Georg von Wergenthin saß heute ganz allein bei Tische. Felician, sein älterer Bruder, hatte es vorgezogen, nach längerer Zeit wieder einmal mit Freunden zu speisen. Aber Georg verspürte noch keine besondere Neigung, Ralph Skelton, den Grafen Schönstein, oder andere von den jungen Leuten wiederzusehen, mit denen er sonst gern plauderte; er fühlte sich vorläufig zu keiner Art von Geselligkeit aufgelegt.
Der Diener räumte ab und verschwand. Georg zündete sich eine Zigarette an, dann ging er nach seiner Gewohnheit in dem großen, dreifenstrigen, nicht sehr hohen Zimmer hin und her und wunderte sich, wie dieser Raum, der ihm durch viele Wochen wie verdüstert erschienen war, allmählich doch das frühere freundliche Aussehen wiederzugewinnen begann. Unwillkürlich ließ er seinen Blick auf dem leeren Sessel am oberen Tischende ruhen, über den durch das offene Mittelfenster die Septembersonne hinfloß, und es war ihm, als hätte er seinen Vater, der seit zwei Monaten tot war, noch vor einer Stunde dort sitzen gesehen; so deutlich stand ihm jede, selbst die kleinste Gebärde des Verstorbenen vor Augen, bis zu seiner Art die Kaffeetasse fortzurücken, den Zwicker aufzusetzen, in einer Broschüre zu blättern.
Georg dachte an eines der letzten Gespräche mit dem Vater, das im Spätfrühling
stattgefunden hatte, kurz vor der Übersiedlung in die Villa am Veldeser See. Georg
war damals eben aus Sizilien heimgekommen, wo er den April mit Grace verbracht hatte,
auf einer melancholischen und ein wenig langweiligen Abschiedsreise, vor der
endgültigen Rückkehr der Geliebten nach Amerika. Er hatte wieder ein halbes Jahr oder
länger nichts Rechtes gearbeitet; nicht einmal das schwermütige Adagio war
niedergeschrieben, das er in Palermo, an einem bewegten Morgen am Ufer
spazierengehend, aus dem Rauschen der Wellen herausgehört hatte. Nun spielte er das
Thema seinem Vater vor, phantasierte darüber mit einem übertriebenen Reichtum an
Harmonien, der die einfache Melodie beinahe verschlang; und als er
Er stand am Fenster und blickte hinaus. Drüben der Park war ziemlich leer. Auf einer
Bank saß eine alte Frau, die eine altmodische Mantille mit schwarzen Glasperlen um
hatte. Ein Kindermädchen spazierte vorbei, einen Knaben an der Hand, ein anderer,
ganz kleiner, in Husarenuniform, mit angeschnalltem Säbel, eine Pistole im Gürtel,
lief voran, blickte stolz um sich und salutierte einem Invaliden, der rauchend des
Weges kam. Tiefer im Garten, um den Kiosk, saßen wenige Leute, die Kaffee tranken und
Zeitung lasen. Das Laub war noch ziemlich dicht, und der Park sah bedrückt, verstaubt
und im ganzen viel sommerlicher aus, als sonst in späten Septembertagen. Georg
stützte die Arme aufs Fensterbrett, beugte sich vor und betrachtete den Himmel. Seit
dem Tode seines Vaters hatte er Wien nicht verlassen, trotz vieler Möglichkeiten, die
ihm offen standen. Er hätte mit Felician auf das Schönsteinsche Gut fahren können;
Frau Ehrenberg hatte ihn in einem liebenswürdigen Brief in den Auhof eingeladen; und
zu einer Radtour durch Kärnten und Tirol, wie er sie längst plante, und zu der er
sich allein nicht entschließen konnte, hätte er leicht einen Gefährten gefunden. Aber
er blieb lieber in Wien und vertrieb sich die Zeit mit dem Durchblättern und dem
Ordnen von alten Familienpapieren. Er fand Erinnerungen bis zu seinem Urgroßvater,
Anastasius von Wergenthin, der aus der Rheingegend stammte und durch Heirat mit einem
Fräulein Recco in den Besitz eines alten längst unbewohnbaren Schlößchens bei Bozen
gekommen war. Auch Dokumente zur Geschichte von Georgs Großvater waren vorhanden, der
im Jahre 1866 als Artillerieoberst vor Chlum gefallen war. Dessen Sohn, Felicians und
Georgs Vater, hatte sich wissenschaftlichen, hauptsächlich botanischen Studien
gewidmet und in Innsbruck das Doktorat der Philosophie abgelegt. Als
Vierundzwanzigjähriger lernte er ein junges Mädchen kennen aus alter österreichischer
Beamtenfamilie, das sich, vielleicht mehr um den engen und beinahe ärmlichen
Zuständen ihres Hauses zu entfliehen, als aus innerstem Beruf, zur Sängerin
ausgebildet hatte. Der Freiherr von Wergenthin
Georg war achtzehn Jahre alt, als seine Mutter starb. Neun Jahre waren seither verflossen, aber unverblaßt war ihm die Erinnerung an jenen Frühlingsabend, da Vater und Bruder zufällig nicht daheim gewesen waren, und er allein und ratlos am Bett der sterbenden Mutter gestanden hatte, während durch die eilig aufgerissenen Fenster, mit der Luft des Frühlings, das Reden und Lachen von Spaziergängern verletzend laut hereinklang.
Die Hinterbliebenen kehrten mit dem Leichnam der Mutter nach Wien zurück. Der
Freiherr widmete sich seinen Studien mit einem neuen, wie verzweifelten Eifer. Früher
hatte man ihn nur als vornehmen Liebhaber gelten lassen, jetzt begann man ihn auch in
akademischen Kreisen durchaus ernst zu nehmen, und als er zum Ehrenpräsidenten der
botanischen Gesellschaft gewählt wurde, hatte er diese Auszeichnung nicht allein dem
Zufall eines adeligen Namens zu danken. Felician und Georg ließen sich als Hörer an
der juridischen Fakultät einschreiben. Aber der Vater selbst war es, der es dem
Jüngern nach einiger Zeit freistellte, die Universitätsstudien aufzugeben und sich
seinen musikalischen Neigungen entsprechend weiter zu bilden, was dieser dankbar und
erlöst annahm. Doch auch auf diesem selbstgewählten Gebiete war seine Ausdauer nicht
bedeutend, und oft wochenlang hintereinander konnte er sich mit allerlei Dingen
beschäftigen, die von seinem Wege weit ablagen. Diese spielerische Anlage war es
auch, die ihn jene alten Familienpapiere mit einem Ernst durchblättern ließ, als
gälte es wichtigen Geheimnissen der Vergangenheit nachzuforschen. Manche Stunde
verbrachte er
Wie von einem gänzlich unerwarteten Gedanken überrascht wich Georg einen Schritt vom
Fenster zu rück. Mit solcher Deutlichkeit war er noch nie inne geworden, daß seine
Existenz seit dem Tode des Vaters bis zum heutigen Tage gleichsam unterbrochen
Im Park drüben ging ein leichtes Wehen durch die Blätter. Über der
Stephansturmspitze, die dem Fenster, durch den Park und einen beträchtlichen Teil der
Stadt getrennt, gerade gegenüberlag, erschienen dünne Wolken. Ein langer Nachmittag,
völlig ohne Verpflichtungen dehnte sich vor Georg aus. Im Laufe der zwei
Trauermonate, so wollte es ihm scheinen, hatten sich alle Beziehungen früherer Zeit
gelockert oder gelöst. Er dachte an den verflossenen Winter und Frühling, mit ihrem
vielfach verschlungenen und wirren Treiben, und allerlei Erinnerungen tauchten
bildhaft vor ihm auf: Die Fahrt mit Frau Mariannen im geschlossenen Fiaker durch den
verschneiten Wald. Der maskierte Abend bei Ehrenbergs, mit Elses
tiefsinnig-kindlichen Bemerkungen über die »Hedda Gabler«, der sie sich verwandt zu
fühlen behauptete, und mit Sissys raschem Kuß unter den schwarzen Spitzen der Larve.
Eine Bergtour im Schnee, von Edlach aus auf die Rax, mit dem Grafen Schönstein und
Oskar Ehrenberg, der ohne angeborene alpine Neigungen gern die Gelegenheit ergriffen
hatte, sich zwei hochgeborenen Herren anzuschließen. Der Abend bei Ronacher mit Grace
und dem jungen Labinski, der sich vier Tage darauf erschossen, man hatte nie recht
erfahren, ob wegen Grace, wegen Schulden, aus Lebensüberdruß, oder ausschließlich aus
Affektation. Das seltsame glühend-kalte Gespräch mit Grace auf dem Friedhof im
schmelzenden Feberschnee, zwei Tage nach Labinskis Begräbnis. Der Abend im heißen,
hochgewölbten Fechtsaal, wo Felicians Degen die gefährliche Waffe des italienischen
Meisters kreuzte. Der nächtliche Spaziergang nach dem Paderewski-Konzert, auf dem der
Vater ihm so vertraut wie nie zuvor von jenem fernen Abend sprach, da die verstorbene
Mutter in dem gleichen Saal, aus dem sie eben kamen, in der Missa solemnis gesungen
hatte. Und endlich erschien ihm Anna Rosners hohe, ruhige Gestalt, am Klaviere
Während er so am Fenster stand und in den Park hinunterschaute, der sich allmählich belebte, empfand er es wie beruhigend, daß er zu keinem menschlichen Wesen in engerer Beziehung stand, und daß es doch manche gab, mit denen er wieder anknüpfen, in deren Kreis er wieder eintreten durfte, sobald es ihm nur beliebte. Zugleich fühlte er sich wunderbar ausgeruht, für Arbeit und Glück bereit wie niemals zuvor. Er war voll guter und kühner Vorsätze, seiner Jugend und Unabhängigkeit sich mit Freuden bewußt. Zwar fühlte er mit einiger Beschämung, daß, in diesem Augenblick wenigstens, seine Trauer um den hingeschiedenen Vater sehr gemildert war; doch fand er für diese Gleichgültigkeit einen Trost in sich, da er des quallosen Endes gedachte, das dem teuren Mann beschieden war. Im Garten, heiter mit den beiden Söhnen plaudernd, war er auf und abgegangen, hatte mit einem Mal um sich geschaut, als hörte er ferne Stimmen, hatte dann aufgeblickt, zum Himmel empor, und war plötzlich tot auf die Wiese hingesunken, ohne Schmerzenslaut, ja ohne Zucken der Lippen.
Georg trat ins Zimmer zurück, machte sich zum Fortgehen fertig und verließ das Haus. Seine Absicht war es, ein paar Stunden herumzuspazieren, wohin der Zufall ihn führen mochte, und abends endlich wieder an seinem Quintett weiterzuarbeiten, wofür ihm nun die rechte Stimmung gekommen schien. Er überschritt die Straße und betrat den Park. Die Schwüle hatte nachgelassen. Noch immer saß die alte Frau mit der Mantille auf der Bank und starrte vor sich hin. Auf dem sandigen Rund um die Bäume spielten Kinder. Um den Kiosk waren alle Stühle besetzt. Im Wetterhäuschen saß ein glattrasierter Herr, den Georg vom Sehen kannte, und der ihm durch seine Ähnlichkeit mit dem alten Grillparzer aufgefallen war. Am Teich kam Georg eine Gouvernante entgegen, mit zwei schön gekleideten Kindern und betrachtete ihn mit leuchtendem Blick. Als er aus dem Park auf die Ringstraße trat, begegnete ihm Willy Eißler in langem dunkelgestreiften Herbstpaletot und sprach ihn an:
»Guten Tag, Baron, sind Sie auch schon wieder in Wien eingerückt?«
»Ich bin schon lange zurück«, erwiderte Georg. »Nach dem Begräbnis meines Vaters hab' ich Wien nicht mehr verlassen.«
»Und was haben Sie denn heuer im Sommer getrieben?« fragte Georg.
»Allerlei. Tennis gespielt, gemalt, Zeit vertrödelt, einige amüsante und noch mehr langweilige Stunden verlebt ...« Willy sprach äußerst rasch, wie mit einer absichtlichen leisen Heiserkeit, scharf, salopp, mit ungarischen, französischen, wienerischen, jüdischen Akzenten. »Übrigens, wie Sie mich da sehen«, fuhr er fort, »bin ich heute früh aus Przemysl gekommen.«
»Waffenübung?«
»Jawohl, letzte. Ich sag's mit Wehmut. So sehr ich mich dem Greisenalter nähere, es hat mir doch noch immer Spaß gemacht, so mit den gelben Aufschlägen umherzuwandeln, Sporen klirrend, Säbel scheppernd, eine Ahnung drohender Gefahr verbreitend, und von mangelhaften Lavaters für einen bessern Grafen gehalten zu werden.« Sie spazierten weiter, dem Gitter des Stadtparks entlang.
»Gehen Sie vielleicht zu Ehrenbergs?« fragte Willy.
»Nein, ich denke gar nicht daran.«
»Weil's der Weg ist. Haben Sie übrigens gehört, Fräulein Else soll verlobt sein.«
»So?« fragte Georg gedehnt. »Mit wem denn?«
»Raten S' Baron.«
»Am Ende Hofrat Wilt?«
»O fröhlich!« rief Willy. »Der denkt wohl nicht daran! Die Verschwägerung mit S. Ehrenberg könnte ihm doch am Ende die Ministerkarriere erschweren heutzutage«
»Rittmeister Ladisc?« riet Georg weiter.
»Ah dazu ist Fräulein Else doch zu gescheit, daß sie dem hineinfällt.«
Jetzt erinnerte sich Georg, daß sich Willy vor ein paar Jahren mit Ladisc geschlagen
hatte. Willy fühlte Georgs Blick, zwirbelte den blonden, in polnischer Art
herabhängenden Schnurrbart mit etwas nervösen Fingern hin und her und sprach rasch
und beiläufig: »Der Umstand, daß ich mit dem Rittmeister Ladisc einmal eine Differenz
gehabt hab', kann mich nicht hindern, in loyaler Weise anzuerkennen, daß er immer ein
versoffenes Schwein gewesen ist. Ich hab' nämlich eine unüberwindliche, auch durch
Blut nicht abzuwaschende Abneigung gegen die Leute, die sich bei den Juden anfressen
und schon auf der Treppe über sie zu
»Nicht möglich«, rief Georg.
»Warum?« fragte Eißler. »Einer wird's ja doch schließlich werden. Bermann ist zwar kein Adonis, aber er ist auf dem Wege zum Ruhm; und das Gemisch von Herrenreiter und Athleten in höchster Vollendung, das sich Else offenbar erträumt hat, wird sie ja doch kaum finden. Vierundzwanzig Jahre ist sie indessen alt geworden, vor Salomons Taktlosigkeiten und Witzen dürfte ihr auch schon genügend grausen ... also ...«
»Salomon? ... ach ja ... Ehrenberg«.
»Sie kennen ihn auch nur unter dem Namen ›S‹? ... S. heißt natürlich Salomon, und daß nur S. auf der Tafel an der Tür steht, ist eine Konzession, die er den Seinen gemacht hat. Wenn es nach ihm ginge, möchte er am liebsten zu den Gesellschaften, die Madame Ehrenberg gibt, im Kaftan und mit den gewissen Löckchen erscheinen.«
»Sie glauben ...? Er ist doch nicht so fromm?«
»Fromm ... o fröhlich! Mit der Frömmigkeit hat das allerdings nichts zu tun. Es ist nur Bosheit, hauptsächlich gegen seinen Sohn Oskar mit den feudalen Bestrebungen.«
»Ach so«, sagte Georg lächelnd. »Ist denn Oskar nicht schon längst getauft? Er ist ja Reserveoffizier bei den Dragonern.«
»Ach darum ... Nun, ich bin auch nicht getauft und trotzdem ... Ja, es gibt immer ein paar Ausnahmen ... Mit einigem guten Willen ...« Er lachte und fuhr fort: »Was übrigens Oskar anbelangt, so möchte er gewiß lieber katholisch sein. Aber das Vergnügen beichten gehen zu dürfen, käme ihm vorläufig doch noch zu teuer zu stehen. Es wird wohl auch im Testament vorgesehen sein, daß Oskar nicht überhüpft.«
Sie waren vor dem Café Imperial angelangt. Willy blieb stehen. »Ich habe da ein Rendezvous mit Demeter Stanzides.«
»Grüßen Sie ihn, bitte.«
»Danke bestens. Kommen Sie nicht mit hinein, auf ein Eis?«
»Danke, ich bummle noch ein bißchen.«
»Sie lieben die Einsamkeit?«
»Auf so allgemeine Fragen läßt sich schwer antworten«, erwiderte Georg.
»Allerdings«, sagte Willy, wurde plötzlich ernst und lüftete den Hut. »Habe die Ehre, Herr Baron.«
Georg schlenderte weiter. Die letzte Frage Willys klang ihm nach. Ob er die Einsamkeit liebte? ... Er erinnerte sich daran, wie er in Palermo ganze Vormittage allein herumspaziert war, während Grace ihrer Gewohnheit gemäß bis Mittag im Bette lag. Grace ... Wo mochte sie jetzt sein ...? Seit sie in Neapel von ihm Abschied genommen, hatte sie nichts mehr von sich hören lassen, wie es übrigens verabredet gewesen war. Er dachte an die tiefblaue Nacht, die über den Wassern schwebte, als er nach jenem Abschied allein nach Genua gefahren war, und an den seltsamen, leisen, wie märchenhaften Gesang zweier Kinder, die dicht aneinandergeschmiegt, gemeinsam in einen Plaid gehüllt, an der Seite ihrer schlafenden Mutter auf dem Verdeck gesessen waren.
Mit wachsendem Behagen spazierte er unter den Leuten weiter, die in sonntäglicher
Lässigkeit an ihm vorübergingen. Mancher freundliche Frauenblick begegnete dem seinen
und schien ihn darüber trösten zu wollen, daß er an diesem schönen Feiernachmittag
einsam und mit allen äußern Abzeichen der Trauer umherwandelte. Und wieder tauchte
ein Bild in ihm auf. Er sah sich auf einer hügeligen Wiese liegen, spät abends, nach
einem heißen Junitag. Dunkelheit ringsum. Tief unter ihm Gewirr von
Er hatte die Ringstraße verlassen, nahm die Richtung der Wieden zu. Ob die Rosners an
diesem schönen Tage zu Hause waren? Immerhin lohnte es den kurzen Weg, und jedenfalls
zog es ihn mehr dorthin, als zu Ehrenbergs. Nach Else sehnte er sich gar nicht, und
ob sie wirklich Heinrich Bermanns Braut sein mochte oder nicht, war ihm beinahe
gleichgültig. Er kannte sie schon lange. Sie war elf, er vierzehn Jahre alt gewesen,
als sie an der Riviera miteinander Tennis gespielt hatten. Damals glich sie einem
Zigeunermädel. Blauschwarze Locken umwirbelten ihr Stirn und Wangen, und ausgelassen
war sie wie ein Bub. Ihr Bruder spielte schon damals den Lord, und Georg mußte noch
heute lächeln, wenn er sich erinnerte, wie der Fünfzehnjährige eines Tages im
lichtgrauen Schlußrock, mit weißen, schwarztamburierten Handschuhen und einem Monokel
im Aug, auf der Promenade erschienen war. Frau Ehrenberg war damals vierunddreißig
Jahre alt, hoheitsvoll, von übergroßer Gestalt, dabei noch schön, hatte verschleierte
Augen und war meistens sehr müde. Es blieb unvergeßlich für Georg, wie eines Tages
ihr Gemahl, der millionenreiche Patronenfabrikant, die Seinen überraschte und einfach
durch sein Erscheinen der ganzen Ehrenbergischen Vornehmheit ein rasches Ende
bereitet hatte. Georg sah ihn noch vor sich, so wie er während des Frühstücks auf der
Hotelterrasse aufgetaucht war; ein kleiner, magerer Herr mit graumeliertem Vollbart
und japanischen Augen, in weißem schlecht gebügelten Flanellanzug, einen dunklen
Strohhut mit rotweiß gestreiftem Band auf dem runden Kopf, und mit schwarzen,
bestaubten Schuhen. Er redete sehr gedehnt, immer wie höhnisch, selbst über die
gleichgültigsten Dinge; und so oft er den Mund auftat, lag
In Florenz, ein Jahr vor seiner Mutter Tod, hatte Georg Else wiedergesehen. Sie nahm
damals Zeichenstunden bei einem alten, grau- und wirrhaarigen Deutschen, von dem die
Sage ging, daß er einmal berühmt gewesen wäre. Er selbst verbreitete das Gerücht über
sich, daß er seinen frühern, sehr bekannten Namen, als er sein Genie schwinden
fühlte, abgelegt und die Stätte seines Wirkens, die er niemals nannte, verlassen
hätte. Schuld an seinem Niedergang trug, wenn man seinen Berichten glauben durfte,
ein dämonisches Frauenzimmer, das er geheiratet, das in einem Eifersuchtsanfall sein
bedeutendstes Bild zerstört und durch einen Sprung vom Fenster ihr Leben geendet
hatte. Dieser Mensch, den sogar der siebzehnjährige Georg als eine Art von
schwindelhaftem Narren erkannte, war der Gegenstand von Elses erster Schwärmerei. Sie
war damals vierzehn Jahre alt, die Wildheit und Unbefangenheit der Kindheit war
dahin. Vor der Tizianschen Venus in den Uffizien glühten ihr die Wangen in Neugier,
Sehnsucht und Bewunderung, und in ihren Augen spielten dunkle Träume von künftigen
Erlebnissen. Öfters kam sie mit ihrer Mutter in das Haus, das die Wergenthins am
Lungano gemietet hatten; und während Frau Ehrenberg die leidende Baronin in ihrer
müd-geistreichen Weise zu unterhalten suchte, stand Else mit Georg am Fenster, führte
altkluge Gespräche über die Kunst der Präraffaeliten und lächelte der vergangenen
kindischen Spiele. Auch Felician erschien zuweilen, schlank und schön, blickte mit
seinen kalten, grauen Augen an Dingen und Menschen vorbei, sprach ein paar höfliche
Worte, halblaut, beinahe wegwerfend, und setzte sich ans Bett seiner Mutter, der er
zärtlich die Hand streichelte und küßte. Gewöhnlich ging er bald wieder fort, nicht
ohne für Else einen herben Duft von uralter Vornehmheit, kaltblütiger Verführung und
eleganter Todesverachtung zurückzulassen. Stets hatte sie den Eindruck, als begebe er
sich
Es ist sonderbar, dachte Georg, wie vieles mir heute durch den Kopf geht, woran ich kaum mehr gedacht hatte. Und ihm war, als wenn er in dieser Herbstabendstunde allmählich aus der schmerzlich-dumpfen Versonnenheit vieler Wochen zum Tage emporgetaucht käme.
Nun stand er vor dem Hause in der Paulanergasse, wo die Rosners wohnten. Er sah zum zweiten Stockwerk auf. Ein Fenster war offen, weiße Tüllvorhänge in der Mitte zusammengesteckt, bewegten sich im leichten Zuge des Windes.
Rosners waren zu Hause. Das Stubenmädchen ließ Georg eintreten. Anna saß der Türe gegenüber, hielt die Kaffeetasse in der Hand und hatte die Augen auf den Eintretenden gerichtet. Der Vater, zu ihrer Rechten, las Zeitung und rauchte aus einer Pfeife. Er war glatt rasiert, nur an den Wangen liefen zwei schmale, ergraute Bartstreifen. Sein dünnes Haar von seltsam grünlichgrauer Färbung war an den Schläfen nach vorn gestrichen und sah aus wie eine schlecht gemachte Perücke. Seine Augen waren wasserhell und rot gerändert.
Die beleibte Mutter, mit der wie von einer Erinnerung schönerer Jahre umwobenen Stirn, blickte vor sich hin; ihre Hände, beschaulich ineinander verschlungen, ruhten auf dem Tisch. Anna stellte die Tasse langsam nieder, nickte und lächelte still. Die beiden Alten machten Miene aufzustehen, als Georg eintrat.
Da krachte etwas an der Seitenwand. Josef, der Sohn des Hauses, erhob sich vom Diwan, auf dem er gelegen hatte.
»Habe die Ehre, Herr Baron«, sagte er mit einer sehr tiefen Stimme und strich sein über den Hals hinaufgeschlagenes, gelbkariertes, etwas fleckiges Sacco zurecht.
»Wie befinden sich immer, Herr Baron?« fragte der Alte, stand hager und etwas gebückt da und wollte nicht wieder Platz nehmen, eh sich Georg niedergelassen hatte. Josef rückte einen Stuhl zwischen Vater und Schwester. Anna reichte dem Besucher die Hand.
»Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte sie und trank einen Schluck aus ihrer Tasse.
»Sie haben traurige Zeiten durchgemacht, Herr Baron«, bemerkte Frau Rosner teilnahmsvoll.
»Jawohl«, fügte Herr Rosner hinzu. »Wir haben mit großem Bedauern von dem schweren Verluste gelesen ... Und der Herr Vater haben sich doch immer der besten Gesundheit erfreut, so viel uns bekannt war.« Er sprach sehr langsam, immer, als wenn noch etwas kommen sollte, strich sich manchmal mit der linken Hand über den Kopf und nickte, während er zuhörte.
»Ja, es ist sehr unerwartet gekommen«, sagte Georg leise und blickte auf den dunkelroten, verschossenen Teppich zu seinen Füßen.
»Also ein plötzlicher Tod, sozusagen«, bemerkte Herr Rosner, und alles ringsum schwieg.
Georg nahm eine Zigarette aus seinem Etui und bot Josef eine an.
»Küß die Hand«, sagte Josef, nahm die Zigarette und verbeugte sich, indem er ohne ersichtlichen Grund die Hacken aneinander schlug. Während er dem Baron Feuer gab, glaubte er dessen Blicke auf sein Sacco gerichtet und bemerkte entschuldigend und mit noch tieferer Stimme als gewöhnlich: »Bureaujanker.«
»Bureaujanker kommt von Bureau«, sagte Anna einfach, ohne ihren Bruder anzusehen.
»Fräulein belieben die ironische Walze eingehängt zu haben«, erwiderte Josef heiter; doch war es dem gehaltenen Ton seiner Rede anzumerken, daß er sich unter andern Verhältnissen minder angenehm ausgedrückt hätte.
»Die Teilnahme war ja eine allgemeine«, begann der alte Rosner
Georg nickte verlegen und blickte auf seine Hände nieder.
Anna sprach von ihrem verflossenen Sommeraufenthalt. »In Weißenfeld war's wunderschön«, sagte sie. »Gleich hinter unserm Haus war der Wald, mit sehr guten ebenen Wegen ... nicht wahr, Papa? Da hat man stundenlang spazierengehen können, ohne einem Menschen zu begegnen.«
»Und haben Sie denn ein Klavier draußen gehabt?« fragte Georg.
»Auch das.«
»Ein greulicher Klimperkasten«, bemerkte Herr Rosner. »So ein Ding, das Stein erweichen, Menschen rasend machen kann.«
»Es war nicht so arg«, sagte Anna.
»Für die kleine Graubinger gut genug«, fügte Frau Rosner hinzu.
»Die kleine Graubinger ist nämlich die Tochter vom Kaufmann im Ort«, erklärte Anna, »und ich hab ihr die Anfangsgründe des Klavierspiels beigebracht. Ein hübsches, kleines Mäderl mit langen, blonden Zöpfen.«
»Es war eine Gefälligkeit für den Kaufmann«, sagte Frau Rosner.
»Ja, aber es muß bemerkt werden«, ergänzte Anna, »daß ich außerdem eine wirkliche, das heißt bezahlte Stunde gegeben habe.«
»Wie, auch in Weißenfeld?« fragte Georg.
»Kinder, von einer Sommerpartie. Es ist übrigens schade, Herr Baron, daß Sie kein einziges Mal bei uns auf dem Lande waren. Es hätte Ihnen gewiß gut gefallen.«
Georg erinnerte sich nun erst, daß er sich zu Anna beiläufig geäußert hatte, er würde sie im Sommer gelegentlich einer Radpartie vielleicht einmal besuchen.
»Der Herr Baron hätte wohl in dieser Sommerfrische nicht alles zu seiner Zufriedenheit vorgefunden«, begann Herr Rosner.
»Warum denn?« fragte Georg.
»Es ist dort nicht eben den Bedürfnissen verwöhnter Großstädter Rechnung getragen.«
»O ich bin nicht verwöhnt«, sagte Georg.
»... Waren Sie auch nicht auf dem Auhof?« wandte sich Anna an Georg.
»Es tut mir eigentlich leid«, sagte Anna, »daß ich Else beinah gar nicht mehr sehe. Sie wissen ja, daß wir im selben Institut waren. Es ist freilich schon lang her. Ich hab sie wirklich gern gehabt. Schade, daß man sich im Lauf der Zeit so voneinander entfernt.«
»Wie kommt das nur?« sagte Georg.
»Ja, es liegt wohl daran, daß mir der ganze Kreis nicht besonders sympathisch ist.«
»Mir auch nicht«, sagte Josef, der Ringe in die Luft blies. »Ich gehe seit Jahren nicht hin. Offen gestanden ... ich weiß ja nicht, wie Herr Baron zu dieser Frage Stellung nehmen ... ich bin den Israeliten nicht zugetan.«
Herr Rosner blickte zu seinem Sohne auf. »Der Herr Baron verkehrt in diesem Haus, und es wird ihm ziemlich sonderbar erscheinen, lieber Josef ...«
»Mir?« sagte Georg verbindlich. »Ich stehe ja in keinerlei näheren Verbindungen mit dem Hause Ehrenberg, so gern ich mit den beiden Damen zu plaudern pflege.« Und fragend setzte er hinzu: »Aber haben Sie Else nicht im vorigen Jahr Singstunden gegeben, Fräulein Anna?«
»Ja. Vielmehr ... ich habe nur mit ihr korrepetiert.«
»Das werden Sie heuer wohl wieder tun?«
»Ich weiß nicht. Sie hat bisher noch nichts von sich hören lassen. Vielleicht gibt sie's ganz auf.«
»Sie glauben?«
»Es wäre beinah zu wünschen«, versetzte Anna sanft, »denn eigentlich hat sie immer mehr gepiepst, als gesungen. Übrigens«, und jetzt warf sie Georg einen Blick zu, der ihn gleichsam von neuem begrüßte, »die Lieder, die Sie mir geschickt haben, sind sehr hübsch. Soll ich sie Ihnen vorsingen?«
»Sie haben sich die Sachen schon angeschaut? Das ist nett.«
Anna hatte sich erhoben. Sie führte beide Hände an ihre Schläfen und strich wie
ordnend, leicht über ihr gewolltes Haar. Sie trug es ziemlich hoch frisiert, wodurch
ihre Gestalt noch größer erschien, als sie war. Eine schmale, goldene Uhrkette war
zweimal um den freien Hals geschlungen, fiel über die Brust herab
Er stand auf und sagte: »Wenn's erlaubt ist ...«
»Bitte sehr, bitte sehr, natürlich«, sagte Herr Rosner. »Herr Baron wollen so freundlich sein, mit meiner Tochter ein wenig zu musizieren. Sehr schön, sehr schön.« Anna war in das Nebenzimmer getreten. Georg folgte ihr und ließ die Tür offen stehen. Die weißen Tüllvorhänge vor dem geöffneten Fenster waren zusammengesteckt und bewegten sich leise.
Georg setzte sich an das Pianino und griff ein paar Akkorde. Indes kniete Anna vor einer alten, schwarzen, teilweise vergoldeten Etagere und holte die Noten hervor.
Georg modulierte in die Anfangsakkorde seines Liedes.
Anna fiel ein, und zu Georgs Melodie sang sie die Goetheschen Worte.
Sie stand hinter ihm und schaute über seine Schulter in die Noten. Zuweilen beugte sie sich ein wenig vor, und dann fühlte er an der Schläfe den Hauch ihrer Lippen. Ihre Stimme war viel schöner, als seine Erinnerung sie bewahrt hatte.
Im Nebenzimmer wurde etwas zu laut gesprochen. Ohne den Gesang zu unterbrechen, lehnte Anna die Türe zu.
Josef war es gewesen, der sein Organ nicht länger hatte bändigen können. »Ich werde noch einen Sprung ins Kaffeehaus hinüber schauen«, sagte er.
Man erwiderte nichts. Herr Rosner trommelte leise auf den Tisch, und seine Gattin nickte scheinbar gleichgültig.
»Also adieu.« Bei der Tür wandte sich Josef wieder um und bemerkte mit mäßiger Festigkeit. »Mama, wenn du vielleicht einen Moment Zeit hast ...«
»Ich hör schon«, sagte Frau Rosner, »es wird ja kein Geheimnis sein.«
»Nein. Es ist ja nur, weil ich mit dir ja ohnedies in Verrechnung bin.«
»Muß man ins Kaffeehaus gehen?« fragte der alte Rosner einfach, ohne aufzublicken.
»Also es handelt sich nicht ums Kaffeehaus. Es ist überhaupt ...
»Arbeiten soll der Mensch«, sagte der alte Rosner leise und schmerzlich, und seine Augen röteten sich. Die Frau warf einen traurigen und strafenden Blick auf den Sohn.
»Also«, sagte Josef, knöpfte den Bureaujanker auf und wieder zu, »das ist doch wirklich ... wegen jedem Guldenzettel ...«
»Pst«, sagte Frau Rosner mit einem Blick gegen die angelehnte Tür, durch die jetzt, nachdem der Gesang Annas geendet, nur das gedämpfte Klavierspiel Georgs hereinklang.
Josef beantwortete den Blick der Mutter mit einer wegwerfenden Handbewegung: »Arbeiten soll ich, sagt der Papa. Als ob ich's nicht schon bewiesen hätte, daß ich's kann.« Er sah zwei fragende Augenpaare auf sich gerichtet. »Jawohl hab ich's bewiesen, und wenn es nur auf meinen guten Willen ankäm, hätt' ich überall mein Auskommen gehabt. Aber ich hab halt nicht das Temperament, mir was gefallen zu lassen, ich laß mich nicht ausschreien von meine Chefs, wenn ich mich einmal eine Viertelstunde verspäten tu ... oder so was.«
»Die Geschichte kennen wir«, unterbrach ihn Herr Rosner müde. »Aber schließlich, weil wir schon davon sprechen, du wirst dich ja doch wieder um irgendwas umschauen müssen.«
»Umschauen ... gut ...«,erwiderte Josef. »Aber zu einem Juden bringt mich keiner mehr ins Geschäft. Das würde mich bei meinen Bekannten ... jawohl in meinem ganzen Kreis würde mich das lächerlich machen.«
»Dein Kreis ...«, sagte Frau Rosner, »wer ist denn dein Kreis? Kaffeehausfreunderln.«
»Also bitte, weil wir schon davon reden«, sagte Josef, »es hängt auch wieder mit dem
Guldenzettel zusammen. Ich habe jetzt ein Rendezvous im Kaffeehaus mit dem jungen
Jalaudek. Ich hätt's euch lieber erst gesagt, wenn die Sache perfekt wird ... aber
ich seh schon, ich muß früher mit der Farb heraus. Also der Jalaudek, das is der Sohn
von dem Stadtrat Jalaudek, von dem berühmten Papierhändler. Und der alte Jalaudek ist
bekanntlich eine sehr einflußreiche Persönlichkeit in der Partei ... sehr intim mit
dem Herausgeber vom »Christlichen Tagesboten«, Zelltinkel heißt er. Und
beim»Tagesboten« da suchen sie jetzt junge Leute von gefälligen Umgangsformen,
Christen natürlich, für das Inseratengeschäft. Und da hab ich heute mit dem Jalaudek
Rendezvous im Kaffeehaus, weil er mir versprochen hat,
»Ach Gott«, seufzte der alte Rosner.
Draußen ging die Glocke. Rosner blickte auf.
»Das wird der junge Doktor Stauber sein«, sagte Frau Rosner und warf einen besorgten Blick nach der Tür, durch die Georgs Klavierspiel noch leiser drang als früher.
»Also Mama was is eigentlich?« sagte Josef.
Frau Rosner nahm ihre Geldbörse und reichte ihrem Sohn seufzend einen Silbergulden.
»Küß die Hand«, sagte Josef und wandte sich zum Gehen.
»Josef«, rief Herr Rosner. »Es ist doch einigermaßen unhöflich grade in dem Augenblick, wenn ein Besuch kommt ...«
»Ah, ich dank schön, ich muß nicht von allem haben.«
Es klopfte, Doktor Bertold Stauber trat ein.
»Entschuldigen vielmals, Herr Doktor«, sagte Josef, »ich bin grad im Weggehen.«
»Bitte«, erwiderte Doktor Stauber kühl, und Josef verschwand.
Frau Rosner forderte den jungen Arzt auf, Platz zu nehmen. Er setzte sich auf den Divan und horchte nach der Seite hin, von wo das Klavierspiel kam.
»Der Baron Wergenthin«, erklärte Frau Rosner etwas verlegen. »Der Komponist. Anna hat eben gesungen.« Und sie schickte sich an, ihre Tochter herein zu rufen.
Doktor Berthold hielt sie ganz leicht am Arme fest und sagte freundlich. »Nein. Ich bitte Fräulein Anna nicht zu stören, absolut nicht. Ich habe nicht die geringste Eile. Es ist übrigens ein Abschiedsbesuch.« Der letzte Satz kam wie hervorgestoßen aus seiner Kehle; doch lächelte Berthold zugleich verbindlich, lehnte sich bequem in die Ecke und strich mit der rechten Hand den kurzen Vollbart zurecht.
Frau Rosner sah ihn förmlich erschreckt an.
Herr Rosner fragte: »Ein Abschiedsbesuch? Haben Herr Doktor Urlaub genommen? Das Parlament ist doch erst vor kurzer Zeit zusammen getreten, wie man den Zeitungen entnehmen konnte.«
»Ich habe mein Mandat niedergelegt«, sagte Berthold.
»Wie?« rief Herr Rosner aus.
Das Klavierspiel hatte plötzlich aufgehört, die angelehnte Tür tat sich auf. Georg und Anna erschienen.
»O Doktor Berthold«, sagte Anna und streckte ihm, der rasch aufgestanden war, die Hand entgegen. »Sind Sie schon lange da? Haben Sie mich vielleicht singen gehört?«
»Nein, Fräulein Anna, das hab ich leider versäumt. Nur ein paar Töne auf dem Klavier hab ich vernommen.«
»Der Baron Wergenthin«, sagte Anna, als wollte sie vorstellen. »Die Herren kennen sich doch?«
»Gewiß«, erwiderte Georg und reichte Berthold die Hand.
»Der Doktor kommt uns einen Abschiedsbesuch machen«, sagte Frau Rosner.
»Wie?« rief Anna erstaunt aus.
»Ich verreise nämlich«, sagte Berthold und schaute Anna ernst und undurchdringlich in die Augen. »Ich gebe meine politische Karriere auf«, setzte er dann wie spöttisch hinzu ... »besser gesagt, ich unterbreche sie auf eine Weile.«
Georg lehnte im Fenster, die Arme über der Brust verkreuzt, und betrachtete Anna von der Seite. Sie hatte sich gesetzt und sah ruhig zu Berthold auf, der aufrecht dastand, die eine Hand auf die Lehne des Divans gestützt, als wenn er eine Rede halten wollte.
»Und wohin reisen Sie?« fragte Anna.
»Nach Paris. Ich will im Pasteurschen Institut arbeiten. Ich kehre wieder zu meiner alten Liebe zurück, zur Bakteriologie. Es ist eine reinlichere Beschäftigung als die Politik.«
Es war dunkler geworden. Die Gesichter verschwammen, nur die Stirne Bertholds, der gerade dem Fenster gegenüberstand, war noch in Helle getaucht. Es zuckte um seine Brauen. Eigentlich hat er seine besondere Art von Schönheit, dachte Georg, der regungslos in der Fensterecke lehnte und sich von einer angenehmen Ruhe durchflossen fühlte.
Das Stubenmädchen brachte die brennende Lampe und hing sie über dem Tisch auf.
»Aber die Journale«, sagte Herr Rosner, »brachten noch keinerlei Meldung, daß Herr Doktor Ihr Mandat zurückgelegt haben.«
»Das wäre auch verfrüht«, erwiderte Berthold. »Meine Parteigenossen kennen wohl meine Absicht, aber die Sache ist noch nicht offiziell.«
»Ich muß gestehen«, erwiderte Georg, »ich verfolge die Parlamentsberichte nicht so regelmäßig, als man eigentlich müßte.«
»Müßte«, wiederholte Berthold nachsichtig. »Man muß wahrhaftig nicht, obzwar die Sitzung neulich nicht uninteressant war. Wenigstens als Beweis dafür, wie tief das Niveau einer öffentlichen Körperschaft sinken kann.«
»Es ist sehr hitzig zugegangen«, sagte Herr Rosner.
»Hitzig? ... Nun ja, was man bei uns in Österreich hitzig nennt. Man war innerlich gleichgültig und äußerlich grob.«
»Um was hat es sich denn gehandelt?« fragte Georg.
»Es war die Debatte anläßlich der Interpellation über den Prozeß Golowski ... Therese Golowski.«
»Therese Golowski ...«, wiederholte Georg. »Den Namen sollt ich kennen.«
»Natürlich kennen Sie ihn«, sagte Anna. »Sie kennen ja Therese selbst. Wie Sie uns das letztemal besucht haben, ist sie eben von mir fortgegangen.«
»Ach ja«, sagte Georg, »eine Freundin von Ihnen.«
»Freundin möcht ich sie nicht nennen; das setzt doch eine gewisse innere Übereinstimmung voraus, die nicht mehr so recht vorhanden ist.«
»Sie werden Therese doch nicht verleugnen«, sagte Doktor Berthold lächelnd, aber herb.
»O nein«, erwiderte Anna lebhaft, »das fällt mir wahrhaftig nicht ein. Ich bewundere sie sogar. Ich bewundere überhaupt alle Leute, die imstande sind, für etwas, was sie im Grunde nichts angeht, so viel zu riskieren. Und wenn das nun gar ein junges Mädchen tut, ein hübsches junges Mädchen wie Therese ...«, sie richtete die Worte an Georg, der gespannt zuhörte »so imponiert mir das noch mehr. Sie müssen nämlich wissen, daß Therese eine der Führerinnen der sozialdemokratischen Partei ist.«
»Und wissen Sie, wofür ich sie gehalten habe?« sagte Georg. »Für eine angehende Schauspielerin!«
»Herr Baron, Sie sind ein Menschenkenner«, sagte Berthold.
»Sie wollte wirklich einmal zur Bühne gehen«, bestätigte Frau Rosner kühl.
»Es ist hübsch, daß Sie ihr verzeihen«, sagte Anna lächelnd.
Berthold fiel es zu spät ein, daß er mit seiner Bemerkung eine noch empfindliche Stelle in Annas Gemüt berührt haben mochte. Aber um so bestimmter fuhr er fort: »Ich versichere Sie, Fräulein Anna, es wäre schade um Therese gewesen. Denn es ist gar nicht abzusehen, wieviel sie für die Partei noch leisten kann, wenn sie nicht irgendwie aus ihrer Bahn gerissen wird.«
»Halten Sie das für möglich?« fragte Anna.
»Gewiß«, entgegnete Berthold. »Für Therese gibt es sogar zwei Gefahren: entweder redet sie sich einmal um den Kopf ...«
»Oder?« fragte Georg, der neugierig geworden war.
»Oder sie heiratet einen Baron«, schloß Berthold kurz.
»Das verstehe ich nicht ganz«, sagte Georg ablehnend.
»Daß ich gerade Baron sagte, war natürlich ein Spaß. Setzen wir statt Baron Prinz, so wird die Sache klarer.«
»Ach so ... Jetzt kann ich mir ungefähr denken, was Sie meinen, Herr Doktor ... Aber was für einen Anlaß hatte das Parlament, sich mit ihr zu beschäftigen?«
»Ach ja. Im vorigen Jahre zur Zeit des großen Kohlenstreikes hielt Therese Golowski
in irgend einem böhmischen Nest eine Rede, die eine angeblich verletzende Äußerung
gegen ein Mitglied des kaiserlichen Hauses enthielt. Sie wurde angeklagt und
freigesprochen. Man könnte daraus vielleicht schließen, daß die Anschuldigung nicht
besonders haltbar gewesen sein dürfte. Trotzdem meldete der Staatsanwalt die Berufung
an, ein anderes Gericht wurde designiert und Therese zu zwei Monaten Gefängnis
verurteilt, die sie übrigens soeben absitzt. Und damit nicht genug, wurde der
Richter, der sie in erster Instanz freisprach, versetzt ... irgendwohin an die
russische Grenze, von wo es keine Wiederkehr gibt. Nun, über diesen Fall haben wir
eine Interpellation eingebracht, sehr zahm meiner Ansicht nach. Der Minister
erwiderte, ziemlich heuchlerisch, unter dem Jubel der sogenannten staatserhaltenden
Parteien. Ich habe mir erlaubt, darauf zu replizieren, vielleicht etwas energischer,
als man es bei uns gewohnt ist; und da man von den gegnerischen Bänken aus nichts
Sachliches erwidern konnte, hat man versucht, mich mit schreien und schimpfen tot zu
machen. Und was das kräftigste
»Nun?« fragte Georg.
»Jud halts Maul«, erwiderte Berthold mit schmal gewordenen Lippen.
»O«, sagte Georg verlegen und schüttelte den Kopf.
»Ruhig Jud! Halts Maul! Jud! Jud! Kusch!« fuhr Berthold fort und schien in der Erinnerung zu schwelgen.
Anna sah vor sich hin. Georg fand innerlich, es wäre nun genug. Ein kurzes, peinliches Schweigen entstand.
»Also darum?« fragte Anna langsam.
»Wie meinen Sie?« fragte Berthold.
»Darum legen Sie das Mandat nieder?«
Berthold schüttelte den Kopf und lächelte. »Nein, nicht darum.«
»Herr Doktor sind über diese rohen Insulte gewiß erhaben«, sagte Herr Rosner.
»Das will ich nicht eben behaupten«, erwiderte Berthold. »Aber immerhin mußte man auf dergleichen gefaßt sein. Der Grund meiner Mandatsniederlegung ist ein anderer.«
»Und darf man wissen ...?« fragte Georg.
Berthold sah ihn durchdringend und doch zerstreut an. Dann erwiderte er verbindlich: »Gewiß darf man. Nach meiner Rede begab ich mich ins Büfett. Dort begegnete ich unter andern einem der allerdümmsten und frechsten unserer freigewählten Volksvertreter, dem, der wie gewöhnlich, auch während meiner Rede, der Allerlauteste gewesen war ... dem Papierhändler Jalaudek. Ich kümmerte mich natürlich nicht um ihn. Er stellt eben sein geleertes Glas hin. Wie er mich sieht, lächelt er, nickt mir zu und grüßt heiter, als wäre nichts geschehen: »Habe die Ehre, Herr Doktor, auch eine kleine Erfrischung gefällig?«
»Unglaublich!« rief Georg aus.
»Unglaublich? ... Nein, österreichisch. Bei uns ist ja die Entrüstung so wenig echt wie die Begeisterung. Nur die Schadenfreude und der Haß gegen das Talent, die sind echt bei uns.«
»Nun, und was haben Sie dem Mann geantwortet?« fragte Anna.
»Was ich geantwortet habe? Nichts, selbstverständlich.«
»Und haben Ihr Mandat niedergelegt«, ergänzte Anna mit leisem Spott.
Berthold lächelte. Zugleich aber zuckte es um seine Brauen wie gewöhnlich, wenn er
unangenehm oder schmerzlich berührt
Berthold schwieg plötzlich. Sein Vater, der alte Doktor Stauber, war eingetreten und wurde herzlich begrüßt. Er reichte Georg, der ihm von Frau Rosner vorgestellt wurde, die Hand und sah ihn so freundlich an, daß sich Georg sofort zu ihm hingezogen fühlte. Er sah offenbar jünger aus, als er war. Sein langer, rötlichblonder Bart war nur von einzelnen grauen Fäden durchzogen, und das schlicht gekämmte lange Haar zog in dichten Strähnen zu dem breiten Nacken hin. Die Stirn, die von auffallender Höhe war, gab der ganzen, ein wenig untersetzten, ja hochschultrigen Erscheinung eine gewisse Würde. Die Augen, wenn sie nicht eben mit einiger Absicht gütig oder klug schauten, schienen sich hinter den müd gewordenen Lidern gleichsam für den nächsten Blick auszuruhen.
»Ich habe Ihre Mutter gekannt, Herr Baron«, sagte er ziemlich leise zu Georg.
»Meine Mutter, Herr Doktor ...?«
»Sie werden sich kaum daran erinnern. Sie waren damals ein kleiner Bub von drei, vier Jahren.«
»Sie waren ihr Arzt?« fragte Georg.
