Arthur Schnitzler
Casanovas Heimfahrt
In seinem dreiundfünfzigsten Lebensjahre, als Casanova längst nicht mehr von der
Abenteuerlust der Jugend, sondern von der Ruhelosigkeit nahenden Alters durch die Welt
gejagt wurde, fühlte er in seiner Seele das Heimweh nach seiner Vaterstadt Venedig so
heftig anwachsen, daß er sie, gleich einem Vogel, der aus luftigen Höhen zum Sterben
allmählich nach abwärts steigt, in eng und immer enger werdenden Kreisen zu umziehen
begann. Öfter schon in den letzten zehn Jahren seiner Verbannung hatte er an den hohen
Rat Gesuche gerichtet, man möge ihm die Heimkehr gestatten; doch hatten ihm früher bei
der Abfassung solcher Satzschriften, in denen er Meister war, Trotz und Eigensinn,
manchmal auch ein grimmiges Vergnügen an der Arbeit selbst die Feder geführt, so schien
sich seit einiger Zeit in seinen fast demütig flehenden Worten ein schmerzliches Sehnen
und echte Reue immer unverkennbarer auszusprechen. Er glaubte um so sicherer auf
Erhörung rechnen zu dürfen, als die Sünden seiner früheren Jahre, unter denen übrigens
nicht Zuchtlosigkeit, Händelsucht und Betrügereien meist lustiger Natur, sondern
Freigeisterei den Venezianer Ratsherren die unverzeihlichste dünkte, allmählich in
Vergessenheit zu geraten begannen und die Geschichte seiner wunderbaren Flucht aus den
Bleikammern von Venedig, die er unzählige Male an regierenden Höfen, in adeligen
Schlössern, an bürgerlichen Tischen und in übelberüchtigten Häusern zum besten gegeben
hatte, jede andere Nachrede, die sich an seinen Namen knüpfte, zu übertönen anfing; und
eben wieder, in Briefen nach Mantua, wo er sich seit zwei Monaten aufhielt, hatten
hochmögende Herren dem an innerm wie an äußerm Glanz langsam verlöschenden Abenteurer
Hoffnung gemacht, daß sich sein Schicksal binnen kurzem günstig entscheiden würde.
Da seine Geldmittel recht spärlich geworden waren, hatte Casanova beschlossen, in dem
bescheidenen, aber anständigen Gasthof, den er schon in glücklicheren Jahren einmal
bewohnt hatte, das Eintreffen der Begnadigung abzuwarten, und er vertrieb sich
indes die Zeit – ungeistigerer Zerstreuungen nicht zu gedenken, auf die gänzlich zu
verzichten er nicht imstande war – hauptsächlich mit Abfassung einer Streitschrift gegen
den Lästerer Voltaire, durch deren Veröffentlichung er seine Stellung und sein Ansehen
in Venedig gleich nach seiner Wiederkehr bei allen Gutgesinnten in unzerstörbarer Weise
zu befestigen gedachte. Eines Morgens, auf einem Spaziergang außerhalb der Stadt,
während er für einen vernichtenden, gegen den gottlosen Franzosen gerichteten Satz die
letzte Abrundung zu finden sich mühte, befiel ihn plötzlich eine außerordentliche, fast
körperlich peinvolle Unruhe; das Leben, das er in leidiger Gewöhnung nun schon durch
drei Monate führte: die Morgen Wanderungen vor dem Tor ins Land hinaus, die kleinen
Spielabende bei dem angeblichen Baron Perotti und dessen blatternarbiger Geliebten, die
Zärtlichkeiten seiner nicht mehr ganz jungen, aber feurigen Wirtin, ja sogar die
Beschäftigung mit den Werken Voltaires und die Arbeit an seiner eigenen kühnen und
bisher, wie ihm dünkte, nicht übel gelungenen Erwiderung; – all dies erschien ihm, in
der linden, allzu süßen Luft dieses Spätsommermorgens, gleichermaßen sinnlos und
widerwärtig; er murmelte einen Fluch vor sich hin, ohne recht zu wissen, wen oder was er
damit treffen wollte; und, den Griff seines Degens umklammernd, feindselige Blicke nach
allen Seiten sendend, als richteten aus der Einsamkeit ringsum unsichtbare Augen sich
höhnend auf ihn, wandte er plötzlich seine Schritte nach der Stadt zurück, in der
Absicht, noch in derselben Stunde Anstalten für seine sofortige Abreise zu treffen. Denn
er zweifelte nicht, daß er sich sofort besser befinden würde, wenn er nur erst der
ersehnten Heimat wieder um einige Meilen näher gerückt wäre. Er beschleunigte seinen
Gang, um sich rechtzeitig einen Platz in der Eilpost zu sichern, die vor Sonnenuntergang
in der Richtung nach Osten abfuhr; – weiter hatte er kaum etwas zu tun, da er sich einen
Abschiedsbesuch beim Baron Perotti wohl schenken durfte, und ihm eine halbe Stunde
vollauf genügte, um seine gesamten Habseligkeiten für die Reise einzupacken. Er dachte
der zwei etwas abgetragenen Gewänder, von denen er das schlechtere am Leibe trug, und
der vielfach geflickten, einst fein gewesenen Wäsche, die mit ein paar Dosen, einer
goldenen Kette samt Uhr und einer Anzahl von Büchern seihen ganzen Besitz ausmachten; –
vergangene Tage fielen ihm ein, da er als vornehmer Mann, mit allem Notwendigen
und Überflüssigen reichlich ausgestattet, wohl auch mit einem Diener – der freilich
meist ein Gauner war – im prächtigen Reisewagen durch die Lande fuhr; – und ohnmächtiger
Zorn trieb ihm die Tränen in die Augen. Ein junges Weib, die Peitsche in der Hand,
kutschierte ein Wägelchen an ihm vorbei, darin zwischen Säcken und allerlei Hausrat
schnarchend ihr betrunkener Mann lag. Sie blickte Casanova, wie er verzerrten Gesichtes,
Unverständliches durch die Zähne murmelnd, unter den abgeblühten Kastanienbäumen der
Heerstraße langbeinig ausschreitend einherkam, zuerst neugierig spöttisch ins Gesicht,
doch da sie ihren Blick zornig blitzend erwidert sah, nahmen ihre Augen einen
erschrockenen, und endlich, wie sie sich im Weiterfahren nach ihm umwandte, einen
wohlgefällig lüsternen Ausdruck an. Casanova, der wohl wußte, daß Grimm und Haß länger
in den Farben der Jugend zu spielen vermögen als Sanftheit und Zärtlichkeit, erkannte
sofort, daß es nur eines frechen Anrufs von seiner Seite bedurft hätte, um dem Wagen
Halt zu gebieten und dann mit dem jungen Weib anstellen zu können, was ihm weiter
beliebte; doch, obzwar diese Erkenntnis seine Laune für den Augenblick besserte, schien
es ihm nicht der Mühe wert, um eines so geringen Abenteuers willen auch nur wenige
Minuten zu verziehen; und so ließ er das Bauernwägelchen samt seinen Insassen im Staub
und Dunst der Landstraße unangefochten weiterknarren. Der Schatten der Bäume nahm der
emporsteigenden Sonne nur wenig von ihrer sengenden Kraft, und Casanova sah sich
genötigt, seinen Schritt allmählich zu mäßigen. Der Staub der Straße hatte sich so dicht
auf sein Gewand und Schuhwerk gelegt, daß ihnen ihre Verbrauchtheit nicht mehr
anzumerken war, und so konnte man Casanova, nach Tracht und Haltung, ohne weiteres für
einen Herrn von Stande nehmen, dem es just gefallen hatte, seine Karosse einmal daheim
zu lassen. Schon spannte sich der Torbogen vor ihm aus, in dessen nächster Nähe der
Gasthof gelegen war, in dem er wohnte, als ihm ein ländlich schwerfälliger Wagen
entgegengeholpert kam, in dem ein behäbiger, gutgekleideter, noch ziemlich junger Mann
saß. Er hatte die Hände über dem Magen gekreuzt und schien eben mit blinzelnden Augen
einnicken zu wollen, als sein Blick, zufällig Casanova streifend, in unerwarteter
Lebhaftigkeit aufglänzte, wie zugleich seine ganze Erscheinung in eine Art von heiterm
Aufruhr zu geraten schien. Er erhob sich zu rasch, sank sofort zurück, stand wieder auf,
versetzte dem Kutscher einen Stoß in den Rücken, um ihn zum Halten zu veranlassen,
drehte sich in dem weiterrollenden Wagen um, um Casanova nicht aus dem Gesicht zu
verlieren, winkte ihm mit beiden Händen zu und rief endlich mit einer dünnen hellen
Stimme dreimal dessen Namen in die Luft. Erst an der Stimme hatte Casanova den Mann
erkannt, trat auf den Wagen zu, der stehengeblieben war, ergriff lächelnd die beiden
sich ihm entgegenstreckenden Hände und sagte: »Ist es möglich, Olivo – Sie sind es?« –
»Ja, ich bin es, Herr Casanova, Sie erkennen mich also wieder?« – »Warum sollt' ich
nicht? Sie haben zwar seit Ihrem Hochzeitstag, an dem ich Sie zuletzt gesehn, an Umfang
ein wenig zugenommen – aber auch ich mag mich in den fünfzehn Jahren nicht unerheblich
verändert haben, wenn auch nicht in gleicher Weise.« – »Kaum,« rief Olivo, »so gut wie
gar nicht, Herr Casanova! Übrigens sind es sechzehn Jahre, vor wenigen Tagen waren es
sechzehn! Und wie Sie sich wohl denken können, haben wir, gerade bei dieser Gelegenheit,
ein hübsches Weilchen lang von Ihnen gesprochen, Amalia und ich ...« – »Wirklich,« sagte
Casanova herzlich, »Sie erinnern sich beide noch manchmal meiner?« Olivos Augen wurden
feucht. Noch immer hielt er Casanovas Hände in den seinen und drückte sie nun gerührt.
»Wieviel haben wir Ihnen zu danken, Herr Casanova! Und wir sollten unsres Wohltäters
jemals vergessen? Und wenn wir jemals –« – »Reden wir nicht davon«, unterbrach Casanova.
»Wie befindet sich Frau Amalia? Wie ist es überhaupt zu verstehn, daß ich in diesen
ganzen zwei Monaten, die ich nun in Mantua verbringe – freilich recht zurückgezogen,
aber ich gehe doch viel spazieren nach alter Gewohnheit – wie kommt es, daß ich Ihnen,
Olivo, daß ich Ihnen beiden nicht ein einziges Mal begegnet bin?« – »Sehr einfach, Herr
Casanova! Wir wohnen ja längst nicht mehr in der Stadt, die ich übrigens niemals habe
leiden können, so wenig als Amalia sie leiden mag. Erweisen Sie mir die Ehre, Herr
Casanova, steigen Sie ein, in einer Stunde sind wir bei mir zu Hause« – und da Casanova
leicht abwehrte – »Sagen Sie nicht nein. Wie glücklich wird Amalia sein, Sie
wiederzusehen, und wie stolz, Ihnen unsre drei Kinder zu zeigen. Ja, drei, Herr
Casanova. Lauter Mädchen. Dreizehn, zehn und acht ... Also noch keines in den Jahren,
sich – mit Verlaub – sich – von Casanova das Köpfchen verdrehen zu lassen.« Er lachte
gutmütig und machte Miene, Casanova einfach zu sich in den Wagen hereinzuziehen.
Casanova aber schüttelte den Kopf. Denn, nachdem er fast schon versucht gewesen war,
einer begreiflichen Neugier nachzugeben und der Aufforderung Olivos zu folgen,
überkam ihn seine Ungeduld mit neuer Macht, und er versicherte Olivo, daß er leider
genötigt sei, heute noch vor Abend Mantua in wichtigen Geschäften zu verlassen. Was
hatte er auch in Olivos Haus zu suchen? Sechzehn Jahre waren eine lange Zeit! Amalia war
indes gewiß nicht jünger und schöner geworden; bei dem dreizehnjährigen Töchterlein
würde er in seinen Jahren kaum sonderlichen Anwert finden; und Herrn Olivo selbst, der
damals ein magerer, der Studien beflissener Jüngling gewesen war, als bäurisch behäbigen
Hausvater in ländlicher Umgebung zu bewundern, das lockte ihn nicht genug, als daß er
darum eine Reise hätte aufschieben sollen, die ihn Venedig wieder um zehn oder zwanzig
Meilen näher brachte. Olivo aber, der nicht gesonnen schien, Casanovas Weigerung ohne
weiteres hinzunehmen, bestand darauf, ihn vorerst einmal im Wagen nach dem Gasthof zu
bringen, was ihm Casanova füglich nicht abschlagen konnte. In wenigen Minuten waren sie
am Ziel. Die Wirtin, eine stattliche Frau in der Mitte der Dreißig, begrüßte in der
Einfahrt Casanova mit einem Blick, der das zwischen ihnen bestehende zärtliche
Verhältnis auch für Olivo ohne weitres ersichtlich machen mußte. Diesem aber reichte sie
die Hand als einem guten Bekannten, von dem sie – wie sie Casanova gegenüber gleich
bemerkte – eine gewisse, auf seinem Gut wachsende, sehr preiswürdige, süßlichherbe
Weinsorte regelmäßig zu beziehen pflegte. Olivo beklagte sich sofort, daß der Chevalier
von Seingalt (denn so hatte die Wirtin Casanova begrüßt, und Olivo zögerte nicht, sich
gleichfalls dieser Anrede zu bedienen) so grausam sei, die Einladung eines
wiedergefundenen alten Freundes auszuschlagen, aus dem lächerlichen Grunde, weil er
heute, und durchaus gerade heute, von Mantua wieder abreisen müsse. Die befremdete Miene
der Wirtin belehrte ihn sofort, daß diese von Casanovas Absicht bisher noch nichts
gewußt hatte, und Casanova hielt es daraufhin für angebracht, zu erklären, daß er den
Reiseplan zwar nur vorgeschützt, um nicht der Familie des Freundes durch einen so
unerwarteten Besuch lästig zu fallen; tatsächlich aber sei er genötigt, ja verpflichtet,
in den nächsten Tagen eine wichtige schriftstellerische Arbeit abzuschließen, wofür er
keinen geeigneteren Ort wüßte, als diesen vorzüglichen Gasthof, in dem ihm ein kühles
und ruhiges Zimmer zur Verfügung stände. Darauf beteuerte Olivo, daß seinem bescheidenen
Haus keine größre Ehre widerfahren könne, als wenn der Chevalier von Seingalt dort
sein Werk zum Abschluß brächte; die ländliche Abgeschiedenheit könne einem solchen
Unternehmen doch nur förderlich sein; an gelehrten Schriften und Hilfsbüchern, wenn
Casanova solcher benötigte, wäre auch kein Mangel, da seine, Olivos, Nichte, die Tochter
seines verstorbenen Stiefbruders, ein junges, aber trotz ihrer Jugend schon höchst
gelehrtes Mädchen, vor wenigen Wochen mit einer ganzen Kiste voll Büchern bei ihnen
eingetroffen sei; – und wenn des Abends gelegentlich Gäste erschienen, so brauchte sich
der Herr Chevalier weiter nicht um sie zu kümmern; es sei denn, daß ihm nach des Tages
Arbeit und Bemühen eine heitre Unterhaltung oder ein kleines Spielchen nicht eher eine
willkommene Zerstreuung bedeutete. Casanova hatte kaum von einer jungen Nichte
vernommen, als er auch schon entschlossen war, sich dieses Geschöpf in der Nähe zu
besehn; anscheinend noch immer zögernd, gab er dem Drängen Olivos endlich nach, erklärte
aber gleich, daß er keineswegs länger als ein oder zwei Tage von Mantua fernbleiben
könne, und beschwor seine liebenswürdige Wirtin, Briefe, die für ihn indes hier anlangen
mochten und vielleicht von höchster Wichtigkeit waren, ihm unverzüglich durch einen
Boten nachzusenden. Nachdem die Sache so zu Olivos großer Zufriedenheit geordnet war,
begab sich Casanova auf sein Zimmer, machte sich für die Reise fertig, und schon nach
einer Viertelstunde trat er in die Gaststube, wo Olivo sich indes in ein eifriges
Gespräch geschäftlicher Natur mit der Wirtin eingelassen hatte. Nun erhob er sich, trank
stehend sein Glas Wein aus, und verständnisvoll zwinkernd versprach er ihr, den
Chevalier – wenn auch nicht bereits morgen oder übermorgen – doch in jedem Falle
wohlbehalten und unversehrt an sie zurückzustellen. Casanova aber, plötzlich zerstreut
und hastig, empfahl sich so kühl von seiner freundlichen Wirtin, daß sie ihm, schon am
Wagenschlag, ein Abschiedswort ins Ohr flüsterte, das eben keine Liebkosung war.
Während die beiden Männer die staubige, im sengenden Mittagsglanz daliegende Straße ins
Land hinausfuhren, erzählte Olivo weitschweifig und wenig geordnet von seinen
Lebensumständen: wie er bald nach seiner Verheiratung ein winziges Grundstück nahe der
Stadt gekauft, einen kleinen Gemüsehandel angefangen; dann seinen Besitz allmählich
erweitert und Landwirtschaft zu treiben begonnen; – wie er es endlich durch die eigne
und seiner Gattin Tüchtigkeit mit Gottes Segen so weit gebracht, daß er vor drei Jahren
von dem verschuldeten Grafen Marazzani dessen altes, etwas verfallenes Schloß samt
dazugehörigem Weingut käuflich zu erwerben imstande gewesen, und wie er sich nun auf
adligem Grund mit Frau und Kindern behaglich, wenn auch keineswegs gräflich,
eingerichtet habe. All dies aber verdanke er zuletzt doch nur den hundertfünfzig
Goldstücken, die seine Braut oder vielmehr deren Mutter von Casanova zum Geschenk
erhalten habe; – ohne diese zauberkräftige Hilfe wäre sein Los wohl heute noch kein
andres, als es damals gewesen: ungezogne Rangen im Lesen und Schreiben zu unterweisen;
wahrscheinlich wäre er auch ein alter Junggeselle und Amalie eine alte Jungfer geworden
... Casanova ließ ihn reden und hörte ihm kaum zu. Ihm zog das Abenteuer durch den Sinn,
in das er damals zugleich mit manchen andern bedeutungsvollem verstrickt gewesen war,
und das, als das geringste von allen, seine Seele so wenig als seither seine Erinnerung
beschäftigt hatte. Auf einer Reise von Rom nach Turin oder Paris – er wußte es selbst
nicht mehr – während eines kurzen Aufenthalts in Mantua hatte er Amalia eines Morgens in
der Kirche erblickt und, da ihm ihr hübsches blasses, etwas verweintes Antlitz
Wohlgefallen, eine freundlich galante Frage an sie gerichtet. Zutunlich wie sie damals
alle gegen ihn waren, hatte sie ihm gern ihr Herz aufgeschlossen und so erfuhr er, daß
sie, die selbst in dürftigen Verhältnissen lebte, in einen armen Schullehrer verliebt
war, dessen Vater ebenso wie ihre Mutter zu einer so aussichtslosen Verbindung die
Einwilligung entschieden verweigerte. Casanova erklärte sich sofort bereit, die
Angelegenheit ins Reine zu bringen. Er ließ sich vor allem mit Amaliens Mutter
bekanntmachen, und da diese als eine hübsche Witwe von sechsunddreißig Jahren auf
Huldigungen noch Anspruch machen durfte, war Casanova bald so innig mit ihr befreundet,
daß seine Fürsprache alles bei ihr zu erreichen vermochte. Sobald sie erst ihre
ablehnende Haltung aufgegeben, versagte auch Olivos Vater, ein heruntergekommener
Kaufmann, seine Zustimmung nicht länger, insbesondere als Casanova, der ihm als
entfernter Verwandter der Brautmutter vorgestellt wurde, sich großmütig verpflichtete,
die Kosten der Hochzeit und einen Teil der Aussteuer zu bezahlen. Amalia selbst aber
konnte nicht anders, als dem edlen Gönner, der ihr erschienen war wie ein Bote aus einer
andern höhern Welt, sich in einer Weise dankbar erzeigen, die das eigne Herz ihr gebot;
und als sie sich am Abend vor ihrer Hochzeit der letzten Umarmung Casanovas mit
glühenden Wangen entrang, war ihr der Gedanke völlig fern, an ihrem Bräutigam, der
sein Glück am Ende doch nur der Liebenswürdigkeit und dem Edelsinn des wunderbaren
Fremden verdankte, ein Unrecht begangen zu haben. Ob Olivo von der außerordentlichen
Erkenntlichkeit Amaliens gegenüber dem Wohltäter je durch ein Geständnis Kunde erhalten,
ob er ihr Opfer vielleicht als ein selbstverständliches vorausgesetzt und ohne
nachträgliche Eifersucht hingenommen hatte, oder ob ihm gar, was geschehn, bis heute ein
Geheimnis geblieben war, – darum hatte Casanova sich niemals gekümmert und kümmerte sich
auch heute nicht darum.
Die Hitze stieg immer höher an. Der Wagen, schlecht gefedert und mit harten Kissen
versehn, rumpelte und stieß zum Erbarmen, das dünnstimmig gutmütige Geschwätz Olivos,
der nicht abließ, seinen Begleiter von der Ersprießlichkeit seines Bodens, der
Vortrefflichkeit seiner Hausfrau, der Wohlgeratenheit seiner Kinder und von dem vergnügt
harmlosen Verkehr mit bäuerlicher und adliger Nachbarschaft zu unterhalten, begann
Casanova zu langweilen, und ärgerlich fragte er sich, aus welchem Grunde er denn
eigentlich eine Einladung angenommen, die für ihn nichts als Unbequemlichkeiten und am
Ende gar Enttäuschungen im Gefolge haben konnte. Er sehnte sich nach seinem kühlen
Gasthofszimmer in Mantua, wo er zu dieser selben Stunde ungestört an seiner Schrift
gegen Voltaire hätte weiterarbeiten können, – und schon war er entschlossen, beim
nächsten Wirtshaus, das eben sichtbar wurde, auszusteigen, ein beliebiges Gefährt zu
mieten und zurückzufahren, als Olivo ein lautes Holla he! hören ließ, nach seiner Art
mit beiden Händen zu winken begann und, Casanova beim Arm packend, auf einen Wagen
deutete, der neben dem ihren, zugleich mit diesem, wie auf Verabredung, stehengeblieben
war. Von jenem andern aber sprangen, eines hinter dem andern, drei ganz junge Mädchen
herunter, so daß das schmale Brett, das ihnen als Sitz gedient hatte, in die Höhe flog
und umkippte. »Meine Töchter«, wandte sich Olivo, nicht ohne Stolz, an Casanova, und als
dieser sofort Miene machte, seinen Platz im Wagen zu verlassen: »Bleiben Sie nur sitzen,
mein teurer Chevalier, in einer Viertelstunde sind wir am Ziel, und so lange können wir
uns schon alle in meiner Kutsche behelfen. Maria, Nanetta, Teresina – seht, das ist der
Chevalier von Sein galt, ein alter Freund eures Vaters, kommt nur näher, küßt ihm die
Hand, denn ohne ihn wäret ihr« – er unterbrach sich und flüsterte Casanova zu: »Bald
hätt' ich was Dummes gesagt.« Dann verbesserte er sich laut: »Ohne ihn wäre
manches anders!« Die Mädchen, schwarzhaarig und dunkeläugig wie Olivo, und alle, auch
die älteste, Teresina, noch von kindlichem Aussehn, betrachteten den Fremden mit
ungezwungener, etwas bäurischer Neugier, und die jüngste, Maria, schickte sich, der
väterlichen Weisung folgend, an, ihm allen Ernstes die Hand zu küssen; Casanova aber
ließ es nicht zu, sondern nahm eins der Mädchen nach dem andern beim Kopf und küßte
jedes auf beide Wangen. Indes wechselte Olivo ein paar Worte mit dem jungen Burschen,
der das Wägelchen mit den Kindern bis hierher gebracht hatte, worauf jener auf das Pferd
einhieb und die Landstraße in der Richtung nach Mantua weiterfuhr.
Die Mädchen nahmen Olivo und Casanova gegenüber unter Lachen und scherzhaftem Gezänk auf
dem Rücksitz Platz; sie saßen eng aneinandergedrängt, redeten alle zugleich, und da ihr
Vater gleichfalls zu sprechen nicht aufhörte, war es Casanova anfangs nicht leicht,
ihren Worten zu entnehmen, was sie alle einander eigentlich zu erzählen hatten. Ein Name
klang auf: der eines Leutnants Lorenzi; er sei, wie Teresina berichtete, vor einer Weile
an ihnen vorbeigeritten, habe für den Abend seinen Besuch in Aussicht gestellt und lasse
den Vater schönstens grüßen. Ferner meldeten die Kinder, daß die Mutter anfangs
gleichfalls beabsichtigt hätte, dem Vater entgegenzufahren; aber in Anbetracht der
großen Hitze hatte sie's doch vorgezogen, daheim bei Marcolina zu bleiben. Marcolina
aber war noch in den Federn gelegen, als man von Hause wegfuhr; und vom Garten aus
durchs offne Fenster hatten sie sie mit Beeren und Haselnüssen beworfen, sonst schliefe
sie wohl noch zu dieser Stunde.
»Das ist sonst nicht Marcolinens Art,« wandte sich Olivo an seinen Gast; »meistens sitzt
sie schon um sechs Uhr oder noch früher im Garten und studiert bis zur Mittagszeit.
Gestern freilich hatten wir Gäste, und es dauerte etwas länger als gewöhnlich; auch ein
kleines Spielchen wurde gemacht, – nicht eins, wie es der Herr Chevalier gewöhnt sein
mögen – wir sind harmlose Leute und wallen einander nicht das Geld abnehmen. Und da auch
unser würdiger Abbate sich zu beteiligen pflegt, so können Sie sich wohl denken, Herr
Chevalier, daß es nicht sehr sündhaft dabei zugeht.«
Als vom Abbate die Rede war, lachten die Mädchen und hatten einander weiß Gott was zu
erzählen, worüber es noch mehr zu lachen gab als vorher. Casanova aber nickte nur
zerstreut; in der Phantasie sah er das Fräulein Marcolina, das er noch gar nicht
kannte, in ihrem weißem Bette liegend, dem Fenster gegenüber, die Decke
heruntergestreift, halb entblößten Leibes, mit schlaftrunkenen Händen sich gegen die
hereinfliegenden Beeren und Haselnüsse wehrend; – und eine törichte Glut flog durch
seine Sinne. Daß Marcolina die Geliebte des Leutnants Lorenzi war, daran zweifelte er so
wenig, als hätte er selbst sie beide in zärtlichster Umschlingung gesehn, und er war so
bereit, den unbekannten Lorenzi zu hassen, als ihn nach der niemals geschauten Marcolina
verlangte.
Im zitternden Dunst des Mittags, über graugrünes Laubwerk emporragend, ward ein
viereckiges Türmchen sichtbar. Bald bog der Wagen von der Landstraße auf einen
Seitenweg; links stiegen Weinhügel gelinde an, rechts über den Rand einer Gartenmauer
neigten sich Kronen uralter Bäume. Der Wagen hielt an einem Tor, dessen verwitterte
Holzflügel weit offen standen, die Fahrgäste stiegen aus, der Kutscher, auf einen Wink
Olivos, fuhr weiter, dem Stalle zu. Ein breiter Weg unter Kastanienbäumen führte zu dem
Schlößchen, das sich auf den ersten Anblick etwas kahl, ja vernachlässigt darbot. Was
Casanova vor allem ins Auge fiel, war ein zerbrochenes Fenster im ersten Stockwerk;
ebenso entging es ihm nicht, daß die Umfassung auf der Plattform des breiten, aber
niedern Turmes, der etwas plump auf dem Gebäude saß, da und dort abbröckelte. Hingegen
zeigte die Haustüre eine edle Schnitzerei, und in den Flur tretend, erkannte Casanova
sofort, daß das Innere des Hauses sich in einem wohlerhaltenen und jedenfalls weit
bessern Zustand befand, als dessen Äußres hätte vermuten lassen.
»Amalia!« rief Olivo laut, daß es von den gewölbten Mauern widerhallte. »Komm herunter
so geschwind du kannst! Ich hab' dir einen Gast mitgebracht, Amalia, und was für einen
Gast!« – Aber Amalia war schon vorher oben auf der Stiege erschienen, ohne für die aus
der vollen Sonne in das Dämmer Tretenden sofort sichtbar zu sein. Casanova, dessen
scharfe Augen sich die Fähigkeit bewahrt hatten, selbst das Dunkel der Nacht zu
durchdringen, hatte sie früher bemerkt als der Gatte. Er lächelte und fühlte zugleich,
daß dieses Lächeln sein Antlitz jünger machte. Amalia war keineswegs fett geworden, wie
er gefürchtet, sondern sah schlank und jugendlich aus. Sie hatte ihn gleich erkannt.
»Welche Überraschung, welches Glück!« rief sie ohne jede Verlegenheit aus, eilte rasch
die Stufen hinab und reichte Casanova zur Begrüßung die Wange, worauf dieser sie
ohne weitres wie eine liebe Freundin umarmte. »Und ich soll wirklich glauben,« sagte er
dann, »daß Maria, Nanetta und Teresina Ihre leiblichen Töchter sind, Amalia? Der Zeit
nach möchte es zwar stimmen –« »Und allem übrigen nach auch,« ergänzte Olivo, »verlassen
Sie sich darauf, Chevalier!« – »Dein Zusammen treffen mit dem Chevalier«, sagte Amalia
mit einem erinnerungstrunknen Blick auf den Gast, »ist wohl an deiner Verspätung schuld,
Olivo?« – »So ist es, Amalia, aber hoffentlich gibt es trotz der Verspätung noch etwas
zu essen?« – »Wir haben uns natürlich nicht allein zu Tisch gesetzt, Marcolina und ich,
so hungrig wir schon waren.« – »Und werden Sie sich nun,« fragte Casanova, »auch noch so
lange gedulden, bis ich meine Kleider und mich selbst ein wenig vom Staub der Landstraße
gereinigt habe?« – »Gleich will ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen,« sagte Olivo, »und hoffe,
Chevalier, Sie werden zufrieden sein, beinahe so zufrieden ...« er zwinkerte und fügte
leise hinzu: »wie in Ihrem Gasthof zu Mantua, wenn es auch an mancherlei fehlen dürfte.«
Er ging voraus, die Stiege zur Galerie hinauf, die sich rings um die Halle im Viereck
zog, und von deren äußerstem Winkel eine schmale Holztreppe sich nach oben wand. In der
Höhe angelangt, öffnete Olivo die Türe zum Turmgemach und, an der Schwelle
stehenbleibend, wies er es Casanova mit vielen Komplimenten als bescheidenes
Fremdenzimmer an. Eine Magd brachte den Mantelsack nach, entfernte sich mit Olivo, und
Casanova stand allein in einem mäßigen, mit allem Notwendigen ausgestatteten, doch
ziemlich kahlen Raum, durch dessen vier schmale hohe Bogenfenster sich ein weiter Blick
nach allen Seiten auf die sonnbeglänzte Ebene mit grünen Weingeländen, bunten Fluren,
gelben Feldern, weißen Straßen, hellen Häusern und dunklen Gärtchen darbot. Casanova
kümmerte sich nicht weiter um die Aussicht und machte sich rasch fertig, nicht so sehr
aus Hunger, als aus einer quälenden Neugier, Marcolina so bald als möglich von Angesicht
zu Angesicht zu sehen; er wechselte nicht einmal das Gewand, weil er erst am Abend
glänzender aufzutreten gedachte.
Als er das im Erdgeschoß gelegene holzgetäfelte Speisezimmer betrat, sah er um den
wohlbestellten Tisch außer dem Ehepaar und den drei Töchtern ein in mattschimmerndes,
einfach herunterfließendes Grau gekleidetes Mädchen von zierlicher Gestalt sitzen, das
ihn mit so unbefangenem Blick betrachtete, als wäre er jemand, der zum Hause gehörte
oder doch schon hundertmal hier zu Gast gewesen. Daß sich in ihrem Blick nichts
von jenem Leuchten zeigte, wie es ihn früher so oft begrüßt, auch wenn er als
Nichtgekannter im berückenden Glanz seiner Jugend oder in der gefährlichen Schönheit
seiner Mannesjahre er schienen war, das mußte Casanova freilich als eine längst nicht
mehr neue Erfahrung hinnehmen. Aber auch in der letzten Zeit noch genügte meist die
Nennung seines Namens, um auf Frauenlippen den Ausdruck einer verspäteten Bewunderung
oder doch wenigstens ein leises Zucken des Bedauerns hervorzurufen, das gestand, wie
gern man ihm ein paar Jahre früher begegnet wäre. Doch als ihn jetzt Olivo seiner Nichte
als Herrn Casanova, Chevalier von Seingalt, vorstellte, lächelte sie nicht anders, als
wenn man ihr irgendeinen gleichgültigen Namen genannt hätte, in dem kein Klang von
Abenteuern und Geheimnissen verzitterte. Und selbst als er neben ihr Platz nahm, ihr die
Hand küßte, und aus seinen Augen ein Funkenregen von Entzücken und Begier über sie
niederging, verriet ihre Miene nichts von der leisen Befriedigung, die doch als
bescheidene Antwort auf eine so glühende Huldigung zu erwarten gewesen wäre.
