damen der Gesellschaft gefällt. In allen schöngeistigen Dingen sind sie ihren gelderwerbenden Männern sehr überlegen, und niemand weiss das besser, als sie selbst, aber ich glaube kaum, dass sie sich dadurch unglücklich fühlen, es erscheint ihnen der weisen Ordnung der Dinge zu entsprechen; und die Pose der feingebildeten, nur das Zarteste empfindenden Frau, die von einem aus gröberem Stoff geformten Mann nicht ganz verstanden wird, ist eine kleidsam geheimnisvolle. Bezaubernde, diaphane Geschöpfe sind es, für jede Tagesstunde mit andern berückenden Gewändern versehen, und die grosse Nutzlosigkeit ihres Daseins verbergen sie vor sich selbst mit Erfolg hinter einem felsenfesten Glauben an die Wichtigkeit der tausenderlei Dinge, die sie in steter Eile betreiben.
Aber das ist nur ein ganz bestimmter Typus, den wir Fremde vielleicht gerade deshalb
am
New York, März 1900.
Raten Sie mal, lieber Freund, wer mich heute hier besuchte?
Der Provikar Hofer! Aber ein entchinester, auch im äussern ganz römisch-katholisch
gewordener Hofer. Zum letztenmal hatte ich ihn vor zwei Jahren in Pei-ta-ho gesehen,
wo er seinen Gesandten besuchte. Wie alle katholischen Priester in China trug er
damals den Zopf (ziemlich spärlicher Natur) und chinesische Kleider, der Hitze halber
aus dünner weisser Waschseide, die er mehrmals des Tags wechselte, so dass er stets
von immakulierter Weisse war und ich ihm dort einmal
Natürlich fragte ich Hofer gleich nach Ihnen. Er sagte mir aber, nachdem was er in
Peking gehört habe, glaube er, dass Sie erst im Juni dort eintreffen würden. Da wird
es also noch lange dauern, bis ich von Ihnen höre, und während all der Zeit werden
auf der Post in Schanghai meine Briefe liegen, die ich immer in der Illusion
schreibe, als schwatzte ich mit Ihnen, und als könnten meine Gedanken Sie unmittelbar
erreichen. Von den Pekinger Bekannten erzählte mir der Provikar, und obschon er nur
alle paar Jahre aus seiner Provinz mal hinkommt, kennt er doch sämtliche dortigen,
kleinen und grossen Intrigen, als hielte er die Fäden
Nachdem mir der Provikar die neuesten Begebenheiten von der Société de Pékin
mitgeteilt hatte, fragte ich ihn, was seine jetzige Reise bedeute. Er antwortete,
dass er auf dem Weg nach Europa sei, um dort darauf aufmerksam zu machen, dass sich
in China schlimme Ereignisse vorbereiteten. Er erzählte mir, in seiner Provinz
herrschten seit Monaten grosse Unruhen, die von geheimen Gesellschaften ausgingen und
die einen sehr fremdenfeindlichen Charakter trügen. »Daran sind wir ja gewöhnt,«
sagte er, was mich aber ernstlich besorgt macht, das ist, dass diese Unruhestifter
offen von den provinziellen Mandarinen in Schutz genommen werden und diese wiederum
sich auf die höchsten Autoritäten in Peking berufen. Es sind Missionare und
einheimische Christen überfallen worden, ohne dass eine Bestrafung der Täter zu
erreichen gewesen wäre; und die in letzter Zeit neu ernannten hohen Beamten sind ob
ihres Christenhasses und Einvernehmens mit den geheimen Gesellschaften bekannt. In
Peking herrscht eben nicht mehr die Furcht des Herrn, die beim Orientalen ganz
besonders
Ich konnte es gar nicht glauben, was mir der Provikar da erzählte. Ich erinnerte ihn
an die vollkommene Sorglosigkeit und Sicherheit, mit der alle Fremden, nicht nur in
Peking selbst, sondern Sommers
»Wie hat sich denn das alles so schnell derartig verändern können?« fragte ich ihn.
»Da kam vieles zusammen,« antwortete er mir. »Seit ein paar Jahren herrscht in
mehreren Provinzen Hungersnot, und es ist dadurch ein Grad des Elends entstanden, den
man in Europa überhaupt nicht kennt. Viele Arbeiter fürchten auch für ihren kleinen
Broterwerb, wegen der Erbauung von Eisenbahnen und der Befahrung der Flüsse mit
Dampfschiffen, wovon sie dunkel als von etwas Ungeheuerlichem reden hören.
Nachrichten über auswärtige Begebenheiten verbreiten sich in China zwar langsam, noch
1897 erinnere ich mich, Priester und Mandarine in der Gegend von Jehol gesprochen zu
haben, die nichts von einem japanischen Kriege ahnten, aber allmählich ist doch die
Kunde von den letzten europäischen Annexionen in weitere Kreise gedrungen und hat
Beschämung und Erbitterung hervorgerufen. Die wachsende Unzufriedenheit richtete sich
anfänglich gegen die Dynastie und Regierung, die all diese Übergriffe zugelassen
hatten. Nun ist es aber der Kaiserin gelungen, diesen Zorn von sich abzulenken, indem
ale seit dem September 1898 alle fremdenfreundlichen Elemente verfolgt und diese
anklagt, an allen Einbussen, die China in den
»Aber es ist doch nicht denkbar, dass man dem ruhig zusehen und nur abwarten wird, was weiter geschieht?«
»Hoffentlich gelingt es mir in Europa von der nahenden Gefahr zu überzeugen – in
Peking wollte
»Ja«, sagte ich, »davon wissen die geschäftlichen Vertreter der Finanzbarone in Peking einiges zu erzählen. Aber nicht nur diese konnten ihnen nie genug erwerben, auch die Gesandten klagten darüber, dass sie getrieben würden, Dinge durchzusetzen, die sie selbst für unheilvoll hielten.«
Der Provikar fuhr fort: »Ich habe damals in Peking mit Mandarinen gesprochen, die
derartige
Aber was ist jetzt noch zu tun möglich?« fragte ich.
»Und nun wollen Sie das alles in Europa vortragen?«
»Ja, ich halte es für meine Pflicht, noch einmal zu warnen, denn wenn man den jetzigen Moment versäumt, und nicht noch Einhalt geboten wird, so muss gerade das eintreten, was man vermeiden möchte, und wir können in China eine Katastrophe erleben, wie sie noch nie dagewesen. Aller Handel, alle dortigen Unternehmungen werden auf Jahre hinaus unterbrochen werden, und wir müssen notwendigerweise in Verwicklungen, Opfer und Ausgaben geraten, die sich gar nicht absehen lassen.«
New York, März 1900.
Heute früh brachte die Post einen Brief aus China für Ta. Ich gab ihn ihm. Nach
kurzer Zeit kam er wieder zu mir und sagte mir mit einem Gesicht, hinter dessen
orientalischem Gleichmut doch die Bestürzung zu lesen war, er bäte mich, ihn nach
Hause zurückreisen zu lassen, seine Mutter verlange durchaus nach ihm. Ich konnte es
nicht verstehen, denn wir schicken seiner Mutter jetzt regelmässig Geld, und sie ist
eigentlich besser daran, als wenn Ta in Peking wäre. Er blieb aber dabei, der Brief
sei so, dass er nicht länger zögern dürfe, er müsse durchaus nach Hause, wollte er
nicht ein ganz schlechter Sohn sein. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Zum
Glück kam der Provikar zum Frühstück zu uns. Ihm erzählte ich den Fall und bat ihn um
Rat. Ta wurde hereingerufen. Sie verhandelten lange miteinander auf chinesisch, der
Provikar las den Brief, dann wandte er sich an mich: Das ist nun gleich eine
Bestätigung dessen, was ich Ihnen vor ein paar Tagen erzählte. Die chinesischen
Konvertiten in und um Peking scheinen zu wissen, dass sich schlimme Dinge gegen sie
vorbereiten. Tas Mutter, die wie so viele Christen in der Nähe des Petang lebt,
fürchtet sich
»Und halten Sie die ganze Geschichte für wahr?« fragte ich den Provikar.
»O ja,« antwortete er. »Es ist alles daran so echt chinesisch. Nirgends wie in China
hat jeder einzelne so viel Feinde, d.h. Leute, die auf ihn drücken, die etwas
Schlimmes, das sie über ihn
»Was raten Sie mir aber wegen Ta zu tun?«
»Ich fürchte, Sie müssen sich entschliessen, ihn nach Hause zu schicken. Er wird aus
der Angst um seine Mutter nicht mehr herauskommen und sich nicht mehr beruhigen
lassen, denn er hat offenbar das Gefühl, dass es seine Pflicht ist, zu ihr
zurückzukehren. Wie sehr der Chinese seine Eltern verehrt, brauche ich Ihnen nicht
erst zu sagen – das steht sogar in den oberflächlichsten Reisebüchern. Ich habe durch
jahrelange Erfahrung freilich meine Zweifel bekommen, ob die Verehrung an sich
wirklich eine so sehr grosse ist; aber jeder Chinese wird den Schein wahren wollen,
als sei er ein vortrefflicher Sohn, und wird dafür sogar grosse Opfer bringen. Ta
geht offenbar sehr ungern
Wir sprachen dann über Tas Rückreise und kamen überein, dass es zu grosse
Schwierigkeiten
New York, März 1900.
Liebster Freund! Heute ist mir so grau und trübe zu Mute wie draussen der Himmel, an dem immer neue Wolken vorbeijagen hinaus zur See.
Ich habe heute Ta zum Dampfer gebracht, auf dem er mit dem Provikar nach Europa
abgereist ist. Heute Morgen kam er wie alle Tage, hatte die Sachen meines Bruders
gebürstet und gefaltet,
Ja, er hatte recht, wozu auch sprechen über das, was nicht zu ändern ist.
Tas Abreise gestaltete sich zu einer kleinen Ovation. Die Hausmädchen in den sauberen
weissen
Und er grinste über sein armes verweintes Gesicht, wie es nun mal im fernen Osten die gute Erziehung gebietet, wenn man so recht gerührt und traurig ist.
Ich fuhr mit Ta zu seinem Schiff, wo ich ihn dem Provikar Hofer übergeben sollte. Vom Central-Park hinunter zum Hafen, durch die vielen verschiedenen Strassen, die immer ärmlicher, hässlicher und holpriger werden. In einer langen Reihe von Stufen irdischen Besitzes geht es von den Fifth-Avenue-Palästen hinunter zu den Tenement-Häusern, zu den Schlupfwinkeln für rätselhafte Existenzen und provisorisch aussehenden kleinen Läden und Kneipen, die man ganz verwundert ist, noch irgendwo in New York zu sehen. Von höchster Höhe bis zu tiefster Tiefe führt der lange Weg, von jenen, die vor der Langeweile von Vergnügen zu Vergnügen flüchten, bis zu denen, die im Kampf gegen Hunger und Kälte von Arbeit zu Arbeit hasten.
Auf dem Dampfer herrschte die furchtbare Verwirrung, das Rennen, Hasten, sich Suchen,
das aufgeregte Sprechen, das nervöse Lachen, das Händedrücken, das Küssen und Weinen
der letzten
Nur mit Mühe fand ich in dem Gewühl der Abreisenden und Abschiednehmenden den Provikar. Ich übergab ihm Ta, und er versprach mir nochmals, gut für ihn zu sorgen und ihn sicher bis nach China zu bringen. Dann tönte auch schon die Glocke, dass die Nichtreisenden das Schiff zu verlassen hätten. Ich reichte beiden noch einmal die Hand und sagte zu Ta »Gott behüte dich!« denn in diesem letzten Augen blick hatte ich das klare Bewusstsein, dass er mit offenen Augen in eine grosse Gefahr ging, weil er es für recht hielt – in seiner Art auch ein Held, trotz Zopf und Schlitzaugen – und ich gab ihm den Wunsch mit auf den Weg, der so viele Helden schon begleitet hat: »Gott behüte dich!«
Vor mir zur Strasse zurück ging eine gebeugte, alte Frau, die bitterlich weinte; ein kleiner Junge führte sie, und ich hörte ihn tröstend sagen: »Never mind, granny dear, they'll come back!« Aber die alte Frau weinte weiter, sie hatte wohl oft Menschen gehen und nicht wiederkehren sehen und wusste wie ich, dass Menschen vielleicht, Zeiten aber nie wiederkehren.
Das Episodenhafte des Lebens lastet heute so besonders schmerzlich auf mir, lieber
Freund, das Zerrissene, Heimatlose. Der arme Ta war mir immer noch wie eine
Verbindung mit den chinesischen Jahren; sie waren ja in vielem traurig und
enttäuschend, manches haben wir dort erlebt, manches aus der Heimat dort vernommen,
was
Seit den Gesprächen mit dem Provikar habe ich die Empfindung, als sei das China, das ich gekannt, auf immer dahin. Bis jetzt dachte ich, ich brauchte nur umzukehren, dann fände ich dort alles wieder, wie ich es verlassen habe – aber dem ist nicht so, man findet nie alles wieder, denn nichts bleibt still stehen, nicht einmal in China. Und nun quält mich die Angst, was werden wird, wenn der Provikar wirklich recht hat mit allem, was er prophezeit.
Wenn er doch in Europa durchdringen und es ihm gelingen möchte, noch rechtzeitig zu
warnen! – Und dann sage ich mir wieder, ist es denn je gelungen, Ereignisse
abzuwenden, Schicksale zu lenken? Menschen mühen sich ab, ängstigen und grämen sich,
möchten helfen und bessern, und in allem, was sie tun, zum Nutzen oder Schaden
anderer, was sie sich einbilden, aus freier Wahl zu tun, was ihnen als Versäumnis
oder als Verdienst erscheint – in alledem sind sie vielleicht nur blinde
Draussen auf dem weiten Ozean zieht das Schiff dahin, das Ta und den Provikar trägt, und zahllose andere Schiffe kreuzen die Meere, alle voller Menschen, die auch zweckerfüllt und verantwortungsbelastet sind.
Und vielleicht ist all das umsonst, vielleicht hat doch das Verschen recht, das ich in einer Chronik unter dem Bilde eines alten Segelschiffes fand:
New York, März 1900.
Lieber Freund, es gibt doch komische kleine Züge in den Menschen! Wie ein Kreuzfahrer
ist Hofer aus seiner fernen Diözese ausgezogen. In elendem Boot auf dem grossen Kanal
und in knarrendem Karren auf durchlöcherten Wegen ist er zuerst nach Peking gefahren,
um vor kommendem Unheil zu warnen; und als man dort nicht auf ihn hört, zieht er
weiter über Amerika nach
Aber das Triviale wohnt nahe beim Sublimen, und die Beschäftigung mit der Kirche
schärft den Sinn fürs Praktische. Kleine Vorteile soll man auch auf dem Wege zu den
höchsten Aufgaben mitnehmen. Während seiner New Yorker Rasttage hat Hofer den ihm
gänzlich unbekannten Charles W. O'Doyle besucht und ihn auf Grund des chinesischen
Ursprungs seiner Millionen für die Missionshäuser angebettelt. O'Doyle hat ihm eine
bedeutende Summe gegeben, denn diesem grossen Mann ist sein Katholizismus ein
Luxusgegenstand, den er sich etwas kosten lässt. Er und mehr noch die Prinzess von
Armenfelde schmücken sich mit dieser Religion, die ihnen wie ein Symbol der
Vornehmheit erscheint, und der sie unter ihren Landsleuten viel Bekanntschaften in
höheren sozialen Kreisen verdanken, die sie ohnedem schwerlich je gemacht hätten. In
den Vereinigten Staaten ist der
Das Komischste aber ist, dass Hofers Appell an O'Doyles Wohltätigkeit und dessen Spürsinn für das Sensationelle in Geschäften mir eine grosse Bilderbestellung eingetragen haben!
O'Doyle und seine Tochter waren eben bei mir. Er teilte mir gleich Hofers Besuch mit und liess durchblicken, dass die Summe, die er ihm für die Mission angewiesen habe, allein schon die Reise wert sei. Dann sagte er, er glaube, Hofer habe recht mit seinen schlimmen Prophezeiungen; sie stimmten überein mit den Voraussagungen seiner Hongkonger Geschäftsfreunde.
»Um China wird sich in diesem Sommer alles drehen,« sagte O'Doyle. »Ich täusche mich selten, wenn ich mal solche Behauptungen aufstelle. Sollten Sie Geld in China haben, rat ich jetzt zu verkaufen, können später billig wieder kaufen – ganzes Geschäftsgeheimnis in den paar Worten: billig kaufen, hoch verkaufen. Zu merkwürdig, dass immer noch Menschen durchaus umgekehrt operieren wollen.«
Nachdem ich ihm versichert, dass ich weder in China noch anderswo Geld habe, fuhr er
fort: »Gehen diesen Sommer in unser Cottage nach Newport. Baue dort kleinen Pavillon
für Nachmittagstee.