»Ich besuchte sie zuweilen als Vertreter des Professors Duchegg,
»Ja«, sagte Georg verwundert über das gute Gedächtnis des Arztes, »ganz richtig.«
»Aber ich habe da die Herrschaften in einem Gespräch unterbrochen«, fuhr Doktor Stauber fort, in dem ein wenig melancholisch singenden und doch überlegenen Ton, der ihm eigen war, und ließ sich in die Ecke des Divans sinken.
»Eben teilt uns Doktor Berthold zu unserm Erstaunen mit«, sagte Herr Rosner, »daß er sich entschlossen hat, sein Mandat niederzulegen.«
Der alte Stauber richtete einen ruhigen Blick auf seinen Sohn, den dieser ebenso ruhig erwiderte. Georg, der dies Augenspiel bemerkte, hatte den Eindruck, daß hier ein stilles Einverständnis waltete, das keiner Worte bedurfte.
»Ja«, sagte Doktor Stauber, »mich hat es allerdings nicht überrascht. Ich habe immer das Gefühl gehabt, daß Berthold im Parlament nur wie zu Gaste sitzt, und bin eigentlich froh, daß er nun eine Art von Heimweh nach seinem wahren Beruf bekommen hat. Ja, ja, dein wahrer, Berthold«, wiederholte er wie zur Antwort auf ein Stirnrunzeln seines Sohnes. »Damit ist ja nichts für die Zukunft präjudiziert. Nichts erschwert uns die Existenz so sehr, als daß wir so häufig an Definitiva glauben ... und daß wir die Zeit damit verlieren, uns eines Irrtums zu schämen, statt ihn einzugestehen und unser Leben einfach neu zu gestalten.«
Berthold erklärte, daß er in spätestens acht Tagen abreisen wolle. Jeder weitere Aufschub hätte keinen Sinn. Es wäre auch möglich, daß er nicht in Paris bliebe. Seine Studien konnten eine weitere Reise not wendig machen. Ferner war er entschlossen, alle Abschiedsbesuche zu unterlassen; wie er hinzusetzte, hatte er ohndies allen Verkehr früherer Jahre in gewissen bürgerlichen Kreisen, wo sein Vater eine ausgebreitete Praxis übte, vollkommen aufgegeben.
»Sind wir uns denn nicht diesen Winter einmal bei Ehrenbergs begegnet?« fragte Georg mit einiger Genugtuung.
»Und übrigens«, fügte der alte Doktor Stauber resigniert hinzu, »weiß der Herr Baron gewiß, daß alle Juden miteinander verwandt sind.«
Georg lächelte liebenswürdig. In Wirklichkeit aber war er eher enerviert. Seiner Empfindung nach bestand durchaus keine Notwendigkeit, daß auch der alte Doktor Stauber ihm offizielle Mitteilung von seiner Zugehörigkeit zum Judentum machte. Er wußte es ja, und er nahm es ihm nicht übel. Er nahm es überhaupt keinem übel; aber warum fingen sie denn immer selbst davon zu reden an? Wo er auch hinkam, er begegnete nur Juden, die sich schämten, daß sie Juden waren, oder solchen, die darauf stolz waren, und Angst hatten, man könnte glauben, sie schämten sich.
»Gestern hab ich übrigens die alte Golowski gesprochen«, fuhr Doktor Stauber fort.
»Die arme Frau«, sagte Herr Rosner.
»Wie gehts ihr denn?« fragte Anna.
»Wie wirds ihr gehen ... Sie können sich denken ... die Tochter eingesperrt, der Sohn Freiwilliger auf Staatskosten, wohnt in der Kaserne ... Stellen Sie sich das vor, Leo Golowski als Patriot ... Und der Alte sitzt im Kaffeehaus und schaut zu, wie die andern Leut Schach spielen. Er selbst hat doch nicht mehr die zehn Kreuzer, um das Spielgeld zu zahlen.«
»Die Haft von Therese muß übrigens bald abgelaufen sein«, sagte Berthold.
»Dauert doch noch zwölf, vierzehn Tage«, erwiderte sein Vater ... »Na, Annerl«, wandte er sich dann an das junge Mädchen, »es wäre wirklich schön von Ihnen, wenn Sie sich wieder einmal in der Rembrandtstraße anschauen ließen; die alte Frau hat eine fast rührende Schwärmerei für Sie. Ich versteh wirklich nicht warum«, setzte er lächelnd hinzu, während er Anna beinah zärtlich betrachtete. Sie aber sah vor sich hin und erwiderte nichts.
Die Wanduhr schlug sieben.
Georg erhob sich, als wenn er nur dieses Zeichen erwartet hätte.
Georg bat die Anwesenden, sich nicht stören zu lassen, und reichte allen die Hand.
»Es ist merkwürdig«, sagte der alte Stauber, »wie Ihre Stimme an die Ihres verstorbenen Herrn Vaters erinnert.«
»Ja, man hat es mir vielfach gesagt«, entgegnete Georg. »Ich selbst konnte es allerdings nie finden.«
»Es gibt keinen Menschen auf der Welt, der seine eigene Stimme kennt«, bemerkte der alte Stauber, und es klang wie der Beginn eines populären Vortrags.
Aber Georg empfahl sich. Anna begleitete ihn, trotz seiner leisen Abwehr, ins Vorzimmer und ließ etwas absichtlich, wie es Georg vorkam die Türe halboffen stehn. »Es ist schade, daß wir nicht länger musizieren konnten«, sagte sie.
»Mir tuts auch leid, Fräulein Anna.«
»Das Lied hat mir heut noch besser gefallen, als beim erstenmal, wie ich mich selber begleiten mußte. Nur zum Schluß verläuft es ein bißchen ... ich weiß nicht, wie ich sagen soll.«
»Ich weiß, was Sie meinen. Der Schluß ist konventionell, das hab ich gleich gefühlt. Hoffentlich kann ich Ihnen bald was Besseres bringen, Fräulein Anna.«
»Lassen Sie mich aber nicht zu lange darauf warten.«
»Gewiß nicht. Also Adieu Fräulein Anna.«
Sie reichten einander die Hände und lächelten beide.
»Warum sind Sie nicht nach Weißenfeld gekommen?« fragte Anna leicht.
»Es tut mir wirklich leid, aber sehen Sie, Fräulein Anna, ich hätte wahrhaftig heuer keine angenehme Gesellschaft vorgestellt, das können Sie sich wohl denken.«
Anna sah ihn ernst an. »Glauben Sie nicht«, sagte sie, »daß man Ihnen vielleicht hätte helfen können manches tragen?«
»Es zieht, Anna«, rief Frau Rosner von drinnen.
»Ich komm ja schon«, erwiderte Anna etwas ungeduldig. Aber Frau Rosner hatte die Tür schon geschlossen.
»Wann darf ich wiederkommen?« fragte Georg.
»Wann es Ihnen angenehm ist. Allerdings ... ich müßte Ihnen eigentlich eine schriftliche Stundeneinteilung geben, damit Sie wissen, wann ich zu Hause bin, und damit wäre auch noch nichts getan. Oft geh ich spazieren, oder habe Besorgungen in der Stadt, oder schau mir Bilder an, oder Ausstellungen ...«
»O ja«, erwiderte Anna, nahm ihr Portemonnaie aus der Tasche und entnahm diesem ein winziges Notizbuch.
»Was haben Sie denn da?« fragte Georg.
Anna lächelte und blätterte in dem Büchlein. »Warten Sie nur ... Donnerstag elf Uhr wollte ich mir die Miniaturausstellung in der Hofbibliothek ansehen. Wenn Sie das auch interessiert, so können wir uns dort treffen.«
»Aber sehr gern.«
»Also schön. Dort können wir gleich besprechen, wann Sie mich das nächstemal zum Singen begleiten.«
»Abgemacht«, sagte Georg und reichte ihr die Hand. Es fiel ihm ein, daß gewiß, während hier draußen Anna mit ihm plauderte, sich drin im Zimmer der junge Doktor Stauber ärgern oder gar kränken mochte. Und er wunderte sich, daß er diesen Umstand selbst offenbar unangenehmer empfand als Anna, die doch im ganzen ein gutmütiges Wesen zu sein schien. Er löste seine Hand aus der ihren, nahm Abschied und ging.
Als Georg auf die Straße kam, war es ganz dunkel geworden. Langsam schlenderte er über die Elisabethbrücke an der Oper vorbei der inneren Stadt zu und ließ, unbeirrt durch Geräusch und Treiben rings umher, sein Lied in sich nachtönen. Er fand es seltsam, daß Annas Stimme, die im kleinen Raume so reinen und gesunden Klang gab, jede Zukunft auf der Bühne und im Konzertsaal versagt sein sollte, und noch seltsamer, daß Anna unter diesem Verhängnis kaum zu leiden schien. Freilich war er sich nicht klar darüber, ob Annas Ruhe auch den wahren Ausdruck ihres Wesens widerspiegelte.
Er kannte sie wohl flüchtig schon seit einigen Jahren; aber erst eines Abends im
vergangenen Frühling waren sie einander näher gekommen. Im Waldsteingarten hatte sich
damals eine größere Gesellschaft Rendezvous gegeben. Man speiste im Freien, unter
hohen Kastanienbäumen, vergnügt, angeregt und berückt von dem ersten warmen Maiabend
des Jahres. Georg sah sie alle wieder, die damals gekommen waren. Frau Ehrenberg, die
Veranstalterin der Zusammenkunft, absichtlich matronenhaft mit einem lose sitzenden,
dunkeln Foulardkleid angetan; Hofrat Wilt, wie in der Maske eines englischen
Staatsmanns, mit vornehm schlampigen Gebärden und mit dem gleichen, etwas wohlfeilen
Ton der Überlegenheit für sämtliche Dinge und Menschen; Frau Oberberger, die mit dem
grau gepuderten Haar, den blitzenden
Auf dem Stephansplatz sah sich Georg von jemandem gegrüßt, der auf der Plattform eines Stellwagens stand. Georg, der etwas kurzsichtig war, erkannte den Grüßenden nicht gleich.
»Ich bins«, sagte der Herr auf der Plattform.
»O, Herr Bermann! Guten Abend«, Georg reichte ihm die Hand hinauf. »Wohin des Wegs?«
»Ich fahre in den Prater. Ich will unten nachtmahlen. Haben Sie etwas besondres vor, Herr Baron?«
»Nicht das geringste.«
»So kommen Sie doch mit.«
Georg schwang sich auf den Omnibus, der eben weiterzurumpeln begann. Sie erzählten einander beiläufig, wie sie den Sommer verbracht hatten. Heinrich war im Salzkammergut gewesen, später in Deutschland, von wo er erst vor ein paar Tagen zurückgekommen war.
»Ach in Berlin«, meinte Georg.
»Nein.«
»Ich dachte, daß Sie vielleicht in Angelegenheit eines neuen Stückes ...«
»Ich habe kein neues Stück geschrieben«, unter brach ihn Heinrich etwas unhöflich. »Ich war im Taunus und am Rhein, in verschiedenen Orten.«
Was hat er denn am Rhein zu tun, dachte Georg, obwohl es ihn nicht weiter interessierte. Es fiel ihm auf, daß Bermann zerstreut, ja beinahe verdüstert vor sich hinschaute.
»Und wie steht's denn mit Ihren Arbeiten, lieber Baron?« fragte Heinrich plötzlich lebhaft, während er den dunkelgrauen Überzieher, der ihm um die Schulter hing, enger um sich schlug. »Ist Ihr Quintett fertig?«
»Mein Quintett?« wiederholte Georg verwundert. »Hab' ich Ihnen denn von meinem Quintett gesprochen?«
»Ach so, Fräulein Else. Nein, ich bin nicht viel weiter gekommen. Ich war nicht gerade in der Stimmung, wie Sie sich denken können.«
»Ach ja«, sagte Heinrich und schwieg eine Weile. »Und Ihr Herr Vater war noch so jung«, fügte er langsam hinzu.
Georg nickte wortlos.
»Wie geht's Ihrem Bruder?« fragte Heinrich plötzlich.
»Danke recht gut«, erwiderte Georg etwas befremdet. Heinrich warf seine Zigarre über die Brüstung und zündete sich gleich wieder eine neue an. Dann sagte er: »Sie werden sich wundern, daß ich mich nach Ihrem Bruder erkundige, den ich kaum jemals gesprochen habe. Er interessiert mich aber. Er stellt für mich einen in seiner Art geradezu vollendeten Typus dar, und ich halte ihn für einen der glücklichsten Menschen, die es gibt.«
»Das mag wohl sein«, erwiderte Georg zögernd. »Aber wie kommen Sie eigentlich zu der Ansicht, da Sie ihn kaum kennen?«
»Erstens heißt er Felician Freiherr von Wergenthin-Recco«, sagte Heinrich sehr ernst und blies den Rauch in die Luft.
Georg horchte mit einigem Erstaunen auf.
»Sie heißen wohl auch Wergenthin-Recco«, fuhr Heinrich fort, »aber nur Georg und das ist lang nicht dasselbe, nicht wahr? Ferner ist Ihr Bruder sehr schön. Sie schauen allerdings auch nicht übel aus. Aber Leute, deren hauptsächliche Eigenschaft es ist, schön zu sein, sind doch eigentlich viel besser dran als andre, deren hauptsächliche Eigenschaft es ist, begabt zu sein. Wenn man nämlich schön ist, so ist man es immer, während die Begabten doch mindestens neun Zehntel ihrer Existenz ohne jede Spur von Talent verbringen. Ja, gewiß ist es so. Die Linie des Lebens ist sozusagen reiner, wenn man schön als wenn man ein Genie ist. Übrigens ließe sich das alles besser ausdrücken.«
Was hat er denn, dachte Georg unangenehm berührt. Sollte er vielleicht auf Felician eifersüchtig sein ... wegen Else Ehrenberg?
Auf dem Praterstern stiegen sie aus. Der große Strom der Sonntagsmenge flutete ihnen
entgegen. Sie nahmen den Weg in die Hauptallee, wo es nicht mehr belebt war, und
gingen langsam weiter. Es war kühl geworden. Georg machte Bemerkungen über die
herbstliche Abendstimmung, über die Leute, die in den Wirtshäusern saßen, über die
Militärkapellen, die in den Kiosken spielten. Heinrich entgegnete anfangs obenhin,
später gar nicht und
Längst waren sie an den letzten Gasthäusern vorbei. Neben ihnen lief die weiße Fahrstraße einsam und gerade zwischen den Bäumen in die Nacht hinaus, und sehr entfernte Musik tönte nur mehr in abgerissenen Klängen zu ihnen her.
»Wohin denn noch«, rief Heinrich plötzlich aus, als hätte man ihn wider Willen hierher geschleppt, und blieb stehen.
»Ich kann wirklich nichts dafür«, bemerkte Georg einfach.
»Entschuldigen Sie«, sagte Heinrich.
»Sie waren so sehr in Gedanken vertieft«, entgegnete Georg kühl.
»Vertieft will ich eben nicht sagen. Aber es passiert einem manchmal, daß man sich so in sich selbst verliert.«
»Ich kenne das«, meinte Georg ein wenig versöhnt.
»Man hat Sie übrigens im August auf dem Auhof erwartet«, sagte Heinrich plötzlich.
»Erwartet? Frau Ehrenberg war wohl so freundlich, mich einmal einzuladen, aber ich hatte keineswegs zugesagt. Haben Sie sich längere Zeit dort aufgehalten, Herr Bermann?«
»Längere Zeit, nein. Ich war einige Male oben, aber immer nur auf ein paar Stunden.«
»Ich dachte, Sie hätten oben gewohnt.«
»Keine Idee. Ich hab' unten im Gasthof logiert. Ich bin nur gelegentlich hinauf gekommen. Es ist mir dort zu laut und bewegt ... das Haus wimmelt ja von Besuchen. Und die Mehrzahl der Leute, die dort verkehren, kann ich nicht ausstehen.«
Ein offener Fiaker, in dem ein Herr und eine Dame saßen, fuhr an ihnen vorüber.
»Das war ja Oskar Ehrenberg«, sagte Heinrich.
»Und die Dame?« fragte Georg und sah etwas Hellem nach, das durch die Dunkelheit leuchtete.
»Kenn' ich nicht.«
Sie nahmen den Weg durch eine finstere Seitenallee. Wieder stockte das Gespräch. Endlich begann Heinrich: »Fräulein Else hat mir auf dem Auhof ein paar von Ihren Liedern vorgesungen. Einige hatte ich übrigens schon gehört, von der Bellini, glaub' ich.«
»Nun, diese Lieder und einige andre von Ihnen sang Fräulein Else.«
»Wer hat sie denn begleitet?«
»Ich selbst, so gut ich eben konnte. Ich muß Ihnen übrigens sagen, lieber Baron, die Lieder haben eigentlich noch einen stärkern Eindruck auf mich gemacht, als das erstemal im Konzert, trotzdem Fräulein Else ja beträchtlich weniger Stimme und Kunstfertigkeit besitzt, als Fräulein Bellini. Andererseits muß man freilich bedenken, daß es ein prachtvoller Sommernachmittag war, an dem Fräulein Else Ihre Lieder sang. Das Fenster stand offen, man sah drüben die Berge und den tiefblauen Himmel ... aber es bleibt noch immer genug für Sie übrig.«
»Sehr schmeichelhaft«, sagte Georg, von Heinrichs spöttelndem Ton peinlich berührt.
»Wissen Sie«, fuhr Heinrich fort und sprach, wie er es manchmal tat, mit zusammengepreßten Zähnen und unnötig heftiger Betonung, »wissen Sie, es ist im allgemeinen nicht meine Gewohnheit, Leute, die ich zufällig auf der Straße sehe, auf den Omnibus heraufzubitten, und ich will es ihnen lieber gleich gestehen, daß ich es ... wie sagt man nur ... als einen Wink des Schicksals betrachtet habe, wie ich Sie plötzlich auf dem Stephansplatz erblickte.«
Georg hörte ihn verwundert an.
»Sie erinnern sich vielleicht nicht mehr so gut als ich«, fuhr Heinrich fort, »an unser letztes Gespräch auf jener Ringstraßenbank.«
Nun erst fiel es Georg ein, daß Heinrich damals ganz flüchtig von einem Opernstoff gesprochen, der ihn beschäftigte, worauf Georg ebenso beiläufig, und eher scherzhaft, sich als Komponisten angeboten hatte. Und absichtlich kühl entgegnete er: »Ach ja, ich erinnere mich.«
»Nun, das verpflichtet Sie zu nichts«, erwiderte Heinrich noch kühler als der andere, »um so weniger, als ich, die Wahrheit zu sagen, an meinen Opernstoff überhaupt nicht mehr gedacht hatte, bis zu jenem schönen Sommernachmittag, an dem Fräulein Else Ihre Lieder sang. Wie wär's übrigens, wenn wir uns hier niederließen?«
Der Gasthausgarten, in den sie eintraten, war ziemlich leer. Heinrich und Georg nahmen in einer kleinen Laube, nächst dem grünen Staketgitter, Platz und bestellten ihr Nachtmahl.
»O«, erwiderte Georg und errötete ein wenig, »wie kommen Sie zu dieser Ansicht?«
»Nun ich kenne meine Stücke ... und kenne Sie.«
»Mich?« fragte Georg beinahe verletzt.
»Gewiß«, erwiderte Heinrich überlegen. »Übrigens habe ich den meisten Menschen gegenüber diese Empfindung und halte diese Fähigkeit sogar für meine einzige absolute, unzweifelhafte. Alle übrigen sind ziemlich problematisch, find' ich. Insbesondere ist meine sogenannte Künstlerschaft etwas durchaus mäßiges, und auch gegen meine Charaktereigenschaften wäre manches einzuwenden. Das einzige, was mir eine gewisse Sicherheit gibt, ist eigentlich nur das Bewußtsein, in menschliche Seelen hineinschauen zu können ... tief hinein, in alle, in die von Schurken und ehrlichen Leuten, in die von Frauen und Männern und Kindern, in die von Heiden, Juden, Protestanten, ja selbst in die von Katholiken, Adeligen und Deutschen, obwohl ich gehört habe, daß gerade das für unsereinen so unendlich schwer, oder sogar unmöglich sein soll.«
Georg zuckte leicht zusammen. Er wußte, daß Heinrich insbesondere bei Gelegenheit seines letzten Stückes von konservativen und klerikalen Blättern persönlich aufs heftigste angegriffen worden war. Aber was geht das mich an, dachte Georg. Schon wieder einer, den man beleidigt hat! Es war wirklich absolut ausgeschlossen, mit diesen Leuten harmlos zu verkehren. Höflich, fremd, in einer ihm selbst kaum bewußten Erinnerung an die Erwiderung des alten Herrn Rosner gegenüber dem jungen Doktor Stauber, äußerte er: »Eigentlich dachte ich mir, daß Menschen wie Sie über Angriffe von jener Art, auf die Sie offenbar anspielen, erhaben wären.«
»So ... dachten Sie das?« fragte Heinrich in dem kalten, beinahe abstoßenden Ton, der
ihm manchmal eigen war. »Nun«, fuhr er milder fort, »zuweilen stimmt es ja. Aber
leider nicht immer. Es braucht nicht viel dazu, um die Selbstverachtung aufzuwecken,
die stets in uns schlummert; und wenn das einmal geschehen ist, gibt es keinen Tropf
und keinen Schurken, mit dem
»O, ich habe schon ganz ähnliches empfunden. Freilich hatte ich noch nicht Gelegenheit, der Öffentlichkeit so oft und so exportiert gegenüberzustehen, wie Sie.«
»Nun wenn auch ... ganz das Gleiche wie ich werden Sie doch niemals durchzumachen haben.«
»Warum denn?« fragte Georg ein wenig gekränkt.
Heinrich sah ihm scharf ins Auge. »Sie sind der Freiherr von Wergenthin-Recco.«
»O darum! Ich bitte Sie, es gibt heutzutage eine ganze Menge Leute, die gerade deswegen gegen einen voreingenommen sind und es einem gelegentlich vorzuhalten wissen, daß man Baron ist.«
»Ja, ja, aber es liegt doch ein anderer Ton darin, das werden Sie mir zugeben, und auch ein anderer Sinn, wenn man einem den Freiherrn, als wenn man einem den Juden ins Gesicht schleudert, obzwar das letztere bisweilen ... Sie verzeihen schon ... der bessere Adel sein mag. Nun, Sie brauchen mich nicht so mitleidig anzuschauen«, setzte er plötzlich grob hinzu. »Ich bin nicht immer so empfindlich. Es gibt auch andre Stimmungen, in denen mir überhaupt nichts und niemand etwas anhaben kann. Da hab ich nur dieses eine Gefühl: was wißt Ihr denn alle, was wißt Ihr denn von mir ...«
Er schwieg, stolz, mit einem höhnischen Blick, der sich durch das Blätterwerk der Laube ins Dunkle bohrte. Dann wandte er den Kopf, sah ringsumher und sagte einfach, in einem neuen Ton, zu Georg: »Sehen Sie doch, wir sind bald die einzigen.«
»Es wird auch recht kühl«, sagte Georg.
»Ich denke, wir bummeln noch ein wenig durch den Prater.«
»Gern.«
Sie erhoben sich und gingen. Auf einer Wiese, an der sie vorüberkamen, lag feiner, grauer Nebel.
»Bis in die Nacht hält die Sommerlüge doch nicht mehr an. Nun wird es bald endgültig vorbei sein«, sagte Heinrich mit unverhältnismäßiger Bedrücktheit, und wie zum eigenen Trost fügte er hinzu: »Nun, man wird arbeiten.«
Sie kamen in den Wurstelprater. Aus den Gasthäusern tönte Musik, und Georg teilte sich sofort etwas von der fröhlich-lauten Stimmung mit, in die er nun mit einem Male aus den Traurigkeiten eines herbstlichen Wirtshausgartens und einer etwas gequälten Unterhaltung geraten war.
Auch die Bude mit den »Illusionen« und Lichtbildern hatte für Georg ihre besondere
Erinnerung. Hier, während Daphne sich in einen Baum verwandelte, hatte ihm Sissy ein
leises »remember« ins Ohr geflüstert und ihm damit den Maskenball bei Ehrenbergs ins
Gedächtnis gerufen, an dem sie, wohl nicht für ihn allein, den Spitzenschleier zu
einem flüchtigen Kuß gelüftet hatte. Dann kam die Hütte, wo die ganze Gesellschaft
sich hatte photographieren
Vor einer offenen Schießbude standen auffallend viel Leute. Bald war der Trommler ins Herz getroffen und wirbelte mit flinken Schlägen auf dem Fell, bald zersprang leise klirrend eine Glaskugel, die auf einem Wasserstrahl hin und her getanzt war, bald führte eine Marketenderin eiligst die Trompete zum Mund und blies drohend Appell, bald donnerte aus aufgesprungenem Tor eine kleine Eisenbahn, sauste über eine fliegende Brücke und wurde von einem andern Tor verschlungen. Da einige Zuschauer sich allmählich entfernten, rückten Georg und Heinrich vor und er kannten in den sichern Schützen Oskar Ehrenberg und seine Dame. Eben richtete Oskar das Gewehr auf einen Adler, der sich nahe der Decke mit ausgebreiteten Flügeln auf und ab bewegte, und fehlte zum erstenmal. Indigniert legte er die Waffe nieder, sah sich um, erblickte die beiden Herren hinter sich und begrüßte sie.
Die junge Dame, das Gewehr an der Wange, warf einen flüchtigen Blick auf die Neuangekommenen, visierte gleich wieder angelegentlich und drückte ab. Der Adler ließ den getroffenen Flügel sinken und bewegte sich nicht mehr.
»Bravo«, rief Oskar.
Die Dame legte das Gewehr vor sich auf den Tisch hin.
»Is genug«, sagte sie zu dem Jungen, der von neuem laden wollte, »g'wonnen hab ich eh.«
»Wie viel Schuß warens?« fragte Oskar.
»Vierzig«, antwortete der Junge, »macht achtzig Kreuzer. Oskar griff in die Westentasche, warf einen Silbergulden hin und nahm den Dank des Ladenjungen mit Herablassung entgegen. »Erlaube«, sagte er dann, indem er beide Hände in die Seiten stützte, den Oberkörper leicht nach vorn bewegte und den linken Fuß vorwärts setzte, »erlaube Amy, daß ich dir die Herren vorstelle, welche Zeugen deiner Triumphe waren. Baron Wergenthin, Herr von Bermann ... Fräulein Amelie Reiter.«
Die Herren lüfteten ihre Hüte, Amelie nickte zum Gegengruß ein paarmal hintereinander
mit dem Kopf. Sie trug ein einfaches,
Heinrich dankte ernst.
Sie spazierten weiter zwischen Buden, vor denen es stiller wurde, an Wirtshausgärten vorbei, die sich allmählich leerten.
Oskar schob seinen rechten Arm in den linken seiner Begleiterin, dann wandte er sich an Georg: »Warum sind Sie denn heuer nicht auf dem Auhof gewesen? Wir haben alle sehr bedauert.«
»Ich war leider in wenig geselliger Stimmung.«
»Natürlich, kann ich mir denken«, sagte Oskar mit dem gebotenen Ernst. »Ich war übrigens auch nur ein paar Wochen dort. Im August hab ich meine müden Glieder in den Wogen der Nordsee gestärkt, ich war nämlich auf der Isle of Wight.«
»Dort soll es ja sehr schön sein«, sagte Georg, »wer geht denn nur immer hin?«
»Die Wyners, meinen Sie«, erwiderte Oskar. »Wenigstens wie sie noch in London gelebt haben, sind sie regelmäßig dort gewesen. Jetzt nur mehr alle zwei, drei Jahre.«
»Aber das Ypsilon haben sie auch für Österreich beibehalten«, sagte Georg lächelnd.
Oskar blieb ernst. »Der alte Herr Wyner«, erwiderte er »hat sich sein Recht auf das Ypsilon ehrlich erworben. Er ist schon in seinem dreizehnten Jahr nach England gekommen, hat sich dort naturalisieren lassen und als ganz junger Mensch ist er Kompagnon der großen Stahlfabrik geworden, die jetzt noch immer Black und Wyner heißt.«
»Aber seine Frau hat er sich doch aus Wien geholt?«
»Ja. Und wie er vor sieben oder acht Jahren gestorben ist, ist sie mit den zwei Kindern hierher übersiedelt. Aber James wird sich hier nie eingewöhnen ... der Lord Antinous, Sie wissen ja, daß Frau Oberberger ihn so nennt. Jetzt ist er wieder in Cambridge, wo er seltsamerweise griechische Philologie studiert. Im übrigen ist auch Demeter ein paar Tage in Ventnor gewesen.«
»Stanzides?« ergänzte Georg.
»Kennen Sie den Herrn von Stanzides, Herr Baron?« fragte Amy.
»Also existiert er richtig«, rief sie aus.
»Ja aber hörst du«, sagte Oskar. »Heuer im Frühjahr hat sie in der Freudenau auf ihn gesetzt und hat eine Masse Geld gewonnen, und jetzt fragt sie, ob er existiert.«
»Warum zweifeln Sie denn an der Existenz von Stanzides, Fräulein?« fragte Georg.
»Ja wissen Sie, alleweil, wenn ich nicht weiß, wo er is, der Oskar, heißts: ich hab ein Rendezvous mit'n Stanzides, oder: ich reit mit'n Stanzides in' Prater. Stanzides hin, Stanzides her, es klingt mehr wie eine Ausred, als wie ein Nam.«
»Jetzt schweig aber endlich einmal still«, sagte Oskar mild.
»Stanzides existiert nicht nur«, erklärte Georg, »sondern er hat den schönsten, schwarzen Schnurrbart und die glühendsten schwarzen Augen, die es überhaupt gibt.«
»Das is schon möglich, aber wie ich ihn g'sehn hab, hat er ausg'schaut wie ein Wurstel. Gelber Janker, grünes Kappel, violette Schleifen.«
»Und sie hat vierzig Gulden auf ihn gewonnen«, ergänzte Oskar humoristisch.
»Wo sind die vierzig Gulden«, seufzte Fräulein Amelie ... Plötzlich blieb sie stehen und rief: »Da bin ich aber noch nie mitgefahren.«
»Das kann ja nachgeholt werden«, sagte Oskar einfach.
Es war das Riesenrad, das sich vor ihnen mit seinen beleuchteten Wagen langsam, majestätisch drehte. Die jungen Leute passierten das Tourniquet, stiegen in ein leeres Kupee und schwebten empor.
»Wissen Sie, Georg, wen ich heuer im Sommer kennen gelernt habe?« sagte Oskar, »den Prinzen von Guastalla.
»Welchen?« fragte Georg.
»Den jüngsten natürlich, Karl Friedrich. Er ist inkognito dort gewesen. Er ist sehr gut mit dem Stanzides, ein merkwürdiger Mensch. Ich kann Sie versichern«, setzte er leise hinzu, »wenn unsereins den hundertsten Teil von den Sachen reden möcht wie der Prinz, wir kämen unser Lebtag aus dem schweren Kerker nicht heraus.«
»Schau Oskar«, rief Amy, »die Tische und die Leut da unten! Wie aus einem Schachterl, nicht wahr? Und die Masse Lichter dort, ganz weit, da gehts sicher nach Prag. Glauben S' nicht, Herr Bermann?«
Als sie das Kupee verließen und ins Freie traten, war der Sonntagslärm im Verrauschen.
»Die Kleine«, sagte Oskar Ehrenberg zu Georg, während Amy mit Heinrich vorausging, »die ahnt auch nicht, daß wir heute das letztemal zusammen im Prater spazieren gehen.«
»Warum denn das letztemal?« fragte Georg ohne tieferes Interesse.
»Es muß sein«, erwiderte Oskar. »Solche Sachen dürfen nicht länger dauern als höchstens ein Jahr. Sie können sich übrigens vom Dezember an bei ihr Ihre Handschuhe kaufen«, fügte er heiter, aber nicht ohne Wehmut hinzu. »Ich richte ihr nämlich ein kleines Geschäft ein. Das bin ich ihr gewissermaßen schuldig, denn ich hab sie aus einer ziemlich sichern Situation herausgerissen.«
»Aus einer sichern?«
»Ja, sie war verlobt. Mit einem Etuimacher. Haben Sie gewußt, daß es das gibt?«
Indessen war Amy und Heinrich vor einer Wendeltreppe stehen geblieben, die eng und kühn zu einem Plateau hinaufführte, und erwarteten die andern. Alle waren darüber einig, daß man den Prater nicht verlassen durfte, ohne auf der Rutschbahn gefahren zu sein.
Sie sausten durchs Dunkel, hinab und wieder hinauf, im dröhnenden Wagen, unter schwarzen Wipfeln; und dem dumpf rhythmischen Lärm entklang für Georg allmählich ein groteskes Motiv im Dreivierteltakt. Während er mit den andern die Wendeltreppe hinabstieg, wußte er auch schon, daß die Melodie von Oboe und Klarinette gebracht und von Cello und Kontrabaß begleitet werden müsse. Offenbar war es ein Scherzo, vielleicht für eine Symphonie.
»Wenn ich ein Unternehmer wäre«, erklärte Heinrich mit Entschiedenheit, »so ließ ich
eine Rutschbahn bauen, viele Meilen lang, die ginge über Wiesen, Abhänge, durch
Wälder, Tanzsäle; auch für Überraschungen auf dem Weg wäre gesorgt.« Jedenfalls, so
fand er weiter, wäre nun die Zeit gekommen, das phantastische Element im
Wurstelprater zu höherer Entfaltung zu bringen. Er selbst hätte vorläufig die Idee
für ein Ringelspiel, das sich hoch und durch einen merkwürdigen Mechanismus, spiralig
immer höher über den Erdboden drehen müsse, um endlich in einer Art
So war man an den Ausgang des Praters gelangt, wo Oskars Wagen wartete. Gedrängt, aber gut gelaunt fuhren sie nach einem Weinrestaurant in der Stadt. In einem separierten Zimmer ließ Oskar Champagner auftragen. Georg setzte sich ans Klavier und phantasierte über das Thema, das ihm auf der Rutschbahn eingefallen war. Amy lehnte in der Divanecke, und Oskar flüsterte ihr allerhand ins Ohr, worüber sie lachen mußte. Heinrich war wieder stumm geworden und drehte sein Glas langsam zwischen den Fingern hin und her. Plötzlich hielt Georg im Spielen inne und ließ die Hände auf den Tasten liegen. Ein Gefühl von der Traumhaftigkeit und Zwecklosigkeit des Daseins kam über ihn, wie manchmal, wenn er Wein getrunken hatte. Viele Tage war es her, daß er eine schlecht beleuchtete Treppe in der Paulanergasse hinuntergegangen war, und der Spaziergang mit Heinrich durch die herbstdunkle Allee lag in fernster Vergangenheit. Hingegen erinnerte er sich plötzlich so lebhaft, als wär es gestern gewesen, eines sehr jungen und sehr verdorbenen Wesens, mit dem er vor vielen Jahren ein paar Wochen in heiter-unsinniger Art verbracht hatte, etwa so wie Oskar Ehrenberg jetzt mit Amy. Eines Abends hatte sie ihn auf der Straße zu lange warten lassen, ungeduldig war er fort gegangen und hatte nie wieder etwas von ihr gehört oder gesehen. Wie leicht sich das Leben zuweilen anließ ... Er hörte das leise Lachen Amys, wandte sich und sein Blick begegnete den Augen Oskars, die über den blonden Kopf Amys hinweg die seinen suchten. Er empfand diesen Blick als ärgerlich, wich ihm absichtlich aus und schlug wieder einige Töne an, in volksliedartiger, melancholischer Weise. Er spürte Lust, all das aufzuzeichnen, was ihm heute eingefallen war, und sah auf die Uhr, die über der Tür hing. Es war eins vorbei. Dann verständigte er sich mit Heinrich durch einen Blick, und beide erhoben sich. Oskar deutete auf Amy, die an seiner Schulter eingeschlummert war, und gab durch ein lächelndes Achselzucken zu verstehen, daß er unter diesen Umständen noch nicht ans Fortgehen denken könne. Die beiden andern reichten ihm die Hände, flüsterten ihm gute Nacht zu und entfernten sich.
»Ah den Opernstoff! Das ist ja interessant. Wollen Sie ihn mir nicht einmal erzählen?«
Heinrich schüttelte den Kopf. »Ich möchte schon, aber das Malheur ist nur, wie sich eben herausgestellt hat, daß er eigentlich gar nicht vorhanden ist. Wie die meisten andern von meinen sogenannten Stoffen.«
Georg sah ihn fragend an. »Im Frühjahr, wie wir uns das letztemal gesehen haben, da hatten Sie ja eine ganze Menge vor.«
»Ja aufnotiert ist gar viel. Aber heut ist nichts mehr davon da als Sätze ... Nein, Worte! Nein, Buchstaben auf weißem Papier. Es ist geradeso, wie wenn eine Totenhand alles berührt hätte. Ich fürchte, nächstens einmal, wenn ich das Zeug nur angreife, fällt es auseinander wie Zunder. Ja, ich hab eine schlechte Zeit; und wer weiß, ob je noch eine bessre kommen wird.«
Georg schwieg. Dann, mit einer plötzlichen Erinnerung an eine Zeitungsnotiz, die er irgendwo über Heinrichs Vater, den ehemaligen Abgeordneten Dr. Bermann gelesen hatte, und einen Zusammenhang vermutend, fragte er: »Ihr Herr Vater ist leidend, nicht wahr?«
Ohne ihn anzusehen, erwiderte Heinrich: »Ja. Mein Vater ist in einer Anstalt für Gemütskranke, schon seit dem Juni.«
Georg schüttelte teilnahmsvoll den Kopf.
Heinrich fuhr fort: »Ja, das ist eine furchtbare Sache. Wenn ich auch in der letzten Zeit in keinem sehr nahen Verhältnis zu ihm gestanden bin, es ist und bleibt furchtbarer, als man es sagen kann.«
»Unter solchen Umständen«, meinte Georg, »ist es ja sehr begreiflich, daß es mit der Arbeit nicht recht gehen will.«
»Ja«, erwiderte Heinrich wie zögernd. »Aber es ist nicht das allein. Die Wahrheit zu
sagen, in meinem augenblicklichen Seelenzustand spielt diese Sache eine
verhältnismäßig geringfügige Rolle. Ich will mich nicht besser machen, als ich bin.
Besser ...! Wär ich dann besser ...?« Er lachte kurz, dann sprach er weiter. »Sehen
Sie, gestern dacht ich auch noch, es wäre alles mögliche zusammen, was mich so
niederdrückt. Aber heute hab ich wieder einmal einen untrüglichen Beweis dafür
erhalten, daß mich ganz nichtige, ja läppische Dinge tiefer berühren, als sehr
wesentliche,
Georg sah vor sich hin. Warum begleit' ich ihn eigentlich, dachte er, und warum findet er es ganz selbstverständlich?
Heinrich sprach weiter mit zusammengepreßten Zähnen und mit überflüssig heftigem Ton: »Heute Nachmittag hab ich nämlich zwei Briefe bekommen. Zwei Briefe, ja ... einen von meiner Mutter, die gestern meinen Vater in der Anstalt besucht hat. Dieser Brief enthielt die Nachricht, daß es ihm schlecht geht, sehr schlecht; kurz und gut, es wird wohl nicht lange mehr dauern.« Er atmete tief auf. »Und natürlich hängt da noch allerlei daran, wie Sie sich denken können. Schwierigkeiten verschiedener Art, Sorgen für meine Mutter und meine Schwester, für mich. Und nun denken Sie; zugleich mit diesem Brief kam ein anderer, der gar nichts von Bedeutung enthielt, so zu sagen. Ein Brief von einer Person, die mir zwei Jahre hindurch nahe stand. Und in diesem Brief war eine Stelle, die mir ein bißchen verdächtig erschien. Eine einzige Stelle ... Sonst war dieser Brief, wie alle Briefe dieser Person sind, sehr liebevoll, sehr nett ... Und jetzt stellen Sie sich vor, den ganzen Tag verfolgt mich, peinigt mich die Erinnerung an diese eine verdächtige Stelle, die ein anderer überhaupt nicht bemerkt hätte. Ich denke nicht an meinen Vater, der im Irrenhaus ist, nicht an meine Mutter, meine Schwester, die verzweifeln, nur an diese unbedeutende Stelle in diesem dummen Brief eines durchaus nicht hervorragenden Frauenzimmers. Die frißt alles in mir auf, macht mich unfähig zu fühlen wie ein Sohn, wie ein Mensch ... Ist es nicht scheußlich?«
Befremdet hörte Georg zu. Es erschien ihm sonderbar, wie dieser schweigsame, verdüsterte Mensch sich ihm, dem flüchtig Bekannten, mit einem Male aufschloß, und er konnte sich dieser unerwarteten Offenheit gegenüber einer peinlichen Verlegenheit nicht erwehren. Auch hatte er nicht den Eindruck, daß er diese Geständnisse einer besonderen Sympathie Heinrichs verdankte, sondern spürte darin eher einen Mangel an Takt, eine gewisse Unfähigkeit der Selbstbeherrschung, irgend etwas wofür ihm das Wort »schlechte Erziehung«, das er schon irgend einmal war es nicht von Hofrat Wilt? auf Heinrich anwenden gehört hatte, sehr bezeichnend erschien. Sie gingen eben am Burgtor vorüber. Ein sternenloser Himmel lag über der stummen Stadt. Durch die Bäume des Volksgartens rauschte es leise, irgendwoher drang das Geräusch eines rollenden Wagens, der sich entfernte.
»O«, rief Heinrich, »jetzt merk ich erst, daß Sie mich ein ganzes Stück begleitet haben und ich erzähl Ihnen oder vielmehr mir in Ihrer Gegenwart, taktloserweise lauter Geschichten, die Sie nicht im geringsten interessieren können ... verzeihen Sie.«
»Was gibts da zu verzeihen«, erwiderte Georg leise, kam sich gegenüber dieser Selbstanklage Heinrichs ein wenig wie ertappt vor und reichte ihm die Hand. Heinrich nahm sie, sagte »auf Wiedersehen, lieber Baron«, und als hielte er plötzlich jedes weitere Wort für eine Zudringlichkeit, entfernte er sich eilig.
Georg sah ihm nach, mit Teilnahme und Widerwillen zugleich, und eine plötzliche
freie, beinahe glückliche Stimmung kam über ihn, in der er sich jung, sorgenlos und
zu der schönsten Zukunft bestimmt erschien. Er freute sich auf den Winter, der vor
der Türe war. Alles mögliche stand in Aussicht. Arbeit, Unterhaltung, Zärtlichkeit,
und es war im Grunde gleichgültig, von wo alle diese Freuden kommen mochten. Bei der
Oper zögerte er einen Augenblick. Wenn er durch die Paulanergasse nach Hause ging, so
bedeutete es keinen beträchtlichen Umweg. Er lächelte in der Erinnerung an
Fensterpromenaden früherer Jahre. Nicht fern von hier lag die Straße, wo er manche
Nacht zu einem Fenster aufgeblickt hatte, hinter dessen Vorhängen sich Marianne zu
zeigen pflegte, wenn ihr Gatte eingeschlafen war. Diese Frau, die stets mit Gefahren
spielte, an deren Ernst sie selbst nicht glaubte, war Georg nie wirklich wert gewesen
... Eine andre Erinnerung, ferner als diese, war um viel holdseliger. In Florenz, als
siebzehnjähriger Jüngling war er manche Nacht vor dem Fenster eines schönen Mädchens
auf und abgegangen, des ersten weiblichen Wesens, das sich ihm, dem Unberührten, als
Jungfrau gegeben hatte. Und er dachte der Stunde, an der er die Geliebte am Arm des
Bräutigams zum Altar hatte schreiten sehen, wo der Priester die Ehe einsegnen sollte,
des Blicks, den sie unter dem weißen Schleier zu ewigem Abschied ihm herüber gesandt
hatte ... Er war am Ziele. Nur an den beiden Enden der kurzen Gasse brannten noch die
Laternen, so daß er dem Hause gegenüber völlig im Dunkel stand. Das Fenster von Annas
Zimmer war offen, und wie am Nachmittag bewegten die zusammengesteckten Tüllvorhänge
sich leise im Wind. Dahinter war es ganz dunkel. Eine sanfte Zärtlichkeit regte sich
in Georg. Von allen Wesen, die
Längst, ohne innerlich von Anna Abschied genommen zu haben, hatte er die Paulanergasse verlassen und bald war er zu Hause. Als er ins Speisezimmer trat, sah er, daß aus dem Zimmer Felicians Licht schimmerte.
»Guten Abend, Felician«, rief er laut.
Die Türe wurde geöffnet, und Felician, noch völlig angekleidet, trat heraus.
Die Brüder reichten sich die Hände.
»Du kommst auch erst jetzt nach Hause?« sagte Felician. »Ich habe gedacht, du schläfst schon lang.« Während er sprach, sah er, wie das seine Art war, an ihm vorbei und neigte den Kopf nach der rechten Seite. »Was hast du denn getrieben?«
»Ich war im Prater«. erwiderte Georg.
»Allein?«
»Nein, ich habe Leute getroffen. Den Oskar Ehrenberg mit seiner Dame und den
Schriftsteller Bermann. Wir haben geschossen und sind Rutschbahn gefahren. Es war
ganz lustig ... Was
Felician ließ den Degen, den er in der Rechten hielt, im Licht der Lampe schimmern. »Ich habe ihn eben von der Wand herunter genommen. Morgen fang ich wieder ernstlich an. Das Tournier ist schon Mitte November. Und heuer will ichs auch gegen Forestier versuchen.«
»Donnerwetter«, rief Georg.
»Eine Unverschämtheit, denkst du dir, was? Aber bis Mitte November ist noch lang. Und das merkwürdige ist, ich habe das Gefühl, als wenn ich heuer im Sommer, gerade in den sechs Wochen, während ich das Ding da gar nicht in der Hand gehabt habe, was zugelernt hätte. Es ist, wie wenn mein Arm indessen auf neue Ideen gekommen wäre. Ich kann dir das nicht recht erklären.«
»Ich verstehe schon, was du meinst.«
Felician hielt den Degen ausgestreckt vor sich hin und betrachtete ihn mit Zärtlichkeit. Dann sagte er: »Ralph hat sich nach dir erkundigt, Guido auch ... schad, daß du nicht mit warst.«
»Hast du den ganzen Nachmittag mit ihnen verbracht?«
»O nein! Nach dem Essen bin ich zu Haus geblieben. Du mußt grad fortgegangen sein. Ich hab studiert.«
»Studiert?«
»Ja. Ich muß mich jetzt ernstlich dranmachen. Im Mai spätestens will ich die Diplomatenprüfung ablegen.«
»Du bist also vollkommen entschlossen?«
»Absolut. In der Statthalterei zu bleiben hat wirklich keinen Sinn für mich. Je länger ich drin sitz', umso klarer wird mir das. Die Zeit wird übrigens nicht verloren sein. Sie haben's gar nicht ungern, wenn einer ein paar Jahre internen Dienst gemacht hat.«
»Da wirst du also wahrscheinlich schon im Herbst von Wien fortgehen?«
»Es ist anzunehmen.«
»Und wo werden sie dich hinschicken?«
»Ja, wenn man das schon wüßte.«
Georg sah vor sich hin. So nahe also war der Abschied! Doch warum berührte ihn das
plötzlich so sehr? ... Er selbst war ja entschlossen fortzugehen, und erst neulich
hatte er mit dem Bruder von seinen Absichten fürs nächste Jahr geredet. Glaubte der
noch immer nicht an ihren Ernst? Wenn man sich doch wieder einmal mit ihm aussprechen
könnte, brüderlich, herzlich wie an
»Ich habe mit Guido soupiert und einer interessanten jungen Dame.«
»So?«
»Er ist nämlich wieder in zarten Banden.«
»Wer ist's denn?«
»Konservatorium, Jüdin, Geige. Aber sie hat sie nicht mitgehabt. Nicht besonders hübsch, aber g'scheit. Sie bildet ihn, und er achtet sie. Er will, sie soll sich taufen lassen. Ein komisches Verhältnis, sag ich dir. Du hättest dich ganz gut unterhalten.«
Georg hatte seinen Blick auf den Degen gerichtet, den Felician noch immer in der Hand hielt. »Hättest du Lust, noch ein bißchen zu manschettieren?« fragte er.
»Warum nicht?« erwiderte Felician und holte ein zweites Florett aus seinem Zimmer. Indes hatte Georg den großen Tisch aus der Mitte an die Wand gerückt.
»Seit dem Mai hab ich keines in der Hand gehabt«, sagte er, indem er den Degen ergriff. Sie legten die Röcke ab und kreuzten die Klingen. In der nächsten Sekunde war Georg tuschiert.
»Nur weiter!« rief Georg und empfand es wie ein Glück, daß er in verwegener Stellung, die blitzende, schlanke Waffe in der Hand, dem Bruder gegenüber stehen durfte.