Nach wenigen höflich einleitenden Worten ließ Casanova seine Nachbarin merken, daß er
von ihren gelehrten Bestrebungen in Kenntnis gesetzt sei, und fragte sie, mit welcher
Wissenschaft sie sich denn besonders abgebe? Sie erwiderte, daß sie vor allem das
Studium der höhern Mathematik betreibe, in das sie durch Professor Morgagni, den
berühmten Lehrer an der Universität von Bologna, eingeführt worden sei. Casanova äußerte
seine Verwunderung über ein solches bei anmutigen jungen Mädchen wahrlich ungewöhnliches
Interesse an einem so schwierigen und dabei nüchternen Gegenstand, erhielt aber von
Marcolina die Antwort, daß ihrer Ansicht nach die höhere Mathematik die
phantastischeste, ja man könnte sagen, unter allen Wissenschaften die ihrer Natur nach
wahrhaft göttliche vorstelle. Als Casanova sich über diese ihm ganz neue Auffassung eine
nähere Erklärung erbitten wollte, wehrte Marcolina bescheiden ab und äußerte, daß es den
Anwesenden, vor allem aber ihrem lieben Oheim, viel erwünschter sein dürfte, Näheres von
den Erlebnissen eines vielgereisten Freundes zu erfahren, den er so lange nicht gesehn,
als einem philosophischen Gespräch zuzuhören. Amalia schloß sich ihrer Anregung lebhaft
an, und Casanova, immer gern bereit, Wünschen solcher Art nachzugeben, bemerkte
leichthin, daß er in den letzten Jahren sich vorzüglich auf geheimen diplomatischen
Sendungen befunden, die ihn, um nur die größern Städte zu nennen, zwischen Madrid,
Paris, London, Amsterdam und Petersburg umhergetrieben. Er berichtete von Begegnungen
und Unterhaltungen ernster und heiterer Art mit Männern und Frauen der verschiedensten
Stände, auch des freundlichen Empfangs zu erwähnen vergaß er nicht, der ihm am Hof der
Katharina von Rußland zuteil geworden, und sehr spaßhaft erzählte er, wie Friedrich der
Große ihn beinahe zum Erzieher an einer Kadettenschule für pommersche Junker gemacht
hatte; – eine Gefahr, der er sich allerdings durch rasche Flucht entzogen. Von all dem
und manchem andern sprach er, als hätte es sich in einer eben erst verflossenen Zeit
zugetragen und läge nicht in Wirklichkeit Jahre und Jahrzehnte zurück; mancherlei erfand
er dazu, ohne sich seiner größern und kleinern Lügen selber recht bewußt zu werden,
freute sich seiner eignen Laune wie der Teilnahme, mit der man ihm lauschte; und während
er so erzählte und phantasierte, ward ihm fast, als wäre er in der Tat noch heute der
glückverwöhnte, unverschämte, strahlende Casanova, der mit schönen Frauen durch die Welt
gefahren, den weltliche und geistliche Fürsten mit hoher Gunst ausgezeichnet, der
Tausende verschwendet, verspielt und verschenkt hatte – und nicht ein herabgekommener
Schlucker, den ehemalige Freunde von England und Spanien her mit lächerlichen Summen
unterstützten, – die indes auch manchmal ausblieben, so daß er auf die paar armseligen
Geldstücke angewiesen war, die er dem Baron Perotti oder dessen Gästen abgewann; ja, er
vergaß sogar, daß es ihm wie ein höchstes Ziel erschien, in der Vaterstadt, die ihn erst
eingekerkert und nach seiner Flucht geächtet und verbannt hatte, als der geringste ihrer
Bürger, als ein Schreiber, als ein Bettler, als ein Nichts – sein einst so prangendes
Dasein zu beschließen.
Auch Marcolina hörte ihm aufmerksam zu, aber mit keinem andern Ausdruck, als wenn man
ihr etwa aus einem Buch leidlich unterhaltsame Geschichten vorläse. Daß ihr ein Mensch,
ein Mann, daß ihr Casanova selbst, der all dies erlebt hatte und noch vieles andre, was
er nicht erzählte, daß ihr der Geliebte von tausend Frauen gegenübersaß, – und daß sie
das wußte, davon verrieten ihre Mienen nicht das geringste. Anders schimmerte es in
Amaliens Augen. Für sie war Casanova derselbe geblieben, der er gewesen; ihr klang seine
Stimme verführerisch wie vor sechzehn Jahren, und er selbst fühlte, daß es ihn nur ein
Wort und kaum so viel kosten würde, das Abenteuer von damals, sobald es ihm
beliebte, von neuem aufzunehmen. Doch was war ihm Amalia in dieser Stunde, da ihn nach
Marcolina verlangte wie nach keiner vor ihr? Durch das mattglänzend sie umfließende
Gewand glaubte er ihren nackten Leib zu sehen; die knospenden Brüste blühten ihm
entgegen, und als sie sich einmal neigte, um ihr zu Boden geglittenes Taschentuch
aufzuheben, legte Casanovas entflammte Phantasie ihrer Bewegung einen so lüsternen Sinn
unter, daß er sich einer Ohnmacht nahe fühlte. Daß er eine Sekunde lang unwillkürlich im
Erzählen stockte, entging Marcolina so wenig, wie daß sein Blick seltsam zu flirren
begann, und er las in dem ihren ein plötzliches Befremden, Verwahrung, ja eine Spur von
Ekel. Rasch faßte er sich wieder und schickte sich eben an, seine Erzählung mit neuer
Lebhaftigkeit fortzusetzen, als ein wohlbeleibter Geistlicher eintrat, der vom Hausherrn
als der Abbate Rossi begrüßt und von Casanova sofort als derselbe erkannt wurde, mit dem
er vor siebenundzwanzig Jahren auf einem Marktschiff zusammengetroffen war, das von
Venedig nach Chioggia fuhr. »Sie hatten damals ein Auge verbunden,« sagte Casanova, der
selten eine Gelegenheit vorübergehen ließ, mit seinem vorzüglichen Gedächtnis zu
prunken, »und ein Bauernweib mit gelbem Kopftuch empfahl Ihnen eine heilkräftige Salbe,
die ein junger, sehr heiserer Apotheker zufällig mit sich führte.« Der Abbate nickte und
lächelte geschmeichelt. Dann aber, mit einem pfiffigen Gesicht, trat er ganz nahe an
Casanova heran, als hätte er ihm ein Geheimnis mitzuteilen. Doch mit ganz lauter Stimme
sagte er: »Und Sie, Herr Casanova, befanden sich in Begleitung einer
Hochzeitsgesellschaft ... ich weiß nicht, ob als zufälliger Gast oder gar als
Brautführer, jedenfalls sah die Braut Sie mit viel zärtlichem Augen an als den Bräutigam
... Ein Wind erhob sich, beinahe ein Sturm, und Sie begannen ein höchst verwegenes
Gedicht vorzulesen.« – »Das tat der Chevalier gewiß nur,« sagte Marcolina, »um den Sturm
zu beschwichtigen.« – »Solche Zaubermacht,« erwiderte Casanova, »traute ich mir nie mals
zu; allerdings will ich nicht leugnen, daß sich niemand mehr um den Sturm kümmerte, als
ich zu lesen begonnen.«
Die drei Mädchen hatten sich an den Abbate herangemacht. Sie wußten wohl warum. Denn
seinen ungeheuren Taschen entnahm er köstliches Zuckerwerk in großen Mengen und schob es
mit seinen dicken Fingern den Kindern zwischen die Lippen. Indes berichtete Olivo dem
Abbate in aller Ausführlichkeit, wie er Casanova wiedergefunden. Wie verloren hielt
Amalia auf die herrische braune Stirn des teuren Gastes ihren leuchtenden Blick
geheftet. Die Kinder liefen in den Garten; Marcolina hatte sich erhoben und sah ihnen
durchs offne Fenster nach. Der Abbate hatte Grüße vom Marchese Celsi zu bestellen, der,
wenn es seine Gesundheit zuließe, heute abend samt Gemahlin bei seinem werten Freund
Olivo erscheinen wollte. »Das trifft sich gut,« sagte dieser, »da haben wir gleich dem
Chevalier zu Ehren eine hübsche kleine Spielgesellschaft; die Brüder Ricardi erwarte ich
gleichfalls, und auch Lorenzi kommt; die Kinder sind ihm auf seinem Spazierritt
begegnet.« – »Er ist noch immer da?« fragte der Abbate. »Schon vor einer Woche hieß es,
er solle zu seinem Regiment abgehen.« – »Die Marchesa,« meinte Olivo lachend, »wird ihm
beim Obersten einen Urlaub erwirkt haben.« – »Es wundert mich,« warf Casanova ein, »daß
es für Mantueser Offiziere jetzt Urlaub gibt.« Und er erfand weiter: »Zwei meiner
Bekannten, einer aus Mantua, der andre aus Cremona, sind nachts mit ihren Regimentern in
der Richtung gegen Mailand abmarschiert.« – »Gibt's Krieg?« fragte Marcolina vom Fenster
her; sie hatte sich umgewandt, die Züge ihres umschatteten Gesichts blieben undeutbar, –
doch ein leises Beben ihrer Stimme hatte Casanova als einziger wohl gemerkt. »Es wird
vielleicht zu nichts kommen«, sagte er leichthin. »Aber da die Spanier eine drohende
Haltung einnehmen, heißt es bereit sein.« – »Weiß man denn überhaupt,« fragte Olivo
wichtig und stirnrunzelnd, »auf welche Seite wir uns schlagen werden, auf die spanische
oder auf die französische?« – »Das dürfte dem Leutnant Lorenzi gleich sein«, meinte der
Abbate. »Wenn er nur endlich dazu kommt, sein Heldentum zu erproben.« – »Das hat er
schon getan«, sagte Amalia. »Bei Pavia vor drei Jahren hat er mitgefochten.« Marcolina
aber schwieg.
Casanova wußte genug. Er trat an Marcolinens Seite und umfaßte den Garten mit einem
großen Blick. Er sah nichts als die ausgedehnte wilde Wiese, auf der die Kinder
spielten, und die von einer Reihe hoher dichter Bäume gegen die Mauer zu abgeschlossen
war. »Was für ein prächtiger Besitz«, wandte er sich an Olivo. »Ich wäre neugierig, ihn
näher kennenzulernen.« – »Und ich, Chevalier,« erwiderte Olivo, »wünsche mir kein
größeres Vergnügen, als Sie über meine Weinberge und durch meine Felder zu führen. Ja,
wenn ich die Wahrheit sagen soll, fragen Sie doch Amalia, in den Jahren, seit das kleine
Gütchen mir gehört, hab' ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als Sie endlich auf meinem
eignen Grund und Boden als Gast zu begrüßen. Zehnmal war ich daran, Ihnen zu
schreiben, Sie einzuladen. Aber war man denn je sicher, daß eine Nachricht Sie erreichen
würde? Erzählte einem irgendwer, man hätte Sie kürzlich in Lissabon gesehn – so konnte
man sicher sein, daß Sie indes nach Warschau oder nach Wien abgereist waren. Und nun, da
ich Sie wie durch ein Wunder eben in der Stunde wiederfinde, da Sie Mantua verlassen
wollen, und es mir – es war nicht leicht, Amalia – gelingt, Sie hierherzulocken, da
geizen Sie so mit Ihrer Zeit, daß Sie uns – möchten Sie es glauben, Herr Abbate – daß er
uns nicht mehr als zwei Tage schenken will!« – »Der Chevalier wird sich vielleicht zu
einer Verlängerung seines Aufenthaltes überreden lassen«, sagte der Abbate, der eben mit
viel Behagen eine Pfirsichschnitte im Mund zergehen ließ, und warf auf Amalia einen
raschen Blick, aus dem Casanova zu entnehmen glaubte, daß sie den Abbate in tieferes
Vertrauen gezogen hatte als ihren Gatten. – »Das wird mir leider nicht möglich sein,«
erwiderte Casanova förmlich; »denn ich darf Freunden, die solchen Anteil an mei nem
Schicksal nehmen, nicht verhehlen, daß meine venezianischen Mitbürger im Begriffe sind,
mir für das Unrecht, das sie mir vor Jahren zugefügt, eine etwas verspätete, aber um so
ehrenvollere Genugtuung zu geben, und ich ihrem Drängen mich nicht länger werde versagen
können, wenn ich nicht undankbar oder gar nachträgerisch erscheinen will.« Mit einer
leichten Handbewegung wehrte er eine neugierig-ehrfurchtsvolle Frage ab, die er auf
Olivos Lippen sich runden sah, und bemerkte rasch: »Nun, Olivo, ich bin bereit. Zeigen
Sie mir Ihr kleines Königreich.«
»Wär' es nicht geratener,« warf Amalia ein, »dazu die kühlere Tageszeit abzuwarten? Der
Chevalier wird jetzt gewiß lieber ein wenig ruhen oder sich im Schatten ergehen wollen?«
Und aus ihren Augen schimmerte zu Casanova ein schüchternes Flehen hin, als müßte
während eines solchen Lustwandeins draußen im Garten ihr Schicksal sich zum zweitenmal
entscheiden. – Niemand hatte gegen Amaliens Vorschlag etwas einzuwenden, und man begab
sich ins Freie. Marcolina, den andern voraus, lief im Sonnenschein über die Wiese zu den
Kindern, die dort mit Federbällen spielten, und nahm sofort am Spiele teil. Sie war kaum
größer als das älteste der drei Mädchen, und, wie ihr nun das freigelockte Haar um die
Schultern flatterte, sah sie selber einem Kinde gleich. Olivo und der Abbate ließen sich
in der Allee, in der Nähe des Hauses, auf einer steinernen Bank nieder. Amalia wandelte
an Casanovas Seite weiter. Als sie von den andern nicht mehr gehört werden konnte,
begann sie im Tonfall von einst, als wäre ihre Stimme für Casanova niemals in einem
andern erklungen:
»So bist du wieder da, Casanova! Wie hab' ich diesen Tag ersehnt. Daß er einmal kommen
würde, hab' ich gewußt.« – »Es ist ein Zufall, daß ich da bin,« sagte Casanova kalt.
Amalia lächelte nur. »Nenn' es, wie du willst. Du bist da! Ich habe in diesen sechzehn
Jahren von nichts anderm geträumt als von diesem Tag!« – »Es ist anzunehmen,« entgegnete
Casanova, »daß du im Laufe dieser Zeit von mancherlei anderm geträumt und – nicht nur
geträumt hast.« Amalia schüttelte den Kopf. »Du weißt, daß es nicht so ist, Casanova.
Und auch du hast meiner nicht vergessen, sonst hättest du, der du so eilig bist, nach
Venedig zu gelangen, Olivos Einladung nicht angenommen!« – »Was denkst du eigentlich,
Amalia? Ich sei hergekommen, um deinen guten Mann zum Hahnrei zu machen?« – »Warum
sprichst du so, Casanova? Wenn ich dir wieder gehöre, so ist es weder Betrug noch
Sünde!« Casanova lachte laut auf. »Keine Sünde? Warum keine Sünde? Weil ich ein alter
Mann bin?« – »Du bist nicht alt. Für mich kannst du es niemals werden. In deinen Armen
hab' ich meine erste Seligkeit genossen – und so ist es mir gewiß bestimmt, daß mir mit
dir auch meine letzte zuteil wird!« – »Deine letzte?« wiederholte Casanova höhnisch,
obwohl er nicht ganz ungerührt war, – »dagegen dürfte mein Freund Olivo wohl mancherlei
einzuwenden haben.« – »Das,« erwiderte Amalia errötend, »das ist Pflicht – meinethalben
sogar Vergnügen; aber Seligkeit ist es doch nicht ... war es niemals.«
Sie gingen die Allee nicht zu Ende, als scheuten beide die Nähe des Wiesenplatzes, wo
Marcolina und die Kinder spielten, – wie auf Verabredung kehrten sie um und waren bald
wieder, schweigend, beim Wohnhaus angelangt. An der Schmalseite stand ein Fenster des
Erdgeschosses offen. Casanova sah in der dämmernden Tiefe des Gemachs einen
halbgerafften Vorhang, hinter dem das Fußende des Bettes sichtbar wurde. Über einem
Stuhl daneben hing ein lichtes, schleierartiges Gewand. »Marcolinens Zimmer?« fragte
Casanova. – Amalia nickte. Und zu Casanova anscheinend heiter und wie ohne jeden
Verdacht: »Sie gefällt dir?« – »Da sie schön ist.« – »Schön und tugendhaft.« – Casanova
zuckte die Achseln, als hätte er danach nicht gefragt. Dann sagte er: »Wenn du mich
heute zum erstenmal sähest – ob ich dir wohl auch gefiele, Amalia?« – »Ich weiß nicht,
ob du heute anders aussiehst als damals. Ich sehe dich – wie du damals warst. Wie
ich dich seither immer, auch in meinen Träumen, sah.« – »Sieh mich doch an, Amalia! Die
Runzeln meiner Stirn ... Die Falten meines Halses! Und die tiefe Rinne da von den Augen
den Schläfen zu! Und hier – ja, hier in der Ecke fehlt mir ein Zahn«, – er riß den Mund
grinsend auf. »Und diese Hände, Amalia! Sieh sie doch an! Finger wie Krallen ... kleine
gelbe Flecken auf den Nägeln ... Und die Adern da – blau und geschwollen – Greisenhände,
Amalia!« – Sie nahm seine beiden Hände, so wie er sie ihr wies, und im Schatten der
Allee küßte sie eine nach der andern mit Andacht. »Und heute nacht will ich deine Lippen
küssen«, sagte sie in einer demütig zärtlichen Art, die ihn erbitterte.
Unweit von ihnen, am Ende der Wiese, lag Marcolina im Gras, die Hände unter den Kopf
gestützt, den Blick in die Höhe gewandt, und die Bälle der Kinder flogen über sie hin.
Plötzlich streckte sie den einen Arm aus und haschte nach einem der Bälle. Sie fing ihn
auf, lachte hell, die Kinder fielen über sie her, sie konnte sich ihrer nicht erwehren,
ihre Locken flogen. Casanova bebte. »Du wirst weder meine Lippen noch meine Hände
küssen,« sagte er zu Amalia, »und du sollst mich vergeblich erwartet und vergeblich von
mir geträumt haben – es sei denn, daß ich vorher Marcolina besessen habe.« – »Bist du
wahnsinnig, Casanova?« rief Amalia mit weher Stimme. – »So haben wir einander nichts
vorzuwerfen«, sagte Casanova. »Du bist wahnsinnig, da du in mir altem Manne den
Geliebten deiner Jugend wiederzusehen glaubst, ich, weil ich mir in den Kopf gesetzt
habe, Marcolina zu besitzen. Aber vielleicht ist uns beiden beschieden, wieder zu
Verstand zu kommen. Marcolina soll mich wieder jung machen – für dich. Also – führe
meine Sache bei ihr, Amalia!« »Du bist nicht bei dir, Casanova. Es ist unmöglich. Sie
will von keinem Mann etwas wissen.« – Casanova lachte auf. »Und der Leutnant Lorenzi?« –
»Was soll's mit Lorenzi sein?« – »Er ist ihr Liebhaber, ich weiß es.« – »Wie du dich
irrst, Casanova. Er hat um ihre Hand angehalten, und sie hat sie ausgeschlagen. Und er
ist jung – er ist schön – ja, fast glaub' ich, schöner als du je gewesen bist,
Casanova!« – »Er hätte um sie geworben?« – »Frage doch Olivo, wenn du mir nicht
glaubst.« – »Nun, mir gilt's gleich. Was geht's mich an, ob sie eine Jungfrau ist oder
eine Dirne, Braut oder Witwe – ich will sie haben, ich will sie!« – »Ich kann sie dir
nicht geben, mein Freund.« Und er fühlte aus dem Ton ihrer Stimme, daß sie ihn beklagte.
»Nun siehst du,« sagte er, »was für ein schmählicher Kerl ich geworden bin,
Amalia! Noch vor zehn – noch vor fünf Jahren hätt' ich keinen Beistand und keine
Fürsprache gebraucht, und wäre Marcolina die Göttin der Tugend selbst gewesen. Und nun
will ich dich zur Kupplerin machen. Oder wenn ich reich wäre ... Ja, mit zehntausend
Dukaten ... Aber ich habe nicht zehn. Ein Bettler bin ich, Amalia.« – »Auch für
hunderttausend bekämst du Marcolina nicht. Was kann ihr am Reichtum liegen? Sie liebt
die Bücher, den Himmel, die Wiesen, die Schmetterlinge und die Spiele mit Kindern ...
Und mit ihrem kleinen Erbteil hat sie mehr als sie bedarf.« – »Oh, wär' ich ein Fürst!«
rief Casanova, ein wenig deklamierend, wie es zuweilen seine Art war, gerade wenn ihn
eine echte Leidenschaft durchwühlte. »Hätt' ich die Macht, Menschen ins Gefängnis
werfen, hinrichten zu lassen ... Aber ich bin nichts. Ein Bettler – und ein Lügner dazu.
Ich bettle bei den hohen Herrn in Venedig um ein Amt, um ein Stück Brot, um Heimat! Was
ist aus mir geworden? Ekelt dich nicht vor mir, Amalia?« – »Ich liebe dich, Casanova!« –
»So verschaffe sie mir, Amalia! Es steht bei dir, ich weiß es. Sag' ihr, was du willst.
Sag' ihr, daß ich euch gedroht habe. Daß du mir zutraust, ich könnte euch das Dach über
dem Hause anzünden! Sag' ihr, ich wär' ein Narr, ein gefährlicher Narr, aus dem
Irrenhaus entsprungen, aber die Umarmung einer Jungfrau könnte mich wieder gesund
machen. Ja, das sag' ihr.« – »Sie glaubt nicht an Wunder.« – »Wie? Nicht an Wunder? So
glaubt sie auch nicht an Gott. Um so besser! Ich bin gut angeschrieben beim Erzbischof
von Mailand! Sag' ihr das! Ich kann sie verderben! Euch alle kann ich verderben. Das ist
wahr, Amalia! Was sind es für Bücher, die sie liest? Gewiß sind auch solche darunter,
die die Kirche verboten hat. Laß sie mich sehen. Ich will eine Liste zusammenstellen.
Ein Wort von mir ...« – »Schweige, Casanova! Dort kommt sie. Verrate dich nicht! Nimm
deine Augen in acht! Nie, Casanova, nie, höre wohl, was ich sage, nie hab' ich ein
reineres Wesen gekannt. Ahnte sie, was ich eben habe hören müssen, sie erschiene sich
wie beschmutzt; und du würdest sie, solang du liier bist, mit keinem Blick mehr zu sehen
bekommen. Sprich mit ihr. Ja, sprich mit ihr – du wirst sie, du wirst mich um Verzeihung
bitten.«
Marcolina, mit den Kindern, kam heran; diese liefen an ihr vorbei, ins Haus, sie selber
aber, wie um dem Gast eine Höflichkeit zu erweisen, blieb vor ihm stehen, während
Amalia, wie mit Absicht, sich entfernte. Und nun war es Casanova in der Tat, als
wehte es ihm von diesen blassen, halb geöffneten Lippen, dieser glatten, von
dunkelblondem, nun aufgestecktem Haar umrahmten Stirn wie ein Hauch von Herbheit und
Keuschheit entgegen; – was er selten einer Frau, was er auch ihr gegenüber früher im
geschlossnen Raum nicht verspürt – eine Art von Andacht, von Hingegebenheit ohne jedes
Verlangen, floß durch seine Seele. Und mit Zurückhaltung, ja in einem Ton von
Ehrerbietung, wie man sie Höhergebornen gegenüber an den Tag zu legen liebt, und der ihr
schmeicheln mußte, stellte er die Frage an sie, ob sie die kommenden Abendstunden wieder
dem Studium zu widmen beabsichtige. Sie erwiderte, daß sie auf dem Land überhaupt nicht
regelmäßig zu arbeiten pflegte, doch könnte sie's nicht hindern, daß gewisse
mathematische Probleme, mit denen sie sich eben beschäftige, ihr auch in den Ruhestunden
nachgingen, wie es ihr eben jetzt begegnet sei, während sie auf der Wiese gelegen war
und zum Himmel aufgesehn hatte. Doch als Casanova, durch ihre Freundlichkeit ermutigt,
sich scherzend erkundigte, was denn dies für ein hohes und dabei so zudringliches
Problem gewesen sei, entgegnete sie etwas spöttisch, es habe keineswegs das
allergeringste mit jener berühmten Kabbala zu tun, in der der Chevalier von Seingalt,
wie man sich erzähle, Bedeutendes leiste, und so würde er kaum viel damit anzufangen
wissen. Es ärgerte ihn, daß sie von der Kabbala mit so unverhohlener Ablehnung sprach,
und obwohl ihm selbst, in den freilich seltnen Stunden innerer Einkehr, bewußt war, daß
jener eigentümlichen Mystik der Zahlen, die man Kabbala nennt, keinerlei Sinn und keine
Berechtigung zukäme, daß sie in der Natur gewissermaßen gar nicht vorhanden, nur von
Gaunern und Spaßmachern – welche Rolle er abwechselnd, aber immer mit Überlegenheit
gespielt – zur Nasführung von Leichtgläubigen und Toren benutzt würde, so versuchte er
jetzt doch gegen seine eigne bessre Überzeugung Marcolina gegenüber die Kabbala als
vollgültige und ernsthafte Wissenschaft zu verteidigen. Er sprach von der göttlichen
Natur der Siebenzahl, die sich so schon in der Heiligen Schrift angedeutet fände, von
der tiefsinnig-prophetischen Bedeutung der Zahlenpyramiden, die er selbst nach einem
neuen System aufzubauen gelehrt hatte, und von dem häufigen Eintreffen seiner auf diesem
System beruhenden Voraussagen. Hatte er nicht erst vor wenigen Jahren in Amsterdam den
Bankier Hope durch den Aufbau einer solchen Zahlenpyramide veranlaßt, die Versicherung
eines schon verloren geglaubten Handelsschiffes zu übernehmen und ihn dadurch
zweimalhunderttausend Goldgulden verdienen lassen? Noch immer war er so geschickt im
Vortrag seiner schwindelhaft geistreichen Theorien, daß er auch diesmal, wie es ihm oft
geschah, an all das Unsinnige zu glauben begann, das er vortrug, und sogar mit der
Behauptung zu schließen sich getraute, die Kabbala stelle nicht so sehr einen Zweig als
vielmehr die metaphysische Vollendung der Mathematik vor. Marcolina, die ihm bisher sehr
aufmerksam und anscheinend ganz ernsthaft zugehört hatte, schaute nun plötzlich mit
einem halb bedauernden, halb spitzbübischen Blick zu ihm auf und sagte: »Es liegt Ihnen
daran, mein werter Herr Casanova« (sie schien ihn jetzt mit Absicht nicht »Chevalier« zu
nennen), »mir eine ausgesuchte Probe von Ihrem weltbekannten Unterhaltungstalent zu
geben, wofür ich Ihnen aufrichtig dankbar bin. Aber Sie wissen natürlich so gut wie ich,
daß die Kabbala nicht nur nichts mit der Mathematik zu tun hat, sondern geradezu eine
Versündigung an ihrem eigentlichen Wesen bedeutet; und sich zu ihr nicht anders verhält,
als das verworrene oder lügenhafte Geschwätz der Sophisten zu den klaren und hohen
Lehren des Plato und des Aristoteles.« – »Immerhin,« erwiderte Casanova rasch, »werden
Sie mir zugeben müssen, schöne und gelehrte Marcolina, daß auch die Sophisten keineswegs
durchaus als so verächtliche und törichte Gesellen zu gelten haben, wie man nach Ihrem
allzu strengen Urteil annehmen müßte. So wird man – um nur ein Beispiel aus der
Gegenwart anzuführen – Herrn Voltaire seiner ganzen Denk- und Schreibart nach gewiß als
das Muster eines Sophisten bezeichnen dürfen, und trotzdem wird es niemandem einfallen,
auch mir nicht, der ich mich als seinen entschiedenen Gegner bekenne, ja, wie ich nicht
leugnen will, eben damit beschäftigt bin, eine Schrift gegen ihn zu verfassen, auch mir
fällt es nicht ein, seiner außerordentlichen Begabung die gebührende Anerkennung zu
versagen. Und ich bemerke gleich, daß ich mich nicht etwa durch die übertriebene
Zuvorkommenheit habe bestechen lassen, die mir Herr Voltaire bei Gelegenheit meines
Besuchs in Ferney vor zehn Jahren zu erweisen die Güte hatte.« – Marcolina lächelte.
»Das ist ja sehr hübsch von Ihnen, Chevalier, daß Sie den größten Geist des Jahrhunderts
so milde zu beurteilen die Gewogenheit haben.« – »Ein großer Geist – der größte gar?«
rief Casanova aus. »Ihn so zu nennen, scheint mir schon deshalb unstatthaft, weil er bei
all seinem Genie ein gottloser Mensch, ja geradezu ein Gottesleugner ist. Und ein
Gottesleugner kann niemals ein großer Geist sein.« – »Meiner Ansicht nach, Herr
Chevalier, bedeutet das durchaus keinen Widerspruch. Aber Sie werden vor allem zu
beweisen haben, daß man Voltaire einen Gottesleugner nennen darf.«
Nun war Casanova in seinem Element. Im ersten Kapitel seiner Streitschrift hatte er eine
ganze Menge von Stellen aus Voltaires Werken, vor allem aus der berüchtigten »Pucelle«
zusammengetragen, die ihm besonders geeignet schienen, dessen Ungläubigkeit zu beweisen;
und die er nun dank seinem vorzüglichen Gedächtnis, zusammen mit seinen eignen
Gegenargumenten, wörtlich zu zitieren wußte. Aber in Marcolina hatte er eine Gegnerin
gefunden, die ihm sowohl an Kenntnissen wie an Geistesschärfe wenig nachgab und ihm
überdies, wenn auch nicht an Redegewandtheit, so doch an eigentlicher Kunst und
insbesondre an Klarheit des Ausdrucks weit überlegen war. Die Stellen, die Casanova als
Beweise für die Spottlust, Zweifelsucht und Gottlosigkeit Voltaires auszulegen versucht
hatte, deutete Marcolina gewandt und schlagfertig als ebenso viele Zeugnisse für des
Franzosen wissenschaftliches und schriftstellerisches Genie, sowie für sein unermüdlich
heißes Streben nach Wahrheit, und sie sprach es ungescheut aus, daß Zweifel, Spott, ja
daß der Unglaube selbst, wenn er mit so reichem Wissen, solch unbedingter Ehrlichkeit
und solch hohem Mut verbunden sei, Gott wohlgefälliger sein müsse als die Demut des
Frommen, hinter der sich meist nichts andres verberge, als eine mangelhafte Fähigkeit,
folgerichtig zu denken, ja oftmals – wofür es an Beispielen nicht fehle – Feigheit und
Heuchelei.
Casanova hörte ihr mit wachsendem Staunen zu. Da er sich außerstande fühlte, Marcolina
zu bekehren, um so weniger, als er immer mehr erkannte, wie sehr eine gewisse
schwankende Seelenstimmung seiner letzten Jahre, die er als Gläubigkeit aufzufassen sich
gewöhnt hatte, durch Marcolinens Einwürfe sich völlig aufzulösen drohte, so rettete er
sich in die allgemein gehaltene Betrachtung, daß Ansichten, wie Marcolina sie eben
ausgesprochen, nicht nur die Ordnung im Bereich der Kirche, sondern daß sie auch die
Grundlagen des Staates in hohem Grade zu gefährden geeignet seien, und sprang von hier
aus gewandt auf das Gebiet der Politik über, wo er mit seiner Erfahrung und
Weltläufigkeit eher darauf rechnen konnte, Marcolinen gegenüber eine gewisse
Überlegenheit zu zeigen. Aber wenn es ihr hier auch an Personenkenntnis und Einblick in
das höfisch-diplomatische Getriebe gebrach und sie darauf verzichten mußte,
Casanova im einzelnen zu widersprechen, auch wo sie der Verläßlichkeit seiner
Darstellung zu mißtrauen Neigung verspürte; – aus ihren Bemerkungen ging
unwidersprechlich für ihn hervor, daß sie weder vor den Fürsten dieser Erde, noch vor
den Staatsgebilden als solchen sonderliche Achtung hegte und der Überzeugung war, daß
die Welt im Kleinen wie im Großen von Eigennutz und Herrschsucht nicht so sehr regiert,
als vielmehr in Verwirrung gebracht werde. Einer solchen Freiheit des Denkens war
Casanova bisher nur selten bei Frauen, bei einem jungen Mädchen gar, das gewiß noch
keine zwanzig Jahre zählte, war er ihr noch nie begegnet; und nicht ohne Wehmut
erinnerte er sich, daß sein eigner Geist in vergangenen Tagen, die schöner waren als die
gegenwärtigen, mit einer bewußten und etwas selbstzufriedenen Kühnheit die gleichen Wege
gegangen war, die er nun Marcolina beschreiten sah, ohne daß diese sich ihrer Kühnheit
überhaupt bewußt zu werden schien. Und ganz hingenommen von der Eigenart ihrer Denk- und
Ausdrucksweise vergaß er beinahe, daß er an der Seite eines jungen, schönen und höchst
begehrenswerten Wesens einherwandelte, was um so verwunderlicher war, als er sich mit
ihr ganz allein in der nun völlig durchschatteten Allee, ziemlich weit vom Wohnhaus,
befand. Plötzlich aber, sich in einem eben begonnenen Satz unterbrechend, rief Marcolina
lebhaft, ja wie freudig aus: »Da kommt mein Oheim!« ... Und Casanova, als hätte er
Versäumtes nachzuholen, flüsterte ihr zu: »Wie schade. Gar zu gerne hätte ich mich noch
stundenlang mit Ihnen weiter unterhalten, Marcolina!« – Er fühlte selbst, wie während
dieser Worte in seinen Augen die Begier von neuem aufzuleuchten begann, worauf
Marcolina, die in dem abgelaufenen Gespräch in aller Spöttelei sich fast zutraulich
gegeben, sofort wieder eine kühlere Haltung annahm, und ihr Blick die gleiche
Verwahrung, ja den gleichen Widerwillen ausdrückte, der Casanova heute schon einmal so
tief verletzt hatte. Bin ich wirklich so verabscheuungswürdig? fragte er sich angstvoll.
Nein, gab er sich selbst zur Antwort. Nicht das ist's. Aber Marcolina – ist kein Weib.
Eine Gelehrte, eine Philosophin, ein Weltwunder meinethalben – aber kein Weib. – Doch er
wußte zugleich, daß er sich so nur selbst zu belügen, zu trösten, zu retten versuchte,
und daß diese Versuche vergeblich waren. Olivo stand vor ihnen. »Nun,« meinte er zu
Marcolina, »hab' ich das nicht gut gemacht, daß ich dir endlich jemanden ins Haus
gebracht habe, mit dem sich's so klug reden läßt, wie du's von deinen Professoren
in Bologna her gewohnt sein magst?« – »Und nicht einmal unter diesen, liebster Oheim,«
erwiderte Marcolina, »gibt es einen, der es sich getrauen dürfte, Voltaire selbst zum
Zweikampf herauszufordern!« – »Ei, Voltaire? Der Chevalier fordert ihn heraus?« rief
Olivo, ohne zu verstehen. – »Ihre witzige Nichte, Olivo, spricht von der Streitschrift,
die mich in der letzten Zeit beschäftigt. Liebhaberei für müßige Stunden. Früher hatte
ich Gescheiteres zu tun.« Marcolina, ohne auf diese Bemerkung zu achten, sagte: »Sie
werden eine angenehme kühle Luft für Ihren Spaziergang haben. Auf Wiedersehen.« Sie
nickte kurz und eilte über die Wiese dem Hause zu. Casanova hielt sich davor zurück, ihr
nachzublicken und fragte: »Wird uns Frau Amalia begleiten?« – »Nein, mein werter
Chevalier,« erwiderte Olivo, »sie hat allerlei im Hause zu besorgen und anzuordnen – und
jetzt ist auch die Stunde, in der sie die Mädchen zu unterrichten pflegt.« – »Was für
eine tüchtige, brave Hausfrau und Mutter! Sie sind zu beneiden, Olivo!« – »Ja, das sag'
ich mir selbst alle Tage«, entgegnete Olivo, und die Augen wurden ihm feucht.