Ich ging auf diesen Vorschlag gern ein und musste meine Mappen chinesischer Skizzen bringen, von denen ich so manche gemalt habe, während Sie zuschauten. Vater und Tochter suchten gleich aus. Die Prinzess war für das Malerische: ein Sonnenuntergang auf dem Yangtse, verwitterte alte Mauern in Hangtschau, ein Gewühl von Booten bei Kanton gefielen ihr, aber der alte O'Doyle verwarf das alles. »Ich will lauter Pekinger Bilder haben,« sagte er, »dort liegt die Hauptgefahr, hat Hofer gesagt, davon wird gesprochen werden.«
Es sind wohl noch nie Bilder nach merkwürdigerem Grundsatz bestellt worden!
Schliesslich entschied er sich für einen Eckturm der Pekinger Stadtmauer, für eine
Ansicht der Kaiserstadt mit den goldgelben Dächern der Paläste und für ein Stadttor,
durch das eine Truppe chinesischer Soldaten zieht – das behagte ihm besonders, denn
er meinte, sie sähen alle wie Räuber, Aufrührer und Mörder aus und würden daher sehr
Es war komisch, O'Doyles Geschäftsspürsinn auf Bildersujets angewandt zu sehen, aber es beängstigte mich doch sehr, von Revolten und Fremdenverfolgungen so ruhig reden zu hören, als von Umständen, die man im voraus eskomptiert, durch die Aktien steigen oder sinken. Aber die Erinnerung an den Winter 98 hat mich beruhigt. Da sprach man ja auch von den stets näher rückenden Kangsu-Truppen, die ihren rückständigen Sold in Peking bei den Fremden erplündern wollten, und es kam auch wirklich zu vereinzelten Angriffen, als aber nach wenigen Tagen die Gesandtschaftswachen einmarschierten, erscholl nicht mal ein Ruf gegen das Häuflein bewaffneter Fremdlinge, und ihre blosse Gegenwart genügte, um in der wogenden See gelber Menschenmassen um uns herum Ruhe zu halten.
Es wird wohl diesmal wieder so werden!
Berlin, Mai 1900.
Mehr als ein Monat ist verstrichen, ohne dass ich Ihnen geschrieben habe. Ich bin
während dem über den Atlantischen Ozean gefahren, stehe auf demselben Festland wie
Sie – aber doch welch unabsehbare Ferne zwischen uns – und Sie wissen noch nichts von
dem, was sich in dieser Zeit ereignet hat. Warum habe ich Ihnen so lange nicht
geschrieben? Ich könnte sagen, dass es mir an Zeit gefehlt. Das wäre aber nicht wahr.
Ein dunkles Gefühl hat mich davon zurückgehalten, das ich mir selbst kaum zu erklären
vermag. Eine Scheu. Eine letzte Loyalität, die Schweigen heisst. Ihnen konnte ich
auch keine banalen Phrasen schreiben, wie ich deren so viele in diesen letzten Wochen
gehört und selbst gebraucht. Denn es gibt Anlässe, wo man sich unwillkürlich ins
Banale rettet, weil es eine Hülle ist, eine breite wohl ausgetretene Strasse, an
deren Richtigkeit von andern nie gezweifelt wird. Man bleibt damit dicht an der
gehärteten Oberfläche des eigenen Wesens, enthüllt nichts, was zum innern Ich gehört.
Um aber zu den eigentlichen wahren Empfindungen zu gelangen, muss man in die Tiefen
des Herzens greifen, und
Es ist alles so plötzlich gekommen. Das Ende scheint uns ja immer plötzlich. Ich musste mich erst selbst zurechtfinden, ehe ich Ihnen schreiben konnte.
Er, von dem wir nie gesprochen, ist gestorben. – Wir erhielten in New York ein
Telegramm, dass er, dessen Namen ich trage, schwer erkrankt sei. In der Anstalt, in
der er sich seit Jahren befand, war eine Feuersbrunst ausgebrochen. Er war zwar
gerettet worden, aber infolge der nervösen Erschütterung trat eine schwere akute
Gehirnerkrankung ein. Mein Bruder erbat sich telegraphisch Urlaub von seinem
Geschäftshause, und wir reisten mit dem nächsten Schiff von New York ab. Als wir
eintrafen war alles vorüber. Wir fanden nur ein frisches Grab. Ich ängstigte mich so
sehr vor diesem Augenblick, wusste nicht, was er mir innerlich an Unerwartetem
bringen würde, denn für das alltägliche Leben und seine kleinen Vorkommnisse glauben
wir uns zu kennen, aber bei plötzlichen Gelegenheiten sind wir uns selbst immer
wieder Überraschungen. – Als wir zum Grabe gingen, hielt ich mich zuerst fest am Arm
meines Bruders, wie um Schutz zu suchen vor Unbekanntem, und dann allmählich liess
die Spannung der Nerven nachnichts
Was habe ich eigentlich empfunden?
Sein Leben war seit Jahren so entsetzlich, dass sein Tod niemandem so erscheinen
konnte. Ist doch vielleicht auch bei anderen Wesen, die nicht wie er die Grenze
überschritten haben, die wir Vernunft nennen, das Leben der Jammer, nicht der Tod.
Wir schätzen es nur so falsch weil wir durch Generationen hindurch dazu erzogen sind.
Wie sollten auch Leute regiert, wie sollten Leute zu Gott geführt werden, qui
feraient franchement fi de la vie? Gott? Auch dieses eine spezielle Leben soll er
gegeben haben, und es war ihm vermutlich doch auch so viel wert wie die Spatzen, die
er nicht vom Dache fallen lässt. Und doch ist dies Leben verkommen, der Geist hat
sich hoffnungslos umnachtet. Einer Kette mit bleierner Kugel gleich, hat sich die
eine Existenz hemmend und lähmend an eine andere gehängt. Diesem anderen Wesen war
die Fähigkeit verliehen, den vollen Schmerz, die ganze Entwürdigung dieser Last bis
in seine innersten Fasern zu fühlen; Hoffen, Streben, Sehnen waren ihm gegeben, und
nichts hat sich erfüllt von all den Möglichkeiten, die ihm vorschwebten. Nachdem dann
das eine Leben wie eine stumpfe, träge Masse
Doch es mehren sich täglich die Erfahrungen, sie wachsen zu langer Kette, und blicken
wir zurück, so sehen wir, wie Vieles schon in uns gestorben, noch ehe es leben
durfte, verkümmerte Talente, schaffensfreudiges Wollen, Sehnsucht zu
Wie oft habe ich all das während der letzten Jahre gedacht und darum gekämpft, ruhig und still zu werden. Denn Bitterkeit und Empörung zu Wehmut und Mitleid wandeln – das ist des Lebens Aufgabe, die wir lösen müssen, wollen wir nicht in Verzweiflung enden.
Nun stand ich an einem Grab. Auch ein armer, verschwendeter Mensch, der da unten
ruht.
Und ich dachte, ja, zuerst Auflehnung, dann
»Gottlob, nun hat er ausgelitten, nun ruht der arme Herr,« sagte der Wärter.
Ich schaute ihn erstaunt an. Der Mann sieht Jahr aus Jahr ein solche Schicksale vor sich und kann noch Gott loben!
Vielleicht aber hatte er recht. Leiden ist das Übel, Tod nur Ende und Erlösung.
Immer stiller ward es in mir. Ich war so völlig ruhig, dass es mich selbst erstaunte.
Und konnte doch eigentlich nicht anders sein. Die Verzweiflung meines Lebens, die
Anklagen gegen das Schicksal liegen weit zurück in vergangenen Jahren. Als es niemand
noch wusste, als ich für eine glückliche Frau galt – das war meine härteste Zeit.
Damals lehnte ich mich innerlich auf. Unerträglich war das Gefühl eigener
Zwecklosigkeit, unerträglich der Jammer um mein junges Leben, das mir noch so
unabsehbar lang vorkam. Jetzt scheint mir das alles überwunden. In mir ist schon
lange eine grosse Stille – ich gleiche einem jener ausgestorbenen Häuser, wie die
Resignation sie gern bewohnt. Dies Grab ändert nichts mehr. Ohne neue Trauer stand
ich daran. Dem Schicksal sei's gedankt, dass von dem Grab keine Anklage sich gegen
Wehmut und Mitleid allein sind geblieben.
Berlin. Mai 1900.
Die Zeit meines Bruders ist kurz bemessen. In einer Woche muss er nach New York zurück. Jetzt ist er auf ein paar Tage zu seinem Chef gereist. Ich warte hier in Berlin auf ihn, und dann werden wir uns zusammen einschiffen denn natürlich gehe ich wieder mit ihm – wir gehören ja seit soviel Jahren nun schon zusammen und sind uns gegenseitig ein Stück Heimat. Sie, lieber Freund, werden das gewiss verstehen. Hier sagen mir freilich viele Bekannte, ich solle doch nun in Berlin bleiben und mir ein Heim gründen – als ob dazu nur gehörte, eine Wohnung zu mieten und Dienstboten zu engagieren. Manch einer näselt dann auch wohl: »Wäre gerade, was in Berlin fehlt, Haus einer unabhängigen Frau, geistiges Milieu, neutraler Grund, könnte politisch von Bedeutung werden.«
Welch einsames, kleines Heim würde das sein,
Ja, wenn man jung wäre und die Schwungkraft besässe, die der Glaube an die Wichtigkeit der Dinge stets verleiht! Aber ich bin müde – nur immer müde.
Und soziale Ambitionen! – ach, Du lieber Gott!
Wäre mein Bruder nicht bei mir, ich käme mir ganz verloren vor, denn in Berlin fühle ich mich so fremd – fremder beinahe als in Amerika oder China!
Ich hatte mir immer den Glauben bewahrt, dass es, wenn ich mal wieder nach Deutschland käme, gar nicht anders sein könne, als dass mich gleich ein wonniges Heimatsgefühl umfange – und nun ist alles so ganz anders, als ich es mir in der Ferne dachte! Es ist ja immer alles im Leben anders, als man es sich dachte – aber nie schöner!
Seit ich in Deutschland bin, warte ich beständig auf das Erwachen meines
Heimatsgefühls
Hier im Hotel Buckingham, Unter den Linden, wo wir wohnen, weil es Amerikaner meinem Bruder empfohlen haben, werde ich sicher auch nicht zum Bewusstsein einer Heimat gelangen.
Mit meinem fortwährenden Suchen nach Heimatsgefühl komme ich mir halb rührend, halb
komisch vor, etwa so, wie der im heiligen Lande nach seinem verlorenen Glauben
suchende Pierre Loti. Aber fürchten Sie nichts, lieber Freund, ich will Ihnen nicht
wie er ein ganzes Buch darüber schreiben! Ich bin nämlich viel schneller als Loti zu
einer Erklärung der Vergeblichkeit unseres Suchens gekommen. Ich fürchte, er wie ich
sind zu lange fortgeblieben, er von den Stätten des Glaubens, ich von denen der
Jugend – für Glauben und für Heimat gibt es vielleicht auch ein »zu spät«. Ist man
Ihnen erst einmal völlig fremd geworden,
Aber die Sehnsucht nach der einstmaligen Heimat ist doch so stark in mir, dass ich die Erinnerungen daran wenigstens auffrischen will, um sie mit mir zu nehmen, wenn ich wieder hinaus segle. Hier in Berlin ist alles so neu, fremd und gross geworden, dass ich mich vergeblich darin nach meiner kleinen Vergangenheit umschaue. Ich will sie suchen draussen auf dem Lande. Morgen früh will ich nach dem Gute fahren, das einst das Elternhaus meiner Mutter war, und in dem ich dann später bei Verwandten als Waise lebte, bis der unerwartete Glücksfall eintrat, dass sich für mich unbemitteltes Mädchen ein wohlhabender Mann fand!
Als arme Verwandte habe ich dort manch bittere Stunde erlebt und habe den Bruder
beneidet, den ich damals selten sah, von dem ich aber wusste, dass er sich zu einem
nützlichen, ihn unabhängig machenden Beruf ausbildete. Wie gern hätte auch ich das
getan! Aber meine Verwandten hielten es für ihre Pflicht, mich wie die eigenen
Töchter zu erziehen, d.h. mich moderne Sprachen, Handarbeiten und etwas Zeichnen und
Malen lernen zu lassen und mir die Sorge der Herrichtung der Fremdenzimmer zu
übertragen, wenn
Trotz aller bittern Stunden ist mir Garzin doch immer in der Erinnerung geblieben als das eine Fleckchen Erde, an das ich ein Recht habe, das Recht, das man durch Liebhaben erwirbt. In meinen Gedanken habe ich es unbewusst immer »zu Hause« genannt, obschon die Verwandten, denen es damals gehörte, längst tot sind und es jetzt, durch allerhand unverständliche Lehnsgesetze, Eigentum eines ganz fremden, alten Herrn geworden ist, der nie hinkommt, und sein bisschen kränkliches Leben von einem Badeort zum andern schleppt.
Dorthin will ich also morgen früh fahren, und bei dem Gedanken dieses Wiedersehens klopft mir das Herz – ich denke mir, so muss einem zu Mute sein, wenn man zu einem Stelldichein geht. Und es ist ja auch ein Stelldichein – mit der Vergangenheit !
Ich trete immer wieder ans Fenster, von dem
Berlin, Mai 1900.
Und ich habe es im Sonnenschein wiedergesehen!
Ganz früh fuhr ich vom Friedrichstrassen-Bahnhof ab. Zuerst durch das hässliche
Strassengewirr, an hohen Häusern vorbei, in die man von rückwärts hinein schaut, als
wolle man heimlich und hinterrücks all ihre Geheimnisse ergründen. Staub, Russ, eine
unabsehbare Menge von Schienensträngen, auf denen Vorortzüge wie um die Wette fahren.
An allen Bahnhöfen ein Gewühl von blassen, ruhelosen Grossstadtgesichtern, lauter
Menschen, die irgendwohin zu irgend welcher Arbeit
Endlich hinaus aufs flache Land und, einer Überraschung gleich, wahrgenommen, dass es ja eigentlich Frühling ist! Hellgrüne Saatenfelder, Gemüsegärten, kleine Fichtenschonungen. Rehfelde, Strausberg, noch andere, altbekannte Namen. Bald darauf hoher Fichtenhorst, mit Wacholderbüschen als Unterholz; in den Wäldern scheint die Nacht noch in grossen bläulichen Nebelfetzen zu hängen; der Rauch der Lokomotive vermischt sich mit ihnen und kriecht zwischen den ersten Reihen hoher rötlicher Stämme bis hinein ins tiefe Waldesdunkel.
Und nun aus dem Wald heraus und rechts der Torfstich, der schon zum Garziner Bezirk gehört. Neben den schwarzen, viereckigen Wasserlachen sind die ausgestochenen Torfstücke in regelmässigen Pyramiden aufgebaut. Bläulicher Dunst lagert über dem Moor, weisse Birkenstämme schimmern hindurch, hellgrüne, herzförmige Birkenblättchen zittern in der Morgenluft; weiter zurück verschwimmt alles im Frühnebel.
Nun hält der Zug. Ich steige aus. Dies ist die Station, von der aus es in
einstündiger Wagenfahrt nach Garzin geht. Ich bleibe unschlüssig auf dem
Kleinbahn nach Garzin? also auch hier ganz Neues. Ich folge der Berliner Familie und dem Gepäckträger, der sich mit einem Fahrrad und etlichen Taschen belastet hat, über die hohe Brücke, unter der wir den Zug, der uns gebracht hat, schon nach Osten weiter rollen sehen, und steige in einen spielsachenartigen kleinen Bahnzug.
»Kein Gepäck, Madamken?« fragt mich der Dienstmann. Ich verneine leise und ziehe den dichten schwarzen Schleier fester um mich, denn ich habe den Mann sicher schon früher gesehen, und mir ist auf einmal so bang geworden, als täte ich ein Unrecht, und könne dabei ertappt werden.
Die Berliner Familie besteht aus Vater und Mutter, beide dick und behäbig, Leute, an
denen alles selbstverständlich erscheint, die das Leben sicher ganz einfach und ohne
viel Kopfzerbrechen nehmen, die die Sozialdemokraten verabscheuen und für Richter
stimmen. Dann ist eine erwachsene Tochter da, eine offenbar höhere Tochter,
vielleicht hat sie sogar das Lehrerinnen-Examen gemacht, und eine kleine, kränkliche
Tochter mit altem, verbittertem
Mein altes Garzin Luftkurort! Und ein Hohenzollern-Hotel!