Felician traf ihn, so oft es ihm beliebte, ohne nur ein einziges Mal selbst berührt zu werden. Dann ließ er den Degen sinken und sagte: »Du bist heut zu müd, es hat keinen Sinn. Aber du solltest wieder fleißiger in den Klub kommen. Ich versichre dich, es ist schad, bei deinen Anlagen.«
Georg freute sich des brüderlichen Lobs. Er legte den Degen auf den Tisch, atmete tief und ging zu dem offenen, breiten Mittelfenster. »Wundervolle Luft!« sagte er. Aus dem Park schimmerte eine einsame Laterne, es war vollkommene Stille.
Felician trat zu Georg hin, und während dieser sich mit beiden Händen auf die
Brüstung stützte, blieb der ältere Bruder aufgerichtet stehen und ließ einen seiner
ruhig-hochmütigen Blicke über Straße, Park und Stadt schweifen. Sie schwiegen beide
lang.
»Also gute Nacht«, sagte Felician, weicher als sonst und reichte Georg die Hand. Er drückte sie wortlos, und jeder ging in sein Zimmer.
Georg schaltete die Schreibtischlampe ein, nahm Notenblätter hervor und begann zu schreiben. Es war nicht das Scherzo, das ihm eingefallen war, als er vor drei Stunden mit den andern unter schwarzen Wipfeln durch die Nacht gesaust war; und auch nicht die melancholische Volksweise aus dem Restaurant; sondern ein ganz neues Motiv, das wie aus geheimen Tiefen langsam und unaufhaltsam emporgetaucht kam. Es war Georg zu Mute, als müßte er nur ein Unbegreifliches gewähren lassen. Er schrieb die Melodie nieder, die er sich von einer Altstimme gesungen oder auch auf der Viola gespielt dachte; und eine seltsame Begleitung tönte ihm mit, von der er wußte, daß sie ihm nie aus dem Gedächtnis schwinden konnte.
Es war vier Uhr morgens, als er zu Bette ging; beruhigt wie einer, dem niemals im Leben etwas Übles begegnen kann, und für den weder Einsamkeit, noch Armut, noch Tod irgendwelche Schrecken haben.
Im erhöhten Erker auf dem grünsamtenen Sofa saß Frau Ehrenberg mit ihrer Stickerei; Else, ihr gegenüber, las in einem Buch. Aus dem tiefern und dunklern Teil des Zimmers, hinter dem Klavier hervor, leuchtete das weiße Haupt der marmornen Isis, und durch die offene Tür floß aus dem benachbarten Zimmer ein heller Streif über den grauen Teppich. Else sah von ihrem Buche auf, durchs Fenster zu den hohen Wipfeln des Schwarzenbergparkes, die sich im Herbstwind regten, und sagte beiläufig: »Man könnt' vielleicht dem Georg Wergenthin telephonieren, ob er heut Abend kommt.«
»Man kann ihn nicht behandeln wie die andern«, erwiderte Else. »Er gehört zu den Leuten, die man gelegentlich daran erinnern muß, daß man auf der Welt ist. Wenn man ihn erinnert hat, dann freut er sich schon darüber.«
Frau Ehrenberg stickte weiter. »Es wird ja doch nichts werden«, sagte sie ruhig.
»Es soll auch nichts werden«, entgegnete Else, »weißt du denn das noch immer nicht, Mama? Er ist mein guter Freund, nichts weiter und auch das nur mit Unterbrechungen. Oder glaubst du wirklich, daß ich in ihn verliebt bin, Mama? Ja als kleines Mädel war ich's, in Nizza, wie mir miteinander Tennis gespielt haben, aber das ist lang vorbei.«
»Na, und in Florenz?«
»In Florenz war ich's eher in Felician.«
»Und jetzt?« fragte Frau Ehrenberg langsam.
»Jetzt ...? Du denkst wahrscheinlich an Heinrich Bermann ... Also du irrst dich, Mama.«
»Es wäre mir lieb, wenn ich mich irrte. Aber heuer im Sommer hatte ich wirklich ganz den Eindruck, als ob ...«
»Ich sag dir ja schon«, unterbrach Else sie ein wenig ungeduldig. »Es ist nichts, und es war nichts. Ein einziges Mal, an dem schwülen Nachmittag, wie wir Kahn gefahren sind du hast uns ja vom Balkon aus gesehen, sogar mit dem Operngucker da ist es ein bißchen gefährlich geworden. Aber wenn wir uns auch einmal um den Hals gefallen wären, was übrigens nie vorgekommen ist, es hätte doch nichts zu bedeuten gehabt. Es war halt so eine Sommersache.«
»Und er soll ja auch in einem sehr ernsten Verhältnis stecken«, sagte Frau Ehrenberg.
»Du meinst ... mit dieser Schauspielerin, Mama?«
Frau Ehrenberg sah auf. »Hat er dir was von ihr erzählt?«
»Erzählt ...? So direkt nicht. Aber wenn wir miteinander spazieren gegangen sind, im
Park, oder abends am See, da hat er beinahe nur von ihr gesprochen. Natürlich, ohne
ihren Namen zu nennen ... Und je besser ich ihm gefallen hab, die Männer
»In einem ernsten? ... Nein. Dem wird das nie passieren. Dazu ist er zu kühl, zu überlegen ... zu temperamentlos.«
»Gerade darum«, erklärte Else menschenkennerisch. »Er wird in irgend was hineingleiten, und es wird über ihm zusammenschlagen, ohne daß er nur was davon bemerkt hat. Und eines schönen Tages wird er verheiratet sein ... aus lauter Indolenz ... mit irgendeiner Person, die ihm wahrscheinlich ganz gleichgültig sein wird.«
»Du mußt einen bestimmten Verdacht haben«, sagte Frau Ehrenberg.
»Den hab ich auch.«
»Marianne?«
»Marianne! Aber das ist ja längst aus, Mama. Und besonders ernst war das doch nie.«
»Also wer denn soll es sein?«
»Na was glaubst du, Mama?«
»Ich hab keine Ahnung.«
»Anna ist es«, sagte Else kurz.
»Welche Anna?«
»Anna Rosner, selbstverständlich.«
»Aber!«
»Du kannst lang ›aber‹ sagen es ist doch so.«
»Else, du glaubst doch nicht im Ernst, daß Anna, die eine so zurückhaltende Natur ist, sich so weit vergessen könnte ...!«
»So weit vergessen ...! Nein Mama, du hast manchmal noch Ausdrücke! übrigens find ich, dazu muß man gar nicht so vergeßlich sein.«
Frau Ehrenberg lächelte, nicht ohne einen gewissen Stolz.
Die Klingel draußen ertönte. »Am Ende ist er's doch«, sagte Else.
»Es könnte auch Demeter Stanzides sein«, bemerkte Frau Ehrenberg.
»Stanzides sollt' uns einmal den Prinzen mitbringen«, meinte Else beiläufig.
»Glaubst du, daß das ginge?« fragte Frau Ehrenberg und ließ die Stickerei in den Schoß sinken.
»Warum sollt's denn nicht gehen?« sagte Else, »sie sind ja so intim.«
»Nur eine, die es leider nie gewesen ist«, erwiderte Frau Ehrenberg, während sie ihm die Hand reichte, »und eine ... die es vielleicht einmal werden wird.«
»O, ich bin überzeugt«, sagte Nürnberger, »daß Fräulein Else auch das treffen wird, wenn sie sichs nur ernstlich vornimmt.« Und er strich sich mit der linken Hand langsam über das schwarze, glatte, etwas glänzende Haar.
Frau Ehrenberg sprach ihr Bedauern aus, daß man ihn vergeblich auf dem Auhof erwartet hatte. Ob er wirklich den ganzen Sommer in Wien gewesen sei?
»Warum wundern Sie sich darüber, gnädige Frau? Ob ich in einer Gebirgslandschaft auf- und abspaziere, oder am Meeresstrand, oder in meinen vier Wänden, das ist doch im Grunde ziemlich gleichgültig.«
»Sie müssen sich aber recht einsam gefühlt haben«, sagte Frau Ehrenberg.
»Das Alleinsein kommt einem allerdings etwas deutlicher zu Bewußtsein, wenn sich niemand in der Nähe befindet, der das Bedürfnis markiert, mit einem reden zu wollen ... Aber sprechen wir doch lieber von interessanteren und hoffnungsvollern Menschen, als ich es bin. Wie befinden sich die zahlreichen Freunde Ihres so beliebten Hauses?«
»Freunde!« wiederholte Else, »da müßte man doch erst wissen, wen Sie darunter verstehen.«
»Nun, alle Leute, die Ihnen aus irgendeinem Anlaß Angenehmes sagen und denen Sie es glauben.«
Die Schlafzimmertür tat sich auf, Herr Ehrenberg erschien und begrüßte Nürnberger.
»Hast du schon fertig gepackt?« fragte Else.
»Fix und fertig«, antwortete Ehrenberg, der einen viel zu weiten grauen Anzug anhatte
und eine große Zigarre mit den Zähnen
»Es verlangt ja niemand«, erwiderte Frau Ehrenberg mild, »daß du sie mit deiner Gegenwart beehrst.«
»Gut gibt sie das«, sagte Ehrenberg und dampfte. »Auf deine Jours möcht' ich natürlich verzichten. Aber wenn ich grad an einem Donnerstag ruhig zu Haus nachtmahlen möcht, und es sitzt in der einen Ecke ein Attaché, in der andern ein Husar, und dorten spielt einer seine eigenen Kompositionen zuguten vor, und auf'm Divan hat einer Esprit, und am Fenster verabredet die Frau Oberberger ein Rendezvous, mit wem sich's trefft ... so macht mich das nervös. Einmal vertragt mans, ein anderes Mal nicht.«
»Gedenken Sie den ganzen Winter fortzubleiben?« fragte Nürnberger.
»Es wär' möglich. Ich hab nämlich die Absicht weiter zu fahren, nach Ägypten, nach Syrien, wahrscheinlich auch nach Palästina. Ja, vielleicht ist es nur, weil man älter wird, vielleicht weil man soviel vom Zionismus liest und dergleichen, aber ich kann mir nicht helfen, ich möcht Jerusalem gesehen haben, eh ich sterbe.«
Frau Ehrenberg zuckte die Achseln.
»Das sind Sachen«, sagte Ehrenberg, »die meine Frau nicht versteht, und meine Kinder noch weniger. Was hast du davon, Else, du auch nicht. Aber wenn man so liest, was in der Welt vorgeht, man möcht selber manchmal glauben, es gibt für uns keinen andern Ausweg.«
»Für uns?« wiederholte Nürnberger. »Ich habe bisher nicht die Beobachtung gemacht, daß Ihnen der Antisemitismus auffallend geschadet hätte.«
»Sie meinen, weil ich ein reicher Mann geworden bin? Wenn ich Ihnen sagen möcht, ich mach mir nichts aus dem Geld, würden Sie mir natürlich nicht glauben, und Sie hätten Recht. Aber wie Sie mich da sehen, ich schwör Ihnen, die Hälfte von meinem Vermögen gäb ich her, wenn ich die ärgsten von unsern Feinden am Galgen säh.«
»Ich fürchte nur«, bemerkte Nürnberger, »Sie würden die Unrichtigen hängen lassen.«
»Die Gefahr ist nicht groß«, erwiderte Ehrenberg, »greifen Sie daneben, erwischen Sie auch einen.«
Ehrenberg zerbiß plötzlich seine Zigarre und legte sie mit wutzitternden Fingern auf die Aschenschale. »Wenn mir einer damit kommt ... und gar ... entschuldigen Sie ... oder sind Sie vielleicht getauft ...? Man kann ja heutzutag nicht wissen.«
»Ich bin nicht getauft«, erwiderte Nürnberger ruhig. »Aber allerdings bin ich auch nicht Jude. Ich bin längst konfessionslos geworden; aus dem einfachen Grunde, weil ich mich nie als Jude gefühlt habe.«
»Wenn man Ihnen einmal den Zylinder einschlage auf der Ringstraße, weil Sie, mit Verlaub, eine etwas jüdische Nase haben, werden Sie sich schon als Jude getroffen fühlen, verlassen Sie sich darauf.«
»Aber Papa, was regst du dich denn so auf«, sagte Else und strich ihm über den kahlen, rötlich glänzenden Schädel.
Der alte Ehrenberg nahm ihre Hand, streichelte sie und fragte scheinbar ganz unvermittelt: »Werd ich übrigens noch das Vergnügen haben, meinen Herrn Sohn zu sehen, bevor ich abreise?«
Frau Ehrenberg antwortete: »Oskar kommt jedenfalls bald nach Hause.«
»Es wird Sie sicher freuen zu erfahren«, wandte sich Ehrenberg an Nürnberger, »daß auch mein Sohn Oskar ein Antisemit ist.«
Frau Ehrenberg seufzte leise. »Es ist eine fixe Idee von ihm«, sagte sie zu Nürnberger. »Überall sieht er Antisemiten, selbst in der eigenen Familie.«
»Das ist die neueste Nationalkrankheit der Juden«, sagte Nürnberger. »Mir selbst ist es bisher erst gelungen, einen einzigen echten Antisemiten kennen zu lernen. Ich kann Ihnen leider nicht verhehlen, lieber Herr Ehrenberg, daß der ein bekannter Zionistenführer war.«
Ehrenberg hatte nur eine vielsagende Handbewegung.
Demeter Stanzides und Willy Eißler traten ein und verbreiteten sofort lebhaften Glanz
um sich. Leicht und prächtig, eher wie ein Kostüm, als wie ein militärisches Kleid
trug Demeter seine Uniform; Willy, in Smoking, stand lang, blaß und übernächtig da,
hatte sofort die Führung des Gesprächs in der Hand und seine Stimme, angenehm heiser,
schwirrte befehlshaberisch und liebenswürdig zugleich durch die Luft. Er erzählte von
den Vorbereitungen
Else saß am kleinen Tisch in der Ecke mit Demeter und ließ sich über die Isle of Wight berichten.
»Sie waren mit Ihrem Freund dort?« fragte sie, »nicht wahr, mit dem Prinzen Karl Friedrich.«
»Mein Freund der Prinz? ... das stimmt nicht ganz, Fräulein Else. Der Prinz hat keinen Freund, und ich hab keinen. Wir sind beide nicht von der Art.«
»Er muß ein interessanter Mensch sein, nach allem, was man hört.«
»Interessant, weiß ich nicht einmal. Jedenfalls hat er über mancherlei nachgedacht, worüber seinesgleichen sich sonst nicht viel Gedanken zu machen pflegen. Vielleicht hätte er auch allerlei leisten können, wenn man ihn hätte gewähren lassen. Na, wer weiß, es ist vielleicht besser für ihn, daß sie ihn kurz gehalten haben, für ihn und am End auch fürs Land. Einer allein kann ja doch nichts machen. Nirgends und nie. Da ist's schon am besten, man laßts gehen und zieht sich zurück, wie er's getan hat.«
Else sah ihn etwas befremdet an. »Sie sind ja heute so philosophisch, was ist denn das? Mir scheint, der Willy Eißler hat Sie verdorben.«
»Der Willy mich?«
»Ja wissen Sie, Sie sollten nicht mit so gescheiten Leuten verkehren.«
»Warum denn nicht?«
»Sie sollten einfach jung sein, leuchten, leben, und dann, wenns halt nicht weiter geht tun was Ihnen beliebt ... aber ohne über sich und die Welt nachzudenken.«
»Das hätten Sie mir früher sagen müssen, Fräulein Else. Wenn man einmal angefangen hat, gescheit zu werden ...«
Else schüttelte den Kopf. »Aber bei Ihnen wäre es vielleicht zu
Die Flammen des Lusters glühten auf. Georg von Wergenthin und Heinrich Bermann waren eingetreten. Durch ein Lächeln Elses eingeladen, nahm Georg an ihrer Seite Platz.
»Ich habs gewußt, daß Sie kommen werden«, sagte sie unaufrichtig, aber herzlich und drückte seine Hand. Daß er ihr wieder gegenübersaß nach so langer Zeit, daß sie sein anmutig stolzes Gesicht wiedersehen, seine etwas leise, aber warme Stimme hören durfte, freute sie mehr, als sie geahnt hatte.
Frau Wyner erschien; klein, hochrot, lustig und verlegen. Ihre Tochter Sissy mit ihr. Im Hin und Her der Begrüßung lösten sich die Gruppen.
»Nun, haben Sie mir schon das Lied komponiert?« fragte Sissy Georg mit lachenden Augen und lachenden Lippen, spielte mit einem ihrer Handschuhe und bewegte sich in ihrem dunkelgrünen schillernden Kleid wie eine Schlange.
»Ein Lied?« fragte Georg. Er erinnerte sich wirklich nicht.
»Oder auch einen Walzer oder so was. Aber daß Sie mir etwas widmen werden, haben Sie mir versprochen.« Während sie sprach, wanderten ihre Blicke umher. Sie glühten in die Augen Willys, schmeichelten sich an Demeter vorbei, stellten an Heinrich Bermann eine rätselhafte Frage. Es war, wie wenn Irrlichter durch den Salon tanzten.
Frau Wyner stand plötzlich neben ihrer Tochter, tief errötend: »Sissy ist ja so dumm ... was glaubst du denn, Sissy, der Baron Georg hat heuer wichtigeres zu tun gehabt, als für dich zu komponieren.«
»O gewiß nicht«, sagte Georg höflich.
»Sie haben Ihren Vater begraben, das ist keine Kleinigkeit.«
Georg sah vor sich hin. Frau Wyner aber sprach unbeirrt weiter: »Ihr Vater war noch nicht alt, nicht wahr? Und ein so schöner Mann ... ist es wahr, daß er Chemiker gewesen ist?«
»Nein«, erwiderte Georg gefaßt, »er war Präsident der botanischen Gesellschaft.«
Heinrich, einen Arm auf dem geschlossenen Klavierdeckel, sprach mit Else.
»Sie waren also doch in Deutschland?« fragte sie.
»Ja«, erwiderte Heinrich, »es ist schon ziemlich lange her, vier, fünf Wochen.«
»Und wann fahren Sie wieder hin?«
»Ach, das glauben Sie selbst nicht. Was arbeiten Sie?« setzte sie rasch hinzu.
»Allerlei«, entgegnete er. »Ich bin in einer ziemlich unruhigen Zeit. Ich entwerfe viel, aber ich mache nichts fertig. Das Vollenden interessiert mich über haupt selten. Offenbar bin ich innerlich zu rasch fertig mit den Dingen.«
»Und den Menschen«, fügte Else bei.
»Mag sein. Es ist nur das Unglück, daß das Gefühl zuweilen an Menschen weiter hängen bleibt, während der Verstand schon längst nichts mehr mit ihnen zu tun hat. Ein Dichter wenn Sie mir das Wort gestatten müßte sich von jedem zurückziehen, der für ihn kein Rätsel mehr hat ... also besonders von jedem, den er liebt.«
»Es heißt doch«, wandte Else ein, »daß wir gerade diejenigen am wenigsten kennen, die wir lieben.«
»Das behauptet Nürnberger, aber es stimmt nicht ganz. Wäre es wirklich so, liebe Else, dann wäre das Leben wahrscheinlich schöner, als es ist. Nein, diejenigen, die wir lieben, kennen wir sogar besser als wir andere kennen, nur kennen wir sie mit Scham, mit Erbitterung und mit der Furcht, daß auch andre sie ebensogut kennen als wir. Lieben heißt: Angst davor haben, daß andern die Fehler offenbar werden, die wir an dem geliebten Wesen entdeckt haben. Lieben heißt: in die Zukunft schauen können und diese Gabe verfluchen ... lieben heißt: jemanden so kennen, daß man daran zugrunde geht.«
Else lehnte am Klavier, in ihrer damenhaft-kindlichen Art, neugierig gelassen, und hörte ihm zu. Wie gut gefiel er ihr in solchen Augenblicken. Sie hätte ihm wieder tröstend übers Haar streichen wollen wie damals auf dem See, als er von der Liebe zu jener andern wie zerrissen war. Aber wenn er sich dann plötzlich zurückzog, kühl, trocken und wie ausgelöscht erschien, da fühlte sie, daß sie mit ihm nie leben könnte, daß sie ihm nach ein paar Wochen davonlaufen müßte ... mit einem spanischen Offizier oder einem Violinvirtuosen.
»Es ist gut«, sagte sie, etwas gönnerhaft, »daß Sie mit Georg Wergenthin verkehren. Er wird günstig auf Sie wirken. Er ist ruhiger als Sie. Ich glaube ja nicht, daß er so begabt und gewiß nicht, daß er so klug ist wie Sie ...«
»Was wissen Sie von seiner Begabung«, unterbrach sie Heinrich beinahe grob.
»Mit dem bissel Stimme!« sagte Else.
Nürnberger stand neben ihnen. »Das wäre doch kein Hindernis«, bemerkte er. »Ich bin sogar überzeugt, daß sich sehr bald ein moderner Kritiker fände, der Sie gerade deswegen als bedeutende Sängerin ausriefe, Fräulein Else, weil Sie keine Stimme besitzen, der aber dafür irgend eine andere Gabe, zum Beispiel die der Charakteristik bei Ihnen entdeckte. So wie es heutzutage namhafte Maler gibt, die keinen Farbensinn haben, aber Geist; und Dichter von Ruf, denen zwar nicht das geringste einfällt, denen es aber gelingt zu jedem Hauptwort das falscheste Epitheton zu finden.«
Else merkte, daß die Redeweise Nürnbergers Georg nervös machte und wandte sich an diesen. »Ich wollte Ihnen ja etwas zeigen«, sagte sie und machte ein paar Schritte zu der Notenetagere. Georg folgte ihr.
»Hier die Sammlung alt-italienischer Volkslieder. Ich möchte, daß Sie mir die wertvollsten bezeichnen. Ich selber verstehe doch nicht genug davon.«
»Ich begreife gar nicht«, sagte Georg leise, »daß Sie Menschen wie diesen Nürnberger in Ihrer Nähe ertragen. Er verbreitet einen wahren Dunstkreis von Mißtrauen und Übelwollen um sich.«
»Das hab ich Ihnen schon öfters gesagt, Georg, ein Menschenkenner sind Sie nicht. Was wissen Sie denn überhaupt von ihm? Er ist anders, als Sie glauben. Fragen Sie nur einmal Ihren Freund Heinrich Bermann.«
»O ich weiß ja, daß der auch für ihn schwärmt«, erwiderte Georg.
»Ihr sprecht von Nürnberger?« fragte Frau Ehrenberg, die eben dazutrat.
»Der Georg kann ihn nicht leiden«, sagte Else in ihrer beiläufigen Art.
»Da tun Sie aber sehr Unrecht daran; haben Sie überhaupt je was von ihm gelesen?«
Georg schüttelte den Kopf.
»So, so«, sagte Georg ohne Überzeugung.
»Sie können sich gar nicht vorstellen«, fuhr Frau Ehrenberg fort, »mit welchem Jubel Nürnberger damals begrüßt worden ist. Man könnte sagen, alle Tore sind vor ihm aufgesprungen.«
»Vielleicht war ihm das genug«, bemerkte Else nachdenklich altklug.
Heinrich stand am Klavier im Gespräch mit Nürnberger und bemühte sich, wie er es oftmals tat, ihn zu einer neuen Arbeit oder zu einer Herausgabe älterer Schriften zu bestimmen.
Nürnberger wehrte ab. Der Gedanke, seinen Namen wieder in die Öffentlichkeit gezerrt zu sehen, im literarischen Wirbel der Zeit mitzutreiben, der ihm widerlich und albern zugleich erschien, erfüllte ihn geradezu mit Schaudern. Er hatte keine Lust, da mit zu konkurrieren. Wozu? Cliquenwirtschaft, die sich kein Mäntelchen mehr umnahm, war überall am Werke. Gab es noch ein tüchtig, ehrlich strebendes Talent, das nicht jeden Augenblick gefaßt sein mußte, in den Kot gezogen zu werden; war noch ein Flachkopf zu finden, der sich nicht ausweisen konnte, in irgend einem Blättchen als Genie erklärt worden zu sein? Hatte Ruhm in diesen Tagen noch das geringste mit Ehre zu tun? Und übersehen, vergessen werden, war das auch nur ein Achselzucken des Bedauerns wert? Und wer konnte am Ende wissen, welche Urteile sich in der Zukunft als die richtigen erweisen würden? Waren nicht die Tröpfe wirklich die Genies und die Genies die Tröpfe? Es war lächerlich, sich mit dem Einsatz seiner Ruhe ja seiner Selbstachtung in ein Spiel einzulassen, in dem auch der höchstmögliche Gewinn keine Befriedigung versprach.
»Gar keine?« fragte Heinrich. »Ich will Ihnen ja allerlei preisgeben, Ruhm, Reichtum, Wirkung in die Weite; aber daß man, weil alle diese Güter zweifelhaft sind, auch auf etwas so Unzweifelhaftes verzichten soll, wie es die Augenblicke des innern Kraftgefühls sind ...«
»Inneres Kraftgefühl! Warum sagen Sie nicht gleich Seligkeit des Schaffens? ...«
»Gibts, Nürnberger!«
»Mag sein. Ich glaube mich sogar zu erinnern, vor sehr langer
»Das glauben Sie vielleicht nur«, erwiderte Heinrich. »Wer weiß, ob es nicht gerade diese Fähigkeit des Sichselbstbetrügens ist, die Sie im Laufe der Zeit am stärksten in sich ausgebildet haben!«
Nürnberger lachte. »Wissen Sie, wie mir zu Mute ist, wenn ich Sie so reden höre? Ungefähr wie einem Fechtmeister, der von seinem eigenen Schüler einen Stich ins Herz bekommt.«
»Und nicht einmal von seinem besten«, sagte Heinrich.
Plötzlich erschien in der Türe Herr Ehrenberg, zur Verwunderung seiner Frau, die ihn schon auf dem Wege zur Bahn vermutet hatte. Er führte eine junge Dame an der Hand, die einfach schwarz gekleidet war und das Haar nach einer verflossenen Mode auffallend hoch frisiert trug. Ihre Lippen waren voll und rot, die Augen in dem lebendig blassen Gesicht blickten klar und hart.
»Kommen Sie nur«, sagte Ehrenberg mit einiger Bosheit in den kleinen Augen und führte den Gast geradewegs zu Else, die eben mit Stanzides plauderte. »Hier bring ich dir einen Besuch.«
Else streckte ihr die Hand entgegen. »Das ist aber nett.« Sie stellte vor: »Herr Demeter Stanzides. Fräulein Therese Golowski.«
Therese nickte kurz und ließ eine Weile ihren Blick auf ihm ruhen, unbefangen, als betrachtete sie ein schönes Tier.
Dann wandte sie sich an Else: »Wenn ich gewußt hätte, daß Ihr so große Gesellschaft habt ...«
»Wissen Sie, wie die ausschaut?« sagte Stanzides leise zu Georg, »wie eine russische Studentin, nicht wahr?«
Georg nickte. »Ungefähr. Ich kenn sie. Es ist eine Institutsfreundin von Fräulein Else, und jetzt, denken Sie sich, spielt sie eine führende Rolle bei den Sozialisten. Neulich ist sie sogar gesessen, wegen Majestätsbeleidigung, glaub ich.«
»Ja, mir scheint, ich hab so was gelesen«, erwiderte Demeter. »So eine Art von Geschöpf sollte man wirklich einmal näher kennen lernen. Hübsch ist sie. Ein Gesicht wie aus Elfenbein.«
»Und viel Energie liegt in den Zügen«, fügte Georg hinzu. »Ihr Bruder ist übrigens auch ein merkwürdiger Mensch. Klavierspieler und Mathematiker. Ich hab ihn neulich kennen gelernt. Und der Vater soll ein zugrund gegangener jüdischer Fellhändler sein.«
»Es ist schon eine sonderbare Rass'«, bemerkte Demeter.
»Ja leider läßt mir mein Beruf wenig Zeit, Familienverkehr zu pflegen«, erwiderte Therese und schob ihr Kinn vor, was ihr Antlitz plötzlich männlich und beinah häßlich machte.
Frau Ehrenberg schwankte, ob sie etwas von der abgelaufenen Kerkerhaft Theresens erwähnen sollte oder nicht. Immerhin war zu bedenken, daß es kaum ein anderes Haus in Wien gab, wo Damen verkehrten, die kurz zuvor eingesperrt waren.
»Wie gehts denn deinem Bruder?« fragte Else.
»Er dient heuer«, antwortete Therese. »Du kannst dir ja ungefähr denken, wie's ihm da geht ...« und sie warf einen ironischen Blick auf die Husarenuniform Demeters.
»Da kommt er wohl nicht viel zum Klavierspielen«, sagte Frau Ehrenberg.
»Ach er denkt gar nicht mehr daran, Pianist zu werden«, erwiderte Therese. »Er steckt ganz in der Politik.« Und sich lächelnd zu Demeter wendend fügte sie hinzu: »Sie werden ihn doch nicht verraten, Herr Oberleutnant.«
Stanzides lachte etwas verlegen.
»Was heißt das: Politik?« fragte Herr Ehrenberg. »Will er Minister werden?«
»In Österreich keineswegs«, erwiderte Therese. »Er ist nämlich Zionist.«
»Was!?« rief Ehrenberg aus, und sein Gesicht strahlte.
»Das ist allerdings ein Gebiet, auf dem wir uns nicht ganz verstehen«, setzte Therese hinzu.
»Liebe Therese ...«, begann Ehrenberg.
»Du wirst den Zug versäumen«, unterbrach ihn seine Frau.
»Ich werd den Zug nicht versäumen, und morgen geht auch noch einer. Liebe Therese, ich sage nur: es soll jeder nach seiner Fasson selig werden. Aber in dem Fall ist Ihr Bruder der Gescheitere und nicht Sie. Entschuldigen Sie, ich bin vielleicht ein Laie in politischen Dingen, aber ich versichere Sie, Therese, es wird euch jüdischen Sozialdemokraten geradeso ergehen, wie es den jüdischen Liberalen und Deutschnationalen ergangen ist.«
»Inwiefern?« fragte Therese hochmütig. »Inwiefern wird es uns geradeso ergehen?«
»Wir wollens abwarten«, erwiderte Therese ruhig.
Georg und Demeter blickten einander an, wie zwei Freunde, die gemeinsam auf eine Insel verschlagen worden sind. Oskar, der gerade während der Rede seines Vaters eingetreten war, hatte schmale Lippen und war sehr verlegen. Allen aber schien es eine Art Befreiung, als Ehrenberg plötzlich auf die Uhr sah und sich empfahl.
»Wir werden ja heut doch nicht mehr einig«, sagte er zu Therese.
Therese lächelte: »Kaum. Glückliche Reise und noch einmal im Namen ...«
»Pst«, sagte Ehrenberg und verschwand.
»Wofür dankst du eigentlich dem Papa?« fragte Else sie leise.
»Für eine Spende, um die ich ihn unverschämterweise bitten kam. Aber es gibt sonst keinen reichen Mann in meinem Bekanntenkreis. Über den Zweck zu reden bin ich nicht berechtigt.«
Frau Ehrenberg trat zu Bermann und Nürnberger hin, die über den Klavierdeckel hinweg mit einander sprachen, und sagte leise: »Sie wissen doch, daß sie ...«, sie wies mit den Augen auf Therese, »eben aus dem Gefängnis entlassen worden ist?«
»Ich habe davon gelesen«, erwiderte Heinrich ...
Nürnberger kniff die Augen zusammen und warf einen Blick auf die Gruppe in der Ecke, wo die drei Mädchen mit Stanzides und Willy Eißler plauderten, und schüttelte den Kopf. »Was für eine Bosheit unterdrücken Sie?« fragte Frau Ehrenberg.
»Ich denke eben, wie leicht es sich hätte fügen können, daß Fräulein Else zwei Monate im Gefängnis hätte schmachten müssen, und daß Fräulein Therese in einem eleganten Salon als Tochter des Hauses Cercle hielte.«
»Leicht fügen ...?«
»Herr Ehrenberg hat Glück gehabt, Herr Golowski Pech ... das ist vielleicht der ganze Unterschied.«
»Das denke ich auch«, bemerkte Frau Ehrenberg.
Nürnberger zuckte die Achseln. »Beide sind junge Mädchen, recht begabt, recht hübsch ... alles übrige ist wie bei den meisten jungen Damen und wohl bei den meisten Menschen, mehr oder weniger angeflogen.«
Heinrich schüttelte lebhaft den Kopf. »Nein, nein«, sagte er, »so einfach ist das Leben doch nicht.«
»Es ist darum nicht einfacher, lieber Heinrich.«
Frau Ehrenbergs Blick war auf die Tür gerichtet und leuchtete. Felician war eben eingetreten. Mit nachtwandlerischer Sicherheit ging er auf die Hausfrau zu und küßte ihr die Hand. »Ich habe eben das Vergnügen gehabt, Herrn Ehrenberg auf der Stiege zu begegnen ... Er fährt nach Corfu, wie er mir sagt. Dort muß es jetzt wunderschön sein.«
»Sie kennen Corfu?«
»Ja, gnädige Frau, eine Kindheitserinnerung.« Er begrüßte Nürnberger und Bermann, und sie redeten alle über den Süden, nach dem Bermann sich sehnte und an den Nürnberger nicht glaubte.
Georg drückte seinem Bruder zur Begrüßung und zugleich zum Abschied die Hand. Wie er,
unauffällig durch die offene Tür des Speisezimmers verschwindend, sich noch einmal
umsah, bemerkte er Marianne, die in der entferntesten Ecke des Salons saß und ihm mit
dem Lorgnon spöttisch nachblickte. Es war immer die rätselhafte Gabe dieser Frau
gewesen, plötzlich da zu sein, ohne daß man wußte, wo sie herkam. Noch auf der Stiege
trat ihm eine verschleierte Dame in den Weg. »Eilen Sie doch nicht so, sie kann schon
noch einen Moment warten«, sagte sie. »Man darf die Frauen überhaupt nicht so
verwöhnen ... Ob Sie's auch so eilig hätten, wenn Sie zu einem Rendezvous mit mir
gingen ...? Aber davon wollen ja Sie nichts wissen. Wahrscheinlich, weil Sie Angst
haben, daß Sie mein Mann niederschießt, wenn er aus Stockholm zurückkommt, das heißt,
heute ist er wohl schon in Kopenhagen. Aber er setzt vollkommenes Vertrauen in mich.
Mit Recht übrigens. Denn ich kann Ihnen schwören, weiter als bis zu einem Kuß auf die
Hand ... nein, um nicht zu lügen, auf diesen Hals, hat es noch niemand gebracht. Sie
glauben gewiß
Es war nicht abzusehen, wann die verschleierte Dame zu reden aufhören würde, denn es war Frau Oberberger. Bei andern Frauen hätte das gleiche Benehmen ein gewisses Entgegenkommen bedeutet, nicht so bei ihr, der man, so zweifelhaft ihre ganze Art erscheinen mochte, noch nie einen Liebhaber hatte nachsagen können. Sie lebte in einer sonderbaren, aber anscheinend glücklichen, kinderlosen Ehe. Ihr schöner und glänzender Gemahl, Geologe von Beruf, hatte in früherer Zeit Entdeckungsreisen unternommen, wobei er, wie Hofrat Wilt behauptete, nicht so sehr auf die Unerforschtheit der betreffenden Landstriche als auf gute Fahrgelegenheiten und einwandfreie Küche Wert gelegt haben sollte. Seit einigen Jahren aber begab er sich nur mehr auf Reisen, um Vorträge zu halten und Frauen zu erobern. Wenn er wieder daheim war, lebte er mit seiner Gattin in bester Kameradschaft. Schon manchmal, aber immer flüchtig, hatte Georg die Möglichkeit eines Verhältnisses mit Frau Oberberger erwogen. Er war sogar einer von jenen, die ihren Hals geküßt hatten, woran sie sich wahrscheinlich selbst nicht mehr erinnerte. Und als sie jetzt den Schleier zurückschlug, ließ Georg wieder einmal den Reiz dieses nicht mehr ganz jugendlichen, aber anmutig-bewegten Gesichts mit Vergnügen auf sich wirken. Er wollte ihr ins Wort fallen, sie aber sprach weiter: »Wissen Sie, daß Sie sehr blaß sind? Sie müssen ein nettes Leben führen. Was ist das übrigens für ein Weib, durch das Sie mir diesmal entrissen werden?«
Hofrat Wilt, unhörbar wie meistens, stand plötzlich neben ihnen. Beiläufig, überlegen und galant warf er hin: »Küß die Hand schöne Frau, grüß Sie Gott Baron ...« und wollte weiter.
Frau Oberberger aber fand es angemessen, ihm vorerst noch mitzuteilen, daß Baron Georg sich soeben zu einer Orgie begebe, wie das so seine Art sei, dann folgte sie dem Hofrat in den zweiten Stock, auf die Gefahr hin, wie sie bemerkte, daß man ihn, wenn er zugleich mit ihr bei Ehrenbergs erschiene, für ihren fünfundneunzigsten Liebhaber halten würde.
Es war sieben Uhr, als Georg sich endlich in einen Wagen setzen konnte, um nach
Mariahilf zu fahren. Er fühlte sich von den zwei Stunden bei Ehrenbergs geradezu
abgespannt, und mehr noch als sonst freute er sich auf das Zusammensein mit Anna, das
Der Wagen hielt an einer Straßenecke. Georg stieg aus, zündete sich eine Zigarette an und ging auf und ab, dem Hause gegenüber, aus dem Anna kommen mußte.
Nach wenigen Minuten schon trat sie aus dem Tor. Er eilte über die Straße ihr entgegen, und beglückt küßte er ihr die Hand. Wie gewöhnlich, weil sie auf ihren Fahrten meist zu lesen pflegte, hatte sie ein Buch mit sich, in einem Einband von gepreßtem Leder.
»Es ist ja kühl, Anna«, sagte Georg, nahm ihr das Buch aus der Hand und half ihr in die Jacke, die sie über dem Arm getragen hatte.
»Ich habe mich nämlich ein bißchen verspätet«, sagte sie »und war sehr ungeduldig, dich zu sehen. Ja«, setzte sie lächelnd hinzu, »man hat auch seine Temperamentsausbrüche. Was sagst du denn zu meinem neuen Kostüm«, fragte sie, indem sie weiterspazierten.
»Steht dir sehr gut.«
»In meiner Lektion hat man gefunden, ich sähe aus wie eine Hofdame.«
»Wer hat das gefunden?«
»Frau Bittner selbst, und ihre beiden Töchter, die ich unterrichte.«
»Ich würde lieber sagen: wie eine Erzherzogin.«
Anna nickte befriedigt.
»Also jetzt erzähl mir Anna, was du seit gestern alles erlebt hast.«
»Bruder?« fragte Georg.
Sie antwortete mit einem »ja«, das weitere Fragen abschnitt. »Nach dem Nachtmahl ein bißchen musiziert ... sogar zu singen versucht.«
»Warst du zufrieden?«
»Für mich reicht es ja immer aus«, sagte sie, und Georg glaubte eine leichte Traurigkeit im Klang ihrer Worte zu vernehmen.
Rasch berichtete sie weiter: »Um halb elf im Bett gelegen, gut geschlafen, um acht Uhr früh auf ... man kann ja bei uns nicht länger liegen ... Toilette gemacht bis halb zehn, bis elf im Haus herum ...«
»... getrenderlt«, ergänzte Georg.
»Richtig. Dann zu Weils, den Buben unterrichtet.«
»Wie alt ist der eigentlich?« fragte Georg.
»Dreizehn«, erwiderte Anna mit einem komisch-bedenklichen Gesicht.
»Na das ist wirklich nicht so jung.«
»Gewiß nicht«, sagte Anna. »Aber erfahre zu deiner Beruhigung, daß er seine Tante Adele liebt, eine zarte Blondine von dreiunddreißig Jahren und vorläufig nicht daran denkt, ihr die Treue zu brechen ... Also Fortsetzung der Chronik. Um halb zwei zu Hause angelangt, allein gegessen Gott sei Dank, Papa schon im Bureau, Mama in schlafendem Zustand. Von drei bis vier wieder geruht, noch mehr und noch bedeutender an dich gedacht, als gestern, dann Besorgungen in der Stadt, Handschuhe, Sicherheitsnadeln und etwas für Mama, und endlich mit der Tramway lesend nach Mariahilf herausgefahren zu den zwei Bittner Fratzen ... So nun weißt du alles. Zufriedenstellend?«
»Abgesehen von dem dreizehnjährigen Jüngling.«
»Also ich gebe ja zu, daß das beunruhigend sein mag, aber jetzt wollen wir einmal hören, ob du mir nicht düsterere Geständnisse zu machen hast.«
Sie waren in einer schmalen, stillen Gasse, die Georg ganz fremd vorkam, und Anna nahm seinen Arm.
»Ich komme eben von Ehrenbergs«, begann er.
»Das kann ich eben nicht sagen. Man schien sogar ein wenig froissiert, daß ich diesen Sommer gar nicht im Auhof war«, setzte er hinzu.
»Hat Klein-Elschen sich produziert?« fragte Anna weiter.
»Nein. Was sich nach meinem Fortgehen ereignet haben mag, das weiß ich natürlich nicht.«
»Jetzt wirds ja wohl nicht mehr der Mühe wert sein«, sagte Anna mit überquellendem Spott.
»Du irrst dich, Anna. Es sind Leute oben, für die zu singen es sich sehr verlohnte.«
»Wer denn?«
»Heinrich Bermann, Willy Eißler, Demeter Stanzides ...«
»O, Stanzides!« rief Anna aus. »Jetzt tut es mir eigentlich leid, daß ich nicht auch oben war.«
»Mir scheint«, sagte Georg, »das ist nicht so spaßhaft gemeint als gesagt.«
»Gewiß nicht«, erwiderte Anna. »Ich finde diesen Demeter zum Totschießen schön.«
Georg schwieg ein paar Sekunden und plötzlich, erregter als es sonst seine Art war, fragte er: »Ist es am Ende er? ...«
»Was für ein Er?«
»Der, den du ... mehr geliebt hast als mich!«
Sie lächelte, drängte sich fester an ihn und erwiderte einfach, aber doch ein bißchen spöttisch: »Sollt ich wirklich jemanden lieber gehabt haben als dich?«
»Du hast es mir ja selber gestanden«, erwiderte Georg.
»Ich hab dir aber auch ›gestanden‹, daß ich mit der Zeit dich mehr lieben werde, als ich je einen andern geliebt habe, oder lieben könnte.«
»Weißt du das ganz bestimmt, Anna?«
»Ja, Georg, das weiß ich ganz bestimmt.«
Sie waren wieder in einer belebteren Straße, und unwillkürlich lösten sie die Arme. Sie blieben vor verschiedenen Auslagen stehen, entdeckten unter einem Haustor den Glaskasten eines Photographen und waren sehr belustigt von der mühselig-ungezwungenen Haltung, in der hier Jubelpaare, Kadettoffiziersstellvertreter, Köchinnen im Sonntagsstaat und für den Maskenball kostümierte Damen aufgenommen waren.
Georg, in leichterm Tone, fragte wieder: »Also war es Stanzides?«
Sie spazierten weiter.
»Also doch Leo Golowski?« fragte Georg.
Sie schüttelte den Kopf und lächelte. »Das war die Jugendliebe«, erwiderte sie, »das gilt überhaupt nicht. Übrigens möcht ich das 16jährige Mädel kennen, das sich auf dem Land nicht in einen schönen Jüngling verliebt hätte, der sich mit einem veritabeln Grafen schlägt und dann acht Tage mit dem Arm in der Schlinge herumspaziert.«
»Aber er hat es doch nicht deinetwegen getan, sondern sozusagen für die Ehre seiner Schwester.«
»Für Theresens Ehre? Wie kommst du auf die Idee?«
»Du hast mir doch erzählt, daß der junge Mensch Therese im Walde angesprochen hatte, während sie die ›Emilia Galotti‹ studierte.«
»Ja das ist schon wahr. Übrigens hat sie sich ganz gern ansprechen lassen. Dem Leo war es aber nur deswegen zuwider, weil der junge Graf zu einer Gesellschaft von jungen Leuten gehört hat, die sich wirklich ziemlich frech und halt ein bissel antisemitisch benommen haben. Und wie Therese einmal mit ihrem Bruder am See spazieren geht und der Graf kommt daher und redet Therese an wie eine gute Bekannte und murmelt nur so beiläufig für Leo seinen Namen, da hat Leo ein Buckerl gemacht und sich ihm mit den Worten vorgestellt: ›Leo Golowski, Jüd aus Krakau.‹ Was es weiter gegeben hat, weiß ich nicht genau. Es ist zu einem Wortwechsel gekommen, und am nächsten Tag war dann das Duell in Klagenfurt in der Kavalleriekaserne.«
»Da hab ich doch recht«, beharrte Georg spöttisch, »für die Ehre seiner Schwester hat er sich geschlagen.«
»Nein, sag ich dir. Ich bin ja dabei gewesen, wie er später einmal mit Therese über die Geschichte gesprochen und ihr gesagt hat: ›Von mir aus kannst du tun, was dir Spaß macht, kannst dir den Hof machen lassen, von wem du willst‹ ...«
»Nur ein Jud muß es halt sein ...«, ergänzte Georg.
Anna schüttelte den Kopf. »So ist er wirklich nicht.«
»Ich weiß«, erwiderte Georg mild. »Wir sind ja sehr gute Freunde geworden in der
letzten Zeit, dein Leo und ich. Gestern Abend erst sind wir wieder im Kaffeehaus
zusammen gewesen, und er war wirklich sehr herablassend zu mir. Ich glaube, mir
verzeiht er sogar meine Abstammung. Im übrigen hab ich dir
Anna lächelte vergnügt dazu.
Später, während sie wieder in einer stilleren Straße Arm in Arm spazierten, begann Georg von neuem: »Jetzt weiß ich aber noch immer nicht, wer die große Liebe gewesen ist.«
Anna schwieg und sah vor sich hin.
»Nun, Anna! Du hast mir ja versprochen, nicht wahr?«
Ohne ihn anzusehen, erwiderte sie: »Wenn du nur ahntest, wie sonderbar mir heute die Geschichte vorkommt.«
»Warum sonderbar?«
»Weil der, nach dem du fragst, eigentlich ein alter Mann gewesen ist.«
»Fünfunddreißig«, scherzte Georg, »nicht wahr?«
Sie schüttelte ernsthaft den Kopf. »Er war achtundfünfzig oder sechzig.«
»Und du?« fragte Georg langsam.
»Im Sommer waren es zwei Jahre. Einundzwanzig war ich damals.«
Georg blieb plötzlich stehen. »Nun weiß ich es, dein Gesangslehrer war es. Nicht wahr?«
Anna antwortete nicht.
»Also wirklich«, sagte Georg, ohne sich eigentlich zu wundern, denn es war ihm nicht unbekannt, daß sich in den berühmten Meister, trotz seiner grauen Haare, alle Schülerinnen verliebten.
»Und den«, fragte Georg, »hast du am meisten geliebt von allen Menschen, die dir begegnet sind?«
»Seltsam, nicht wahr? Aber es ist doch so ...«
»Hat er es gewußt?«
»Ich glaub schon.«
Sie waren auf einen ausgeweiteten Platz gekommen mit einer kleinen Gartenanlage, die nur spärlich beleuchtet war. Hinten erhob sich rötlich schimmernd eine Kirche. Dorthin, als zög es sie an einen stillern Ort, wandelten sie unter dunkeln, leise schwankenden Ästen.
»Und was ist denn eigentlich zwischen euch vorgefallen, wenn man fragen darf?«
Anna schwieg, und Georg hielt in diesem Augenblick alles für möglich. Selbst, daß
Anna die Geliebte jenes Menschen gewesen
»Ich will dir die ganze Geschichte erzählen«, sagte Anna endlich. »Sie ist wirklich nicht so schrecklich.«
»Also?« fragte Georg, seltsam gespannt.
»Einmal nach der Stunde«, begann Anna zögernd, »hat er mir galant in die Jacke hineingeholfen. Und plötzlich hat er mich an sich gezogen und mich umarmt und geküßt.«
»Und du ...?«
»Ich ... ich war ganz berauscht.«
»Berauscht ...«
»Ja, es war etwas Unbeschreibliches. Er hat mich auf die Stirn geküßt und auf den Mund und aufs Haar ... und dann hat er meine Hand genommen und hat allerlei Worte gemurmelt, die ich gar nicht recht gehört hab ...«
»Und ...«
»Und dann ... dann waren Stimmen daneben ... er hat meine Hand losgelassen ... und es war aus.«
»Aus?«
»Ja, aus. Selbstverständlich war es aus.«
»Gar so selbstverständlich find ich das eigentlich nicht. Du hast ihn doch wiedergesehen.«
»Freilich, ich hab ja weiter bei ihm gelernt.«
»Und ...?«
»Ich sag dir doch, es war aus ... vollkommen, als wär überhaupt nie was gewesen.«
Georg wunderte sich, daß er sich beruhigt fühlte. »Und er hat nie wieder den Versuch gemacht?« fragte er.