Sie gingen die Schmalseite des Hauses entlang. Das Fenster Marcolinens stand offen, wie
vorher; aus dem dämmernden Grund des Gemachs schimmerte das schleierartige helle Gewand.
Durch die breite Kastanienallee gelangten sie auf die Straße, die schon völlig im
Schatten lag. Langsam gingen sie aufwärts längs der Gartenmauer; wo sie im rechten
Winkel umbog, begann das Weingelände. Zwischen den hohen Stöcken, an denen schwere
dunkelblaue Beeren hingen, führte Olivo seinen Gast zur Höhe, und deutete mit einer
behaglich zufriedenen Handbewegung nach seinem Haus zurück, das nun ziemlich tief unter
ihnen lag. Im Fensterrahmen des Turmgemachs glaubte Casanova eine weibliche Figur auf
und nieder schweben zu sehen.
Die Sonne neigte sich dem Untergang zu; aber noch war es heiß genug. Über Olivos Wangen
rannen die Schweißtropfen, während Casanovas Stirne vollkommen trocken blieb. Allmählich
weiter und nun nach abwärts schreitend kamen sie auf üppiges Wiesenland. Von einem
Olivenbaum zum andern rankte sich das Geäst der Reben, zwischen den Baumreihen wiegten
sich die hohen gelben Ähren. – »Segen der Sonne,« sagte Casanova wie anerkennend, »in
tausendfältiger Gestalt.« Olivo erzählte wieder und mit noch größerer Ausführlichkeit
als vorher, wie er nach und nach diesen schönen Besitz erworben, und wie ein paar
glückliche Ernte- und Lesejahre ihn zum wohlhabenden, ja zum reichen Manne
gemacht. Casanova aber hing seinen eignen Gedanken nach und griff nur selten ein Wort
Olivos auf, um durch irgendeine höfliche Zwischenfrage seine Aufmerksamkeit zu beweisen.
Erst als Olivo, von altem möglichen schwatzend, auf seine Familie und endlich auf
Marcolina geraten war, horchte Casanova auf. Aber er erfuhr nicht viel mehr, als er
schon vorher gewußt hatte. Da sie schon als Kind, noch im Hause ihres Vaters, der Olivos
Stiefbruder, früh verwitwet und Arzt in Bologna gewesen war, durch die zeitig
erwachenden Fähigkeiten ihres Verstandes ihre Umgebung in Erstaunen gesetzt, hatte man
indes Muße genug gehabt, sich an ihre Art zu gewöhnen. Vor wenigen Jahren war ihr Vater
gestorben, und seither lebte sie in der Familie eines berühmten Professors der hohen
Schule von Bologna, eben jenes Morgagni, der sich vermaß, seine Schülerin zu einer
großen Gelehrten heranzubilden; in den Sommermonaten war sie stets beim Oheim zu Gaste.
Eine Anzahl Bewerbungen um ihre Hand, die eines Bologneser Kaufmanns, die eines
Gutsbesitzers aus der Nachbarschaft, und zuletzt die des Leutnants Lorenzi habe sie
zurückgewiesen und scheine tatsächlich gewillt, ihr Dasein völlig dem Dienst der
Wissenschaft zu widmen. Während Olivo dies erzählte, fühlte Casanova sein Verlangen ins
Ungemessene wachsen, und die Einsicht, daß es so töricht als hoffnungslos war. brachte
ihn der Verzweiflung nahe. Eben als sie aus dem Feld- und Wiesenland auf die Fahrstraße
traten, erschallte ihnen aus einer Staubwolke, die sich näherte, Rufen und Grüßen
entgegen. Ein Wagen wurde sichtbar, in dem ein vornehm gekleideter älterer Herr an der
Seite einer etwas Jüngern üppigen und geschminkten Dame saß. »Der Marchese,« flüsterte
Olivo seinem Begleiter zu, »er ist auf dem Wege zu mir.«
Der Wagen hielt. »Guten Abend, mein trefflicher Olivo,« rief der Marchese, »darf ich Sie
bitten, mich mit dem Chevalier von Seingalt bekanntzumachen? Denn ich zweifle nicht, daß
ich das Vergnügen habe, mich ihm gegenüber zu sehen.« – Casanova verbeugte sich leicht.
»Ich bin es«, sagte er. – »Und ich der Marchese Celsi, – hier die Marchesa, meine
Gattin.« Die Dame reichte Casanova die Fingerspitzen; er berührte sie mit den
Lippen.
»Nun, mein bester Olivo,« sagte der Marchese, dessen wachsgelbes schmales Antlitz durch
die über den stechenden grünlichen Augen zusammengewachsenen dichten roten Brauen ein
nicht eben freundliches Ansehen erhielt, – »mein bester Olivo, wir haben denselben
Weg, nämlich zu Ihnen. Und da es kaum ein Viertelstündchen bis dahin ist, will ich
aussteigen und mit Ihnen zu Fuß gehen. Du hast wohl nichts dagegen, die kleine Strecke
allein zu fahren«, wandte er sich an die Marchesa, die Casanova die ganze Zeit über mit
lüstern prüfenden Augen betrachtet hatte; gab, ohne die Antwort seiner Gattin
abzuwarten, dem Kutscher einen Wink, worauf dieser sofort wie toll auf die Pferde
einhieb, als käme es ihm aus irgendeinem Grund darauf an, seine Herrin möglichst
geschwind davonzubringen; und gleich war der Wagen hinter einer Staubwolke
verschwunden.
»Man weiß nämlich schon in unsrer Gegend,« sagte der Marchese, der noch ein paar Zoll
höher als Casanova und von einer unnatürlichen Magerkeit war, »daß der Chevalier von
Seingalt hier angekommen und bei seinem Freund Olivo abgestiegen ist. Es muß ein
erhebendes Gefühl sein, einen so berühmten Namen zu tragen.«
»Sie sind sehr gütig, Herr Marchese,« erwiderte Casanova, »ich habe allerdings die
Hoffnung noch nicht aufgegeben, mir einen solchen Namen zu erwerben, finde mich aber
vorläufig davon noch recht weit entfernt. – Eine Arbeit, mit der ich eben beschäftigt
bin, wird mich meinem Ziele hoffentlich etwas näher bringen.«
»Wir können den Weg hier abkürzen«, sagte Olivo und schlug einen Feldweg ein, der gerade
auf die Mauer seines Gartens zuführte. – »Arbeit?« wiederholte der Marchese mit einem
unbestimmten Ausdruck. »Darf man fragen, von welcher Art von Arbeit Sie sprechen,
Chevalier?« – »Wenn Sie mich danach fragen, Herr Marchese, so sehe ich mich genötigt,
meinerseits an Sie die Frage zu richten, von was für einer Art von Ruhm Sie vorhin
geredet haben?« Dabei sah er dem Marchese hochmütig in die stechenden Augen. Denn wenn
er auch sehr wohl wußte, daß weder sein phantastischer Roman »Icosameron«, noch seine
dreibändige »Widerlegung von Amelots Geschichte der venezianischen Regierung« ihm
nennenswerten schriftstellerischen Ruhm eingebracht hatten, es lag ihm daran, für sich
keinen andern als erstrebenswert gelten zu lassen, und er mißverstand absichtlich alle
weiteren vorsichtig tastenden Bemerkungen und Anspielungen des Marchese, der sich unter
Casanova wohl einen berühmten Frauenverführer, Spieler, Geschäftsmann, politischen
Emissär und sonst alles mögliche, nur durchaus keinen Schriftsteller vorzustellen
imstande war, um so weniger, als weder von der Widerlegung des Amelotischen Werkes
noch von dem »Icosameron« jemals eine Kunde zu ihm gedrungen war. So bemerkte er endlich
mit einer gewissen höflichen Verlegenheit: »Immerhin gibt es nur einen Casanova.« –
»Auch das ist ein Irrtum, Herr Marchese«, entgegnete Casanova kalt. »Ich habe
Geschwister, und der Name eines meiner Brüder, des Malers Francesco Casanova, dürfte
einem Kenner nicht fremd klingen.«
Es zeigte sich, daß der Marchese auch auf diesem Gebiete nicht zu den Kennern gehörte,
und so lenkte er das Gespräch auf Bekannte, die mit ihm in Neapel, Rom, Mailand und
Mantua wohnten, und von denen er annehmen konnte, daß Casanova mit ihnen gelegentlich
zusammengetroffen war. In diesem Zusammenhang nannte er auch den Namen des Barons
Perotti, doch in einigermaßen verächtlichem Tone, und Casanova mußte zugestehen, daß er
manchmal im Hause des Barons ein kleines Spiel zu machen pflege – »zur Zerstreuung,«
setzte er hinzu, – »ein halbes Stündchen vor dem Schlafengehen. Im übrigen hab' ich
diese Art von Zeitvertreib so ziemlich aufgegeben.« – »Das täte mir leid,« sagte der
Marchese, »denn ich will Ihnen nicht verhehlen, Herr Chevalier, daß es ein Traum meines
Lebens war, mich mit Ihnen zu messen – sowohl im Spiel, als – in Jüngern Jahren – auch
auf andern Gebieten. Denken Sie übrigens, daß ich – wie lange mag es her sein? – daß ich
in Spa genau an dem Tage, ja in der Stunde ankam, als Sie es verließen. Unsre Wagen
fuhren aneinander vorüber. Und in Regensburg widerfuhr mir ein ähnliches Mißgeschick.
Dort bewohnte ich sogar das Zimmer, das Sie eine Stunde vorher verlassen hatten.« – »Es
ist ein rechtes Unglück,« sagte Casanova, immerhin ein wenig geschmeichelt, »daß man
einander manchmal zu spät im Leben begegnet.« – »Es ist noch nicht zu spät«, rief der
Marchese lebhaft. »In Hinsicht auf mancherlei andres will ich mich gern im vorhinein
geschlagen geben, und es kümmert mich wenig, – aber was das Spiel anbelangt, mein lieber
Chevalier, so sind wir beide vielleicht gerade in den Jahren –«
Casanova unterbrach ihn: »In den Jahren – mag sein. Aber leider kann ich gerade auf dem
Gebiet des Spiels nicht mehr auf das Vergnügen Anspruch erheben, mich mit einem Partner
Ihres Ranges messen zu dürfen – weil ich« – und dies sagte er im Ton eines entthronten
Fürsten – »weil ich es mit all meinem Ruhm, mein werter Herr Marchese, bis heute nicht
viel weiter als bis zum Bettler gebracht habe.«
Der Marchese schlug unwillkürlich vor Casanovas stolzem Blick die Augen nieder und
schüttelte dann nur ungläubig, wie zu einem sonderbaren Spaß, den Kopf. Olivo aber, der
dem ganzen Gespräch mit Spannung gelauscht und die gewandt überlegenen Antworten seines
außerordentlichen Freundes mit beifälligem Nicken begleitet hatte, vermochte eine
Bewegung des Erschreckens kaum zu unterdrücken. Sie standen eben alle an der
rückwärtigen Gartenmauer vor einer schmalen Holztür, und während Olivo sie mit einem
kreischenden Schlüssel öffnete und den Marchese voraus in den Garten treten ließ,
flüsterte er Casanova zu, ihn beim Arm fassend: »Sie werden Ihr letztes Wort
zurücknehmen, Chevalier, ehe Sie den Fuß wieder in mein Haus setzen. Das Geld, das ich
Ihnen seit sechzehn Jahren schulde, liegt bereit. Ich wagte nur nicht ... Fragen Sie
Amalia ... Abgezählt liegt es bereit. Beim Abschied wollte ich mir erlauben –« Casanova
unterbrach ihn sanft. »Sie sind nicht mein Schuldner, Olivo. Die paar Goldstücke waren –
Sie wissen es wohl – ein Hochzeitsgeschenk, das ich, als Freund von Amaliens Mutter ...
Doch wozu überhaupt davon reden. Was sollen mir die paar Dukaten? Ich stehe an einer
Wende meines Schicksals«, setzte er absichtlich laut hinzu, so daß ihn der Marchese, der
nach ein paar Schritten stehengeblieben war, hören konnte. Olivo tauschte einen Blick
mit Casanova, um sich seiner Zustimmung zu versichern, dann bemerkte er zum Marchese:
»Der Chevalier ist nämlich nach Venedig zurückberufen und reist in wenigen Tagen nach
seiner Vaterstadt ab.« – »Vielmehr,« bemerkte Casanova, während sie alle sich dem Hause
näherten, »man ruft bereits seit geraumer Zeit nach mir und immer dringender. Aber ich
finde, die Herren Senatoren haben sich lange genug Zeit gelassen. Mögen nun sie sich in
Geduld fassen.« – »Ein Stolz,« sagte der Marchese, »zu dem Sie im höchsten Maße
berechtigt sind, Chevalier!«
Als sie aus der Allee auf die Wiese hinaustraten, die nun schon völlig im Schatten
dalag, sahen sie, dem Hause nahe, die kleine Gesellschaft versammelt, von der sie
erwartet wurden. Alle erhoben sich, um ihnen entgegenzugehen, zuerst der Abbate,
zwischen Marcolina und Amalia; ihnen folgte die Marchesa, ihr zur Seite ein
hochgewachsener, bartloser junger Offizier in roter silberverschnürter Uniform und
glänzenden Reiterstiefeln, der kein andrer sein konnte als Lorenzi. Wie er zu der
Marchesa sprach, ihre weißen gepuderten Schultern mit dem Blicke streifend als
eine wohlbekannte Probe von nicht minder bekannten hübschen Dingen; noch mehr die Art,
wie die Marchesa mit halbgeschlossenen Lidern lächelnd zu ihm aufsah, konnte auch
weniger Erfahrene über die Natur der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen nicht in
Zweifel lassen; sowie auch darüber, daß sie keinen Wert darauf legten, sie vor irgend
jemandem geheimzuhalten. Sie unterbrachen ihr leises, aber lebhaftes Gespräch erst, als
sie den Herankommenden schon gegenüberstanden.
Olivo stellte Casanova und Lorenzi einander vor. Die beiden maßen sich mit einem kurzen
kalten Blick, in dem sie sich gegenseitig ihrer Abneigung zu versichern schienen, dann
lächelten sie beide flüchtig und verneigten sich, ohne einander die Hände zu reichen, da
jeder zu diesem Zweck dem andern hätte einen Schritt entgegentreten müssen. Lorenzi war
schön, von schmalem Antlitz und in Anbetracht seiner Jugend auffallend scharfen Zügen;
im Hintergrund seiner Augen schillerte irgendetwas Unfaßbares, das den Erfahrenen zur
Vorsicht mahnen mußte. Nur eine Sekunde lang überlegte Casanova, an wen ihn Lorenzi
erinnerte. Dann wußte er, daß es sein eigenes Bild war, das ihm, um dreißig Jahre
verjüngt, hier entgegentrat. Bin ich etwa in seiner Gestalt wiedergekehrt? fragte er
sich. Da müßte ich doch vorher gestorben sein ... Und es durchbebte ihn: Bin ich's denn
nicht seit lange? Was ist denn noch an mir von dem Casanova, der jung, schön und
glücklich war?
Er hörte Amaliens Stimme. Sie fragte ihn, wie aus der Ferne, obzwar sie neben ihm stand,
wie ihm der Spaziergang behagt habe, worauf er sich laut, so daß es alle hören konnten,
mit höchster Anerkennung über den fruchtbaren, wohlgepflegten Besitz aussprach, den er
mit Olivo durchwandert hatte. Indes deckte die Magd auf der Wiese einen länglichen
Tisch, die zwei älteren Töchter Olivos waren ihr dabei behilflich, indem sie aus dem
Hause Geschirr, Gläser und was sonst nötig war, mit viel Gekicher und Getu
herbeischafften. Mählich brach die Dämmerung ein; ein leise kühlender Wind strich durch
den Garten. Marcolina eilte an den Tisch, um zu vollenden, was die Rinder im Verein mit
der Magd begonnen, und zu verbessern, was sie verfehlt hatten. Die übrigen ergingen sich
zwanglos auf der Wiese und in den Alleen. Die Marchesa erwies Casanova viele
Höflichkeit, auch wünschte sie von ihm die berühmte Geschichte seiner Flucht aus den
Bleikammern von Venedig zu vernehmen, wenngleich ihr keineswegs unbekannt sei – wie sie
mit vieldeutigem Lächeln hinzufügte –, daß er weit gefährlichere Abenteuer
bestanden, die zu erzählen freilich bedenklicher sein möchte. Casanova erwiderte: wenn
er auch mancherlei ernste und heitere Beschwernis mitgemacht – gerade dasjenige Leben,
dessen Sinn und eigentliches Wesen die Gefahr bedeute, habe er niemals so recht
kennengelernt; denn wenn er auch ein paar Monate lang in unruhigen Zeiten Soldat
gewesen, vor vielen Jahren, auf der Insel Korfu, – gab es denn einen Beruf auf Erden, in
den ihn das Schicksal nicht verschlagen?! – er habe nie das Glück gehabt, einen
wirklichen Feldzug mitzumachen, wie das nun dem Herrn Leutnant Lorenzi bevorstünde, und
worum er ihn fast beneiden möchte. – »Da wissen Sie mehr als ich, Herr Casanova,« sagte
Lorenzi mit einer hellen und frechen Stimme – »und sogar mehr als mein Oberst, denn ich
habe eben Verlängerung meines Urlaubs auf unbestimmte Zeit erhalten.« – »Wahrhaftig!«
rief der Marchese mit unbeherrschtem Grimme, und höhnisch setzte er hinzu: »Und denken
Sie nur, Lorenzi, wir – meine Gattin vielmehr, hatte schon so sicher auf Ihre Abreise
gerechnet, daß sie für Anfang nächster Woche einen unsrer Freunde, den Sänger Baldi, auf
unser Schloß einlud.« – »Das trifft sich gut,« entgegnete Lorenzi unbeirrt, »Baldi und
ich sind gute Freunde, wir werden uns vertragen. Nicht wahr?« wandte er sich an die
Marchesa und ließ seine Zähne blitzen. – »Ich würde es Ihnen beiden raten,« meinte die
Marchesa mit einem heitern Lächeln.
Mit diesen Worten nahm sie als erste am Tische Platz; ihr zur Seite Olivo, an ihrer
andern Lorenzi. Ihnen gegenüber saß Amalia zwischen dem Marchese und Casanova; neben
diesem an einem schmalen Tischende Marcolina; am andern, neben Olivo, der Abbate. Es war
wie mittags ein einfaches und dabei höchst schmackhaftes Mahl. Die zwei älteren Töchter
des Hauses, Teresina und Nanetta, reichten die Schüsseln und schenkten von dem
trefflichen Wein, der auf Olivos Hügeln wuchs; und sowohl der Marchese wie der Abbate
dankten den Mädchen mit scherzhaft derben Liebkosungen, die ein gestrengerer Vater als
Olivo sich vielleicht verbeten hätte. Amalia schien nichts zu bemerken; sie war blaß,
blickte trüb und sah aus wie eine Frau, die entschlossen ist, alt zu werden, weil das
Jungsein jeden Sinn für sie verloren hat. Ist dies nun meine ganze Macht? dachte
Casanova bitter, sie von der Seite betrachtend. Doch vielleicht war es die Beleuchtung,
die Amaliens Züge so traurig veränderte. Es fiel nämlich nur ein breiter Strahl von
Licht aus dem Innern des Hauses auf die Gäste; im übrigen ließ man sich's am
Dämmerschein des Himmels genügen. In scharfen schwarzen Linien schlössen die Baumwipfel
alle Aussicht ab, und Casanova fühlte sich an irgendeinen geheimnisvollen Garten
erinnert, in dem er vor vielen Jahren nächtlicherweile eine Geliebte erwartet hatte.
»Murano«, flüsterte er vor sich hin und erbebte; dann sprach er laut: »Es gibt einen
Garten auf einer Insel nahe von Venedig, einen Klostergarten, den ich vor etlichen
Jahrzehnten zum letztenmal betreten habe; – in dem duftete es nachts gerade so, wie
heute hier.« – »Sie sind wohl auch einmal Mönch gewesen?« fragte die Marchesa scherzend.
– »Beinahe«, erwiderte Casanova lächelnd und erzählte wahrheitsgemäß, daß ihm als einem
fünfzehnjährigen Knaben der Patriarch von Venedig die niederen Weihen verliehen, daß er
aber schon als Jüngling vorgezogen habe, das geistliche Gewand wieder abzulegen. Der
Abbate tat eines nahegelegenen Frauenklosters Erwähnung, zu dessen Besuch er Casanova
dringend rate, falls er es noch nicht kennen sollte. Olivo stimmte lebhaft zu; er rühmte
den düstern alten Bau, die anmutige Gegend, in der er gelegen war, den
abwechslungsreichen Weg dahin. Übrigens, fuhr der Abbate fort, habe die Äbtissin,
Schwester Seraphina, – eine höchst gelehrte Frau, Herzogin von Geburt – in einem Brief
an ihn den Wunsch geäußert (schriftlich darum, weil in jenem Kloster das Gelübde ewigen
Schweigens herrsche), Marcolina, von deren Gelehrsamkeit sie erfahren, von Angesicht zu
Angesicht kennenzulernen. – »Ich hoffe, Marcolina,« sagte Lorenzi, und es war das
erstemal, daß er das Wort geradeaus an sie richtete, »Sie werden sich nicht dazu
verführen lassen, der Herzogin-Äbtissin in jeder Beziehung nachzueifern.« – »Warum
sollt' ich auch?« erwiderte Marcolina heiter; »man kann seine Freiheit auch ohne Gelübde
bewahren – und besser, denn Gelübde ist Zwang.«
Casanova saß neben ihr. Er wagte es nicht einmal, leise ihren Fuß zu berühren, oder sein
Knie an das ihre zu drängen: noch ein drittes Mal jenen Ausdruck des Grauens, des Ekels
in ihrem Blick gewahren zu müssen – des war er gewiß – hätte ihn unfehlbar zu einer Tat
des Wahnsinns getrieben. Während mit dem Fortschreiten des Mahls und der steigenden Zahl
der geleerten Gläser die Unterhaltung lebhafter und allgemeiner wurde, hörte Casanova,
wieder wie von fern, Amaliens Stimme. »Ich habe mit Marcolina gesprochen.« – »Du hast
mit ihr –« – Eine tolle Hoffnung flammte in ihm auf. »Stille, Casanova. Von dir war
nicht die Rede, nur von ihr und ihren Zukunftsplänen. Und ich sage es dir noch
einmal: Niemals wird sie irgendeinem Manne angehören.« – Olivo, der dem Weine stark
zugesprochen hatte, erhob sich unerwarteterweise, und, das Glas in der Hand, sprach er
ein paar unbeholfene Worte über die hohe Ehre, die seinem armen Hause durch den Besuch
seines teuern Freundes, des Chevalier von Seingalt, geworden sei.
»Wo ist der Chevalier von Seingalt, mein lieber Olivo, von dem Sie da reden?« fragte
Lorenzi mit seiner hellen, frechen Stimme. Casanovas erste Regung war es, dem
Unverschämten sein gefülltes Glas an den Kopf zu schleudern; Amalia aber berührte leicht
seinen Arm und sagte: »Viele Leute, Herr Chevalier, kennen Sie bis heute nur unter Ihrem
älteren und berühmteren Namen Casanova.«
»Ich wußte nicht,« sagte Lorenzi mit beleidigendem Ernst, »daß der König von Frankreich
Herrn Casanova den Adel verliehen hat.«
»Ich konnte dem König diese Mühe ersparen«, erwiderte Casanova ruhig, »und hoffe, daß
Sie, Leutnant Lorenzi, sich mit einer Erklärung zufrieden geben werden, gegen die der
Bürgermeister von Nürnberg nichts einzuwenden hatte, dem ich sie bei einer im übrigen
gleichgültigen Gelegenheit vorzutragen die Ehre hatte.« Und da die andern in Spannung
schwiegen –: »Das Alphabet ist bekanntlich allgemeines Gut. Ich habe mir eine Anzahl
Buchstaben ausgesucht, die mir gefallen, und mich zum Edelmann gemacht, ohne einem
Fürsten verpflichtet zu sein, der meine Ansprüche zu würdigen kaum imstande gewesen
wäre. Ich bin Casanova Chevalier von Seingalt. Es täte mir leid um Ihretwillen, Leutnant
Lorenzi, wenn dieser Name Ihren Beifall nicht finden sollte.« – »Seingalt – ein
vortrefflicher Name«, sagte der Abbate und wiederholte ihn ein paarmal, als schmeckte er
ihn mit den Lippen nach. – »Und es gibt niemanden auf der Welt,« rief Olivo aus, »der
sich mit höherem Rechte Chevalier nennen dürfte, als mein edler Freund Casanova!« – »Und
sobald Ihr Ruhm, Lorenzi,« fügte der Marchese hinzu, »so weit erschallen sollte, als der
des Herrn Casanova, Chevalier von Seingalt, werden wir nicht zögern, wenn es Ihnen so
beliebt, auch Sie Chevalier zu nennen.« – Casanova, ärgerlich über den unerwünschten
Beistand, der ihm von allen Seiten wurde, war eben im Begriffe, sich ihn zu verbitten,
um seine Sache persönlich weiterzuführen, als aus dem Dunkel des Gartens zwei eben noch
anständig gekleidete alte Herren an den Tisch traten. Olivo begrüßte sie herzlich
und geräuschvoll, sehr froh, damit einem Zwist, der bedenklich zu werden und die
Heiterkeit des Abends zu gefährden drohte, die Spitze abzubrechen. Die Neuangekommenen
waren die Brüder Ricardi, Junggesellen, die, wie Casanova von Olivo erfuhr, früher in
der großen Welt gelebt, mit allerlei Unternehmungen wenig Glück gehabt und sich endlich
in das benachbarte Dorf, ihren Geburtsort, zurückgezogen, wo sie in einem elenden
Häuschen zur Miete wohnten. Sonderbare, aber harmlose Leute. Die beiden Ricardi drückten
ihr Entzücken aus, die Bekanntschaft des Chevaliers zu erneuern, mit dem sie in Paris
vor Jahren zusammengetroffen waren. Casanova erinnerte sich nicht. Oder war es in
Madrid? ... »Das wäre möglich«, sagte Casanova, aber er wußte, daß er die beiden niemals
gesehen hatte. Nur der eine, offenbar jüngere von ihnen, führte das Wort, der andre, der
wie ein Neunzigjähriger aussah, begleitete die Reden seines Bruders mit unaufhörlichem
Kopfnicken und einem verlorenen Grinsen.
Man hatte sich vom Tisch erhoben. Die Kinder waren schon früher verschwunden. Lorenzi
und die Marchesa spazierten im Dämmer über die Wiese hin, Marcolina und Amalia wurden
bald im Saale sichtbar, wo sie Vorbereitungen für das Spiel zu treffen schienen. Was hat
das alles zu bedeuten? fragte sich Casanova, der allein im Garten stand. Halten sie mich
für reich? Wollen sie mich rupfen? Denn alle diese Anstalten, auch die Zuvorkommenheit
des Marchese, die Beflissenheit des Abbate sogar, das Erscheinen der Brüder Ricardi,
kamen ihm irgendwie verdächtig vor; konnte nicht auch Lorenzi in die Intrige verwickelt
sein? Oder Marcolina? Oder gar Amalia? Ist das Ganze, dachte er flüchtig, ein Streich
meiner Feinde, um mir die Rückkehr nach Venedig zu erschweren, – im letzten Augenblick
unmöglich zu machen? Aber sofort mußte er sich sagen, daß dieser Einfall völlig unsinnig
war, vor allem schon darum, weil er ja nicht einmal mehr Feinde hatte. Er war ein
ungefährlicher, herabgekommener alter Tropf; wen konnte seine Rückkehr nach Venedig
überhaupt kümmern? Und als er durch die offenen Fenster des Hauses die Herren sich
geschäftig um den Tisch reihen sah, auf dem die Karten bereit lagen und gefüllte
Weingläser standen, wurde ihm über jeden Zweifel klar, daß hier nichts anderes geplant
war als ein gewohnheitsmäßig harmloses Spiel, bei dem ein neuer Partner immerhin
willkommen sein mochte. Marcolina streifte an ihm vorüber und wünschte ihm Glück.
»Sie bleiben nicht? Schauen dem Spiel nicht wenigstens zu?« – »Was soll ich dabei? Gute
Nacht, Chevalier von Seingalt – und auf morgen!«
Stimmen klangen ins Freie. »Lorenzi« rief es – »Herr Chevalier.« – »Wir warten.«
Casanova, im Schatten des Hauses, konnte sehen, wie die Marchesa Lorenzi von der Wiese
gegen das Dunkel der Bäume hinzuziehen suchte. Dort drängte sie sich heftig an ihn,
Lorenzi aber riß sich ungebärdig von ihr los und eilte dem Hause zu. Er traf am Eingang
mit Casanova zusammen und, mit einer Art von spöttischer Höflichkeit, ließ er ihm den
Vortritt, was Casanova ohne Dank annahm.
Der Marchese legte die erste Bank. Olivo, die Brüder Ricardi und der Abbate setzten so
geringe Münzen ein, daß das ganze Spiel auf Casanova – auch heute, da sein ganzes
Vermögen nur in ein paar Dukaten bestand – wie ein Spaß wirkte. Es erschien ihm um so
lächerlicher, als der Marchese mit einer so großartigen Miene das Geld einstrich und
auszahlte, als wenn es um hohe Summen ginge. Plötzlich warf Lorenzi, der sich bisher
nicht beteiligt hatte, einen Dukaten hin, gewann, ließ den so verdoppelten Einsatz
stehen, gewann ein zweites und drittes Mal und so mit geringen Unterbrechungen immer
weiter. Die andern Herren setzten indes ihre kleinen Münzen wie zuvor, und insbesondere
die beiden Ricardi zeigten sich höchst ungehalten, wenn der Marchese sie nicht mit der
gleichen Rücksichtnahme zu behandeln schien, wie den Leutnant Lorenzi. Die Brüder
spielten gemeinsam auf das gleiche Blatt; dem einen, älteren, der die Karten empfing,
perlte der Schweiß von der Stirn, der andere, hinter ihm stehend, redete unablässig auf
ihn ein wie mit wichtig-unfehlbaren Ratschlägen. Wenn er den schweigsamen Bruder
einziehen sah, leuchteten seine Augen, im andern Falle richteten sie sich verzweifelt
gen Himmel. Der Abbate, sonst ziemlich teilnahmlos, gab zuweilen spruchähnliche Sätze
zum besten – wie »Das Glück und die Frauen zwingst du nicht« – oder »Die Erde ist rund,
der Himmel weit« – manchmal blickte er auch pfiffig ermutigend Casanova und gleich
darauf die diesem gegenüber, ihrem Gatten zur Seite sitzende Amalia an, als läge ihm
daran, die beiden alten Liebesleute neu miteinander zu verkuppeln. Casanova aber dachte
an nichts anderes, als daß Marcolina sich jetzt in ihrem Zimmer langsam entkleidete, und
daß, wenn das Fenster offen stand, ihre weiße Haut in die Nacht hinaus schimmerte. Von
einer Begier erfaßt, die ihm die Sinne verstörte, wollte er sich von seinem Platz
neben dem Marchese erheben und den Raum verlassen; der Marchese aber nahm diese Bewegung
als einen Entschluß, sich am Spiel zu beteiligen und sagte: »Nun endlich – wir wußten
ja, daß Sie nicht Zuschauer bleiben würden, Chevalier.« Er legte eine Karte vor ihn hin,
Casanova setzte alles, was er bei sich trug – und dies war so ziemlich alles, was er
besaß – zehn Dukaten etwa, er zählte sie nicht, ließ sie aus seiner Börse auf den Tisch
gleiten und wünschte, sie auf einen Satz zu verlieren: dies sollte dann ein Zeichen
sein, ein glückverheißendes Zeichen – er wußte nicht recht wofür, ob für seine baldige
Heimkehr nach Venedig oder den ihm bevorstehenden Anblick der entkleideten Marcolina; –
doch ehe er sich entschieden, hatte der Marchese das Spiel gegen ihn bereits verloren.