In zwanzig Minuten fährt die Kleinbahn durch Kiefernwald, tiefen Sand und einen niedrigen feuchten Wiesengrund, der früher einmal ein See gewesen sein muss, bis zum Eingang des Städtchens Garzin. Dort steigen wir aus. Die Berliner Familie, geführt vom Gepäckträger, schreitet eifrig auf der Hauptstrasse dem Stadtsee zu.
Ich folge langsam. Das Strassenpflaster ist ganz
Erschrocken bin ich weiter geeilt und zum Marktplatz gekommen. Da ist alles noch
ziemlich unverändert. Das Geschäft der Witwe Wronkow,
Auf dem Marktplatz steht das kleine Siegesmonument vom Kriege 70, ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen, auf einem Steinsockel sitzend. Dahinter führen Stufen zur Kirche hinauf.
Ich habe da plötzlich eine grosse Sehnsucht empfunden, in diese Kirche einzutreten,
wo ich oft so viel schöne Vorsätze gefasst und zum lieben Gott gebetet habe, er möge
mir grosse heroische Aufgaben stellen, was dann doch nicht hinderte, dass ich gleich
nachher über die kleinen täglichen Pflichten stolperte. Ich wollte so gerne den Altar
wiedersehen, mit seinen gewundenen Säulen und den dicken, geschnitzten, zopfigen
Engeln, die
Aber die Kirche war geschlossen, wie das von einer protestantischen Kirche recht und vorschriftsmässig ist, denn der Protestantismus erzieht ruhige, pünktliche Menschen; plötzliche Sehnsuchten und Gefühlsaufwallungen liebt er nicht. Zum lieben Gott soll man wie zum Rechtsanwalt und Doktor gehen, in der ordnungsmässigen Sprechstunde, die im Kreisblättchen angezeigt wird.
Die Garziner Kirche hat einen neuen Turm bekommen, und die alten Birken scheinen mir noch gewachsen zu sein; ihre dünnen, fadenartigen Zweige klopfen ganz leise im Winde gegen die hohen Kirchenfenster, die in der Sonne glänzen. Der kleine Gottesacker, in dessen Mitte die Kirche steht, und der längst nicht mehr benutzt wird, sieht genau wie früher aus, eine Wildnis von altem Efeu und Gräsern, die die grauen, verwitterten Grabsteine überwuchern. Ich suchte nach einer alten Gedenktafel, über die ich schon als junges Mädchen oft nachgesonnen habe, und richtig, sie ist noch da, mit ihrem seltsamen, eingemeisselten Spruch, den Schnee und Regen und flechtenartiges silbriges Moos noch mehr verwischt haben:
Damals kamen mir diese Worte so geheimnisvoll vor, dass ich lange Romane über die Missetaten des Wüsterdorf Johann ersann; jetzt dünkt mich, sie passen als Grabschrift für jeden unter uns.
Ich habe lange da oben zwischen den alten Gräbern gestanden. Schaute den Vögeln zu, wie sie so eifrig Halme und Moos in den Schnäbeln anschleppen, da sie durch Generationen lange Erfahrung gelernt haben, dass sich im Schutz der Kirche gut Nester bauen lässt. Dann ging ich dem Garziner Schloss zu.
Da lag es nun vor mir.
Ganz unverändert, wie damals vor all den Jahren. Nur noch etwas verlassener; ungehegt und ungepflegt aussehend. Ich blieb stehen. Tränen traten mir in die Augen. Aus meiner tiefen Einsamkeit heraus möchte ich dem alten Haus, wie einem Menschen, sagen: »Hab mich lieb! Hab mich lieb!« Und ich meine, es müsse mir antworten: »Endlich, endlich, bist du heimgekehrt.«
Der grosse grüne Rasenplatz mit den vier runden Fliederbüschen, die voll lila
Blütendolden
Ja, das war einst Heimat!
Ich stehe und schaue. Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen zu einem einzigen, unendlichen Wehmutsgefühl, das die ganze Welt zu erfüllen scheint.
»Wollen Sie nicht auch das Schloss besehen?« fragt mich da plötzlich der junge Mann in Radelkostüm, und ich gewahre die ganze Berliner Familie, die von einem jungen Bauernmädchen geführt wird, das Schlüssel trägt.
»Wird es denn gezeigt?« frage ich.
»Na und ob, « antwortete der Sportjüngling. »Für'n Trinkjeld an das Inspektormädchen können wir uns auch mal so'n Heim von die notleidenden Ajrarier besehen.«
Ich bin so erstaunt, Garzin als eine Sehenswürdigkeit
Aus der leeren, weiten Halle treten wir in das Wohnzimmer. Wie unbewohnt, kalt und kahl nach dem Sonnenschein draussen. Ein paar der alten, recht schäbig gewordenen Möbel stehen da und sehen aus, als schämten sie sich, wie arme Kranke, deren Gebrechen von neugierigen Medizinstudenten betrachtet werden. Den abgenutzten, gestreiften Teppich erkenne ich, sogar ein gestopftes Loch, dessen ich mich entsinne, finde ich wieder.
»Du Karl,« sagt die dicke Berlinerin zu ihrem Mann und befühlt einen Sesselbezug, »da is et ja nobler bei uns in die Köpenicker Strasse.« Und der dicke Karl antwortet: »Ja, wahrhaftig, in diese feudale Jejend könnte man noch Mitleid mit die Ostelbier bekommen.«
»Jotte doch, Mama,« antwortet die höhere Tochter zurechtweisend, »das sind doch allens jriechische Jötter und Jöttinnen.«
Wir treten in ein anderes, ganz leeres Zimmer.
»Det war det Schlafzimmer von die jnädigen Komtessen,« sagt das führende Bauernmädchen.
Ja, man hat es ihr richtig erzählt, det war det Schlafzimmer von die jnädigen Komtessen. Ich sehe noch die kleinen weissen Bettchen – jetzt ist es ganz ausgeräumt. Auf der verschossenen roten Tapete bezeichnen kräftiger gefärbte Stellen die Plätze, an denen einst Bilder hingen. An der einen Wand hängt noch ein vereinzeltes altes Gemälde. Es stellt einen Heiligen dar; ganz unbekleidet, wie durch langes Fasten abgemagert und verhärmt, sitzt er inmitten einer Felsenlandschaft und hält einen Bogen Papier, auf den er eifrig schreibt.
»Der olle Herr dort oben schreibt wohl an Wertheim um ein Hemd, « sagt der
Sportjüngling. Und zwischen Tränen muss ich doch lachen, denn genau dieselbe
Bemerkung haben wir damals gemacht, als der Heilige die Zielscheibe unseres
jugendlichen Witzes war, nur dass es zu jenen
Beim Fortgehen bin ich einen Augenblick an der einen Tür stehen geblieben. Ja, wahrhaftig, da waren sie noch, ganz verblasst, die Striche, die der Onkel machte, wenn er unser Mass nahm und unser jährliches Wachstum an dieser Tür verzeichnete. – Wo sind die kleinen Mädchen hin, die da vor dem Onkel standen und denen er zurief: »Kinder, nicht auf den Zehen stehen! nicht mogeln!« – Sie hatten es so eilig mit dem Wachsen – nun sind sie längst aus der alten Heimat hinausgewachsen.
Vergangenheit, Vergangenheit! –
Ich bin dann noch lange im Park gewesen, wo jetzt Butterbrotpapiere und leere Flaschen von Berliner Touristen unter die Büsche geworfen werden, wo das Unkraut in den Wegen und Beeten wächst, wo das Schilf immer mehr den Schlossteich überwuchert und wo es trotz aller Verwahrlosung doch noch immer so frühlingsschön ist – wie einst im Mai!
Mit dem letzten Zuge bin ich erst zurückgefahren. Ich blieb so lange als möglich,
denn ich fühlte, dass ich das alles nie wiedersehen werde. Es war schon spät, als ich
auf dem Bahnhof Friedrichstrasse aus stieg. Ich ging zu Fuss bis zum
Buckingham-Hotel.
Berlin, Mai 1900.
Bei einem entfernten Verwandten meiner Mutter, den ich Onkel nenne, bin ich gewesen. Ich glaube, er würde Ihnen gefallen, drum will ich Ihnen von ihm erzählen.
Nach äusserlicher menschlicher Klassifikation gehört er zu den deutschen Professoren,
aber ich glaube, innerlich und eigentlich ist er ein Wesen aus einer klassischen
Periode, vielleicht ein auferstandener alter Grieche, der in einer Tonne hauste und
den Dingen zuschaute, oder der einstmalige Abt eines berühmten Klosters der
italienischen
Er wohnt nahe am Tiergarten, in einer Strasse, deren eines Ende sich zu einem kleinen Platz erweitert, auf dem zwischen Fliederbüschen eine Kirche steht. Es ist kein sehr alter Teil Berlins, aber doch auch keiner von den ganz neuen, und es ist dort wohltuend geräuschlos. Zu den ernsten, etwas gleichmässigen Häusern denkt man sich unwillkürlich als Bewohner still arbeitende Leute, die ein Menschenalter hindurch in denselben Zimmern gelesen und geschrieben haben und nichts von hastigen Umzügen wissen. – Es ist eine Gelehrtengegend.
So lang ich denken kann, wohnt der Onkel im selben Haus im dritten Stock. Sein
Arbeitszimmer ist ein nach rückwärts liegender Saal, von dessen Balkon aus man auf
Gärten blickt, in denen es jetzt grünt und Frühling wird. Über seinem Schreibtisch
hängt ein Marmorrelief an der Wand. Es stellt
Der Onkel ist in den Jahren, die ich in der Ferne verlebt, ein ganz alter Mann geworden. Sein langes Haar ist weiss geblichen, die ganze, hohe Gestalt ist so abgemagert, als seien die irdischen Bestandteile, deren wir zum Leben bedürfen, von ihm schon abgefallen. Die Worte »ein verklärter Leib« fielen mir ein, als ich ihn wieder sah. Die klaren, schönen Augen sind dieselben geblieben, nur grösser sind sie geworden, und es ist, als übersähen sie vieles, was sich unsern Blicken aufdrängt, und als gewahrten sie dafür schon Dinge, die uns noch verborgen sind.
Harmonie und Ruhe strahlten von ihm aus. Er lebt in seiner besonderen Welt, und ich
merkte bald, dass er sich gegen alles, was ihn daraus
Ich traf beim Onkel noch einen anderen Gast. Ein kleines, buckliges, engbrüstiges
Männchen, mit gescheitem, scharf geformtem Kopf, durchdringenden Augen, und bitterem
Lächeln um die feinen schmalen Lippen. Ein alter Bekannter von früher ist mir Hanz-
Buckau. In einem hohen, altersgrauen Gebäude an der Spree, verwaltet er seit Jahren
eine Bibliothek; und in den Mussestunden, die ihm diese Arbeit und häufiges Kranksein
lassen, übersetzt er klassische italienische Dichtungen, verfasst selbst
formvollendete Sonette satirischen Inhalts und versammelt abends eine auserwählte
Gesellschaft um sich. Hanz-Buckau ist einer der wenigen Menschen in Berlin, die einen
Salon gebildet haben. Die Leute, die zu ihm kommen, erscheinen in seinen
»Gegen physische Faulheit wird genug geeifert und gepredigt«, sagte er, »aber geistige Trägheit wird eher unterstützt. Die eine Hälfte der Menschheit soll überhaupt prinzipiell darin verharren und von der anderen Hälfte so viele als irgend möglich. Durch diese künstliche Beförderung der Unselbständigkeit sind all die vielen falschen Grössen möglich.«
Und später sagte er: »Wir sogenanntes Volk der Denker tun eigentlich nichts weniger
gern, als nachdenken, besonders nicht über Dinge, die uns doch praktisch angehen.
Drum ist man im Ausland auch immer ganz verwundert, wenn sich in Deutschland mal die
öffentliche Meinung wirklich äussert. Gewöhnlich schläft sie, im Bewusstsein, dass
Minister, Geheimräte, Professoren, die alle etwas vom Gottesgnadentum an sich haben,
für sie wachen. Wir verlassen uns darauf, im gegebenen Moment immer die nötigen
grossen Männer zu haben, als hätten wir sie ein für allemal gepachtet, und wollen
nicht sehen, dass wir in dieser Ware
Der Onkel antwortete: »Was Ihnen, lieber Hanz-Buckau, als charakteristisch erscheint für Land und Epoche, in denen Sie zufällig geboren sind, hat in Wirklichkeit immer und überall bestanden, denn alle Zeiten sind stets davon überzeugt gewesen, an grossen Männern reich zu sein. Durch das spätere Urteil der Geschichte entsteht aber oftmals gerade dort eine Öde, wo die Zeitgenossen ein Gewühl sahen. In unmittelbarer Nähe sieht alles gross aus, aber wenn die Erscheinungen erst in eine gewisse Entfernung rücken, die Vergleiche und die Anlegung eines allgemeinen Massstabes gestattet, ergibt sich die wahre, dauernde Bedeutung der Dinge. Die echten Riesen, auf die es allein ankommt, kommen schliesslich immer zum Durchbruch, und Werte ganz zu fälschen, ist nur auf kurze Zeiten möglich – drum lasset den Eintagsgötzen die Eintagsanbeter.«
»Ihr Onkel,« wandte sich Hanz-Buckau an mich, »hat zeitliche Begriffe bereits
überwunden. Für ihn sind Luther, Friedrich der Grosse, Goethe und Bismarck
gegenwärtige Realitäten, Manifestationen
Hanz-Buckau hatte das mit der sich selbst verspottenden Zärtlichkeit gesagt, die immer durch seine Stimme klingt, wenn er vom Onkel spricht. Es ist, als solle man nicht wissen, wie lieb er ihn hat.
Es war spät geworden und also sprechend hatten mich die beiden bis auf den
Treppenabsatz begleitet vor des Onkels Wohnungstür. Eine schmale Treppe führt von da
noch hinauf zum Boden, und von hoch oben fiel ein goldener Nachmittags-Sonnenstrahl
gerade auf den Onkel, der die Hand auf das Geländer gestützt hatte, die
durchsichtige, feine Hand, die emsig die Feder geführt hat ein Lebenlang. Ich hatte
mich schon verabschiedet, aber tausend feinste Erinnerungsfäden zogen mich zu ihm hin
und ich kehrte noch einmal zurück und beugte mich über die lieben Greisenhände. Eine
Träne fiel auf sie – – der Onkel ist einer der allerletzten aus meiner Kinderzeit.
Und ich bezwang die Tränen, die mir schon brennend in den Augen standen, deutete auf die Treppe, die die drei Stockwerke hinab in zunehmende Dunkelheit führte und sagte: »Leb wohl, Onkel, jetzt steig ich wie Rautendelein hinunter in den finsteren Schicksalsbrunnen.«
Langsam schritt ich die vielen Stufen hinunter. Noch einmal schaute ich hinauf. Nebeneinander standen die Beiden oben, von der Sonne beschienen – der weisshaarige Mann, der in der Einsamkeit des Alters milde lächelte, und der arme Verwachsene, dem äusserliches Gebrechen, Entsagung heischend, Schicksal geworden ist. Sie beugten sich über das Geländer und winkten mir nach.
Berlin, Mai 1900.
Lieber Freund!
Im Bädeker von Italien und der Schweiz gibt es Hotelnamen, neben denen in Klammern steht »wird viel von Deutschen besucht.« Der erfahrene Reisende vermeidet solche Hotels. Von dem Buckingham, in dem wir hier wohnen, könnte man sagen, »wird von Diplomaten, Fürstlichkeiten und Amerikanern besucht.«
Das Hotel ist hier le dernier cri des Eleganten und gleichzeitig Bequemen; nur ein
paar kleine deutsche Unbequemlichkeiten sind bei der Einrichtung
»Sie spielen hier ja Waldorf-Astoria,« sagte ich zum Direktor Specht, als wir
ankamen. Der fasste das als höchstes Kompliment auf, murmelte etwas von »Pionier der
Kultur in Berlin« und ist seitdem voll herablassender Aufmerksamkeiten gegen mich,
beinah als wäre ich ein Botschafter. Denn nichts auf der Welt geht Herrn Direktor
Specht über einen Botschafter: aber auch für Diplomaten weniger erhabenen Ranges ist
in seinem Herzen ein warmes Plätzchen; sie erscheinen ihm als Träger vieler
Möglichkeiten, mit denen man sich rechtzeitig gut stellen muss. Im ersten Speisesaal,
dem der Privilegierten, sind mehrere Tische reserviert, an denen immer Diplomaten
sitzen. Wenn Herr Direktor Specht diese Herren an ihre Plätze geleitet, hat er etwas
so Feierliches und so einen Frieden auf Erden-Ausdruck, als vollzöge er eine heilige
Handlung. Neulich stürzte er einem unserer zukunftsreichsten jungen Diplomaten
schmunzelnd und händereibend in der Halle entgegen. »Herr Graf, ich gratuliere zu der
Ernennung nach X.« »Was, lieber Specht,« antwortet
Aber auch sonst weiss Specht die schicklichen Rücksichten zu nehmen. So hat er neulich, wegen einer kurzen Hoftrauer, die übliche Tafelmusik acht Tage lang ausfallen lassen. Eine reisende Millionärin aus Denver, Mrs. Bluffer, gab während dieser Zeit ein Diner im Buckingham. Ich hörte die Dame den feierlich aussehenden Oberkellner erregt fragen, als schmälere man ihr ein mit guten Dollars erworbenes Recht: »Kellner, warum spielt die Bande nicht?«
»Es ist wegen der Hoftrauer, Madame. In diesem Hotel wohnen so viel Prinzen und hohe Herrschaften, dass wir natürlich deren Gefühle schonen müssen.«
Diese Antwort machte auf Miss Bluffer einen tiefen Eindruck und sie sprach zur Mutter: »Oh, mamma darling, ist das nicht herrlich? es ist doch fast ganz so als ob wir bei Hofe wären!«
Mein Bruder ist gestern von seiner Reise aus der Kohlen- und Eisengegend
zurückgekehrt. Als wir abends zusammen zum Essen in das Restaurant heruntergingen,
sahen wir, dass es auffallend voll
Und Specht zuckte die Achseln über die wechselnden Chancen, die es auf der grossen diplomatischen Wippe gibt.