»Nie wieder. Es wäre auch lächerlich gewesen. Und da er sehr klug war, hat er das selbst ganz gut gewußt. Vorher, es ist ja wahr, hatt ich ihn sehr geliebt. Aber nach diesem Vorfall war er nichts andres mehr für mich, als mein alter Lehrer. Gewissermaßen sogar älter, als er in Wirklichkeit war. Ich weiß nicht, ob du das so ganz verstehen kannst. Es war, als ob er den ganzen Rest seiner Jugend verschwendet hätte in jenem Augenblick.«
»Ich verstehe es ganz gut«, sagte Georg. Er glaubte ihr und liebte sie mehr als
früher. Sie traten in die Kirche. Es war fast dunkel in dem weiten Raum. Nur vor
einem Seitenaltar brannten
Sie sah ihn an, wie beglückt und doch wie fragend; und er erschrak über seine eigenen Worte. Wenn Anna sie als ernsthafte Aufforderung oder gar als eine Art von Werbung aufgefaßt hätte? War er nicht verpflichtet sie aufzuklären, daß sie nicht so gemeint waren? ... Ein Gespräch fiel ihm ein, von neulich, als sie an einem windig-regnerischen Tag unter dem Schirm eingehängt über die Linie hinaus gegen Schönbrunn spaziert waren. Er hatte ihr den Vorschlag gemacht, mit ihm in die Stadt zu fahren und in irgend einem abgeschiedenen Gasthauszimmer mit ihm zu nachtmahlen; sie mit jener Frostigkeit, in der ihr ganzes Wesen manchmal erstarrte, hatte darauf erwidert: »für solche Sachen bin ich nicht.« Er hatte nicht weiter in sie gedrungen. Doch eine Viertelstunde später, allerdings im Lauf einer Unterhaltung über Georgs Lebensführung, aber vieldeutig lächelnd hatte sie die Worte zu ihm gesprochen: »Du hast keine Initiative, Georg.« Und in diesem Augenblick war ihm plötzlich gewesen, als täten sich Untiefen ihrer Seele auf, niemals vermutete und gefährliche, vor denen es gut war, sich in acht zu nehmen. Daran mußte er jetzt wieder denken. Was mochte in ihr denn vorgehen? ... Was wünschte sie und worauf war sie gefaßt? ... Und was wünschte, was ahnte er selbst? Das Leben war ja so unberechenbar. War es nicht sehr gut möglich, daß er wirklich einmal mir ihr draußen in der Welt herumreisen, eine Zeit des Glücks mit ihr durchleben ... und endlich von ihr scheiden würde, wie er von mancher andern geschieden war? Doch wenn er an das Ende dachte, das jedenfalls kommen mußte, ob es nun der Tod bringen mochte oder das Leben selbst, so fühlte er es wie ein gelindes Weh im Herzen ... Noch immer schwieg sie. Fand sie wieder, daß es ihm an Initiative fehlte? ... Oder dachte sie vielleicht: Es wird mir ja doch gelingen, ich werde seine Frau sein ...?
»Was denn?« fragte er.
»Wenn ich fromm wäre«, erwiderte sie, »möcht ich jetzt um was beten.«
»Um was?« fragte Georg beinahe ängstlich.
»Daß was aus dir wird, Georg. Was sehr Bedeutendes! Ein wirklicher, ein großer Künstler.«
Unwillkürlich blickte er zu Boden, wie in Beschämung, daß ihre Gedanken um soviel reinere Wege gegangen waren als die seinen.
Ein Bettler hielt den dicken, grünen Vorhang offen, Georg gab dem Mann ein Geldstück; sie waren im Freien. Straßenlichter glänzten auf, Geräusche von Wagen und Rolläden waren nah, Georg fühlte, wie ein feiner Schleier zerriß, den der Kirchendämmer um ihn und sie gewoben hatte, und in befreitem Ton schlug er eine kleine Spazierfahrt vor. Anna war gern einverstanden. In einem offenen Fiaker, dessen Dach sie über sich aufspannen ließen, fuhren sie die Straße hinab, ließen sich um den Ring führen, ohne viel von Gebäuden und Gärten zu sehen, sprachen kein Wort und schmiegten sich enger aneinander. Sie fühlten jeder die eigne und des andern Ungeduld und wußten, daß es kein Zurück mehr gab.
In der Nähe von Annas Wohnung sagte Georg: »Wie schade, daß du schon nach Hause mußt.«
Sie zuckte die Achseln und lächelte sonderbar. Die Untiefen, dachte Georg wieder, aber ohne Angst, heiter beinahe. Eh der Wagen an der Ecke hielt, verabredeten sie ein Rendezvous für den nächsten Vormittag, im Schwarzenberggarten, dann stiegen sie aus. Anna eilte nach Hause, und Georg bummelte langsam gegen die Stadt zu.
Er überlegte, ob er ins Kaffeehaus gehen sollte. Er hatte keine rechte Lust dazu.
Bermann blieb heute wohl bei Ehrenbergs zum Souper, auf Leo Golowskis Kommen war nur
selten zu rechnen; und die andern jungen Leute, meist jüdische Literaten, die Georg
in der letzten Zeit flüchtig kennen gelernt hatte, lockten ihn nicht eben an, wenn er
auch manche von ihnen nicht uninteressant gefunden hatte. Im ganzen fand er den Ton
der jungen Leute untereinander bald zu intim, bald zu fremd, bald zu witzelnd, bald
zu pathetisch; keiner schien sich dem andern, kaum einer
Vom Turm der Michaelerkirche schlug es neun, als Georg vor dem Kaffeehaus stand. An
einem Fenster, das der Vorhang nicht verhüllte, sah er den Kritiker Rapp sitzen,
einen Stoß von Zeitungen vor sich auf dem Tisch. Eben hatte er den Zwicker von der
Nase genommen, putzte ihn, und so sah das blasse, sonst so hämisch-kluge Gesicht, mir
den stumpfen Augen wie tot aus. Ihm gegenüber, mit ins Leere gehenden Gesten, saß der
Dichter Gleißner, im Glanze seiner falschen Eleganz, mir einer ungeheuern, schwarzen
Krawatte, darin ein roter Stein funkelte. Als Georg, ohne ihre Stimmen zu hören, nur
die Lippen der beiden sich bewegen und ihre Blicke hin- und hergehen sah, faßte er es
kaum, wie sie es ertragen konnten in dieser Wolke von Haß sich eine Viertelstunde
lang gegenüber zu sitzen. Er fühlte mit einemmal, daß dies die Atmosphäre war, in der
das Leben dieses ganzen
Zur gleichen Stunde lag Anna in ihrem dunkeln Zimmer, ohne zu schlafen, die weit offenen Augen zur Decke gerichtet; zum erstenmal in ihrem Leben mit dem untrüglichen Gefühl, daß es einen Menschen auf der Welt gab, der aus ihr machen konnte, was ihm beliebte; mit dem festen Entschluß, alle Seligkeit und alles Leid hinzunehmen, das ihr bevorstehen mochte; und mit einer leisen Hoffnung, schöner, als alle, die ihr je erschienen waren, auf ein beständiges und ruhevolles Glück.
Georg und Heinrich saßen von ihren Rädern ab. Die letzten Villen lagen hinter ihnen,
und die breite Straße, allmählich ansteigend, führte in den Wald. Das Laub hing noch
ziemlich dicht an den Bäumen, aber jeder leise Windhauch nahm Blätter mit und ließ
sie langsam herabsinken. Herbstglanz lag über den gelbrötlichen Hügeln. Die Straße
stieg höher an, an einem stattlichen Wirtshausgarten vorbei, zu dem steinerne Stufen
hinaufführten. Nur wenige Leute saßen im Freien, die meisten in der Glasveranda, als
trauten sie nicht ganz der Wärme dieses schmeichlerischen Spätoktobertags, durch den
doch immer wieder eine gefährliche Kühle geweht kam. Georg dachte mit ödem Erinnern
des Winterabends, an dem er und Frau Marianne als einzige Gäste hier eingekehrt
waren. Gelangweilt war er an ihrer Seite
Eine mattgezogene Berglinie erschien in der Ferne und verschwand wieder, als die
Straße durch dichtern Waldstand in die Höhe führte. Laub- und Nadelholz wuchsen
friedlich nebeneinander, und durch die stillere Farbe der Tannen schimmerte das
herbstlich gefärbte Blätterwerk von Buchen und Birken. Wanderer zeigten sich, einige
mit Rucksack, Bergstock und Nagelschuhen
Heinrich erzählte seinem Gefährten von einer Radfahrt, die er anfangs September unternommen hatte, den Rhein entlang.
»Ist es nicht sonderbar«, sagte Georg, »so viel bin ich schon in der Welt herumgekommen, und die Gegend, wo meine Ahnen zu Hause waren, kenn ich noch gar nicht.«
»Wirklich?« fragte Heinrich. »Und es regt sich gar nicht in Ihnen, wenn Sie das Wort Rhein aussprechen hören?«
Georg lächelte. »Es sind immerhin bald hundert Jahre, daß meine Urgroßeltern aus Biebrich fortgezogen sind.«
»Warum lächeln Sie, Georg? Daß meine Ahnen aus Palästina fortgewandert sind, ist noch viel länger her, und doch fordern manche, sonst ganz logische Leute, daß mein Herz in Heimweh nach diesem Lande bebe.«
Georg schüttelte ärgerlich den Kopf. »Was kümmern Sie sich immerfort um diese Leute. Es wird wirklich schon zur fixen Idee bei Ihnen.«
»Ach Sie glauben, ich denke an die Antisemiten? Durchaus nicht. Denen nehm ichs auch weiter nicht übel, manchmal wenigstens. Aber fragen Sie nur einmal unsern Freund Leo, wie er über diese Angelegenheit denkt.«
»Ach so, den meinen Sie. Na, der faßt doch das nicht so wörtlich auf, sondern gewissermaßen symbolisch oder politisch«, setzte er unsicher hinzu.
Heinrich nickte. »Diese beiden Begriffe liegen vielleicht hart nebeneinander in
Köpfen solcher Art.« Er versank für eine Weile in Nachdenken, schob sein Rad in
leichten, ungeduldigen Stößen vorwärts und war gleich wieder um ein paar Schritte
voraus. Dann begann er wieder von seiner Septemberreise zu sprechen. Beinahe mit
Ergriffenheit dachte er an sie zu rück. Alleinsein, Fremde, Bewegung, war es nicht
ein dreifaches Glück, das er genossen? »Was für ein Gefühl von innerer Freiheit mich
damals durchfloß«, sagte er, »kann ich Ihnen kaum beschreiben. Kennen Sie diese
Stimmungen, in denen alle Erinnerungen, ferne und nahe, sozusagen ihre Lebensschwere
verlieren; alle Menschen, mit denen man sonst irgendwie verbunden ist, durch
Schmerzen, Sorgen, Zärtlichkeit, einen nur mehr wie Schatten umschweben, oder
richtiger gesagt, wie Gestalten, die man selbst erfunden hat? Und die erfundenen
Gestalten, die stellen sich natürlich auch ein und sind mindestens geradso lebendig
wie die Menschen, an die
Georg empfand stets eine gewisse Verlegenheit, wenn Heinrich pathetisch wurde. »Jetzt könnte man vielleicht wieder fahren«, sagte er, und sie schwangen sich auf die Räder. Ein schmaler, ziemlich holpriger Seitenweg zwischen Wiese und Wald führte sie bald zu einem unerbaulich kahlen, zweistöckigen Haus, das sich durch ein mürrisch braunes Schild als Wirtshaus zu erkennen gab. Auf der Wiese, die durch die Straße vom Haus geschieden war, stand eine große Menge von Tischen, manche mit einstmals weiß gewesenen, andre mit geblümten Tüchern bedeckt. Hart an der Straße, an einigen zusammengerückten Tischen, saßen zehn oder zwölf junge Leute, Mitglieder eines Radfahrklubs. Mehrere hatten ihre Röcke abgelegt, andre trugen sie flott übergehängt; auf den himmelblauen, gelb eingefaßten Sweaters prangten Embleme in erhabener roter und grüner Stickerei. Mächtig, aber nicht sehr rein tönte ein Chorlied zum Himmel auf: »Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte.«
Heinrich überflog die Gesellschaft mit einem raschen Blick, kniff die Augen zusammen und sagte zu Georg, mit zusammengepreßten Zähnen und heftig betont: »Ich weiß nicht, ob diese Jünglinge bieder, treu und mutig sind, wofür sie sich jedenfalls halten; daß sie aber nach Wolle und Schweiß duften, ist gewiß, und daher wäre ich dafür, daß wir in angemessener Entfernung von ihnen Platz nehmen.«
Was will er eigentlich, dachte Georg bei sich. Wäre es ihm sympathischer, wenn hier eine Gesellschaft von polnischen Juden säße und Psalmen sänge?
»Ist es nicht jämmerlich«, sagte Heinrich, »daß in der nächsten Umgebung von Wien beinahe überall so verwahrloste Wirtshäuser stehen? Es macht einen geradezu trübsinnig.«
Georg fand diese übertriebene Wehmut nicht angebracht. »Ach Gott, auf dem Land«, meinte er, »man nimmt es eben mit. Es gehört fast dazu.«
Heinrich ließ diese Auffassung nicht gelten, begann den Plan zur Gründung von sieben Hotels an den Wienerwaldgrenzen zu entwickeln und berechnete eben, daß man dazu höchstens drei bis vier Millionen benötige, als plötzlich Leo Golowski dastand. Er war im Zivilanzug, der, wie oft bei ihm, eines etwas bizarren Elements nicht entbehrte. Heute trug er zu einem hellgrauen Sacco eine blaue Samtweste und eine gelbliche Seidenkrawatte in glattem Stahlring. Die beiden andern begrüßten ihn erfreut und äußerten einige Überraschung.
Leo setzte sich zu ihnen: »Ich habe ja gehört«, sagte er, »wie Sie gestern Abend Ihre
Partie verabredet haben, und als wir heute schon um neun aus der Kaserne entlassen
wurden, dacht ich mir gleich, es wäre doch hübsch mit zwei klugen, sympathischen
Menschen eine Stunde im Freien zu verplauschen. So bin ich nach Haus, hab mich in
Zivil geworfen und auf den Weg gemacht.« Er sagte das in seinem gewöhnlichen,
liebenswürdigen, fast naiv klingenden Ton, der Georg immer wieder gefangen nahm, aber
in der Erinnerung für ihn einen Beiklang von Ironie, ja von Falschheit zu bekommen
pflegte. Doch schien dieser gleichsam schillernde Klang Leos Worten nur in
gleichgültiger Unterhaltung eigen; ernste Gespräche wußte er mit einer Bestimmtheit
zu führen, die Georg geradezu imponierte. In der letzten Zeit hatte er einigemale
Gelegenheit gehabt, im Kaffeehaus Diskussionen zwischen Leo und Heinrich über
kunsttheoretische Fragen, insbesondere über die Beziehungen zwischen den Gesetzen der
Musik und der Mathematik anzuhören. Leo glaubte der Ursache auf der Spur zu sein, aus
der Dur- und Molltonarten die menschliche Seele in so verschiedener Weise berührten.
Gerne folgte Georg seinen klaren und scharfsinnigen Auseinandersetzungen, wenn sich
auch etwas in ihm gegen den verwegenen
Das Essen wurde aufgetragen, und die jungen Leute ließen sichs schmecken; Heinrich nicht weniger als die andern, trotzdem er sich über die Minderwertigkeit der Küche höchst mißbilligend äußerte und das Vorgehen des Wirts nicht nur als Ausdruck persönlich niedriger Gesinnung, sondern als charakteristisch für den Niedergang Österreichs auf vielen andern Gebieten aufzufassen geneigt war. Das Gespräch kam auf die militärischen Zustände des Landes, und Leo gab Schilderungen von Kameraden und Vorgesetzten zum besten, über die die beiden andern sich sehr amüsierten. Insbesondere ein Oberleutnant gab zur Heiterkeit Anlaß, der sich der Freiwilligenabteilung mit den gefahrverkündenden Worten vorgestellt hatte: »Mit mir wern S' nix zu lachen haben, ich bin eine Bestie in Menschengestalt.«
Während sie noch aßen, trat ein Herr an den Tisch, schlug die Hacken aneinander, legte die Hand salutierend an die Radfahrkappe, grüßte mit einem scherzhaften »all Heil«, fügte für Leo noch ein kameradschaftliches »servus« hinzu und stellte sich Heinrich vor: »Josef Rosner ist mein Name«. Hierauf begann er jovial die Unterhaltung mit den Worten: »Die Herren machen auch eine Radpartie ...« Da man nicht widersprach, fuhr er fort: »Die letzten schönen Tage muß man benützen, lange wird ja die Herrlichkeit nicht mehr dauern.«
»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Rosner?« fragte Georg höflich.
»Küß die Hand, aber ...«, er wies auf seine Gesellschaft ... »wir sind soeben im Aufbruch begriffen, haben noch viel vor, fahren bis Tulln hinunter und dann über Stockerau nach Wien. Die Herren erlauben ...« er nahm ein Zündhölzchen vom Tisch und brannte seine Zigarette vornehm an.
»Bei was für einem Klub bist du denn eigentlich?« fragte Leo, und Georg wunderte sich über das »du«, bis ihm einfiel, daß die beiden Jugendbekannte waren.
»Jalaudek ...«, wiederholte Heinrich mit deutlichem Ekel in der Stimme und sagte nichts weiter.
»Ah«, meinte Leo, »das ist ja der, der neulich in einer Debatte über den Volksbildungsverein diese prachtvolle Definition von Wissenschaft gegeben hat. Haben Sie nicht gelesen?« wandte er sich zu den andern.
Diese erinnerten sich nicht.
»Wissenschaft«, zitierte Leo, »Wissenschaft ist das, was ein Jud vom andern abschreibt.«
Alle lachten. Auch Josef, der aber sofort erläuterte: »Eigentlich ist er gar nicht so, ich kenn ihn ja. Nur im politischen Leben ist er so grob ... weil also nämlich da die Gegensätze aufeinanderplatzen in unserm lieben Österreich. Aber für gewöhnlich ist er ein sehr umgänglicher Herr. Da ist der Junge viel radikaler.«
»Ist euer Klub christlich-sozial oder deutsch-national?« fragte Leo verbindlich.
»O, da wird bei uns kein Unterschied gemacht, nur natürlich, wie das schon so ist ...«, er unterbrach sich plötzlich verlegen.
»Nun ja«, ermutigte ihn Leo, »daß euer Klub judenrein ist, das ist doch selbstverständlich. Man merkt's auch schon von weitem.«
Josef hielt es für das richtigste zu lachen. Dann sagte er: »O bitte sehr, auf den Bergen schweigt die Politik; überhaupt die Herren machen sich da falsche Begriffe, wenn wir schon über dieses Thema reden. Wir haben zum Beispiel einen im Klub, der ist mit einer Israelitin verlobt. Aber sie winken mir schon. Habe die Ehre, meine Herrschaften, servus Leo, all Heil.« Er salutierte wieder und entfernte sich wiegenden Schrittes. Die andern, unwillkürlich lächelnd, blickten ihm nach.
Dann fragte Leo plötzlich zu Georg gewandt: »Wie geht's denn eigentlich seiner Schwester mit dem Singen?«
»Wie?« sagte Georg aufgeschreckt und leicht errötend.
»Therese erzählt mir«, fuhr Leo ruhig fort, »daß Sie zuweilen mit Anna musizieren. Ist denn die Stimme jetzt in Ordnung?«
»Nicht ausreicht«, wiederholte Leo nachdenklich, »das ist auch so ein Wort.«
»Wie würden Sie es denn bezeichnen?«
Leo zuckte die Achseln und blickte Georg ruhig an. »Sehen Sie«, sagte er, »ich habe die Stimme auch immer sehr sympathisch gefunden, aber selbst zur Zeit, als Anna die Idee hatte zur Bühne zu gehen ... ehrlich gestanden, ich habe nie geglaubt, daß aus der Sache was wird.«
»Sie haben eben wahrscheinlich gewußt«, entgegnete Georg absichtlich leicht, »daß Fräulein Anna an dieser eigentümlichen Schwäche der Stimmbänder leidet.«
»Ja freilich wußt ich das; aber wäre sie zu einer künstlerischen Laufbahn bestimmt gewesen, innerlich bestimmt meine ich, so hätte sie diese Schwäche eben überwunden.«
»Sie glauben?«
»Ja, das glaub ich, das glaub ich ganz entschieden. Darum find ich, daß solche Worte wie ›eigentümliche Schwäche‹, oder ›die Stimme reicht nicht aus‹ gewissermaßen Umschreibungen für etwas Tieferes, Seelisches bedeuten. Es liegt offenbar nicht in der Linie ihres Schicksals, eine Künstlerin zu werden, das ist es. Sie war sozusagen von Anbeginn dazu bestimmt, im Bürgerlichen zu enden.«
Heinrich war mit der Theorie von der Schicksalslinie höchst einverstanden und führte den Gedanken in seiner krausen Art weiter und immer weiter, vom Geistreichen übers Verdrehte ins Unsinnige. Dann machte er den Vorschlag, man sollte sich für eine halbe Stunde auf die Wiese hin in die Sonne legen, die in diesem Jahr wohl nicht mehr oft so warm herunterscheinen werde. Die andern stimmten zu.
Hundert Schritt weit vom Wirtshaus streckten sich Georg und Leo auf ihre Mäntel aus. Heinrich setzte sich ins Gras, verschränkte die Arme über den Knien und sah vor sich hin. Zu seinen Füßen senkte sich die Wiese zum Walde hinab. Tiefer unten, in lockeres Laub vergraben, ruhten die Landhäuser von Neuwaldegg. Aus bläulich-grauen Nebeln hervor schimmerten die Turmkreuze und sonngeblendeten Fenster der Stadt, und ganz fern, als trüge bewegter Dunst sie empor, schwebte und verdämmerte die Ebene.
Heinrich fühlte anfangs gegen seinen Willen, wie manchmal solch wohlfeiler, aber unvermuteter Freundlichkeit gegenüber, gleichsam sein Herz aufgehen. Sofort aber besann er sich, denn er wußte ja, auch dieser junge Mann war nur von der Milde des Tags, dem Frieden der Landschaft wie berauscht; in der Tiefe der Seele war auch der ihm feindselig gesinnt, gleich all den andern, die so harmlos an ihm vorbeispazierten. Und er verstand es wieder einmal selbst nicht recht, warum der Anblick dieser sanft-bewegten Hügel, dieser verdämmernden Stadt ihn so schmerzlich süß ergriff, da ihm doch die Menschen, die hier zu Hause waren, so wenig und selten etwas Gutes bedeuteten.
Der Radfahrklub sauste über die nahe Straße, die umgehängten Röcke wehten, die Embleme leuchteten, und ein rohes Lachen schallte über die Wiese.
»Gräßliches Volk«, meinte Leo beiläufig, ohne den Platz zu verändern.
Heinrich wies mit einer unbestimmten Kopfbewegung nach unten. »Und solche Kerle«, sagte er mit zugepreßten Zähnen, »bilden sich dann noch ein, daß sie da eher zu Hause sind als unsereiner.«
»Nun ja«, entgegnete Leo ruhig, »da werden sie wohl nicht so unrecht haben, diese Kerle.«
Heinrich wandte sich höhnisch zu ihm: »Verzeihen Sie, Leo, ich vergaß einen Augenblick, daß Sie selbst den Wunsch hegen, nur als geduldet zu gelten.«
»Das wünsche ich keineswegs«, erwiderte Leo lächelnd, »und Sie brauchen mich nicht gleich so boshaft mißzuverstehen. Aber daß diese Leute sich als die Einheimischen ansehen und Sie und mich als die Fremden, das kann man ihnen doch nicht übel neh men. Das ist doch schließlich nur der Ausdruck ihres gesunden Instinktes für eine anthropologisch und geschichtlich feststehende Tatsache. Dagegen und daher auch gegen alles, was daraus folgt, ist weder mit jüdischen noch mit christlichen Sentimentalitäten etwas auszurichten.« Und sich zu Georg wendend, fragte er in allzu verbindlichem Ton: »Finden Sie nicht auch?«
Georg errötete, räusperte, kam aber nicht dazu zu erwidern, da Heinrich, auf dessen
Stirn zwei tiefe Falten erschienen, sofort
»Sie dürfen mir nicht böse sein«, erwiderte Leo, »aber Ihr Blick in diesen Dingen ist
doch ein wenig beschränkt. Sie denken immer an sich und an den nebensächlichen
Umstand ... pardon für diese Frage nebensächlichen Umstand, daß Sie ein Dichter sind,
der zufällig, weil er in einem deutschen Land geboren, in deutscher Sprache und, weil
er in Österreich lebt, über österreichische Menschen und Verhältnisse schreibt. Es
handelt sich aber in erster Linie gar nicht um Sie und auch nicht um mich, auch nicht
um die paar jüdischen Beamten, die nicht avancieren, die paar jüdischen Freiwilligen,
die nicht Offiziere werden, die jüdischen Dozenten, die man nicht oder verspätet zu
Professoren macht, das sind lauter Unannehmlichkeiten zweiten Ranges sozusagen; es
handelt sich hier um ganz andre Menschen, die Sie nicht genau oder gar nicht kennen,
und um Schicksale, über die Sie, ich versichere Sie, lieber Heinrich, über die Sie
gewiß, trotz der Verpflichtung, die Sie eigentlich dazu hätten, noch nicht gründlich
genug nachgedacht haben. Gewiß nicht ... sonst könnten Sie über all diese Dinge nicht
in so oberflächlicher und in so ... egoistischer Weise reden, wie Sie es tun.« Er
erzählte dann von seinen Erlebnissen auf dem Basler Zionistenkongreß, an dem er im
vorigen Jahre teilgenommen hatte und wo ihm ein tieferer Einblick in das Wesen und
den Gemütszustand des jüdischen Volkes gewährt worden wäre als je zuvor. In diese
Menschen, die er zum erstenmal in der Nähe gesehen, war die Sehnsucht nach Palästina,
das wußte er nun, nicht künstlich hineingetragen; in ihnen wirkte sie als ein echtes,
nie erloschenes und nun mit Notwendigkeit neu aufflammendes Gefühl. Daran konnte
keiner zweifeln, der, wie er, den heiligen Zorn in ihren Blicken hatte aufleuchten
sehen, als ein Redner erklärte, daß man die Hoffnung
Verwundert, ja ein wenig ergriffen hatte Georg zugehört. Heinrich aber, der während
Leos Erzählung mit kurzen Schritten auf der Wiese hin und hergegangen war, erklärte,
daß ihm der Zionismus als die schlimmste Heimsuchung erschiene, die jemals über die
Juden hereingebrochen war, und gerade Leos Worte hätten ihn davon tiefer überzeugt,
als irgend eine Überlegung oder Erfahrung zuvor. Nationalgefühl und Religion, das
waren seit jeher Worte, die in ihrer leichtfertigen, ja tückischen Vieldeutigkeit ihn
erbitterten. Vaterland ... das war ja überhaupt eine Fiktion, ein Begriff der
Politik, schwebend, veränderlich, nicht zu fassen. Etwas Reales bedeutete nur die
Heimat, nicht das Vaterland ... und so war Heimatsgefühl auch Heimatsrecht. Und was
die Religionen anbelangte, so ließ er sich christliche und jüdische Legenden so gut
gefallen, als hellenische und indische; aber jede war ihm gleich unerträglich und
widerlich, wenn sie ihm ihre Dogmen aufzudrängen suchte. Und zusammengehörig fühlte
er sich mit niemandem, nein mit niemandem auf der Welt. Mit den weinenden Juden in
Basel gerade so wenig, als mit den grölenden Alldeutschen im österreichischen
Parlament; mit jüdischen Wucherern so wenig, als mit hochadeligen Raubrittern; mit
einem zionistischen Branntweinschänker so wenig, als mit einem christlich-sozialen
Greisler. Und am wenigsten würde ihn je das Bewußtsein gemeinsam erlittener
Verfolgung, gemeinsam lastenden Hasses mit Menschen verbinden, denen er sich
innerlich fern fühle. Als moralisches Prinzip und als Wohlfahrtsaktion wollte er den
Zionismus gelten lassen, wenn er sich aufrichtig so zu erkennen gäbe; die Idee einer
Errichtung des Judenstaates auf religiöser und nationaler Grundlage erscheine ihm wie
eine unsinnige Auflehnung gegen den Geist aller geschichtlichen Entwicklung. »Und in
der Tiefe Ihrer Seele«, rief er aus, vor Leo stehen bleibend, »glauben auch Sie nicht
daran, daß dieses Ziel je zu erreichen sein wird, ja wünschen es nicht einmal, wenn
Sie sich auch auf dem Wege hin aus dem oder jenem Grunde behagen.
Sie redeten noch lang, bald heftig und beinahe feindselig, dann wieder ruhig und in dem ehrlichen Bestreben einander zu überzeugen; fanden sich manchmal wie erstaunt in einer gleichen Ansicht, um einander im nächsten Augenblick in einem neuen Widerspruch zu verlieren. Georg, auf seinen Mantel gestreckt, hörte ihnen zu. Bald neigte sein Sinn sich Leo zu, in dessen Worten ihm ein glühendes Mitleid für seine unglücklichen Stammesgenossen zu beben schien, und der sich stolz von Menschen abkehrte, die ihn als ihresgleichen nicht wollten gelten lassen. Bald wieder war er innerlich Heinrich näher, der sich zornig von einem Beginnen abwandte, das, phantastisch und kurzsichtig zugleich, die Angehörigen einer Rasse, deren Beste überall in der Kultur ihres Wohnlandes aufgegangen waren, oder mindestens an ihr mitarbeiteten, von allen Enden der Welt versammeln und in eine gemeinsame Fremde senden wollte, nach der sie kein Heimweh rief. Und eine Ahnung stieg in Georg auf, wie schwer gerade diesen Besten, von denen Heinrich sprach, denen, in deren Seelen sich die Zukunft der Menschheit vorbereitete, eine Entscheidung fallen mußte; wie gerade ihnen, hin und hergeworfen zwischen der Scheu, zudringlich zu erscheinen und der Erbitterung über die Zumutung, einer frechen Überzahl weichen zu sollen, zwischen dem eingeborenen Bewußtsein, daheim zu sein, wo sie lebten und wirkten, und der Empörung, sich eben da verfolgt und beschimpft zu sehen; wie gerade ihnen zwischen Trotz und Ermattung das Gefühl ihres Daseins, ihres Wertes und ihrer Rechte sich verwirren mußte. Zum erstenmal begann ihm die Bezeichnung Jude, die er selbst so oft leichtfertig, spöttisch und verächtlich im Mund geführt hatte, in einer ganz neuen gleichsam düstern Beleuchtung aufzugehen. Eine Ahnung von dieses Volkes geheimnisvollem Los dämmerte in ihm auf, das sich irgendwie in jedem aussprach, der ihm entsprossen war; nicht minder in jenen, die diesem Ursprung zu entfliehen trachteten wie einer Schmach, einem Leid oder einem Märchen, das sie nichts kümmerte, als in jenen, die mit Hartnäckigkeit auf ihn zurückwiesen, wie auf ein Schicksal, eine Ehre oder eine Tatsache der Geschichte, die unverrückbar feststand.
Immer noch standen Heinrich und Leo einander auf der Wiese gegenüber, und ins Unentwirrbare verlor sich ihr Gespräch. Die Sätze stürmten ineinander hinein, verkrampfen sich ineinander, schossen aneinander vorbei, gingen ins Leere; und in irgend einem Augenblick merkte Georg, daß er nur mehr den Klang der Reden hörte, ohne ihrem Inhalt folgen zu können.
Ein kühler Wind kam von der Ebene her, und Georg erhob sich leicht erschauernd vom Rasen. Die andern, die seine Anwesenheit beinahe vergessen hatten, waren dadurch zur Gegenwart zurückgerufen, und man beschloß aufzubrechen. Noch leuchtete der volle Tag über der Landschaft, aber die Sonne ruhte dunkelrot und matt über einer länglich gestreckten Abendwolke.
Während er seinen Mantel aufs Rad schnallte, sagte Heinrich: »Nach solchen Gesprächen bleibt mir immer eine Unbefriedigung, die sich geradezu bis zu einem wehen Gefühl in der Magengegend steigert. Ja wirklich. Sie führen so gar nirgends hin. Und was bedeuten überhaupt politische Ansichten bei Menschen, denen die Politik nicht zugleich Beruf oder Geschäft ist? Nehmen sie den geringsten Einfluß auf die Lebensführung, auf die Gestaltung des Daseins? Sowohl Sie, Leo, als ich, wir beide werden nie etwas anderes tun, nie etwas anderes tun können, als eben das leisten, was uns innerhalb unseres Wesens und unserer Fähigkeiten zu leisten gegeben ist. Sie werden in Ihrem Leben nicht nach Palästina auswandern, selbst wenn der Judenstaat gegründet und Ihnen sofort eine Ministerpräsidenten- oder wenigstens Hofpianistenstelle angetragen würde .«
»O das können Sie nicht wissen«, unterbrach ihn Leo.
»Hm«, sagte Leo, »aber wenn die Scheiterhaufen wieder angezündet werden ...?«
»Für diesen Fall«, entgegnete Heinrich, »dazu verpflichte ich mich hiermit feierlich, werde ich mich vollkommen nach Ihnen richten.«
»O«, wandte Georg ein, »diese Zeiten kommen doch nicht mehr wieder.«
Die andern mußten lachen, daß Georg sie durch diese Worte, wie Heinrich bemerkte, im Namen der gesamten Christenheit über ihre Zukunft zu beruhigen so liebenswürdig wäre.
Sie hatten indessen die Wiese durchquert. Georg und Heinrich schoben ihre Räder auf dem holprigen Karrenweg vorwärts, Leo ihnen zur Seite, in wehendem Mantel, ging auf dem Rasen hin. Alle schwiegen eine ganze Weile, wie ermüdet. Wo der schlechte Weg in die breite Straße mündete, blieb Leo stehen und sagte: »Hier werden wir uns leider trennen müssen.« Er streckte Georg die Hand entgegen und lächelte. »Sie müssen sich heute nicht übel gelangweilt haben«, sagte er.
Georg errötete. »Na hören Sie, Sie halten mich doch für etwas ...«
Leo hielt Georgs Hand fest. »Ich halte Sie für einen sehr klugen und auch für einen sehr guten Menschen. Glauben Sie mir das?«
Georg schwieg.
»Ich möchte wissen«, fuhr Leo fort, »ob Sie mir das glauben, Georg, es liegt mir daran.« Sein Ton bekam etwas wahrhaft Herzliches.
»Ja natürlich glaub ich es Ihnen«, erwiderte Georg, noch immer etwas ungeduldig.
»Das freut mich«, sagte Leo, »denn Sie sind mir wirklich sympathisch, Georg.« Er sah ihm tief in die Augen, dann reichte er ihm und Heinrich zum Abschied nochmals die Hand und wandte sich zum Gehen.
Georg aber hatte plötzlich die Empfindung, daß dieser junge Mann, der da mit wehendem
Mantel, den Kopf leicht gesenkt, in der Mitte der breiten Straße nach abwärts
schritt, gar nicht
Georg kam es manchmal vor, als stünde seine eigene Sympathie für Leo mit jener längst verflossenen Neigung Annas für ihn in einem tiefern Zusammenhang. Denn nicht zum ersten Male fühlte er sich in ganz sonderbarer Weise zu einem Manne hingezogen, dem früher eine Seele zugeflogen war, die jetzt ihm gehörte.
Georg und Heinrich hatten ihre Räder bestiegen und fuhren eine schmale Straße, durch dichten, dunkelnden Wald. Später, da dieser sich wieder zu beiden Seiten zurückschob, hatten sie die sinkende Sonne im Rücken, und die langgestreckten Schatten ihrer eigenen Gestalten auf den Rädern liefen ihnen voraus. Entschiedener senkte sich die Straße und führte bald zwischen niedern Häusern hin, die von rötlichem Laub überhangen waren. Ein uralter Mann saß vor einer Haustür auf einer Bank, zu einem offenen Fenster sah ein bleiches Kind heraus. Sonst war kein menschliches Wesen zu sehen.
»Wie ein verzaubertes Dorf«, sagte Georg.
Heinrich nickte. Er kannte den Ort. Auch hier war er mit der Geliebten gewesen, an
einem wundervollen Sommertag dieses Jahres. Er dachte daran, und brennende Sehnsucht
zuckte ihm durchs Herz. Und er erinnerte sich der letzten Stunden, die er in Wien mit
ihr gemeinsam verbracht hatte, in seinem kühlen Zimmer, mit den herabgelassenen
Jalousien, durch deren Spalten der heiße Augustmorgen geflimmert war; des letzten
Spazierganges durch steinernkühle sonntagsstille Gassen und durch alte, menschenleere
Höfe, und seiner Ahnungslosigkeit, daß all dies zum
Die Straße belebte sich. Freundliche Villen erschienen, von kleinen Gärtchen behaglich umgeben; gelinde hinter den Häusern stiegen bewaldete Hügel empor. Noch einmal breitete das Tal sich aus, und der scheidende Tag ruhte über Wiesen und Feldern. In einem großen, leeren Wirtshausgarten waren die Laternen angezündet. Eilige Dämmer schienen von allen Seiten zugleich heranzuschleichen. Nun war die Wegkreuzung da. Georg und Heinrich saßen ab und zündeten sich Zigaretten an.
»Rechts oder links?« fragte Heinrich.
Georg sah auf die Uhr: »Sechs ... und ich muß um acht in der Stadt sein.«
»Da können wir also nicht miteinander nachtmahlen?« sagte Heinrich.
»Leider nein.«
»Schade. So fahren wir gleich den kürzeren Weg, über Sievering, hinein.«
Sie zündeten ihre Laternen an und schoben die Räder auf langgestreckten Serpentinen
durch den Wald. Der Reihe nach sprang ein Baum nach dem andern aus dem Dunkel in den
Schein der Lichtkegel und trat wieder in die Nacht zurück. Stärker rauschte der Wind
durchs Laub, und Blätter raschelten nieder. Heinrich fühlte ein ganz leises Grauen,
wie es ihn manchmal bei Dunkelheit in der freien Natur überfiel. Daß er den Abend
allein verbringen sollte, empfand er wie eine Enttäuschung. Er war verstimmt gegen
Georg und ärgerte sich daher auch über dessen Verschlossenheit ihm gegenüber. Er nahm
sich nicht zum erstenmal vor, von jetzt an auch über seine eigenen, persönlichen
Angelegenheiten nicht mehr mit Georg zu reden. Es war besser so. Er bedurfte
niemandes Vertrauen, niemandes Teilnahme. Am wohlsten war ihm doch immer zumute
gewesen, wenn er allein seines Weges ging. Das hatte er nun oft genug erfahren. Wozu
also einem andern seine Seele erschließen? Ja, Bekannte zu gemeinsamen Spaziergängen
und Fahrten, zu kühlen, klugen Gesprächen über allerlei Dinge des Lebens und der
Kunst, Frauen um sie flüchtig zu umarmen; doch keines Freundes, keiner Geliebten
bedurfte er. So floß das Dasein würdiger und ungestörter hin. Er
Die Höhe war bald erreicht. Sternenlos lag der dunkle Himmel über der grauen Straße und über den nebelhauchenden Wiesen, die sich beiderseits in täuschender Weite zu den Waldhügeln dehnten. Vom nahen Mauthäuschen schimmerte ein Licht. Wieder bestiegen sie die Räder und fuhren nun so rasch nach abwärts, als die Dunkelheit es gestattete. Georg wünschte sich bald am Ziel zu sein. Seltsam unwahrscheinlich kam es ihm vor, daß er in anderthalb Stunden schon das stille Zimmer wiedersehen sollte, von dem niemand wußte als Anna und er; den dämmrigen Raum mit den Öldrucken an der Wand, dem blausamtenen Sofa, dem Pianino, auf dem die Photographien unbekannter Leute und eine gipsweiße Schillerbüste standen; mit den hohen, schmalen Fenstern, gegenüber denen die alte, dunkelgraue Kirche ragte.
Laternen brannten längs des Weges. Noch einmal wurde die Straße freier, und ein letzter Blick nach den Höhen öffnete sich. Dann ging es eiligst, zuerst noch zwischen wohlgehaltenen Landhäusern, endlich über eine menschenerfüllte, lärmende Hauptstraße, tiefer in die Stadt hinein. Bei der Votivkirche stiegen sie ab.
»Adieu«, sagte Georg, »und auf Wiedersehen morgen im Kaffeehaus.«
»Ich weiß nicht ...«, erwiderte Heinrich; und als Georg ihn fragend ansah, fügte er hinzu: »Es ist möglich, daß ich verreise.«
»O, ein so plötzlicher Entschluß!«
»Ja, es packt einen eben zuweilen ...«
»Die Sehnsucht«, ergänzte Georg lächelnd.
»Oder die Angst«, sagte Heinrich und lachte kurz.
»Dazu haben Sie wohl keine Ursache«, meinte Georg.
»Wissen Sie das ganz sicher?« fragte Heinrich hämisch.
»Sie haben mir doch selbst erzählt ...«
»Was?«
»Daß Sie jeden Tag Nachricht haben.«
»Ja, das ist schon wahr, jeden Tag. Zärtliche, glühende Briefe bekomme ich. Jeden Tag zur selben Stunde. Aber was beweist das? Ich schreibe ja noch viel glühendere und zärtlichere und doch ...«
»Nun ja«, sagte Georg, der ihn verstand. Und er wagte die Frage: »Warum bleiben Sie eigentlich nicht bei ihr?«
»Ich persönlich würde es natürlich sehr bedauern ... aber ›komisch‹ ... was sollte daran komisch sein?«
»Nein, ich habe keine Lust dazu«, schloß Heinrich hart.
»Aber wenn Ihnen ... wenn Ihnen sehr viel daran gelegen wäre ... wenn Sie es direkt verlangten ... gäbe die junge Dame nicht vielleicht die Karriere auf?«
»Möglich. Aber ich verlange es nicht. Ich will es nicht verlangen. Nein. Lieber Schmerzen als Verantwortungen.«
»Wäre es denn eine so große Verantwortung?« fragte Georg. »Ich meine nämlich ... ist das Talent der jungen Dame so hervorragend, hängt sie überhaupt so sehr an ihrer Kunst, daß es ihr ein Opfer wäre, wenn sie die Sache aufgäbe?«
»Ob sie Talent hat?« sagte Heinrich, »ja das weiß ich selbst nicht. Ich glaube sogar, sie ist das einzige Geschöpf auf der ganzen Welt, über dessen Talent ich mir ein Urteil nicht zutraue. So oft ich sie auf der Bühne gesehen habe, hat mir ihre Stimme geklungen wie die einer Unbekannten und gleichsam ferner als alle andern Stimmen. Es ist wirklich ganz merkwürdig ... Aber Sie haben sie ja auch spielen gesehen, Georg. Was hatten Sie für einen Eindruck? Sagen Sie es mir ganz aufrichtig.«
»Ja, offen gestanden ... ich erinnere mich nicht recht an sie. Sie entschuldigen, ich wußte ja damals noch nicht ... Wenn Sie von ihr reden, da seh ich immer so einen rotblonden Schopf vor mir, der ein bißchen in die Stirne fällt, und in einem kleinen, blassen Gesicht sehr große, schwarze, herumirrende Augen.«
»Ja, irrende Augen«, wiederholte Heinrich, biß sich auf die Lippen und schwieg eine Weile. »Leben Sie wohl«, sagte er dann plötzlich.
»Sie schreiben mir doch?« fragte Georg.
»Ja natürlich. Und übrigens komm ich wohl einmal wieder«, setzte er hinzu und lächelte starr.
»Glückliche Reise«, sagte Georg, reichte ihm die Hand und drückte sie mit besonderer Herzlichkeit. Das tat Heinrich wohl. Dieser warme Händedruck gab ihm plötzlich nicht nur die Sicherheit, daß Georg ihn nicht lächerlich fand, sondern merkwürdigerweise auch die, daß die ferne Geliebte ihm treu und daß er selbst ein Mensch sei, dem mehr erlaubt war als manchem andern.
Immer schneller, als gälte es diesem Unbehagen zu entfliehen, fuhr er heimwärts. Zu Hause angekommen, kleidete er sich rasch um, damit Anna nicht allzulange warten müsse. Er sehnte sich nach ihr wie noch nie. Es war ihm, als käme er von einer weiten Reise heim, zu dem einzigen Wesen, das ihm ganz gehörte.
Georg stand am Fenster. Gerade darunter wölbten sich die steinernen Rücken der bärtigen Riesen, die auf gewaltigen Armen das verwitterte Adelswappen eines längst versunkenen Geschlechtes trugen. Gegenüber, aus dem Dunkel uralter Häuser hervor, kam die Stiege geschlichen, bis vor das Tor der grauen Kirche, die im Flockenfall wie hinter einem wallenden Vorhang verdämmerte. Das Licht einer Straßenlaterne auf dem Platz schimmerte blaß durch den sinkenden Tag. Noch stiller an diesem Feiernachmittag als sonst ruhte unten die beschneite Straße, die mitten in der Stadt und doch abseits von allem Treiben hinzog. Und wieder einmal, wie stets, wenn er die breite Treppe des alten zum Mietshaus gewordenen Palastes emporgestiegen und in das geräumige, niedrig gewölbte Zimmer getreten war, fühlte Georg, seiner gewohnten Welt entronnen, sich wie zum andern Teile eines wundersamen Doppeldaseins eingegangen.
Er hörte einen Schlüssel in der Türe knirschen und wandte sich um. Anna trat ein. Georg schloß sie beglückt in die Arme und küßte sie auf Stirn und Mund. Die dunkelblaue Jacke, der breitrandige Hut, die Pelzboa, alles war ganz beschneit.
»Du hast ja gearbeitet«, sagte Anna, während sie ablegte, und wies auf den Tisch, wo neben der grünbeschirmten Lampe beschriebene Notenblätter lagen.
»Das Quintett hab ich mir durchgesehen, den ersten Satz. Es ist doch noch manches daran zu machen.«
»Aber dann wird's wunderschön sein.«
»Das wollen wir hoffen. Kommst du von Hause, Anna?«
»Nein, von Bittners.«
»Wie, heut am Feiertag?«
»Ja. Die zwei Mädeln haben durch die Masern viel versäumt, das muß nachgeholt werden. Ist mir übrigens sehr angenehm, schon aus finanziellen Gründen.«
»Die Riesensumme!«
»Und dann entgeht man wenigstens auf ein paar Stunden dem ›trauten Heim‹.«
»Na ja«, sagte Georg, legte Annas Boa über eine Sessellehne und strich zerstreut mit
den Fingern über das Pelzwerk hin. Annas Bemerkung, aus der es, und nicht zum
erstenmal, wie ein leiser Vorwurf gegen ihn herausklang, hatte ihn nicht angenehm
berührt. Sie setzte sich auf den Diwan, führte die Hände an die
Anna wußte über den gestrigen Abend wenig Heiteres mitzuteilen. Sie hatten Besuch gehabt. »Zuerst«, erzählte Anna, »die zwei Cousinen von Mama, dann ein Bureaukollege von Papa zum Tarokspielen. Auch Josef hat sich der Häuslichkeit ergeben, ist auf dem Diwan gelegen von drei bis fünf, dann ist sein neuester Spezi gekommen, Herr Jalaudek, der mir erheblich den Hof gemacht hat.«
»So, so.«
»Er war berückend. Ich sage nur: eine violette Krawatte mit gelben Tupfen, da kannst du dich verstecken. Übrigens hat er mir den ehrenvollen Antrag überbracht, in einer sogenannten Akademie beim ›wilden Mann‹, zugunsten des Währinger Kirchenbauvereins mitzuwirken.«
»Du hast natürlich zugesagt.«
»Ich habe mich mit meinem Mangel an Stimme und an Frömmigkeit entschuldigt.«
»Na was die Stimme anbelangt ...«
Sie unterbrach ihn. »Nein, Georg«, sagte sie leicht, »die Hoffnung hab ich endgültig aufgegeben.«
Er sah sie an und suchte in ihrem Blick, der aber klar und frei blieb. Leise und dumpf klang die Orgel aus der Kirche herüber.
»Ja richtig«, sagte Georg, »das Billett für morgen zu ›Carmen‹ hab ich dir mitgebracht.«
»Dank schön«, erwiderte sie und nahm die Karte entgegen. »Gehst du auch?«
»Ja. Ich hab eine Loge im dritten Stock und lad mir den Bermann ein. Die Partitur
nehm ich mir mit, wie neulich zu Lohengrin und üb' mich wieder im Dirigieren. Im
Hintergrund natürlich. Du kannst dir nicht vorstellen, was man dabei lernt. Ich
Sie schwieg.