Auch Casanova ließ, wie Lorenzi es getan, den verdoppelten Einsatz stehen, und auch ihm
blieb das Glück treu wie dem Leutnant. Um die übrigen kümmerte sich der Marchese nicht
mehr, der schweigsame Ricardi stand beleidigt auf, der andre rang die Hände – dann
standen sie zusammen in einer Ecke des Saales wie vernichtet. Der Abbate und Olivo
fanden sich leichter ab; der erste aß Süßigkeiten und wiederholte seine Sprüchlein, der
andre schaute dem Fall der Karten in Erregung zu. Endlich hatte der Marchese fünfhundert
Dukaten verloren, in die sich Casanova und Lorenzi teilten. Die Marchesa erhob sich und
gab dem Leutnant einen Wink mit den Augen, ehe sie den Saal verließ, Amalia geleitete
sie. Die Marchesa wiegte sich in den Hüften, was Casanova anwiderte; Amalia schlich an
ihrer Seite wie ein demütiges ältliches Weib. Da der Marchese sein ganzes Bargeld
verloren hatte, übernahm Casanova die Bank, er bestand, zum Mißvergnügen des Marchese,
darauf, daß die andern wieder am Spiele teilnähmen. Sofort waren die Brüder Ricardi zur
Stelle, gierig und erregt; der Abbate schüttelte den Kopf, er hatte genug, und Olivo
spielte nur mit, um sich dem Wunsch seines edlen Gastes nicht zu versagen. Lorenzi hatte
weiter Glück; als er im ganzen die Summe von vierhundert Dukaten gewonnen, stand er auf
und sagte: »Morgen bin ich gern bereit, Revanche zu geben. Jetzt bitte ich um die
Erlaubnis, nach Hause reiten zu dürfen.« – »Nach Hause,« rief der Marchese hohnlachend,
der übrigens ein paar Dukaten zurückgewonnen hatte, »das ist nicht übel! Der Leutnant
wohnt nämlich bei mir!« wandte er sich zu den andern. »Und meine Gattin ist voraus nach
Hause gefahren. Gute Unterhaltung, Lorenzi!« – »Sie wissen sehr gut,« erwiderte
Lorenzi, ohne eine Miene zu verziehen, »daß ich geradeswegs nach Mantua reite und nicht
nach Ihrem Schloß, wo Sie so gütig waren, mir gestern Unterkunft zu gewähren.« – »Reiten
Sie, wohin Sie wollen, zum Teufel meinetwegen!« – Lorenzi empfahl sich von den andern
aufs höflichste und ging, ohne dem Marchese eine gebührende Antwort zu erteilen, was
Casanova in Verwunderung setzte. Er legte weiter die Karten auf und gewann, so daß der
Marchese bald mit ein paar hundert Dukaten in seiner Schuld stand. Wozu? fragte sich
Casanova anfangs. Allmählich aber nahm ihn der Reiz des Spiels doch wieder gefangen. Es
geht nicht übel, dachte er ... Nun sind es bald tausend ... es können auch zweitausend
werden. Der Marchese wird seine Schuld bezahlen. Mit einem kleinen Vermögen in Venedig
Einzug halten, das wäre so übel nicht. Doch warum nach Venedig? Man wird wieder reich,
man wird wieder jung. Reichtum ist alles. Nun werd' ich sie mir doch wenigstens wieder
kaufen können. Wen? Ich will keine andere ... Nackt steht sie am Fenster – ganz gewiß
... wartet am Ende ... ahnt, daß ich kommen werde ... Steht am Fenster, um mich toll zu
machen. Und ich bin da. – Indes teilte er weiter die Karten aus, mit unbeweglicher
Miene, nicht nur an den Marchese, auch an Olivo und die Brüder Ricardi, denen er
zuweilen ein Goldstück hinschob, auf das sie keinen Anspruch hatten. Sie ließen sich's
gefallen. Aus der Nacht drang ein Geräusch, wie die Hufschläge eines über die Straße
trabenden Rosses. Lorenzi, dachte Casanova ... Von der Gartenmauer schallte es wie im
Echo wider, dann verklang allmählich Hall und Widerhall. Nun aber wandte sich das Glück
gegen Casanova. Der Marchese setzte hoch, immer höher; und um Mitternacht fand sich
Casanova so arm wie er gewesen, ärmer noch; er hatte auch seine eigenen paar Goldstücke
verloren. Er schob die Karten von sich weg, erhob sich lächelnd. »Ich danke, meine
Herren.«
Olivo breitete die Arme nach ihm aus. »Mein Freund, wir wollen weiterspielen ...
Hundertfünfzig Dukaten, – haben Sie denn vergessen, – nein, nicht hundertfünfzig! Alles,
was ich habe, was ich bin – alles – alles!« Er lallte; denn er hatte während des ganzen
Abends zu trinken nicht aufgehört. Casanova wehrte mit einer übertrieben vornehmen
Handbewegung ab. »Die Frauen und das Glück zwingt man nicht«, sagte er mit einer
Verneigung gegen den Abbate hin. Dieser nickte befriedigt und klatschte in die Hände.
»Auf morgen also, mein verehrter Chevalier,« sagte der Marchese, »wir werden
gemeinsam dem Leutnant Lorenzi das Geld wieder abnehmen.«
Die Ricardi bestanden darauf, daß weitergespielt würde. Der Marchese, sehr aufgeräumt,
gab ihnen eine Bank. Sie rückten mit den Goldstücken heraus, die Casanova sie hatte
gewinnen lassen. In zwei Minuten hatte der Marchese sie ihnen abgenommen und lehnte es
entschieden ab, mit ihnen weiterzuspielen, wenn sie nicht Bargeld vorzuweisen hätten.
Sie rangen die Hände. Der ältere begann zu weinen wie ein Kind. Der andere küßte ihn wie
zur Beruhigung auf beide Wangen. Der Marchese fragte, ob sein Wagen schon wieder
zurückgekommen sei. Der Abbate bejahte; er hatte ihn vor einer halben Stunde vorfahren
gehört. Der Marchese lud den Abbate und die Brüder Ricardi in seinen Wagen ein; er
wollte sie vor ihren Wohnhäusern absetzen; – und alle verließen das Haus.
Als die andern fort waren, nahm Olivo Casanovas Arm und versicherte ihn immer wieder,
mit Tränen in der Stimme, daß alles in diesem Hause ihm, Casanova gehöre und daß er
damit schalten möge, wie es ihm beliebe. Sie kamen an Marcolinens Fenster vorbei. Es war
nicht nur verschlossen, auch ein Gitter war vorgeschoben, und innen senkte sich ein
Vorhang herab. Es gab Zeiten, dachte Casanova, wo all das nichts nützte oder wo es
nichts zu bedeuten hatte. Sie traten ins Haus. Olivo ließ es sich nicht nehmen, den Gast
über die etwas knarrende Treppe bis in das Turmgemach zu begleiten, wo er ihn zum
Abschied umarmte. »Also morgen,« sagte er, »sollen Sie das Kloster zu sehen bekommen.
Doch schlafen Sie nur ruhig, wir brechen nicht in allzu früher Stunde auf und richten
uns jedenfalls völlig nach Ihrer Bequemlichkeit. Gute Nacht.« Er ging, die Tür leise
hinter sich schließend, aber seine Schritte dröhnten über die Treppe durch das ganze
Haus.
Casanova stand allein in seinem durch zwei Kerzen matt erhellten Zimmer und ließ das
Auge von einem zum andern der vier Fenster schweifen, die nach den verschiedenen
Himmelsrichtungen wiesen. In bläulichem Glänze lag die Landschaft da, nach allen Seiten
fast das gleiche Bild: weite Ebenen, mit geringen Erhebungen, nur nordwärts
verschwimmende Berglinien, da und dort vereinzelte Häuser, Gehöfte, auch größere
Gebäude; darunter eines etwas höher gelegen, aus dem ein Licht herschimmerte, nach
Casanovas Vermutung das Schloß des Marchese. Im Zimmer, das außer dem freistehenden
breiten Bett nichts enthielt als einen langen Tisch, auf dem die zwei Kerzen
brannten, ein paar Stühle, eine Kommode und einen goldgerahmten Spiegel darüber, war von
sorglichen Händen Ordnung gemacht, auch war der Reisesack ausgepackt worden. Auf dem
Tische lag die versperrte abgegriffene Ledermappe, die Casanovas Papiere enthielt sowie
ein paar Bücher, deren er für seine Arbeit bedurfte und die er daher mit sich genommen
hatte; auch Schreibzeug war bereit. Da er nicht die geringste Schläfrigkeit verspürte,
nahm er sein Manuskript aus der Mappe und durchlas beim Schein der Kerzen, was er
zuletzt geschrieben. Da er mitten in einem Absatz stehengeblieben, war es ihm ein
leichtes, auf der Stelle fortzufahren. Er nahm die Feder zur Hand, schrieb hastig ein
paar Sätze und hielt plötzlich wieder inne. Wozu? fragte er sich, wie in einer grausamen
inneren Erleuchtung. Und wenn ich auch wüßte, daß das, was ich hier schrieb und
schreiben werde, herrlich würde ohne Vergleich, – ja, wenn es mir wirklich gelänge,
Voltaire zu vernichten und mit meinem Ruhm den seinen zu überstrahlen; – wäre ich nicht
trotzdem mit Freuden bereit, all diese Papiere zu verbrennen, wenn es mir dafür vergönnt
wäre, in dieser Stunde Marcolina zu umarmen? Ja, wäre ich um den gleichen Preis nicht zu
dem Gelübde bereit, Venedig niemals wieder zu betreten, – auch wenn sie mich im Triumph
dahin zurückholen wollten? Venedig! ... Er wiederholte das Wort, es klang um ihn in
seiner ganzen Herrlichkeit; – und schon hatte es die alte Macht über ihn gewonnen. Die
Stadt seiner Jugend stieg vor ihm auf, umflossen von allem Zauber der Erinnerung, und
das Herz schwoll ihm in einer Sehnsucht, so qualvoll und über alles Maß, wie er sie noch
nie empfunden zu haben glaubte. Auf die Heimkehr zu verzichten erschien ihm als das
unmöglichste von allen Opfern, die das Schicksal von ihm fordern dürfte. Was sollte er
weiter in dieser kläglich verblaßten Welt ohne die Hoffnung, die Gewißheit, die geliebte
Stadt jemals wiederzusehen? Nach Jahren und Jahrzehnten der Wanderungen und Abenteuer,
nach all dem Glück und Unglück, das er erlebt, nach all der Ehre und Schmach, nach den
Triumphen und nach den Erniedrigungen, die er erfahren, mußte er doch endlich eine
Ruhestatt, eine Heimat haben. Und gab es eine andere Heimat für ihn als Venedig? Und ein
anderes Glück als das Bewußtsein, wieder eine Heimat zu haben? In der Fremde vermochte
er längst nicht mehr ein Glück dauernd an sich heranzuzwingen. Noch war ihm zuweilen die
Kraft gegönnt, es zu erfassen, doch nicht mehr die, es festzuhalten. Seine Macht über
die Menschen, Frauen wie Männer, war dahin. Nur wo er Erinnerung bedeutete,
vermochte sein Wort, seine Stimme, sein Blick noch zu bannen; seiner Gegenwart war die
Wirkung versagt. Vorbei war seine Zeit! Und nun gestand er sich auch ein, was er sich
sonst mit besonderer Beflissenheit zu verhehlen suchte, daß selbst seinen
schriftstellerischen Leistungen, daß sogar seiner Streitschrift gegen Voltaire, auf die
er seine letzte Hoffnung gesetzt hatte, niemals ein in die Weite tragender Erfolg
beschieden sein würde. Auch dazu war es zu spät. Ja, hätte er in jüngeren Jahren Muße
und Geduld gehabt, sich mit derlei Arbeiten ernstlicher zu beschäftigen, – das wußte er
wohl – den ersten dieses Fachs, Dichtern und Philosophen, hätte er es gleichgetan;
ebenso wie er als Finanzmann oder als Diplomat mit größerer Beharrlichkeit und Vorsicht,
als ihm eigen war, zum Höchsten wäre berufen gewesen. Doch wo war all seine Geduld und
seine Vorsicht, wo waren alle seine Lebenspläne hin, wenn ein neues Liebesabenteuer
lockte? Frauen – Frauen überall. Für sie hatte er alles hingeworfen in jedem Augenblick;
für edle wie für gemeine, für die leidenschaftlichen wie für die kalten; für Jungfrauen
wie für Dirnen; – für eine Nacht auf einem neuen Liebeslager waren ihm alle Ehren dieser
und alle Seligkeiten jener Welt immer feil gewesen. – Doch bereute er, was er durch
dieses ewige Suchen und Niemals- oder Immer-Finden, durch dies irdisch-überirdische
Fliehen von Begier zu Lust und von Lust zu Begier sonst im Dasein etwa versäumt haben
mochte? Nein, er bereute nichts. Er hatte sein Leben gelebt wie keiner; – und lebte er
es nicht noch heute in seiner Art? Überall noch gab es Weiber auf seinem Weg: wenn sie
auch nicht mehr gerade toll um ihn wurden wie einstmals. – Amalia? – er konnte sie
haben, wann er wollte, in dieser Stunde, in ihres betrunkenen Gatten Bett; – und die
Wirtin in Mantua – war sie nicht verliebt in ihn wie in einen hübschen Knaben, mit
Zärtlichkeit und Eifersucht? – und die blatternarbige, aber wohlgebaute Geliebte
Perottis – hatte sie ihn nicht, berauscht von dem Namen Casanova, der die Wollust von
tausend Nächten über sie hinzusprühen schien – hatte sie ihn nicht angebettelt, ihr eine
einzige Liebesnacht zu gewähren, und hatte er sie nicht verschmäht wie einer, der noch
immer nach eigenem Geschmacke wählen durfte? Freilich – Marcolina – solche wie Marcolina
waren nicht mehr für ihn da. Oder – wäre sie niemals für ihn dagewesen? Es gab ja wohl
auch Frauen solcher Art. Er war vielleicht in früheren Jahren solch einer begegnet; aber
da immer zugleich eine andere, willigere zur Stelle war, hatte er sich nicht damit
aufgehalten, auch nur einen Tag vergeblich zu seufzen. Und da es nicht einmal Lorenzi
gelungen war, Marcolina zu erobern, – da sie sogar die Hand dieses Menschen
ausgeschlagen, der ebenso schön und ebenso frech war, wie er, Casanova, in seiner Jugend
es gewesen – so mochte Marcolina in der Tat jenes Wundergeschöpf vorstellen, an dessen
Vorhandensein auf Erden er bisher gezweifelt – das tugendhafte Weib. Nun aber lachte er
so hell auf, daß es durchs Zimmer hallte. »Der Ungeschickte, der Dummkopf!« rief er
laut, wie er es bei solchen Selbstgesprächen öfters tat. »Er hat die Gelegenheit nicht
zu benützen verstanden. Oder die Marchesa läßt ihn nicht los. Oder hat er sich die erst
genommen, als er Marcolina nicht bekommen konnte, die Gelehrte – die Philosophin?!« Und
plötzlich kam ihm der Einfall: Ich will ihr morgen meine Streitschrift gegen Voltaire
vorlesen! Sie ist das einzige Geschöpf, dem ich das nötige Verständnis dafür zutrauen
darf. Ich werde sie überzeugen ... Sie wird mich bewundern. Natürlich wird sie ...
»Vortrefflich, Herr Casanova! Sie schreiben einen glänzenden Stil, alter Herr! Bei Gott
... Sie haben Voltaire vernichtet ... genialer Greis!« So sprach er, so zischte er vor
sich hin und lief im Zimmer hin und her wie in einem Käfig. Ein ungeheurer Grimm hatte
ihn erfaßt, gegen Marcolina, gegen Voltaire, gegen sich selbst, gegen die ganze Welt. Er
nahm seine letzte Kraft zusammen, um nicht aufzubrüllen. Endlich warf er sich aufs Bett,
ohne sich auszukleiden, und lag nun da, die weit offenen Augen zum Gebälk der Decke
gerichtet, inmitten dessen er jetzt an einzelnen Stellen im Schein der Kerzen
Spinnengewebe silbrig glänzen sah. Dann, wie es ihm zuweilen nach Spielpartien vor dem
Einschlafen begegnete, jagten mit phantastischer Geschwindigkeit Kartenbilder an ihm
vorbei, und endlich versank er wirklich in einen traumlosen Schlummer, der aber nur eine
kurze Weile dauerte. Nun horchte er auf die geheimnisvolle Stille rings um sich. Nach
Osten und Süden standen die Fenster des Turmgemachs offen, aus Garten und Feld drangen
linde, süße Gerüche aller Art, aus der Landschaft unbestimmte Geräusche zu ihm herein,
wie die kommende Frühe sie aus der Weite und Nähe zu bringen pflegt. Casanova vermochte
nicht länger stillzuliegen; ein lebhafter Drang nach Veränderung erfaßte ihn und lockte
ihn ins Freie. Vogelgesang rief ihn von draußen, morgenkühler Wind rührte an seine
Stirn. Leise öffnete Casanova die Tür, ging vorsichtig über die Treppe hinab, mit seiner
oft erprobten Geschicklichkeit brachte er es zuwege, daß die Holzstufen unter
seinem Schritt nicht im geringsten knarrten; über die steinerne Treppe gelangte er ins
Erdgeschoß, und durch das Speisezimmer, wo auf dem Tisch noch die halbgefüllten Gläser
standen, in den Garten. Da auf dem Kies seine Schritte hörbar wurden, trat er gleich auf
die Wiese über, die nun, im Frühdämmer schein, zu unwirklicher Weite sich dehnte. Dann
schlich er sich in die Allee, nach der Seite hin, wo ihm Marcolinens Fenster in den
Blick fallen mußte. Es war vergittert, verschlossen, verhängt, so wie er es zuletzt
gesehen. Kaum fünfzig Schritt vom Hause entfernt setzte sich Casanova auf eine
Steinbank. Jenseits der Gartenmauer hörte er einen Wagen vorbeifahren, dann war es
wieder still. Aus dem Wiesengrund schwebte ein feiner grauer Dunst; als läge da ein
durchsichtig-trüber Teich mit verschwimmenden Grenzen. Wieder dachte Casanova jener
Jugendnacht im Klostergarten von Murano – oder eines andern Parks – einer andern Nacht;
– er wußte nicht mehr welcher – vielleicht waren es hundert Nächte, die ihm in der
Erinnerung in eine einzige zusammenflössen, sowie ihm manchmal hundert Frauen, die er
geliebt, in der Erinnerung zu einer einzigen wurden, die als Rätselgestalt durch seine
fragenden Sinne schwebte. Und war denn nicht am Ende eine Nacht wie die andere? Und eine
Frau wie die andere? Besonders, wenn es vorbei war? Und dieses Wort »vorbei« hämmerte in
seinen Schläfen weiter, als sei es bestimmt, von nun ab der Pulsschlag seines verlorenen
Daseins zu werden.
Es war ihm, als raschelte irgend etwas hinter ihm längs der Mauer hin. Oder wär's nur
ein Widerklang? Ja, das Geräusch kam vom Hause her. Marcolinens Fenster stand mit
einemmal offen, das Gitter war zurückgeschoben, der Vorhang nach der einen Seite hin
gerafft; aus dem Dunkel des Gemachs hob sich eine schattenhafte Erscheinung; Marcolina
selbst war es, die in hochgeschlossenem weißen Nachtgewand an die Brüstung trat, wie um
die holde Luft des Morgens einzuatmen. Casanova hatte sich rasch von der Bank
heruntergleiten lassen; über ihren Rand, durch das Gezweig der Allee sah er gebannt
Marcolina an, deren Augen scheinbar gedanken-, ja richtungslos in die Dämmerung
tauchten. Nach ein paar Sekunden erst schien sie ihr noch wie schlafbefangenes Wesen in
einem Blicke sammeln zu können, den sie nun langsam nach rechts und links schweifen
ließ. Dann beugte sie sich vornüber, wie um auf dem Kies etwas zu suchen, und gleich
darauf wandte sie das Haupt mit dem gelösten Haar nach aufwärts, wie zu einem
Fenster des oberen Stockwerks. Dann stand sie wieder eine Weile ohne Bewegung, die Hände
beiderseits an die Fensterstöcke stützend, wie an ein unsichtbares Kreuz geschlagen. Nun
erst, als wären sie plötzlich von innen erleuchtet worden, gewannen ihre dämmernden Züge
für Casanova an Deutlichkeit. Ein Lächeln spielte um ihren Mund, das gleich wieder
erstarrte. Nun ließ sie die Arme sinken; ihre Lippen bewegten sich sonderbar, als
flüsterten sie ein Gebet; wieder schweifte ihr Blick langsam suchend durch den Garten,
dann nickte sie kurz, und im selben Augenblicke schwang sich jemand über die Brüstung
ins Freie, der bis jetzt zu Marcolinens Füßen gekauert sein mußte, – Lorenzi. Er flog
mehr als er ging über den Kies zur Allee hin, durchquerte sie kaum zehn Schritte weit
von Casanova, der, den Atem anhaltend, unter der Bank lag, und eilte dann jenseits der
Allee, wo ein schmaler Wiesenstreif die Mauer entlang lief, den Blicken Casanovas
entschwindend, nach rückwärts. Casanova hörte eine Tür in den Angeln seufzen, – es
konnte keine andre sein als diejenige, durch die er selbst gestern abend mit Olivo und
dem Marchese in den Garten zurückgekehrt war – dann war alles still. Marcolina war die
ganze Zeit völlig regungslos dagestanden: sobald sie Lorenzi in Sicherheit wußte, atmete
sie tief auf, schloß Gitter und Fenster, der Vorhang fiel nieder wie durch eigene Kraft,
und alles war, wie es vorher gewesen; – nur daß indes, als hätte er nun keinen Anlaß
mehr zu zögern, der Tag über Haus und Garten aufgezogen war.
Auch Casanova lag noch da, wie zuvor, die Hände vor sich hingestreckt, unter der Bank.
Nach einer Weile kroch er weiter, in die Mitte der Allee, und weiter auf allen vieren,
bis er an eine Stelle kam, wo er weder von Marcolinens Fenster, noch von einem andern
aus gesehen werden konnte. Nun erhob er sich mit schmerzendem Rücken, reckte sich in die
Höhe, dehnte die Glieder und kam endlich zur Besinnung, ja fand sich jetzt erst selber
wieder, als hätte er sich aus einem geprügelten Hund in einen Menschen zurückverwandelt,
der die Prügel nicht als körperlichen Schmerz, sondern als tiefe Beschämung weiter zu
verspüren verdammt war. Warum, fragte er sich, bin ich nicht zu dem Fenster hin, solang
es noch offen stand? Und über die Brüstung hinein zu ihr? – Hätte sie Widerstand leisten
können – dürfen – die Heuchlerin, die Lügnerin, die Dirne? Und er beschimpfte sie immer
weiter, als hätte er ein Recht dazu, als hätte sie ihm Treue gelobt wie einem Geliebten
und ihn betrogen. Er schwor sich zu, sie zur Rede zu stellen von Angesicht zu
Angesicht, ihr ins Antlitz zu schleudern, vor Olivo, vor Amalia, vor dem Marchese, dem
Abbate, vor der Magd und den Knechten, daß sie eine lüsterne kleine Hure war und nichts
anderes. Wie zur Übung, in aller Ausführlichkeit, erzählte er sich selber vor, was er
eben mit angesehen, und machte sich das Vergnügen, allerlei dazu zu erfinden, um sie
noch tiefer zu erniedrigen; daß sie nackt am Fenster gestanden, daß sie im Spiel der
Morgenwinde von ihrem Geliebten sich habe unzüchtig liebkosen lassen. Nachdem er so
seine Wut fürs erste zur Not beschwichtigt hatte, dachte er nach, ob mit dem, was er nun
wußte, nicht doch vielleicht was Besseres anzufangen wäre. Hatte er sie jetzt nicht in
seiner Gewalt? Konnte er nun die Gunst, die sie ihm gutwillig nicht gewährt hätte, nicht
durch Drohungen von ihr erzwingen? Aber dieser schmähliche Plan sank sofort wieder in
sich zusammen, nicht so sehr, weil Casanova dessen Schmählichkeit, als weil er dessen
Zweck- und Sinnlosigkeit gerade in diesem Fall erkennen mußte. Was konnten seine
Drohungen Marcolina kümmern, die niemandem Rechenschaft schuldig, die am Ende auch,
wenn's ihr darauf ankam, verschlagen genug war, ihn als einen Verleumder und Erpresser
von ihrer Schwelle zu jagen? Und selbst wenn sie aus irgendeinem Grunde das Geheimnis
ihrer Liebschaft mit Lorenzi durch ihre Preisgabe zu erkaufen bereit war (er wußte
freilich, daß er etwas erwog, das außer dem Bereich aller Möglichkeiten lag), mußte ein
so erzwungener Genuß für ihn, der, wenn er liebte, tausendmal heißer danach verlangte,
Glück zu geben, als Glück zu empfangen, sich nicht in eine unnennbare Qual verwandeln, –
die ihn zum Wahnsinn und in Selbstvernichtung trieb? Er fand sich plötzlich an der
Gartentür. Sie war versperrt. Lorenzi hatte also einen Nachschlüssel. Und wer – fiel ihm
nun ein – war denn durch die Nacht auf trabendem Roß davongesprengt, nachdem Lorenzi
sich vom Spieltisch erhoben? Ein bestellter Knecht offenbar. – Unwillkürlich mußte
Casanova beifällig lächeln ... Sie waren einander würdig, Marcolina und Lorenzi, die
Philosophin und der Offizier. Und ihnen beiden stand noch eine herrliche Laufbahn bevor.
Wer wird Marcolinens nächster Liebhaber sein? fragte er sich. Der Professor in Bologna,
in dessen Hause sie wohnt? O, ich Narr. Der wär's ja längst ... Wer noch? Olivo? Der
Abbate? Warum nicht?! Oder der junge Knecht, der gestern glotzend am Tore stand, als wir
angefahren kamen? Alle! Ich weiß es. Aber Lorenzi weiß es nicht. Das hab' ich vor ihm
voraus. – Zwar war er im Innersten überzeugt, daß Lorenzi nicht nur Marcolinens
erster Liebhaber, sondern er vermutete sogar, daß es heute die erste Nacht war, die sie
ihm geschenkt hatte; doch das hielt ihn nicht ab, seine boshaft-lüsternen Gedankenspiele
weiterzutreiben, während er den Garten längs der Mauer umkreiste. So stand er denn
wieder vor der Saaltür, die er offen gelassen, und sah ein, daß ihm vorläufig nichts
andres zu tun übrigblieb, als ungesehen und ungehört sich zurück ins Turmgemach zu
begeben. Mit aller Vorsicht schlich er hinauf und ließ sich oben auf den Lehnstuhl
sinken, auf dem er schon früher gesessen; vor den Tisch hin, auf dem die losen Blätter
des Manuskriptes seiner Wiederkehr nur zu warten schienen. Unwillkürlich fiel sein Auge
auf den Satz, den er vorhin in der Mitte abgebrochen hatte; und er las: »Voltaire wird
unsterblich sein, gewiß; aber er wird diese Unsterblichkeit erkauft haben mit seinem
unsterblichen Teil; – der Witz hat sein Herz aufgezehrt, wie der Zweifel seine Seele,
und also –«In diesem Augenblick brach die Morgensonne rötlich flutend herein, so daß das
Blatt, das er in Händen hielt, zu erglühen anfing, und wie besiegt ließ er es auf den
Tisch zu den andern sinken. Er fühlte plötzlich die Trockenheit seiner Lippen, schenkte
sich ein Glas Wasser ein aus einer Flasche, die auf dem Tisch stand; es schmeckte lau
und süßlich. Angewidert wandte er den Kopf nach der Seite; von der Wand, aus dem Spiegel
über der Kommode, starrte ihm ein bleiches, altes Gesicht entgegen mit wirrem, über die
Stirn fließendem Haar. In selbstquälerischer Lust ließ er seine Mundwinkel noch
schlaffer herabsinken, als gälte es, eine abgeschmackte Rolle auf dem Theater
durchzuführen, fuhr sich ins Haar, daß die Strähne noch ungeordneter fielen, streckte
seinem Spiegelbild die Zunge heraus, krächzte mit absichtlich heiserer Stimme eine Reihe
alberner Schimpfworte gegen sich selbst und blies endlich, wie ein ungezogenes Kind, die
Blätter seines Manuskriptes vom Tisch herunter. Dann begann er von neuem Marcolina zu
beschimpfen, und nachdem er sie mit den unflätigsten Worten bedacht, zischte er zwischen
den Zähnen: Denkst du, die Freude währt lang? Du wirst fett und runzlig und alt werden
wie die andern Weiber, die mit dir zugleich jung gewesen sind, – ein altes Weib mit
schlaffen Brüsten, mit trockenem grauen Haar, zahnlos und von üblem Duft ... und endlich
wirst du sterben! Auch jung kannst du sterben! Und wirst verwesen! Und Speise sein für
Würmer. – Um eine letzte Rache an ihr zu nehmen, versuchte er sich sie als Tote
vorzustellen. Er sah sie weiß gekleidet im offenen Sarge liegen, doch war er
unfähig, irgendwelche Zeichen der Zerstörung an ihr zu denken; sondern ihre wahrhaft
überirdische Schönheit brachte ihn in neue Raserei. Vor seinen geschlossenen Augen wurde
der Sarg zum Brautbett; Marcolina lag lächelnd da mit blinzelnden Lidern, und mit ihren
schmalen, bleichen Händen, wie zum Hohn, über ihren zarten Brüsten zerriß sie das weiße
Gewand. Doch wie er seine Arme nach ihr ausstreckte, sich auf sie stürzen, sie umfangen
wollte, zerfloß die Erscheinung in nichts. – Es klopfte an die Tür; er fuhr aus dumpfem
Schlaf empor, Olivo stand vor ihm. »Wie, schon am Schreibtisch?« – »Es ist meine
Gewohnheit,« erwiderte Casanova sofort gefaßt, »der Arbeit die ersten Morgenstunden zu
widmen. Wie spät mag es sein?« – »Acht Uhr,« erwiderte Olivo, »das Frühstück steht im
Garten bereit; sobald Sie befehlen, Chevalier, wollen wir unsere Fahrt nach dem Kloster
antreten. Doch ich sehe, der Wind hat Ihnen die Blätter verstreut!« Und er machte sich
daran, die Papiere vom Fußboden aufzulesen. Casanova ließ es geschehen, denn er war ans
Fenster getreten und erblickte, um den Frühstückstisch gereiht, den man auf die Wiese in
den Schatten des Hauses gestellt hatte, alle weiß gekleidet, Amalia, Marcolina und die
drei kleinen Mädchen. Sie riefen ihm einen Morgen grüß zu. Er sah nur Marcolina, sie
lächelte freundlich zu ihm auf mit hellen Augen, hielt einen Teller mit frühgereiften
Trauben auf dem Schoß und steckte eine Beere nach der andern in den Mund. Alle
Verachtung, aller Zorn, aller Haß schmolz in Casanovas Herzen dahin; er wußte nur mehr,
daß er sie liebte. Wie trunken von ihrem Anblick zog er sich wieder ins Zimmer zurück,
wo Olivo, noch immer auf dem Fußboden kniend, die verstreuten Blätter unter Tisch und
Kommode hervorsuchte, verbat sich dessen weitere Bemühungen und wünschte allein gelassen
zu werden, um sich für die Spazierfahrt fertigzumachen. »Es eilt nicht,« sagte Olivo und
streifte den Staub von seinen Beinkleidern, »wir sind zum Mittagessen bequem zurück.
Übrigens hat der Marchese bitten lassen, daß wir mit dem Spiel heute schon in früher
Nachmittagsstunde beginnen; offenbar liegt ihm daran, vor Sonnenuntergang zu Hause zu
sein.« »Mir ist es ziemlich gleichgültig, wann das Spiel beginnt,« sagte Casanova,
während er seine Blätter in die Mappe ordnete, »ich werde mich keineswegs daran
beteiligen.« »Sie werden«, erklärte Olivo mit einer Entschiedenheit, die sonst nicht
seine Art war, und legte eine Rolle von Goldstücken auf den Tisch. »Meine Schuld,
Chevalier, spät, doch aus dankerfülltem Herzen.« Casanova wehrte ab. »Sie müssen,«
beteuerte Olivo, »wenn Sie mich nicht aufs tiefste beleidigen wollen; überdies hat
Amalia heute nacht einen Traum gehabt, der Sie veranlassen wird – doch den soll sie
Ihnen selbst erzählen.« Und er verschwand eiligst. Casanova zählte immerhin die
Goldstücke; es waren hundertfünfzig, genau die Summe, die er vor fünfzehn Jahren dem
Bräutigam oder der Braut oder ihrer Mutter – er wußte es selbst nicht mehr recht – zum
Geschenk gemacht hatte. Das Vernünftigste wäre, sagte er zu sich, ich steckte das Geld
ein, nähme Abschied und verließe das Haus, womöglich ohne Marcolina noch einmal zu
sehen. Doch hab' ich je das Vernünftige getan? – Und ob nicht indes eine Nachricht aus
Venedig gekommen ist? ... Zwar hat meine vortreffliche Wirtin versprochen, sie mir
unverzüglich nachzusenden ...
Die Magd hatte indes einen großen irdenen Krug mit quellkaltem Wasser heraufgebracht,
und Casanova wusch sich den ganzen Leib, was ihn sehr erfrischte; dann legte er sein
besseres, eine Art von Staatsgewand an, wie er es schon gestern abend getan hätte, wenn
er nur Zeit gefunden, die Kleidung zu wechseln; doch war er's nun ganz zufrieden, daß er
heute in vornehmerer Tracht als am vergangenen Tag, ja gewissermaßen in einer neuen
Gestalt vor Marcolina erscheinen durfte.
In einem Rock von grauer Glanzseide mit Stickereien und breiten spanischen
Silberspitzen, in gelber Weste und kirschroten seidenen Beinkleidern, in edler, dabei
nicht geradezu stolzer Haltung, mit einem zwar überlegenen aber liebenswürdigen Lächeln
um die Lippen, und das Auge wie im Feuer unverlöschlicher Jugend strahlend, so trat er
in den Garten, wo er zu seiner Enttäuschung vorerst nur Olivo vorfand, der ihn einlud,
neben ihm am Tische Platz und mit dem bescheidenen Frühmahl vorlieb zu nehmen. Casanova
erlabte sich an Milch, Butter, Eiern, Weißbrot und dann noch an Pfirsichen und Trauben,
die ihm köstlicher dünkten als irgendwelche, die er jemals genossen. Die drei Mädchen
kamen über den Rasen herbeigelaufen, Casanova küßte sie alle, und der Dreizehnjährigen
erwies er kleine Liebkosungen in der Art, wie sie sich gestern solche auch vom Abbate
hatte gefallen lassen; doch die Funken, die in ihren Augen aufglimmten, waren, wie
Casanova wohl erkannte, von einer andern Lust als der an einem kindisch-harmlosen Spiel
entzündet. Olivo hatte seine Freude daran, wie gut der Chevalier mit den Kindern
umzugehen verstünde. »Und Sie wollen uns wirklich schon morgen wieder verlassen?« fragte
er schüchtern-zärtlich. – »Heute abend«, sagte Casanova, aber mit einem scherzhaften
Blinzeln. »Sie wissen ja, mein bester Olivo, die Senatoren von Venedig –« »Haben es
nicht um Sie verdient«, unterbrach ihn Olivo lebhaft. »Lassen Sie sie warten. Bleiben
Sie bei uns bis übermorgen, nein, eine Woche lang.« Casanova schüttelte langsam den
Kopf, während er die kleine Teresina bei den Händen gefaßt und zwischen seinen Knien wie
gefangen hielt. Sie entwand sich ihm sanft mit einem Lächeln, das nun gar nichts
Kindliches mehr hatte, als Amalia und Marcolina aus dem Hause traten, jene mit einem
schwarzen, diese mit einem weißen Schaltuch über den hellen Gewändern. Olivo forderte
sie beide auf, ihre Bitten mit der seinigen zu vereinen. »Es ist unmöglich«, sagte
Casanova mit einer übertriebenen Härte in Stimme und Ausdruck, da weder Amalia noch
Marcolina ein Wort fanden, Olivos Einladung zu unterstützen.