Und richtig, da sass er, der grosse Stone Stonehead; selbstzufrieden und pomphaft wie immer, gar nicht, als habe er Strapazen durchgemacht, im Gegenteil, eine lebende Reklame für die transsibirische Bahn, so wohlgenährt und dick. Er sass zwischen einem Mediatisierten und einem eben ernannten Botschafter, muss also, wie ich ihn kenne, glücklich gewesen sein.
Mir fiel ein, wie ich ihn zuletzt gesehen habe. Im Seebad in Pei-ta-ho. Er trug dort
beim Baden ein weites rosarotes Flanellkostüm: das blähte sich im Wasser auf, so dass
er darin wie eine rosige Riesenqualle aussah. Eine Familie mit mehreren schlanken
Töchterchen pflegte stets zur gleichen Zeit wie er zu baden, und die schmächtigen,
geschmeidigen Misschen, in schwarzen Badekostümen, umschwammen und umspielten ihn.
Wie eine
Nachdem der Mediatisierte und der Botschafter gegangen waren, setzte er sich, gönnerhaft wie immer, zu uns. Er erzählte von seiner Reise und erwähnte auch, dass er an einem Orte, dessen Name schrecklich weit fort und unbekannt klang, Leute getroffen habe, die von noch viel weiter weg kamen, und Sie dort irgendwo gesehen hatten – in solch einer Gegend, von der Geographen so tun, als kennten sie sie, über die sie allerhand Behauptungen aufzustellen lieben, da, für gewöhnlich, niemand da ist, der widersprechen könnte.
Solch ein paar dürftige Worte Nachricht: Jemand hat jemand getroffen, der Sie gesehen hat – und davon muss man nun wieder lange zehren!
- Wie die Ritterfrauen in den Burgen, denen ein vorüberziehender Sänger viele Monate alte Kunde von den fernen Kreuzfahrern brachte!
Natürlich fragten wir Stone Stonehead, was er von den beunruhigenden Nachrichten hielte, die Hofer aus China gebracht, und die in den letzten Tagen mehrmals in Zeitungen aufgetaucht sind. Er antwortete, die Missionare seien verwöhnt durch allzu viel Schutz, wollten sich wichtig machen und den Diplomaten ins Handwerk pfuschen.
Hoffentlich hat der grosse Stone Stonehead recht? Ich wünsche es ja so sehr.
Hier denkt niemand an Gefahr.
Cherbourg, Mai 1900.
An Bord des »Kaiser Wilhelm der Grosse «
Dies Briefchen ist der letzte Gruss, den ich von Europa aus an Sie richten kann, denn
in wenigen Minuten fahren wir von hier weiter, hinaus auf den Atlantischen Ozean.
Dies sind die letzten Zeilen, die den alten Weg durch Europa und das Rote Meer, über
Colombo und Singapore zu Ihnen einschlagen werden. Dies kleine Blatt wird durch
Länder und Meere reisen, die ich alle kenne, und ich wünschte, es könnte Meeresbläue
und Palmenrauschen
Mein nächster Brief wird in New York auf die Post gegeben werden; und über Kanada, den Stillen Ozean und Japan wird er zu Ihnen reisen – von Osten, von Westen, von allen Seiten, die Erde umschliessend, ziehen die Gedanken zu Ihnen, lieber Freund!
An Bord des »Kaiser Wilhelm der Grosse.«
Mai 1900.
Nun sind wir schon weit draussen auf dem Atlantischen Ozean. Während der ersten
Stunden, so lang wir uns dem Lande noch nahe befanden, war die See etwas bewegt, aber
je weiter wir fahren, desto stiller wird sie. Ganz glatt liegt sie jetzt vor uns –
eine blassblaue Fläche – gerade in ihrer Ruhe so unendlich erscheinend und – so
fremd. Denn wir Menschen führen seit Generationen ein so unnatürlich hastendes Leben,
dass uns Unrast und Bewegung stets natürlich und begreiflich scheinen – die absolute
Stille aber beängstigt uns – wir verstehen sie nicht mehr. Unser Riesenschiff gleitet
durch die blauen Fluten, aber wir
Und in der grossen blauen Stille gedenk ich einer alten Sage vom Meer.
In ganz alten Zeiten, über die es keine Bücher gibt, von denen nur noch die Bewohner
entfernter Küsten vom Hörensagen allerhand Geschichten kennen, war das Meer immer so
still und blau wie heut, ein glatter Spiegel, drin Sonne, Mond und Sterne sich
besahen und schön fanden. Niemand hatte damals je einen Sturm auf der See gesehen,
man wusste noch nicht, was das sei. – Auf dem Festland lebten schon damals viele
Menschen und je mehr ihrer wurden, desto grösser wurden auch Schmerz, Jammer und
Elend aller Art. In ihrem Kampf und Leiden schauten sie oft sehnsuchtsvoll hinaus auf
die ewig gleiche stille See. Und endlich wurde ihr Unglück so gross und ihr Wunsch
nach Erlösung so heftig, dass sie riefen: »Wir können es nicht länger dulden, wir
wollen hinausfahren über
Seitdem hat es immer Stürme auf dem Meere gegeben, und immer wieder kämpft das Meer
mit all dem fremden Leid auf seinem Grunde, kämpft, um die alte verlorene Ruhe
zurückzugewinnen. Aber die kehrt nie wieder. Auch an stillen klaren
P.S. New York.
Die ganze Überfahrt ist so glatt und still geblieben – wie eine wohltuende Pause im Leben, eine sechs Tage lange Parenthese! Wie Musik schläferte das Rauschen der langen, trägen Wogen manch alten Schmerz ein. – Musik und weite Reisen sind so recht, was wir arme moderne Menschen brauchen, denn sie beruhigen und lehren vergessen. Während das Schiff unaufhaltsam weiter glitt, hatte ich beständig die Empfindung, dass etwas Furchtbares, das lange Zeiten Gewalt über mich gehabt, nun endlich und für immer hinter mir zurückblieb. – Wie vielen ist diese selbe Reise über den Atlantischen Ozean schon eine Flucht gewesen vor der Vergangenheit! Auch ich hatte das Gefühl des Entfliehens und Abschüttelns. – Als ob Schranken und Fesseln gefallen seien, war mir, als ich heute früh erwachte, und da stand sie auch schon auf ihrem Felsen, die riesengrosse Freiheit, die den Belasteten aller Länder mit ihrer Leuchte Hoffnung zuzuwinken scheint.
Die Freiheit als Wahrzeichen eines Weltteils und als Willkommen für alle aufzustellen – das macht den Amerikanern doch niemand nach!
Tuxedo Park, Mai 1900.
Lieber Freund! Nachdem wir in New York gelandet waren, erhielten wir von Mr.
Bridgewater die freundliche Aufforderung, ihn hier zu besuchen. Ich war noch so müde
und abgespannt von allem in Deutschland Erlebten, dass ich dankbar die Einladung
annahm, mich etwas auf dem Lande zu erholen. Landleben, wie ich es von früher in der
Erinnerung habe, Stille, Einsamkeit norddeutscher Güter, die Meilen weit von einander
entfernt liegen, nur durch Landwege verbunden, die während Herbst- und
Frühlingstauwetter eher verkehrhemmend als fördernd wirken – so etwas gibt es hier
freilich nicht. Tuxedo Park beweist mir mal wieder, dass Amerikaner wohl Sinn für
Exklusivität, aber nicht für Alleinsein haben. Sie brauchen Menschen, Bekannte –
allerdings nur sorgfältig ausgewählte, solche, die in jeder Hinsicht sozial
wünschenswert sind. In diesem Bedürfnis nach Verkehr, dieser Scheu vor Einsamkeit
sind sie Kindern ähnlich. In dem Park von Tuxedo stehen auf bewaldeten Hügeln, die
sich um einen See ausdehnen, eine Menge hübscher Landhäuser, Schweizerhäuschen mit
geschnitzten Holzbalkonen und hohen Giebeln, massive Steinbauten mit breiten,
südländischen
Während der Wochentage dominiert das weibliche Element an Zahl, wie in den meisten
Landaufenthalten
Den Zauber Amerikas aber bilden die Frauen, die es immer verstehen, ihre eigenen Sorgen beiseite zu setzen und das Liebenswürdigsein als Beruf betreiben; vielleicht wären sie noch reizender, wenn sie es nicht immer so eilig hätten, als seien sie in Angst, irgend etwas zu versäumen.
Hier sind einige sehr nette Frauen, von ansteckender Heiterkeit; und ich weiss nicht,
ob es ihr Einfluss oder der volle warme Frühling macht, aber mir ist manchmal, als
erwache ich allmählich aus einem seltsamen narkotischen Zustand. So muss den
Murmeltierchen zu Mute sein, wenn sie sich nach dem Winterschlaf dehnen und recken
und die kleinen blinzelnden Augen gewahr werden, dass die schöne Welt immer noch da
ist. Dann ruft
Tuxedo Park, Mai 1900.
Das Bridgewatersche Haus hier in Tuxedo gefällt mir beinah noch besser als ihr Stadthaus. Es heimelt mich an mit seiner hessischen Bauart. Steinerner Unterbau bis zur Höhe des ersten Stockes und darüber weisser Bewurf, von dem sich die Balken des Fachwerks in warmen, braunen Holztönen abheben. Dazu weit vorspringende Dächer und Giebel über einigen Zimmern, deren Fenster besonders schöne Blicke auf See und Wälder haben. Alte zopfige Engelchen aus grauem Stein sind an einem Balkon verwendet und man sieht, dass alles, was das Haus schmückt, von dem spanischen, eingelegten Täfelwerk des Speisezimmers bis zum schmiedeeisernen Geländer der Treppe, mit Liebe und Verständnis auf langen Reisen gesammelt worden ist.
Der Turm, der einen Vorsprung in dem Haupthof bildet, ist auf einer Seite mit einem
Relief geschmückt, das den heiligen Georg, den Drachentöter
Die Südseite des Turmes sieht noch ein bisschen leer aus, und Mr. Bridgewater will
dort eine Uhr anbringen. Er bat mich, ihm etwas zu skizzieren, was dort oben um die
Uhr auf die Wand gemalt werden könnte, wie man es gerade in alten bayerischen Häusern
so oft sieht. Ich habe nun um die Uhr eine zwölfstrahlige goldene Sonne entworfen.
Die Strahlen entsprechen den Stunden, und auf jede der spitzen goldenen
Strahlenzacken ist in gotischen Lettern ein Wort gemalt. Sie lauten in der
Reihenfolge: I beginnen, II wollen, III lernen, IV gehorchen, V lieben, VI hoffen,
VII suchen, VIII leiden, IX warten, X verzeihen, XI entsagen, XII enden. Der
vorrückende Zeiger bezeichnet die Stunde mit dem Wort. Viele sind es, über die man
schnell hinwegmöchte,
Was für Zeichen mögen wohl über Ihren Zukunftsstunden stehen, lieber Freund? Ich sinne nach und möchte den Schleier so gern etwas lüften können, und dann wieder denk ich, es ist besser, nicht zu fragen und zu forschen und sich nur der gegenwärtigen Frühlingsstunde zu freuen, wie die Mückenschwärme, die über dem See in der Sonne tanzen. Ich wünsche, dass viele, viele und nur schöne Stunden Ihrer harren mögen und diesen Wunsch sollen die wirklichen, warmen, goldigen Sonnenstrahlen mitnehmen und Ihnen bringen, wenn sie heute Abend meinen Blicken entschwinden, um Ihnen zu scheinen, auf der anderen Hälfte unserer schönen Frühlingswelt!
Tuxedo Park, Mai 1900.
Die hier verlebten Tage, lieber Freund, haben mir so unendlich wohlgetan, dass es mir
Vielgewanderten ganz schwer wird, wieder aufzubrechen und weiter zu ziehen. Ich habe
ein unbestimmtes
New York, Mai 1900.
Wir sind aus Tuxedo hierher zurückgekehrt; und in unseren New Yorker Zimmern, in
denen ich alles ganz unverändert vorgefunden, inmitten all der altvertrauten Dinge,
die mich nun schon so lang begleiten, habe ich mich gleich wieder völlig eingelebt,
Lieber Freund, ich glaub, ich erlebe ein Märchen!
New York, Mai 1900.
Seit ein paar Tagen bringen die Zeitungen beunruhigende Telegramme aus Peking, und es war mir eine Erleichterung gestern zu lesen, dass die Gesandten Wachen requiriert haben und dass diese wohlbehalten in Peking eingetroffen sind, natürlich nach dem üblichen und obligatorischen Palaver des Tsungliyamens, aber ohne dass ein ernsthafter Versuch gemacht worden wäre, die Truppen am Einmarsch zu hindern. Es las sich wie eine genaue Wiederholung dessen, was wir selbst 1898 erlebt haben.
Wir sollten gestern aber noch mehr über China hören, als was die Zeitungen bringen.
Abends gingen mein Bruder und ich bei Sherry essen. Jetzt, wo die Stadt sich täglich mehr leert, herrscht dort nicht mehr das Gedränge wie im Winter, aber man sieht immer noch genügend glattrasierte, befrackte Herren, eine Gardenia im Knopfloch, und genügend elegante Frauen mit halbhohen Kleidern und riesigen, malerischen Hüten, um glauben zu können, in ein lebig gewordenes Bilderbuch von Gibbons versetzt zu sein.
Nachdem wir uns gerade gesetzt hatten, traten mehrere Herren an einen neben uns
reservierten
»Ja, glauben die denn, dass die Rubinminen schon sobald einen Ertrag geben werden? « fragte ich und schämte mich meiner geschäftlichen Naivetät, als Bartolo mir mit überlegenem Lächeln antwortete: »O nein, und darauf kommt es ja auch vorläufig noch nicht an. Wir verdienen ja bisher viel mehr an den Kursschwankungen. Unsere Rubinminen-Aktien sind jetzt das grosse Spekulationspapier! Noch kein Spatenstich gemacht und schon stehen unsere 1 Pfund-Aktien auf 140. Grossartig!«
Dann erzählte er weiter: »Besonders auch bei der hohen englischen Aristokratie sind unsere Rubies, wie sie kurzweg genannt werden, sehr beliebt. So schrieb mir kurz vor meiner Abreise die Herzogin von X.: ›Lieber Bartolo, die Rubies sollen gut sein, sagt man mir; möchte mich daran beteiligen, bitte um 10 Shares, sende einliegend eine 10 Pfund-Note.‹ Die alte Dame, die jede Quotierung wie ein Makler kennt, tat plötzlich ganz harmlos, als habe sie keine Ahnung, dass nach dem Tageskurs die 10 Aktien 1400 Pfund wert waren. Na, ich hab mir die Sache überlegt und dann der Herzogin, einer politisch einflussreichen Frau, die man sich warm halten muss, schliesslich drei Aktien gesandt und 7 Pfund retourniert und dazu geschrieben, die Rubies seien so gesucht, dass ich nicht mehr hätte auftreiben können.«
In Schanghai, so teilte uns Bartolo mit, ist das schönste Haus am Bund für das Direktorium der Ruby Mines Co. Ltd. gemietet worden.
»Ja,« fuhr er fort, »die Sache soll im grossen Stil betrieben werden, darüber sind
wir uns in London ganz einig. Ein grosses Haus in Schanghai, eines in Peking und
Reklame gemacht und Gesellschaften gegeben; vor allem wollen wir auch die Chinesen
ranziehen, Feste und Diners, und dann so beim Kaffee und Likör die noch schwebenden
Dabei deutete er auf zwei Sprösslinge vornehmer Häuser, die ihn begleiteten und die
er uns als Marchese del Monte Victorioso und Vicomte le Ruinard vorgestellt hatte.