Er fuhr fort. »Es wäre mir wirklich angenehm, wenn du ihn näher kennen lerntest. Er ist bei allen seinen Fehlern ein interessanter Mensch und ...«
»Ich bin keine Rattenmamsell«, unterbrach sie ihn scharf und hatte gleich ihr bürgerlich strenges Gesicht. Georg verzog die Mundwinkel. »Das trifft mich nicht, liebes Kind, ich unterscheide mich auch in mancher Beziehung von Guido. Aber wie du willst.« Er ging im Zimmer hin und her, sie blieb auf dem Diwan sitzen. »Du gehst also heute Abend zu Ehrenbergs?« fragte sie dann.
»Du weißt ja. Ich habe schon zweimal abgesagt in der letzten Zeit. Ich konnte diesmal nicht recht ...
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Georg. Ich bin auch geladen.«
»Wo denn?«
»Auch bei Ehrenbergs.«
»Wirklich«, rief er unwillkürlich aus.
»Was wundert dich denn dran so sehr?« fragte sie spitz. »Offenbar wissen sie dort noch nicht, daß man mit mir nicht mehr verkehren kann.«
»Aber Anna, was hast du denn heut? warum bist du denn gar so empfindlich? Selbst wenn man wüßte ... glaubst du, das würde die Leute hindern, dich einzuladen? Im Gegenteil. Ich bin überzeugt, Frau Ehrenberg bekäme geradezu Respekt vor dir.«
»Und klein Elschen würde mich vielleicht gar beneiden. Glaubst du nicht? Sie hat mir übrigens ganz nett geschrieben. Da ist ihr Brief, willst du ihn lesen?« Georg flog ihn durch, fand ihn von etwas absichtlicher Liebenswürdigkeit, äußerte sich nicht weiter und gab ihn Anna wieder.
»Da ist übrigens noch einer«, sagte Anna, »wenn er dich interessieren sollte.«
»Von Doktor Stauber? So? Wär es ihm recht, wenn er wüßte, daß ich ihn zu lesen bekomme?«
»Was bist du denn plötzlich so rücksichtsvoll?« Und wie strafend fügte sie hinzu: »Es wär ihm wahrscheinlich manches nicht recht.«
Georg las den Brief rasch für sich durch. In trockener, zuweilen
»Wie du siehst, schreibt er noch kein Wort vom Zurückkommen.«
»Deine Freundin Therese erwähnte neulich, daß seine Parteigenossen ihn gerne wieder hier haben möchten.«
»Ah, ist sie wieder im Kaffeehaus gewesen?«
»Ja. Vor zwei oder drei Tagen hab ich sie dort gesprochen. Ich amüsier mich wirklich sehr über sie.«
»So?«
»Anfangs ist sie nämlich immer sehr hochmütig, auch mit mir. Offenbar, weil ich auch mein Leben so mit Kunst und ähnlichen Dummheiten vertrödle, während es doch so viele wichtigere Dinge auf der Welt zu tun gibt. Aber wenn sie ein bissel wärmer wird, dann kommt's heraus, daß sie sich für alle möglichen Dummheiten geradeso interessiert, wie wir gewöhnlichen Menschen.«
»Sie wird leicht warm«, sagte Anna unbeweglich.
Georg ging auf und ab und sprach weiter. »Köstlich war sie ja neulich beim Fechtturnier im Musikvereinssaal. Wer war übrigens der Herr, mit dem sie oben auf der Galerie gesessen ist?«
Anna zuckte die Achseln. »Ich hatte nicht den Vorzug, dem Turnier beizuwohnen. Und übrigens kenn ich die Begleiter Theresiens nicht alle.«
»Ich nehme an«, sagte Georg, »es war ein Genosse, in jeder Beziehung. Sehr düster und ziemlich schlecht angezogen war er jedenfalls. Wie Therese nach Felicians Sieg applaudiert hat, hat er sich vor Eifersucht geradezu zusammengerollt.«
»Was hat dir Therese eigentlich von Doktor Berthold erzählt?« fragte Anna.
»O«, scherzte Georg, »man interessiert sich ja noch sehr lebhaft, wie es scheint.«
Anna antwortete nicht.
»Also«, berichtete Georg, »ich kann dir die Mitteilung machen, daß man ihn im Herbst für den Landtag kandidieren will, was ich übrigens sehr begreiflich finde, mit Rücksicht auf seine glänzenden Rednergaben.«
»Natürlich, erinnerst du dich denn nicht! In Eurer Wohnung!«
»Du hast's wirklich nicht notwendig, dich über ihn lustig zu machen.«
»Aber das fällt mir ja gar nicht ein.«
»Ich hab's ja gleich bemerkt, er ist dir damals ein bißchen komisch vorgekommen. Er, und sein Vater auch. Du hast ja geradezu die Flucht ergriffen vor ihnen.«
»Ganz und gar nicht, Anna. Du tust sehr unrecht, mir solche Dinge zu insinuieren.«
»Sie mögen ja ihre Schwächen haben, beide, aber sie gehören wenigstens zu den Menschen, auf die man sich verlassen kann. Das ist auch etwas.«
»Hab ich das bestritten, Anna? Wahrhaftig, niemals hab ich dich so unlogisch reden gehört. Was willst du denn eigentlich von mir? Hätt ich vielleicht eifersüchtig werden sollen wegen dieses Briefes?«
»Eifersüchtig? Das fehlte noch, du mit deiner Vergangenheit.«
Georg zuckte die Achseln. In seinem Geist tauchten Erinnerungen auf, an ähnliche Wortzwiste im Verlaufe früherer Beziehungen, an jene plötzlichen rätselhaften Uneinigkeiten und Entfremdungen, die meist nichts anderes zu bedeuten gehabt hatten, als den Anfang vom Ende. Sollte er mit seiner klugen, guten Anna heute wirklich schon so weit sein? Verstimmt, beinahe traurig ging er im Zimmer auf und ab. Zuweilen warf er einen flüchtigen Blick nach der Geliebten, die schweigend in ihrer Diwanecke saß und leicht die Hände aneinanderrieb, als wäre ihr kalt. In das Schweigen des mit einmal trübselig gewordenen Raums klang die Orgel schwerer als zuvor, singende Menschenstimmen wurden vernehmbar, und die Fensterscheiben klirrten leise. Georgs Blick fiel auf den kleinen Weihnachtsbaum, der auf der Kommode stand und dessen Kerzen vorgestern Abend für ihn und Anna gebrannt hatten. Halb gelangweilt, halb zerstreut nahm er Zündhölzchen aus der Tasche und begann die kleinen Kerzen eine nach der andern anzuzünden. Da klang plötzlich Annas Stimme zu ihm her: »In einer ernsten Sache«, sagte sie langsam, »würde ich mich doch keinem andern anvertrauen, als dem alten Doktor Stauber.«
Befremdet wandte sich Georg nach ihr um, und blies ein brennendes Zündhölzchen aus,
das er noch in der Hand hielt. Er wußte sofort, was Anna meinte, wunderte sich, daß
er seit dem
»Du Anna sag doch ...«, er setzte sich an ihre Seite auf den Diwan, ihre beiden Hände in den seinen.
Sie schwieg.
»Warum redest du nicht?«
Sie zuckte die Achseln. »Es ist eben gar nichts Neues zu berichten«, erklärte sie dann einfach.
»So«, sagte er langsam. Es ging ihm durch den Sinn, ob nicht ihre heutige sonderbare Gereiztheit schon als ein Anzeichen des Zustandes zu deuten war, auf den sie anspielte, und Unruhe stieg in seiner Seele auf. »Aber sicher ist die Sache deswegen noch lange nicht«, sagte er in etwas kühlerm Tone, als er eigentlich wollte. »Und ... und wenn auch «, setzte er mit gekünstelter Lebhaftigkeit hinzu.
»Also du würdest mir verzeihen?« fragte sie lächelnd.
Er drückte sie an sich und war plötzlich ganz aufgeräumt. Eine lebhafte, etwas gerührte Zärtlichkeit flammte in ihm auf für das sanfte, gute Geschöpf, das er in den Armen hielt, und von dem ihm, er fühlte es tief, niemals ein ernstliches Leid kommen konnte. »Es wäre wahrhaftig nicht so schlimm«, sagte er heiter. »Du würdest eben Wien für einige Zeit verlassen, das ist alles.«
»Na, gar so einfach wär das allerdings nicht, wie du dir's plötzlich vorzustellen scheinst.«
»Warum nicht? Eine Ausrede ist bald gefunden. Im übrigen, wen geht's denn an? Uns zwei. Niemanden andern. Und was mich anbelangt, so weißt du, ich kann jeden Tag fort. Kann auch ausbleiben, so lange ich will. Ich habe noch nicht einmal einen Kontrakt fürs nächste Jahr unterschrieben«, setzte er lächelnd hinzu. Dann erhob er sich, um die Wachskerzchen auszulöschen, deren kleine Flammen beinahe ganz heruntergebrannt waren; und immer lebhafter sprach er weiter. »Es wäre sogar wunderschön. Denk doch, Anna! Ende Februar, oder anfangs März würden wir abreisen, in den Süden natürlich, nach Italien, ans Meer vielleicht. Würden an irgendeinem stillen Ort wohnen, wo kein Mensch uns kennt, in einem schönen Hotel mit einem Riesenpark. Und arbeiten könnt man da unten, Donnerwetter!«
»Also darum!« sagte sie, wie in plötzlichem Verstehen. Er lachte, nahm sie fester in
seine Arme, und sie drängte sich an seine Brust. Von draußen kam kein Laut mehr.
Orgel und Menschenstimmen
Während sie im Dunkel ruhten, sprach er von seinen musikalischen Plänen für die nächste Zeit und erzählte ihr Heinrichs Opernstoff, soweit er es vermochte. Mit schimmernden Schatten füllte sich der Raum. Einen märchenhaften Königssaal durchrauschte ein Hochzeitsfest. Ein leidenschaftlicher Jüngling schlich sich ein und zückte seinen Dolch auf den Fürsten. Ein dunkles Urteil, geheimnisvoller als der Tod, wurde verkündet. Auf dämmernder Flut trieb ein träges Schiff unbekannten Zielen entgegen. Zu Füßen des Jünglings ruhte eine Prinzessin, die eines Herzogs Braut gewesen. Ein Unbekannter nahte auf leuchtendem Kahn mit seltsamer Botschaft; Narren, Sterngucker, Tänzerinnen, Höflinge schwebten vorbei. Schweigend hatte Anna gelauscht. Am Ende war Georg neugierig zu erfahren, was für einen Eindruck sie von den flüchtigen Bildern empfangen hätte.
»Ich kann's nicht recht sagen«, erwiderte sie. »Jedenfalls ist es mir heut noch ganz rätselhaft, wie aus dem ziemlich wirren Zeug jemals irgendwas Wirkliches werden soll.«
»Natürlich kannst du dir das heute noch nicht vorstellen besonders nach meiner Erzählung ... Aber den musikalischen Hauch, der aus der Geschichte herausweht, den spürst du doch, nicht wahr? Ich hab mir sogar schon ein paar Motive aufnotiert, und ich möchte sehr gern, daß Bermann sich bald ernstlich an die Arbeit machte.«
»An deiner Stelle, Georg ... ich darf doch was sagen?«
»Natürlich, red nur.«
»Also ich an deiner Stelle würde doch zuerst einmal das Quintett abschließen. Es kann ja jetzt nicht mehr viel dran fehlen.«
»Viel nicht und doch ... Übrigens darfst du nicht vergessen, daß ich in der letzten Zeit allerlei anderes angefangen habe. Die zwei Klavierstücke, dann das Orchesterscherzo das ist sogar ziemlich weit gediehn. Aber es gehört unbedingt in eine Symphonie.«
Anna erwiderte nichts. Georg merkte, daß ihre Gedanken abschweiften, und er fragte sie, wohin sie ihm denn schon wieder entrückt sei.
»Nicht gar so weit«, entgegnete sie. »Mir ist nur so durch den Kopf gegangen, was alles geschehen sein kann, bis die Oper einmal wirklich fertig sein wird.«
Sie seufzte ganz leise, und er drängte sich näher an sie, fast mitleidig. »Sei ruhig, mein Schatz, sei ruhig«, sagte er, »ich bin ja da ... und ich werde immer da sein.« Er glaubte zu fühlen, wie sie dachte: Kann er nichts Besseres sagen? ... nichts Stärkeres? nichts, das alle Angst, und das sie für immer von mir nähme? Und unaufrichtig, wie mit dem Gedanken sich in eine Gefahr zu begeben, fragte er sie: »Woran denkst du?« Und noch einmal, als sie beharrlich schwieg: »Anna, woran denkst du denn?«
»An etwas sehr Sonderbares«, erwiderte sie leise.
»Woran?«
»Daß das Haus schon steht, wo es zur Welt kommen wird, und wir haben keine Ahnung wo ... daran hab ich denken müssen.«
»Daran«, sagte er seltsam berührt. Und mit neu aufflammender Zärtlichkeit sie an sein Herz pressend: »Ich werde euch nie verlassen, euch beide ...«
Als es wieder licht im Zimmer wurde, waren sie sehr vergnügt, pflückten von den Ästen des kleinen Weihnachtsbaumes die letzten vergessenen Zuckersachen, freuten sich auf das Wiedersehen unter lauter gleichgültigen Menschen, das ihnen bevorstand, wie auf ein heiteres Abenteuer, lachten und redeten lustigen Unsinn.
Sobald Anna fortgegangen war, versperrte Georg die Notenblätter in der Tischlade, löschte die Lampe aus und öffnete ein Fenster. Leicht und dünn fiel der Schnee. Über die Stiege aus dem Dunkel kam ein alter Mann, und sein mühseliges Atmen tönte durch die unbewegte Luft herauf. Grau ragte die stumme Kirche gegenüber ... Georg blieb eine Weile am Fenster stehen. Er war in diesem Augenblick beinahe überzeugt, daß Anna sich in ihrer Annahme täuschte. Wie eine Beruhigung fiel ihm jene Äußerung Leo Golowskis ein, daß Anna bestimmt wäre im Bürgerlichen zu enden. Wahrhaftig es konnte nicht in der »Linie ihres Schicksals« liegen, von einem Liebhaber ein Kind zu bekommen. Und nicht in der Linie des seinen lag es, Verpflichtungen ernster Art zu tragen, heute schon und vielleicht für alle Zeit an ein weibliches Wesen festgebunden zu sein; Vater zu werden in so jungen Jahren. Vater! ... Schwer, beinahe düster sank das Wort in seine Seele.
Um acht Uhr abends trat er in den Ehrenbergschen Salon. Walzerklänge
»Herrlich«, sagte Frau Ehrenberg, als der Alte sich erhob.
»Bewahren Sie sich die großen Worte für größere Gelegenheiten, Leonie«, erwiderte Eißler, dessen altes Vorrecht es war, alle Frauen und Mädchen bei ihren Vornamen zu nennen. Und es schien jeder wohl zu tun, ihn von diesem schönen alten Mann, mit der tiefen, klingenden Stimme aussprechen zu hören, in der es manchmal bebte wie ein sentimentales Echo aus bewegten Jugendtagen. Georg fragte ihn, ob alle seine Kompositionen im Druck erschienen wären.
»Die wenigsten, lieber Baron; ich selbst kann leider keine Noten schreiben.«
»Es wäre aber wirklich jammerschade, wenn diese charmanten Melodien ganz verloren gehen sollten.«
»Ja, das hab ich ihm auch oft gesagt«, nahm Frau Ehrenberg das Wort. »Aber er gehört leider zu den Menschen, die sich selber nie ganz ernst genommen haben.«
»O, das ist ein Irrtum, Leonie. Wissen Sie denn, wie ich meine musikalische Karriere begonnen habe? Eine große Oper hab ich komponieren wollen. Allerdings war ich damals siebzehn Jahre alt und in eine Sängerin rasend verliebt.«
Die Stimme der Frau Oberberger tönte vom Tische in der Ecke her: »Es wird eine Choristin gewesen sein.«
»Sie irren sich, Katharina«, erwiderte Eißler. »Choristinnen waren nie mein Fall. Es war sogar eine platonische Liebe, wie die meisten großen Leidenschaften meines Lebens.«
»Waren Sie so ungeschickt?« fragte Frau Oberberger.
»Manchmal wohl auch das«, erwiderte Eißler sonor und mit Anstand; »denn wahrscheinlich hätte ich gerade soviel Glück haben können wie ein Husarenrittmeister. Aber ich bedaure es nicht, ungeschickt gewesen zu sein. Ungetrübte Erinnerungen bewahren wir doch nur an versäumte Gelegenheiten.«
Frau Ehrenberg nickte beifällig.
»Man dürfte also nicht fehlgehen, Herr Eißler«, bemerkte Nürnberger, »wenn man in
Ihrer Lebensgeschichte den getrübten
»Warum sagten Sie«, fragte Frau Oberberger, »Sie hätten so viel Glück haben können wie ein Husarenrittmeister? Es ist gar nicht wahr, daß Offiziere besonders viel Glück bei den Frauen haben. Wenn meine Schwägerin auch einmal ein Verhältnis mit einem Oberleutnant gehabt hat ...«
»Ich glaube nicht an platonische Liebe«, sagte Sissy und leuchtete durch den Saal.
Frau Wyner schrie leise auf.
»Fräulein Sissy hat wahrscheinlich recht«, sagte Nürnberger. »Wenigstens bin ich überzeugt, daß die meisten Frauen platonische Liebe entweder als Beleidigung auffassen oder als Ausrede.«
»Es sind junge Mädchen da«, erinnerte Frau Ehrenberg mild.
»Das merkt man schon daraus«, sagte Nürnberger, »daß sie mitreden.«
»Trotzdem möchte ich mir erlauben, zu dem Kapitel platonische Liebe eine kleine Anekdote zu erzählen«, sagte Heinrich.
»Nur keine jüdische«, warf Else ein.
»Gewiß nicht. Hören Sie nur. Ein kleines blondes Mädel ...«
»Das beweist nichts«, unterbrach Else.
»Laß doch zu Ende erzählen,« mahnte Frau Ehrenberg.
»Also: ein kleines, blondes Mädel«, begann Heinrich von neuem, »hat einmal, im Gegensatz zu Fräulein Sissy, mir gegenüber die Überzeugung ausgesprochen, daß platonische Liebe tatsächlich existiere. Und wissen Sie, was sie mir als Beweis dafür angeführt hat ...? Ein eigenes Erlebnis. Sie hat nämlich einmal eine Stunde, wie sie mir erzählte, ganz allein in einem Zimmer mit einem Leutnant verbracht und ...«
»Es ist genug«, rief Frau Ehrenberg angstvoll.
»Und«, schloß Heinrich unbeirrt und beruhigend, »es ist in dieser Stunde nicht das geringste vorgefallen.«
»Sagt das blonde Mädel«, ergänzte Else.
Die Tür öffnete sich, Georg sah eine fremde Dame eintreten, in einem hellblauen, viereckig ausgeschnittenen Kleid, blaß, einfach und vornehm. Erst als sie lächelte, ward ihm bewußt, daß die Dame Anna Rosner war, und er empfand irgend etwas wie Stolz auf sie. Als er der Geliebten die Hand reichte, fühlte er den Blick Elses auf sich gerichtet.
Man begab sich ins Nebenzimmer, wo der Tisch mit bescheidener
Unwirsch erwiderte Ehrenberg: »Hab ich Ihnen je gesagt, daß ich die Absicht habe auszuwandern? Ich bin zu alt dazu.«
»Ach so«, sagte Nürnberger, »ich wußte nicht, daß Sie sich die Gegend drüben nur Fräulein Else und Herrn Oskar zuliebe angesehen haben.«
»Lieber Nürnberger, ich werd mich da nicht mit Ihnen streiten. Der Zionismus ist auch wahrhaftig zu gut für ein Tischgespräch.«
»Ob zu gut«, sagte Hofrat Wilt, »wollen wir dahingestellt sein lassen, jedenfalls zu kompliziert, schon darum weil jeder was anderes darunter versteht.«
»Oder verstehen will«, fügte Nürnberger hinzu, »wie es übrigens mit den meisten Schlagworten und nicht nur in der Politik der Fall ist. Darum wird ja auf Erden so viel geschwätzt.«
Heinrich erklärte, daß ihm unter allen menschlichen Geschöpfen der Politiker gewissermaßen die rätselhafteste Erscheinung bedeute. »Ich begreife Taschendiebe«, sagte er, »Akrobaten, Bankdirektoren, Hoteliers, Könige ... das heißt, ohne besondere Mühe gelingt es mir, mich in die Seelen aller dieser Leute hineinzuversetzen. Daraus folgt offenbar, daß es nur gewisser quantitativer, wenn auch ungeheurer Veränderungen meines Wesens bedürfte, um mich zu befähigen, in der Welt eine Akrobaten-, eine Königs-, eine Bankdirektorsrolle zu spielen. Dagegen fühl ich untrüglich: ich könnte mein Wesen ins Ungemessene steigern, und es würde doch nie das aus mir, was man einen Politiker nennt: ein Parteiführer, ein Genosse, ein Minister.«
Nürnberger lächelte über die Auffassung Heinrichs, nach der der Politiker eine
besondere Menschenart bedeuten sollte,
Willy Eißler erschien, entschuldigte sich bei der Hausfrau, daß er sich verspätet
hatte, nahm zwischen Sissy und Frau Oberberger Platz und grüßte seinen Vater wie
einen lieben, alten Freund nach langer Trennung. Es stellte sich heraus, daß die
beiden, trotzdem sie zusammen wohnten, sich seit mehreren Tagen nicht gesehen hatten.
Willy erhielt Komplimente zu seinem Erfolg in der Aristokratenvorstellung, wo er mit
der Gräfin Liebenberg-Rathony in einem französischen Proverbe einen Marquis gespielt
hatte. Frau Oberberger fragte ihn, immerhin laut genug, daß es die Nächstsitzenden
verstehen konnten, wo seine Rendezvous mit der Gräfin stattfänden und ob er sie im
gleichen Absteigquartier empfinge wie seine bürgerlichen Flammen. Die Unterhaltung
wurde lebhafter, Gespräche gingen hin und her und verschlangen sich da und dort.
Georg aber fing abgerissene Worte auf, auch aus einer Unterhaltung zwischen Anna und
Heinrich, in der von Therese Golowski die Rede war. Dabei sah er, wie Anna zuweilen
einen neugierig dunkeln Blick zu Demeter Stanzides herüberwarf, der heute im Frack
mit einer Gardenia im Knopfloch erschienen war; und ohne eigentliche Eifersucht zu
verspüren, fühlte er sich sonderbar bewegt. Ob sie in diesem Augenblick wohl daran
dachte, daß sie vielleicht ein Kind von ihm unter dem Herzen trug? »Die Untiefen ...«
fiel ihm wieder ein. Plötzlich sah sie zu ihm herüber, mit einem Lächeln, als käme
sie von einer Reise heim. Er war innerlich wie befreit und spürte mit einem leisen
Schrecken, wie sehr er sie liebte. Dann führte er sein Glas
»Manchmal«, entgegnete Georg kühl.
»Vielleicht bitt ich sie, vom neuen Jahr an wieder mit mir zu korrepetieren. Ich weiß nicht, wieso es bis jetzt nicht dazu gekommen ist.«
Georg schwieg.
»Und wie steht es denn eigentlich« sie wies mit einem Blick auf Heinrich »mit Eurer Oper?«
»Mit unsrer Oper? Noch gar nichts steht's damit. Wer weiß, ob was draus wird.«
»Natürlich wird nichts draus werden.«
Georg lächelte. »Warum sind Sie denn heut gar so streng mit mir?«
»Ich ärgere mich halt über Sie.«
»Über mich? Warum denn ...?«
»Daß Sie den Leuten immer wieder Anlaß geben, Sie als Dilettanten zu betrachten.«
Georg war ins Herz getroffen, verspürte sogar einen leisen Groll gegen Else, faßte sich aber rasch und erwiderte: »Ich bin ja vielleicht nichts anderes. Und wenn man kein Genie ist, so ist es schon besser, man ist ein ehrlicher Dilettant, als ... als ein aufgeblasener Künstler.«
»Wer verlangt denn, daß Sie gleich das Größte leisten? Aber deswegen muß man sich doch nicht so gehen lassen, wie Sie's tun, innerlich und äußerlich.«
»Ich versteh Sie wirklich nicht, Else. Wie können Sie behaupten ... Wissen Sie denn auch, daß ich im Herbst nach Deutschland gehe, als Kapellmeister?«
»Die Karriere wird daran scheitern, daß Sie nicht um zehn Uhr früh bei den Proben sein werden.«
In Georg wühlte es noch immer. »Wer hat mich denn übrigens einen Dilettanten genannt, wenn ich fragen darf?«
»Wer? Gott, es ist doch schon in der Zeitung gestanden.«
»Ach so«, sagte Georg beruhigt, denn er erinnerte sich jetzt, daß ein Kritiker ihn
nach dem Konzert, in dem Fräulein Bellini seine Lieder gesungen, als »dilettierenden
Aristokraten« bezeichnet hatte. Georgs Freunde hatten damals erklärt, diese animose
So war es nun einmal! Immer waren äußere Gründe dran schuld, wenn die Leute einen ungünstig beurteilten. Auch die Gereiztheit Elsens heute, was war sie im Grunde anderes, als Eifersucht ...
Die Tafel wurde aufgehoben. Man begab sich in den Salon. Georg trat zu Anna, die am Klavier lehnte und sagte leise zu ihr: »Schön siehst du aus.«
Sie nickte befriedigt.
Dann fragte er weiter: »Hast du dich mit Heinrich gut unterhalten? Worüber habt ihr denn gesprochen? Über Therese? Nicht wahr?«
Sie antwortete nicht, und Georg merkte mit Befremden, wie ihr plötzlich die Augenlider zufielen, und sie zu wanken begann.
»Was ... was haben Sie denn?« fragte er erschrocken.
Sie hörte ihn nicht und wäre niedergesunken, wenn er sie nicht rasch bei den Handgelenken gefaßt hätte. Frau Ehrenberg und Else waren im selben Augenblick bei ihr.
Haben sie uns beobachtet? dachte Georg.
Schon hatte Anna die Augen wieder offen, zwang sich zu einem Lächeln und flüsterte: »O es ist nichts, ich vertrage die Hitze manchmal so schlecht.«
»Kommen Sie«, sagte Frau Ehrenberg mütterlich, »vielleicht legen Sie sich einen Augenblick hin.«
Anna schien verwirrt, erwiderte nichts, und die Damen des Hauses geleiteten sie ins Nebenzimmer.
Georg sah um sich. Den Gästen schien nichts aufgefallen zu sein. Der Kaffee wurde herumgereicht. Georg nahm eine Tasse und rührte zerstreut mit dem Löffel herum. Am Ende, dachte er, wird sie doch nicht im Bürgerlichen enden. Aber zugleich fühlte er sich innerlich so entfernt von ihr, als ginge ihn persönlich die Sache nichts an. Frau Oberberger stand neben ihm. »Also wie denken Sie eigentlich über platonische Liebe, Sie sind ja Fachmann?« Er erwiderte zerstreut, sie redete weiter, in ihrer Art; ohne sich zu kümmern, ob er zuhörte, ob er antwortete. Plötzlich war Else wieder da. Georg erkundigte sich nach Annas Befinden, teilnehmend und höflich.
»Eine schwere Erkrankung dürfte es wohl nicht sein«, sagte Else und sah ihm fremd ins Gesicht.
Demeter Stanzides trat heran und bat sie zu singen. »Wollen
»Also was denn?« fragte Else.
»Was Sie wollen«, erwiderte Wilt, »nur nichts Modernes.« Nach dem Souper liebte er es, wenigstens in künstlerischen Dingen, den Reaktionär zu spielen.
»Justament«, sagte Else und reichte Georg ein Heft. Sie sang »Das alte Bild« von Hugo Wolf, mit ihrer kleinen, wohlgebildeten und etwas rührenden Stimme. Georg begleitete mit Geschmack, doch ziemlich zerstreut. Er war ein wenig ärgerlich über Anna, so sehr er sich dagegen wehrte. Im übrigen schien wirklich niemand den Vorfall bemerkt zu haben, als Frau Ehrenberg und Else. Ach, was lag am Ende daran ... Wenn sie's auch alle wußten ... Wen ging es an ... Ja, wer kümmerte sich nur darum ... Nun hören sie alle Else zu, dachte er weiter, und empfinden die Schönheit dieses Liedes. Sogar Frau Oberberger, die gar nicht musikalisch ist, vergißt auf einige Minuten, daß sie ein Weib ist, und hat ein stilles, geschlechtsloses Gesicht. Auch Heinrich hört gebannt zu, denkt in diesem Moment vielleicht nicht an seine Werke, nicht an das Los der Juden, nicht an die ferne Geliebte, und nicht einmal an die nahe, die kleine Blondine, der zuliebe er in der letzten Zeit geradezu elegant geworden ist. Wahrhaftig, der Frack sitzt ihm nicht übel, und die Krawatte ist keine von den fertig gekauften, wie er sie sonst trägt, sondern sorgsam geknüpft ... Wer steht denn so nah hinter mir, dachte Georg weiter, daß ich den Atem über dem Haar spüre? ... Sissy vielleicht ...? Wenn morgen früh die Welt unterginge, Sissy wäre es, die ich mir für heute Nacht erwählte. Ja das ist sicher. Ah, da kommt Anna mit Frau Ehrenberg ... Es scheint, ich bin der einzige, der es merkt, obwohl ich doch zugleich auf mein Spiel und auf Elses Gesang aufpassen muß. Ich grüße sie mit den Augen ... Ja, ich grüße dich, Mutter meines Kindes ... Wie sonderbar ist das Leben ...
Das Lied war zu Ende. Man applaudierte, verlangte nach mehr. Georg begleitete Else zu
einigen anderen Liedern, von Schumann, von Brahms, zum Schluß auf allgemeinen Wunsch
zu zwei eigenen, die ihm persönlich zuwider geworden waren, seit irgendwer behauptet
hatte, sie erinnerten an Mendelssohn. Während er begleitete, glaubte er jeden
Zusammenhang mit Else zu verlieren und gab sich durch sein Spiel Mühe, sie
wiederzugewinnen. Er spielte mit übertriebener Empfindung, er warb geradezu um sie
»Das war Ihre beste Zeit«, sagte Else leise zu ihm, während sie die Noten weglegte. »So vor zwei, drei Jahren.«
Die andern sagten ihm Freundliches, ohne Epochen in seiner künstlerischen Entwicklung zu unterscheiden.
Nürnberger erklärte, durch die Lieder Georgs aufs angenehmste enttäuscht worden zu sein. »Ich will Ihnen nämlich nicht verhehlen«, bemerkte er, »daß ich sie mir nach den Ansichten, die ich manchmal von Ihnen vertreten höre, lieber Baron, beträchtlich unverständlicher vorgestellt hätte.«
»Wirklich charmant«, sagte Wilt. »Alles so melodiös, und einfach, ohne Affektion und Schwulst.«
Er ist es, dachte Georg grimmig, der mich einen Dilettanten geheißen hat.
Willy war herzugetreten. »Jetzt sagen S' nur noch Herr Hofrat, daß Sie sie nachpfeifen können, und wenn ich mich auf Physiognomien verstehe, so schickt Ihnen der Baron morgen früh zwei Herren.«
»O nein«, sagte Georg, sich auf sich besinnend und lächelte. »Die Lieder stammen glücklicherweise aus einer längst überwundenen Zeit. Ich fühle mich also durch keinerlei Tadel und keinerlei Lob verletzt.«
Ein Diener brachte Eis, die Gruppen lösten sich, und Anna stand mit Georg allein am Klavier. Er fragte sie rasch: »Was hat denn das zu bedeuten gehabt?«
»Ja ich weiß nicht«, erwiderte sie und sah ihn mit großen Augen an.
»Ist dir denn auch schon ganz wohl?«
»Aber vollkommen«, antwortete sie.
»Und ist dir das heute zum erstenmal passiert?« fragte Georg etwas zögernd.
Sie erwiderte: »Gestern Abend zu Haus hab ich was ähnliches gehabt. So eine Art von Ohnmacht. Es hat sogar noch etwas länger gedauert. Während wir noch beim Nachtmahl gesessen sind. Es hat's aber niemand bemerkt.«
»Warum hast du mir denn gar nichts davon gesagt?«
Sie zuckte leicht die Achseln.
»Du Anna«, sagte er lebhaft und etwas schuldbewußt, »ich möcht dich jedenfalls noch
sprechen. Gib mir ein Zeichen, wenn
Sie nickte.
Er sagte: »Auf Wiedersehen, Schatz« und begab sich ins Rauchzimmer. An einem grünen Tischchen hatten sich der alte Ehrenberg, Nürnberger und Wilt zum Tarockspiel niedergelassen. Auf zwei riesigen, grünen Lederfauteuils, nebeneinander, saßen der alte Eißler und sein Sohn und benützten die Gelegenheit, sich endlich einmal ordentlich miteinander auszuplaudern. Georg nahm eine Zigarre aus einem Kistchen, steckte sie sich an und betrachtete ohne besondere Anteilnahme die Bilder an der Wand. Auf einem grotesk gehaltenen Aquarell, das ein von rot befrackten Herren gerittenes Hürdenrennen vorstellte, sah er unten in der Ecke mit blaßroten Buchstaben auf die grüne Wiese gezeichnet Willys Namen. Unwillkürlich wandte er sich nach dem jungen Mann um und sagte: »Das hab ich noch gar nicht gekannt.«
»Es ist ziemlich neu«, bemerkte Willy beiläufig.
»Ein fesches Bild, was?« sagte der alte Eißler.
»Ah, schon etwas mehr als das«, erwiderte Georg.
»Na, hoffentlich werde ich bald mit etwas Besserem aufwarten können«, sagte Willy.
»Er geht nach Afrika auf die Löwenjagd«, erläuterte der alte Eißler, »mit dem Fürsten Wangenheim.«
»So?« sagte Georg, »Felician soll auch von der Partie sein. Aber er hat sich noch nicht entschlossen.«
»Warum denn?« fragte Willy.
»Er will im Frühjahr seine Diplomatenprüfung machen.«
»Aber das kann er doch verschieben«, sagte Willy. »Die Löwen sind ja im Aussterben, was man von den Professoren leider nicht behaupten kann.«
»Ich pränumerier mich auf ein Bild, Willy«, rief Ehrenberg vom Kartentisch herüber.
»Seien Sie später Mäcen, Vater Ehrenberg«, sagte Wilt, »ich hab einen Dreier angesagt.«
»Einen Untern«, replizierte Ehrenberg und fuhr fort: »Wenn ich mir was anschaffen darf, Willy, so malen Sie mir eine Wüstenlandschaft, in der der Fürst Wangenheim von den Löwen aufgefressen wird ... aber womöglich nach der Natur.«
»Sie irren sich in der Person, Herr Ehrenberg«, sagte Willy.
»Von mir aus«, erwiderte Ehrenberg, »können sich die Löwen auch irren, es muß ja nicht jeder Antisemit berühmt sein.«
»Sie werden die Partie verlieren, wenn Sie nicht aufpassen«, mahnte Nürnberger.
»Sie hätten sich doch in Palästina ankaufen sollen«, sagte Hofrat Witt.
»Gott soll mich davor behüten«, erwiderte Ehrenberg.
»Nun, da er das bis jetzt in allen Dingen getan hat ...«, sagte Nürnberger und spielte sein Blatt aus.
»Mir scheint, Nürnberger, Sie werfen mir schon wieder vor, daß ich nicht mit alten Kleidern handeln geh.«
»Dann hätten Sie wenigstens das Recht, sich über den Antisemitismus zu beklagen«, sagte Nürnberger. »Denn wer spürt in Österreich etwas davon, als die Hausierer ... leider Gottes nur die, könnte man sagen.«
»Und einige Leute mit Ehrgefühl«, entgegnete Ehrenberg. »Siebenundzwanzig ... einunddreißig ... achtunddreißig ... nu, wer hat die Partie gewonnen?«
Willy hatte sich wieder in den Salon begeben, Georg saß rauchend auf der Lehne eines Fauteuils, sah plötzlich den Blick des alten Eißler auf sich gerichtet, in einer sonderbar wohlwollenden Weise, und fühlte sich an irgend etwas erinnert, ohne zu wissen woran.
»Neulich«, sagte der alte Herr, »hab ich Ihren Bruder Felician flüchtig gesprochen, bei Schönsteins. Es ist frappant, wie er Ihrem seligen Papa ähnlich sieht. Besonders, wenn man Ihren Papa als ganz jungen Menschen gekannt hat, wie ich.«
Jetzt wußte Georg mit einemmal, woran der Blick des alten Eißler ihn erinnerte: mit dem gleichen, väterlichen Ausdruck hatten des alten Doktor Stauber Augen bei Rosners auf ihm geruht. Diese alten Juden! dachte er spöttisch, aber in einem entlegenen Winkel seiner Seele war er ein wenig gerührt. Es fiel ihm ein, daß sein Vater mit Eißler, vor dessen Kunstverständnis er großen Respekt gehabt hatte, manchmal des Morgens im Prater spazierengegangen war.
Der alte Eißler sprach weiter: »Sie Georg, geraten wohl mehr Ihrer Mutter nach, denk ich mir.«
»Es behaupten's manche. Selbst kann man das ja schwer beurteilen.«
»Ja, in ihrer frühen Jugend. Ich selbst habe sie ja nie wirklich singen gehört. Zuweilen hat sie's wohl versucht. Drei oder vier Jahre vor ihrem Tod, da hat ihr ein Arzt in Meran sogar den Rat gegeben, ihre Singstimme zu üben. Eine Lungengymnastik sollte es sein. Aber es hat leider nicht viel Erfolg gehabt.«
Der alte Eißler nickte und sah vor sich hin. »Daran werden Sie sich wahrscheinlich nicht mehr erinnern können, daß damals meine arme Frau mit Ihrer verstorbenen Mutter zugleich in Meran gewesen ist.«
Georg suchte in seinem Gedächtnis. Es war ihm entfallen.
»Einmal«, sagte der alte Eißler, »bin ich mit Ihrem Vater im selben Kupee hinuntergefahren. In der Nacht, wir haben beide nicht schlafen können, hat er mir sehr viel von euch zweien erzählt. Von Ihnen und Felician mein ich.«
»So ...«
»Zum Beispiel, daß Sie in Rom als Bub irgendeinem italienischen Virtuosen eine eigne Komposition vorgespielt haben, und daß er Ihnen eine große Zukunft prophezeit hat.«
»Große Zukunft ... ach Gott! Es war aber kein Virtuose, Herr Eißler, es war ein Geistlicher, bei dem ich dann übrigens Orgelspielen gelernt hab.«
Eißler fuhr fort: »Und abends, wenn Ihre Mutter schon zu Bett gegangen war, haben Sie ihr manchmal stundenlang im Zimmer nebenan vorphantasiert.«
Georg nickte und seufzte im stillen. Es war ihm, als hätte er zu jener Zeit viel mehr Talent gehabt als jetzt. Arbeiten, dachte er mit Inbrunst, arbeiten ... Er blickte wieder auf. »Ja«, sagte er wie humoristisch, »das ist halt das Malheur, daß aus Wunderkindern so selten was wird.«
»Ich höre ja, Sie wollen Kapellmeister werden, Baron?«
»Ja«, erwiderte Georg mit Entschiedenheit. »Nächsten Herbst geh ich nach Deutschland, vielleicht zuerst als Korrepetitor an irgendein kleines Stadttheater, wie es sich eben trifft.«
»Aber gegen ein Hoftheater hätten Sie auch nichts einzuwenden?«
»Gewiß nicht. Aber wie kommen Sie darauf, Herr Eißler, wenn ich fragen darf ?«
»Ich weiß ganz gut«, sagte Eißler lächelnd und ließ das Monokel fallen, »daß Sie auf
meine Protektion nicht angewiesen sind, aber andererseits kann ich mir denken, daß es
ihnen vielleicht
Georg blieb kühl. »Wenn man einmal entschlossen ist eine Theaterkarriere einzuschlagen, so weiß man ja auch, was man alles mit in den Kauf zu nehmen hat.«
»Kennen Sie vielleicht den Grafen Malnitz?« fragte Eißler, unbekümmert um Georgs Lebensweisheit.
»Malnitz? Meinen Sie den Grafen Eberhard Malnitz, von dem vor ein paar Jahren eine Suite aufgeführt worden ist?«
»Ja, den mein ich.«
»Persönlich kenn ich ihn nicht und was die Suite anbelangt ...«
Durch eine Handbewegung gab Eißler den Komponisten Malnitz preis. »Seit Beginn dieser Saison«, sagte er dann »ist er Intendant in Detmold. Darum hab ich Sie gefragt, ob Sie ihn kennen. Ein guter, alter Freund von mir. Er hat früher in Wien gelebt. Seit zehn oder zwölf Jahren treffen wir uns jedes Jahr, in Karlsbad oder in Ischl. Heuer wollen wir um Ostern eine kleine Mittelmeerreise machen. Erlauben Sie mir, lieber Baron, bei dieser Gelegenheit Ihren Namen zu nennen und von Ihren kapellmeisterlichen Absichten ein Wort zu sagen?«
Georg zögerte zu antworten und lächelte höflich.
»O, fassen Sie meinen Vorschlag nicht als Zudringlichkeit auf, lieber Baron. Wenn Sie nicht wollen, halt ich natürlich das Maul.«
»Sie mißverstehen mein Schweigen«, entgegnete Georg liebenswürdig, doch nicht ohne Hochmut. »Aber ich weiß wirklich nicht «
»So ein kleines Hoftheater«, fuhr Eißler fort, »stell ich mir gerade für den Anfang als den richtigen Boden für Sie vor. Daß Sie von Adel sind, wird Ihnen gerade auch nicht schaden, sogar bei meinem Freunde Malnitz nicht, obwohl der gerne den Demokraten spielt, zuweilen sogar den Anarchisten ... mit Nachsicht der Bomben selbstverständlich. Aber er ist ein charmanter Mensch und wirklich enorm musikalisch ... wenn er nicht grad komponiert.«
»Nun«, erwiderte Georg etwas befangen, »wenn Sie die Güte haben wollen, mit ihm zu reden ... man biete dem Glücke die Hand. Jedenfalls dank ich Ihnen sehr.«
»Keine Ursache. Ich garantiere ja nicht für den Erfolg. Es ist eben eine Chance unter andern.«
Frau Oberberger und Sissy traten ein, von Demeter Stanzides begleitet.
»Beruhigen Sie sich, Katharina«, sagte Eißler, und seine Stimme hatte wieder ihren tremolierend tiefen Klang. »Man spricht zuweilen auch von anderen Dingen, als von der Zukunft des Menschengeschlechts.«
Sissy nahm eine Zigarette zwischen die Lippen, ließ sich von Georg Feuer geben und setzte sich in die Ecke des grünen Lederdiwans. »Sie kümmern sich ja heute gar nicht für mich«, begann sie mit dem englischen Akzent, den Georg so sehr an ihr liebte. »Als wenn man überhaupt gar nicht auf der Welt wäre. O, es ist so. Ich bin doch eine treuere Natur als Sie. Bin ich nicht?«
»Sie treu, Sissy ...?« Er schob einen Fauteuil ganz nahe zu ihr hin. Sie sprachen von dem vergangenen Sommer und von dem kommenden.
»Voriges Jahr«, sagte Sissy, »haben Sie mir Ihr Wort versprochen, daß Sie hinkommen werden, wo ich bin. Sie haben es nicht getan. Heuer aber müssen Sie Ihr Wort halten.«
»Gehn Sie wieder nach der Isle of Wight?«
»Nein, wir werden diesmal ins Gebirge gehen, nach Tirol oder ins Salzkammergut. Ich will Ihnen schon sagen. Werden Sie kommen?«
»Sie dürften jedenfalls wieder ein großes Gefolge haben?«
»Ich werde mich für keinen kümmern als für Sie, Georg.«
»Auch wenn Willy Eißler sich zufällig in Ihrer Nähe aufhalten sollte?«
»O«, sagte sie mit einem verworfenen Lächeln und drückte das Feuer ihrer Zigarette gewaltsam in der gläsernen Aschenschale aus.
Sie redeten weiter. Es war eines jener Gespräche, wie sie es in den letzten Jahren so oft geführt hatten. Scherzend und leicht fing es an und glühte am Ende von zärtlichen Lügen, die einen Augenblick lang Wahrheit waren. Georg war wieder einmal berückt von Sissy.
»Am liebsten möcht ich mit Ihnen eine Reise machen«, flüsterte er ganz nah bei ihr.
Sie nickte nur, ihr linker Arm lag auf der breiten Lehne des Diwans. »Wenn man könnte, wie man wollte«, sagte sie und hatte einen Blick, der von hundert Männern träumte.
Er beugte sich über ihren zitternden Arm, redete weiter und
Sissy bebte. Das Wort Nächte jagte ihr Schauer durchs Blut.
Anna erschien in der Tür, gab Georg mit dem Blick ein Zeichen und verschwand gleich wieder. Er lehnte sich innerlich auf, und doch war es ihm ganz recht, daß er sich gerade jetzt von Sissy verabschieden durfte. In der Tür zum Salon begegnete er Heinrich, der ihn ansprach. »Wenn Sie gehen, sagen Sie mir's bitte, ich möchte gern noch mit Ihnen reden.«
»Mit Vergnügen. Aber ich muß ... ich habe nämlich Fräulein Rosner versprochen, sie nach Hause zu begleiten. Dann komm ich gleich ins Kaffeehaus. Auf Wiedersehen also.«
Ein paar Minuten später stand er auf der Schwarzenbergbrücke. Der Himmel war voller
Sterne, die Straßen lagen weiß und still. Georg schlug den Kragen auf, obwohl es gar
nicht mehr kalt war und ging hin und her. Ob aus der Detmolder Geschichte was werden
wird? dachte er. Nun, ist es nicht Detmold, so ist es irgendeine andre Stadt.
Jedenfalls wird es nun ernst. Und vieles, vieles wird bis dahin hinter mir liegen. Er
versuchte in Ruhe zu überlegen. Wie wird das alles nur werden? Nun haben wir Ende
Dezember. Im März müßten wir fort spätestens ... Man wird uns für ein Ehepaar halten.
Ich werde Arm in Arm mit ihr spazieren gehen, in Rom, am Posilipp, in Venedig ... Es
gibt Frauen, die sehr häßlich werden in diesem Zustand ... Sie nicht, nein, sie nicht
... Immer hatte sie so was Mütterliches in ihrem Aussehen ... Im Sommer wird sie in
irgendeiner stillen Gegend wohnen, wo niemand sie kennt ... Im Thüringer Wald
vielleicht, oder am Rhein ... Wie sonderbar sie das heute sagte: das Haus, in dem das
Kind zur Welt kommen wird, das existiert schon. Ja! ... Irgendwo in der Ferne, oder
vielleicht auch ganz nah steht dieses Haus und Leute wohnen drin, die wir nie gesehen
haben. Wie seltsam ... Wann wird es zur Welt kommen? Im Spätsommer ... Anfangs
September ungefähr. In dieser Zeit werde ich am Ende schon fort sein müssen. Wie werd
ich das nur machen? ... Und heut ein Jahr ist das kleine Wesen schon vier Monate alt.
Es wird aufwachsen ... groß werden. Eines schönen Tags ist ein junger Mann da, mein
Sohn. Oder ein junges Mädchen. Ein schönes Mädchen von siebzehn Jahren, meine Tochter
... Dann bin ich vierundvierzig ... Mit sechsundvierzig kann ich Großvater
Von der Heugasse her kam ein Wagen, jemand beugte sich aus dem Fenster. Unter dem weißen Shawl erkannte Georg Annas Antlitz. Er war sehr froh, stieg zu ihr ein und küßte ihr die Hand. Sie plauderten vergnügt, spotteten ein wenig über die Gesellschaft, aus der sie eben kamen, und fanden es im Grunde lächerlich, einen Abend in so leerer Weise hinzubringen. Er hielt ihre Hände in den seinen und war ergriffen von ihrer Gegenwart. Vor ihrem Hause stieg er aus und klingelte, dann trat er zu dem offenen Wagenschlag, und sie verabredeten ein Wiedersehen für den nächsten Tag. »Ich glaube, wir haben manches zu besprechen«, sagte Anna. Er nickte nur. Das Haustor wurde geöffnet, sie stieg aus dem Wagen, ließ einen innigen Blick auf Georg ruhen und verschwand im Flur.
Geliebte, dachte Georg mit einem Gefühl von Glück und Stolz. Das Leben lag vor ihm, als etwas ernst-geheimnisvolles, voll Aufgaben und Wundern.