Während sie durch die Kastanienallee dem Tore zuschritten, richtete Marcolina an
Casanova die Frage, ob er heute nacht seine Arbeit, über der ihn Olivo, wie er gleich
erzählt, noch am hellen Morgen wach gefunden, beträchtlich gefördert habe? Schon
gedachte Casanova ihr eine zweideutig-boshafte Antwort zu geben, die sie stutzig gemacht
hätte, ohne ihn doch selbst zu verraten; aber er zügelte seinen Witz in der Erwägung,
daß jede Voreiligkeit von Übel sein könnte, und erwiderte höflich, daß er nur einige
Änderungen angebracht habe, zu denen er die Anregung der gestrigen Unterhaltung mit ihr
verdanke. Sie stiegen in den unförmlichen, schlechtgepolsterten, aber sonst bequemen
Wagen. Casanova saß Marcolinen, Olivo seiner Gattin gegenüber; doch das Gefährt war so
geräumig, daß es trotz des Hinundherrüttelns zu keiner ungewollten Berührung zwischen
den Insassen kommen konnte. Casanova bat Amalia, ihm ihren Traum zu erzählen. Sie
lächelte ihn freundlich, fast gütig an; jede Spur von Gekränktheit oder Groll war aus
ihren Zügen verschwunden. Dann begann sie: »Ich sah Sie, Casanova, in einem herrlichen,
mit sechs dunklen Pferden bespannten Wagen vor einem hellen Gebäude vorfahren. Vielmehr:
der Wagen hielt an und ich wußte noch nicht, wer drin saß – da stiegen Sie aus, in einem
prächtigen, weißen, goldgestickten Staatsgewand, fast noch prächtiger anzuschaun, als
Sie heute angetan sind – (es war ein freundlicher Spott in ihren Mienen) – und Sie
trugen – wahrhaftig, die gleiche schmale Goldkette trugen Sie, die Sie heute tragen, und
die ich doch wahrlich niemals noch an Ihnen gesehen habe! (Diese Kette mit der
goldenen Uhr und eine mit Halbedelsteinen besetzte goldne Dose, die Casanova eben wie
spielend in der Hand hielt, waren die letzten Schmuckstücke von mäßigem Wert, die er
sich zu bewahren gewußt hatte.) – Ein alter, bettelhaft aussehender Mann öffnete den
Wagenschlag – es war Lorenzi; Sie aber, Casanova, Sie waren jung, ganz jung, noch
jünger, als Sie damals gewesen sind. – (Sie sagte ›damals‹, unbekümmert darum, daß aus
diesem Worte flügelrauschend all ihre Erinnerungen geflattert kamen.) Sie grüßten nach
allen Seiten, obwohl weit und breit kein Mensch zu sehen war, und traten durch das Tor;
es schlug heftig hinter Ihnen zu, ich wußte nicht, ob es der Sturm zugeschleudert oder
Lorenzi; – so heftig, daß die Pferde scheuten und mit dem Wagen davonrasten. Nun hörte
ich ein Geschrei aus Nebengassen, wie von Menschen, die sich zu retten suchen, das
verstummte gleich. Sie aber erschienen an einem Fenster des Hauses, ich wußte jetzt, daß
es ein Spielhaus war, und grüßten herab nach allen Seiten, und es war doch niemand da.
Dann wandten Sie sich über Ihre Schulter nach rückwärts, als stände irgendwer hinter
Ihnen im Zimmer; aber ich wußte, daß auch dort niemand war. Nun erblickte ich Sie
plötzlich an einem andern Fenster, in einem höhern Stockwerk, wo genau dasselbe vor sich
ging, dann wieder höher, und wieder, es war, als wüchse das Gebäude ins Unendliche; und
von überall grüßten Sie herunter und sprachen mit Menschen, die hinter Ihnen standen,
aber doch eigentlich gar nicht da waren. Lorenzi aber lief immerfort auf den Treppen
Ihnen nach, ohne Sie einzuholen. Sie hatten nämlich nicht daran gedacht, ihm ein Almosen
zu geben ...«
»Nun?« fragte Casanova, als Amalia schwieg. – »Es kam wohl noch allerlei, aber ich hab'
es vergessen«, sagte Amalia. Casanova war enttäuscht; an ihrer Stelle hätte er, wie er
es in solchen Fällen, ob es sich nun um Träume handelte oder um Wirklichkeiten, immer
tat, der Erzählung eine Abrundung, einen Sinn zu geben versucht, und so bemerkte er nun
etwas unzufrieden: »Wie der Traum doch alles verkehrt. – Ich – als reicher Mann und
Lorenzi als Bettler und alter Mann.« – »Mit Lorenzis Reichtum,« sagte Olivo, »ist es
nicht weit her; sein Vater ist zwar ziemlich begütert, aber er steht mit dem Sohne nicht
zum besten.« – Und ohne sich mit Fragen weiter bemühen zu müssen, erfuhr Casanova, daß
man des Leutnants Bekanntschaft dem Marchese verdanke, der ihn vor wenigen Wochen eines
Tages einfach in Olivos Haus mitgebracht habe. Wie der junge Offizier mit der
Marchesa stünde, das müsse man einem Kenner, wie dem Chevalier, nicht erst ausdrücklich
zu verstehen geben; da übrigens der Gatte nichts dagegen einzuwenden finde, könne man
sich als Unbeteiligter gleichfalls dabei beruhigen.
»Ob der Marchese so einverstanden ist, wie Sie zu glauben scheinen, Olivo«, sagte
Casanova, »möchte ich bezweifeln. Haben Sie nicht bemerkt, mit welchem Gemisch von
Verachtung und Grimm er den jungen Menschen behandelt? Ich möchte nicht darauf schwören,
daß die Sache ein gutes Ende nimmt.«
Auch jetzt rührte sich nichts in Marcolinens Antlitz und Haltung. Sie schien an dem
ganzen Gespräch über Lorenzi nicht den geringsten Anteil zu nehmen und sich still am
Anblick der Landschaft zu erfreuen. Man fuhr eine in zahlreichen Windungen sanft
ansteigende Straße durch einen Wald von Oliven und Steineichen; und da man eben an eine
Stelle kam, wo die Pferde noch langsamer trotteten als vorher, zog es Casanova vor,
auszusteigen und neben dem Gefährt einherzugehen. Marcolina sprach von der schönen
Umgebung Bolognas und von den Abendspaziergängen, die sie mit der Tochter des Professors
Morgagni zu unternehmen pflegte. Auch erwähnte sie der Absicht, nächstes Jahr nach
Frankreich zu reisen, um den berühmten Mathematiker Saugrenue von der Pariser
Universität, mit dem sie in Korrespondenz stehe, persönlich kennenzulernen. »Vielleicht
mache ich mir das Vergnügen,« sagte sie lächelnd, »mich auf dem Weg in Ferney
aufzuhalten, um aus Voltaires eigenem Mund zu erfahren, wie er die Streitschrift seines
gefährlichsten Widersachers, des Chevaliers von Seingalt, aufgenommen.« Casanova, die
Hand auf der Seitenlehne des Wagens, neben Marcolinens Arm, dessen sich bauschende Hülle
seine Finger streifte, erwiderte kühl: »Es wird sich weniger darum handeln, wie Herr
Voltaire, als vielmehr wie die Nachwelt meine Schrift aufnimmt; denn diese erst wird ein
Recht darauf haben, die endgültige Entscheidung zu treffen.« – »Sie glauben,« meinte
Marcolina ernsthaft, »daß in den Fragen, die hier zur Sprache stehen, überhaupt
endgültige Entscheidungen gefällt werden können?« – »Diese Frage wundert mich aus Ihrem
Munde, Marcolina, deren philosophische, und wenn das Wort hier angebracht erscheint,
religiöse Ansichten mir zwar keineswegs an sich unbestreitbar, aber doch in Ihrer Seele
– falls Sie eine solche als vorhanden annehmen – vollkommen fest gegründet schienen.« –
Marcolina, der Spitzen in Casanovas Rede nicht achtend, sah ruhig zum Himmel auf,
der sich in dunkler Bläue über die Wipfel der Bäume breitete, und erwiderte: »Manchmal,
besonders an Tagen wie heute,« – und in diesem Wort klang nur für Casanova, den
Wissenden, aus den Tiefen ihres erwachten Frauenherzens eine bebende Andacht mit – »ist
mir, als wäre all das, was man Philosophie und Religion nennt, nur ein Spiel mit Worten,
edler freilich, doch auch sinnloser, als alle andern sind. Die Unendlichkeit und die
Ewigkeit zu erfassen wird uns immer versagt sein; unser Weg geht von der Geburt zum
Tode; was bleibt uns übrig, als nach dem Gesetz zu leben, das jedem von uns in die Brust
gesenkt ist – oder auch wider das Gesetz? Denn Auflehnung wie Demut kommen gleichermaßen
von Gott.«
Olivo sah auf seine Nichte mit scheuer Bewunderung, dann ängstlich zu Casanova hin, der
nach einer Entgegnung suchte, mit der er Marcolinen klarmachen könnte, daß sie Gott
sozusagen in einem Atemzug bewies und leugnete, – oder daß Gott und Teufel für sie eines
seien; – aber er spürte, daß er gegen ihr Gefühl nichts andres einzusetzen hatte als
leere Worte, – und nicht einmal die boten sich ihm heute dar. Doch der sonderbar sich
verzerrende Ausdruck seiner Mienen schien in Amalia die Erinnerung an seine wirren
Drohungen von gestern wieder aufzuwecken, und sie beeilte sich zu bemerken: »Und doch
ist Marcolina fromm, glauben Sie mir, Chevalier.« – Marcolina lächelte verloren. »Wir
sind es alle in unsrer Weise«, sagte Casanova höflich und sah vor sich hin.
Eine plötzliche Biegung des Wegs, und das Kloster lag vor ihnen. Über die hohe
Umfassungsmauer ragten die schlanken Enden der Zypressen. Auf das Geräusch des
heranrollenden Wagens hatte sich das Tor aufgetan, ein Pförtner mit langem weißen Barte
grüßte andächtig und ließ die Gäste ein. Durch einen offenen Bogengang, zwischen dessen
Säulen man beiderseits in einen ganz verwachsenen, dunkelgrünen Garten sah, näherten sie
sich dem eigentlichen Klostergebäude, von dessen grauen, völlig schmucklosen,
gefängnisartigen Mauern eine unfreundlich-kühle Luft über sie geweht kam. Olivo zog an
dem Glockenstrang, es tönte schrill und verhallte sofort, eine tiefverschleierte Nonne
öffnete schweigend und geleitete die Gäste in den geräumigen kahlen Sprechsaal, in dem
nur ein paar einfache hölzerne Stühle standen. Nach rückwärts war er durch ein
dickstäbiges Eisengitter abgeschlossen, jenseits dessen der Raum in ein unbestimmtes
Dunkel verschwamm. Bitternis im Herzen, dachte Casanova jenes Abenteuers, das ihm
auch heute noch eines seiner wunderbarsten dünkte und das in ganz ähnlicher Umgebung
seinen Anfang genommen: in seiner Seele stiegen die Gestalten der zwei Nonnen von Murano
auf, die in der Liebe für ihn als Freundinnen sich gefunden und ihm gemeinsam
unvergleichliche Stunden der Lust geschenkt hatten. Und als Olivo im Flüsterton von der
strengen Zucht zu sprechen anhub, in der hier die Schwestern gehalten seien, die, einmal
eingekleidet, ihr Antlitz unverhüllt vor keinem Manne zeigen dürften und überdies zu
ewigem Schweigen verurteilt wären, zuckte um seine Lippen ein Lächeln, das gleich wieder
erstarrte.
Die Äbtissin stand in ihrer Mitte, wie aus dem Dämmer hervorgetaucht. Stumm begrüßte sie
die Gäste: mit einem über alle Maßen gütigen Neigen des verhüllten Hauptes nahm sie
Casanovas Dank für den auch ihm gewährten Einlaß entgegen; Marcolina aber, die ihr die
Hand küssen wollte, schloß sie in die Arme. Dann lud sie alle durch eine Handbewegung
ein, ihr zu folgen, und führte sie durch einen kleinen Nebenraum in einen Gang, der im
Viereck rings um einen blühenden Garten lief. Im Gegensatz zu jenem äußeren verwilderten
schien er mit besondrer Sorgfalt gepflegt, und die vielen reichen sonnbeglänzten Beete
spielten in wundersamen aufgeglühten und verklingenden Farben. Den heißen, fast
betäubenden Düften aber, die den Blütenkelchen entströmten, schien ein ganz besonders
geheimnisvoller beigemischt, für den Casanova in seiner Erinnerung keinen Vergleich zu
finden wußte. Doch wie er eben zu Marcolina hiervon ein Wort sagen wollte, merkte er,
daß dieser geheimnisvolle, herz- und sinnerregende Duft von ihr selber ausging, die den
Schal, den sie bisher über den Schultern getragen, über den Arm gelegt hatte, so daß aus
dem Ausschnitt ihrer nun loser gewordenen Gewandung aufsteigend der Duft ihres Leibes
sich dem der hunderttausend Blumen wie ein von Natur verwandter und doch eigentümlicher
beigesellte. Die Äbtissin, immer stumm, führte die Besucher zwischen den Beeten auf
schmalen, vielfach gewundenen Wegen, wie durch ein zierliches Labyrinth hin und her; in
der Leichtigkeit und Raschheit ihres Ganges war die Freude zu merken, die sie selbst
daran empfand, den andern die bunte Pracht ihres Gartens zu weisen; – und als hätte
sie's drauf angelegt, sie schwindlig zu machen, wie die Führerin eines heiteren
Reigentanzes, schritt sie, immer eiliger, ihnen voran. Plötzlich aber – Casanova war es
zumute, als wachte er aus einem wirren Traume auf – fanden sie sich alle im
Sprechsaal wieder. Jenseits des Gitters schwebten dunkle Gestalten; niemand hätte zu
unterscheiden vermocht, ob es drei oder fünf oder zwanzig verschleierte Frauen waren,
die hinter den dichtgestellten Stäben wie aufgescheuchte Geister hin und her irrten; und
nur Casanovas nachtscharfes Auge war imstande, in der tiefen Dämmerung überhaupt
menschliche Umrisse zu erkennen. Die Äbtissin geleitete ihre Gäste zur Tür, gab ihnen
stumm das Zeichen, daß sie entlassen seien, und war spurlos verschwunden, ehe jene nur
Zeit gefunden hatten, ihr den schuldigen Dank auszusprechen. Plötzlich, als sie eben den
Saal verlassen wollten, erklang es aus der Gegend des Gitters her von einer Frauenstimme
– »Casanova« – nichts als der Name, doch mit einem Ausdruck, wie ihn Casanova noch
niemals gehört zu haben vermeinte. Ob eine Einstmalsgeliebte, – ob eine Niemalsgeschaute
eben ein heiliges Gelübde gebrochen, um ein letztes, – oder ein erstes Mal seinen Namen
in die Luft zu hauchen; – ob darin die Seligkeit eines unerwarteten Wiedersehens, der
Schmerz um unwiederbringlich Verlorenes oder die Klage gezittert, daß ein heißer Wunsch
aus fernen Tagen sich so spät und nutzlos erfüllte, – Casanova vermochte es nicht zu
deuten; nur dies eine wußte er, daß sein Name, so oft Zärtlichkeit ihn geflüstert,
Leidenschaft ihn gestammelt, Glück ihn gejubelt hatte, heute zum erstenmal mit dem
vollen Klang der Liebe an sein Herz gedrungen war. Doch eben darum schien jede weitere
Neugier ihm unlauter und sinnlos; – und hinter einem Geheimnis, das er nimmer enträtseln
sollte, schloß sich die Tür. Hätten nicht die andern durch Blicke sich scheu und
flüchtig zu verstehen gegeben, daß auch sie den gleich wieder verhallten Ruf gehört, so
hätte jeder für seinen Teil an eine Sinnestäuschung glauben können; denn keiner sprach
ein Wort, während sie durch den Säulengang dem Tore zuschritten. Casanova aber folgte
als letzter, mit geneigtem Haupt, wie von einem großen Abschied. –
Der Pförtner stand am Tor, empfing sein Almosen, und die Gäste stiegen in den Wagen, der
sie ohne weiteren Verzug heimwärts führte. Olivo schien verlegen, Amalia entrückt,
Marcolina jedoch völlig unberührt; und allzu absichtlich, wie es Casanova dünkte,
versuchte sie mit Amalia ein Gespräch über Angelegenheiten der Hauswirtschaft
einzuleiten, das aber Olivo an Stelle seiner Gattin aufnehmen mußte. Bald nahm auch
Casanova daran teil, der sich auf Fragen, die Küche und Keller betrafen, vortrefflich
verstand, und keinen Anlaß sah, mit seinen Kenntnissen und Erfahrungen auch auf
diesem Gebiet, wie zu einem neuen Beweis seiner Vielseitigkeit, zurückzuhalten. Nun
wachte auch Amalia aus ihrer Versonnenheit auf; nach dem fast märchenhaften und doch
beklemmenden Abenteuer, aus dem sie eben emporgetaucht waren, schienen sich alle,
besonders aber Casanova, in so irdisch alltäglicher Atmosphäre vorzüglich zu behagen,
und als der Wagen vor Olivos Hause hielt, aus dem ihnen schon einladend der Geruch von
Braten und allerlei Gewürzen entgegenströmte, war Casanova gerade in der äußerst
appetitreizenden Schilderung eines polnischen Pastetengerichts begriffen, der auch
Marcolina mit einer liebenswürdig-hausfraulichen, von Casanova als schmeichelhaft
empfundenen Teilnahme zuhörte.
In einer seltsam beruhigten, beinahe vergnügten Stimmung, über die er selbst verwundert
war, saß er dann mit den andern bei Tische und machte Marcolinen in einer scherzhaft
aufgeräumten Weise den Hof, wie es sich etwa für einen vornehmen altern Herrn einem
wohlerzogenen jungen Mädchen aus bürgerlichem Hause gegenüber schicken mochte. Sie ließ
es sich gern gefallen und gab ihm seine Artigkeiten mit vollendeter Anmut zurück. Ihm
machte es ebenso große Mühe, sich vorzustellen, daß seine gesittete Nachbarin dieselbe
Marcolina war, aus deren Fenster er heute nacht einen jungen Offizier hatte flüchten
sehen, der offenbar noch in der Sekunde vorher in ihren Armen gelegen war, – als es ihm
schwer fiel, anzunehmen, daß dieses zarte Fräulein, das sich mit andern kaum erwachsenen
Mädchen im Gras herumzuwälzen liebte, eine gelehrte Korrespondenz mit dem berühmten
Saugrenue in Paris unterhielt; und er schalt sich zugleich ob dieser lächerlichen
Trägheit seiner Phantasie. Hatte er nicht schon unzählige Male erfahren, daß in jedes
wahrhaft lebendigen Menschen Seele nicht nur verschiedene, daß sogar scheinbar
feindliche Elemente auf die friedlichste Weise darin zusammenwohnten? Er selbst, vor
kurzem noch ein im tiefsten aufgewühlter, ein verzweifelter, ja ein zu bösem Tun
bereiter Mann; – war er jetzt nicht sanft, gütig und zu so lustigen Späßchen aufgelegt,
daß die kleinen Töchter Olivos sich manchmal vor Lachen schüttelten? Nur an seinem ganz
außerordentlichen Hunger, der ihn immer nach starken Aufregungen zu überfallen pflegte,
erkannte er selbst, daß die Ordnung in seiner Seele noch keineswegs völlig hergestellt
war.
Mit dem letzten Gang zugleich brachte die Magd ein Schreiben, das ein Bote aus Mantua
soeben für den Chevalier abgegeben hätte. Olivo, der merkte, wie Casanova vor
Aufregung erblaßte, gab Auftrag, dem Boten Speise und Trank zu reichen, dann wandte er
sich an seinen Gast mit den Worten: »Lassen Sie sich nicht stören, Chevalier, lesen Sie
ruhig Ihren Brief.« – »Mit Ihrer Erlaubnis«, erwiderte Casanova, erhob sich, mit einer
leichten Verneigung, vom Tisch, trat ans Fenster und öffnete das Schreiben mit gut
gespielter Gleichgültigkeit. Es kam von Herrn Bragadino, seinem väterlichen Freund aus
Jugendtagen, einem alten Hagestolz, der, nun über achtzig und vor zehn Jahren Mitglied
des Hohen Rats geworden, Casanovas Sache in Venedig mit mehr Eifer als die andern Gönner
zu führen schien. Der Brief, ausnehmend zierlich, nur von etwas zittriger Hand
geschrieben, lautete wörtlich:
»Mein lieber Casanova. Heute endlich befinde ich mich in der angenehmen Lage, Ihnen eine
Nachricht zu senden, die, wie ich hoffe, in der Hauptsache Ihren Wünschen gerecht werden
dürfte. Der Hohe Rat hat sich in seiner letzten Sitzung, die gestern abend stattfand,
nicht nur bereit erklärt, Ihnen die Rückkehr nach Venedig zu gestatten, sondern wünscht
sogar, daß Sie diese Ihre Rückkehr tunlichst beschleunigen, da beabsichtigt wird, die
tätige Dankbarkeit, die Sie in zahlreichen Briefen in Aussicht gestellt haben, baldigst
in Anspruch zu nehmen. Wie Ihnen vielleicht nicht bekannt ist, mein lieber Casanova (da
wir ja Ihre Gegenwart so lange entbehren mußten), haben sich die innern Verhältnisse
unsrer teuern Vaterstadt im Laufe der letzten Zeit sowohl in politischer als auch in
sittlicher Hinsicht einigermaßen bedenklich gestaltet. Geheime Verbindungen bestehen,
die gegen unsre Staatsverfassung gerichtet sind, ja einen gewaltsamen Umsturz zu planen
scheinen, und wie es in der Natur der Dinge liegt, sind es vor allem gewisse
freigeistige, irreligiöse und in jedem Sinne zuchtlose Elemente, die an diesen
Verbindungen, die man mit einem härteren Worte auch Verschwörungen nennen könnte, in
hervorragendem Maße teilhaben. Auf öffentlichen Plätzen, in den Kaffeehäusern, von
Privatörtlichkeiten gar nicht zu reden, werden, wie uns bekannt ist, die
ungeheuerlichsten, ja geradezu hochverräterische Unterhaltungen geführt; aber nur in den
seltensten Fällen gelingt es, die Schuldigen auf frischer Tat zu ertappen oder ihnen
etwas Sicheres nachzuweisen, da gerade gewisse, auf der Folter erzwungene Geständnisse
sich als so unzuverlässig erwiesen haben, daß einige Mitglieder unsres Hohen Rats sich
dafür aussprachen, in Hinkunft von einer solchen grausamen und dabei oft irreführenden
Untersuchungsmethode lieber abzusehen. Zwar ist kein Mangel an Leuten, die sich
gern in den Dienst der Regierung stellen, zum Besten der öffentlichen Ordnung und des
Staatswohls; aber gerade von diesen Leuten sind die meisten als gesinnungstüchtige
Anhänger der bestehenden Verfassung zu sehr bekannt, als daß man sich in ihrer Gegenwart
so leicht zu einer unvorsichtigen Bemerkung oder gar zu hochverräterischen Reden
hinreißen ließe. Nun wurde von einem der Senatoren, den ich vorläufig nicht nennen will,
in der gestrigen Sitzung die Ansicht ausgesprochen, daß jemand, dem der Ruf eines Mannes
ohne sittliche Grundsätze und überdies der Ruf eines Freigeistes voranginge – kurzum,
daß ein Mensch wie Sie, Casanova, sobald er sich in Venedig wieder zeigte, zweifellos
gerade in den verdächtigen Kreisen, von denen hier die Rede ist, sofortiger Sympathie
und – bei einiger Geschicklichkeit von seiner Seite – bald einem rückhaltlosen Vertrauen
begegnen müßte. Ja meines Erachtens würden sich mit Notwendigkeit, wie nach dem Walten
eines Naturgesetzes, gerade diejenigen Elemente um sie versammeln, an deren
Unschädlichmachung und exemplarischer Bestrafung dem Hohen Rat in seiner unermüdlichen
Sorge um das Wohl des Staates am meisten gelegen ist, und so würden wir es nicht nur als
einen Beweis Ihres patriotischen Eifers, mein lieber Casanova, sondern auch als ein
untrügliches Zeichen Ihrer vollkommenen Abkehr von all jenen Tendenzen betrachten, die
Sie seinerzeit unter den Bleidächern zwar hart, doch, wie auch Sie heute einsehen (wenn
wir Ihren brieflichen Versicherungen glauben dürfen), nicht ganz ungerecht büßen mußten,
– wenn Sie sich bereit fänden, in dem oben angedeuteten Sinne sofort nach Ihrer Heimkehr
bei den nun genügend gekennzeichneten Elementen Anschluß zu suchen, sich ihnen in
freundschaftlicher Weise zuzugesellen, wie einer, der den gleichen Tendenzen huldigt,
und von allem, was Ihnen verdächtig oder sonstwie wissenswürdig erschiene, dem Senat
unverzüglichen und eingehenden Bericht zu erstatten. Für diese Dienste wäre man geneigt,
Ihnen fürs erste einen monatlichen Gehalt von zweihundertfünfzig Lire auszusetzen,
abgesehen von Extragratifikationen in einzelnen besonders wichtigen Fällen, sowie Ihnen
natürlich auch alle Ihnen in Ausübung Ihres Dienstes erwachsenden Kosten (als da sind
Freihalten des einen oder andern Individuums, kleine Geschenke an Frauenspersonen usw.)
ohne Bedenklichkeit und Knickerei ersetzt würden. Ich verhehle mir keineswegs, daß Sie
gewisse Skrupel werden niederzukämpfen haben, ehe Sie sich in dem von uns
gewünschten Sinne entscheiden sollten; aber erlauben Sie mir als Ihrem alten und
aufrichtigen Freunde (der auch einmal jung gewesen ist), Ihnen zur Erwägung zu geben,
daß es niemals als unehrenhaft gelten kann, seinem geliebten Vaterlande irgendeinen für
dessen gesichertes Weiterbestehen notwendigen Dienst zu erweisen, auch wenn es ein
Dienst von einer Art wäre, wie sie dem oberflächlich und nicht patriotisch denkenden
Bürger als minder würdig zu erscheinen pflegen. Auch möchte ich noch hinzufügen, daß
Sie, Casanova, ja Menschenkenner genug sind, um den Leichtfertigen vom Verbrecher oder
den Spötter vom Ketzer zu unterscheiden; und so werden Sie selbst es in der Hand haben,
in berücksichtigungswerten Fällen Gnade vor Recht ergehen zu lassen, und immer nur
denjenigen der Strafe zuzuführen, dem eine solche Ihrer eigenen Überzeugung nach
gebührt. Vor allem aber bedenken Sie, daß die Erfüllung Ihres sehnlichsten Wunsches –
Ihre Rückkehr in die Vaterstadt – wenn Sie den gnädigen Vorschlag des Hohen Rates
ablehnen sollten, auf lange, ja, wie; ich fürchte, auf unabsehbare Frist hinausgeschoben
wäre, und daß ich selbst, wenn ich auch das hier erwähnen darf, als
einundachtzigjähriger Greis nach aller menschlicher Berechnung auf die Freude verzichten
müßte, Sie jemals in meinem Leben wiederzusehen. Da Ihre Anstellung aus begreiflichen
Gründen nicht so sehr einen öffentlichen als einen vertraulichen Charakter tragen soll,
bitte ich Sie, Ihre Antwort, die ich mich anheischig mache, dem Hohen Rate in der
nächsten, heute über acht Tage stattfindenden Sitzung mitzuteilen, an mich persönlich zu
adressieren; und zwar mit möglichster Beschleunigung, da, wie ich schon oben andeutete,
täglich Gesuche von zum Teil höchst vertrauenswürdigen Personen an uns gelangen, die
sich dem Hohen Rat aus Liebe zum Vaterland freiwillig zur Verfügung stellen. Freilich
gibt es kaum einen unter diesen, der es an Erfahrung und Geist mit Ihnen, mein lieber
Casanova, aufzunehmen imstande wäre; und wenn Sie zu alldem noch meine Sympathie für Sie
ein wenig in Betracht ziehen, so kann ich kaum daran zweifeln, daß Sie dem Rufe, der von
so hoher und wohlgeneigter Stelle an Sie ergeht, freudig Folge leisten werden. Bis dahin
bin ich in unveränderlicher Freundschaft Ihr anhänglicher Bragadino.
Nachschrift. Es wird mir angenehm sein, Ihnen sofort nach Ankündigung Ihres Entschlusses
einen Wechsel im Betrage von zweihundert Lire auf das Bankhaus Valori in Mantua zur
Bestreitung der Reisekosten auszustellen. Der Obige.«
Casanova hatte längst zu Ende gelesen, aber noch immer hielt er das Blatt vors
Gesicht, um die Totenblässe seiner verzerrten Züge nicht merken zu lassen. Das Geräusch
des Mahles mit Tellergeklapper und Gläsergeklirr ging indes weiter, doch niemand sprach
ein Wort. Endlich ließ sich Amalia schüchtern vernehmen: »Die Schüssel wird kalt,
Chevalier, wollen Sie sich nicht bedienen?« – »Ich danke«, sagte Casanova und ließ sein
Antlitz wieder sehen, dem er nun dank seiner außerordentlichen Verstellungskunst einen
ruhigen Ausdruck zu verleihen vermocht hatte. »Es sind vortreffliche Nachrichten, die
ich hier aus Venedig erhalten habe, und ich muß unverzüglich meine Antwort absenden. Ich
bitte daher um Entschuldigung, wenn ich mich sofort zurückziehe.« – »Tun Sie ganz nach
Ihrem Belieben, Chevalier«, sagte Olivo. »Aber vergessen Sie nicht, daß in einer Stunde
das Spiel beginnt.«
Casanova ging auf sein Zimmer, sank auf einen Stuhl, kalter Schweiß brach an seinem
ganzen Körper aus, Frost warf ihn hin und her, und der Ekel stieg ihm bis zum Halse
hinauf, so daß er glaubte, auf der Stelle ersticken zu müssen. Einen klaren Gedanken zu
fassen war er vorerst außerstande, und seine ganze Kraft verwandte er darauf, sich
zurückzuhalten, ohne daß er zu sagen gewußt hätte, wovor. Denn hier im Hause war ja
niemand, an dem er seinen ungeheuren Zorn hätte austoben können, und den dumpfen
Einfall, daß Marcolina irgendwie an der namenlosen Schmach mitschuldig sei, die ihm
widerfahren, vermochte er immerhin noch als Tollheit zu erkennen. Als er sich zur Not
gesammelt, war sein erster Gedanke, an den Schurken Rache zu nehmen, die geglaubt
hatten, ihn als Polizeispion dingen zu können. In irgendeiner Verkleidung wollte er sich
nach Venedig schleichen und all die Wichte auf listige Weise vom Leben zum Tode bringen
– oder wenigstens den einen, der den jämmerlichen Plan ausgeheckt hatte. War es etwa gar
Bragadino selbst? Warum nicht? Ein Greis – so schamlos geworden, daß er diesen Brief an
Casanova zu schreiben wagte, – so schwachsinnig, daß er Casanova – Casanova! den er doch
einst gekannt hatte – für einen Spion eben gut genug hielt! Ah, er kannte eben Casanova
nicht mehr! Niemand kannte ihn mehr, so wenig in Venedig als anderswo. Aber man sollte
ihn wieder kennen lernen. Er war freilich nicht mehr jung und schön genug, um ein
tugendhaftes Mädchen zu verführen – und kaum mehr gewandt und gelenkig genug, um aus
Kerkern zu entwischen und auf Dachfirsten zu turnen – aber klüger war er noch
immer als alle! Und wenn er nur einmal in Venedig war, so konnte er dort treiben und
lassen, was ihm beliebte; es kam nur darauf an, endlich dort zu sein! Dann war es
vielleicht gar nicht nötig, irgendwen umzubringen; es gab allerlei Arten von Rache,
witzigere, teuflischere, als eine gewöhnliche Mordtat wäre; und wenn man zum Schein etwa
den Antrag der Herren annahm, so war es die leichteste Sache von der Welt, gerade
diejenigen Leute zu verderben, die man verderben wollte, und nicht diejenigen, auf die
es der Hohe Rat abgesehen hatte und die unter allen Venezianern gewiß die allerbravsten
Kerle waren! Wie? Weil sie Feinde dieser niederträchtigen Regierung waren, weil sie als
Ketzer galten, sollten sie in dieselben Bleikammern, wo er vor fünfundzwanzig Jahren
geschmachtet, oder gar unters Beil? Er haßte die Regierung noch hundertmal mehr und mit
bessern Gründen als jene taten, und ein Ketzer war er sein Leben lang gewesen, war es
heute noch und mit heiligerer Überzeugung als sie alle! Er hatte sich ja selber nur eine
vertrackte Komödie vorgespielt in diesen letzten Jahren – aus Langeweile und Ekel. Er an
Gott glauben? Was war denn das für ein Gott, der nur den Jungen hold war und die Alten
im Stich ließ? Ein Gott, der sich, wann es ihm beliebte, zum Teufel wandelte, Reichtum
in Armut, Unglück in Glück und Lust in Verzweiflung kehrte? Hast du deinen Spaß mit uns
– und wir sollen zu dir beten? – An dir zweifeln ist das einzige Mittel, das uns bleibt
– dich nicht zu lästern! – Sei nicht! Denn, wenn du bist, so muß ich dir fluchen! Er
ballte die Fäuste zum Himmel, er reckte sich auf. Unwillkürlich drängte sich ein
verhaßter Name auf seine Lippen. Voltaire! Ja, nun war er in der rechten Verfassung,
seine Schrift gegen den alten Weisen von Ferney zu vollenden. Zu vollenden? Nein, nun
erst sollte sie begonnen werden. Eine neue! Eine andre! – in der der lächerliche Greis
hergenommen werden sollte, wie er es verdiente ... um seiner Vorsicht, seiner Halbheit,
seiner Kriecherei willen. Ein Ungläubiger der? Von dem man in der letzten Zeit immer
wieder hörte, daß er sich aufs trefflichste mit den Pfaffen stand und zur Kirche, an
Festtagen sogar zur Beichte ging? Ein Ketzer der? Ein Schwätzer, ein großsprecherischer
Feigling – nichts andres! Nun aber war die fürchterliche Abrechnung nah, nach der von
dem großen Philosophen nichts übrigbleiben sollte als ein kleines witziges
Schreiberlein. Wie hatte er sich aufgespielt, der gute Herr Voltaire ... »Ah, mein guter
Herr Casanova, ich bin Ihnen ernstlich böse. Was gehen mich die Werke des Herrn
Merlin an? Sie sind schuld, daß ich vier Stunden mit Dummheiten verbracht habe.« –
Geschmackssache, mein bester Herr Voltaire! Man wird die Werke Merlins noch lesen, wenn
die Pucelle längst vergessen ist ... und auch meine Sonette wird man möglicherweise dann
noch schätzen, die Sie mir mit einem so unverschämten Lächeln zurückgaben, ohne ein Wort
darüber zu äußern. Doch das sind Kleinigkeiten. Wir wollen eine große Angelegenheit
nicht durch schriftstellerische Empfindlichkeiten verwirren. Es handelt sich um die
Philosophie – um Gott ...! Wir wollen die Klingen kreuzen, Herr Voltaire, sterben Sie
mir nur gefälligst nicht zu früh.