Der Marchese del Monte Victorioso, der diesen Titel seines Vaters leihweise und für
überseeische Zwecke trägt, ist ein schöner junger Mensch, das glückliche Resultat
italienischer und angelsächsischer Blutmischung. Ob die Rechnung für seinen Frack,
dem es nicht gelang, diese herrliche Antinousgestalt zu verunzieren, wohl bezahlt
ist? Chi lo sa. Aber manche der anwesenden Damen warfen ihm unter den grossen
malerischen Hüten recht vielversprechende Blicke zu; und ich sagte mir, dass Jugend,
Schönheit und ein wenn auch nur geliehener Titel wohl Gewinn bringenderes Kapital als
alle Rubin-Minen-Aktien sind. Ich kann mir Monte Victorioso schon als Hauptfigur beim
Korso des Bubbling Well Road, den Rennen, dem Country Club und all den sonstigen
sozialen Vereinigungen denken, mit denen man in Schanghai wie anderswo die Leere des
Daseins zu verbergen sucht. Geschäftlich wird er wohl so wenig wie sein Begleiter dem
guten Bartolo viel nützen, aber diesem scheinen diese betitelten Jünglinge an sich
Ich fürchte, es gibt die verschiedenartigsten Enttäuschungen für Leute, die nach Peking auswandern.
Die zwei brillanten Attachés der Ruby Mines Co. Ltd. empfahlen sich übrigens bald, denn sie reisen morgen mit Bartolo via San Francisko nach China, und sie wollten offenbar ihren letzten Abend in der vollen Zivilisation geniessen. Wir blieben zurück mit Bartolo und Dr. Silberstein, der, auf der Rückreise aus Asien, jetzt einige Zeit hier bleiben will, um eine englische Ausgabe seines Buches über China vorzubereiten. Ich fragte nach beider Meinung über die beunruhigenden Telegramme aus Peking.
Bartolo erklärte, das seien alles nur künstlich
»Aber bester Herr,« unterbrach ihn Bartolo, »die Chinesen sind doch ein zufriedenes, leicht zu regierendes Volk!«
»Ja, das sind sie,« meinte Silberstein, »aber die Unzufriedenheit ist diesem
resigniertesten aller Völker künstlich beigebracht worden. Sie verlangten nur das
Leben mit all seinen Unvollkommenheiten ruhig weiter gleiten zu lassen, wie es seit
den Tagen der Klassiker geschehen, aber immer zahlreichere Leute sind gekommen, die
ihnen von Fortschritt und Wechsel sprachen und die alle irgend
»Lieber Doktor,« sagte Bartolo, »Sie sind wie so mancher in der Melancholie eines
prolongierten Aufenthalts in Peking zum Schwarzseher geworden.
»Ja, ich weiss, « antwortete Silberstein. »Das ist die Ansicht der modernen Schule über China. Ich teile sie nicht und glaube, dass wir vor grossen Ereignissen stehen, die nichts mehr abwenden kann, und die sich logisch aus unserm eigenen Verschulden aufbauen.«
New York, 5. Juni 1900.
Der grosse Bartolo und seine beiden eleganten Adjutanten sind abgereist. Vorher
sandten sie mir noch einen riesigen Korb voll tief purpurroter Rosen, der sehr
passend mit rubinfarbenen Bandschleifen
Ich hatte mich heute Morgen gerade hingesetzt, um Ihnen dies zu beschreiben, als ich die Zeitung aufnahm und die erstaunlichen Nachrichten fand, dass die Huangtsung-Station an der Peking-Bahn von Boxern verbrannt worden ist und dass französische und belgische Ingenieure von der Luhan-Bahn vor den Rebellen nach Tientsin geflüchtet sind, wo sie nach grossen Leiden eintrafen. Missionare sind an verschiedenen Orten mit Konnivenz der Mandarine ermordet worden. In Tientsin selbst wird ein Angriff der Boxer erwartet, und in Peking soll sich die Lage sehr verschlimmert haben.
Während der letzten Tage waren die Telegramme gerade ganz beruhigend gewesen; es hiess, dass seit der Ankunft der Gesandtschaftswachen völlige Ruhe in Peking herrsche. So hatte ich denn Boxer und alle anderen Realitäten vergessen und hatte weiter Märchen geträumt.
Und nun kam das Erwachen, und mir ist, als sei ich unsanft aufgerüttelt worden.
Wie ich gerade all die Nachrichten gelesen hatte, kam Miss Tatiana de Gribojedoff
ganz aufgeregt zu mir gestürzt und sagte, sie habe gehört, dass wir wieder in New
York eingetroffen seien, und wir wären gerade diejenigen Menschen, mit
Wir Menschen kämen ohne Sorgen offenbar vor Langeweile um, und Miss Tatiana, die keine einzige wirkliche hat, schafft sich daher selbsterwählte auf politischem Gebiet.
New York, 14. Juni.
Seit Tagen habe ich die Empfindung, als liesse die ganze Welt sich treiben, ohne zu wissen wohin, als laste Umheimliches, Undurchdringliches auf ihr. Und die heutigen Telegramme sind wie ein Zerreissen des Schleiers – wie wenn bei Schiffahrt im Nebel plötzlich ein Felsen in drohender Nähe auftaucht.
»Gesandtschaftsmitglieder in P. attackiert, die englische Sommergesandtschaft zerstört, Prinz Tuan und andere Fremdenfeinde in das Tsungli-Yamen ernannt.«
Und nur die ganz kleinen Gesandtschaftswachen! Was können die ausrichten, wenn es ernst wird?
Heute steht ein Telegramm vom amerikanischen
Ich muss immerwährend an Hofer denken. Man solle Kavallerie in der Nähe bereit halten, das sei das Wichtigste, sagte er. Ach wie recht hatte doch dieser streitbare Kirchenmann!
Er und manch andere Missionare und auch die China-Association in Hongkong haben gewarnt, und schon in den Schanghaier Märzzeitungen stehen eindringliche Artikel über eine grosse kommende Gefahr. Es ist als hätte alle Welt das Unheil nahen sehen, nur nicht die eigens dazu aufgestellten Schildwachen.
Unbeachtet sind die Warnrufe verhallt. Man wollte sich im bequemen, tatenscheuen optimistischen Glauben, dass ja alles ganz gut stände und die Welt ein netter behaglicher Aufenthaltsort sei, nicht stören lassen, wollte Weitläufigkeiten, Parteinahmen und Einmischungen vermeiden, und in der grossen Sehnsucht nach Ruhe alle dem aus dem Wege gehen, wodurch neue Aktenrubriken entstehen können.
Und besondere Umstände kamen noch dazu. Die Amerikaner sagen es selbst in ihren
Zeitungen, dass sie nicht in der Lage seien, Landtruppen nach China zu senden, weil
sie sie in den Philippinen brauchen. Die Engländer haben gerade genug mit
Aber die dunkeln, unerforschten Kräfte, die uns treiben, die unerbittliche Schicksalsmacht, die über uns steht und das werden lässt, was wir nachher Geschichte nennen, – die kehren sich nicht an Völker – und Familienfeste, nehmen keine Rücksicht auf das müde Ruhebedürfnis alternder Geschlechter – die führen uns unaufhaltsam weiter, wir wissen nicht wohin – und im dichten Nebel ragen dann plötzlich vor uns drohende Felsen aus dem Meere empor.
New York, 17. Juni 1900.
Mit Angst und Spannung heute früh die Zeitung geöffnet, Schlimmes erwartend, aber
doch nicht dies
New York, 19. Juni 1900.
Die Taku-Forts sind eingenommen.
Das muss doch die Chinesen einschüchtern! Und nun wird doch sicher die
Entsatzkolonne, die Admiral Seymour führt, bald in Peking anlangen oder vielleicht
schon dort sein. Ein paarmal wurde
Aber wie ist es denn nur alles möglich? Das fragen wir uns immer wieder. Etwas Traumhaftes hat das Ganze, und man ringt, endlich erwachen und all den nächtlichen Spuk abschütteln zu können. Wenn ich an unsere stillen monotonen Pekinger Jahre zurückdenke, sage ich mir oft, »dies ist ja alles nur ein verrücktes Märchen, an das niemand glauben kann«. Über wie vieles wurde doch in China geklagt! Über Hitze, Staub und Moskitos, Überarbeitung, Ärger durch das eigensinnige Tsungli-Yamen oder über die grossen Herren zu Hause, denen China ein Buch mit fünf Siegeln ist und die doch alles besser wissen wollen. Aber dass Gefährdung der persönlichen Sicherheit je zum Gegenstand gerechter Beschwerde gegen das Schicksal und die Chinesen werden könnte, wäre keinem in den Sinn gekommen. Unmöglich wäre es uns allen erschienen, und was wir jetzt hören, klingt kaum glaublich – aber wenn ich dann die Zeitungen mit den gross und fettgedruckten Telegrammen sehe und höre, wie alle Menschen nur von China reden – dann weiss ich, dass das Abenteuerlichste, Wildeste und Unwahrscheinlichste in unsern Tagen Wahrheit geworden ist.
Wir haben die Chinesen nur als arme, gedrückte
Ein Rätsel im rätselreichen China.
Seltsam klingt es uns auch jetzt, in hiesigen Zeitungen zu lesen, dass diese selben so elend und stumpf dahinlebenden Chinesen eigentlich Wesen von erstaunlich nervöser Anlage seien, die von Fanatikern hypnotisiert wurden zu wildem Fremdenhass und blindem Glauben an eigene Unverwundbarkeit und Siegesgewissheit. Mir aber will es scheinen, dass diese Hypnotiseure vor allem ihre Kraft an den Fremden in Peking ausgeübt haben müssen, sie in wunderbaren Sicherheitswahn wiegend.
Miss Tatiana besucht mich häufig und hält lange Reden, in denen sie alle Ministerien der verschiedensten Länder zur Verantwortung zieht. Silberstein traf bei mir mit ihr zusammen und meinte nachher: »Das ist eine Dame, die einen Band Junius-Briefe schreiben sollte.«
Die beiden verhandelten lange über die chinesischen Ereignisse, und Miss Tatiana kam immer wieder darauf zurück, warum nichts von alledem von den angelsächsischen Staatsmännern, denen sie ihr Leben lang vertraut, vorgesehen worden sei.
Der Journalist meinte: »Ja, die Nachrichten aus China sind freilich so recht
geeignet, die Fundamente
»Aber«, fragte Miss Tatiana, »hat man denn nicht von Anfang an erkannt, dass diese fremden- und fortschrittsfeindliche Partei unseren kommerziellen Interessen notwendigerweise grossen Schaden zufügen muss? Warum hat man sie überhaupt je so anwachsen lassen?«
»Um sie erfolgreich zu bekämpfen«, antwortete er, »hätte man sich offen zum Kaiser
und zu seinen Reformfreunden bekennen müssen. Es gab vielleicht einen Moment, wo man
das gekonnt hätte. Aber dazu hatte niemand den Mut und niemand sah wohl ein, wieviel
auf dem Spiele stand. Die Schicksalsstunde für China war der Staatsstreich der
Kaiserin Witwe im September 1898. Dass damals die ganze Welt zuschaute, wie aller
Fortschritt vertilgt wurde, nachdem er so lange gepredigt
New York, den 21. Juni 1900.
Der entsetzliche Traum dauert weiter, keine Nachricht aus Peking, und schlimmer als alles, keine Nachricht von Ihnen. Ach, wo sind Sie, lieber Freund? Meine tägliche Hoffnung ist, ein Telegramm von Ihnen zu erhalten, dass Sie in Schanghai von Ihrer grossen Reise ins Innere zurückgekehrt sind. Um diese Zeit müssten Sie doch dort eingetroffen sein. Was kann Sie so lang aufgehalten haben? Ich sehne mich so sehr danach, von Ihnen zu hören, dass das Warten zu einem physischen Schmerz wird.
Die Hitze liegt bleiern auf der Stadt. Tag und Nacht keine Abkühlung. Die Nächte sind
am schlimmsten. Sie scheinen so endlos mit den wirren Gedanken, dem fiebrigen
Einschlummern und den verschwommenen beängstigenden Visionen, die sie bringen. Dann
wird die Hitze zu einem greifbaren Wesen, im Dunkeln lastet sie auf mir wie ein
Alpdrücken, ich glaube sie fühlen und fassen zu können. In den Zeitungen steht, wie
alle Jahre, es sei dies ein anormaler Sommer, noch nie hätten Menschen und Tiere so
sehr unter der Hitze gelitten, noch nie seien so viel Hitzschläge vorgekommen. Es
scheint, als sei es den Menschen ein Trost, sich einzubilden
Wenn einst in Millionen von Jahren die Erde tot und eisig durch die Weltenräume kreist, wer wird dann nach den kleinen Wesen fragen, die mal auf ihr an Hitzschlag starben!
Die Stadt ist ganz leer. Wir sind noch hier. Ich möchte auch gar nicht fort. Gerade hier in der furchtbaren Hitze glaube ich manchmal wirklich dort zu sein, wo all meine Gedanken sind. Hinter den hohen Pekinger Stadtmauern. Allein schon die Hitze dort in dieser Jahreszeit, ohne alles andere – welche Marter! Ich bilde mir ein, daran teilzunehmen, von hier aus mittragen zu helfen.
Wie schön wäre es doch, wenn man für andere tragen könnte, wenn man sagen könnte:
»Ruh Du Dich jetzt aus, denn nun schieb ich die Schulter unter die Last.« Das Weh der
Welt ist aber nicht wie ein Brot bestimmter Grösse, je mehr davon essen sollen, desto
kleiner müssen die Teile werden.
In Wahrheit abnehmen kann keiner dem andern etwas, so dass der wirklich frei aufatmete – wir können nur zum eigenen Leid uns noch das des anderen hinzudenken – mit ihm mitleiden.
Mitleiden – ach, wie sehr leide ich hier mit jenen, die ich in Peking gelassen, leide mit Ihnen, lieber Freund! Bald suchen meine Gedanken Sie hinter den düstern Stadtmauern, die mit unheimlichem Schweigen unbekanntes Schicksal so vieler umgeben, bald in dem grossen, brodelnden China, von dem aus allen Teilen Nachrichten über Aufstände und Metzeleien eintreffen.
Und mit all meinem Mitleid kann ich so gar nichts helfen!
New York, den 22. Juni 1900.
Lieber Freund! In diesen Zeiten wachsender Angst und Sorge denke ich so unablässig an Peking und an alles, was sich dort zutragen mag, dass es mir oft ist, als sei ich selbst dort und ich mich kaum noch erinnere, wo ich mich in Wirklichkeit befinde. Redet mich jemand an, so fahre ich auf, wie aus einem Traume gerissen und muss mich erst wieder besinnen auf die mich umgebende Welt. Stundenlang liege ich nachts wach und sinne nach und suche durch die Gewalt des Willens den Schleier zu lüften, der undurchdringlich zwischen uns liegt. Ich lausche, ob durch das tiefe Schweigen nicht doch eine einzige Stimme dringt, die mir Kunde brächte. Und dann am Morgen das fieberhafte Warten, bis die Zeitungen kommen, der jedesmalige sichere Glauben, heute müssen sie erlösende Nachrichten enthalten – und das jedesmalige Zusammensinken aller Hoffnung, die bittere Enttäuschung – immer das gleiche tiefe Schweigen.
Bilder aus jenen vergangenen Zeiten ziehen unablässig an meinen Augen vorbei, und ich
möchte jede kleinste Erinnerung an all die damaligen Ereignisse festhalten, wenn sie
auch anderen gleichgültig
Beim ersten Anblick mancher Menschen habe ich die dunkle Empfindung gehabt, sie früher schon gekannt zu haben, obschon ich doch genau wusste, dass ich sie in diesem Leben zum erstenmal sah. Wo, wann mochten wir uns wohl getroffen haben? Was war es, das uns früher einmal vereinigt hatte und woran die Erinnerung mich plötzlich leise zu mahnen schien? Niemals habe ich das so sehr empfunden, lieber Freund, als an dem Tage, da ich Sie zum erstenmal sah.
Erinnern Sie sich dessen noch?
Es war bei einem Diner in Peking, im Hause des langjährigen Gesandten von ***, eines der letzten Repräsentanten jener alten politischen Schule, die noch an die unüberwindliche Macht Chinas glaubte und in der Behandlung dieses asiatischen Völkergebildes als ebenbürtigen Grossstaates eine Befriedigung der eigenen Diplomateneitelkeit fand.