Als er ins Kaffeehaus trat, saß Heinrich in einer Fensternische, neben ihm ein sehr junger, bartloser, grünlich blasser Mensch, den Georg schon einige Male flüchtig gesprochen hatte, in Smoking mit Samtkragen, aber mit einer Hemdbrust von zweifelhafter Reinheit. Als Georg herzutrat, sah der junge Mensch eben mit glühenden Augen von einem Heftchen auf, das er in unruhigen, nicht sehr gepflegten Händen hielt.
»O ich störe«, sagte Georg.
»Durchaus nicht«, erwiderte der junge Mann mit irrsinnigem Lachen. »Je mehr Publikum, je lieber.«
»Herr Winternitz«, erklärte Heinrich, während er Georg die Hand reichte, »liest mir eben einen Gedichtenzyklus vor. Wir werden's vielleicht für diesmal unterbrechen.«
Georg, von dem enttäuschten Blick des jungen Mannes ein wenig gerührt, behauptete, daß er mit Vergnügen zuhören möchte, wenn es gestattet sei.
»Es dauert auch nicht mehr lange«, erklärte Winternitz dankbar. »Nur schade, daß Sie den Anfang versäumt haben. Ich könnte ...«
»Wie, das haben Sie nicht bemerkt?« rief Winternitz und lachte wieder irrsinnig.
»Ach so«, sagte Heinrich, »das ist immer dieselbe Frauensperson, von der Ihre Gedichte handeln? Ich glaubte, es sei immer eine andere.«
»Natürlich ist es immer dieselbe. Das ist ja das Charakteristische, daß sie immer wie eine neue Person wirkt.«
Herr Winternitz las leise, aber eindringlich, wie innerlich verzehrt. Aus seinem Zyklus ergab sich, daß er geliebt worden war, wie nie ein Mensch vor ihm, aber auch betrogen wie noch keiner, was gewissermaßen metaphysischen Ursachen und keineswegs Mängeln seiner Persönlichkeit zuzuschreiben war. Im letzten Gedicht aber erwies er sich als völlig befreit von seiner Leidenschaft und erklärte sich bereit von nun an alle Freuden zu genießen, die die Welt ihm bieten mochte. Dieses Gedicht hatte vier Strophen, der letzte Vers jeder Strophe begann mit einem »Hei«, und es schloß mit dem Ausruf: »Hei, so jag ich durch die Welt.«
Georg mußte sich gestehen, daß ihm die Vorlesung einen gewissen Eindruck gemacht hatte, und als Winternitz das Heft vor sich hinlegend, mit übergroßen Augen um sich schaute, nickte Georg beifällig und sagte: »Sehr schön.«
Winternitz sah erwartungsvoll auf Heinrich, der ein paar Sekunden schwieg und endlich bemerkte: »Es ist im ganzen sehr interessant ... aber warum sagen Sie ›hei‹, wenn ich fragen darf? Es glaubt's Ihnen ja doch niemand.«
»Wieso?« rief Winternitz.
»Fragen Sie sich doch nur selber aufs Gewissen, ob dieses ›hei‹ ehrlich empfunden ist. Alles übrige, was Sie mir da vorgelesen haben, glaub ich Ihnen. Das heißt, ich glaub es Ihnen in höherm Sinn, obzwar kein Wort davon wahr ist. Ich glaube Ihnen, daß Sie ein fünfzehnjähriges Mädchen verführen, daß Sie sich benehmen wie ein ausgepichter Don Juan, daß Sie das arme Geschöpf in der furchtbarsten Weise verderben, daß es Sie mit einem, ... was war er nur ...«
»Ein Clown natürlich«, rief Winternitz mit wahnwitzigem Lachen.
»Daß es Sie mit einem Clown betrügt, daß Sie durch dieses Geschöpf in immer dunklere
Abenteuer geraten, daß Sie die Geliebte, ja sich selber umbringen wollen, daß Ihnen
die Geschichte schließlich egal wird, daß Sie durch die Welt reisen, oder sogar
Winternitz verteidigte sich. Er beschwor, daß dieses »hei« aus seinem innersten Wesen hervorgegangen wäre, zum mindesten aus einem gewissen Element seines innersten Wesens. Auf weitere Einwände Heinrichs zog er sich allmählich zurück und erklärte endlich, daß er sich irgendeinmal bis zu jener innern Freiheit durchzuringen hoffe, die ihm gestatten würde »hei« zu rufen.
»Niemals wird diese Zeit kommen«, entgegnete Heinrich bestimmt. »Sie werden vielleicht einmal bis zum epischen oder dramatischen ›hei‹ kommen, das lyrisch subjektive ›hei‹ bleibt Ihnen, bleibt unsereinem, mein lieber Winternitz, doch bis in alle Ewigkeit versagt.«
Winternitz versprach das letzte Gedicht zu ändern, sich überhaupt weiter zu entwickeln und an seiner innern Reinigung zu arbeiten. Er stand auf, wobei seine gestärkte Hemdbrust knackte und ein Knopf aufsprang, reichte Heinrich und Georg eine etwas feuchte Hand und begab sich in den Hintergrund an den Tisch der Literaten. Georg äußerte sich vorsichtig anerkennend zu Heinrich über die Gedichte, die er gehört hatte.
»Er ist mir noch der liebste von der ganzen Gesellschaft, persönlich wenigstens«, sagte Heinrich. »Er weiß doch wenigstens innerlich eine gewisse Distanz zu wahren. Ja. Sie brauchen mich nicht gleich wieder anzusehen, als wenn Sie mich auf einem Anfall von Größenwahn ertappten. Aber ich kann Sie versichern, Georg, von der Sorte Leute«, er streifte den Tisch drüben mit einem flüchtigen Blick, »denen immer ein ›ä soi‹ auf den Lippen schwebt, hab ich nachgerade genug.«
»Was schwebt ihnen auf den Lippen?«
Heinrich lachte. »Sie kennen doch die Geschichte von dem polnischen Juden, der mit einem Unbekannten im Eisenbahnkupee sitzt, sehr manierlich bis er durch irgendeine Bemerkung des andern darauf kommt, daß der auch ein Jude ist, worauf er sofort mit einem erlösten ›ä soi‹ die Beine auf den Sitz gegenüber ausstreckt.«
»Sehr gut«, sagte Georg.
»Mehr als das«, ergänzte Heinrich streng. »Tief. Tief wie so viele jüdische
Anekdoten. Sie schließt einen Blick auf in die Tragikomödie des heutigen Judentums.
Sie drückt die ewige Wahrheit aus, daß ein Jude vor dem andern nie wirklichen Respekt
»Wissen Sie, was ich finde?« bemerkte Georg, »daß Sie ein ärgerer Antisemit sind, als die meisten Christen, die ich kenne.«
»Glauben Sie?« Er lachte: »Ein richtiger wohl nicht. Ein richtiger ist ja nur der,
der sich im Grunde über die guten Eigenschaften der Juden ärgert und alles dazu tut,
um ihre schlechten weiter zu entwickeln. Aber in gewissem Sinne haben Sie schon
recht. Ich gestatte mir ja schließlich auch Antiarier zu sein. Jede Rasse als solche
ist natürlich widerwärtig. Nur der einzelne vermag es zuweilen, durch persönliche
Vorzüge mit den Widerlichkeiten seiner Rasse zu versöhnen. Aber daß ich den Fehlern
der Juden gegenüber besonders empfindlich bin, das will ich gar nicht leugnen.
Wahrscheinlich liegt es nur daran, daß ich, wir alle, auch wir Juden mein ich, zu
dieser Empfindlichkeit systematisch herangezogen worden sind. Von Jugend auf werden
wir darauf hingehetzt gerade jüdische Eigenschaften als besonders lächerlich oder
widerwärtig zu empfinden, was hinsichtlich der ebenso lächerlichen und widerwärtigen
Eigenheiten der andern eben nicht der Fall ist. Ich will es gar nicht verhehlen, wenn
sich ein Jude in meiner Gegenwart ungezogen oder lächerlich benimmt, befällt mich
manchmal ein so peinliches Gefühl, daß ich vergehen möchte, in die Erde sinken. Es
ist wie eine Art von Schamgefühl, das vielleicht irgendwie mit dem Schamgefühl eines
Bruders verwandt ist, vor dem sich seine Schwester entkleidet. Vielleicht ist das
Ganze auch nur Egoismus. Es erbittert einen eben, daß man immer wieder für die Fehler
von andern mit verantwortlich gemacht wird, daß man für jedes Verbrechen, für jede
Geschmacklosigkeit, für jede Unvorsichtigkeit, die sich irgendein Jude auf der Welt
zuschulden kommen läßt, mitzubüßen hat. Da wird man dann natürlich leicht ungerecht.
Aber das sind Nervositäten, Empfindlichkeiten, weiter nichts. Da besinnt man sich
auch wieder. Das kann man doch nicht Antisemitismus nennen. Aber es gibt schon Juden,
die ich wirklich hasse, als Juden hasse. Das sind die, die vor andern und manchmal
auch vor sich selber tun, als wenn sie nicht dazu gehörten. Die sich in wohlfeiler
und kriecherischer Weise bei ihren Feinden und Verächtern
»Na das darf man doch nicht so ...«
Heinrich unterbrach ihn gleich. »Man darf schon, lieber Georg. Es ist nun einmal so. Ihr versteht uns nämlich nicht. Manche haben vielleicht eine Ahnung. Aber verstehen!? Nein. Wir verstehen euch jedenfalls viel besser, als ihr uns. Wenn Sie auch den Kopf schütteln! Es ist ja nicht unser Verdienst. Wir haben es nämlich notwendiger gehabt, euch verstehen zu lernen, als ihr uns. Diese Gabe des Verstehens hat sich ja im Lauf der Zeit bei uns entwickeln müssen ... nach den Gesetzen des Daseinskampfes, wenn Sie wollen. Denn sehen Sie, um sich unter Fremden, oder wie ich schon früher sagte, in Feindesland zurechtzufinden, um gegen alle Gefahren, Tücken gerüstet zu sein, die da lauern, dazu gehört natürlich vor allem, daß man seine Feinde so gut kennen lernt als möglich ihre Tugenden und ihre Schwächen.«
»Also unter Feinden leben Sie? Unter Fremden? Dem Leo Golowski gegenüber wollten Sie das nicht zugestehen. Ich bin übrigens auch nicht seiner Ansicht, durchaus nicht. Aber was ist das für ein sonderbarer Widerspruch, daß Sie heute ...«
Ganz gequält unterbrach ihn Heinrich. »Ich sagte Ihnen ja schon, die Sache ist viel
zu kompliziert, um überhaupt erledigt zu werden. Sogar innerlich ist es nahezu
unmöglich. Und nun gar in Worten! Ja manchmal möchte man glauben, daß es gar nicht so
arg steht. Manchmal ist man ja wirklich daheim, trotz allem, fühlt sich hier so zu
Hause, ja geradezu heimatlicher, als irgendeiner von den sogenannten Eingeborenen
sich fühlen kann. Es ist offenbar so, daß durch das Bewußtsein des Verstehens das
Gefühl der Fremdheit in gewissem Sinn wieder aufgehoben wird.
Versteht er mich wirklich besser, dachte Georg, als ich ihn? Oder ist es wieder nur Größenwahn ?
Heinrich fuhr plötzlich auf, wie aus einem Traum. Er sah auf die Uhr. »Halb drei! Und morgen früh um acht geht mein Zug.«
»Wie, Sie reisen fort?«
»Ja. Darum wollt ich Sie auch noch so gern sprechen. Ich werd' Ihnen leider auf längere Zeit adieu sagen müssen. Ich fahre nach Prag. Ich bringe meinen Vater aus der Anstalt nach Hause, in seine Heimat.«
»Es geht ihm also besser?«
»Nein. Er ist nur in dem Stadium, wo er für die Umgebung ungefährlich geworden ist ... Ja, das ist auch recht rasch gekommen.«
»Und wann ungefähr denken Sie wieder zurück zu sein?«
Heinrich zuckte die Achseln. »Das läßt sich heute noch nicht sagen. Aber wie immer sich die Sache weiterentwickelt, keineswegs kann ich Mutter und Schwester jetzt allein lassen.«
Georg verspürte ein wirkliches Bedauern, Heinrichs Gesellschaft in der nächsten Zeit entbehren zu sollen. »Es wäre möglich, daß Sie mich in Wien nicht mehr antreffen, wenn Sie zurückkommen. Ich werde in diesem Frühjahr nämlich wahrscheinlich auch fortfahren.« Und er fühlte beinahe Lust, sich Heinrich anzuvertrauen.
»Sie reisen wohl in den Süden?« fragte Heinrich.
»Ja ich denke. Einmal noch meine Freiheit genießen. Ein paar Monate lang. Im nächsten Herbst fängt nämlich der Ernst des Lebens an. Ich sehe mich um eine Stellung in Deutschland um, an irgendeinem Theater.«
»Also wirklich?«
Der Kellner war an den Tisch gekommen, sie zahlten und gingen. An der Tür trafen sie mit Rapp und Gleißner zusammen. Ein paar Worte der Begrüßung wurden gewechselt.
»Was treiben Sie immer, Herr Rapp?« fragte Georg verbindlich.
Rapp wischte seinen Zwicker ab. »Immer mein altes, trauriges Handwerk. Ich bin beschäftigt, die Nichtigkeit von Nichtigkeiten nachzuweisen.«
»Wozu?« sagte Rapp und setzte den Zwicker auf. »Die beweist sich selbst im Laufe der Zeit. Aber die Stümperei erlebt meist nur ihr Glück und ihren Ruhm, und wenn ihr die Welt endlich auf den Schwindel kommt, hat sie sich längst in ihr Grab oder ... in ihre vermeintliche Unsterblichkeit geflüchtet.«
Sie standen auf der Straße und schlugen alle die Rockkragen auf, da es wieder heftig zu schneien begonnen hatte. Gleißner, der vor ein paar Wochen seinen ersten, großen Theatererfolg erlebt hatte, erzählte geschwind, daß auch die heutige siebente Vorstellung seines Werkes ausverkauft gewesen war. Rapp knüpfte daran hämische Bemerkungen über die Dummheit des Publikums. Gleißner erwiderte mit Späßen über die Machtlosigkeit der Kritik gegenüber dem wahren Genie; und so spazierten sie davon, mit aufgestellten Kragen, durch den Schnee, ganz eingehüllt in den dampfenden Haß ihrer alten Freundschaft.
»Dieser Rapp hat kein Glück«, sagte Heinrich zu Georg. »Bei allen seinen Freunden, denen er vor zehn Jahren Erfolg prophezeit hat, trifft es nun wirklich ein. Er wird es auch Gleißner nicht verzeihen, daß der ihn nicht enttäuscht hat.«
»Halten Sie ihn für so neidisch?«
»Das kann man nicht einmal sagen. So einfach liegen ja die Dinge selten, daß sie mit einem Wort abzutun wären. Aber bedenken Sie doch nur, was das für ein Los ist, in dem Glauben herumzugehen, daß man das tiefste Wissen von der Welt so gut in sich trägt wie Shakespeare und dabei zu fühlen, daß man nicht einmal so viel davon auszusprechen imstande ist, als beispielsweise Herr Gleißner, obwohl man vielleicht gerade so viel wert ist oder mehr.«
Sie gingen eine Zeitlang schweigend nebeneinander her. Die Bäume auf dem Ring standen starr mit weißen Ästen. Vom Rathausturm schlug es drei. Sie überschritten die menschenleere Straße und nahmen den Weg durch den stillen Park. Rings schimmerte es fast hell vom unablässig sinkenden Schnee.
»Das neueste hab ich Ihnen übrigens noch nicht erzählt«, begann Heinrich endlich, vor sich hinschauend und in trockenem Ton.
»Was denn?«
»Anonyme Briefe? Welchen Inhalts?«
»Nun, Sie können sich's wohl denken.«
»Ach so.« Es war Georg klar, daß es sich nur um die Schauspielerin handeln konnte. Aus der fremden Stadt, wo Heinrich die Geliebte in einem neuen Stück die Rolle eines verdorbenen Geschöpfes mit einer ihm unerträglichen Naturwahrheit hatte spielen gesehen, war er in bittereren Qualen zurückgekehrt, als je. Georg wußte, daß seither Briefe voll Zärtlichkeit und Hohn, voll Groll und Verzeihung, peinvoll zerrüttete und mühsam beruhigte, zwischen ihnen hin und her gingen.
»Seit acht Tagen etwa«, erzählte Heinrich, »kommen diese angenehmen Sendungen regelmäßig jeden Morgen. Nicht sehr angenehm, ich versichere Sie!«
»Ach Gott, was liegt Ihnen denn dran. Sie wissen ja selbst, in anonymen Briefen steht nie die Wahrheit.«
»Im Gegenteil, lieber Georg, immer.«
»Aber!«
»Die höhere Wahrheit gewissermaßen enthalten solche Briefe. Die große Wahrheit der Möglichkeiten. Die Menschen haben im allgemeinen nicht genug Phantasie, um aus dem Nichts zu schaffen.«
»Das wäre eine schöne Auffassung! Wo käme man denn da hin? Da machen Sie den Verleumdern aller Art die Sache doch etwas zu bequem.«
»Warum sagen Sie Verleumder? Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, daß in den anonymen Briefen, die ich erhalte, Verleumdungen enthalten sind. Vielleicht Übertreibungen, Ausschmückungen, Ungenauigkeiten ...«
»Lügen ...«
»Nein, es werden wohl nicht Lügen sein. Einige wohl. Aber wie soll man Wahrheit und Lüge auseinanderhalten in solch einem Fall?«
»Dafür gibt es doch ein höchst einfaches Mittel. Fahren Sie hin.«
»Ich soll hinfahren?«
»Natürlich sollten Sie das. An Ort und Stelle müßten Sie doch der Wahrheit sofort auf den Grund kommen.«
»Es wäre immerhin möglich.«
Sie wanderten unter Bogengängen, auf feuchtem Stein. Ihre Stimmen und Schritte
hallten. Georg begann von neuem. »Statt
»Ja, das richtigste wäre es wohl.«
»Nun, warum tun Sie es also nicht?«
Heinrich blieb stehen, und mit zusammengepreßten Zähnen stieß er hervor: »Sagen Sie, lieber Georg, sollten Sie wirklich noch nicht bemerkt haben, daß ich feig bin?«
»Ach das nennt man doch nicht feig.«
»Nennen Sie's, wie Sie wollen. Worte stimmen ja nie ganz je präziser sie sich gebärden, umso weniger. Ich weiß, wie ich bin. Nicht um die Welt fahr ich hin. Lächerlich auch noch? Nein, nein, nein ...«
»Also was werden Sie tun?«
Heinrich zuckte die Achseln, als ginge ihn die Sache doch eigentlich nichts an.
Etwas geärgert, fragte Georg wieder: »Wenn Sie mir eine Bemerkung erlauben, was sagt denn die ... Hauptbeteiligte?«
»Die Hauptbeteiligte, wie Sie sie mit infernalischem, aber unbewußtem Witz nennen, weiß vorläufig nichts davon, daß ich anonyme Briefe bekomme.«
»Haben Sie die Korrespondenz mit ihr abgebrochen?«
»Was fällt Ihnen ein? Wir schreiben uns täglich, nach wie vor; sie mir die zärtlichsten und verlogensten Briefe, ich ihr die gemeinsten, die Sie sich vorstellen können, unaufrichtig, hinterhältig, marternd bis aufs Blut.«
»Hören Sie, Heinrich, Sie sind wahrhaftig kein sehr edler Charakter.«
Heinrich lachte laut auf. »Nein, edel bin ich nicht, dazu bin ich offenbar nicht auf die Welt gekommen.«
»Und wenn man bedenkt, daß es am Ende lauter Verleumdungen sind!« Georg, für seinen
Teil, zweifelte natürlich nicht, daß die anonymen Briefe die Wahrheit enthielten.
Trotzdem wünschte er ehrlich, daß Heinrich an Ort und Stelle reiste, sich selbst
überzeugte, irgend etwas unternähme, jemanden ohrfeigte oder niederschösse. Er
stellte sich Felician in einem ähnlichen Falle vor, oder Stanzides, oder Willy
Eißler. Alle hätten sich besser benommen, oder wenigstens anders, und gewiß in einer
ihm sympathischern Art. Plötzlich fuhr ihm die Frage durch den Kopf, was er wohl
täte, wenn Anna ihn hinterginge. Anna, ihn?! ... War das überhaupt möglich? Er dachte
an den Blick von heut
»Wäre das ein besonderer Gewinn?« fragte Heinrich. »Kann man sich denn in Liebessachen mit Gewißheiten beruhigen? Höchstens mit schlimmen, denn die sind für die Dauer. Aber eine gute Gewißheit ist bestenfalls ein Rausch ... Nun grüß Sie Gott. Im Mai sehen wir uns hoffentlich wieder. Da komm ich, was immer geschehen sein mag, auf einige Zeit her, und da können wir auch über unsere famose Oper weiterreden.«
»Ja, wenn ich im Mai schon wieder in Wien bin. Es könnte sein, daß ich erst im Herbst zurückkomme.«
»Und dann gleich wieder fort in Ihren neuen Beruf?«
»Es wäre nicht unmöglich, daß es sich so fügt.« Und er sah Heinrich ins Auge mit einer Art von kindlich-trotzigem Lächeln: Ich sag dir's ja doch nicht!
Heinrich schien befremdet. »Hören Sie, Georg, da stehen wir ja vielleicht zum
letztenmal zusammen vor diesem Tor. O, ich bin fern davon, mich in Ihr Vertrauen
einzudrängen. Es wird wohl
Georg sah vor sich hin.
»Der Himmel beschütze Sie«, sagte Heinrich, als das Tor sich auftat. »Und lassen Sie gelegentlich von sich hören.«
»Gewiß«, erwiderte Georg und sah plötzlich Heinrichs Augen mit einem unerwarteten Ausdruck von Innigkeit auf sich ruhen. »Gewiß ... und Sie müssen mir auch schreiben. Jedenfalls geben Sie mir Nachricht, wie es bei Ihnen zu Hause steht und was Sie arbeiten. Überhaupt«, setzte er herzlich hinzu, »wir müssen in ununterbrochener Verbindung bleiben.«
Der Hausmeister stand da, mit gesträubtem Haar, verschlafenem und bösem Blick, in einem grünlich-braunen Schlafrock, mit Schlapfen an den nackten Füßen.
Heinrich reichte Georg ein letztes Mal die Hand. »Auf Wiedersehen, lieber Freund«, sagte er. Und dann, leiser, auf den Torwächter deutend: »Ich kann ihn nicht länger warten lassen. Wie er mich in dieser Sekunde bei sich nennt, können Sie von seiner edeln, unverfälscht einheimischen Physiognomie ohne besondere Schwierigkeiten ablesen. Adieu.«
Georg mußte lachen. Heinrich verschwand, das Tor schmetterte zu.
Georg empfand keine Spur von Schläfrigkeit und entschloß sich, zu Fuß heimwärts zu wandern. Er war in erregter, gehobener Stimmung. Den Tagen, die nun kommen sollten, sah er mit eigentümlicher Spannung entgegen. Er dachte an das morgige Wiedersehen mit Anna, an Besprechungen, die in Aussicht waren, an die Abreise, an das Haus, das schon irgendwo in der Welt stand, und das ihm in seiner Vorstellung jetzt ungefähr erschien, wie ein Haus aus einer Spielereischachtel, licht, grün, mit einem knallroten Dach und einem schwarzen Rauchfang. Und wie ein Bild, von einer Laterna magica an einen weißen Vorhang geworfen, erschien ihm seine eigene Gestalt: er sah sich auf einem Balkon sitzen, in beglückter Einsamkeit, vor einem mit Notenblättern überdeckten Tisch; Äste wiegten sich vor den Gitterstäben; ein heller Himmel ruhte über ihm, und tief unten zu seinen Füßen, in traumhaft übertriebenem Blau, lag das Meer.
Georg öffnete ganz leise die Türe zu Annas Zimmer. Sie lag noch schlafend im Bette und atmete tief und ruhig. Er begab sich aus dem leicht verdunkelten Raum wieder in sein Zimmer zurück und schloß die Türe. Dann trat er ans geöffnete Fenster und schaute hinaus. Über dem Wasser schwebte sonnenschimmernder Nebel. Die Berge drüben, mit reingezogenen Linien, schwammen in Himmelsglanz, und über den Gärten und Häusern von Lugano flimmerte das hellste Blau. Georg war wieder ganz beseligt, diese Junimorgenluft einzuatmen, die vom See die feuchte Frische und von den Platanen, Magnolien und Rosen im Hotelpark den Duft zu ihm emportrug; diese Landschaft anzuschauen, deren Frühlingsfriede ihn nun seit drei Wochen jeden Morgen wie ein neues Glück begrüßte. Rasch trank er seinen Tee aus, lief die Treppe so schnell und erwartungsvoll hinab, wie er einst als Knabe zum Spiel geeilt war, und im grauen Dufte der Frühschatten schlug er den gewohnten Weg längs des Ufers ein. Hier gedachte er seiner einsamen Morgenspaziergänge in Palermo und Taormina im vergangenen Frühjahr, die er oft auf viele Stunden ausgedehnt hatte, da Grace gern bis Mittag mit offenen Augen im Bett lag. Fast umdüstert erschien ihm in der Erinnerung jene Zeit seines Lebens, über der ein naher Abschied, wenn auch manchmal herbeigewünscht, doch wie eine trübe Wolke gelastet hatte. Diesmal schien ihm alles Schmerzliche in weiter Ferne zu liegen, und jedenfalls war es in seiner Macht, ein Ende, wenn es nicht vom Schicksal selber kam, so weit hinauszuschieben, als er wollte.
Anfang März war er mit Anna aus Wien abgereist, da ihr Zustand kaum länger zu
verbergen war. Doch schon im Januar hatte sich Georg entschlossen, mit ihrer Mutter
zu sprechen. Er hatte sich einigermaßen vorbereitet, und so vermochte er seine
Mitteilungen in ruhigen und wohlgesetzten Worten vorzubringen. Die Mutter hörte still
zu, und ihre Augen wurden groß und feucht. Anna saß auf dem Diwan mit befangenem
Lächeln und betrachtete Georg, während er sprach, mit einer Art von Neugier. Der Plan
für die folgenden Monate war entworfen. Bis zum Frühsommer wollte Georg sich mit Anna
im Auslande aufhalten, dann sollte in der Umgebung von Wien ein Landhaus gemietet
werden, so daß in der schwersten Zeit die Mutter nicht fern wäre und das Kind ohne
Schwierigkeiten in der Nähe der Stadt in Pflege gegeben
Ein paar Tage später, als er mit Felician beim schwarzen Kaffee saß, brachte ihm der
Diener eine Karte, bei deren Empfang er eine leichte Röte aufsteigen fühlte. Felician
tat, als hätte er des Bruders Verlegenheit nicht bemerkt, sagte ihm adieu und verließ
das Zimmer. In der Tür begegnete er dem alten Rosner, neigte leicht den Kopf zum
Gegengruß und sah vorüber. Georg forderte Herrn Rosner, der im Winterrock mit Hut und
Regenschirm eingetreten war, zum Sitzen auf und bot ihm eine Zigarre an. Der alte
Rosner sagte: »Ich habe eben geraucht«, was Georg irgendwie
»Vormittag hätten Sie mich nicht zu Hause gefunden, Herr Rosner«, erwiderte Georg verbindlich.
»Nun, umso besser, daß ich den Weg nicht vergeblich gemacht habe. Also meine Frau hat mir nämlich heute morgen ... berichtet ... was sich ereignet hat.« Er sah zu Boden.
»So«, sagte Georg und nagte an der Oberlippe. »Ich hatte eigentlich selbst die Absicht ... Aber wollen Sie nicht den Winterrock ablegen, es ist sehr warm im Zimmer.«
»O, danke, danke, es ist mir durchaus nicht zu warm. Nun, ich war ganz entsetzt, als meine Frau mir diese Mitteilung machte. Jawohl, Herr Baron ... Nie hätt ich von Anna gedacht ... niemals für möglich gehalten ... es ist ja furchtbar ...« Er sagte alles in seiner gewohnten eintönigen Weise, nur schüttelte er öfter den Kopf dabei als sonst. Georg mußte immer auf die Glatze mit dem dünnen, gelblichgrauen Haar herunterschauen und empfand nichts als eine öde Gelangweiltheit. »Furchtbar, Herr Rosner, ist die Sache wahrhaftig nicht«, sagte er endlich. »Wenn Sie wüßten, wie sehr ich ... wie innig meine Neigung zu Anna ist, so würden Sie gewiß auch fern davon sein, die Sache furchtbar zu finden. Ihre Frau Gemahlin hat Sie ja jedenfalls hinsichtlich unserer Absichten für die nächste Zeit unterrichtet. Oder irre ich mich?«
»Durchaus nicht, Herr Baron, seit heute morgen bin ich über alles orientiert. Doch kann ich nicht verschweigen, schon seit einigen Wochen merkte ich, daß etwas im Hause nicht in Ordnung wäre. Es fiel mir insbesondere auf, daß meine Frau sehr erregt und häufig geradezu dem Weinen nahe war.«
»Dem Weinen nahe? Dazu liegt wahrhaftig kein Grund vor, Herr Rosner; Anna selbst, auf die es doch schließlich vor allem ankommt, befindet sich sehr wohl, hat ihre gewohnte Heiterkeit ...«
»Ja, Anna ist allerdings in guter Stimmung und dies, um die Wahrheit zu sagen, bildet
gewissermaßen meinen Trost. Aber im übrigen kann ich Ihnen nicht schildern, Herr
Baron, wie schwer getroffen ... wie, ich möchte sagen ... wie aus allen Himmeln
»Ich bin wirklich sehr bekümmert«, sagte Georg, »wenn Sie der Angelegenheit in dieser Weise gegenüberstehen, trotzdem Ihnen doch Ihre Frau Gemahlin jedenfalls alles auseinandergesetzt hat, und die Maßnahmen, die wir für die nächste Zeit getroffen haben, wohl auch Ihre Zustimmung finden dürften. Von einer ferneren Zeit, einer hoffentlich nicht allzufernen, will ich heute lieber noch nicht reden, weil mir Phrasen jeder Art ziemlich zuwider sind. Aber Sie können versichert sein, Herr Rosner, daß ich gewiß nicht vergessen werde, was ich einem Wesen wie Anna ... Ja, was ich mir selber schuldig bin.« Er schluckte.
Soweit er zurückdachte, gab es keinen Moment in seinem Leben, in dem er sich selbst
so unsympathisch gewesen war. Und nun, wie in Gesprächen von vollkommener
Aussichtslosigkeit nicht anders möglich, wiederholte jeder einigemale dasselbe, bis
Herr Rosner sich endlich entschuldigte gestört zu haben und sich von Georg
verabschiedete, der ihn bis zur Stiege hinausbegleitete. Georg behielt es einige Tage
lang nach diesem Besuche wie einen unangenehmen Nachgeschmack in der Seele. Jetzt
fehlt nur noch der Bruder, dachte er geärgert und stellte sich unwillkürlich eine
Auseinandersetzung vor, in deren Verlauf sich der junge Mann als Rächer der Hausehre
aufzuspielen suchte und Georg ihn mit außerordentlich treffenden Worten in seine
Schranken verwies. Immerhin fühlte sich Georg, nachdem die Unterredung mit den Eltern
Annas überstanden war, wie befreit. Und über den Stunden, die er mit der Geliebten
allein in dem friedlichen Zimmer, der Kirche gegenüber verbrachte, lag ein eigenes
Gefühl von Behaglichkeit und Sicherheit. Zuweilen schien es ihnen beiden, als stünde
die Zeit stille. Wohl brachte Georg zu den Zusammenkünften Reisehandbücher, den
Burckhardtschen Cicerone, sogar Fahrpläne mit, und stellte gemeinschaftlich mit Anna
allerlei Routen zusammen, aber eigentlich dachte er nicht ernstlich daran, daß all
das einmal wahr werden sollte. Was jedoch das Haus anbelangte, in dem das Kind
geboren werden sollte, so waren sie beide von der Notwendigkeit durchdrungen, daß es
gefunden und gemietet sein mußte, ehe sie Wien verließen. Einmal sah Anna in der
Zeitung, die sie sorgfältig daraufhin durchzulesen pflegte, ein Forsthaus
angekündigt, hart am Walde, unweit einer Bahnstation, die von Wien in eineinhalb
Stunden zu erreichen war. Eines Morgens fuhren sie beide an den bezeichneten Ort
Einmal, an einem mitten in den Winter verirrten Frühlingstag, spazierte Georg durch einen der kleinen, ganz nahe der Stadt gelegenen Orte, die er besonders liebte, wo dorfmäßige Baulichkeiten, bescheidene Landhäuser und elegante Villen sich aneinanderreihten; hatte so ziemlich vergessen, wie ihm das manchmal geschah, warum er hergefahren war, und dachte eben mit Ergriffenheit daran, daß auf den gleichen Wegen wie er vor manchen Jahren Beethoven und Schubert gewandelt waren, als ihm unvermutet Nürnberger entgegentrat. Sie begrüßten einander, lobten den schönen Tag, der so weithinaus ins Freie lockte, und bedauerten höflich, daß man einander so selten begegne, seit Bermann Wien verlassen hatte.
»Haben Sie schon lange nichts von ihm gehört?« fragte Georg.
»Seit er fort ist«, erwiderte Nürnberger, »habe ich nur eine Karte von ihm erhalten. Es ist wohl anzunehmen, daß er mit Ihnen in regerer Korrespondenz steht, als mit mir.«
»Warum ist es anzunehmen?« fragte Georg, durch Nürnbergers Ton wie manchmal etwas geärgert.
»Nun, zum mindesten haben Sie das eine vor mir voraus, den neuern Bekannten für ihn zu bedeuten, ihm also für seine psychologischen Interessen ein anregenderes Problem zu bieten, als ich.«
Aus diesen mit dem üblichen Spott gebrachten Worten hörte Georg ein gewisses Verletztsein heraus, das er übrigens begriff. Denn tatsächlich hatte sich Heinrich in der letzten Zeit um Nürnberger, mit dem er früher sehr viel verkehrt hatte, wenig mehr gekümmert, wie es überhaupt seine Art war, Menschen an sich zu ziehen und mit der größten Rücksichtslosigkeit wieder fallen zu lassen, je nachdem ihr Wesen seiner Stimmung gerade gemäß war oder nicht.
»Ich bin trotzdem nicht viel besser dran als Sie«, sagte Georg.
»So wird's jetzt wohl mit dem bedauernswerten, alten Mann bald zu Ende sein.«
»Wer weiß. Nach dem, was mir Bermann schreibt, kann es auch noch Monate dauern.«
Nürnberger schüttelte ernst den Kopf.
»Ja«, sagte Georg leichthin, »in solchen Fällen sollte es wirklich den Ärzten gestattet sein ... die Sache abzukürzen.«
»Da haben Sie vielleicht recht«, antwortete Nürnberger. »Aber wer weiß, ob nicht unser Freund Heinrich, so sehr es ihn im Arbeiten und vielleicht sogar in manchem andern stören mag, seinen Vater unrettbar hinsiechen zu sehen, wer weiß, ob er nicht trotzdem dem Vorschlag, diese hoffnungslose Sache durch eine Morphiuminjektion endgültig zu erledigen, ablehnend gegenüber stünde.«
Wieder fühlte sich Georg durch den höhnisch-bitteren Ton Nürnbergers abgestoßen. Und dennoch, in der Erinnerung an die Stunde, da er Heinrich von ein paar unklaren Worten im Brief einer Geliebten heftiger bewegt gesehen hatte, als von dem Wahnsinn seines Vaters, konnte er sich dem Eindruck nicht verschließen, daß Nürnberger den gemeinsamen Freund richtig beurteilte ... »Haben Sie den alten Bermann gekannt?« fragte er.
»Persönlich nicht. Aber ich erinnere mich noch der Zeit, da sein Name oft in den Blättern genannt wurde, und auch mancher sehr gesinnungstüchtigen Reden, die er im Abgeordnetenhaus gehalten hat. Doch ich halte Sie auf, lieber Baron, grüß Sie Gott. Wir sehen uns wohl dieser Tage einmal im Kaffeehaus oder bei Ehrenbergs.«
»Sie halten mich durchaus nicht auf«, erwiderte Georg mit absichtlicher Liebenswürdigkeit. »Ich bummle und benütze die Gelegenheit mir Sommerwohnungen anzuschauen.«
»So, wollen Sie heuer in der Nähe Wiens auf dem Lande wohnen?«
»Ja, eine Zeitlang wahrscheinlich. Und außerdem hat mich eine bekannte Familie gebeten, wenn der Zufall mich bei diesem Anlaß etwas finden ließe ...« Er wurde ein wenig rot, wie immer, wenn er nicht ganz bei der Wahrheit blieb.
Nürnberger bemerkte es und sagte harmlos: »Ich bin eben an einigen Villen vorbeigegangen, die zu vermieten sind. Sehen Sie zum Beispiel dort diese weiße, mit der breiten Terrasse?«
Der Garten, den sie betraten, stieg schmal und lang nach aufwärts und erinnerte Nürnberger an einen andern, in dem er als Kind gespielt hatte. »Vielleicht ist es sogar derselbe«, sagte er. »Wir haben nämlich durch Jahre hindurch in Grinzing oder Heiligenstadt auf dem Lande gewohnt.«
Dieses »wir« berührte Georg ganz eigen. Er konnte sich kaum vorstellen, daß Nürnberger auch einmal ganz jung gewesen war, als ein Sohn mit Vater und Mutter, als ein Bruder mit Schwestern gelebt hatte, und er empfand mit einemmal die ganze Existenz dieses Mannes als etwas Seltsames und Schweres.
Auf der Höhe des Gartens, von einer offenen Laube, gab es einen wunderhübschen Blick auf die Stadt, an dem sie sich eine Weile erfreuten. Dann gingen sie langsam wieder hinab, von der Hausmeistersfrau begleitet, die ein kleines Kind, in einen grauen Plaid gewickelt, auf dem Arme trug. Nun sahen sie sich die Wohnung an; niedrige, muffige Zimmer, mit verschlissenen billigen Teppichen auf den Fußböden, schmalen Holzbetten, zerbrochenen oder blinden Spiegeln. »Im Frühjahr wird alles neu hergerichtet«, erklärte die Hausmeisterin, »da schaut's dann sehr freundlich aus.« Das kleine Kind streckte plötzlich die Händchen nach Georg aus, als wenn es von ihm auf den Arm genommen werden wollte. Georg war ein wenig gerührt und lächelte verlegen.
Während er mit Nürnberger auf der Plattform der Tramway in die Stadt fuhr und mit ihm plauderte, hatte er die Empfindung, daß er ihm bei den vielen früheren Gelegenheiten ihres Zusammenseins nicht so nahe gekommen war, als während dieser hellen Wintersonnenstunde auf dem Lande. Beim Abschied ergab es sich ganz ungezwungen, daß sie sich für einen der nächsten Tage zu einem neuen Spaziergang verabredeten, und so kam es, daß Georg bei seiner weitern Wohnungssuche in der Umgegend Wiens etliche Male von Nürnberger begleitet wurde. Dabei wurde immer die Fiktion gewahrt, als suchte Georg für die befreundete Familie, als glaubte Nürnberger daran, und als glaubte Georg, daß Nürnberger daran glaubte.
Auf diesen Wanderungen kam Nürnberger manchmal dazu, von seiner Jugend zu sprechen,
von den Eltern, die er sehr früh verloren hatte, von einer Schwester, die jung
gestorben und von seinem ältern Bruder, dem einzigen seiner Verwandten, der
An einem nebligen Februartag auf einer Bahnstation, während sie, den Zug nach Wien
erwartend, auf dem Perron miteinander hin und her spazierten, da war es, daß
Nürnberger Georg die Geschichte dieser Schwester erzählte, die schon als Kind von
einer ungeheuern Leidenschaft fürs Theater wie besessen, mit sechzehn Jahren in einem
kindisch-romantischen Drang, ohne Abschied das Haus verlassen hatte. Durch zehn Jahre
war sie nun von Stadt zu Stadt, von Bühne zu Bühne gewandert, immer nur in geringem
Stellungen beschäftigt, da weder ihr Talent noch ihre Schönheit für den gewählten
Beruf auszureichen schienen; aber immer mit gleicher Begeisterung, immer mit gleicher
Zukunftsgewißheit, trotz der Enttäuschungen, die sie erlebte, und des Jammers, den
sie sah. In den Ferien erschien sie zuweilen bei den Brüdern, die damals noch
zusammen wohnten, auf Wochen, manchmal nur auf Tage, erzählte von den Schmieren, auf
denen sie gemimt, als wären es große Theater; von ihren spärlichen Erfolgen wie von
Triumphen, die sie errungen; von den armseligen Komödianten, an deren Seite sie
gewirkt, wie von großen Künstlern, von den kleinen Intrigen, die sich in ihrer Nähe
abgespielt, wie von gewaltigen Tragödien der Leidenschaft. Und statt allmählich inne
zu werden, in welch einer kläglichen Welt als eine der Bedauernswertesten sie
dahinlebte, spann sie von Jahr zu Jahr sich in goldenere Träume ein. Das ging so
lang,
»Warum denn?« fragte Georg, dem dieser Abschluß so gut gefiel, daß er sich ihn nicht verderben lassen wollte. Und er bemühte sich, Nürnberger, der es lächelnd anhörte, zu überzeugen, daß der sich nicht geirrt haben könnte und daß mit dem seltsamen Mädchen, das in Cadenabbia begraben lag, eine große Schauspielerin dahingegangen war ...
Das Landhaus, das Georg suchte, fand er auch auf seinen Wanderungen mit Nürnberger
nicht; ja, von einem Mal zum andern, schien die Entdeckung schwieriger zu werden.
Nürnberger spottete wohl zuweilen über die schwer erfüllbaren Ansprüche Georgs, der
nach einer Villa zu suchen schien, an der vorn die
Ein paar Tage darauf folgte Georg der Einladung des Arztes. Die Ordination war eben
zu Ende. Doktor Stauber empfing ihn mit der vorausgesehenen Freundlichkeit, schien
die ganze Angelegenheit so einwandfrei und natürlich als möglich zu finden und sprach
von Anna nie anders als von der jungen Frau, was Georg eigentümlich, aber nicht
unangenehm berührte. Als die sachlichen Erörterungen abgeschlossen waren, erkundigte
sich der Arzt nach dem Ziel der Reise. Georg hatte noch kein Programm entworfen, nur
so viel stand fest, daß das Frühjahr im Süden, wahrscheinlich in Italien verbracht
werden sollte. Doktor Stauber nahm Anlaß von seinem letzten Aufenthalt in Rom zu
erzählen, der zehn Jahre zurücklag. Er war damals, wie schon früher einmal, mit dem
Leiter der Ausgrabungen in persönlichem Verkehr gestanden und sprach zu Georg in fast
begeistertem Ton von den neuesten Entdeckungen auf dem Palatin, über den er als
junger Mann selbst Studien gepflogen und in den Heften für Altertumsforschung
veröffentlicht hatte. Dann zeigte er Georg nicht ohne Stolz seine Bibliothek, die in
eine medizinische und in eine kunsthistorische geschieden war, und trug ihm leihweise
einige seltenere Bücher, eines aus dem Jahre 1834 über die vatikanischen Sammlungen
und eine Geschichte Siziliens an. Georg fühlte sich höchst angeregt, während ihm so
deutlich zum Bewußtsein kam, wie reiche Tage ihm bevorstanden. Eine Art von Heimweh
nach wohlbekannten und lang entbehrten Gegenden überkam ihn, halbvergessene Bilder
tauchten wieder in ihm auf: die Pyramide des Cestius stand am Horizont, in den
scharfen Umrissen, wie sie ihm erschienen, da er als Knabe mit dem Prinzen von
Makedonien in die abendliche Stadt zurückgeritten war; die dämmrige
»Ich weiß eigentlich nicht«, erwiderte Georg kühl, »was Sie veranlaßt, daran zu zweifeln, Herr Doktor.«
»Hab' ich etwas von Zweifeln gesagt?« erwiderte Stauber gutmütig. »Aber schließlich, es soll schon dagewesen sein, daß ein junger Mann, der allerlei erlebt hat, so ein Opfer nicht genügend würdigt. Es bleibt ja doch ein Opfer, lieber Baron. Wir können noch so erhaben sein über alle Vorurteile eine Kleinigkeit ist es heutzutage noch immer nicht, wenn sich ein junges Mädel aus guter Familie zu so was entschließt. Und ich wills Ihnen nicht verhehlen Annerl hab ichs natürlich nicht merken lassen es hat mir doch einen leisen Ruck gegeben, wie sie neulich bei mir gewesen ist und mir die Sache erzählt hat.«
»Entschuldigen Sie, Herr Doktor«, erwiderte Georg geärgert aber höflich, »wenn es Ihnen einen Ruck gegeben hat, so beweist das doch einiges gegen Ihr Erhabensein über Vorurteile ...«
»Da haben Sie recht«, sagte Stauber lächelnd. »Aber vielleicht sehen Sie mir diese
Rückständigkeit nach, wenn Sie bedenken, daß ich etwas älter bin als Sie und aus
einer andern Zeit herkomme.
Georg streckte dem Arzt unwillkürlich die Hand entgegen. Das Unerwartete dieser plötzlichen Mahnung an den geliebten Toten ließ eine so heftige Sehnsucht in ihm aufsteigen, daß er sie nur zu lindern vermochte, indem er von dem Entschwundenen zu reden begann. Auch der Arzt wußte noch von mancher Begegnung mit dem verblichnen Baron zu erzählen, meist zufälligen, flüchtigen auf der Straße, bei Sitzungen der Akademie der Wissenschaften, in Konzerten. Wieder war einer jener Augenblicke, in dem Georg sich dem Dahingeschiedenen gegenüber seltsam schuldvoll erschien und sich im Innern zuschwor, seines Andenkens würdig zu werden.
»Grüßen Sie das Annerl von mir«, sagte der Arzt beim Abschied zu ihm, »aber von dem ›Ruck‹ erzählen Sie ihr lieber nichts. Sie ist ein sehr feinfühliges Geschöpf, das wissen Sie ja, und jetzt kommt es vor allem darauf an, ihr jede unangenehme Aufregung zu ersparen. Bedenken Sie nur, lieber Baron, es handelt sich jetzt nur um das eine, daß ein gesundes Kind auf die Welt kommt, alles übrige ... na, grüßen Sie sie schön von mir, hoffentlich sehen wir uns alle gesund im Sommer wieder.«
Georg entfernte sich mit dem erhöhten Bewußtsein seiner Verpflichtungen gegenüber dem
Wesen, das sich ihm gegeben, und jenem andern, das in wenigen Monaten zum Dasein
erwachen sollte. Er dachte zuerst daran, ein Testament zu machen und es
»So? Auf wie lange willst du denn fort?« fragte Felician.
Georg hörte im Ton dieser Worte eine gewisse Besorgnis mitklingen und fühlte sich veranlaßt hinzuzusetzen: »Es wird wohl auf Jahre hinaus die letzte größere Reise sein, die ich unternehme. Im Herbst befinde ich mich ja hoffentlich in einer festen Stellung.«
»Du bist also ganz entschlossen?«
»Ja, selbstverständlich.«
»Es freut mich sehr, Georg, aus verschiedenen Gründen, wie du dir denken kannst, daß du nun endlich ernst machen willst. Und im übrigen trifft's sich auch gut, daß nicht nur einer von uns in die Welt hinaus muß, und der andere allein zurückbleibt. Das wär doch ein biß'l traurig gewesen.«
Georg wußte wohl, daß Felician im nächsten Herbst einer auswärtigen Vertretung zugeteilt werden sollte, aber mit solcher Klarheit war ihm noch nie bewußt geworden, daß es nun in wenigen Monaten mit der langjährigen brüderlichen Gemeinschaft, mit dem Zusammenwohnen in dem alten Haus gegenüber dem Park, ja gewissermaßen mit der Jugend unwiederbringlich vorbei sein mußte. Er sah das Leben ernst, beinahe drohend vor sich liegen.
»Hast du denn schon eine Ahnung«, fragte er, »wohin sie dich schicken werden?«
»Eine gewisse Chance besteht für Athen.«
»Wär' dir das angenehm?«
»Warum nicht. Die Gesellschaft dort soll nicht uninteressant sein. Bernburg war drei Jahre lang dort, und er ist ungern fort. Und dabei haben sie ihn nach London versetzt, was doch auch nicht ohne ist.«
Sie gingen eine Weile schweigend weiter, nahmen den Weg durch den Park wie gewöhnlich. Eine Luft wie vom nahen Frühling war um sie, obwohl auf den Rasenplätzen noch schmale, weiße Schneeflecken schimmerten.
»Ja.«
»Wieder so weit nach dem Süden wie voriges Frühjahr?«
»Das weiß ich noch nicht.«
Wieder ein kurzes Schweigen.