Schon dachte er daran, seine Arbeit auf der Stelle zu beginnen, als ihm einfiel, daß der
Bote auf Antwort wartete. Und mit fliegender Hand entwarf er einen Brief an den alten
Dummkopf Bragadino, einen Brief voll geheuchelter Demut und verlogenen Entzückens: er
nehme die Gnade des Hohen Rats mit freudiger Dankbarkeit an und erwarte den Wechsel mit
wendender Post, um sich seinen Gönnern, vor allem seinem hochverehrten väterlichen
Freunde Bragadino sobald als möglich zu Füßen legen zu dürfen. Während er eben daran
war, den Brief zu versiegeln, klopfte es leise an die Tür; Olivos ältestes Töchterlein,
die Dreizehnjährige, trat ein und bestellte, daß die ganze Gesellschaft bereits
versammelt sei und den Chevalier mit Ungeduld zum Spiel erwarte. In ihren Augen glimmte
es sonderbar, ihre Wangen waren gerötet, das frauenhaft dichte Haar spielte
bläulichschwarz um ihre Schläfen; der kindliche Mund war halb geöffnet: »Hast du Wein
getrunken, Teresina?« fragte Casanova und machte einen langen Schritt auf sie zu. –
»Wahrhaftig – und der Herr Chevalier merken das gleich?« Sie wurde noch röter, und wie
in Verlegenheit strich sie sich mit der Zunge über die Unterlippe. Casanova packte sie
bei den Schultern, hauchte ihr seinen Atem ins Gesicht, zog sie mit sich, warf sie aufs
Bett; sie sah ihn mit großen, hilflosen Augen an, in denen das Glimmen erloschen war;
doch als sie ihren Mund wie zum Schreien öffnete, zeigte ihr Casanova eine so drohende
Miene, daß sie fast erstarrte und alles mit sich geschehen ließ, was ihm beliebte. Er
küßte sie zärtlich wild und flüsterte: »Du mußt es dem Abbate nicht sagen, Teresina,
auch in der Beichte nicht. Und wenn du später einen Liebhaber kriegst oder einen
Bräutigam oder gar einen Mann, der braucht es auch nicht zu wissen. Du sollst überhaupt
immer lügen; auch Vater und Mutter und Geschwister sollst du anlügen; auf daß es
dir wohl ergehe auf Erden. Merk' dir das.« – So lästerte er, und Teresina mußte es wohl
für einen Segen halten, den er über sie sprach, denn sie nahm seine Hand und küßte sie
andächtig wie die eines Priesters. Er lachte laut auf. »Komm,« sagte er dann, »komm,
meine kleine Frau, wir wollen Arm in Arm im Saal unten erscheinen!« Sie zierte sich wohl
ein wenig, lächelte aber dabei nicht unzufrieden.
Es war die höchste Zeit, daß sie aus der Tür traten, denn Olivo kam eben erhitzt mit
gerunzelten Brauen die Treppe herauf, und Casanova vermutete gleich, daß unzarte Scherze
des Marchese oder des Abbate über das lange Ausbleiben der Kleinen ihm Bedenken
verursacht haben mochten. Seine Züge erheiterten sich sofort, als er Casanova, wie zum
Scherz in die Kleine eingehängt, auf der Schwelle stehen sah. »Verzeihen Sie, mein
bester Olivo,« sagte Casanova, »daß ich warten ließ. Ich mußte meinen Brief erst zu Ende
schreiben.« Er hielt ihn Olivo wie ein Beweisstück entgegen. »Nimm ihn«, sagte Olivo zu
Teresina, indem er ihr die etwas verwirrten Haare zurechtstrich, »und bring' ihn dem
Boten.« – »Und hier,« fügte Casanova hinzu, »sind zwei Goldstücke, die gibst du dem
Mann: er möge sich beeilen, daß der Brief noch heute richtig von Mantua nach Venedig
abgehe – und meiner Wirtin möge er bestellen, daß ich ... heute abend wieder daheim
bin.« – »Heute abend?« rief Olivo. »Unmöglich!« – »Nun, wir werden sehen«, sagte
Casanova herablassend. – »Und hier, Teresina, ein Goldstück für dich« ... und auf Olivos
Einrede: »Leg' es in deine Sparbüchse, Teresina; der Brief, den du in Händen hast, ist
seine paar tausend Goldstücke wert.« – Teresina lief, und Casanova nickte vergnügt; es
machte ihm einen ganz besondern Spaß, das Dirnchen, deren Mutter und Großmutter ihm auch
schon gehört hatten, im Angesicht ihres eigenen Vaters für ihre Gunst zu bezahlen.
Als Casanova mit Olivo in den Saal trat, war das Spiel schon im Gange. Die emphatische
Begrüßung der andern erwiderte er mit heitrer Würde und nahm gegenüber dem Marchese
Platz, der die Bank hielt. Die Fenster waren gegen den Garten zu offen; Casanova hörte
Stimmen, die sich näherten; Marcolina und Amalia kamen vorüber, blickten flüchtig in den
Saal, verschwanden und waren dann nicht mehr zu sehen. Während der Marchese die Karten
auflegte, wandte sich Lorenzi mit großer Höflichkeit an Casanova. »Ich mache Ihnen mein
Kompliment, Chevalier, Sie waren besser unterrichtet, als ich es gewesen bin: unser
Regiment marschiert in der Tat bereits morgen vor Abend aus.« Der Marchese schien
erstaunt. »Und das sagen Sie uns erst jetzt, Lorenzi?« – »Es ist wohl nicht so wichtig!«
– »Für mich nicht so sehr,« meinte der Marchese, »aber für meine Gattin! Finden Sie
nicht?« Er lachte in einer abstoßenden heisern Art. »Übrigens ein wenig doch auch für
mich! Da ich gestern vierhundert Dukaten an Sie verloren habe und am Ende keine Zeit
bleibt, sie zurückzugewinnen.« – »Auch uns hat der Leutnant Geld abgewonnen«, sagte der
jüngere Ricardi, und der ältere, schweigende, sah über die Schulter zu dem Bruder auf,
der, wie gestern, hinter ihm stand. – »Glück und Frauen« ... begann der Abbate. Und der
Marchese schloß statt seiner: »Zwingt, wer mag.« – Lorenzi streute seine Goldstücke wie
achtlos vor sich hin. »Da sind sie. Wenn Sie wünschen, alle auf ein Blatt, Marchese,
damit Sie Ihrem Gelde nicht lange nachzulaufen haben.« Casanova verspürte plötzlich eine
Art Mitleid für Lorenzi, das er sich selbst nicht recht erklären konnte; doch da er von
seinem Ahnungsvermögen etwas hielt, war er überzeugt, daß der Leutnant im ersten
Gefechte, das ihm bevorstand, fallen werde. Der Marchese nahm den hohen Satz nicht an;
Lorenzi bestand nicht darauf; so ging das Spiel, an dem sich auch die andern in ihrer
bescheidenen Weise, wie tags vorher, beteiligten, vorerst nur mit mäßigen Einsätzen
weiter. Schon in der nächsten Viertelstunde wurden diese höher; und vor Ablauf der
darauffolgenden hatte Lorenzi seine vierhundert Dukaten an den Marchese verloren. Um
Casanova schien sich das Glück nicht zu kümmern; er gewann, verlor und gewann wieder in
fast lächerlich regelmäßigem Wechsel. Lorenzi atmete auf, als sein letztes Goldstück zum
Marchese hinübergerollt war und erhob sich. »Ich danke, meine Herren. Dies wird nun,« er
zögerte – »für lange mein letztes Spiel in diesem gastfreundlichen Hause gewesen sein.
Und nun, mein verehrter Herr Olivo, gestatten Sie mir noch, mich von den Damen zu
verabschieden, ehe ich nach der Stadt reite, wo ich vor Sonnenuntergang eintreffen
möchte, um meine Zurüstungen für morgen zu treffen.« – Unverschämter Lügner, dachte
Casanova. In der Nacht bist du wieder hier und – bei Marcolina! Neu flammte der Zorn in
ihm auf. »Wie?« rief der Marchese übel gelaunt, »der Abend noch stundenfern, und das
Spiel soll schon zu Ende sein? Wenn Sie wünschen, Lorenzi, mag mein Kutscher nach Hause
fahren und der Marchesa bestellen, daß Sie sich verspäten.« – »Ich reite nach Mantua«,
entgegnete Lorenzi ungeduldig. – Der Marchese, ohne darauf zu achten, sprach
weiter: »Es ist noch Zeit genug; rücken Sie nur mit Ihren eigenen Goldstücken heraus, so
wenig es sein mögen.« Und er warf ihm eine Karte hin. »Ich habe nicht ein einziges
Goldstück mehr«, sprach Lorenzi müde. – »Was Sie nicht sagen!« – »Nicht eines«,
wiederholte Lorenzi wie angeekelt. – »Was tut's«, rief der Marchese mit einer
plötzlichen, nicht sehr angenehm wirkenden Freundlichkeit. »Sie sind mir für zehn
Dukaten gut, und wenn's sein muß, für mehr.« – »Ein Dukaten also«, sagte Lorenzi und
nahm Karten auf. Der Marchese schlug sie mit den seinen. Lorenzi spielte weiter, als
verstände sich das nun von selbst; und bald war er dem Marchese hundert Dukaten
schuldig. Casanova übernahm die Bank und hatte noch mehr Glück als der Marchese. Es war
indes wieder ein Spiel zu dreien geworden, heute ließen sich's auch die Brüder Ricardi
ohne Einspruch gefallen; mit Olivo und dem Abbate waren sie bewundernde Zuschauer. Kein
lautes Wort wurde gewechselt, nur die Karten sprachen, und sie sprachen deutlich genug.
Der Zufall des Spieles wollte, daß alles Bargeld zu Casanova hinüberfloß, und als eine
Stunde vergangen war, hatte er zweitausend Dukaten zwar von Lorenzi gewonnen, aber sie
kamen alle aus des Marchese Tasche, der nun ohne einen Soldo dasaß. Casanova stellte ihm
zur Verfügung, was ihm belieben sollte. Der Marchese schüttelte den Kopf. »Ich danke,«
sagte er, »nun ist es genug. Für mich ist das Spiel zu Ende.« Aus dem Garten klang das
Lachen und Rufen der Kinder. Casanova hörte Teresinas Stimme heraus; er saß mit dem
Rücken gegen das Fenster und wandte sich nicht um. Noch einmal versuchte er, zugunsten
Lorenzis, er wußte selbst nicht warum, den Marchese zum Weiterspielen zu bewegen. Dieser
erwiderte nur durch ein noch entschiedeneres Kopfschütteln. Lorenzi erhob sich. »Ich
werde mir erlauben, Herr Marchese, die Summe, die ich Ihnen schulde, morgen vor zwölf
Uhr mittags persönlich in Ihre Hände zu übergeben.« Der Marchese lachte kurz. »Ich bin
neugierig, wie Sie das anstellen wollen, Herr Leutnant Lorenzi. Es gibt keinen Menschen
in Mantua oder anderswo, der Ihnen auch nur zehn Dukaten leihen würde, geschweige zwei
tausend, insbesondre heute, da Sie morgen ins Feld gehen; und es ist nicht so
ausgemacht, daß Sie zurückkehren.« – »Sie werden Ihr Geld morgen früh acht Uhr erhalten,
Herr Marchese, auf – Ehrenwort.« – »Ihr Ehrenwort,« sagte der Marchese kalt, »ist mir
nicht einmal einen Dukaten wert, viel weniger zweitausend.« – Die andern hielten
den Atem an. Doch Lorenzi erwiderte nur, anscheinend ohne tiefere Erregung: »Sie werden
mir Genugtuung geben, Herr Marchese.« – »Mit Vergnügen, Herr Leutnant,« entgegnete der
Marchese, »sobald Sie Ihre Schuld bezahlt haben.« – Olivo, aufs peinlichste berührt,
sagte ein wenig stotternd: »Ich bürge für die Summe, Herr Marchese. Leider habe ich
nicht Bargeld genug zur Hand, um sofort – doch mein Haus, meine Besitzung« – und er wies
mit einer ungeschickten Bewegung rings im Kreise umher. »Ich nehme Ihre Bürgschaft nicht
an,« sagte der Marchese, »um Ihretwillen, Sie würden Ihr Geld verlieren.« Casanova sah,
wie sich alle Blicke auf das Gold richteten, das vor ihm lag. – Wenn ich für Lorenzi
bürgte – dachte er. Wenn ich für ihn zahlte ... Dies könnte der Marchese nicht
zurückweisen ... Wär' es nicht beinahe meine Verpflichtung? Es ist ja das Gold des
Marchese. – Doch er schwieg. Er fühlte, wie ein Plan in ihm dumpf erstand, dem er vor
allem Zeit lassen mußte, sich klar zu gestalten. »Sie sollen Ihr Geld noch heute vor
Anbruch der Nacht haben«, sagte Lorenzi. »In einer Stunde bin ich in Mantua.« – »Ihr
Pferd kann den Hals brechen,« erwiderte der Marchese, »Sie auch ... am Ende gar mit
Absicht.« – »Immerhin,« sagte der Abbate unwillig, »kann Ihnen der Leutnant das Geld
nicht herzaubern.« Die beiden Ricardi lachten, brachen aber gleich wieder ab. »Es ist
klar,« wandte sich Olivo an den Marchese, »daß Sie dem Leutnant Lorenzi vor allem einmal
gestatten müssen, sich zu entfernen.« – »Gegen ein Pfand«, rief der Marchese mit
funkelnden Augen, als machte ihm sein Einfall ein besondres Vergnügen. »Das scheint mir
nicht übel«, sagte Casanova etwas zerstreut, denn sein Plan reifte heran. Lorenzi zog
einen Ring vom Finger und ließ ihn auf den Tisch gleiten. Der Marchese nahm ihn. »Der
mag für tausend gelten.« – »Und der hier?« Lorenzi schleuderte einen zweiten Ring vor
den Marchese hin. Dieser nickte und meinte: »Für ebensoviel.« – »Sind Sie nun zufrieden,
Herr Marchese?« sagte Lorenzi und schickte sich an, zu gehen. »Ich bin zufrieden,«
entgegnete der Marchese schmunzelnd, »um so mehr, als diese Ringe gestohlen sind.«
Lorenzi wandte sich rasch um, und über den Tisch hin erhob er die Faust, um sie auf den
Marchese niedersausen zu lassen. Olivo und der Abbate hielten seinen Arm fest. »Ich
kenne die beiden Steine,« sagte der Marchese, ohne sich von seinem Platz zu rühren,
»wenn sie auch neu gefaßt sind. Sehen Sie, meine Herren, der Smaragd hat einen kleinen
Fehler, sonst wäre er zehnmal soviel wert. Der Rubin ist tadellos, aber nicht sehr
groß. Beide Steine stammen aus einem Schmuck, den ich selbst einmal meiner Frau
geschenkt habe. Und da ich doch nicht annehmen kann, daß die Marchesa diese Steine für
den Leutnant Lorenzi zu Ringen hat fassen lassen, so können sie, – so kann offenbar der
ganze Schmuck nur gestohlen sein. Also – das Pfand genügt mir, Herr Leutnant, bis auf
weiteres.« – »Lorenzi!« rief Olivo, »von uns allen haben Sie das Wort, daß keine Seele
jemals erfahren wird, was soeben hier vorgegangen ist.« – »Und was auch Herr Lorenzi
begangen haben mag,« sagte Casanova, »Sie, Herr Marchese, sind der größre Schuft.« –
»Das will ich hoffen«, erwiderte der Marchese. »Wenn man einmal so alt ist wie
unsereiner, Herr Chevalier von Seingalt, darf man sich wenigstens in der Schurkerei von
niemandem andern übertreffen lassen. Guten Abend, meine Herren.« Er stand auf, niemand
erwiderte seinen Gruß, und er ging. Für eine kurze Weile ward es so still, daß wieder
das Lachen der Kinder vom Garten her wie in übertriebener Lautheit vernehmlich wurde.
Wer hätte auch das Wort zu finden vermocht, das jetzt bis in Lorenzis Seele gedrungen
wäre, der noch immer mit über dem Tisch erhobenem Arm dastand wie vorher? Casanova, der
als einziger auf seinem Platz sitzengeblieben war, fand ein unwillkürliches
künstlerisches Gefallen an dieser zwar sinnlos gewordenen, gleichsam versteinerten, aber
drohend-edlen Geste, die den ganzen Jüngling in ein Standbild zu verwandeln schien.
Endlich wandte sich Olivo an ihn wie mit einer Gebärde der Beschwichtigung, auch die
Ricardis näherten sich, und der Abbate schien sich zu einer Anrede entschließen zu
wollen; da fuhr es durch Lorenzis Glieder wie ein kurzes Beben; eine gebieterisch
unwillige Bewegung wehrte jeden Versuch einer Einmischung ab, und mit einem höflichen
Neigen des Kopfes verließ er ohne Hast den Raum. Im selben Augenblick erhob sich
Casanova, der indes das Gold, das vor ihm lag, in ein Seidentuch zusammengerafft hatte,
und folgte ihm auf dem Fuß. Er fühlte, ohne die Mienen der andern zu sehen, daß sie alle
der Meinung waren, er beeile sich nun, dasjenige zu tun, was sie die ganze Zeit über von
ihm erwartet, und werde Lorenzi die gewonnene Geldsumme zur Verfügung stellen.
In der Kastanienallee, die vom Hause zum Tore führte, holte er Lorenzi ein und sagte in
leichtem Tone: »Würden Sie mir erlauben, Herr Leutnant Lorenzi, mich Ihrem Spaziergang
anzuschließen?« Lorenzi, ohne ihn anzusehen, erwiderte in einem hochmütigen,
seiner Lage kaum ganz angemessenen Tone: »Wie's beliebt, Herr Chevalier; aber ich
fürchte, Sie werden in mir keinen unterhaltenden Gesellschafter finden.« – »Sie,
Leutnant Lorenzi, vielleicht einen um so unterhaltenderen in mir,« sagte Casanova, »und
wenn Sie einverstanden sind, nehmen wir den Weg über die Weinberge, wo wir ungestört
plaudern können.« Sie bogen von der Fahrstraße auf denselben schmalen Pfad ein, den, die
Gartenmauer entlang, Casanova tags vorher mit Olivo gegangen war. »Sie vermuten ganz
richtig,« so setzte Casanova ein, »daß ich gesonnen bin, Ihnen die Summe Geldes
anzubieten, die Sie dem Marchese schuldig sind; nicht leihweise, denn das – Sie werden
mir verzeihen – hielte ich für ein allzu riskantes Geschäft, sondern als – freilich
geringen Gegenwert für eine Gefälligkeit, die Sie mir zu erweisen vielleicht imstande
wären.« – »Ich höre«, sagte Lorenzi kalt. – »Ehe ich mich weiter äußere,« erwiderte
Casanova im selben Tone, »bin ich genötigt, eine Bedingung zu stellen, von deren Annahme
durch Sie ich die Fortsetzung dieser Unterhaltung abhängig mache.« – »Nennen Sie Ihre
Bedingung.« – »Ich verlange Ihr Ehrenwort, daß Sie mich anhören, ohne mich zu
unterbrechen, auch wenn das, was ich Ihnen zu sagen habe, Ihr Befremden oder Ihr
Mißfallen oder gar Ihre Empörung erregen sollte. Es steht vollkommen bei Ihnen, Herr
Leutnant Lorenzi, ob Sie nachher meinen Vorschlag annehmen wollen, über dessen
Ungewöhnlichkeit ich mich keiner Täuschung hingebe, oder nicht; aber die Antwort, die
ich von Ihnen erwarte, ist nur ein Ja oder Nein; und wie immer sie ausfallen sollte, –
von dem, was hier verhandelt wurde, zwischen zwei Ehrenmännern, die vielleicht beide
zugleich Verlorene sind, wird niemals eine Menschenseele erfahren.« – »Ich bin bereit,
Ihren Vorschlag zu hören.« – »Und nehmen meine Vorbedingung an?« – »Ich werde Sie nicht
unterbrechen.« – »Und werden kein andres Wort erwidern als Ja oder Nein?« – »Kein andres
als Ja oder Nein.« – »Gut denn«, sagte Casanova. Und während sie langsam hügelaufwärts
stiegen, zwischen den Rebenstöcken, unter einem schwülen Spätnachmittagshimmel, begann
Casanova: »Lassen Sie uns die Angelegenheit nach den Gesetzen der Logik behandeln, so
werden wir einander am besten verstehen. Es besteht offenbar keine Möglichkeit für Sie,
sich das Geld, das Sie dem Marchese schuldig sind, bis zu der von ihm festgesetzten
Frist zu verschaffen; und für den Fall, daß Sie es ihm nicht zahlen sollten, auch
darüber kann kein Zweifel sein, ist er fest entschlossen, Sie zu vernichten. Da er
mehr von Ihnen weiß (hier wagte sich Casanova weiter vor, als er mußte, doch er liebte
solche kleine, nicht ganz ungefährliche Abenteuer auf einem im übrigen vorgezeichneten
Weg), als er uns heute verraten hat, sind Sie tatsächlich völlig in der Gewalt dieses
Schurken, und Ihr Schicksal als Offizier, als Edelmann wäre besiegelt. Das ist die eine
Seite der Sache. Dagegen sind Sie gerettet, sobald Sie Ihre Schuld bezahlt und die –
irgendwie in Ihren Besitz gelangten Ringe wieder in Händen haben; – und gerettet sein:
das heißt für Sie in diesem Fall nicht weniger, als daß Ihnen ein Dasein wieder gehört,
mit dem Sie schon so gut wie abgeschlossen hatten, und zwar, da Sie jung, schön und kühn
sind, ein Dasein voll Glanz, Glück und Ruhm. Eine solche Aussicht scheint mir herrlich
genug, besonders wenn auf der andern Seite nichts winkt als ein ruhmloser, ja
schimpflicher Untergang, um ihr zuliebe ein Vorurteil aufzuopfern, das man persönlich
eigentlich niemals besaß. Ich weiß es, Lorenzi,« setzte er rasch hinzu, als sei er einer
Entgegnung gewärtig und wollte ihr zuvorkommen, »Sie haben gar keine Vorurteile, so
wenig als ich sie habe oder jemals hatte; und was ich von Ihnen zu verlangen willens
bin, ist nichts andres, als was ich selbst an Ihrer Stelle unter den gleichen Umständen
zu erfüllen mich keinen Augenblick besonnen hätte, – wie ich mich auch tatsächlich nie
gescheut habe, wenn es das Schicksal oder auch nur meine Laune so forderte, eine
Schurkerei zu begehen oder vielmehr das, was die Narren dieser Erde so zu nennen
pflegen. Dafür war ich aber auch, gleich Ihnen, Lorenzi, in jeder Stunde bereit, mein
Leben für weniger als nichts aufs Spiel zu setzen, und das macht alles wieder wett. Ich
bin es auch jetzt – für den Fall, daß Ihnen mein Vorschlag nicht gefiele. Wir sind aus
gleichem Stoff gemacht, Lorenzi, sind Brüder im Geiste, und so dürfen sich unsre Seelen
ohne falsche Scham, stolz und nackt, gegenüberstehen. Hier sind meine zweitausend
Dukaten – vielmehr die Ihren – wenn Sie es ermöglichen, daß ich die heutige Nacht an
Ihrer Stelle mit Marcolina verbringe. Wir wollen nicht stehenbleiben, Lorenzi, wir
wollen weiterspazieren.«
Sie gingen in den Feldern, unter den niedrigen Obstbäumen, zwischen denen die
Rebenranken beerenbeladen sich hinschlangen; und Casanova sprach ohne Pause weiter.
»Antworten Sie mir noch nicht, Lorenzi, denn ich bin noch nicht zu Ende. Mein Ansinnen
wäre natürlich – nicht etwa frevelhaft, aber aussichts- und daher sinnlos, wenn Sie die
Absicht hätten, Marcolina zu Ihrer Gattin zu machen, oder wenn Marcolina selbst
ihre Hoffnungen und Wünsche in dieser Richtung schweifen ließe. Aber ebenso, wie die
vergangene Liebesnacht Ihre erste war (er sprach auch diese seine Vermutung wie eine
unbezweifelbare Gewißheit aus), ebenso war die kommende aller menschlichen Berechnung
nach, ja auch nach Ihrer eigenen und Marcolinens Voraussicht bestimmt, Ihre letzte zu
sein – auf sehr lange Zeit – wahrscheinlich auf immer; und ich bin völlig überzeugt, daß
Marcolina selbst, um ihren Geliebten vor dem sicheren Untergange zu bewahren, einfach
auf seinen Wunsch hin, ohne Zögern bereit wäre, diese eine Nacht seinem Retter zu
gewähren. Denn auch sie ist Philosophin und daher von Vorurteilen so frei wie wir beide.
Aber so gewiß ich bin, daß sie diese Probe bestünde, es liegt keineswegs in meiner
Absicht, daß sie ihr auferlegt werde. Denn eine Willenlose, eine innerlich
Widerstrebende zu besitzen, das ist etwas, das gerade in diesem Falle meinen Ansprüchen
nicht genügen würde. Nicht nur als ein Liebender, – als ein Geliebter will ich ein Glück
genießen, das mir am Ende auch groß genug erschiene, um es mit meinem Leben zu bezahlen.
Verstehen Sie mich wohl, Lorenzi. Daher darf Marcolina nicht einmal ahnen, daß ich es
bin, den sie an ihren himmlischen Busen schließt; sie muß vielmehr fest davon überzeugt
sein, daß sie keinen an dern als Sie in ihren Armen empfängt. Diese Täuschung
vorzubereiten ist Ihre Sache, sie aufrechtzuerhalten, die meine. Ohne besondre
Schwierigkeit werden Sie ihr begreiflich machen können, daß Sie genötigt sind, sie vor
Eintritt der Morgendämmerung zu verlassen; und um einen Vorwand dafür, daß diesmal nur
stumme Zärtlichkeiten sie beglücken sollen, werden Sie auch nicht verlegen sein. Um im
übrigen auch jede Gefahr einer nachträglichen Entdeckung auszuschließen, werde ich mich
im gegebenen Moment anstellen, als hörte ich ein verdächtiges Geräusch vor dem Fenster,
meinen Mantel nehmen – oder vielmehr den Ihren, den Sie mir zu diesem Zwecke natürlich
leihen müssen – und durchs Fenster verschwinden – auf Nimmerwiedersehen. Denn
selbstverständlich werde ich dem Anschein nach bereits heute abend abreisen, dann unter
dem Vorgeben, ich hätte wichtige Papiere vergessen, den Kutscher auf halbem Wege zur
Umkehr veranlassen und mich durch die Hintertür – den Nachschlüssel stellen Sie mir zur
Verfügung, Lorenzi, – in den Garten, ans Fenster Marcolinens schleichen, das sich um
Mitternacht auftun wird. Meines Gewands, auch der Schuhe und Strümpfe, werde ich
mich im Wagen entledigt haben und nur mit dem Mantel angetan sein, so daß bei meinem
fluchtartigen Entweichen nichts zurückbleibt, was mich oder Sie verraten könnte. Den
Mantel aber wer den Sie zugleich mit den zweitausend Dukaten morgen früh fünf Uhr in
meinem Gasthof zu Mantua in Empfang nehmen, so daß Sie dem Marchese noch vor der
festgesetzten Stunde sein Geld vor die Füße schleudern können. Hierauf nehmen Sie meinen
feierlichen Eid entgegen. Und nun bin ich zu Ende.«
Er blieb plötzlich stehen. Die Sonne neigte sich zum Niedergang, ein leiser Wind strich
über die gelben Ähren, rötlicher Abendschein lag über dem Turm von Olivos Haus. Auch
Lorenzi stand stille; keine Muskel in seinem blassen Antlitz bewegte sich, und er
blickte über Casanovas Schulter unbewegt ins Weite. Seine Arme hingen schlaff herab,
während Casanovas Hand, der auf alles gefaßt war, wie zufällig den Griff des Degens
hielt. Einige Sekunden vergingen, ohne daß Lorenzi seine starre Haltung und sein
Schweigen aufgab. Er schien in ein ruhiges Nachdenken versunken; doch Casanova blieb
weiter auf seiner Hut, und in der Linken das Tuch mit den Dukaten, die Rechte auf dem
Degengriff, sagte er: »Sie haben meine Vorbedingung erfüllt als ein Ehrenmann. Ich weiß,
daß es Ihnen nicht leicht geworden ist. Denn wenn wir auch keine Vorurteile besitzen, –
die Atmosphäre, in der wir leben, ist von ihnen so vergiftet, daß wir uns ihrem Einfluß
nicht völlig entziehen können. Und so wie Sie, Lorenzi, im Laufe der letzten
Viertelstunde mehr als einmal nah daran waren, mir an die Gurgel zu fahren, so habe ich
wieder – lassen Sie mich's Ihnen gestehen – eine Weile mit dem Gedanken gespielt, Ihnen
die zweitausend Dukaten zu schenken – wie einem – nein, als meinem Freund; denn selten,
Lorenzi, habe ich zu einem Menschen vom ersten Augenblick eine solche rätselhafte
Sympathie empfunden wie zu Ihnen. Aber hätt' ich dieser großmütigen Regung nachgegeben,
in der Sekunde darauf hätte ich sie aufs tiefste bereut, geradeso wie Sie, Lorenzi, in
der Sekunde, eh' Sie sich die Kugel in den Kopf jagten, zur verzweiflungsvollen
Erkenntnis kämen, daß Sie ein Narr ohnegleichen gewesen sind, – um tausend Liebesnächte
mit immer neuen Frauen hinzuwerfen für eine einzige, der dann keine Nacht – und kein Tag
mehr folgte.«
Noch immer schwieg Lorenzi; sein Schweigen dauerte Sekunden-, es dauerte minutenlang,
und Casanova fragte sich, wie lang er sich's noch dürfte gefallen lassen. Schon war er
im Begriff, sich mit einem kurzen Gruße abzuwenden und so anzudeuten, daß er
seinen Vorschlag als abgelehnt betrachte, als Lorenzi, immer wortlos, mit einer durchaus
nicht raschen Bewegung der rechten Hand nach rückwärts in die Tasche seines Rockschoßes
griff, und Casanova, der im gleichen Augenblick, nach wie vor auf alles gefaßt, einen
Schritt zurückgetreten war, wie um sich niederzuducken – den Gartenschlüssel
überreichte. Die Bewegung Casanovas, die immerhin eine Regung von Furcht ausgedrückt
hatte, ließ um Lorenzis Lippen ein sofort wieder verschwindendes Lächeln des Hohns
erscheinen. Casanova verstand es, seine aufsteigende Wut, deren wirklicher Ausbruch
alles wieder hätte zunichte machen können, zu unterdrücken, ja zu verbergen, und, den
Schlüssel mit einem leichten Kopfneigen an sich nehmend, bemerkte er nur: »Das darf ich
wohl als ein Ja gelten lassen. Von jetzt in einer Stunde – bis dahin werden Sie sich mit
Marcolina wohl verständigt haben – erwarte ich Sie im Turmgemach, wo ich mir erlauben
werde, Ihnen gegen Überlassung Ihres Mantels die zweitausend Goldstücke sofort zu
übergeben. Erstens zum Zeichen meines Vertrauens und zweitens, weil ich ja wirklich
nicht wüßte, wo ich das Gold im Laufe der Nacht verwahren sollte.« – Sie trennten sich
ohne weitere Förmlichkeit, Lorenzi nahm den Weg zurück, den sie beide gekommen,
Casanova, auf einem andern, begab sich ins Dorf und sicherte sich im Wirtshaus durch ein
reichliches Angeld ein Gefährt, das ihn um zehn Uhr nachts vor Olivos Hause zur Fahrt
nach Mantua erwarten sollte. Bald darauf, nachdem er sein Gold vorerst an sichrer Stelle
im Turmgemach verwahrt hatte, trat er in Olivos Garten, wo sich ihm ein Anblick bot, der
an sich keineswegs merkwürdig, ihn in der Stimmung dieser Stunde sonderbar genug
berührte. Auf einer Bank am Wiesenrand saß Olivo neben Amalia, den Arm um ihre Schulter
geschlungen; ihnen zu Füßen lagerten die drei Mädchen, wie ermüdet von den Spielen des
Nachmittags; das jüngste, Maria, hatte das Köpfchen auf dem Schoß der Mutter liegen und
schien zu schlummern, Nanetta lag ihr zu Füßen auf den Rasen hingestreckt, die Arme
unter dem Nacken; Teresina lehnte an den Knien des Vaters, dessen Finger zärtlich in
ihren Locken ruhten; und als Casanova sich näherte, grüßte ihn aus ihren Augen
keineswegs ein Blick lüsternen Einverständnisses, wie er unwillkürlich ihn erwartet,
sondern ein offenes Lächeln kindlicher Vertrautheit, als wäre, was zwischen ihr und ihm
vor wenig Stunden erst geschehen, eben nichts andres gewesen als ein nichts
bedeutendes Spiel. In Olivos Zügen leuchtete es freundlich auf, und Amalia nickte dem
Herantretenden dankbar herzlich zu. Sie beide empfingen ihn, Casanova konnte nicht daran
zweifeln, wie jemanden, der eben eine edle Tat begangen, aber der zugleich erwartet, daß
man aus Feingefühl vermeiden werde, ihrer mit einem Worte Erwähnung zu tun. »Bleibt es
wirklich dabei,« fragte Olivo, »daß Sie uns schon morgen verlassen, mein teurer
Chevalier?« – »Nicht morgen,« erwiderte Casanova, »sondern – wie gesagt – schon heute
abend.« Und als Olivo eine neue Einwendung erheben wollte, mit einem bedauernden
Achselzucken: »Der Brief, den ich heute aus Venedig erhielt, läßt mir leider keine andre
Entscheidung übrig. Die an mich ergangene Aufforderung ist in jedem Sinne so ehrenvoll,
daß eine Verzögerung meiner Heimkehr eine arge, ja eine unverzeihliche Unhöflichkeit
gegenüber meinen hohen Gönnern bedeuten würde.« Zugleich bat er um die Erlaubnis, sich
jetzt zurückziehen zu dürfen, um sich für die Abreise bereitzumachen und dann die
letzten Stunden seines Hierseins ungestört im Kreise seiner liebenswürdigen Freunde
verbringen zu können.