Ein Stab junger Dolmetscher umgab den alten Gesandten. Mit ihrer Hilfe richteten die
Fremden einige Sätze an einen Minister des Tsungli Yamen, eine lebende Mumie, die
sich unter den Geladenen befand und kein Wort einer europäischen Sprache kannte. Auch
zwei jüngere Chinesen waren zugegen; sie trugen über langen, seidenen Gewändern,
weitärmelige Jacken aus zart gefärbtem Damast und auf dem Kopf schwarze
Atlas-Käppchen, mit einer grossen Perle über der Mitte der Stirn. Offenbar
Sie folgten ihm.
Er stellte Sie vor.
Und sobald ich zu Ihnen aufschaute, hatte ich die ganz bestimmte Empfindung, Sie früher schon gekannt zu haben – und ich wusste doch ganz genau, dass ich Sie zum erstenmal erblickte. Es war ein ganz seltsames Gefühl. Mir war, als stände ich an jener Tür, die für uns verschliesst, was wir gewesen vor diesen paar kurzen Erdenjahren, für die unser schwaches Gedächtnis gerade mühsam reicht – und mit Anstrengung aller Fähigkeiten des Denkens und Erinnerns suchte ich diese Tür für einen Augenblick spaltenweit zu öffnen.
Bei dem Diner sassen Sie ziemlich weit von mir, wenn ich mich aber etwas vorbog,
konnte ich Sie mir schräg gegenüber erblicken. Immer wieder
Nach Tisch sprachen wir lange zusammen, und mit jedem Augenblick erschienen Sie mir bekannter und vertrauter und es dünkte mich, als läse ich auch in Ihren Augen ein staunendes Wiedererkennen.
Ich hatte ja seit unserer Ankunft in Peking viel von Ihnen gehört, von Ihren merkwürdigen, abenteuerlichen Reisen in Teilen Chinas, die kaum je von Europäern betreten werden, von Ihren wunderbaren Sammlungen, von Ihren Freundschaften mit den Lamahs entlegener Klöster, die nie mit andern Fremden sprechen, Sie aber dank Ihren buddhistischen Studien beinahe als einen der Ihrigen ansahen. Ich war natürlich sehr gespannt gewesen, Sie kennen zu lernen, aber was ich empfand, als ich Sie nun wirklich sah, hatte nichts mit dem zu tun, was ich von den Umständen Ihres jetzigen Lebens gehört – die Wurzeln dieses Gefühls des Wiederfindens mussten weit zurückgreifen in die grauen Fernen längst vergessener Zeiten.
Auf dem Heimweg in dem blauen zweirädrigen Karren, der auf der holprigen Strasse wie
ein
Aber an jenem Abend fand ich keine Antwort.
New York, den 23. Juni 1900.
Wie ich die Antwort fand, will ich Ihnen heute schreiben!
Ihnen schreiben? und weiss doch nicht, wo Sie sind, ob dieser Brief je vor Ihnen liegen wird, ob es für uns noch eine Zukunft geben kann, oder ob das ganze weitere Leben nicht wehes Erinnern sein muss an vergangene Tage.
Und doch ist mir, als umgäben mich Ihre Gedanken, als lauschten Sie irgendwo in weiter Ferne ob nicht ein Wort von mir zu Ihnen dringe.
Sie in der Weite zu suchen, sende ich diese kleine Geschichte aus; halb vergessen,
nie wieder berührt, hat sie seitdem verborgen in mir geruht; wie sie nun wieder
lebendig vor mir ersteht, fühle ich, dass mit ihr auch das nie ausgesprochene Hoffen
Es war am Morgen nach dem Diner des alten Gesandten. Lautlos trat meine filzbesohlte Amah in das Zimmer. Ihr schwarzes Haar war glatt zurückgestrichen und am Hinterkopf künstlich zu einem Horn gedreht. Sie trug jahraus, jahrein lange indigoblaue Baumwollgewänder; Winters waren sie dick wattiert und mit zunehmendem Froste zog die Amah eines über das andere, bis dass sie wie eine Tonne aussah und ihre Arme wie riesige Würste von ihr abstanden. Sommers dagegen, wenn all die wattierten Mäntel auf dem Pfandhaus ruhten, erschien sie ganz schlank. Die Amah war Christin und in der Klosterschule des Petang von den französischen Nonnen erzogen. Sie hatte dort einige Worte Französisch aufgeschnappt, was den Verkehr entschieden erleichterte, wenn man erst mit ihr übereingekommen war, was jedes Wort in ihrer Gebrauchsweise eigentlich bedeuten sollte.
An jenem Morgen sah sie strahlend aus und sagte mir: »Joli Monsieur hat ein Geschenk
für Madame geschickt.« Wer Geschenke machte war nach der Amahs französischem
Sprachgebrauch immer joli; sie urteilte offenbar nach dem Grundsatz »handsome is who
handsome does.« In den
Zwischen den Blumen aber lag Ihre Karte.
Ich beugte mich über die Blüten und wie ich ihren süssen Duft einsog, überkam mich ein seltsames Gefühl des Schonerlebten. Es war mir, als träume ich, als müsse ich nun handeln, wie es mir eine geheimnisvolle, unsichtbare Macht eingab. Mechanisch ergriff ich einen der braunen Zweige, an dem zwischen gelben, pelzigen Schutzblättchen zwei schöne rosa Knospen sich öffneten. Mechanisch trat ich vor den ziemlich blinden, zersprungenen Hotelspiegel und, wie fremdem Willen gehorchend, hob ich den Blütenzweig über mir in die Höhe, schlang eine Strähne meines Haares mehrmals zwischen den beiden Blumen durch und befestigte sie so auf meinem Kopfe.
Im Augenblick aber, als ich dies getan und mich vorbeugte, um besser in dem blinden Spiegel zu sehen, verschwanden plötzlich die Wände des kleinen Hotelzimmers und mit ihnen die Möbel, die Amah und alles, was noch vor einer Sekunde um mich gestanden hatte. Ich selbst war verschwunden und doch sah ich.
Ich sah ein spiegelglattes Meer, über dem der wolkenlose Himmel in endlosen Höhen
blaute.
Ich wollte mehr und tiefer schauen – doch die Vision entschwand – das blaue Meer ward grau und trübe – die beiden Gestalten versanken.
Ich befand mich wieder in dem dürftigen
Aber meine Frage: »Wann? Wo?« war beantwortet.
In Uranfangszeiten haben wir beide zusammen an sonnigem Strande gesessen – vielleicht war ich einstmals das erste Wesen, das sich schmückte – einem anderen zu gefallen.
Die grüne Nephrit-Schale, die Sie mir mit den Magnolienblüten sandten, hat mich nie verlassen. Sie steht auch heute vor mir, und ich starre auf die seltsamen, fremden Schriftzeichen, die in den harten grünen Stein gemeisselt sind und die da bedeuten: was einmal auf dem ewigen Rade der Zeiten gewesen, muss stets von neuem wiederkehren.
Wirres Vergangenheitserinnern, banges Zukunftsahnen durchschauert mich. Im Dunkeln tasten wir umher, bis wir in völliger Nacht versinken – wissen nicht, woher wir kommen, noch wohin wir gehen.
New York, den 24. Juni 1900.
Immer dieselben widersprechenden Nachrichten in den Zeitungen. Die Schilderungen
entsetzlicher
Ich habe angefangen mein Pekinger Tagebuch wieder durchzulesen. Auf jeder Seite steht
Ihr Name, lieber Freund, und daneben irgend eine neue Freude, die Sie sich für mich
ausgedacht! Damals nahm ich es alles so hin – als könne es nicht anders sein. Jetzt
erst beim Lesen ist es mir, als spräche aus den vergilbten Blättern eine ferne Stimme
zu mir und erzählte mir leise von Dingen, die ich nur dunkel geahnt. Jetzt versteh
ich – jetzt, wo vielleicht ... Aber ich will das Entsetzliche nicht denken – es darf
nicht so enden! Ich habe ja auch gar keinen sicheren Anhaltspunkt dafür, dass Sie mit
in Peking eingeschlossen sind – nur dass es so ungefähr die Zeit ist, in der Sie von
Ihrer Reise zurück sein sollten. Aber wie oft dehnen sich solche Reisen im Innern
länger aus, als man zuerst berechnet, und wenn Sie unterwegs von den Unruhen hörten,
werden Sie doch sicher nicht den gefahrvollen Weg nach der Küste eingeschlagen haben,
sondern werden wohlgeborgen bei einem Ihrer Freunde geblieben sein. Denn Sie hatten
Wenn ich doch aber nur eine Silbe von Ihnen hörte!
Ach, dies fortwährende Grübeln und Sehnen – dies Wissenwollen und doch Zittern vor dem Wissen.
Wann werden wir wissen? oder ... werden wir nie wissen? ...
New York, den 25. Juni 1900.
Mein Tagebuch ist mein einer grosser Trost. Ich vertiefe mich ganz in seine Lektüre. In ihm erlebe ich Vergangenes immer von neuem und vergesse zeitweise die qualvolle Gegenwart. Ich kann verstehen, was ganz alte Leute meinen, wenn sie von der grossen Freude sprechen, die es gewährt, einen Menschen zu treffen, der uns kannte, als wir jung waren. Mein Tagebuch ist mir wie jemand, der mich schon lange kennt, in dem ich mich wiederfinde, und vor allem ist es mir jemand, der Sie gekannt hat. Wie lang verweil ich doch bei den Seiten, in denen ich etwas von Ihnen wiederfinde!
Heute las ich von einem Morgen, an dem Sie mich abholten, um mir in chinesischen
Läden bei
Ob Sie sich wohl auch noch daran erinnern? Es war Winter. Wir gingen durch das finstre Tor der Tatarenstadt und dann über die Bettlerbrücke, uns mühsam einen Weg bahnend zwischen langen Zügen mongolischer Kamele, zahllosen wirr durcheinanderfahrenden blauen Karren und einem Gewühl seltsam fremdartiger Menschen: Mongolen, in breitabstehenden Pelzmützen und dicken ockergelben und kupfrig roten Röcken; Chinesen, fröstelnd trotz ihrer vielen wattierten Gewänder, die Hände unter den lang überhängenden Ärmeln verborgen, auf dem Kopf einen spitz in die Höhe stehenden roten Baschlick, der fest um den Hals zugebunden war. Andere trugen über den Ohren kleine Pelzfutterale; man konnte sie oft mehrmals anrufen, sie hörten gar nichts und wurden beständig von Karren und Reitern angerannt.
Das waren die Wohlhabenden, die sich gegen die Kälte zu schützen vermochten, aber auf
der Bettlerbrücke, zwischen den kleinen offenen Buden und Garküchen, drängte sich
eine Menge grausiger Gestalten; halb nackt waren manche und die abgemagerten Körper
zitterten vor Kälte; wir sahen eingefallene Gesichter, blaue Lippen, violette, halb
Umringt von den Bettlern blieben wir an einer der kleinen Garküchen stehen, wo in
alten, hundertfach gesprungenen und mit Draht kunstvoll geflickten Porzellannäpfen,
namenlose, seltsam duftende Speisen feil geboten wurden. Heisshungrig schauten die
Bettler nach der grossen Pfanne über dem offenen Feuer, auf der Fleischabfälle, zu
Bällen geformt, in siedendem Fett gebraten wurden. Bläulich stieg der heisse Dunst
auf in der kalten Winterluft und gierig sogen die Armen den Geruch brozelnden Fettes
ein und drängten sich möglichst nahe an das Feuer. In ihres Daseins Hölle war eine
warme Mahlzeit am Feuer einer Garküche wohl das Höchste, was die Erde zu bieten
vermag – und Sie liessen allen zu essen geben und blieben dabei, damit auch jeder
wirklich sein Teil bekam; denn die Bettler Pekings waren Ihre besonderen
Schutzbefohlenen.
Ich fragte Sie nach einigen der seltsamsten Gestalten, Sie kannten sie alle und sagten: »Auch unter diesen rechtlosesten aller Menschen bestehen noch Rechtsstreitigkeiten: Jeder darf nur in bestimmten Strassen betteln; alle zusammen bilden sie eine Gilde, an deren Spitze ein kaiserlicher Prinz steht, dem sie einen jährlichen Tribut entrichten müssen – denn nichts auf Erden wird mehr ausgebeutet, als das Elend, das sich nicht zu wehren vermag.«
Von der Bettlerbrücke bogen wir rechts in kleine Strassen ein. Ich weiss nicht, ob der Anblick all des Jammers um uns her uns darauf gebracht hatte, aber ich entsinne mich, dass wir auf dem Weg von dem geringen Mass an Glück sprachen, das auf Erden zu finden ist, und dass ich sagte: »und diesem bisschen Glück vermögen wir auch nicht mal voll ins Gesicht zu schauen, immer erscheint es uns im Profil, zurück in die Vergangenheit, oder hinaus in die Zukunft schauend.«
»Wär es denn wirklich gar nicht möglich, dem Glück in der Gegenwart kühn und
entschlossen, voll ins Antlitz zu schauen?« sagten Sie leise vor sich hin, und der
Klang Ihrer Stimme erschien mir
Ihre leisen Worte enthielten eine Frage. Aber ich vermochte nicht zu antworten – fürchtete das Zittern der eigenen Stimme. Fühlte Ihre Augen auf mir ruhen und wagte nicht aufzuschauen.
Ich schüttelte nur schweigend den Kopf. Der Wind pfiff eisig um die Ecken. Der Boden war hart gefroren. Der Winterhimmel hing schneeschwer herab. Es war, als laste uraltes Unheil auf der ganzen Welt. Fröstelnd empfand ich plötzlich die grosse Kälte. Eilend, wie vor Gespenstern fliehend, schritten wir weiter.
Wir sprachen beide nicht mehr.
New York, den 26. Juni 1900.
Vor einigen Tagen lasen wir, dass der Provikar Hofer, dessen Warnungen niemand in
Europa glauben wollte, und der nach China zurückgekehrt ist, sich in Schanghai
befindet. Ich telegraphierte ihm, ob er wisse, wo Sie sind, denn ich konnte die
Ungewissheit nicht mehr länger ertragen. Und
Also nicht mal mehr die eine schwache Hoffnung, dass Sie vielleicht irgendwo im Innern Chinas sicher und verborgen seien! Daran hatte ich mich während der letzten Tage geklammert. Je schlimmer die Nachrichten über Peking lauteten, desto sicherer und bestimmter nahm ich an, dass Sie nicht dort seien, suchte mir zu beweisen, dass Sie gar nicht dort sein könnten, wollte es nicht zugeben.
Und nun sind Sie doch dort! – All die entsetzlichen Nachrichten, die wir seit Tagen mit Grauen gelesen, sie sind zu lebenden Wirklichkeiten, zu Bildern geworden, die mich unablässig verfolgen, seit ich weiss, dass Sie mit eingeschlossen sind in der Stadt des Leidens.
Jeder einzelne, der dort hinter den finsteren Mauern der Erlösung harrt, muss ja den fremdesten Menschen Mitleid einflössen – aber was ist das neben der Angst und Verzweiflung, die mir das Herz zerreissen um Sie – um Sie, liebster Freund!
Und jetzt gar nichts tun zu können, wo man so gern das eigene Leben gäbe, wo es schon Glück wäre, auch nur mit leiden zu dürfen!
New York, den 27. Juni 1900.
Seit wann weiss ich eigentlich, was Sie meinem armen, in frühem Morgensturm entwurzelten Leben geworden sind? Hab ich es dort in Peking schon geahnt? Hab ich es jetzt erst allmählich entdeckt? Ich weiss es nicht mehr. Mir ist, als hätte es nie anders sein können. – Wir haben es uns nie so ganz gesagt – aber wir beide wussten es doch wohl immer. So vieles lag zwischen uns, hemmend und trennend. – Wozu da reden? Und sind wir nordische Menschen nicht alle etwas Stumme des Himmels? Es ist, als hindere uns eine gewisse Scheu, unsere tiefsten Gefühle auszusprechen. Mit der Feder sind wir viel beredter, da fühlen wir uns allein und frei, als könne niemand hören, was wir lautlos dem Papier anvertrauen.
Äusseren Schicksalszwanges hat es bedurft,
Ich habe einige Frauen vom Übermenschtypus gesehen, die dasjenige einfach abschüttelten, was sie in der freien Entfaltung ihres Ichs hinderte; die schicksalsstark waren und selbstgestaltend in ihr Leben eingegriffen; denen die eigene Person das Idol war, vor dem sich alles beugen musste. Ich habe auch Frauen gekannt, die zwei getrennte Leben führten, ein Leben vor aller Augen offen, kalt, grau, von unendlicher Langeweile; und daneben ein anderes, verstecktes, voll süsser Geheimnisse, voll erstohlenen Glücks, das die Leere und Öde des ersteren ersetzen musste. Beide Arten von Frauen habe ich angestaunt, vielleicht auch etwas beneidet, aber ich hätte keine je nachahmen können – es wäre allzusehr meiner innersten Natur zuwider gewesen.