Plötzlich aus dem Dunkel heraus die Stimme Felicians: »Hast du von Grace eigentlich seitdem etwas gehört?«
»Von Grace«, wiederholte Georg etwas verwundert, denn es war lange her, daß Felician diesen Namen nicht mehr ausgesprochen hatte. »Von Grace hab' ich nichts mehr gehört. Das war übrigens so abgemacht zwischen uns. In Genua haben wir für ewig Abschied genommen. Auch schon über ein Jahr her ...«
Auf einer Bank, ganz im Dunkeln, saß ein Herr im Pelz, mit Zylinder und weißen Handschuhen. Ah, Labinski, dachte Georg einen Moment lang; im nächsten fiel ihm natürlich ein, daß der sich erschossen hatte ... Es war nicht das erstemal, daß er ihn zu sehen glaubte. Auch im botanischen Garten zu Palermo unter einer japanischen Esche war einmal einer gesessen, bei hellichtem Tag, den Georg eine Sekunde lang für Labinski gehalten hatte. Und neulich, hinter den geschlossenen Fenstern eines Fiakers hatte Georg das Antlitz seines verstorbenen Vaters zu erkennen geglaubt.
Hinter den laublosen Ästen schimmerten Häuser her. Eines davon war das, in dem die Brüder wohnten.
Es wäre Zeit, dachte Georg, daß ich endlich auf die Angelegenheit zu reden komme. Und um rasch anzuknüpfen, bemerkte er leicht: »Ich fahr' übrigens auch heuer nicht allein nach Italien.«
»So, so«, sagte Felician und sah vor sich hin.
Im selben Moment fühlte Georg, daß er den Ton nicht richtig genommen hatte. Er besorgte, daß Felician sich etwa denken könnte: ah, nun hat er wieder ein Abenteuer mit so einer dubiosen Person. Und ernst fügte er hinzu: »Du, Felician, ich hätte was ziemlich Wichtiges mit dir zu besprechen.«
»Was Wichtiges?«
»Ja.«
»Na Georg«, sagte Felician mild und sah ihn von der Seite an. »Was gibt's denn, du heiratest doch nicht am Ende?«
»O nein«, erwiderte Georg und ärgerte sich gleich wieder, daß er diese Möglichkeit so entschieden abgelehnt hatte. »Nein, nicht um eine Heirat handelt es sich, sondern um etwas viel Wesentlicheres.«
»Nein. Noch nicht. Das ist es eben. Darum reisen wir fort.«
»So«, sagte Felician.
Sie waren aus dem Park herausgetreten. Unwillkürlich sahen sie beide zu dem Fenster ihrer Wohnung auf, von dem aus noch vor einem Jahr ihr Vater ihnen manchmal grüßend zugenickt hatte. Beide fühlten mit Wehmut, wie sie seit dem Tode des Vaters einander allmählich entglitten waren und mit leiser Angst, um wie viel weiter sie das Leben noch voneinander entfernen konnte.
»Komm zu mir ins Zimmer«, sagte Georg, als sie oben waren. »Da ist's am gemütlichsten.«
Er setzte sich auf seinen bequemen Sessel am Schreibtisch. In die Ecke des kleinen, grünen Lederdiwans, der an den Schreibtisch angerückt war, lehnte sich Felician und hörte ruhig zu. Georg nannte ihm den Namen seiner Geliebten, sprach von ihr in guten und innigen Worten und erbat sich von Felician, daß er sich der Mutter und des Kindes annähme für den Fall, daß ihm, Georg, in der nächsten Zeit etwas Menschliches zustieße. Was von seinem Vermögen noch vorhanden wäre, hinterließe er selbstverständlich dem Kind, der Mutter fiele die Nutznießung bis zu des Kindes Volljährigkeit zu. Als Georg zu Ende war, sagte Felician nach kurzem Schweigen lächelnd: »Na, du hast ja gegründete Hoffnung, von deiner Reise ebenso gesund und wohl zurückzukommen, als ich aus Afrika, und so hat unsere Besprechung wohl nur akademische Bedeutung.«
»Das hoff ich natürlich auch. Aber es ist mir jedenfalls eine Beruhigung, Felician, daß du nun eingeweiht bist und ich nach jeder Richtung hin unbesorgt sein kann.«
»Ja natürlich, das kannst du.« Er reichte dem Bruder die Hand. Dann stand er auf, ging im Zimmer auf und ab. Endlich fragte er: »Zu legitimieren denkst du deine Beziehungen nicht?«
»Vorläufig nein. Was die Zukunft bringt, kann man ja nicht wissen.«
Felician blieb stehen. »Na ja ...«
»Du wärst dafür, daß ich heirate?« rief Georg mit einigem Erstaunen aus.
»Durchaus nicht.«
»Felician, ich bitte dich, sei aufrichtig!«
»Weißt du, in solche Geschichten soll man niemandem drein reden, auch seinem Bruder nicht.«
»Ja, siehst du Georg ... du wirst mich ja nicht mißverstehen ... ich weiß natürlich, daß du nicht daran denkst, sie im Stich zu lassen, im Gegenteil, ich bin sogar überzeugt, daß du dich in jeder Beziehung viel nobler benehmen wirst, als irgendein Mensch an deiner Stelle. Aber, die Frage ist doch eigentlich die: hättest du dich in die Sache eingelassen, wenn du dir die Folgen nach allen Seiten hin überlegt hättest?«
»Ja das ist freilich schwer zu beantworten«, sagte Georg.
»Ich meine ganz einfach: Hast du die Absicht gehabt ... nicht sie zu deiner Lebensgefährtin zu machen, aber ein Kind mit ihr zu haben?«
»Gott, wer denkt daran? Wenn man es so absolut hätte vermeiden wollen .«
Felician unterbrach ihn. »Weiß sie, daß du nicht daran denkst, sie zu heiraten?«
»Na du glaubst doch nicht, ›ich hab ihr 's heiraten versprochen‹.«
»Nein. Aber das Sitzenlassen doch auch nicht.«
»Das wäre gerade so eine Unaufrichtigkeit gewesen, Felician. Es ist gekommen, wie derartige Dinge eben zu kommen pflegen, hat sich alles ganz ohne Programm entwickelt, bis auf den heutigen Tag.«
»Ja das ist recht schön. Es ist nur die Frage, ob man nicht in wichtigen Lebensdingen zu Programmen gewissermaßen verpflichtet ist.«
»Möglich ... Aber das war ja meine Sache nie, leider ...«
Felician blieb vor Georg stehen, machte ein liebes Gesicht und nickte ein paarmal. »Das ist schon wahr, Georg. Du bist doch nicht bös ... aber weil wir schon einmal davon sprechen ... ich maße mir natürlich nicht das Recht an, dir in deine Lebensführung dreinzureden ...
»Red nur, Felician ... wirklich ... es tut mir geradezu wohl ...« Er strich ihm leise über die Hand, die auf der Diwanlehne lag.
»Na ja, es ist weiter nicht viel zu sagen. Ich meine nur, daß es in allen Dingen bei
dir so ist ... so ein Mangel an Programm. Siehst du, um von einem andern wichtigen
Punkt zu reden, ich für meinen Teil bin ja überzeugt von deinem Talent und viele
andre auch. Aber du arbeitest doch eigentlich verflucht wenig,
»Gewiß nicht. Aber so wenig wie du glaubst, arbeit ich durchaus nicht, Felician. Nur ist ja das Arbeiten bei unsereinem so eine eigentümliche Geschichte. Manchmal beim Spazierengehen, ja sogar im Schlaf fällt einem allerlei ein ... Und dann im Herbst ...«
»Na ja, hoffen wir, obzwar ich fürchte, von deiner Gage wirst du anfangs nicht leben können. Und wie lange dein bissel Geld reichen wird, bei deiner Art zu leben, das ist sehr die Frage. Ich sag dir aufrichtig, wie du mir früher die Summe genannt hast, die du deinem Kind hinterlassen könntest, hab ich einen förmlichen Schrecken gekriegt.«
»Hab nur Geduld, Felician. In drei Jahren oder fünf, wenn ich meine Oper fertig hab ...«, er sagte es in selbstironisierendem Tone.
»Schreibst du wirklich an einer Oper, Georg?«
»Nächstens fang ich an.«
»Wer macht dir denn den Text?«
»Der Heinrich Bermann. Da machst du natürlich wieder ein Gesicht.«
»Lieber Georg, was deinen Verkehr anbelangt, bin ich immer weit davon entfernt gewesen, dir dreinzureden. Es ist ganz natürlich, daß du bei deiner geistigen Richtung in andre Kreise kommst als ich und mit Leuten umgehst, an denen ich vielleicht weniger Geschmack fände. Aber, wenn der Text von Herrn Bermann nur schön ist, so hast du meinen Segen ... und der Herr Bermann natürlich auch.«
»Der Text ist noch nicht fertig, nur das Szenarium.«
Felician mußte wider Willen lachen. »So siehts mit deiner Oper aus? Wenn nur das Theater schon gebaut ist, für das sie dich als Kapellmeister engagieren.«
»Na«, sagte Georg etwas beleidigt.
»Verzeih«, entgegnete Felician. »Ich zweifle wirklich nicht an deiner Zukunft. Ich möcht halt nur, daß du selber ein bißchen mehr dazu tätest. Ich wär ja so ... wirklich Georg, stolz wär ich, wenn was Großes aus dir würde. Und es liegt ja gewiß nur an dir. Der Willy Eißler, der doch ein sehr musikalischer Mensch ist, hat mir erst neulich wieder gesagt, daß er von dir mehr hält, als von den meisten jüngern Komponisten.«
»Wegen der paar Lieder, die er von mir kennt?
»Du bist ein guter Kerl, Felician. Aber du brauchst mich wirklich nicht zu ermutigen. Ich weiß schon, was in mir steckt, nur fleißiger muß ich halt sein. Und die Reise wird sehr wohltätig auf mich wirken. So auf eine Zeit aus der gewohnten Umgebung herauskommen, das tut sehr gut. Das ist diesmal was ganz anderes, als im vorigen Jahr. Es ist ja das erstemal, Felician, daß ich mit einem Wesen zusammen bin, das vollkommen auf meinem Niveau steht, das mir mehr ... das mir wahrhaftig auch eine Freundin ist. Und das Bewußtsein, daß ich ein Kind haben werde, und grad mit ihr, das ist mir, trotz aller Begleitumstände, eher angenehm.«
»Das kann ich mir schon denken«, sagte Felician und betrachtete Georg ernst und liebevoll.
Die Uhr auf dem Schreibtisch schlug zwei.
»O, schon so spät«, rief Felician. »Und morgen früh muß ich packen. Na, morgen bei Tisch können wir noch über allerlei reden. Also, grüß dich Gott Georg.«
»Gute Nacht, Felician. Ich danke dir«, setzte er bewegt hinzu.
»Wofür dankst du mir, du bist komisch Georg.« Sie reichten sich die Hände, und dann küßten sie einander, was schon seit langer Zeit nicht geschehen war. Und Georg beschloß, sein Kind, wenn es ein Knabe sein sollte, Felician zu nennen, und er freute sich der guten Vorbedeutung im Glücksklang dieses Namens.
Nach des Bruders Abreise fühlte sich Georg so verlassen, als hätte er nie einen andern Freund gehabt. Der Aufenthalt in der großen, einsamen Wohnung, wo ihm eine ähnliche Stimmung zu lasten schien, wie in der ersten Zeit nach dem Tode des Vaters, machte ihn beinahe traurig.
Die Tage, die noch bis zur Abreise verstreichen mußten, empfand er als Übergangszeit,
mit der nichts rechtes mehr anzufangen war. Die Stunden mit der Geliebten im Zimmer
der Kirche gegenüber wurden farblos und öde. Mit Anna selbst schien nun auch seelisch
eine Veränderung vorzugehen. Sie war manchmal reizbar, dann wieder schweigsam, fast
melancholisch, und oft überkam Georg im Zusammensein mit ihr eine solche Langeweile,
daß ihm vor den nächsten Monaten, in denen sie ganz aufeinander angewiesen sein
sollten, geradezu bange wurde. Wohl versprach die Reise an sich Abwechslung genug.
Aber wie sollte es in den spätern Monaten werden, die man ruhig irgendwo in
Drei Tage vor der Abreise, an einem schönen März-Nachmittag, machte Georg seinen
Abschiedsbesuch bei Ehrenbergs. Seit jenem Weihnachtsfeiertage hatte er sich nur
selten oben blicken lassen, und seine Gespräche mit Else waren seither durchaus
harmlos geblieben. Wie einem Freunde, der solche Bemerkungen nicht mehr mißverstehen
konnte, gestand sie ihm, wie sie sich daheim immer weniger wohl fühle. Insbesondre,
was Georg schon selbst manchmal beobachtet hatte, schien die Stimmung des Hauses
durch das üble Verhältnis zwischen Vater und Sohn dauernd getrübt zu sein. Wenn Oskar
in seiner nonchalant-vornehmen Haltung zur Tür hereinkam und in seinem
wienerisch-aristokratischen Ton zu reden begann, wandte sich der Vater mit Hohn ab,
oder konnte Anspielungen nicht unterdrücken, daß er von heut auf morgen der ganzen
Vornehmheit durch Entziehen oder Herabsetzen des sogenannten Gehaltes, der ja doch
nur ein Taschengeld wäre, ein Ende machen könnte. Fing hingegen der Vater, wie er es
vor Leuten und mit offenbarer Absicht am liebsten tat, im Jargon zu reden an, so biß
Oskar die Lippen aufeinander und verließ wohl auch das Zimmer. Doch kam es in der
letzten Zeit nur mehr selten vor, daß Vater und Sohn zugleich sich
Als Georg bei Ehrenbergs eintrat, lag das Zimmer fast im Dunkel. Hinter dem Klavier hervor leuchtete die marmorne Isis, und in den Erker, wo Mutter und Tochter einander gegenübersaßen, fiel das Dämmerlicht des späten Nachmittags. Zum erstenmal hatte für Georg die Erscheinung dieser zwei Frauen etwas seltsam Rührendes. Eine Ahnung tauchte in ihm auf, daß ihm dieses Bild heute vielleicht zum letztenmal vor Augen träte, und Elses Lächeln leuchtete ihm so schmerzlich süß entgegen, daß er einen Augenblick lang dachte: wäre nicht am Ende hier das Glück gewesen? ...
Nun saß er neben Frau Ehrenberg, die ruhig weiter stickte, Else gegenüber, rauchte eine Zigarette und war wie zu Hause. Er erzählte, daß er, verführt von dem lockenden Frühlingswetter, die geplante Reise früher antrete, als beabsichtigt war, und daß er sie wahrscheinlich bis in den Sommer hinein ausdehnen werde.
»Und wir wollen diesmal schon Mitte Mai nach dem Auhof«, sagte Frau Ehrenberg. »Aber heuer rechnen wir sicher darauf Sie bei uns zu sehen.«
»Wenn Sie nicht anderweitig beschäftigt sind«, setzte Else hinzu, ohne eine Miene zu verziehen.
Georg versprach im August zu kommen, auf einige Tage wenigstens.
Dann sprach man über Felician und Willy, die sich vor wenig Tagen von Biskra aus mit ihrer Gesellschaft in die Wüste begeben hatten, um zu jagen; über Demeter Stanzides, der nächstens seinen Abschied vom Militär nehmen und sich auf ein Gut in Ungarn zurückziehen wollte, und endlich über Heinrich Bermann, von dem seit Wochen niemand eine Nachricht hatte.
»Wer weiß, ob er überhaupt nach Wien zurückkommt«, sagte Else.
»Warum sollte er nicht? wie kommen Sie darauf, Fräulein Else?«
»Gott, vielleicht wird er diese Schauspielerin heiraten und mit ihr in der Welt herumziehen.«
Georg zuckte die Achseln ... Er wüßte von keiner Schauspielerin, mit der Heinrich in Verbindung stand, und erlaubte sich seinen Zweifel auszudrücken, daß Heinrich jemals heiraten werde, ob nun eine Prinzessin oder eine Zirkusreiterin.
»Es wäre schade um Bermann«, sagte Frau Ehrenberg, ohne
Else ergänzte: »Ja es ist sonderbar. Ihr seid alle in diesen Dingen entweder viel klüger oder viel dümmer, als in allen andern, obwohl man doch gerade in solchen Lebenssachen möglichst der bleiben sollte, der man für gewöhnlich ist.«
»Liebe Else«, sagte Georg obenhin, »wenn einmal Leidenschaften im Spiele sind ...«
»Ja, wenn sie im Spiele sind«, betonte Frau Ehrenberg.
»Leidenschaften!« rief Else. »Ich glaube die sind so was Seltenes, wie alles Großartige auf der Welt.«
»Was weißt du mein Kind«, sagte Frau Ehrenberg.
»In meiner Nähe habe ich wenigstens noch nichts dergleichen gesehen«, erklärte Else.
»Wer weiß, ob Sies entdecken würden«, meinte Georg, »auch wenn es einmal in Ihrer Nähe vorkäme. Von außen gesehen mag zuweilen ein Flirt und eine Liebestragödie ganz den gleichen Anblick bieten.«
»Das ist gewiß nicht wahr«, sagte Else. »Leidenschaft ist etwas, das sich unbedingt verraten muß.«
»Woher willst du denn das wissen, Else?« wandte Frau Ehrenberg ein. » Gerade Leidenschaften können sich manchmal tiefer verbergen, als irgendein kleines Gefühlchen, schon weil mehr auf dem Spiel zu stehen pflegt.«
»Ich glaube, gnädige Frau«, entgegnete Georg, »das ist sehr individuell. Es gibt eben Leute, denen alles auf der Stirn geschrieben steht, und andre, die undurchdringlich sind. Undurchdringlichkeit ist sogar gewissermaßen ein Talent wie ein anderes.«
»Man kann es auch ausbilden wie ein anderes«, sagte Else.
Das Gespräch stockte einen Augenblick, wie es leicht geschieht, wenn mit einemmal hinter einer allgemeinen Bemerkung die persönliche Nutzanwendung allzudeutlich hervorblinkt.
Frau Ehrenberg setzte neu ein: »Haben Sie was Schönes komponiert in der letzten Zeit, Georg?« fragte sie.
»Ein paar Kleinigkeiten fürs Klavier. Übrigens ist auch mein Quintett bald fertig.«
»Das Quintett fängt bald an mythisch zu werden«, sagte Else unzufrieden.
»Else«, mahnte die Mutter.
»Na ja, es wäre doch wirklich gut, wenn er fleißiger wäre.«
»Ich glaube, die Künstler haben früher viel mehr gearbeitet als jetzt.«
»Die großen«, ergänzte Georg.
»Nein, alle«, beharrte Else.
»Es ist vielleicht gut, daß Sie eine Reise machen«, sagte Frau Ehrenberg weitblickend. »Sie werden hier zu viel abgelenkt.«
»Er wird sich überall ablenken lassen«, behauptete Else streng. »Auch in Iglau, oder wo er sonst im nächsten Jahr sein wird.«
»Daran hab ich jetzt gar nicht gedacht, daß Sie fortgehen«, sagte Frau Ehrenberg und schüttelte den Kopf. »Und Ihr Bruder ist nächstes Jahr in Sofia oder Athen, und Stanzides in Ungarn ... traurig eigentlich, wie die nettesten Menschen in alle Windrichtungen auseinander stieben.«
»Wenn ich ein Mann wär«, sagte Else, »stöb ich auch.«
Georg lachte. »Sie träumen von einer Reise um die Welt in einer weißen Yacht. Madeira, Ceylon, St. Franzisko.«
»O nein, ich möchte nicht ohne Beruf sein, aber wahrscheinlich wäre ich Marineoffizier geworden.«
»Möchten Sie nicht so lieb sein«, wandte sich Frau Ehrenberg an Georg, »und uns Ihre neuen Sachen ein bissel vorspielen?«
»Ganz gern.« Er stieg vom Erker am Fenster hinab, in die Dunkelheit des Zimmers. Else erhob sich und schaltete das Oberlicht ein. Georg öffnete das Klavier, setzte sich hin und spielte seine Ballade. Else hatte auf einem Fauteuil Platz genommen, und wie sie den Arm auf die Lehne und den Kopf auf den Arm gestützt dasaß, in der Haltung einer großen Dame und mit dem schwermütigen Gesicht eines altklugen Kindes, fühlte Georg von ihrem Anblick sich wieder sonderbar gerührt. Er war heute nicht sehr befriedigt von seiner Ballade und sich wohl bewußt, daß er durch ein allzu ausdrucksvolles Spiel der Wirkung nachzuhelfen suchte.
Hofrat Wilt trat leise ein und machte ein Zeichen, man möchte sich nur nicht stören
lassen. Dann blieb er mit dem grauen, kurz gesträubten Kopfhaar, überlegen, gütig und
lang neben der Tür an der Wand gelehnt stehen, bis Georg mit übertrieben klangvollen
Akkorden den Vortrag endete. Man begrüßte einander. Wilt beglückwünschte Georg, daß
er ein freier Mann war und jetzt in den Süden reisen durfte. »Ich kann das leider
nicht«, fügte er hinzu, »und dabei hat man doch überdies zuweilen eine dunkle Ahnung,
daß in Österreich nicht das geringste sich ändern würde, selbst wenn man ein Jahr
lang sein Bureau nicht beträte.« Wie
Als Georg ging, begleitete ihn Else ins Vorzimmer. Sie hatte ihm noch ein paar Worte über seine Ballade zu sagen. Besonders der Mittelsatz hatte ihr gefallen. So innerlich glühend wäre er gewesen. Im übrigen wünschte sie ihm glückliche Reise. Er dankte ihr. »Also«, sagte sie plötzlich, während er schon den Hut in der Hand hielt, »nun heißt es wohl gewissen Träumen endgültigen Abschied geben.«
»Welchen Träumen?« fragte er befremdet.
»Den meinen selbstverständlich, die Ihnen nicht unbekannt geblieben sein dürften.«
Georg war sehr überrascht. So deutlich war sie nie gewesen. Er lächelte befangen und suchte nach einer Antwort. »Was weiß man von der Zukunft«, sagte er endlich leicht.
Sie runzelte die Stirn. »Warum sind Sie nicht wenigstens ehrlich zu mir, so wie ich zu Ihnen? Ich weiß ja, daß Sie nicht allein da hinunter reisen ... Ich weiß auch, wer Sie begleitet ... Ich weiß überhaupt alles. Gott, was hab ich denn nicht gewußt, seit wir uns kennen.«
Und Georg hörte Schmerz und Zorn im Untergrund ihrer Worte beben. Und er wußte: wenn er sie doch einmal zur Frau nähme, sie würde ihn fühlen lassen, daß sie zu lange hatte auf ihn warten müssen. Er sah vor sich hin, schwieg wie schuldbewußt und trotzig zugleich. Da lächelte Else heiter, reichte ihm die Hand und sagte nochmals: »Glückliche Reise«.
Er drückte ihr die Hand, als müßte er ihr etwas abbitten. Sie entzog sie ihm, wandte sich ab, ging ins Zimmer zurück. Er blieb noch ein paar Sekunden an der Türe stehen, dann eilte er auf die Straße.
Am Abend desselben Tages sah Georg nach vielen Wochen zum erstenmal Leo Golowski im
Kaffeehaus wieder. Er wußte von Anna, daß Leo als Freiwilliger in der letzten Zeit
unangenehme Dinge durchzumachen hatte, daß besonders jene »Bestie
»Es freut mich, daß ich Sie vor meiner Abreise noch einmal zu Gesicht bekomme«, sagte
Georg und setzte sich ihm gegenüber an den Kaffeehaustisch. »Sie freut es«, erwiderte
Leo, »daß Sie mich zufällig wieder einmal zu Gesicht kriegen, und mir war es ein
Bedürfnis, Sie noch einmal zu sehen, das ist der Unterschied.« Seine Stimme klang
noch zärtlicher als gewöhnlich. Er sah Georg ins Auge, gütig, beinahe väterlich. In
diesem Moment zweifelte Georg nicht mehr, daß Leo alles wußte, war ein paar Sekunden
so verlegen, als wenn er sich vor ihm zu verantworten hätte, ärgerte sich über seine
Verlegenheit und war Leo dankbar, daß er sie nicht zu bemerken schien. Sie sprachen
beinahe nur über Musik an diesem Abend. Leo erkundigte sich nach dem Fortgang von
Georgs Arbeiten, und im Verlaufe der Unterhaltung ergab es sich, daß Georg sich
bereit erklärte, Leo am morgigen Sonntag Nachmittag einiges aus seinen neuesten
Kompositionen vorzuspielen. Aber als sie sich voneinander verabschiedeten, hatte
Georg plötzlich das unangenehme Gefühl, als wenn er eben eine theoretische Prüfung
mit mäßigem Erfolg bestanden hätte und ihm für morgen das praktische Examen
bevorstünde. Was wollte dieser junge, weit über sein Alter sich reif gebärdende
Mensch eigentlich von ihm? Sollte Georg ihm gegenüber erweisen, daß sein Talent ihn
berechtigte, Annas Geliebter zu sein, oder der Vater ihres Kindes zu werden? Er
erwartete Leos Besuch mit innerm Widerstand. Einen Moment dachte er sogar daran, sich
verleugnen zu lassen. Aber als Leo erschienen war, so harmlos und herzlich, wie er
sich manchmal zu geben liebte, wurde Georg bald milder gestimmt. Sie tranken Tee,
rauchten Zigaretten, Georg zeigte seine Bibliothek, die Bilder, die in der Wohnung
hingen, Antiquitäten und Waffen, und die Prüfungsstimmung verschwand. Georg setzte
sich ans Klavier, spielte ein paar seiner Stücke aus früherer Zeit und die letzten,
auch die Ballade, viel besser als gestern bei Ehrenbergs, dann einige Lieder, zu
denen Leo ohne Stimme, aber mit sicherem, musikalischen Gefühl die Melodie markierte.
Endlich begann er das Quintett aus der Partitur vorzutragen, es gelang ihm nicht
recht, und Leo stellte sich mit den Noten zum Fenster hin und las sie aufmerksam.
»Eigentlich weiß man noch gar nichts«, sagte er. »Manches ist wie von
»Na, das wäre nicht viel.«
»Es ist sogar ziemlich wenig. Aber da Sie noch so wenig gearbeitet haben, beweist das auch nichts gegen Sie. Wenig gearbeitet und wenig durchfühlt.«
»Sie glauben ...« Georg zwang sich zu einem spöttischen Lächeln.
»O, erlebt wahrscheinlich sehr viel, aber gefühlt ... wissen Sie, was ich meine, Georg?«
»Ja, ich kann mirs schon denken. Aber Sie irren sich entschieden. Ich finde sogar eher, daß ich eine gewisse Neigung zur Sentimentalität habe, die ich bekämpfen muß.«
»Ja, das ist es eben. Sentimentalität ist nämlich etwas, was in einem direkten Gegensatz zum Gefühl steht, etwas, womit man sich über seine Gefühlslosigkeit, seine innere Kälte beruhigt. Sentimentalität ist Gefühl, das man sozusagen unter dem Einkaufspreis erstanden hat. Ich hasse Sentimentalität.«
»Hm, und doch glaube ich, daß Sie selbst nicht ganz frei davon sind.«
»Ich bin Jude, bei uns ist es eine Nationalkrankheit. Die Anständigen arbeiten dran, daß Grimm oder Zorn daraus werde. Bei den Deutschen ist es schlechte Gewohnheit, innere Nachlässigkeit sozusagen.«
»Also bei Ihnen zu entschuldigen, bei uns nicht?«
»Auch Krankheiten sind nicht zu entschuldigen, wenn man im vollen Bewußtsein seiner Anlage versäumt hat, sich dagegen zu wehren. Aber wir fangen an, aphoristisch zu werden, befinden uns also auf dem Wege zu Halb- oder Viertelswahrheiten. Kehren wir zu Ihrem Quintett zurück. Das Thema des Adagio ist mir das liebste daran.«
Georg nickte. »Das hab ich einmal in Palermo gehört.«
»Wie«, fragte Leo, »sollte es eine sizilianische Melodie sein?«
»Nein, aus den Wellen des Meeres ist es mir entgegengerauscht, wie ich eines Morgens
allein am Strand spazieren gegangen bin. Das Alleinsein tut meiner Produktion
überhaupt gut. Auch fremde Gegenden. Ich verspreche mir darum von meiner Reise
allerlei.« Er erzählte ihm von Heinrich Bermanns Opernstoff, der
»Wissen Sie noch nicht«, sagte Leo, »sein Vater ist gestorben.«
»Wirklich? Wann denn? Woher wissen Sies?«
»Heute früh ist es in der Zeitung gestanden.«
Sie redeten über Heinrichs Verhältnis zu dem Hingeschiedenen, und Leo sprach aus, daß es um die Welt vielleicht besser stünde, wenn die Eltern öfter von den Erfahrungen ihrer Kinder lernten, statt zu verlangen, daß diese sich ihrer Altersweisheit anbequemten. Sie kamen in ein Gespräch über die Beziehungen zwischen Vätern und Söhnen, über echte und falsche Arten von Dankbarkeit, über das Sterben von geliebten Menschen, über die Verschiedenheit von Trauer und Schmerz, über die Gefahren des Erinnerns und die Pflichten des Vergessens. Georg fühlte, daß Leo den ernstesten Dingen nachsann, sehr allein war, und es verstand, allein zu sein. Er liebte ihn beinahe, als die Tür in später Abendstunde sich hinter ihm geschlossen hatte, und der Gedanke, daß Annas erste Schwärmerei ihm gegolten, tat ihm wohl.
Noch ein paar Tage vergingen rascher als man gedacht, mit Einkäufen, Besorgungen,
Vorbereitungen aller Art. Und eines Abends fuhren Georg und Anna nacheinander, in
zwei Wagen, am Bahnhof vor und begrüßten sich gegenseitig in der Vorhalle zum Spaß
mit großer Höflichkeit, wie entfernte Bekannte, die sich zufällig begegneten. »O mein
Fräulein, was für ein glücklicher Zufall, reisen Sie vielleicht auch nach München?«
»Jawohl, Herr Baron.« »Ei, wie trifft sich das gut. Und haben Sie etwa Schlafwagen,
mein Fräulein?« »Jawohl, Herr Baron, Bett Nummer fünf.« »Nein, wie sonderbar, ich
habe Nummer sechs.« Dann gingen sie auf dem Perron hin und her. Georg war sehr gut
aufgelegt, und es freute ihn, daß Anna in ihrem englischen Kleid mit dem
schmalkrempigen Reisehut und dem blauen Schleier aussah wie eine interessante Fremde.
Sie schritten den ganzen Zug ab, bis zur Lokomotive, die außerhalb der Halle stand
und in aufgeregten Stößen hellgrauen Dampf zum dunkeln Himmel sandte. Draußen auf der
Strecke, im matten Schein, erglühten grüne und rote Laternen. Angstvolle Pfiffe kamen
von irgendwoher aus der Weite, und langsam aus dem Dunkel hervor ringelte ein Zug
sich in den Bahnhof. Ein rotes Licht schwankte zauberhaft auf der Erde hin und her,
schien meilenweit zu sein, und wie es stille
Anna stieg ins Kupee. Georg blieb noch eine Weile draußen stehen und amüsierte sich über die Reisenden, die eilig Aufgeregten, die vornehm Ruhigen und die, die die Ruhigen spielten, und über die verschiedenen Abarten der Begleiter: die Wehmütigen, die Heitern, die Gleichgültigen.
Anna beugte sich aus dem Fenster. Georg plauderte mit ihr, tat so, als dächte er gar nicht daran abzureisen, stieg im letzten Moment ein. Der Zug fuhr ab. Auf dem Bahnsteig standen Leute unbegreifliche Leute, die in Wien zurückblieben, und denen wieder all die andern unbegreiflich schienen, die nun ernstlich davonfuhren. Ein paar Taschentücher wehten, der Stationschef stand wichtig da und sandte dem Zug einen strengen Blick nach, ein Träger, in blau weiß gestreifter Leinenbluse hielt eine gelbe Tasche hoch und blickte gierig in jedes Fenster. Merkwürdig, dachte Georg beiläufig, es gibt Leute, die davonfahren und ihre gelben Taschen in Wien zurücklassen. Alles verschwand, Tücher, Tasche, Stationschef, Bahnhofsgebäude, das hell erleuchtete Signalhaus, die Gloriette, die flimmernden Lichter der Stadt, die kleinen, kahlen Gärten am Damm; und der Zug sauste weiter durch die Nacht. Georg wandte sich vom Fenster ab. Anna saß in der Ecke, hatte Hut und Schleier neben sich liegen; kleine, sanfte Tränen rannen ihr über die Wangen. »Aber«, sagte Georg, umschlang sie, küßte sie auf die Augen, auf den Mund. »Aber Anna«, wiederholte er noch zärtlicher und küßte sie wieder. »Was weinst du denn? Es wird ja so schön sein.«
»Du hasts leicht«, sagte sie, und über ihr lächelndes Antlitz flossen die Tränen weiter.
Es wurde schön. Zuerst hielten sie sich in München auf. In den hohen Sälen der
Pinakothek spazierten sie umher, standen entzückt vor alten dunkelnden Bildern,
wanderten in der Glyptothek zwischen marmornen Göttern, Königen und Helden; und wenn
Anna plötzlich ermüdet auf einem Diwan sich niederließ, fühlte sie Georgs zärtlichen
Blick über ihrem Scheitel. Sie fuhren durch den englischen Garten, in breiten Alleen,
unter noch entlaubten Bäumen, eng aneinander geschmiegt, jung und glücklich, und
glaubten gern, daß die Menschen sie für Hochzeitsreisende hielten. Und sie hatten
ihre Plätze nebeneinander in der Oper, bei
Dann kamen ein paar Tage in Städten, die er kaum oder gar nicht kannte, wo er als
Knabe nur kurze Stunden, oder noch niemals geweilt hatte. Aus einem schwülen Paduaner
Mittag traten sie in eine dämmrige Kirche und betrachteten langsam von Altar zu Altar
wandelnd, die einfältig herrlichen Bilder, auf denen Heilige ihre Wunder vollbrachten
und ihre Martyrien vollendeten. An einem trüben, regenschweren Tag fuhr sie ein
rumpelnder, trauriger Wagen an einem ziegelroten Kastell vorbei, um das in einem
breiten Graben graugrünliches Wasser stand, über einen
»E bellissima la vista di questa finestra«, sagte plötzlich der Portier hinter ihm, öffnete das Fenster; und mit einem Mal, wie an jenem längst entschwundenen Abend, tönten Menschenstimmen von unten herauf. Und im gleichen Augenblick hatte er die Stimme der Mutter im Ohr, so wie er sie damals vernommen, flehend, verengend ... »Georg ... Georg« ... und aus der dunkeln Ecke, an der Stelle, wo damals die Kissen gelegen waren, sah er etwas Bleiches sich entgegenschimmern. Er trat zum Fenster und bestätigte: »Bellissima vista«. Aber vor der schönen Aussicht lag es wie dunkle Schleier. »Mutter«, murmelte er, und noch einmal: »Mutter« ... meinte aber zu seiner eigenen Verwunderung nicht mehr die längst Begrabene, die ihn geboren; jener andern galt das Wort, die noch nicht Mutter war und die es in wenigen Monaten werden sollte ... eines Kindes Mutter, von dem er der Vater war. Und nun klang das Wort plötzlich, als tönte etwas nie Gehörtes, nie Verstandenes, als schwängen geheimnisvoll singende Glocken in Zukunftsferne mit. Und Georg schämte sich, daß er allein hier herauf gekommen war, sich gleichsam hergestohlen hatte. Nun durfte er Anna nicht einmal erzählen, daß er hier gewesen.
Am nächsten Morgen fuhren sie nach Rom. Und während Georg von Tag zu Tag sich
heimischer, genußfähiger, frischer fühlte, begann Anna immer häufiger an schwerer
Müdigkeit zu leiden. Oft blieb sie allein im Hotel zurück, während er in den
In einer dunkelblauen Maiennacht lagen sie in zwei Segeltuchstühlen auf dem Verdeck
des Schiffes, das sie nach Genua führte. Ein alter Franzose mit hellen Augen, der bei
der Abendmahlzeit ihr Gegenüber gewesen war, blieb eine Weile neben ihnen stehen und
machte sie auf die Sterne aufmerksam, die wie schwere silberne Tropfen im Unendlichen
hingen. Einzelne nannte er mit Namen, höflich und verbindlich, als fühle er sich
gedrungen, die funkelnden Himmelswanderer und das junge Ehepaar miteinander bekannt
zu machen. Dann empfahl er sich und stieg in seine Kajüte hinunter. Georg aber dachte
an seine einsame Fahrt auf gleichem Wege unter gleichem Himmel im vorigen Frühjahr,
nach seinem Abschied von Grace. Von ihr hatte er Anna erzählt, nicht so sehr aus
einem innern Bedürfnis, als um durch das Lebendigmachen einer bestimmten Gestalt und
Nennung eines bestimmten Namens seine Vergangenheit von dem rätselhaft Unheimlichen
zu befreien, in dem sie sich für Anna manchmal zu verlieren schien. Anna wußte von
Labinskis Tod, von Georgs Gespräch mit Grace an Labinskis Grab, von Georgs Aufenthalt
mit ihr in Sizilien, sogar ein Bild von Grace hatte er ihr gezeigt. Und doch, mit
leichtem Schauer gestand er sich ein, wie wenig Anna selbst von dieser Epoche seines
Daseins wußte, über die
Die Sterne glitzerten über ihnen. Annas Kopf war langsam an seine Brust gesunken, und er stützte ihn sanft mit den Händen. Nur das leise Rauschen in der Tiefe verriet, daß das Schiff sich weiterbewegte. Nun ging es immer dem Morgen entgegen, der Heimat, der Zukunft. Zu klingen und zu kreisen begann die Zeit, die so lang stumm über ihnen geruht. Georg fühlte plötzlich, daß er sein Schicksal nicht mehr in der Hand hatte. Alles ging seinen Lauf. Und nun spürte ers durch den ganzen Körper gleichsam bis in die Haare, daß das Schiff unter seinen Füßen unaufhaltsam vorwärts eilte.
In Genua blieben sie nur einen Tag. Beide sehnten sich nach Ruhe, Georg überdies auch nach seiner Arbeit. Nur noch ein paar Wochen wollten sie an einem italienischen See verweilen, und Mitte Juni nach Hause fahren. Bis dahin war wohl auch das Haus bereit, in dem Anna wohnen sollte. Frau Golowski hatte ein halbes Dutzend passende entdeckt, genaue Berichte an Anna gesandt, wartete auf die Entscheidung, suchte aber für alle Fälle noch weiter. Von Genua reisten sie nach Mailand, doch ertrugen sie das laute Leben der Stadt nicht mehr, und schon am nächsten Tag fuhren sie nach Lugano.
Längst stand Georg an der Straßenbiegung, der seine Schritte zugestrebt hatten. Eine
kurze, breite Landzunge, von niederm Gesträuch dicht bewachsen, streckte sich von
hier aus in den See, und leicht sich senkend führte ein schmaler Weg in wenig
Wie oft noch! dachte er heute unwillkürlich. Fünf oder sechs Male vielleicht und dann
zurück nach Wien. Und er fragte sich, was denn wohl geschähe, wenn sie nicht
zurückkehrten, wenn sie sich irgendwo in Italien, oder in der Schweiz häuslich
niederließen und mit dem Kind, im doppelten Frieden der Natur und der Ferne sich ein
neues Leben aufbauten. Was geschähe? ... Nichts. Kaum daß irgend jemand sich
sonderlich wundern würde. Und vermissen, mit Schmerz vermissen, als unersetzlich,
würde niemand weder ihn noch sie. In dieser Überlegung ward ihm eher leicht als
traurig zumute; nur verdroß es ihn, daß ihn manchmal doch eine Art Heimweh, ja sogar
von Sehnsucht nach einzelnen Menschen überkam. Und auch jetzt, während er die Seeluft
eintrank, sich von einem fremd-vertrauten Himmel überblauen ließ, das Vergnügen des
Entrückt- und Alleinseins genoß, klopfte ihm das Herz, wenn er an die Wälder und
Hügel um Wien, an die Ringstraße, den Klub, an sein großes Zimmer mit der Aussicht
auf den Stadtpark dachte. Und es wäre ihm ein banges Gefühl gewesen, wenn sein Kind
nicht in Wien zur Welt hätte kommen sollen. Plötzlich fiel ihm ein, daß ja heute
wieder eine Nachricht von Frau Golowski da sein müsse, so wie manche andre Nachricht
aus Wien, und so beschloß er noch vor der Rückkehr ins Hotel den Umweg über die Post
zu nehmen. Denn, wie während der ganzen Reise, ließ er sich auch hier die Briefe
nicht ins Hotel senden, weil er sich auf diese Weise freier gegenüber allen
Zufälligkeiten fühlte, die von außen kommen mochten. Man schrieb ihm nicht eben viel
aus Wien. Am meisten, bei aller Kürze, stand noch in den Briefen Heinrichs, was, wie
Georg wohl fühlte, weniger einem besonderen Mitteilungsbedürfnis des Dichters zu
danken war, als dem Umstand, daß es zu dessen Beruf gehörte, den Sätzen, die er
schrieb, Lebenshauch einzuflößen. Die Briefe Felicians waren so kühl, als hätte er
ganz jenes letzten innigeren Gespräch in Georgs Zimmer und des Bruderkusses
vergessen, mit dem sie geschieden waren ... Er mochte wohl vermuten, dachte Georg,
daß seine Briefe auch von Anna gelesen wurden, und sich nicht veranlaßt fühlen, diese
fremde Dame in seine Privatverhältnisse und Privatgefühle Einblick nehmen zu lassen.
Nürnberger hatte Georgs Kartengrüße ein paarmal kurz erwidert, und auf einen Brief
aus Rom, in dem Georg herzlich der
Sonst klang persönlich zu ihm aus der Heimat nichts herüber. Die ihm zugedachten Grüße, die Frau Rosner sich verpflichtet fühlte, den Briefen an die Tochter beizufügen, drangen nicht an sein Herz, trotzdem sie in der letzten Zeit nicht mehr an den »Herrn Baron«, sondern an »Georg« gerichtet waren. Er fühlte ja doch, daß die Eltern Annas einfach hinnahmen, was sie nicht ändern konnten, daß sie aber im Innersten gedrückt und ohne die wünschenswerte Einsicht geblieben waren.
Wie gewöhnlich nahm Georg den Rückweg nicht das Ufer entlang. Durch enge Gassen, zwischen Gartenmauern, dann unter Bogengängen, endlich über einen großen Platz, von wo der Blick auf den See wieder frei war, gelangte er vor das Postgebäude, dessen hellgelber Anstrich die Sonne blendend widerstrahlte. Eine junge Dame, die Georg schon von weitem auf dem Trottoir auf- und abgehen gesehen hatte, blieb stehen, als er näher kam. Sie war weiß gekleidet und trug einen weißen Sonnenschirm aufgespannt über einem breiten Strohhut mit rotem Band. Wie Georg schon ganz nahe war, lächelte sie, und nun sah er mit einem Mal ein wohlbekanntes Gesicht unter dem weißen, getupften Tüllschleier. »Ist es möglich, Fräulein Therese«, rief er aus und nahm die Hand, die sie ihm entgegenstreckte.
»Grüß Sie Gott Baron«, erwiderte sie harmlos, als wäre diese Begegnung das selbstverständlichste von der Welt. »Wie geht's der Anna?«
»Danke, sehr gut. Sie werden sie doch jedenfalls besuchen?«
»Wenn's erlaubt ist.«
»Das kann man eigentlich nicht sagen«, erwiderte sie und schob ihr Kinn vor, ohne daß diese Bewegung diesmal, wie sonst, ihr Antlitz verhäßlicht hätte. »Es ist eher ein Ferienausflug.« Und ihr Gesicht glänzte vor innerm Lachen, als sie Georgs Blick auf das Tor gerichtet sah, aus dem eben, in weißschwarz gestreiftem Flanellanzug, Demeter Stanzides hervortrat. Er lüftete den weichen, grauen Hut zum Gruß und reichte Georg die Hand. »Guten Morgen Baron, es freut mich Sie wiederzusehen.«
»Auch ich freu mich sehr, Herr Stanzides.«
»Kein Brief für mich?« wandte sich Therese an Demeter.
»Nein Therese, nur für mich ein paar Karten«, und er steckte sie in die Tasche.
»Seit wann sind Sie denn hier?« fragte Georg und versuchte sich möglichst wenig überrascht zu zeigen.
»Gestern Abend sind wir angekommen«, entgegnete Demeter.
»Direkt aus Wien?« fragte Georg.
»Nein, aus Mailand. Wir sind schon acht Tage auf Reisen.«
»Zuerst waren wir in Venedig, wie es üblich ist«, ergänzte Therese, zupfte lächelnd an ihrem Schleier und hing sich an Demeters Arm.
»Sie sind ja viel länger fort«, sagte Demeter, »eine Karte von Ihnen sah ich vor ein paar Wochen bei Ehrenbergs. Haus der Vettier, Pompeji.«
»Ja, ich hab eine wunderbare Reise hinter mir.«
»Nun wollen wir uns ein wenig im Ort umsehen«, sagte Therese, »und im übrigen den Baron nicht weiter aufhalten, der sich jedenfalls Briefe abholen will.«
»O das eilt nicht. Und wir sehen uns doch jedenfalls wieder?«
»Wollen Sie uns nicht das Vergnügen machen, Baron«, sagte Demeter, »heute im Europe, wo wir abgestiegen sind, mit uns zu lunchen?«
»Danke sehr, es geht leider nicht. Aber ... aber vielleicht paßt es Ihnen mit ... mit ... uns im Parkhotel zu dinieren, ja? Um halb sieben, wenn's Ihnen recht ist. Ich lasse im Garten decken unter einem wunderschönen Platanenbaum, wo wir gewöhnlich speisen.«
»Ja«, sagte Therese, »wir nehmen dankend an. Ich komme vielleicht schon eine Stunde früher, um mit Anna in Ruhe zu plaudern.«
»Also auf Wiedersehen, Baron«, sagte Demeter, und indem er seine Hand herzlich drückte, fügte er hinzu: »Bitte meinen Handkuß zu Hause.«
Therese winkte Georg vergnügt mit den Augen zu, dann schlug sie mit Demeter den Weg zum Ufer ein.
Georg schaute ihnen nach. Hätt ich sie nicht gekannt, dachte er, Demeter hätte sie mir ohne weiteres als seine Gattin, geborene Prinzessin X. vorstellen können. Wie merkwürdig! diese zwei! ... Dann trat er in die Halle, ließ sich am Schalter seine Sendung geben und sah sie flüchtig durch. Das erste, was ihm in die Augen fiel, war eine Karte von Leo Golowski. Es stand nichts drauf als: »Lassen Sie sich's wohl ergehen, lieber Georg.« Dann war eine Karte da aus dem Waldsteingarten im Prater. »Haben soeben auf den verehrten Ausreißer unsre Gläser geleert. Guido Schönstein, Ralph Skelton, die Rattenmamsell.«
Die Briefe von Felician, Frau Rosner, Heinrich wollte Georg erst zu Hause mit Anna zusammen in Ruhe lesen. Auch drängte es ihn, die Neuigkeit von der Ankunft des sonderbaren Paares Anna mitzuteilen. Er war nicht ganz ohne Unruhe. Denn Annas bürgerliche Instinkte wachten zuweilen in ganz unerwarteter Weise wieder auf. Jedenfalls beschloß Georg, ihr seine Einladung an Demeter und Therese als etwas vollkommen Selbstverständliches mitzuteilen und war bereit für den Fall, daß sie der Sache gekränkt, geärgert oder auch nur unsicher gegenüberstände, eine solche Auffassung mit Entschiedenheit abzulehnen. Er selbst freute sich auf den Abend, der ihm bevorstand, nach den vielen Wochen, die er ausschließlich in Annas Gesellschaft verbracht hatte. Beinahe spürte er ein wenig Neid auf Demeter, der sich nun auf einer so sorgenlosen Vergnügungsreise befand, in der Art wie er selbst sie im vorigen Jahr mit Grace gemacht hatte. Dazu kam, daß ihm Therese besser gefallen hatte als je. So vielen schönen Frauen er im Laufe der letzten Monate begegnet war, noch niemals, trotzdem Anna an weiblicher Anmut immer mehr verlor, war er in ernste Versuchung geraten. Heute zum erstenmal wieder fühlte er Sehnsucht nach neuen Umarmungen.
Bald sah er durch die Gitterstäbe des Balkons das hellblaue Morgenkleid Annas
schimmern. Georg pfiff, nach gewohnter Art sich anzukündigen, die ersten Takte der
Beethovenschen fünften Symphonie, und gleich erschien über dem Geländer das blasse,
sanfte Gesicht der Geliebten, und ihre großen Augen begrüßten
»Else Ehrenberg«, antwortete Anna, ohne Besinnen.