Und aller Einrede nicht achtend, begab er sich ins Haus, stieg die Treppe zum Turmgemach
empor und vertauschte vor allem seine prächtige Gewandung wieder mit der einfacheren,
die für die Fahrt gut genug sein mußte. Dann packte er seinen Reisesack und horchte mit
einer von Minute zu Minute gespannteren Aufmerksamkeit, ob sich nicht endlich die
Schritte Lorenzis vernehmen ließen. Noch eh' die Frist verstrichen war, klopfte es mit
einem kurzen Schlag an die Türe, und Lorenzi trat ein, im weiten dunkelblauen
Reitermantel. Ohne ein Wort zu reden, mit einer leichten Bewegung ließ er ihn von den
Schultern gleiten, so daß er zwischen den beiden Männern als ein formloses Stück Tuch
auf dem Boden lag. Casanova holte seine Goldstücke unter dem Polster des Bettes hervor
und streute sie auf den Tisch. Er zählte sorgfältig vor Lorenzis Augen, was ziemlich
rasch geschehen war, da viele Goldstücke von höherm als eines Dukaten Wert darunter
waren, übergab Lorenzi die verabredete Summe, nachdem er sie zuvor in zwei Beutel
verteilt hatte, worauf ihm selbst noch etwa hundert Dukaten übrigblieben. Lorenzi tat
die Geldbeutel in seine beiden Rockschöße und wollte sich wortlos entfernen. »Halt,
Lorenzi,« sagte Casanova, »es wäre immerhin möglich, daß man einander noch einmal im
Leben begegnete. Dann sei es nicht mit Groll. Es war ein Handel wie ein andrer,
wir sind quitt.« Er streckte ihm die Hand entgegen. Lorenzi nahm sie nicht; doch nun
sprach er das erste Wort. »Ich erinnere mich nicht,« sagte er, »daß auch dies in unserm
Pakt enthalten gewesen wäre.« Er wandte sich und ging.
Sind wir so genau, mein Freund? dachte Casanova. So darf ich mich um so sicherer darauf
verlassen, daß ich nicht am Ende der Geprellte sein werde. Freilich hatte er an diese
Möglichkeit keinen Augenblick ernstlich gedacht; er wußte aus eigener Erfahrung, daß
Leute wie Lorenzi ihre besondre Art von Ehre haben, deren Gesetze in Paragraphen nicht
aufzuzeichnen sind, über die aber von Fall zu Fall ein Zweifel kaum bestehen kann. – Er
legte Lorenzis Mantel zu oberst in den Reisesack, schloß diesen zu; die Goldstücke, die
ihm geblieben, steckte er zu sich, blickte sich in dem Raum, den er wohl niemals wieder
betreten sollte, nach allen Seiten um, und mit Degen und Hut, zur Abfahrt fertig, begab
er sich in den Saal, wo er Olivo mit Frau und Kindern schon am gedeckten Tische sitzend
fand. Marcolina trat zugleich mit ihm, was Casanova als günstiges Schicksalszeichen
deutete, von der andern Seite aus dem Garten ein und erwiderte seinen Gruß mit einem
unbefangenen Neigen des Hauptes. Das Essen wurde aufgetragen; die Unterhaltung ging
anfangs langsam, ja wie gedämpft von der Stimmung des Abschieds in fast mühseliger Weise
vonstatten. Amalia schien in auffallender Weise mit ihren Kindern beschäftigt und immer
besorgt, daß diese nicht zuviel oder zuwenig auf ihre Teller bekämen. Olivo, ohne
ersichtliche Nötigung, sprach von einem unbedeutenden, zu seinen Gunsten entschiedenen
Prozeß mit einem Gutsnachbar sowie Von einer Geschäftsreise, die ihn demnächst nach
Mantua und Cremona führen sollte. Casanova gab der Hoffnung Ausdruck, den Freund in
nicht allzu ferner Zeit in Venedig zu begrüßen. Gerade dort, ein sonderbarer Zufall, war
Olivo noch niemals gewesen. Amalia aber hatte die wunderbare Stadt vor langen Jahren als
Kind gesehen; wie sie dahin gekommen, wußte sie nicht mehr zu sagen und erinnerte sich
nur eines alten, in einen scharlachroten Mantel gehüllten Mannes, der aus einem
länglichen schwarzen Schiff ausgestiegen, gestolpert und der Länge nach hingefallen war.
»Auch Sie kennen Venedig nicht?« fragte Casanova Marcolina, die gerade ihm gegenübersaß
und über seine Schulter in das tiefe Dunkel des Gartens schaute. Sie schüttelte wortlos
den Kopf. Und Casanova dachte: Könnt' ich sie dir zeigen, die Stadt, in der ich jung
gewesen bin! O wärst du jung gewesen mit mir ... Und noch ein Gedanke kam ihm,
sinnloser beinahe als jener: Wenn ich dich jetzt mit mir dahin nähme? Aber während all
dies unausgesprochen durch seine Seele ging, hatte er schon mit jener Leichtigkeit, die
ihm auch in Momenten stärkster innerer Erregung gegeben war, von der Stadt seiner Jugend
zu reden begonnen; so kunstvoll und kühl, als gälte es, ein Gemälde zu schildern, bis
er, unwillkürlich den Ton erwärmend, in die Geschichte seines Lebens geriet und mit
einemmal in eigner Gestalt mitten in dem Bilde stand, das nun erst zu leben und zu
leuchten anfing. Er sprach von seiner Mutter, der berühmten Schauspielerin, für die der
große Goldoni, ihr Bewunderer, seine vortreffliche Komödie »Das Mündel« verfaßt hatte;
dann erzählte er von seinem trübseligen Aufenthalt in der Pension des geizigen Doktors
Gozzi, von seiner kindischen Liebe zu der kleinen Gärtnerstochter, die später mit einem
Lakaien durchgegangen war, von seiner ersten Predigt als junger Abbate, nach der er in
dem Beutel des Sakristans nicht nur die üblichen Geldstücke, sondern auch ein paar
zärtliche Briefchen vorgefunden, von den Spitzbübereien, die er als Geiger im Orchester
des Theaters San Samuele mit ein paar gleichgesinnten Kameraden in den Gäßchen,
Schenken, Tanz- und Spielsälen Venedigs maskiert oder auch unmaskiert verübt; doch auch
von diesen übermütigen und manchmal recht bedenklichen Streichen berichtete er, ohne
irgendein anstößiges Wort zu gebrauchen, ja in einer poetisch-verklärenden Weise, als
wollte er auf die Kinder Rücksicht nehmen, die wie die andern, Marcolina nicht
ausgenommen, gespannt an seinen Lippen hingen. Doch die Zeit schritt vor, und Amalia
schickte ihre Töchter zu Bett. Ehe sie gingen, küßte Casanova sie alle aufs zärtlichste,
Teresina nicht anders als die zwei Jüngern, und alle mußten ihm versprechen, ihn bald
mit den Eltern in Venedig zu besuchen. Als die Kinder fort waren, tat er sich wohl
weniger Zwang an, aber alles, was er erzählte, brachte er ohne jede Zweideutigkeit und
vor allem ohne jede Eitelkeit vor, so daß man eher den Bericht eines gefühlvollen Narren
der Liebe als den eines gefährlichwilden Verführers und Abenteurers zu hören vermeinte.
– Er sprach von der wunderbaren Unbekannten, die wochenlang mit ihm als Offizier
verkleidet herumgereist und eines Morgens plötzlich von seiner Seite verschwunden war;
von der Tochter des adligen Schuhflickers in Madrid, die ihn zwischen zwei Umarmungen
immer wieder zum frommen Katholiken hatte bekehren wollen; von der schönen Jüdin Lia in
Turin, die prächtiger zu Pferde gesessen war als irgendeine Fürstin; von der
lieblichunschuldigen Manon Balletti, der einzigen, die er beinahe geheiratet hätte, von
jener schlechten Sängerin in Warschau, die er ausgepfiffen, worauf er sich mit ihrem
Geliebten, dem Krongeneral Branitzky, hatte duellieren und aus Warschau fliehen müssen;
von der bösen Charpillon, die ihn in London so jämmerlich zum Narren gehalten; von einer
nächtlichen Sturmfahrt, die ihm fast das Leben gekostet, durch die Lagunen nach Murano
zu seiner angebeteten Nonne; von dem Spieler Croce, der, nachdem er in Spa ein Vermögen
verloren, auf der Landstraße tränenvollen Abschied von ihm genommen und sich auf den Weg
nach Petersburg gemacht hatte – so wie er dagestanden war, in seidenen Strümpfen, in
einem apfelgrünen Samtrock und ein Rohrstöckchen in der Hand. Er erzählte von
Schauspielerinnen, Sängerinnen, Modistinnen, Gräfinnen, Tänzerinnen, Kammermädchen; von
Spielern, Offizieren, Fürsten, Gesandten, Finanzleuten, Musikanten und Abenteurern; und
so wundersam ward ihm selbst der Sinn von dem wieder neu gefühlten Zauber seiner eigenen
Vergangenheit umfangen, so vollständig war der Triumph all des herrlichen durchlebten,
doch unwiederbringlich Gewesenen über das armselig Schattenhafte, das sich seiner
Gegenwärtigkeit brüsten durfte, daß er eben im Begriffe war, die Geschichte eines
hübschen blassen Mädchens zu berichten, das ihm im Dämmer einer Kirche zu Mantua seinen
Liebeskummer anvertraut hatte, ohne daran zu denken, daß ihm dieses selbe Geschöpf, um
sechzehn Jahre gealtert, als die Frau seines Freundes Olivo hier am Tische gegenübersaß;
– als mit plumpem Schritt die Magd eintrat und meldete, daß vor dem Tore der Wagen
bereitstehe. Und sofort, mit seiner unvergleichlichen Gabe, sich in Traum und Wachen,
wann immer es nötig war, ohne Zögern zurechtzufinden, erhob sich Casanova, um Abschied
zu nehmen. Er forderte Olivo, dem vor Rührung die Worte versagten, nochmals mit
Herzlichkeit auf, ihn mit Frau und Kindern in Venedig zu besuchen, und umarmte ihn; als
er sich mit der gleichen Absicht Amalien näherte, wehrte sie leicht ab und reichte ihm
nur die Hand, die er ehrerbietig küßte. Wie er sich nun zu Marcolina wandte, sagte
diese: »All das, was Sie uns heute abend erzählt haben – und noch viel mehr – sollten
Sie niederschreiben, Herr Chevalier, so wie sie es mit Ihrer Flucht aus den Bleikammern
gemacht haben.« – »Ist das Ihr Ernst, Marcolina?« fragte er mit der Schüchternheit eines
jungen Autors. Sie lächelte mit leisem Spott. »Ich vermute,« sagte sie, »ein
solches Buch könnte noch weit unterhaltender werden als Ihre Streitschrift gegen
Voltaire.« – Das möchte leicht wahr sein, dachte er, ohne es auszusprechen. Wer weiß, ob
ich deinen Rat nicht einmal befolge? Und du selbst, Marcolina, sollst das letzte Kapitel
sein. – Dieser Einfall, mehr noch der Gedanke, daß dieses letzte Kapitel im Laufe der
kommenden Nacht erlebt werden sollte, ließ seinen Blick so seltsam erflackern, daß
Marcolina die Hand, die sie ihm zum Abschied gereicht, aus der seinen gleiten ließ, eh'
er, sich herabbeugend, einen Kuß darauf zu drücken vermocht hatte. Ohne sich irgend
etwas, sei es Enttäuschung, sei es Groll, merken zu lassen, wandte sich Casanova zum
Gehen, indem er durch eine jener klaren und einfachen Gesten, die nur ihm gehörten, zu
verstehen gab, daß ihm niemand, auch Olivo nicht, folgen solle.
Raschen Schrittes durcheilte er die Kastanienallee: gab der Magd, die den Reisesack in
den Wagen geschafft hatte, ein Goldstück, stieg ein und fuhr davon.
Der Himmel war von Wolken verhängt. Nachdem man das Dorf hinter sich gelassen, wo noch
hinter armen Fenstern da und dort ein kleines Licht geschimmert hatte, leuchtete nur
mehr die gelbe Laterne, die vorn an der Deichsel befestigt war, durch die Nacht.
Casanova öffnete den Reisesack, der zu seinen Füßen lag, nahm Lorenzis Mantel heraus,
und, nachdem er ihn über sich gebreitet, entkleidete er sich unter dessen Schutz mit
aller gebotenen Vorsicht. Die abgelegte Gewandung, auch Schuhe und Strümpfe, versperrte
er in den Sack und hüllte sich fester in den Mantel ein. Jetzt rief er den Kutscher an:
»He, wir müssen wieder zurück!« – Der Kutscher wandte sich verdrossen um. – »Ich habe
meine Papiere im Hause vergessen. Hörst du? Wir müssen zurück.« Und da jener, ein
verdrossener, magerer, graubärtiger Mensch, zu zögern schien: »Ich verlange es natürlich
nicht umsonst. Da!« Und er drückte ihm ein Goldstück in die Hand. Der Kutscher nickte,
murmelte etwas, und mit einem gänzlich überflüssigen Peitschenhieb auf das Pferd wandte
er den Wagen. Als sie wieder durch das Dorf fuhren, lagen die Häuser alle stumm und
ausgelöscht. Noch ein Stück Wegs die Landstraße hin, und nun wollte der Kutscher in die
schmälere, leicht ansteigende Straße einlenken, die zu Olivos Besitzung führte. »Halt!«
rief Casanova, »wir wollen nicht so nah heranfahren, sonst wecken wir die Leute auf.
Warte hier an der Ecke. Ich bin bald wieder da ... Und sollt' es etwas länger dauern,
jede Stunde trägt einen Dukaten!« Nun glaubte der Mann ungefähr zu wissen, woran er
war; Casanova merkte es an der Art, wie jener mit dem Kopf nickte. Er stieg aus und
eilte weiter, den Augen des Kutschers bald entschwindend, bis ans verschlossene Tor,
daran vorüber, die Mauer entlang bis zu der Ecke, wo sie im rechten Winkel nach oben
bog, und nahm nun den Weg durch die Weinberge, den er, nachdem er ihn schon zweimal im
Tagesschein gegangen, leicht zu finden wußte. Er hielt sich der Mauer nahe und folgte
ihr auch, als sie nun, etwa auf der mittleren Höhe des Hügels, wieder im rechten Winkel
umbog. Hier ging er auf weichem Wiesengrund, im Dunkel der verhängten Nacht weiter, und
mußte nur achtgeben, daß er die Gartentür nicht verfehlte. Er tastete längs der glatten
steinernen Umfassung, bis seine Finger das rauhe Holz spürten; worauf er die Türe auch
in ihrem schmalen Umriß deutlich wahrzunehmen vermochte. Er steckte den Schlüssel in das
rasch gefundene Schloß, öffnete, trat in den Garten und sperrte hinter sich wieder zu.
Er sah das Haus mit dem Turm jenseits der Wiese in unwahrscheinlicher Entfernung und in
einer ebenso unwahrscheinlichen Hohe aufragen. Eine Weile stand er ruhig; er sah um
sich; denn was für andre Augen noch undurchdringliche Finsternis gewesen wäre, war für
die seinen nur tiefe Dämmerung. Er wagte es, statt in der Allee, deren Kies seinen
nackten Füßen weh tat, auf der Wiese weiterzugehen, die den Ton seiner Schritte
verschlang. Er glaubte zu schweben; so leicht war sein Gang. – War mir anders zumute,
dachte er, zur Zeit, da ich als Dreißigjähriger solche Wege ging? Fühl' ich nicht wie
damals alle Gluten des Verlangens und alle Säfte der Jugend durch meine Adern kreisen?
Bin ich nicht heute Casanova, wie ich's damals war? ... Und da ich Casanova bin, warum
sollte an mir das klägliche Gesetz nicht zuschanden werden, dem andre unterworfen sind
und das Altern heißt! Und immer kühner werdend, fragte er sich: Warum schleich' ich in
einer Maske zu Marcolina? Ist Casanova nicht mehr als Lorenzi, auch wenn er um dreißig
Jahre älter ist? Und wäre sie nicht das Weib, dies Unbegreifliche zu begreifen? ... War
es nötig, eine kleine Schurkerei zu begehen und einen andern zu einer etwas größern zu
verleiten? Wäre man nicht mit etwas Geduld zum gleichen Ziel gekommen? Lorenzi ist
morgen fort, ich wäre geblieben ... Fünf Tage ... drei – und sie hätte mir gehört –
wissend mir gehört. – Er stand an die Wand des Hauses gedrückt, neben Marcolinens
Fenster, das noch fest verschlossen war, und seine Gedanken flogen weiter. Ist es
denn zu spät dazu? ... Ich könnte wiederkommen, – morgen, übermorgen ... und begänne das
Werk der Verführung – als ehrlicher Mann sozusagen. Die heutige Nacht wäre ein Vorschuß
auf die künftigen. Ja Marcolina müßte nicht einmal erfahren, daß ich heute dagewesen bin
– oder erst später – viel später. –
Das Fenster war noch immer fest geschlossen; auch dahinter rührte sich nichts. Es
fehlten wohl noch ein paar Minuten auf Mitternacht. Sollte er sich irgendwie bemerkbar
machen? Leise ans Fenster klopfen? Da nichts dergleichen ausgemacht war, hätte es
vielleicht doch in Marcolina einen Verdacht werfen können. Also warten. Lange konnte es
nicht mehr dauern. Der Gedanke, daß sie ihn sofort erkennen, den Betrug durchschauen
konnte, eh' er vollzogen war, kam ihm, nicht zum erstenmal, doch ebenso flüchtig und als
die natürliche verstandesmäßige Erwägung einer entfernten, ins Unwahrscheinliche
verschwimmenden Möglichkeit, nicht als eine ernstliche Befürchtung. Ein etwas
lächerliches Abenteuer fiel ihm ein, das nun zwanzig Jahre zurücklag; das mit der
häßlichen Alten in Solothurn, mit der er eine köstliche Nacht verbracht hatte, in der
Meinung, eine angebetete schöne junge Frau zu besitzen – und die ihn überdies tags
darauf in einem unverschämten Brief ob seines ihr höchst erwünschten, von ihr mit
infamer List geförderten Irrtums verhöhnt hatte. Er schüttelte sich in der Erinnerung
vor Ekel. Gerade daran hätte er jetzt lieber nicht denken sollen, und er verjagte das
abscheuliche Bild. – Nun, war es nicht endlich Mitternacht? Wie lange sollte er noch
hier stehen an die Mauer gedrückt, fröstelnd in der Kühle der Nacht? Oder gar vergeblich
warten? Der Geprellte sein – trotz allem? – Zweitausend Dukaten für nichts? Und Lorenzi
mit ihr hinter dem Vorhang? Seiner spottend? – Unwillkürlich faßte er den Degen etwas
fester, den er unter dem Mantel an seinen nackten Leib gepreßt hielt. Von einem Kerl wie
Lorenzi mußte man am Ende auch der peinlichsten Überraschung gewärtig sein. – Aber dann
... In diesem Augenblick hörte er ein leises knackendes Geräusch, – er wußte, daß nun
das Gitter von Marcolinens Fenster sich zurückschob, gleich darauf öffneten sich beide
Flügel weit, während der Vorhang noch zugezogen blieb. Casanova hielt sich ein paar
Sekunden regungslos, bis von unsichtbarer Hand gerafft der Vorhang sich nach der einen
Seite hob; das war für Casanova ein Zeichen, sich über die Brüstung ins Zimmer zu
schwingen und sofort Fenster und Gitter hinter sich zu schließen. Der geraffte
Vorhang war über seinen Schultern wieder gesunken, so daß er genötigt war, darunter
hervorzukriechen, und nun wäre er in völliger Finsternis dagestanden, wenn nicht aus der
Tiefe des Gemachs, in unbegreiflicher Entfernung, wie von seinem eignen Blick erweckt,
ein mattes Schimmern ihm den Weg gewiesen hätte. Nur drei Schritt – und sehnsüchtige
Arme breiteten sich nach ihm aus; er ließ den Degen aus der Hand, den Mantel von seinen
Schultern gleiten und sank in sein Glück.
An Marcolinens seufzendem Vergehen, an den Tränen der Seligkeit, die er ihr von den
Wangen küßte, an der immer wieder erneuten Glut, mit der sie seine Zärtlichkeiten
empfing, erkannte er bald, daß sie seine Entzückungen teilte, die ihm als höhere, ja von
neuer, andrer Art erschienen, als er jemals genossen. Lust ward zur Andacht, tiefster
Rausch ward Wachsein ohnegleichen; hier endlich war, die er schon so oft, töricht genug
zu erleben geglaubt, und die er noch niemals wirklich erlebt hatte – Erfüllung war an
Marcolinens Herzen. Er hielt die Frau in seinen Armen, an die er sich verschwenden
durfte, um sich unerschöpflich zu fühlen: – an deren Brüsten der Augenblick des letzten
Hingegebenseins und des neuen Verlangens in einen einzigen von ungeahnter Seelenwonne
zusammenfloß. War an diesen Lippen nicht Leben und Sterben, Zeit und Ewigkeit eines? War
er nicht ein Gott –? Jugend und Alter nur eine Fabel, von Menschen erfunden? – Heimat
und Fremde, Glanz und Elend, Ruhm und Vergessensein – wesenlose Unterscheidungen zum
Gebrauch von Ruhelosen, von Einsamen, von Eiteln – und sinnlos geworden, wenn man
Casanova war und Marcolina gefunden? Unwürdig, ja lächerlicher von Minute zu Minute
erschien es ihm, sich, einem Vorsatz getreu, den er früher als Kleinmütiger gefaßt, aus
dieser Wundernacht stumm, unerkannt, wie ein Dieb zu flüchten. Im untrüglichen Gefühl,
ebenso der Beglückende zu sein, als er der Beglückte war, glaubte er sich schon zu dem
Wagnis entschlossen, seinen Namen zu nennen, wenn er sich auch immer noch bewußt war,
damit ein großes Spiel zu spielen, das er, wenn er es verlor, bereit sein mußte, mit dem
Dasein zu bezahlen. Noch war undurchdringliche Dunkelheit um ihn, und bis durch den
dichten Vorhang das erste Dämmern brach, durfte er ein Geständnis hinauszögern, an
dessen Aufnahme durch Marcolina sein Schicksal, ja sein Leben hing. Aber war denn nicht
gerade dieses stummselige, süßverlorene Zusammensein dazu gemacht, ihm Marcolina
von Kuß zu Kuß unlöslicher zu verbinden? Wurde, was sich als Betrug entsponnen, nicht
Wahrheit in den namenlosen Entzückungen dieser Nacht? Ja, durchschauerte sie, die
Betrogene, die Geliebte, die Einzige, nicht selbst schon eine Ahnung, daß es nicht
Lorenzi, der Jüngling, der Wicht, daß es ein Mann, – daß es Casanova war, in dessen
Göttergluten sie verging? Und schon begann er es für möglich zu halten, daß ihm der
ersehnte und doch gefürchtete Augenblick des Geständnisses gänzlich erspart bleiben
würde; er träumte davon, daß Marcolina selbst, bebend, gebannt, erlöst ihm seinen Namen
entgegenflüstern würde. Und dann – wenn sie so ihm verziehen – nein – seine Verzeihung
empfangen –, dann wollte er sie mit sich nehmen, sofort, in dieser selben Stunde noch; –
mit ihr im Grauen der Frühe das Haus verlassen, mit ihr in den Wagen steigen, der
draußen an der Straßenbiegung wartete ... mit ihr davonfahren, für immer sie halten,
sein Lebenswerk damit krönen, daß er, in Jahren, da andre sich zu einem trüben
Greisentum bereiten, die Jüngste, die Schönste, die Klügste durch die ungeheure Macht
seines unverlöschlichen Wesens gewonnen und sie für alle Zeit zur Seinen ge macht hatte.
Denn diese war sein, wie keine vor ihr. Er glitt mit ihr durch geheimnisvolle schmale
Kanäle, zwischen Palästen hin, in deren Schatten er nun wieder heimisch war, unter
geschwungenen Brücken, über die verdämmernde Gestalten huschten; manche winkten über die
Brüstung ihnen entgegen und waren wieder verschwunden, eh' man sie recht erblickt. Nun
legte die Gondel an; Marmorstufen führten in das prächtige Haus des Senators Bragadino;
es war als das einzige festlich beleuchtet; treppauf, treppab liefen Vermummte – manche
blieben neugierig stehen, aber wer konnte Casanova und Marcolina hinter ihren Masken
erkennen? Er trat mit ihr in den Saal. Hier wurde ein großes Spiel gespielt. Alle
Senatoren, auch Bragadino, in ihren Purpurmänteln, reihten sich um den Tisch. Als
Casanova eintrat, flüsterten sie alle seinen Namen wie im höchsten Schrecken; denn am
Blitz seiner Augen hinter der Maske hatten sie ihn erkannt. Er setzte sich nicht nieder;
er nahm keine Karten, aber er spielte mit. Er gewann, er gewann alles Gold, das auf dem
Tische lag, das war aber zu wenig; die Senatoren mußten Wechsel ausstellen; sie verloren
ihr Vermögen, ihre Paläste, ihre Purpurmäntel, – sie waren Bettler, sie krochen in
Lumpen um ihn her, sie küßten ihm die Hände, und daneben, in einem dunkelroten Saale,
war Musik und Tanz. Casanova wollte mit Marcolina tanzen, doch die war fort. Die
Senatoren in ihren Purpurmänteln saßen wieder um den Tisch wie vorher; aber nun wußte
Casanova, daß es nicht Karten waren, sondern Angeklagte, Verbrecher und Unschuldige, um
deren Schicksal es ging. Wo war Marcolina? Hatte er nicht die ganze Zeit ihr Handgelenk
umklammert gehalten? Er stürzte die Treppen hinunter, die Gondel wartete; nur weiter,
weiter, durch das Gewirr von Kanälen, natürlich wußte der Ruderer, wo Marcolina weilte;
warum aber war auch er maskiert? Das war früher nicht üblich gewesen in Venedig.
Casanova wollte ihn zur Rede stellen, aber er wagte es nicht. Wird man so feig als alter
Mann? Und immer weiter – was für eine Riesenstadt war Venedig in diesen fünfundzwanzig
Jahren geworden! Nun endlich wichen die Häuser zurück, breiter wurde der Kanal –
zwischen Inseln glitten sie hin, dort ragten die Mauern des Klosters von Murano, in das
Marcolina sich geflüchtet hatte. Fort war die Gondel, – jetzt hieß es schwimmen –, wie
war das schön! Indes spielten freilich die Kinder in Venedig mit seinen Goldstücken;
aber was lag ihm an Gold? ... Das Wasser war bald warm, bald kühl; es tropfte von seinen
Kleidern, als er die Mauer hinankletterte. – Wo ist Marcolina? fragte er im Sprechsaal
laut, schallend, wie nur ein Fürst fragen darf. Ich werde sie rufen, sagte die
Herzogin-Äbtissin und versank. Casanova ging, flog, flatterte hin und her, immer längs
der Gitterstäbe, wie eine Fledermaus. Hätte ich das nur früher gewußt, daß ich fliegen
kann. Ich werde es auch Marcolina lehren. Hinter den Stäben schwebten weibliche
Gestalten. Nonnen – doch sie trugen alle weltliche Tracht. Er wußte es, obwohl er sie
gar nicht sah, und er wußte auch, wer sie waren. Henriette war es, die Unbekannte, und
die Tänzerin Corticelli und Cristina, die Braut, und die schöne Dubois und die
verfluchte Alte aus Solothurn und Manon Balletti ... und hundert andre, nur Marcolina
war nicht unter ihnen! Du hast mich belogen, rief er dem Ruderer zu, der unten in der
Gondel wartete; er hatte noch keinen Menschen auf Erden so gehaßt wie den, und er schwor
sich zu, eine ausgesuchte Rache an ihm zu nehmen. Aber war es nicht auch eine Narrheit,
daß er Marcolina im Kloster von Murano gesucht hatte, da sie doch zu Voltaire gereist
war? Wie gut, daß er fliegen konnte, einen Wagen hätte er doch nicht mehr bezahlen
können. Und er schwamm davon; aber nun war das gar kein solches Glück mehr, als er
gedacht hatte; es wurde kalt und immer kälter, er trieb im offenen Meer, weit von
Murano, weit von Venedig – kein Schiff ringsum, seine schwere goldgestickte
Gewandung zog ihn nach unten; er versuchte sich ihrer zu entledigen, doch es war
unmöglich, da er sein Manuskript in der Hand hielt, das er Herrn Voltaire überreichen
mußte, – er bekam Wasser in den Mund, in die Nase, Todesangst überfiel ihn, er griff um
sich, er röchelte, er schrie und öffnete mühselig die Augen.
Durch einen schmalen Spalt zwischen Vorhang und Fensterrand war ein Strahl der Dämmerung
hereingebrochen. Marcolina, in ihr weißes Nachtgewand gehüllt, das sie mit beiden Händen
über der Brust zusammenhielt, stand am Fußende des Bettes und betrachtete Casanova mit
einem Blick unnennbaren Grauens, der ihn sofort und völlig wach machte. Unwillkürlich,
wie mit einer Gebärde des Flehens, streckte er die Arme nach ihr aus. Marcolina, wie zur
Erwiderung, wehrte mit einer Bewegung ihrer Linken ab, während sie mit der Rechten ihr
Gewand über der Brust noch krampfhafter zusammenfaßte. Casanova erhob sich halb, sich
mit beiden Händen auf das Lager stützend, und starrte sie an. Er vermochte den Blick von
ihr so wenig abzuwenden, als sie von ihm. Wut und Scham war in dem seinen, in dem ihren
Scham und Entsetzen. Und Casanova wußte, wie sie ihn sah; denn er sah sich selbst
gleichsam im Spiegel der Luft und erblickte sich so, wie er sich gestern in dem Spiegel
gesehen, der im Turmgemach gehangen: ein gelbes böses Antlitz mit tiefgegrabenen Falten,
schmalen Lippen, stechenden Augen – und überdies von den Ausschweifungen der
verflossenen Nacht, dem gehetzten Traum des Morgens, der furchtbaren Erkenntnis des
Erwachens dreifach verwüstet. Und was er in Marcolinens Blick las, war nicht, was er
tausendmal lieber darin gelesen: Dieb – Wüstling – Schurke –; er las nur dies eine –,
das ihn schmachvoller zu Boden schlug als alle andern Beschimpfungen vermocht hätten –
er las das Wort, das ihm von allen das furchtbarste war, da es sein endgültiges Urteil
sprach: Alter Mann. – Wäre es in diesem Augenblick in seiner Macht gestanden, sich
selbst durch ein Zauberwort zu vernichten – er hätte es getan, nur um nicht unter der
Decke hervorkriechen und sich Marcolinen in seiner Blöße zeigen zu müssen, die ihr
verabscheuungswürdiger dünken mußte als der Anblick eines ekelhaften Tieres. – Sie aber,
wie allmählich zur Besinnung kommend, und offenbar in dem Bedürfnis, ihm möglichst rasch
zu dem Gelegenheit zu geben, was doch unerläßlich war, kehrte ihr Gesicht nach der Wand,
und er benutzte die Zeit, um aus dem Bette zu steigen, den Mantel vom Boden
aufzunehmen und sich darein zu hüllen. Auch seines Degens versicherte er sich sofort,
und nun, da er sich zum mindesten der schlimmsten Schmach, der Lächerlichkeit entronnen
dünkte, dachte er schon daran, ob er nicht etwa die ganze, für ihn so klägliche
Angelegenheit durch wohlgesetzte Worte, um die er ja sonst nicht verlegen war, in ein
andres Licht rücken, ja irgendwie zu seinen Gunsten wenden könnte. Daß Lorenzi Marcolina
an ihn verkauft hatte, daran konnte nach der Lage der Dinge kein Zweifel für sie sein; –
aber wie tief sie den Elenden in diesem Augenblick auch hassen mochte, Casanova fühlte,
daß er, der feige Dieb, ihr noch tausendmal hassenswerter erscheinen mußte. Etwas andres
verhieß vielleicht eher Genugtuung: Marcolina mit anspielungsreicher, mit
höhnisch-lüsterner Rede zu erniedrigen: – doch auch dieser tückische Einfall schwand
dahin vor einem Blick, dessen entsetzensvoller Ausdruck sich allmählich in eine
unendliche Traurigkeit gewandelt hatte, als wäre es nicht nur Marcolinens Weiblichkeit,
die Casanova geschändet – nein, als hätte in dieser Nacht List gegen Vertrauen, Lust
gegen Liebe, Alter gegen Jugend sich namenlos und unsühnbar vergangen. Unter diesem
Blick, der zu Casanovas schlimmster Qual alles was noch gut in ihm war, für eine kurze
Weile neu entzündete, wandte er sich ab; – ohne sich noch einmal nach Marcolinen
umzusehen, ging er ans Fenster, raffte den Vorhang zur Seite, öffnete Fenster und
Gitter, warf einen Blick in den dämmernden Garten, der noch zu schlummern schien, und
schwang sich über die Brüstung ins Freie. Da er die Möglichkeit erwog, daß irgendwer im
Hause schon erwacht sein und ihn von einem Fenster aus erblicken könnte, vermied er die
Wiese und ließ sich von der Allee in ihren schützenden Schatten aufnehmen. Er trat durch
die Gartentür ins Freie hinaus und hatte kaum hinter sich zugeschlossen, als ihm jemand
entgegentrat und den Weg verstellte. Der Ruderer ... war sein erster Gedanke. Denn nun
wußte er plötzlich, daß der Gondelführer in seinem Traum niemand andres gewesen war als
Lorenzi. Da stand er. Sein roter Waffenrock mit der silbernen Verschnürung brannte durch
den Morgen. Welche prächtige Uniform, dachte Casanova in seinem verwirrten und ermüdeten
Gehirn, sieht sie nicht aus wie neu? – Und ist sicher nicht bezahlt ... Diese nüchternen
Erwägungen brachten ihn völlig zur Besinnung, und sobald er sich der Lage bewußt war,
fühlte er sich froh. Er nahm seine stolzeste Haltung an, faßte den Degengriff
unter dem hüllenden Mantel fester und sagte im liebenswürdigsten Ton: »Finden Sie nicht,
Herr Leutnant Lorenzi, daß Ihnen dieser Einfall etwas verspätet kommt?« – »Doch nicht,«
erwiderte Lorenzi – und er war schöner in diesem Augenblick als irgendein Mensch, den
Casanova je gesehen –, »da doch nur einer von uns den Platz lebend verlassen wird.« –
»Sie haben es eilig, Lorenzi«, sagte Casanova in einem fast weichen Ton. »Wollen wir die
Sache nicht wenigstens bis Mantua aufschieben? Es wird mir eine Ehre sein, Sie in meinem
Wagen mitzunehmen. Er wartet an der Straßenbiegung. Auch hätte es manches für sich, wenn
die Formen gewahrt würden ... gerade in unserm Fall.« – »Es bedarf keiner Formen. Sie,
Casanova, oder ich – und noch in dieser Stunde.« Er zog den Degen. Casanova zuckte die
Achseln. »Wie Sie wünschen, Lorenzi. Aber ich möchte Ihnen doch zu bedenken geben, daß
ich leider gezwungen wäre, in einem völlig unangemessenen Kostüm anzutreten.« Er schlug
den Mantel auseinander und stand nackt da, den Degen wie spielend in der Hand. In
Lorenzis Augen stieg eine Welle von Haß. »Sie sollen nicht im Nachteil mir gegenüber
sein«, sagte er und begann mit großer Geschwindigkeit, sich all seiner Kleidungsstücke
zu entledigen. Casanova wandte sich ab und hüllte sich solange wieder in seinen Mantel,
da es trotz der allmählich durch den Morgendunst brechenden Sonne nun empfindlich kühl
geworden war. Von den Bäumen, die spärlich auf der Höhe des Hügels standen, fielen lange
Schatten über den Rasen hin. Einen Moment lang dachte Casanova, ob nicht am Ende jemand
hier vorbeikommen könnte? Doch der Pfad, der längs der Mauer zur rückwärtigen Gartentür
lief, wurde wohl nur von Olivo und den Seinen benutzt. Es fiel Casanova ein, daß er nun
vielleicht die letzten Minuten seines Daseins durchlebte, und er wunderte sich, daß er
vollkommen ruhig war. Herr Voltaire hat Glück, dachte er flüchtig; aber im Grunde war
ihm Voltaire höchst gleichgültig, und er hätte gewünscht, in dieser Stunde holdere
Bilder vor seine Seele zaubern zu können als das widerliche Vogelgesicht des alten
Literaten. War es übrigens nicht sonderbar, daß jenseits der Mauer in den Wipfeln der
Bäume keine Vögel sangen? Das Wetter würde sich wohl ändern. Doch was ging ihn das
Wetter an? Er wollte lieber Marcolinens gedenken, der Wonnen, die er in ihren Armen
genossen, und die er nun teuer bezahlen sollte. Teuer? – Wohlfeil genug! Ein paar
Greisenjahre – in Elend und Niedrigkeit ... Was hatte er noch zu tun auf der Welt?