Die Wandlungen in meinem Leben sind immer von aussen gekommen.
Nach Jahren, in denen die goldene Jugend schwand, ward mir die allzu schwere Last, ohne mein Dazutun, wenigstens teilweise abgenommen. Aber sie hatte mir ihren Stempel gelassen. Das Gebücktsein war mir geblieben, wie den Bäumen, die sich jahrelang vor dem Nordsturm beugen mussten. Alle Schwungkraft hatte ich verloren. Hoffnungslos schaute ich um mich. Was konnte das Leben noch enthalten?
Wanderjahre folgten und brachten etwas äussere Zerstreuung. In mir war es ganz still geworden. Ich hielt es für Todesstille, die ja für so viele lange vor dem Tode kommt.
So kam ich nach Peking.
Damals wähnte ich, des Lebens Kampf sei überwunden, und wunschlos lebte ich hin in wachem Traume. Wie blasse Nebelbilder glitten die Tage an mir vorüber. Müde, müde war ich, gleich allen, die nur noch des Endes harren.
Da kamen Sie.
Wie soll ich das schildern, was unbewusst, ungesucht geworden, woran ich nie rührte,
was ich nicht sehen wollte. Die wir viel gelitten, wir
Ich wähnte, mein Tag ginge schon zur Neige, und es ward noch einmal Licht. Ist es eine gütige, wärmende Sonne, die den Abend reicher und goldener bescheinen wird als es der ganze müde Tag je gewesen? Ist es ein grell sengender Blitz, der aus dunklem Gewölk niederfährt und das verwüstete Land noch einmal fahl bescheint? Ich weiss es nicht. Weiss nicht, welch Himmelszeichen über uns steht. Kann nicht der Zukunft Schleier durchdringen. Aber die gewaltige Kraft, die Verborgenes, Schlummerndes ins Leben ruft, sie ist gekommen in Sorgen und Bangen; sie drückt mir die Feder in die Hand zu Worten, die ewig ungeschrieben geblieben wären, ohne diese Angst um Sie!
New York, den 29. Juni 1900.
Die Seymoursche Kolonne ist nach Tientsin zurückgekehrt – und sie ist nie nach Peking gekommen! Alles Hoffen, dass sie doch dahin gelangt sei, war vergeblich.
Nichts, nichts über Peking ist bekannt – und ich weiss nur, dass Sie dort sind.
Es heisst, chinesische Vizekönige im Süden hätten Telegramme erhalten, dass die Gesandtschaften sich am 25. Juni noch hielten. Und die ganze Welt lässt sich das bieten, dass den chinesischen Beamten in Schanghai andauernd Nachrichten zugehen über das, was in Peking geschieht, dass die Fremden aber kein Telegramm von dort erhalten können!
Warum bemächtigt man sich denn nicht des Telegraphen-Taotais Sheng in Schanghai und
sagt ihm: Binnen vier Tagen erhalten sämtliche Regierungen
Aber gegen grosse Mandarine ist man ja noch nie scharf aufgetreten!
New York, den 3. Juli 1900.
Heute sagt ein Telegramm, in Tientsin sei ein Bote Sir Robert Harts aus Peking eingetroffen, der einen vom 25. Juni datierten Zettel gebracht habe, die Lage sei verzweifelt, die Fremden in der englischen Gesandtschaft vereinigt, wo sie beschossen würden.
O Gott und zu wissen, dass Sie dort sind!
Ob es noch andere Menschen gibt, die dieselbe Verzweiflung empfinden können wie ich? Und die Empörung, wenn man dann in derselben Zeitung, wo dieser Notschrei steht, spitzfindige Erörterungen darüber liest, ob eigentlich ein Krieg mit China bestände oder nicht, sowie Äusserungen des langjährigen Bewohners und Kenners Pekings, Herrn von Soundso, der erkläre: Prinz Tuan könne unmöglich so gehandelt haben, wie erzählt werde, er sei zwar rauh, aber ehrlich und gutmütig.
Oh über den unvertilgbaren Snobismus der Welt!
New York, den 6. Juli 1900.
Diese entsetzlichen Nachrichten in den Zeitungen – ein Martyrium, sie lesen zu müssen. Die schauerlichsten Einzelheiten, die auf dunklen Wegen über die letzten Kämpfe in Peking bekannt geworden, werden herausgegriffen und dann in riesigen Lettern fett gedruckt als Überschriften, die Leiden all der Unglücklichen zur geschäftlichen Spekulation ausgenutzt, die auf das Sensationsbedürfnis der Menge rechnet. Und nicht nur die Gleichgültigen lesen das, nein auch die, denen es an die innersten Wurzeln alles Lebens und Empfindens greift. Sie sehen all die furchtbaren Bilder vor den inneren Augen, Tag und Nacht! Wird nichts sie je mehr verwischen?
Und sie müssen auch lesen, dass man die Gesandtschaften als verloren aufgegeben und
sich damit abgefunden hat. Es sei überflüssig, heisst es,
Was liegt uns an Strafe, die wir um unsere Liebsten bangen! wir wollen Rettung!
New York, den 12. Juli 1900.
Heute besuchten mich ganz fremde Leute, ein alter Mann und eine alte Frau. Sie
sagten, sie hätten einen Sohn in Peking gehabt – und das genügte mir; die fremden
Leute standen mir mit einemmal ganz nah. Aber sie sagten, sie hätten ihn gehabt,
nicht, dass sie ihn hätten. Sie sind ganz überzeugt davon, dass dort hinter den hohen
Mauern alles zu Ende ist, dass keiner mehr lebt. Beide hatten etwas Resigniertes, wie
alte Leute, denen ihre Liebsten einer nach dem andern weggestorben sind, bis Unglück
schliesslich als das allein Selbstverständliche erscheint. Die alte Frau hatte etwas
frischen Krepp auf ein schäbiges schwarzes
Aber ich kann nicht – o Gott, nein, ich kann nicht!
Und wenn sie alle auch sagen, dass alles hoffnungslos vorbei ist und wenn auch die
Glocken zu Trauergottesdiensten läuten – ich kann's nicht glauben – will's nicht
glauben. Und ich schreibe Ihnen weiter, liebster Freund, schreibe Ihnen, weil
Bay View, den 16. Juli 1900.
Während der letzten Zeit bin ich viel krank gewesen. Es ist, als ob meine Kräfte ganz
allmählich schwänden. Jeden Morgen fühle ich, dass mein
Aber mein Bruder wünschte so sehr, etwas für mich zu tun, für die doch nichts mehr zu tun ist. Da hab ich mich gefügt, und wir sind in dies nahe Seebad gezogen.
Ich bin so müde, so hoffnungslos. Warum noch irgend etwas? Warum irgend etwas nicht? Was kann noch Wert haben, wenn das Eine, Entsetzliche geschehen durfte? Es ist jetzt ja doch alles einerlei.
Das Eine aber, was ich nicht ertragen kann, ist, wenn fremde, wohlmeinende Menschen mir sagen: »Wie müssen Sie froh sein, dass Sie nicht in Peking sind!« Oder: »Es ist doch eine wahre Fügung Gottes, dass Sie wenige Monate vorher abgereist sind.«
O nein, ich bin nicht froh, fort zu sein! Wachend und träumend habe ich ja nur den
einen Wunsch, in Peking zu sein, seitdem ich weiss, dass Sie dort sind. Dann wären
wir doch zusammen – und was läge mir dann daran, alle Leiden erdulden zu müssen? Sie
wären ja alle leichter zu ertragen als
Und warum soll es eine Fügung Gottes sein, dass ich gerettet bin, während vielleicht viele Frauen und kleine Kinder auf entsetzliche Weise umgekommen sind? Die waren doch so unschuldig wie ich an all der Verblendung, die allein das Furchtbare möglich gemacht hat. Welch ein Gott, der solcher Auswahl fähig wäre! Wir würden uns ja von jedem Menschen mit Abscheu wenden, der, in solch göttlicher Allmachtsstellung, nicht jeden Unschuldigen retten wollte. Der Gott so vieler Menschen erreicht in den Handlungen und Erwägungen, die sie ihm andichten, aber nicht einmal ein bescheidenes, menschliches Mittelmass – es ist eben nicht Gott, der die Menschen sich zum Bilde geschaffen, sondern die Menschen haben sich einen Gott konstruiert, nach dem Entsetzlichsten, was sie in der eigenen Natur fanden.
Ein Gott! der Tausende für die Fehler einzelner leiden lässt! Was muss in Peking
während dieser letzten Wochen von Unschuldigen schon erduldet worden
Wie sinnlos scheint es doch alles!
Viele ziehen jetzt aus jung und gesund und werden nie wiederkehren, durch Krankheiten mehr noch als durch Kugeln hingerafft. Andere werden wohl zurückkommen, aber wie? Und alles, um die Fehler anderer zu sühnen!
Und wenn man nun an die Chinesen denkt, an diese armen Unbekannten. Wie viel noch
namenloseres Elend wird dort entstehen? Aber auch da wird es nicht die eigentlich
Schuldigen treffen,
Die jetzt also ausfahren, schliessen sich der grössten aller Flotten an, die in endlosen Schiffreihen hinaus segelt in verschleierte Fernen, zu unbekannten Häfen; jener Flotte, die bestanden hat, so lange es Menschengeschichte gegeben, deren Anfang in die nebligen Fernen urältester Vergangenheit reicht, die seit den Tagen der Ägypter, Perser und Griechen von Jahr zu Jahr gewachsen ist, die nimmer enden wird. Sie ist bemannt mit grauen Leidensgestalten, mit den Zahllosen, den Namenlosen, die von jeher die Schuld der Wenigen getragen.
Und alles ist Fügung Gottes.
Bay View, 19. Juli 1900.
Wenn mein Bruder nachmittags aus New York zurückkehrt, gehe ich ihm immer entgegen,
jedesmal von neuem hoffend, dass er endlich Kunde des
Bay View, 20. Juli 1900.
Was wird in solchen Zeiten nicht alles wieder in mir wach! Alter Aberglaube ersteht
wieder, den ich auf immer für abgetan hielt – selbst in das Handeln mit dem lieben
Gott verfalle ich zurück. Wie lang, wie lang ist es doch her, dass ich den
Ich weiss nicht, ob er mich erhört hat; und doch müsste er es eigentlich, denn es ist ein Handel so recht nach alttestamentlichem Sinn – ich biet ihm mein Leben, mein Glück, mein Alles an, um einen andern zu retten – solche Verträge soll er von altersher geliebt haben!
Bay View, 21. Juli 1900.
Gestern noch eine entsetzliche Beschreibung des Endes aller Fremden in Peking und heute bringt Wu-ting-fang dem Washingtoner Auswärtigen Amt ein Chiffre-Telegramm des amerikanischen Gesandten in Peking!
Es ist in allen Zeitungen abgedruckt: »In britischer Gesandtschaft unter fortwährendem Feuer chinesischer Truppen, rascher Entsatz allein kann allgemeines Massacre verhindern.«
Aber nun nur Eile, aus Barmherzigkeit Eile, dass uns nicht noch in letzter Stunde unser Liebstes entrissen werde! Denkt der Ärmsten, die dort hinter den hohen grauen Mauern harren und horchen, ob sie den dröhnenden Schritt der heranrückenden Befreier vernehmen – denkt auch der Ärmsten, welche in allen Ländern mit sehnsüchtigem Herzen harren und horchen auf den ersten Ton lieber Stimmen, die von jenseits der hohen grauen Mauern nach langem Schweigen wieder erklingen und von all den Leiden der letzten Wochen reden werden.
Oh! Eilt euch! eilt euch!
Bay View, 28. Juli 1900.
Es ist beinahe, als ob die Welt es nicht wahr haben wolle!
In Europa glaubt man jetzt ebenso hartnäckig an das Pekinger Massacre, wie früher an die Bedeutungslosigkeit der Boxer-Bewegung. Nur mit Sensen sollten die Aufständischen bewaffnet sein, ein starker Regen, hiess es, würde sie auseinandertreiben. Jetzt kann man sie nicht furchtbar genug schildern. Vor wenigen Wochen wurden Wachen von 30 Mann für jede Gesandtschaft als überreichlich erachtet – heute sollen 60000 Mann nötig sein, um von Tientsin nach Peking zu marschieren. Die sich mehrenden Nachrichten chinesischer Vizekönige, dass die Fremden noch am Leben seien, werden alle als Täuschungsversuche hingestellt, hinter denen sich schauerliche Pläne verbergen.
Ach, das Schauerliche wird sein, wenn man durch dies lange Reden und Zaudern wirklich zu spät kommen sollte!
Bay View, 6. August 1900.
Endlich scheint doch das Zaudern vorbei! Die Truppen sind von Tientsin aufgebrochen!
Bay View, 10. August 1900.
Manchmal ist mir, als hörte ich ganz deutlich Ihre Stimme. – Dann geht ein Zittern durch mich, der Atem stockt, die Herzschläge fliegen, und ich schliesse die Augen und lausche in namenlosem Glück.
Aber in wenigen Tagen muss ja die furchtbare Angst und Trennungszeit vorüber sein. Bald, bald müssen die Befreier vor Peking stehen.
Nicht wahr, liebster Freund, dann kommen Sie auch gleich, gleich! auf dem schnellsten Schiff, auf dem kürzesten Weg – ich kann es ja nicht länger ertragen.
Was liegt Ihnen noch an alten chinesischen Handschriften? Mögen die doch alle untergehen! Ich gebe Ihnen dafür mein ganzes Herz, darin zu lesen, und was in ihm steht, ist auch schon alt, ist nicht schwer zu enträtseln und dünkt mich eine so jugendschöne Entdeckung.
Was kümmert Sie noch China? Mag doch der Norden mit Wutki und der Süden mit Ale
verzehrt werden, mögen sich die jüngeren Hungernden auch noch jeder seinen kleinen
Imbiss zusammenstehlen, aus den Krümeln, die von den Mahlzeiten der älteren,
erfahrenen Weltenräuber abfallen – oder mag es zu gar keinem Muspili kommen, sondern
alles hübsch im Sande verlaufen, wie man es hier
Kommen Sie nur bald, bald von dort zu mir. Dann mag es meinethalben China für die Chinesen heissen – wenn nur China mir Sie zurückgibt, wenn nur wir beide für einander sein können!
Bay View, 12. August 1900.
Alte Briefe der Belagerten treffen jetzt allmählich in Tientsin ein und werden in den Zeitungstelegrammen veröffentlicht. Sie sind von Boten gebracht worden, chinesischen Christen, denen es gelang, durch die Schleusen, oder selbst als Boxer verkleidet, im Gedränge heimlich aus Peking zu entweichen. Wahre Notschreie sind es, bei denen das Herz sich zusammenkrampft! Und immer dieselbe Bitte »rasche Hilfe, sonst kann sie nichts mehr nützen.«
In manchen der kleinen Zettel ist angegeben, für wie viel Tage der Proviant noch
reichen könne,
Eine Zahl enthalten die Briefe auch immer – die der Toten.
Und wie sie mit jedem neueren Briefe wächst, diese Zahl derjenigen, für die alle Hilfe zu spät kommen wird!
Und die Angst – wer ist schon mitgezählt worden? Wen wird das Los noch treffen?
Frühestens am 14. sagt man hier, können die Entsatztruppen in Peking sein. Die ganze Welt ist erstaunt über ihr rasches Vordringen – und meiner Ungeduld dünkt es noch immer so langsam! Flügel möchte ich ihnen geben!
Eine so namenlose Angst erfüllt mich gerade vor diesen letzten Tagen und Stunden.
Bay View, 13. August 1900.
Heute Nacht, liebster Freund, wachte ich auf und bildete mir ein, wieder in Peking zu
sein. Ich muss im Schlaf ein Geräusch gehört haben, das sich in meinen Träumen zu dem
Aufeinanderschlagen zweier Bambusstäbchen verwandelte, womit die
Besonders erinnere ich mich einiger Frühlingsnächte, da ich in Peking schwer krank
lag und des Lebens Funken wie ein schwaches Irrlicht unstet zwischen mir und dem
grossen grauen Nichts da draussen hin und her sprang, nicht wissend, ob es gehen oder
bleiben solle. Die Fenster standen weit offen; aus dem Hof drang der Duft des weissen
Flieders herein; von meinem Bette aus sah ich in den sternbesäeten Himmel. Ein
grosses Gefühl unendlicher Schwäche überkam mich und doch seliger Befreiung – es war
mir als schwebe ich gerade
Heute Nacht hier in anderem fremden Lande habe ich im Traum wieder den altgewohnten Ton vernommen. Er zittert mir im Herzen weiter, aber ich höre nur immerwährend das eine Wort: tot, tot, tot! Und eine namenlose, unbeschreibliche Angst hat mich erfasst, ein brennender Wunsch dorthin zu eilen, eine wahre Verzweiflung, hier still sitzen zu müssen. Ich möchte helfen und retten, und dann klingt es immer wieder: tot, tot, tot!
Es ist wie eine quälende, verzehrende Sehnsucht, Sehnsucht nach Ihnen, liebster
Freund, Sehnen, Sorgen um Sie. Mir ist, als müsste ich Ihnen grad heute noch tausend
und abertausend Liebes sagen, Sie schützen und nicht von mir lassen. Warum nur heute
gerade dies Bangen und Zittern, dies Grauen, das mir keine Sekunde Ruhe lässt, das
mich vom Haus an den Strand, vom Strand wieder ins Haus treibt, das nicht weichen
will, wie sonst nächtliche Spukgestalten, die aus den Träumen ins Wachen übergehen,
sondern ein Grauen, das wächst und wächst, auch jetzt während ich Ihnen schreibe.
Warum das heute, wo die
Was soll das? Was soll es?
O die Angst! Das Grauen!
Bay View, 17. August 1900.
Endlich, endlich! Nun ist es wirklich wahr? Die ersten Depeschen der Gesandten sind in den Zeitungen abgedruckt. Gerettet, wirklich gerettet, wiederhole ich immer von neuem!
Seit diesen ersten Nachrichten weiss ich nicht
Es scheint beinah unglaublich, dass einmal die Hoffnung Recht und die Verzweiflung Unrecht gehabt haben sollte!
Und in der Freude des Herzens, das zum Himmel jauchzt und dann wieder ängstlich bebt und fragt: »Ist's denn wahr? Ist's denn wahr?« – in diesen ersten Augenblicken eines wie neu geschenkten Lebens ist es mir, als seien Sie hier dicht bei mir, als erlebten wir es alles zusammen. Es ist ja unmöglich, dass eine solche Glückseligkeit mein ganzes Sein erfüllen kann, und Sie nichts davon wissen sollten. – Sicher wissen Sie's! Ich fühl es ja so deutlich, dass Sie hier ganz nahe bei mir sind, wenn auch die armen noch verweinten Augen Sie nicht zu schauen vermögen.
Sicherlich werden wir uns bald wiedersehen! Es wird ein schöner Abend kommen, an dem wir auf goldigem Strande zusammensitzen und hinausschauen auf das weite Meer, das sich durch Sturmestage zur Ruhe hindurchgekämpft hat, und ein solches Glück des Wiederfindens wird in uns sein, dass keine Sprache je das Wort dafür ersann, dass wir kaum zu atmen wagen, dass wir die Sekunden zu Ewigkeiten wandeln möchten. Ja, so, ganz so wird's sein.
Bay View, 18. August 1900.
Als ich heute früh erwachte, schien die Sonne strahlend in mein Zimmer; blinzelnd musste ich mich erst an den Glanz gewöhnen. Noch halb im Schlaf, hatte ich die Empfindung, dass etwas Wunderbares, Wunderschönes meiner warte – zuletzt ist mir als Kind so zu Mut gewesen, wenn ich am Weihnachtsmorgen erwachte und mich noch halb träumend erinnerte, dass nebenan im Wohnzimmer der Baum stände mit allen Geschenken. Nicht nur draussen schien aber heute früh die Sonne; nein, in mir selbst strahlte es von Glück und Seligkeit und auch an diesen Glanz musste ich mich erst blinzelnd gewöhnen – nach der langen Sorgennacht.
Die Welt ist schön, die Welt ist gut – weil Sie leben, liebster Freund! Was spricht
man denn von irdischem Jammertal – ein blühender Garten ist's – Sie leben ja! Schmerz
und Leid soll alles sein? Oh, es gibt so wonniges, tief inneres Glück – Sie leben ja!
– Mir ist, als erwache ich erst der Welt, wie sie wirklich ist – meiner Welt – wie
ich sie sehe – wie ich sie fühle. Die anderen Leute gehen herum, als sei nichts
Besonderes vorgefallen – und es ist doch alles neu und anders
Um das auszudrücken, was ich empfinde, fände ich keine eigenen Worte, kann nur wiederholen, was jener Grösste in Wort und Ton gedichtet: Winterstürme wichen dem Wonnemond! – Immer wieder klingt es in mir: Winterstürme wichen dem Wonnemond! – Ich weiss wohl, positivere Geister als ich würden darüber lächeln: Sie in Peking, ich hier am Atlantischen Ozean und – Wonnemond? Und es ist doch so, dieses Gefühl grenzenlosen Glücks, unendlicher Dankbarkeit.
Hat ein Gott die Menschen erschaffen, wie seit viel hundert Jahren den Kindern gelehrt wird, so sei Ihm Dank, dass er Sie geschaffen. Haben seit Äonen unbewusst wollende Zellen in dunklem Triebe sich so gefügt, dass schliesslich der Mensch erstand, so sei Dank jenen unendlich Kleinen, aus denen Sie wurden! Mein Gottesgeschenk, mein Weltenwunder! Was liegt an Namen und Glauben! Empfindung ist alles, was wir wissen – Winterstürme wichen dem Wonnemond!
Bay View, 19. August 1900.
Gleich nachdem die erste sichere Nachricht kam, habe ich Ihnen telegraphiert und Sie gebeten, mir sofort Nachricht zu geben, denn ich muss es von Ihnen selbst hören, dass Sie gerettet sind, muss mein eigenes Telegramm von Ihnen in der Hand halten können, ein Wort des Glücks, für mich allein bestimmt, in dem grossen Jubelklang, der durch die Welt tönt.
Nun warte ich – o, wie ich warte! – auf die erste Kunde, die von Ihnen wieder zu mir dringen wird, nach der langen, langen Zeit.
Dieser Brief soll erst abgesandt werden, wenn ich Ihr Telegramm habe – denn ich werde ihn ja gar nicht mehr nach Peking zu schicken brauchen. Sicher reisen Sie doch gleich von dort ab. Was soll Sie denn auch hindern, wenn ich Sie rufe – und ich rufe Sie, liebster Freund, rufe Sie mit solcher Sehnsucht, dass Sie es fühlen und hören müssen, wo Sie auch sind und durch die dicksten chinesischen Mauern hindurch!
20. August 1900.
Ich bin so ungeduldig. Kann das Warten auf Ihr Telegramm kaum mehr ertragen. Dann
beruhigt
21. August 1900.
Heute, liebster Freund, fühle ich, dass ich ganz sicher von Ihnen Nachricht bekommen muss, und dann soll der Brief gleich abgehen. Er soll Ihnen sagen ...
Zuerst waren mir die Worte ein leerer Schall. Sie bedeuteten gar nichts. Erst ganz
langsam hab ich sie verstanden. Die See draussen rauscht weiter, und die Wellen
schlagen gegen den Strand – ganz so wie vorhin in der blassfernen Zeit, da ich die
Worte noch nicht vernommen. Er wird das Rauschen nie mehr hören. Bedeutet es das,
wenn sie sagen, dass er tot ist? Und der Brief an ihn liegt begonnen
Ich höre immer nur dieselben Worte – er ist nicht mehr. Zuerst verstand ich's nicht – nun ist es alles, was ich noch weiss. Die Worte füllen die Welt – alles andere ist versunken.
Hätte ich ihn doch nur ein einziges Mal noch sehen können! Wär ich doch wenigstens zu allerletzt bei ihm gewesen! Dass er da allein sein, allein sterben musste! Seine Verlassenheit ermass ich an der eigenen Vereinsamung, seinen Jammer an meinem Jammer.
Jahrelang hat er mich umgeben mit Zartheit und Fürsorge, hat mich geliebt – wie sehr, weiss ich erst jetzt – ich durfte damals ja gar nicht dran denken – musste vorbeigehen – wo er mir sein ganzes Leben gab.
Ach, gäb es doch nur eine Stunde, von der ich mir jetzt sagen könnte, die habe ich ihm ganz geschenkt, deren hat er sich mit den allerletzten Gedanken sicherlich noch erinnert!
Hätte ich doch selbst den Trost solch einer einzigen Erinnerung!
Hätte ich ihm doch nur ein einziges Mal noch sagen können: »Nicht wahr, Du hast es doch immer gewusst, wie sehr ich Dich geliebt?«
Ach, dass ich doch bei ihm unter der Erde ruhte! –
Ich sehe immer nur ein endloses Trümmerfeld – wie öde der Weg, der nirgends hinführt – das war mein Leben.
Wie Erinnerungen unzähliger Existenzen steigt es in mir auf. In ihnen allen war er, war ich. Wir wissen es nur nicht mehr. In ihnen allen haben wir uns gesucht, ich fühl es dunkel. Aber fanden wir uns je dauernd? Oder war es immer nur wie staunendes Erkennen und rasches Auseinandermüssen?
Müde bin ich, müde wie von unzähligen Existenzen. Möchte tief schlafen. Aber traumlos, von nichts mehr wissen.
Ach, dass zwischen dem Gehendürfen und Wiederkehrenmüssen doch eine lange Zeit tiefer Ruhe läge!
Jetzt weiss ich, warum wir fort sollten: ich sollte gerettet werden, denn ihm ahnte wohl schon damals vieles.
Aber was sollen Welt und Leben ohne Dich? Und wenn Du es tausendmal nicht willst – Du ziehst mich Dir doch nach. Unsichtbare, unzerreissbare Fäden ketten uns aneinander seit Uranfangszeiten. Und ich folge Dir, weiss schon oft kaum, ob ich noch hier bin. Das ist der einzige Trost.
Seitdem ich von Dir getrennt bin, lebe ich ja nur scheinbar hier, eigentlich ganz wo
anders. Bei Dir. In jener Stadt wo wir während Deines Lebens zusammen waren und in
noch ferneren weiteren Landen. Überall, wo Du hier auf Erden geweilt, haben Dich
meine Gedanken begleitet, auf allen Reisen waren sie mit Dir – ich habe durch die
Sehnsucht so ganz bei Dir gelebt, dass ich Orte kenne, in denen ich nie gewesen.
Endlose Ebenen habe ich mit Dir durchzogen, wilde Felsenpässe habe ich neben Dir
überschritten, steile Berge sind wir zusammen emporgeklommen, im Dunkel sagenhafter
Tempel habe ich mit Dir gestanden, mit Dir uraltem Weisheitsspruch gelauscht. – Das
war mein
Nun bist Du noch viel weiter fortgezogen zu allerfernsten Stätten. Aber auch dahin folg ich Dir. Ich muss Dir durch alle Zeiten schon so gefolgt sein, seit es Leben und Willen gab. Und geht Dein Weg durch die Weltenräume, zu anderen Erden, Monden und Sonnen, durch tiefe Nacht und weiss glühende Helle – ich folge Dir – ich kann nicht anders!
Mich dünkt, als läg ich hier seit vielen Wochen. Und es sollen doch nur wenige Tage sein. Raum und Zeit verschwimmen für mich. Die Minuten enthalten so endloses Leid, so verzehrende Sehnsucht, dass ich sie mühsam wie Ewigkeiten durchlebe. Vergangenes scheint so nahe, dass ich mit der Hand danach greife ... aber die Hand selbst verschwimmt ... das Fussende des Bettes schiebt sich in unendliche Weiten ... ich sehe den eigenen Leib nicht mehr ... er ist zur ganzen Welt geworden ... und schmerzt ... schmerzt vom ganzen Weltenweh.
Ich kann die Feder kaum halten .... alles verwirrt sich ... und alles schmerzt ....
immer ärger. Kälte ... Finsternis. Ich kämpfe gegen
Warum haben sie mich noch einmal geweckt? Warum die Qual noch verlängert? Ist es denn noch nicht genug? Ich schlief schon ... hielt Deine Hand ... es schien ... vollbracht ... und nun? ... ich finde Dich nicht mehr ... wo ... wo war es doch? ... warten ... immer wieder warten ... und dann? ... nichts? ...
Meine Schwester, die die vorstehenden Briefe geschrieben, unser Freund, der sie empfangen sollte, ruhen nun beide. Sie hier am Strande des Atlantischen Ozeans, er in der fernen chinesischen Erde.
Als wir im Mai 1900 von Berlin zurückgekehrt waren, wo mein seit Jahren rettungslos
geisteskranker Schwager gestorben war, hatte ich gehofft, dass das Leben meiner
Schwester nun vielleicht doch noch nach dem schweren, drückenden Tag einen
versöhnenden Abend bringen könne. Es schien mir, als lebe sie auf, sich selbst dessen
kaum bewusst. Aber während der entsetzlichen Wochen, in denen die ganze Welt über das
Schicksal der in Peking Eingeschlossenen in qualvoller Ungewissheit bangte, verzehrte
sie sich in Angst um unsern Freund; und als dann die Nachricht seines Todes eintraf,
nachdem wir schon alles für gerettet und
Ich bin dann später nach China gereist. In Peking wurden mir die Briefe meiner
Schwester ausgehändigt. Unser Freund hat sie nicht mehr erhalten. Er hatte sich seine
ganze Korrespondenz nach Schanghai adressieren lassen; denn seiner ursprünglichen
Absicht nach wollte er nach seiner weiten Forschungsreise dorthin kommen, um von
diesem Hafen aus dann die Heimreise anzutreten. Unterwegs aber änderte er seine Route
und beschloss, nach Peking zurückzukehren, wo er unmittelbar vor Beginn der
Gesandtschafts-Belagerung eintraf. Er erwartete dort all seine Briefe zu finden, die
er sich unterwegs telegraphisch von Schanghai nach Peking bestellt hatte; aber der
Bote, den er mit diesem Telegramm vom Innern Chinas aus nach der nächsten viele
Tagereisen entfernten Telegraphenstation gesandt hatte, muss wohl in den schon damals
herrschenden Unruhen sein Ziel nicht erreicht haben. Sicher ist, dass sein Telegramm
nie in Schanghai angekommen ist und in Peking keine Briefschaften für ihn lagen. Er
meldete sich gleich als Freiwilliger und ward in der Verteidigung des Suwangfu
verwandt, wo die dreitausend geflüchteten chinesischen Christen ein Unterkommen
gefunden hatten. Seine Kenntnis des Chinesischen
Er ist ein Opfer der letzten Stunde geworden.
Am 13. August, als die Belagerten schon bestimmte Nachricht von dem Herannahen der Entsatztruppen unter den Generalen Gaselee und Fukushima hatten, machten die Chinesen noch einen besonders starken Angriff, als hofften sie, doch noch Herr der kleinen Schar zu werden, die ihnen während sieben Wochen widerstanden hatte. Von früh bis spät pfiffen die Kugeln und kamen wie Hagel über die Barrikaden geflogen. Am heftigsten soll der Angriff gegen das Suwangfu gewesen sein. Am Nachmittag ward dort einer der Chinesen verwundet, die Oberst Shiba zu einer Wachttruppe ausgebildet hatte. Unser Freund sprang vor, um den Verwundeten aus dem Bereich der Kugeln zu tragen, aber im selben Augenblick stürzte er selbst tödlich getroffen nieder.
Am Abend begrub man ihn.
Am nächsten Tage rückten die Entsatztruppen ein.
Monate verstrichen dann, bis ich nach Peking
Keine Spur von ihm oder ihr.
Als sei es alles nie gewesen.
Abends sass ich dann lange sinnend vor den ausgebreiteten Briefen meiner Schwester.
Zuerst dachte ich daran, sie zu verbrennen. Etwas Rauch, der zum Kamin hinaufsteigt
und sich im Raum verliert, ein paar wehe Gedanken bei einigen Zurückbleibenden, die
selbst auch bald dahin sein werden – und dann ist eines Menschen Spur verwischt. Aber
ich vermochte es nicht. Das Letzte, was von jenen Beiden geblieben, sind diese
Briefe, und als ich in ihnen blätterte, empfand ich so recht, wie sehr sie das wahre
Leben meiner Schwester enthalten und ein Stück von ihr sind, die mir so
Ich vermochte nicht die Briefe zu vernichten. Es wäre mir gewesen, als würde damit das Leben meiner Schwester noch einmal grausam zerstört.
Ich habe lange gezaudert. Doch schliesslich entschloss ich mich, zur Erinnerung an jene Beiden diese Briefe, die ihn nicht erreichten, herauszugeben. Vielleicht bringen sie dem einen oder dem andern, der die Beiden im alten Peking einst gekannt hat, einen Gruss. Vielleicht erreichen sie auch andere, einsame Menschen, die noch auf der grossen Lebensfahrt begriffen sind und gern einen Augenblick am Wege rasten, um auf die Stimmen derer, die vor ihnen gegangen sind, zu lauschen, wie sie leise aus der Vergangenheit klingen.
New York 1902.