... Herrn Bragadino vergiften? – War es der Mühe wert? Nichts war der Mühe wert ... Wie
dünn dort oben die Bäume standen! Er begann sie zu zählen. Fünf ... sieben ... zehn –
Sollte ich nichts Wichtigeres zu tun haben? ... – »Ich bin bereit, Herr Chevalier!«
Rasch wandte sich Casanova um. Lorenzi stand ihm gegenüber, herrlich in seiner Nacktheit
wie ein junger Gott. Alles Gemeine war aus seinem Antlitz weggelöscht; er schien so
bereit, zu töten als zu sterben. – Wenn ich meinen Degen hinwürfe? dachte Casanova. Wenn
ich ihn umarmte? Er ließ den Mantel von seinen Schultern gleiten und stand nun da wie
Lorenzi, schlank und nackt. Lorenzi senkte den Degen zum Gruß nach den Regeln der
Fechtkunst, Casanova gab den Gruß zurück; im nächsten Augenblick kreuzten sie die
Klingen, und silbernes Morgenlicht spielte glitzernd von Stahl zu Stahl. Wie lang ist es
nur her, dachte Casanova, seit ich zum letztenmal einem Gegner mit dem Degen
gegenübergestanden bin? Doch keines seiner ernsthafteren Duelle wollte ihm jetzt
einfallen, sondern nur die Fechtübungen, die er vor zehn Jahren noch mit Costa, seinem
Kammerdiener, abzuhalten pflegte, dem Lumpen, der ihm später mit hundertfünfzigtausend
Lire durchgegangen war. Immerhin, dachte Casanova, er war ein tüchtiger Fechter; – und
auch ich habe nichts verlernt! Sein Arm war sicher, seine Hand war leicht, sein Auge
blickte so scharf wie je. Eine Fabel ist Jugend und Alter, dachte er ... Bin ich nicht
ein Gott? Wir beide nicht Götter? Wer uns jetzt sähe! – Es gäbe Damen, die sich's was
kosten ließen. Die Schneiden bogen sich, die Spitzen flirrten; nach jeder Berührung der
Klingen sang es leise in der Morgenluft nach. Ein Kampf? Nein, ein Turnier ... Warum
dieser Blick des Entsetzens, Marcolina? Sind wir nicht beide deiner Liebe wert? Er ist
nur jung, ich aber bin Casanova! ... Da sank Lorenzi hin, mit einem Stich mitten ins
Herz. Der Degen entfiel seiner Hand, er riß die Augen weit auf, wie im höchsten
Erstaunen, hob noch einmal das Haupt, seine Lippen verzogen sich schmerzlich, er ließ
das Haupt sinken, seine Nasenflügel öffneten sich weit, ein leises Röcheln, er starb. –
Casanova beugte sich zu ihm hinab, kniete neben ihm nieder, sah ein paar Blutstropfen
aus der Wunde sickern, führte die Hand ganz nahe an des Gefallenen Mund; kein Hauch des
Lebens berührte sie. Ein kühler Schauer floß durch Casanovas Glieder. Er erhob sich und
nahm seinen Mantel um. Dann trat er wieder an die Leiche und blickte auf den
Jünglingsleib hinab, der in unvergleichlicher Schönheit auf dem Rasen hingestreckt
lag. Ein leises Rauschen ging durch die Stille; es war der Morgenwind, der durch die
Wipfel jenseits der Gartenmauer strich. Was tun? fragte sich Casanova. Leute rufen?
Olivo? Amalia? Marcolina? – Wozu? Lebendig macht ihn keiner mehr! – Er überlegte mit der
kalten Ruhe, die ihm in den gefährlichsten Momenten seines Daseins immer eigen gewesen
war. – Bis man ihn findet, kann es viele Stunden dauern, vielleicht bis zum Abend, auch
länger. Bis dahin hab' ich Zeit gewonnen, und darauf allein kommt es an. – Er hielt
immer noch seinen Degen in der Hand, er sah Blut daran schimmern und wischte es im Grase
ab. Der Einfall kam ihm, die Leiche anzukleiden, aber das hätte ihn Minuten verlieren
lassen, die kostbar und unwiederbringlich waren. Wie zu einem letzten Opfer beugte er
sich nochmals nieder und drückte dem Toten die Augen zu. »Glücklicher«, sagte er vor
sich hin, und, wie in traumhafter Benommenheit, küßte er den Ermordeten auf die Stirn.
Dann erhob er sich rasch und eilte der Mauer entlang, um die Ecke, nach abwärts biegend,
der Straße zu. Der Wagen stand an der Kreuzung, wo er ihn verlassen, der Kutscher war
auf dem Bock fest eingeschlafen. Casanova hatte acht, ihn nicht aufzuwecken, stieg mit
äußerster Vorsicht ein, und jetzt erst rief er ihn an. »He! Wird's bald?« und puffte ihn
in den Rücken. Der Kutscher schrak auf, schaute um sich, staunte, daß es schon ganz
licht war, dann hieb er auf die Rosse ein und fuhr davon. Casanova lehnte sich tief
zurück, in den Mantel gehüllt, der einmal Lorenzi gehört hatte. Im Dorf waren nur ein
paar Kinder auf der Straße zu sehen; die Männer und Weiber offenbar schon alle bei der
Arbeit auf dem Feld. Als die Häuser hinter ihnen lagen, atmete Casanova auf; er öffnete
den Reisesack, nahm seine Sachen heraus und begann sich unter dem Schutz des Mantels
anzukleiden, nicht ohne Sorge, daß der Kutscher sich umdrehen und ihm seines Fahrgastes
sonderbares Gebaren auffallen könnte. Doch nichts dergleichen geschah; Casanova konnte
sich ungestört fertigmachen, brachte Lorenzis Mantel im Sack unter und nahm wieder den
seinen um. Er blickte nach dem Himmel, der sich indes getrübt hatte. Erfühlte sich nicht
müde, vielmehr aufs höchste angespannt und überwach. Er überdachte seine Lage und kam,
wie immer er sie betrachtete, zu dem Schluß, daß sie wohl einigermaßen bedenklich war,
aber nicht so gefährlich, wie sie ängstlichem Gemütern vielleicht erschienen wäre. Daß
man ihn sofort verdächtigen würde, Lorenzi getötet zu haben, war freilich
wahrscheinlich; aber keiner konnte zweifeln, daß es im ehrlichen Zweikampf
geschehen war, und besser noch: er war von Lorenzi überfallen, zum Duell gezwungen
worden, und niemand durfte es ihm als Verbrechen anrechnen, daß er sich zur Wehr gesetzt
hatte. Aber warum hatte er ihn auf dem Rasen liegen lassen wie einen toten Hund? Auch
das durfte ihm niemand zum Vorwurf machen: rasche Flucht war sein gutes Recht, beinahe
seine Pflicht gewesen. Lorenzi hätte es nicht anders gemacht. Aber konnte ihn Venedig
nicht ausliefern? Sofort nach seiner Ankunft wollte er sich in den Schutz seines Gönners
Bragadino stellen. Aber bezichtigte er sich so nicht selbst einer Tat, die am Ende
unentdeckt bleiben oder doch nicht ihm zur Last gelegt werden würde? Gab es überhaupt
einen Beweis gegen ihn? War er nicht nach Venedig berufen? Wer durfte sagen, daß es eine
Flucht war? Der Kutscher etwa, der die halbe Nacht an der Straße gewartet? Mit noch ein
paar Goldstücken war ihm das Maul gestopft. So liefen seine Gedanken im Kreise.
Plötzlich war ihm, als hörte er hinter seinem Rücken das Getrabe von Pferden. Schon? war
sein erster Gedanke. Er steckte den Kopf zum Wagenfenster hinaus, sah nach rückwärts,
die Straße war leer. Sie waren an einem Gehöft vorbeigefahren; es war der Widerhall vom
Hufschlag seiner eignen Pferde gewesen. Daß er sich getäuscht hatte, beruhigte ihn für
eine Weile so sehr, als wäre nun jede Gefahr für allemal vorüber. Dort ragten die Türme
von Mantua ... »Vorwärts, vorwärts«, sagte er vor sich hin; denn er wollte gar nicht,
daß es der Kutscher hörte. Der aber, in der Nähe des Ziels, ließ die Rosse aus eignem
Antrieb immer rascher laufen; bald waren sie am Tor, durch das Casanova vor noch nicht
zweimal vierundzwanzig Stunden mit Olivo die Stadt verlassen; er gab dem Kutscher den
Namen des Gasthofs an, vor dem er zu halten hätte; nach wenigen Minuten zeigte sich das
Schild mit dem goldenen Löwen, und Casanova sprang aus dem Wagen. In der Tür stand die
Wirtin; frisch, mit lachendem Gesicht, und schien nicht übel gelaunt, Casanova zu
empfangen, wie man eben einen Geliebten empfängt, der nach unerwünschter Abwesenheit als
ein Heißersehnter wiederkehrt; er aber wies mit einem ärgerlichen Blick auf den Kutscher
wie auf einen lästigen Zeugen und hieß ihn dann, sich an Speise und Trank nach
Herzenslust gütlich tun. »Ein Brief aus Venedig ist gestern abend für Sie angekommen,
Herr Chevalier«, sagte die Wirtin. – »Noch einer?« fragte Casanova und lief die Treppen
hinauf in sein Zimmer. Die Wirtin folgte ihm. Auf dem Tisch lag ein versiegeltes
Schreiben. In höchster Erregung öffnete es Casanova. – Ein Widerruf? dachte er in Angst.
Doch als er gelesen, erheiterte sich sein Gesicht. Es waren ein paar Zeilen von
Bragadino mit einer Anweisung auf zweihundertfünfzig Lire, die beilag, damit er seine
Reise, wenn er etwa dazu entschlossen, auch nicht einen Tag länger aufzuschieben
genötigt sei. Casanova wandte sich zu der Wirtin und erklärte ihr mit einer angenommenen
verdrießlichen Miene, daß er leider gezwungen sei, schon in dieser selben Stunde seine
Reise fortzusetzen, wenn er nicht Gefahr laufen wolle, die Stelle zu verlieren, die ihm
sein Freund Bragadino in Venedig verschafft habe, und um die hundert Bewerber da seien.
Aber, setzte er gleich hinzu, als er bedrohliche Wolken auf der Wirtin Stirn aufziehen
sah, er wolle sich die Stelle nur erst einmal sichern, sein Dekret – nämlich als
Sekretär des Hohen Rats von Venedig – in Empfang nehmen, dann, wenn er einmal in Amt und
Würden sei, werde er sofort einen Urlaub verlangen, um seine Angelegenheiten in Mantua
zu ordnen, den könne man ihm natürlich nicht verweigern; er lasse ja sogar seine meisten
Habseligkeiten hier zurück – und dann, dann hänge es nur von seiner teuern, von seiner
entzückenden Freundin ab, ob sie nicht ihr Wirtsgeschäft hier aufgeben und ihm als seine
Gattin nach Venedig folgen wolle ... Sie fiel ihm um den Hals und fragte ihn mit
schwimmenden Augen, ob sie ihm nicht vor seiner Abfahrt wenigstens ein tüchtiges
Frühstück ins Zimmer bringen dürfe. Er wußte, daß es auf eine Abschiedsfeier abgesehen
war, zu der er nicht das geringste Verlangen verspürte, doch er erklärte sich
einverstanden, um sie nur endlich einmal los zu sein; als sie die Treppe hinunter war,
packte er noch von Wäsche und Büchern, was er am dringendsten benötigte, in seine
Tasche, begab sich in die Wirtsstube, wo er den Kutscher bei einem reichlichen Mahle
fand, und fragte ihn, ob er – gegen eine Summe, die den gewöhnlichen Preis um das
Doppelte überstieg – bereit wäre, sofort mit den gleichen Pferden in der Richtung gegen
Venedig zu fahren, bis zur nächsten Poststation. Der Kutscher schlug ohne weiteres ein,
und so war Casanova für den Augenblick die schlimmste Sorge los. Die Wirtin trat ein,
zornrot im Gesicht, und und fragte ihn, ob er vergessen habe, daß sein Frühstück ihn auf
dem Zimmer erwarte. Casanova erwiderte ihr in der unbefangensten Weise, er habe es
keineswegs vergessen, und bat sie zugleich, da es ihm an Zeit mangle, das Bankhaus
aufzusuchen, auf das sein Wechsel ausgestellt war, ihm gegen die Anweisung, die er
ihr überreichte, zweihundertfünfzig Lire auszuhändigen. Während sie lief, das Geld zu
holen, ging Casanova auf sein Zimmer und begann mit einer wahrhaft tierischen Gier das
Essen hinunterzuschlingen, das bereitgestellt war. Er ließ sich nicht stören, da die
Wirtin erschien, steckte nur rasch das Geld ein, das sie ihm gebracht hatte; – als er
fertig war, wandte er sich der Frau zu, die zärtlich an seine Seite gerückt war, nun
endlich ihre Stunde für gekommen hielt und in nicht mißzuverstehender Weise ihre Arme
gegen ihn ausbreitete – er umschlang sie heftig, küßte sie auf beide Wangen, drückte sie
an sich, und als sie bereit schien, ihm nichts mehr zu versagen, riß er sich mit den
Worten: »Ich muß fort ... auf Wiedersehen!« so heftig von ihr los, daß sie nach
rückwärts in die Ecke des Sofas fiel. Der Ausdruck ihrer Mienen, in seiner Mischung von
Enttäuschung, Zorn, Ohnmacht, hatte etwas so unwiderstehlich Komisches, daß Casanova,
während er die Tür hinter sich zuschloß, sich nicht enthalten konnte, laut
aufzulachen.
Daß sein Fahrgast es eilig hatte, konnte dem Kutscher nicht entgangen sein; sich über
die Gründe Gedanken zu machen, war er nicht verpflichtet; jedenfalls saß er fahrtbereit
auf dem Bock, als Casanova aus der Tür des Gasthofs trat, und hieb mächtig auf die
Pferde ein, sobald jener eingestiegen war. Auch hielt er es für richtig, nicht mitten
durch die Stadt zu fahren, sondern umkreiste sie, um an ihrem andern Ende wieder auf die
Landstraße zu geraten. Noch stand die Sonne nicht hoch, es fehlten drei Stunden auf
Mittag. Casanova dachte: Es ist sehr wohl möglich, daß man den toten Lorenzi noch nicht
einmal gefunden hat. Daß er selbst Lorenzi umgebracht hatte, kam ihm kaum recht zu
Bewußtsein; er war nur froh, daß er sich immer weiter von Mantua entfernte, daß ihm
endlich für eine Weile Ruhe gegönnt war ... Er verfiel in den tiefsten Schlaf seines
Lebens, der gewissermaßen zwei Tage und zwei Nächte dauerte; denn die kurzen
Unterbrechungen, die das Wechseln der Pferde notwendig machte, und während deren er in
Wirtsstuben saß, vor Posthäusern auf und ab ging, mit Postmeistern, Wirten,
Zollwächtern, Reisenden gleichgültige Zufallsworte tauschte, hatte er als Einzelvorfälle
nicht im Gedächtnis zu bewahren vermocht. So floß später die Erinnerung dieser zwei Tage
und Nächte mit dem Traum zusammen, den er in Marcolinens Bett geträumt, und auch der
Zweikampf der zwei nackten Menschen auf einem grünen Rasen im Frühsonnenschein
gehörte irgendwie zu diesem Traum, in dem er manchmal in einer rätselhaften Weise nicht
Casanova, sondern Lorenzi, nicht der Sieger, sondern der Gefallene, nicht der
Entfliehende, sondern der Tote war, um dessen blassen Jünglingsleib einsamer Morgenwind
spielte; und beide, er selbst und Lorenzi, waren nicht wirklicher als die Senatoren in
den roten Purpurmänteln, die als Bettler vor ihm auf den Knien herum gerutscht waren,
und nicht weniger wirklich als jener ans Geländer irgendeiner Brücke gelehnte Alte, dem
er in der Abenddämmerung aus dem Wagen ein Almosen zugeworfen hatte. Hätte Casanova
nicht mittels seiner Urteilskraft das Erlebte und Geträumte auseinanderzuhalten
vermocht, so hätte er sich einbilden können, daß er in Marcolinens Armen in einen wirren
Traum verfallen war, aus dem er erst beim Anblick des Campanile von Venedig
erwachte.
Es war am dritten Morgen seiner Reise, daß er, von Mestre aus, den Glockenturm nach mehr
als zwanzig Jahren der Sehnsucht zum erstenmal wieder erschaute, ein graues
Steingebilde, das einsam ragend aus der Dämmerung wie aus weiter Ferne vor ihm
auftauchte. Aber er wußte, daß ihn jetzt nur mehr eine Fahrt von zwei Stunden von der
geliebten Stadt trennte, in der er jung gewesen war. Er entlohnte den Kutscher, ohne zu
wissen, ob es der vierte, fünfte oder sechste war, mit dem er seit Mantua abzurechnen
hatte, und eilte, von einem Jungen gefolgt, der ihm das Gepäck nachtrug, durch die
armseligen Straßen zum Hafen, um das Marktschiff zu erreichen, das heute noch, wie vor
fünfundzwanzig Jahren, um sechs Uhr nach Venedig abging. Es schien nur noch auf ihn
gewartet zu haben; kaum hatte er unter Weibern, die ihre Ware zur Stadt brachten,
kleinen Geschäftsleuten, Handwerkern auf einer schmalen Bank seinen Platz eingenommen,
als sich das Schiff in Bewegung setzte. Der Himmel war trüb; Dunst lag auf den Lagunen;
es roch nach faulem Wasser, nach feuchtem Holz, nach Fischen und nach frischem Obst.
Immer höher ragte der Campanile, andre Türme zeichneten sich in der Luft ab,
Kirchenkuppeln wurden sichtbar; von irgendeinem Dach, von zweien, von vielen glänzte der
Strahl der Morgensonne ihm entgegen; – Häuser rückten auseinander, wuchsen in die Höhe;
Schiffe, größere und kleinere, tauchten aus dem Nebel; Grüße von einem zum andern wurden
getauscht. Das Geschwätz rings um ihn wurde lauter; ein kleines Mädchen bot ihm Trauben
zum Kauf; er verzehrte die blauen Beeren, spuckte die Schalen nach der Art seiner
Landsleute hinter sich über Bord und ließ sich in ein Gespräch mit irgendeinem
Menschen ein, der seine Befriedigung darüber äußerte, daß nun endlich schönes Wetter
anzubrechen scheine. Wie, es hatte hier drei Tage lang geregnet? Er wußte nichts davon;
er kam aus dem Süden, aus Neapel, aus Rom ... Schon fuhr das Schiff durch die Kanäle der
Vorstadt; schmutzige Häuser starrten ihn aus trüben Fenstern wie mit blöden, fremden
Augen an, zwei-, dreimal hielt das Schiff an, ein paar junge Leute, einer mit einer
großen Mappe unterm Arm, Weiber mit Körben stiegen aus; – nun kam man in freundlichere
Bezirke. War dies nicht die Kirche, in der Martina zur Beichte gegangen war? – Und dies
nicht das Haus, in dem er die blasse, todkranke Agathe auf seine Weise wieder rot und
gesund gemacht hatte? – Und hatte er in jenem nicht den schuftigen Bruder der reizenden
Silvia braun und blau geprügelt? Und in jenem Seitenkanal das kleine gelbliche Haus, auf
dessen wasserbespülten Stufen ein dickes Frauenzimmer mit nackten Füßen stand ... Ehe er
sich noch zu besinnen vermochte, welche Erscheinung aus fernen Jugendtagen er dahin zu
versetzen hatte, war das Schiff in den großen Kanal eingelenkt und fuhr nun auf der
breiten Wasserstraße langsam zwischen Palästen weiter. Es war Casanova, von seinem
Traume her, als wär' er erst tags vorher denselben Weg gefahren. An der Rialtobrücke
stieg er aus; denn eh' er sich zu Herrn Bragadino begab, wollte er in einem nahen
kleinen, wohlfeilen Gasthof, dessen er sich der Lage, aber nicht dem Namen nach
erinnerte, sein Gepäck unterbringen und sich eines Zimmer versichern. Er fand das Haus
verfallener, oder mindestens vernachlässigter, als er es im Gedächtnis bewahrt hatte;
ein verdrossener, unrasierter Kellner wies ihm einen wenig freundlichen Raum mit der
Aussicht auf die fensterlose Mauer eines gegenüberliegenden Hauses an. Doch Casanova
wollte keine Zeit verlieren; auch war ihm, da sich seine Barschaft auf der Reise beinahe
gänzlich erschöpft hatte, der niedrige Preis des Zimmers sehr erwünscht; so beschloß er,
vorläufig hier zu bleiben, befreite sich vom Staub und Schmutz der langen Reise,
überlegte eine Weile, ob er sich in sein Prachtgewand werfen sollte, fand es dann doch
angemessen, wieder das bescheidenere anzulegen, und verließ endlich den Gasthof. Nur
hundert Schritte waren es, durch ein schmales Gäßchen und über eine Brücke, zu dem
kleinen, vornehmen Palazzo, in dem Bragadino wohnte. Ein junger Bedienter mit einem
ziemlich unverschämten Gesicht nahm Casanovas Anmeldung entgegen, tat, als wenn er den
berühmten Namen niemals gehört hätte, kam aber mit einer etwas freundlicheren Miene
aus den Gemächern seines Herrn wieder und ließ den Gast eintreten. Bragadino saß an
einem nah ans offene Fenster gerückten Tisch beim Frühstück; er wollte sich erheben, was
Casanova nicht zuließ. – »Mein teuerer Casanova,« rief Bragadino aus, »wie glücklich bin
ich, Sie wiederzusehen! Ja, wer hätte gedacht, daß wir uns überhaupt jemals wiedersehen
würden?« Und er streckte ihm beide Hände entgegen. Casanova ergriff sie, als wenn er sie
küssen wollte, tat es aber nicht und erwiderte die herzliche Begrüßung mit Worten heißen
Dankes in der etwas hochtrabenden Art, von der seine Ausdrucksweise bei solchen
Gelegenheiten nicht frei war. Bragadino forderte ihn auf, Platz zu nehmen, und er fragte
ihn vor allem, ob er schon gefrühstückt habe. Als Casanova verneinte, klingelte
Bragadino dem Diener und gab ihm die entsprechende Weisung. Als der Diener sich entfernt
hatte, äußerte Bragadino seine Befriedigung darüber, daß Casanova das Anerbieten des
Hohen Rats ohne Vorbehalt angenommen; es werde ihm gewiß nicht zum Nachteil gereichen,
daß er sich entschlossen habe, dem Vaterland seine Dienste zu widmen. Casanova erklärte,
daß er sich glücklich schätzen werde, die Zufriedenheit des Hohen Rats zu erwerben. – So
sprach er und dachte sich sein Teil dabei. Freilich von irgendwelchem Haß gegen
Bragadino verspürte er nichts mehr in sich; eher eine gewisse Rührung über den einfältig
gewordenen, uralten Mann, der ihm da gegenübersaß mit dünngewordenem weißen Bart und
rotgeränderten Augen, und dem die Tasse in der mageren Hand zitterte. Als Casanova ihn
zum letztenmal gesehen hatte, mochte Bragadino etwa so viele Jahre zählen als Casanova
heute; freilich war er ihm schon damals wie ein Greis erschienen.
Nun brachte der Diener das Frühstück für Casanova, der sich's, ohne sich viel zureden zu
lassen, vortrefflich schmecken ließ, da er auf seiner Reise nur hier und da einen
spärlichen Imbiß in Hast zu sich genommen. – Ja, Tag und Nacht war er von Mantua bis
hierher gereist; – so eilig hatte er's, dem Hohen Rat seine Bereitwilligkeit, dem edlen
Gönner seine unauslöschliche Dankbarkeit zu beweisen: dies brachte er zur Entschuldigung
vor für die beinahe unanständige Gier, mit der er die dampfende Schokolade schlürfte.
Durchs Fenster drangen die tausendfältigen Geräusche des Lebens von den großen und
kleinen Kanälen; die Rufe der Gondelführer schwebten eintönig über alle andern hin;
irgendwo, nicht zu weit, vielleicht in dem Palast gegenüber – war es nicht der des
Fogazzari? – sang eine schöne, ziemlich hohe Frauenstimme Koloraturen; sie gehörte
offenbar einem sehr jungen Wesen an, einem Wesen, das noch nicht einmal geboren war zur
Zeit, da Casanova aus den Bleikammern entflohen war. – Er aß Zwieback und Butter, Eier,
kaltes Fleisch; und entschuldigte sich immer wieder ob seiner Unersättlichkeit bei
Bragadino, der ihm vergnügt zusah. »Ich liebe es,« sagte er, »wenn junge Leute Appetit
haben! Und soviel ich mich erinnere, mein teuerer Casanova, hat es Ihnen daran nie
gefehlt!« Und er entsann sich eines Mahls, das er in den ersten Tagen ihrer
Bekanntschaft gemeinsam mit Casanova genossen – vielmehr, bei dem er seinem jungen
Freunde bewundernd zugeschaut hatte – wie heute; denn er selbst war damals noch nicht so
weit gewesen, es war nämlich, kurz nachdem Casanova den Arzt hinausgeworfen, der den
armen Bragadino durch die ewigen Aderlässe fast ins Grab gebracht hatte ... Sie redeten
von vergangenen Zeiten; ja – damals war das Leben in Venedig schöner gewesen als heute.
– »Nicht überall«, sagte Casanova und spielte durch ein feines Lächeln auf die
Bleidächer an. Bragadino wehrte mit einer Handbewegung ab, als wäre nun nicht die
Stunde, sich solcher kleiner Unannehmlichkeiten zu erinnern. Übrigens, er, Bragadino,
hatte auch damals alles mögliche versucht, um Casa nova vor der Strafe zu retten, wenn
auch leider vergeblich. Ja, wenn er schon damals dem Rat der Zehn angehört hätte! –
So kamen sie auf politische Angelegenheiten zu reden, und Casanova erfuhr von dem alten
Mann, der, von seinem Thema entzündet, den Witz und die ganze Lebendigkeit seiner
jüngeren Jahre wiederzufinden schien, gar vieles und merkwürdiges über die bedenkliche
Geistesrichtung, der ein Teil der Venezianer Jugend neuerdings anzuhängen, und über die
gefährlichen Umtriebe, die sich in unverkennbaren Zeichen anzukündigen begännen; und er
war gar nicht übel vorbereitet, als er sich noch am Abend desselben Tages, den er, in
sein trübseliges Gasthofzimmer eingeschlossen, nur zur Beschwichtigung seiner vielfach
aufgestörten Seele mit dem Ordnen und teilweisen Verbrennen von Papieren verbracht
hatte, in das Café Quadri am Markusplatz verfügte, das als Hauptversammlungsort der
Freidenker und Umstürzler galt. Durch einen alten Musiker, der ihn sofort
wiedererkannte, den einstigen Kapellmeister des Theaters San Samuele, desselben, in dem
Casanova vor dreißig Jahren Geige gespielt hatte, wurde er auf die ungezwungenste
Weise in eine Gesellschaft von meist Jüngern Leuten eingeführt, deren Namen ihm von
seinem Morgengespräch mit Bragadino her als besonders verdächtige in Erinnerung
verblieben waren. Sein eigener Name aber schien auf die andern keineswegs in der Art zu
wirken, die zu erwarten er berechtigt gewesen wäre; ja die meisten wußten offenbar nicht
mehr von Casanova, als daß er vor langer Zeit aus irgendeinem Grunde oder vielleicht
auch ganz unschuldig in den Bleikammern gefangen gesessen und unter allerlei
Fährlichkeiten von dort entkommen war. Das Büchlein, in dem er schon vor Jahren seine
Flucht so lebendig geschildert hatte, war zwar nicht unbekannt geblieben, doch mit der
gebührenden Aufmerksamkeit schien es niemand gelesen zu haben. Es machte Casanova
einigen Spaß, zu denken, daß es nur von ihm abhinge, jedem dieser jungen Herrn baldigst
zu persönlichen Erfahrungen über die Lebensbedingungen unter den Bleidächern von Venedig
und über die Schwierigkeiten des Entkommens zu verhelfen; aber fern davon, einen so
boshaften Einfall durchschimmern oder gar erraten zu lassen, verstand er es vielmehr,
auch hier den Harmlosen und Liebenswürdigen zu spielen, und unterhielt bald die
Gesellschaft nach seiner Art mit der Erzählung von allerlei heitern Abenteuern, die ihm
auf seiner letzten Reise von Rom hierher begegnet waren; – Geschichten, die, wenn auch
im ganzen ziemlich wahr, in Wirklichkeit immerhin fünfzehn bis zwanzig Jahre
zurücklagen. Während man ihm noch angeregt zuhörte, brachte irgendwer mit andern
Neuigkeiten die Kunde, daß ein Offizier aus Mantua in der Nähe des Landguts eines
Freundes, wo er zu Besuch geweilt, umgebracht und die Leiche von den Räubern bis aufs
Hemd ausgeplündert worden wäre. Da dergleichen Überfälle und Mordtaten zu jener Zeit
nicht gerade selten vorkamen, erregte der Fall auch in diesem Kreise kein sonderliches
Aufsehen, und Casanova fuhr in seiner Erzählung fort, wo man ihn unterbrochen hatte –
als ginge ihn die Sache so wenig an wie die übrigen; ja von einer Unruhe befreit, die er
sich nur nicht recht eingestanden hatte, fand er noch lustigere und frechere Worte als
vorher.
Mitternacht war vorbei, als er nach flüchtigem Abschied von seinen neuen Bekannten
unbegleitet auf den weiten leeren Platz hinaustrat, über dem Sternenlos, doch ruhelos
flimmernd ein dunstschwerer Himmel hing. Mit einer Art von schlafwandlerischer
Sicherheit, ohne sich eigentlich bewußt zu werden, daß er ihn in dieser Stunde
nach einem Vierteljahrhundert zum ersten Male wieder ging, fand er den Weg durch enge
Gäßchen zwischen dunklen Häusermauern und über schmale Brückenstege, unter denen die
schwärzlichen Kanäle den ewigen Wassern zuzogen, nach seinem elenden Gasthof, dessen Tor
erst auf wiederholtes Klopfen sich trag und unfreundlich vor ihm öffnete; – und wenige
Minuten später, in einer schmerzenden Müdigkeit, die durch seine Glieder lastete, ohne
sie zu lösen, mit einem bittern Nachgeschmack auf den Lippen, den er gleichsam aus dem
Innersten seines Wesens nach oben steigen fühlte, warf er sich, nur halb ausgekleidet,
auf ein schlechtes Bett, um nach fünfundzwanzig Jahren der Verbannung den ersten, so
lang ersehnten Heimatschlaf zu tun, der endlich, bei anbrechendem Morgen, traumlos und
dumpf, sich des alten Abenteurers erbarmte.
Anmerkung
Ein Besuch Casanovas bei Voltaire in Ferney hat tatsächlich stattgefunden, doch alle
in der vorstehenden Novelle daran geknüpften Folgerungen, wie insbesondre die, daß
Casanova sich mit einer gegen Voltaire gerichteten Streitschrift beschäftigt hätte,
haben mit der geschichtlichen Wahrheit nichts zu tun. Historisch ist ferner, daß
Casanova sich im Alter zwischen fünfzig und sechzig genötigt sah, in seiner
Vaterstadt Venedig Spionendienste zu leisten; wie man auch über manche andre frühere
Erlebnisse des berühmten Abenteurers, deren im Verlaufe der Novelle beiläufig
Erwähnung geschieht, in seinen »Erinnerungen« ausführlichere und getreuere
Nachrichten finden kann. Im übrigen ist die ganze Erzählung von »Casanovas Heimfahrt«
frei erfunden.
A.S.