»Wie kommst du drauf? Wie sollte die hierher geraten?«
»Nun«, sagte Anna pfiffig, »man könnte dir ja nachgereist sein.«
»Man könnte, aber man ist es nicht. Also rat weiter. Dreimal darfst du.«
»Heinrich Bermann.«
»Aber keine Idee. Von dem ist übrigens ein Brief da. Also weiter.«
Sie dachte nach. »Demeter Stanzides«, sagte sie dann.
»Wie, weißt du am Ende etwas?«
»Was soll ich denn wissen? Ist er wirklich da?«
»Donnerwetter du wirst ja ganz rot, o!« Er kannte ihre Schwärmerei für Demeters melancholische Kavaliersschönheit, fühlte aber keine Spur von Eifersucht.
»Also ist es Stanzides?« fragte sie.
»Ja, allerdings ist es Stanzides.«
»Daran kann ich aber mit dem besten Willen nichts Merkwürdiges finden.«
»Das ist auch nicht merkwürdig. Aber wenn du draufkommst, mit wem er da ist ...«
»Mit Sissy Wyner.«
»Aber ...«
»Nun, ich dachte verheiratet ... das kommt ja auch vor.«
»Nein, nicht mit Sissy und nicht verheiratet, sondern mit deiner Freundin Therese und so unvermählt als möglich.«
»Na geh ...«
»Wie ich dir sage, mit Therese. Seit acht Tagen sind sie auf Reisen. Was sagst du dazu? In Venedig und Mailand waren sie. Hattest du eine Ahnung davon?«
»Nein.«
»Wirklich nicht?«
»Wirklich nicht. Du weißt doch, daß mir Therese nur einmal flüchtig geschrieben hat, und du hast ja mit bekanntem Interesse ihren Brief gelesen.«
»Gott ich hab immer gewußt, daß sie einen guten Geschmack hat.«
»Demeter auch«, rief Georg mit Überzeugung aus.
»Wahlverwandtschaften«, bemerkte Anna mit hochgezogenen Brauen und häkelte weiter.
»Und das ist nun die Mutter meines Kindes«, sagte Georg mit heiterm Kopfschütteln.
Sie sah ihn lächelnd an. »Wann kommt sie denn zu mir?«
»Nachmittag so gegen sechs, denk ich. Und ... und Stanzides kommt auch ... etwas später. Sie werden mit uns speisen. Du hast doch nichts dagegen?«
»Dagegen? Ich freu mich sehr«, erwiderte Anna einfach. Georg war angenehm berührt. Wenn Anna in ihrem Zustand Stanzides in Wien begegnet wäre! ... dachte er. Wie doch das Entrücktsein aus der gewohnten Umgebung befreit und reinigt!
»Was haben sie denn Neues erzählt?« fragte Anna.
»Wir sind kaum drei Minuten zusammen gestanden, bei der Post. Er läßt dir übrigens die Hand küssen.«
Anna antwortete nichts, und Georg schien es, als wandelten ihre Gedanken wieder auf sehr bürgerlichen Wegen.
»Bist du schon lang aufgestanden? fragte er rasch.
»Ja, ich sitze schon eine ganze Weile da auf dem Balkon. Ich hab sogar ein bissel geschlummert, die Luft hat so was Ermattendes heute, und geträumt hab ich auch.«
»Wovon hast du denn geträumt?«
»Vom Kind«, sagte sie.
»Wieder?«
Sie nickte. »Ganz dasselbe wie neulich. Hier auf dem Balkon bin ich gesessen, auch im Traum, und hab's in meinem Arm gehabt, an der Brust ...«
»Was war's denn? Ein Bub oder ein Mädel?«
»Ich weiß nicht. Ein Kind halt. So klein und so süß. Und eine Wonne war das ... Nein, ich geb's nicht her«, sagte sie dann leise mit geschlossenen Augen.
Er stand ans Geländer gelehnt und fühlte den leichten Mittagswind in seinen Haaren
streichen. »Wenn du's nicht fortgeben willst«, sagte er, »so sollst du's auch nicht
tun.« Und es fuhr ihm durch den Sinn: wär es nicht sogar das bequemste, wenn ich sie
heiratete? ... Aber irgend etwas hielt ihn zurück, es auszusprechen. Sie schwiegen
beide. Er hatte die Briefe vor sich hin auf den
Der Brief der Frau Rosner enthielt die Mitteilung, daß daheim alles wohl sei, daß man sich sehr freue, Anna bald wieder zu sehen, und daß Josef in der Administration des »Volksboten« mit fünfzig Gulden Monatsgehalt angestellt sei. Ferner wäre eine Anfrage von Frau Bittner eingelangt, wann Anna aus Dresden zurückkäme, und ob es überhaupt sicher wäre, daß sie im nächsten Herbst wieder da sei, weil man sich andernfalls doch nach einer neuen Lehrerin umsehen müßte ... Anna blieb regungslos und äußerte sich nicht.
Dann las Georg Heinrichs Brief vor. Er lautete: »Lieber Georg, ich freue mich sehr, daß Sie so bald zurück sein werden, und schreib Ihnen das lieber heute, weil ich Ihnen ja doch, wenn Sie einmal da sind, nie sagen werde, wie sehr ich mich darüber freue. Vor ein paar Tagen an der Donau, auf einer abendlich einsamen Radpartie hab ich eine wahre Sehnsucht nach Ihnen bekommen. Was übrigens diese Ufer für einen unverwischbaren Duft von Einsamkeit haben! Ich erinnere mich das schon vor fünf oder sechs Jahren einmal empfunden zu haben, an einem Sonntag, wie ich in, was man so nennt, lustiger Gesellschaft im Klosterneuburger Stiftskeller gesessen bin, in dem großen Garten, mit dem Blick auf die Berge und zu den Auen. Wie aus den Tiefen des Wassers kommt sie emporgestiegen, die Einsamkeit, die ja offenbar überhaupt etwas ganz anderes vorstellt, als man gewöhnlich meint. Keineswegs einen Gegensatz zur Geselligkeit. Ja vielleicht hat man nur unter Menschen das Recht, sich einsam zu fühlen. Nehmen Sie das als aphoristisch, lächerlich-unwahres Extrablättchen, oder legen Sie es auch als solches beiseite. Um wieder auf meine Donauuferfahrt zu kommen, gerade in jener etwas schwülen Abendstunde sind mir allerlei gute Einfälle gekommen, und ich hoffe Ihnen bald manches Sonderbare über Ägidius erzählen zu können, wie der mordlustige und traurige Jüngling nun endgültig benannt ist, über den tiefsinnig-undurchdringlichen Fürsten, über den lächerlichen Herzog Heliodor, unter welchem Namen ich Ihnen den Bräutigam der Prinzessin vorzustellen die Ehre habe, und ganz besonders über die Prinzessin selbst, die ein viel merkwürdigeres Geschöpf zu sein scheint, als ich anfangs vermutet habe.«
»Das bezieht sich auf den Operntext?« fragte Anna und ließ ihre Arbeit sinken.
»Sie sollen auch gleich erfahren, mein Lieber, daß ich in den letzten Wochen einige
vorläufig nicht besonders unsterbliche Verse zum ersten Akt verfertigt habe, die nun
bis auf weiteres, ohne Ihre Musik nämlich, in der Welt herumhüpfen, wie ungeflügelte
Engel. Der Stoff reizt mich in seltsamer Weise. Und ich bin schon selber neugierig,
worauf ich eigentlich mit ihm hinaus will. Auch allerlei anderes hab ich begonnen ...
entworfen ... bedacht. Und, kurz und frech gesagt, es ist mir, als kündigte sich eine
neue Epoche in mir an. Doch das klingt frecher, als es ist. Denn auch
Rauchfangkehrer, Salamutschimänner und Feldwebel haben ihre Epochen. Unsereiner weiß
es nur immer gleich. Was ich für sehr wahrscheinlich halte, ist, daß ich aus dem
phantastischen Element, in dem ich mich jetzt behage, sehr bald in ein höchst reales
hinab oder hinauf steigen dürfte. Was würden Sie zum Beispiel dazu sagen, wenn ich
mich in eine politische Komödie einließe? Und schon fühl ich, daß das Wort von der
Realität nicht völlig stimmt. Denn mir scheint, Politik ist das phantastischeste
Element, in dem Menschen sich überhaupt bewegen können, nur, daß sie es nicht merken
... Hier wäre die Sache vielleicht anzupacken. Dies fiel mir ein, als ich neulich
einer politischen Versammlung anwohnte, (unwahr, diese Gedanken kommen mir soeben),
jawohl einer Versammlung von Arbeitern und Arbeiterinnen in der Brigittenau, in die
ich mich an der Seite von Mademoiselle Therese Golowski verfügt hatte und in der ich
sieben Reden über das allgemeine Wahlrecht anzuhören bemüßigt war. Jeder von den
Rednern auch Therese war darunter sprach ungefähr so, als gäbe es für ihn persönlich
nichts Wichtigeres, als die Lösung dieser Frage, und ich glaube, keiner von ihnen
ahnte, daß ihm in der Tiefe der Seele die ganze Frage ungeheuer gleichgültig war.
Therese war natürlich sehr empört, als ich ihr das eröffnete, und erklärte mir, daß
ich von dem vergiftenden Skeptizismus Nürnbergers angesteckt sei, mit dem ich
überhaupt zu viel verkehre. Sie ist sehr schlecht auf ihn zu sprechen, seit er sie
vor einigen Wochen im Kaffeehaus gefragt hat, ob sie zu ihrem nächsten
Hochverratsprozeß hohe Frisur oder aufgesteckte Zöpfe tragen werde? Übrigens stimmt
es, daß ich mit Nürnberger viel zusammen bin. In schweren Stunden gibt es wohl
keinen, der einem mit mehr Güte entgegenkäme. Nur daß es manche Stunden gibt, von
deren Schwere er nichts ahnt oder nichts wissen will. Es gibt allerlei Schmerzen, von
»Was meint er denn?« unterbrach ihn Anna.
»Offenbar die Geschichte mit der Schauspielerin«, erwiderte Georg und las weiter: »Dafür ist er wieder geneigt, andere Schmerzen zu überschätzen, aber das ist wahrscheinlich meine Schuld, nicht seine. Ich muß es gestehen, dem Verlust, den ich durch den Tod meines Vaters erlitt, hat er eine Teilnahme entgegengebracht, die mich beschämt hat. Denn so furchtbar es mich getroffen hat, wir waren einander so fremd geworden, schon lange bevor der Wahnsinn über ihn hereinbrach, daß sein Tod mir gleichsam nur ein weiteres, grauenhafteres Entrücken bedeutete, nicht eine neue Erfahrung.«
»Nun?« fragte Anna, da Georg innehielt.
»Mir fällt eben was ein.«
»Was denn?«
»Die Schwester von Nürnberger liegt auf dem Friedhof von Cadenabbia begraben. Ich hab dir ja von ihr erzählt. Ich will dieser Tage einmal hinüberfahren.«
Anna nickte. »Ich fahr vielleicht mit, wenn mir ganz wohl ist. Mir ist Nürnberger nach allem, was ich von ihm höre, viel sympathischer als dein Freund Heinrich, dieser schauerliche Egoist.«
»Du findest?«
»Na höre, wie er über seinen Vater schreibt, das ist doch beinahe unerträglich.«
»Gott, wenn man einander so fremd geworden ist wie die zwei.«
»Trotzdem. Auch meinen Eltern bin ich innerlich nicht gerade sehr nah. Und doch ... wenn ich ... nein, nein ich will lieber gar nicht an solche Dinge denken. Willst du nicht weiter lesen?«
Georg las: »Es gibt ernstere Dinge als den Tod, traurigere gewiß, weil eben diesen andern Dingen das Endgültige fehlt, das im höhern Sinn das Traurige des Todes wieder aufhebt. Es gibt zum Beispiel lebendige Gespenster, die auf der Straße wandeln bei hellichtem Tag, mit längst gestorbenen und doch sehenden Augen, Gespenster, die sich zu einem hinsetzen und mit einer Menschenstimme reden, die viel ferner klingt als aus einem Grab heraus. Und man könnte sagen, daß in Augenblicken, da man dergleichen erlebt, das Wesen des Todes sich viel unheimlicher erschließt, als in solchen, da man dabeisteht, wie jemand in die Erde gesenkt wird ... und wär er einem noch so nah gestanden.«
Georg ließ den Brief unwillkürlich sinken, und Anna sagte mit
»Ja«, erwiderte Georg langsam, »er ist manchmal ein bißchen affektiert. Und doch ... o, das ist ja schon das erste Läuten zum Lunch, lesen wir rasch zu Ende.« »Aber nun muß ich Ihnen doch erzählen, was sich gestern hier zugetragen hat, die peinlichste und lächerlichste Geschichte, die mir seit langem vorgekommen ist, und leider sind die Beteiligten unsere guten Bekannten Ehrenberg Vater und Sohn.«
»O«, rief Anna unwillkürlich.
Georg hatte die folgenden Zeilen rasch für sich durchgeflogen und schüttelte den Kopf.
»Was ist denn?« fragte Anna.
»Das ist doch ... höre nur«, und er las weiter. »Wie sehr sich das Verhältnis zwischen dem Alten und Oskar im Lauf des letzten Jahres zugespitzt hat, wird Ihnen ja nicht entgangen sein. Sie kennen ja auch die innern Gründe, so daß ich den Vorfall einfach berichten kann, ohne mich über die Motive des breitern auszulassen. Denken Sie also. Gestern zur Mittagszeit geht Oskar an der Michaelerkirche vorüber und lüftet den Hut. Sie wissen, daß es zurzeit kaum eine Eigenschaft gibt, die für eleganter gilt als die Frömmigkeit. Und so bedarf es vielleicht nicht einmal einer weiteren Erklärung wie z.B. die, daß eben ein paar junge Aristokraten aus der Kirche gekommen sein mögen, vor denen sich Oskar katholisch gebärden wollte. Weiß der Himmel wie oft er schon vorher sich dieser Falschmeldung ungefährdet schuldig gemacht hat. Das Unglück wollte nun gestern, daß im selben Moment der alte Ehrenberg des Wegs daherkommt. Er sieht wie Oskar vor dem Kirchentor den Hut abnimmt ... und von einer fassungslosen Wut ergriffen, holt er aus und haut seinem Sprößling eine Ohrfeige herunter. Eine Ohrfeige! Oskar dem Reserveleutnant! Mittag, im Zentrum der Stadt! Daß die Geschichte noch am selben Abend in der ganzen Stadt bekannt wurde, ist also weiter nicht merkwürdig. Heute steht sie auch schon in einigen Zeitungen zu lesen. Die jüdischen schweigen sie zwar tot, von ein paar Klatschblättern abgesehen, die antisemitischen legen sich natürlich mächtig hinein. Das beste leistet der ›Christliche Volksbote‹, der verlangt, daß beide Ehrenbergs wegen Religionsstörung oder gar Gotteslästerung vor die Geschworenen kommen. Oskar soll vorläufig abgereist sein, unbekannt wohin.«
»Nette Familie«, sagte Anna mit Überzeugung.
Die Glocke tönte zum zweitenmal. Sie begaben sich in den Speisesaal und nahmen an ihrem kleinen Tisch am Fenster Platz, wo immer für sie allein gedeckt war. An der langen Tafel, in der Mitte des Saals, saßen kaum ein Dutzend Gäste, meist Engländer und Franzosen, auch ein nicht mehr ganz junger Mann, der erst seit zwei Tagen da war und den Georg für einen österreichischen Offizier in Zivil hielt. Im übrigen kümmerte er sich um ihn so wenig als um die andern. Georg hatte den Brief Heinrichs zu sich gesteckt. Es fiel ihm ein, daß er ihn noch nicht zu Ende gelesen. Beim schwarzen Kaffee nahm er ihn wieder vor und überflog den Schluß.
»Was schreibt er denn noch?« fragte Anna.
»Nichts Besonderes«, antwortete Georg. »Von Leuten, die dich nicht besonders interessieren dürften. In seine Kaffeehausgesellschaft scheint er wieder hinein geraten zu sein, mehr als ihm lieb ist, und mehr als er zugesteht, offenbar.«
»Er wird schon hineinpassen«, sagte Anna beiläufig. Georg lächelte nachsichtig. »Es ist immerhin ein komisches Volk.«
»Was ist denn mit ihnen?« fragte Anna.
Georg hatte den Brief neben der Tasse liegen, blickte hinein. »Der kleine Winternitz ... weißt du ... der im Winter einmal mir und Heinrich seine Gedichte vorgelesen hat ... geht nach Berlin als Dramaturg eines neu gegründeten Theaters. Und Gleißner, der uns einmal im Museum so angeglotzt hat ...«
»Ja der ekelhafte Kerl mit dem Monokel ...«
»Also der erklärt, daß er das Schreiben überhaupt aufgibt, um sich ausschließlich dem Sport zu widmen ...«
»Dem Sport?«
»Einem ganz eigenartigen. Er spielt mit Menschenseelen.«
»Wie?«
»Hör nur.« Er las: »Jetzt behauptet dieser Hanswurst mit der Lösung folgender zweier psychologischen Aufgaben zugleich beschäftigt zu sein, die sich in geistreicher Weise ergänzen. Erstens: ein junges, unverdorbenes Geschöpf aufs furchtbarste zu depravieren und zweitens eine Dirne zur Heiligen zu machen, wie er sich ausdrückt. Er verspricht nicht zu ruhen, ehe die erste in einem Freudenhaus, die zweite in einem Kloster endet.«
»Eine nette Gesellschaft«, bemerkte Anna und stand vom Tisch auf.
Georg eilte aufs Zimmer und holte für Anna ein paar Bücher, für sich einen Band von Goethe-Gedichten und das Manuskript seines Quintetts. Nun saßen sie beide da, lasen, arbeiteten, sahen zuweilen auf, lächelten einander an, sprachen ein paar Worte, guckten wieder ins Buch, blickten über die Balustrade ins Freie und fühlten den Frieden in ihren Seelen und den Sommer in der Luft. Sie hörten, wie der Springbrunnen hinter dem Busch ganz nahe rauschte und dünne Tropfen auf den Wasserspiegel fielen. Manchmal knarrten die Räder eines Wagens jenseits der hohen Mauer, zuweilen tönten vom See her dünne, ferne Pfiffe, seltener noch klangen Menschenstimmen von der Uferstraße in den Garten herein. Von Sonne vollgetrunken drückte der Tag auf die Wipfel. Später, mit dem leisen Wind, der jeden Nachmittag vom See her wehte, verstärkten und mehrten sich Laute und Stimmen. Die Wellen schlugen hörbar an den Strand, Rufe der Schiffer tönten herauf, jenseits der Mauer klang Gesang junger Leute. Vom Springbrunnen sprühten winzige Tröpfchen her. Der Hauch des nahen Abends weckte Menschen, Land und Wasser wieder auf.
Schritte tönten auf dem Kies. Therese, schlank und weiß, kam rasch die Allee
gegangen. Georg stand auf, ging ihr ein paar
»Was fällt dir ein, ich freu mich ja so«, erwiderte Anna.
Therese betrachtete sie mit prüfendem Lächeln und ergriff ihre beiden Hände.
»Na, dein Aussehen ist beruhigend«, sagte sie.
»Es geht mir auch sehr gut«, erwiderte Anna. »Und dir wie es scheint nicht minder«, setzte sie mit freundlichem Spott hinzu.
Georgs Augen ruhten auf Therese, die wieder ganz weiß wie morgens, diesmal noch eleganter, in englisches gesticktes Leinen gekleidet war und um den freien Hals eine Schnur aus lichtrosa Korallen trug. Während die beiden Frauen über den sonderbaren Zufall ihres Wiedersehens sprachen, erhob sich Georg, um Aufträge für das Diner zu erteilen. Als er in den Garten wiederkehrte, waren die beiden andern nicht mehr da. Er sah Therese auf dem Balkon, den Rücken an das Geländer gelehnt, mit Anna reden, die unsichtbar, in der Tiefe des Zimmers weilen mochte. In guter Stimmung spazierte er in den Alleen hin und her, ließ Melodien in sich singen, fühlte seine Jugend und sein Glück, warf zuweilen einen Blick auf den Balkon oder über die Balustrade auf die Straße und sah endlich Demeter Stanzides herankommen. Er ging ihm entgegen. »Seien Sie willkommen«, begrüßte er ihn am Gartentor. »Die Damen sind oben auf dem Zimmer, werden aber bald erscheinen. Wollen Sie sich indessen ein bißchen den Park ansehen?«
»Gern.«
Sie spazierten miteinander weiter.
»Haben Sie die Absicht, länger in Lugano zu bleiben?« fragte Georg.
»Nein, wir fahren morgen nach Bellaggio, von dort an den Lago Maggiore, Isola bella. Die ganze Herrlichkeit dauert ja nimmer lang. In vierzehn Tagen müssen wir wieder zu Hause sein.«
»So kurzen Urlaub?«
»Ach, es ist nicht meinetwegen. Aber Therese muß zurück. Ich bin ein ganz freier Mann. Ich hab schon meinen Abschied im Sack.«
»Sie wollen sich also ernstlich auf Ihr Gut zurückziehen?«
»Mein Gut?«
»Ja, ich hab so was gehört, bei Ehrenbergs.«
»Und wo werden Sie sich ankaufen, wenn ich fragen darf?«
»Wo sich die Füchs' gute Nacht sagen. Es wird Ihnen wenigstens so vorkommen. An der ungarisch-kroatischen Grenze. Ziemlich einsam und entlegen, aber sehr merkwürdig. Ich hab eine gewisse Sympathie für die Gegend. Jugenderinnerungen. Drei Leutnantsjahre. Offenbar bild ich mir ein, ich werde dort wieder jung werden. Na, wer weiß.«
»Eine schöne Besitzung?«
»Nicht übel. Vor zwei Monaten hab ich sie mir wieder angesehen. Hab sie nämlich schon aus früherer Zeit gekannt. Dem Grafen Jaczewicz hat sie gehört dazumal. Zuletzt einem Fabrikanten. Dem ist seine Frau gestorben. Jetzt fühlt er sich einsam da unten und will's los werden.«
»Ich weiß nicht«, sagte Georg, »aber ich stell mir die Gegend ein bissel melancholisch vor.«
»Melancholisch? Na, mir scheint, in einer gewissen Lebensepoche kriegt jede Gegend ein melancholisches Ansehen.« Und er blickte rings um sich, wie um sich einen neuen Beweis von der Wahrheit seiner Worte zu verschaffen.
»In welcher Epoche?«
»Na, wenn man anfängt alt zu werden.«
Georg lächelte. Demeter erschien ihm so schön, und trotz der grauen Haare an den Schläfen noch jung. »Wie alt sind Sie denn Herr Stanzides, wenn ich fragen darf?«
»Siebenunddreißig. Ich sag ja nicht alt sein, sondern alt werden. Die Menschen reden meist erst vom Altwerden, wenn sie's schon lang sind.«
Am Ende des Gartens, dort wo er an die Mauer stieß, setzten sie sich auf eine Bank. Von hier aus hatten sie das Hotel und die große Gartenterrasse im Auge. Die obern Stockwerke mit den Balkons waren ihnen durch die Baumkronen verborgen. Georg bot Demeter eine Zigarette an und nahm sich selbst eine. Und beide schwiegen eine Weile.
»Sie gehen übrigens auch von Wien fort, hab ich gehört«, sagte Demeter.
»Ja, das ist sehr wahrscheinlich ... wenn ich nämlich eine Stellung an irgendeiner Opernbühne bekomme. Na und ist's heuer nicht, so ist's nächstes Jahr.«
Demeter saß mit übereinandergeschlagenen Beinen, hielt das
»Dazu haben Sie doch keinen Grund. Überhaupt Leute mit Talent sind gar nicht zu beneiden. Höchstens Leute mit Genie. Und die beneid ich wahrscheinlich noch mehr, als Sie es tun: Aber ich finde, Talente, wie das Ihrige, sind etwas viel Absoluteres, etwas viel Sichereres sozusagen. Man ist halt gelegentlich nicht in Form, gut ... aber da leistet man, wenn man überhaupt was kann, noch immer sehr Beträchtliches, während unsereiner, wenn er nicht in Form, gleich ein vollkommener Pfründner ist.«
Demeter lachte. »Ja, aber es halt' länger, so ein künstlerisches Talent, und es bildet sich mit den Jahren sogar weiter aus. Zum Beispiel der Beethoven. Die neunte Symphonie ist doch die allerschönste, nicht wahr? Na, und der zweite Teil Faust! ... Während wir mit den Jahren unbedingt zurückgehen, da hilft nichts. Selbst die Beethovens unter uns! Und wie früh das schon anfangt. Von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen. Ich zum Beispiel war mit fünfundzwanzig auf der Höhe. Nie wieder hab ich das erreicht, was ich mit fünfundzwanzig in mir gehabt hab. Ja, lieber Baron, das waren Zeiten!«
»Na, ich erinnere mich, Sie vor zwei Jahren ein Rennen gewinnen gesehen zu haben gegen Buzgo, der damals Favorit war, ... ich hab sogar auf ihn gewettet gehabt ...«
»Lieber Baron«, unterbrach ihn Stanzides. »Glauben Sie mir, ich weiß, warum ich aufgehört hab. So was kann man nur selber spüren. Und darum weiß eben keiner so gut, wann das Altwerden anfängt wie ein Sportsmann. Da nützt auch alles Weitertrainieren nicht. Es wird nur eine künstliche Sache. Und wenn Ihnen einer erzählt, daß es anders ist, dann ist er einfach ... aber da kommen ja unsere Damen.«
Sie standen beide auf. Arm in Arm näherten sich Therese und Anna, die eine ganz weiß, die andre in einem schwarzen Kleid, das, in weiten Falten zur Erde sinkend, ihre Formen völlig verbarg. Beim Springbrunnen begegneten sich die Paare. Demeter küßte Anna die Hand.
»Das ist wirklich ein schöner Fleck Erde, auf dem ich das Glück habe, Sie wieder zu begrüßen, gnädige Frau.«
»Weißt du«, sagte Georg zu Anna, »daß die Herrschaften morgen schon wieder abreisen?«
»Ja, Therese hat's mir erzählt.«
»Wir wollen uns doch möglichst viel ansehen«, erklärte Demeter. »Und meiner Erinnerung nach sind die andern oberitalienischen Seen noch großartiger, als der hier.«
»Von den andern weiß ich nichts«, sagte Anna. »Wir sind von da noch gar nicht weggekommen.«
»Nun, vielleicht benützen Sie die Gelegenheit«, sagte Demeter, »und schließen sich uns für einen kleinen Ausflug an. Bellaggio, Pallanza, Isola bella.«
Anna schüttelte den Kopf »Es wäre wohl schön, aber ich bin leider nicht mobil genug. Ja, unglaublich faul bin ich. Es gibt ganze Tage, wo ich nicht aus dem Park herauskomme. Aber wenn Georg Lust hat, mir auf ein bis zwei Tage zu echappieren, so habe ich gar nichts dagegen.«
»Ich denke gar nicht dran dir zu echappieren«, sagte Georg. Er warf einen raschen Blick auf Therese, deren Augen leuchteten und lachten. Sie bummelten alle langsam durch den Garten, während es allmählich dämmerte, und plauderten über die Orte, die sie in der letzten Zeit gesehen hatten. Als sie wieder an den Tisch unter der Platane kamen, war gedeckt, und in den Glasglocken brannten die Gartenlichter. Eben brachte der Kellner den Kübel mit Asti. Anna setzte sich auf die Bank, die an den Stamm der Platane gelehnt war, ihr gegenüber saß Therese, zu ihren beiden Seiten Georg und Demeter.
Das Essen wurde aufgetragen und der Wein eingeschenkt. Georg erkundigte sich nach den Wiener Bekannten. Demeter erzählte, daß Willy Eißler von der Reise ein paar glänzende Karikaturen mitgebracht hatte, sowohl von den Jägern, als von den Tieren. Der alte Ehrenberg hätte die Bilder gekauft.
»Wissen Sie übrigens schon«, sagte Georg, »die Geschichte mit Oskar?«
»Welche Geschichte?«
»Nun, die Sache mit seinem Vater vor der Michaelerkirche.« Er erinnerte sich, daß er
schon vorher, als die Damen noch nicht erschienen waren, Demeter die Geschichte hatte
erzählen wollen, daß er es aber für richtiger gefunden hatte, sie zu unterdrücken.
Nun war es wohl der Wein, der ihm wider Willen die Zunge löste.
»Das ist aber eine höchst traurige Geschichte«, sagte Demeter sehr betreten, so daß auch alle andern sich plötzlich ernster werden fühlten.
»Warum eine traurige Geschichte?« fragte Therese, »ich finde sie zum totlachen.«
»Liebe Therese, du bedenkst nicht die Folgen, die sie für den jungen Menschen haben kann.«
»Gott, ich weiß ganz gut, er wird halt in einem gewissen Kreis unmöglich sein. Das wird ihn höchstens zur Einsicht bringen, was für ein dummer Kerl er bisher gewesen ist.«
»Na«, sagte Georg, »ob Oskar gerade zu den Leuten gehört, die zur Einsicht kommen ... ich glaub eigentlich nicht.«
»Abgesehen davon, liebe Therese«, fügte Demeter hinzu, »daß das, was du Einsicht nennst, durchaus noch nicht die richtige zu sein braucht. Alle Menschengruppen haben ihre Vorurteile, auch ihr seid nicht frei davon.«
»Was haben wir für Vorurteile, das möcht ich wissen«, rief Therese. Und sie trank zornig ihren Wein aus. »Wir wollen nur mit gewissen Vorurteilen aufräumen, besonders mit dem, daß es privilegierte Kasten gibt, die ihre besondere Ehre ...«
»Bitte, liebe Therese, du bist hier in keiner Versammlung. Und es ist zu fürchten, daß der Applaus am Schluß deiner Rede dünner ausfallen wird, als du's gewohnt bist.«
»Also schau«, wandte sich Therese zu Anna, »das ist die Art, wie ein Kavallerieoffizier Diskussionen führt.«
»Pardon«, sagte Georg, »diese ganze Geschichte hat doch mit Vorurteilen kaum etwas zu tun. Eine Ohrfeige auf offener Straße auch von der Hand des eigenen Vaters ... ich glaube, man muß da gar nicht Reserveoffizier oder Student sein ...«
»Diese Ohrfeige«, rief Therese, »hat für mich geradezu etwas Befreiendes. Sie bildet den würdigen Abschluß einer lächerlichen und überflüssigen Existenz.«
»Abschluß, das wollen wir nicht hoffen«, sagte Demeter.
»Man schreibt mir«, bemerkte Georg, »daß Oskar abgereist ist, unbekannt wohin.«
»Wenn mir einer in der Sache leid tut«, sagte Therese, »ist es jedenfalls nur der Alte, der bei seinem guten Herzen wahrscheinlich heute die Unannehmlichkeiten schon bedauert, die er seinem versnobten Sohn verursacht hat.«
»Ja, es kommt vor. Das ist zufällig einer von jenen, die in der Tiefe ihrer Seele mit uns eines Sinnes sind. Und an dem Abend, Demeter, an dem du das Vergnügen gehabt hast, mich zum erstenmal zu sehen, weißt du, warum ich damals bei Ehrenbergs gewesen bin ...? Und weißt du, für welchen Zweck er mir damals ohne weiteres tausend Gulden gegeben hat ...? Für ...«, sie biß sich auf die Lippen, »ich darf's ja nicht sagen, das war die Bedingung.«
Plötzlich erhob sich Demeter und verbeugte sich vor jemandem, der eben vorbeiging. Es war der österreichische Herr, der gestern angekommen war. Er lüftete den Hut und verschwand im Dunkel des Gartens.
»Sie kennen den Mann?« fragte Georg nach ein paar Sekunden. »Mir ist auch, als kennte ich ihn, wer ist's denn nur?«
»Der Prinz von Guastalla«, sagte Demeter.
»So?« rief Therese unwillkürlich, und ihre Augen bohrten sich ins Dunkel.
»Was schaust du denn?« sagte Demeter. »Ein Mensch wie ein anderer.«
»Er soll ja von Hof verbannt sein«, sagte Georg, »nicht wahr?«
»Davon ist mir nichts bekannt«, entgegnete Demeter, »aber jedenfalls ist er nicht gern gesehen. Er hat neulich eine Broschüre herausgegeben über gewisse Zustände in unserm Heer, insbesondere über das Leben der Offiziere in den Provinzen, was ihm sehr übel genommen wurde, obwohl in Wirklichkeit gar nichts Böses darin steht.«
»Da hätt' er sich an mich wenden sollen«, sagte Therese, »ich hätt' ihm auch einiges mitteilen können.«
»Liebes Kind«, wehrte Demeter ab, »das, was du wahrscheinlich wieder meinst, ist doch ein Ausnahmefall, da darf man nicht gleich verallgemeinern.«
»Ich verallgemeinere nicht, aber ein solcher Fall genügt, um das ganze System ...«
»Keine Rede, Therese ...«
»Ich spreche von Leo«, wandte sich Therese an Georg. »Was der heuer durchmacht, das ist wirklich ungeheuerlich.«
Georg erinnerte sich plötzlich wie einer vollkommen vergessenen und höchst merkwürdigen Sache, daß Therese Leos Schwester war. Ob der wußte, daß sie hier, und mit wem sie hier war?
»Da ist nämlich ein antisemitischer Oberleutnant«, sagte Therese, »der ihn auf eine besonders niederträchtige Art seckiert, weil er spürt, wie Leo ihn verachtet.«
Georg nickte. Er wußte ja davon.
»Liebes Kind«, sagte Demeter, »wie ich schon mehrere Male erwähnte, mir stimmt in der Sache etwas nicht. Ich kenne zufällig den Oberleutnant Sefranek und versichre dich, es ist mit ihm auszukommen. Er ist nicht besonders gescheit, und daß er für die Israeliten keine Vorliebe hat, mag auch richtig sein, aber schließlich muß man doch sagen, es gibt sogenannte antisemitische Schimpfwörter, die gar keine Bedeutung haben, die von Juden meiner Erfahrung nach ebensoviel angewendet werden wie von Christen. Und dein Herr Bruder leidet da entschieden an einer krankhaften Empfindlichkeit.«
»Empfindlichkeit ist nie krankhaft«, entgegnete Therese. »Nur Unempfindlichkeit ist eine Krankheit und zwar die widerwärtigste, die ich kenne. Ich stimme bekanntlich mit meinem Bruder, das wissen Sie am besten, Georg, in meinen politischen Anschauungen so wenig überein als möglich, mir sind jüdische Bankiers geradeso zuwider wie feudale Großgrundbesitzer, und orthodoxe Rabbiner geradeso zuwider wie katholische Pfaffen. Aber wenn sich jemand über mich erhaben fühlte, weil er einer andern Konfession oder Rasse angehört als ich, und gar im Bewußtsein seiner Übermacht mich diese Erhabenheit fühlen ließe, ich würde so einen Menschen ... also ich weiß nicht, was ich ihm täte. Aber jedenfalls würd ich den Leo begreifen, wenn er bei der nächsten Gelegenheit diesem Herrn Sefranek ins Gesicht springt.«
»Mein liebes Kind«, sagte Demeter, »wenn du nur den geringsten Einfluß auf deinen Bruder hast, so solltest du diesen Gesichtssprung um jeden Preis zu verhindern suchen. Meiner Ansicht nach bleibt es doch bei einem solchen Fall das beste, den anständigen, das heißt den vorschriftsmäßigen Weg einzuschlagen. Es ist nämlich gar nicht wahr, daß damit nichts erreicht wird, die obern Chargen sind meistens ruhige, jedenfalls korrekte Persönlichkeiten und ...«
»Aber das hat ja der Leo längst getan ... schon im Februar. Er ist beim Obersten
gewesen, der Oberst war sogar sehr nett zu ihm und hat, wie aus verschiedenen
Anzeichen hervorgeht, dem Oberleutnant sehr ins Gewissen geredet; nur daß es leider
nicht das geringste genützt hat, im Gegenteil. Bei nächster Gelegenheit
Demeter schüttelte den Kopf. »Wir leben in einer verrückten Zeit. Ich versichere Sie«, wandte er sich an Georg, »der Oberleutnant Sefranek ist so wenig Antisemit als Sie und ich. Er verkehrt in jüdischen Häusern, ich weiß sogar, daß er mit einem jüdischen Regimentsarzt direkt intim war durch Jahre. Es ist wirklich, wie wenn die Leute wahnsinnig wären.«
»Da könntest du recht haben«, meinte Therese.
»Nun, Leo ist so vernünftig«, sagte Georg, »so klug bei all seinem Temperament, daß ich überzeugt bin, er wird sich zu keiner Dummheit hinreißen lassen. Schließlich weiß er doch, in ein paar Monaten ist alles vorbei, solang macht man's halt durch.«
»Wissen Sie übrigens, Baron«, sagte Therese, während sie, dem Beispiel der Herren folgend, aus einer Schachtel, die der Kellner gebracht hatte, eine Zigarette nahm. »Wissen Sie, daß Leo von Ihren Kompositionen sehr entzückt war?«
»Na, entzückt«, sagte Georg, indem er Therese Feuer gab, »davon hab ich eigentlich nichts bemerkt.«
»Also gefallen hat ihm einiges«, schränkte Therese ein, »das ist beinahe schon soviel, wie wenn ein anderer entzückt wäre.«
»Haben Sie auch auf der Reise komponiert?« fragte Demeter verbindlich.
»Nichts als ein paar Lieder.«
»Die werden wir wohl im Herbst zu hören bekommen«, meinte Demeter.
»Ach Gott, reden wir nicht vom Herbst«, sagte Therese. »Bis dahin können wir tot sein, oder eingesperrt.«
»Na, das letztere wäre doch bei einigem guten Willen zu vermeiden«, rief Demeter.
Therese zuckte die Achseln. Georg saß nahe bei ihr und glaubte die Wärme ihres Körpers zu fühlen. Aus den Fenstern des Hotels glänzten Lichter, und ein langer, rötlicher Streif fiel bis zu dem Tisch, an dem die beiden Paare saßen.
»Ich schlage vor«, sagte Georg, »daß wir den schönen Abend benützen, um noch am Ufer spazieren zu gehen.«
»Oder Kahn zu fahren«, rief Therese aus.
Alle waren einverstanden. Georg eilte rasch aufs Zimmer, um Umhüllen zu holen. Als er
wieder herunterkam, fand er die andern
Anna hielt unter dem Plaid, während er sprach, seine Hand gefaßt. Demeter und Therese saßen ernst und korrekt nebeneinander, gar nicht wie Liebesleute, die einander erst vor kurzem gefunden haben. Nun erst gewann Georg für Therese allmählich seine Neigung zurück, die während ihres lauten, heftigen Redens beinahe geschwunden war.
Wie lang wird diese Geschichte mit Demeter währen? dachte er. Wird sie zu Ende sein,
wenn der Herbst da ist, oder wird sie am Ende so lange oder länger dauern, als meine
mit Anna? Wird diese Fahrt auf dem dunkeln See auch einmal eine Erinnerung an
vollkommen Entschwundenes sein, so wie die Fahrt auf dem Veldeser See mit dem
Bauernmädel, die mir jetzt seit Jahren zum erstenmal wieder einfällt ... wie die
Reise mit Grace übers Meer? Wie seltsam. Anna hält meine Hand, ich drücke sie, und
wer weiß, ob sie nicht in diesem Augenblick ganz ähnliches in Hinsicht auf Demeter
empfindet, wie ich in Hinsicht auf Therese? Nein, doch nicht ... sie trägt ein Kind
unter ihrem Herzen, das sich sogar schon regt ... Deswegen ... ach Gott ... Auch mein
Kind ist es ja ... Nun fährt unser Kind auf dem See von Lugano spazieren ... Werd ich
es ihm einmal erzählen, daß es vor seiner
»Um neun Uhr früh«, erwiderte Therese.
»Sie ist nämlich der Reisemarschall«, sagte Demeter, »ich brauche mich um gar nichts zu kümmern.«
Nun stand mit einemmal der Mond über dem See.
Es war, wie wenn er hinter den Bergen gewartet hätte und nun zum Abschied aufgestiegen käme. Ganz weiß und nahe lag plötzlich jenes unendlich ferne Dorf an der Berglehne. Der Kahn legte an. Therese erhob sich und sah, von der Nacht umgeben, auffallend groß aus. Georg sprang aus dem Kahn und half ihr beim Aussteigen. Er spürte ihre kühlen Finger, die nicht zitterten, sondern sich wie mit Absicht leise bewegten, in seiner Hand und fühlte den Hauch ihrer Lippen nah. Nach ihr stieg Demeter aus, dann kam Anna, schwerfällig und müd. Die Schiffer dankten für das reichliche Trinkgeld, und die beiden Paare spazierten heimwärts. Auf einer Bank in der Uferallee, in einem langen, dunkeln Mantel saß der Prinz, rauchte eine Zigarre, schien auf den nächtlichen See hinauszusehen und wandte den Kopf, offenbar um nicht gegrüßt zu werden.
»So einer könnte einem manches erzählen«, sagte Therese zu Georg, mit dem sie immer weiter zurückblieb, während Demeter und Anna vor ihnen gingen.
»So bald also fahren Sie schon nach Wien?« fragte Georg.
»In vierzehn Tagen, finden Sie das so bald? Jedenfalls werden Sie vor uns daheim sein, nicht?«
»Wissen Sie denn schon, daß ich noch gerade vor meiner Abreise die Villa für Anna gefunden habe?« sagte Therese.
»Wirklich? Sie? Haben Sie denn auch gesucht?«
»Ja, ich hab meine Mutter ein paarmal aufs Land begleitet. Es ist ein kleines, ziemlich altes Haus in Salmansdorf, mit einem schönen Garten, der direkt auf Wiese und Wald hinausführt, und der Vorgarten ist ganz verwachsen ... Anna wird Ihnen schon mehr erzählen. Ich glaub, es ist das letzte Haus im Ort, dann kommt noch ein Gasthof, aber ziemlich weit davon.«
»Sollt ich dieses Haus auf meinen Entdeckungsreisen im Frühjahr übersehen haben?«
»Offenbar, sonst hätten Sie es gemietet. Auf einem Rasenplatz, nah am Gartenzaun, steht eine kleine Figur aus Ton.«
»Kann mich nicht erinnern. Aber wissen Sie, Therese, es ist wirklich nett, daß Sie sich auch für uns bemüht haben. Mehr als nett.« ›Bei Ihrer aufreibenden Tätigkeit‹, wollte er hinzusetzen, unterdrückte es aber.
»Warum wundern Sie sich«, fragte Therese. »Ich habe Anna sehr gern.«
»Wissen Sie, was ich einmal über Sie habe sagen hören?« bemerkte Georg nach einer kleinen Pause.
»Nun, was?«
»Daß Sie entweder auf dem Schafott enden werden, oder als Prinzessin.«
»Das ist ein Ausspruch vom Doktor Berthold Stauber, er hat es mir selbst auch einmal gesagt. Er ist sehr stolz darauf, aber es ist doch ein Unsinn.«
»Jetzt stehen die Chancen allerdings mehr auf der Prinzessinnenseite.«
»Wer sagt Ihnen das? Der Prinzessinnentraum ist bald zu Ende.«
»Traum?«
»Ja, ich fange sogar schon an zu erwachen. Es ist ungefähr, wie wenn Morgenluft ins Schlafzimmer hereinwehte.«
»Und dann fängt wohl der andere Traum an?«
»Wieso der andre Traum?«
»Ich stell mir das so bei Ihnen vor. Wenn Sie wieder in der Öffentlichkeit stehen,
Reden halten, sich für irgendeine Sache opfern, dann kommt Ihnen in irgendeinem
Moment wieder das
»Das ist nicht einmal so dumm, was Sie da sagen.«
In diesem Augenblick wandten sich Demeter und Anna, die schon am Gartentor standen, nach den beiden um, und nahmen gleich die breite Allee zum Eingang des Hotels. Auch Georg und Therese gingen weiter, ungesehen, außerhalb des Gitters, im finstersten Schlagschatten. Plötzlich ergriff Georg die Hand seiner Begleiterin. Diese wandte, wie erstaunt, sich zu ihm, und beide standen sich nun gegenüber, von Dunkel umhüllt und näher als sie verstehen konnten. Sie wußten nicht wie ... sie wollten es kaum, und ihre Lippen ruhten aufeinander, einen kurzen Augenblick, der mehr erfüllt war von der wehen Lust der Lüge als von irgend einer andern. Dann gingen sie weiter, schweigend, unbeglückt, verlangend, und durchschritten das Gartentor.
Die beiden andern vor dem Hotel wandten sich jetzt um und gingen ihnen entgegen. Rasch sagte Therese zu Georg: »Selbstverständlich fahren Sie nicht mit uns.« Georg nickte leicht. Nun standen alle in der breiten, ruhigen Helle der Bogenlampen.
»Es war ein wunderschöner Abend«, sagte Demeter und küßte Anna die Hand.
»Also auf Wiedersehen in Wien«, sagte Therese und umarmte Anna.
Demeter wandte sich zu Georg. »Ich hoffe, wir sehen uns morgen früh auf dem Schiff.«
»Es wäre möglich, aber ich will nichts versprechen.«
»Adieu«, sagte Therese und reichte Georg die Hand.
Dann wandte sie sich mit Demeter zum Gehen.
»Wirst du mit ihnen fahren?« fragte Anna, während sie durchs Tor in die Halle gingen, wo Herren und Damen saßen, rauchten, tranken, plauderten.
»Was fällt dir ein«, erwiderte Georg, »ich denke nicht dran.«
»Herr Baron«, rief plötzlich jemand hinter ihm. Es war der Portier, der ein Telegramm in der Hand hielt.
»Was ist denn das?« fragte Georg etwas erschrocken und öffnete rasch. »O«, rief er aus, »wie entsetzlich.«
»Was ist denn?« fragte Anna.
Er las ihr vor, während sie in das Blatt schaute. »Oskar Ehrenberg hat heute früh im
Wald bei Neuhaus einen Selbstmordversuch verübt. Schuß in die Schläfe, wenig
Hoffnung, sein Leben zu erhalten. Heinrich.« Anna schüttelte den Kopf. Schweigend
gingen
Als Georg aus dem kühlen Stadtrestaurant, in dem er seit einigen Wochen mittags zu speisen pflegte, auf das sommerheiße Pflaster trat und den Weg nach Heinrichs Wohnung einschlug, war sein Entschluß gefaßt, die Reise ins Gebirge schon in den nächsten Tagen anzutreten. Anna war ja darauf vorbereitet, hatte ihm sogar selbst zugeredet, auf ein paar Tage wegzufahren, seit sie fühlte, daß die eintönige Lebensweise der letzten Zeit ihm Langeweile und innere Unruhe zu verursachen begann.
Vor sechs Wochen, an einem lauen Regenabend, waren sie nach Wien zurückgekehrt, und
Georg hatte Anna geradenwegs von der Bahn in die Villa gebracht, wo in einem großen,
aber ziemlich leeren Zimmer mit schadhaften, gelblichen Tapeten, beim trüben Schein
einer Hängelampe, Annas Mutter und Frau Golowski die Verspäteten seit zwei Stunden
erwarteten. Die Tür auf der Gartenveranda stand offen, draußen fiel der Regen
klatschend auf den Holzboden, und der laue Duft befeuchteter Blätter und Gräser zog
herein. Beim Schein einer Kerze, die Frau Golowski vorantrug, besichtigte Georg die
Räumlichkeiten des Hauses, während Anna abgespannt in der Ecke des großen mit
geblümtem Kattun überzogenen Sofas lehnte und auf die Fragen der Mutter nur müde zu
antworten vermochte. Bald hatte Georg von Anna gerührt und erleichtert Abschied
genommen, war mit ihrer Mutter in den Wagen gestiegen, der draußen wartete, und
während sie über aufgeweichte Straßen in die Stadt fuhren, hatte er der befangenen
Frau mit gekünstelter Beflissenheit die gleichgültigen Erlebnisse der letzten
Reisetage berichtet. Eine Stunde
Seither war er beinahe jeden Tag zu Anna aufs Land hinaus gefahren. Wenn es ihn nicht
zu kleinen Umwegen über die Sommerfrischen der Umgebung lockte, konnte er zu Rad
leicht in einer Stunde bei ihr sein. Öfters aber nahm er die Pferdebahn und spazierte
dann durch die kleinen Ortschaften bis zu dem niedern, grün gestrichenen Staketzaun,
hinter dem, im schmalen, leicht ansteigenden Garten das bescheidene Landhaus mit dem
dreieckigen Holzgiebel stand. Nicht selten wählte er einen Weg, der sich oberhalb des
Dorfes zwischen Gärten und Wiesen hinzog, und stieg dann gerne den grünen Hang
aufwärts, bis zu einer Bank am Waldesrand, von wo der Blick auf die kleine, im
schmalen Talgrund länglich hingebreitete Ortschaft freilag. Er sah von hier gerade
auf das Dach, unter dem Anna wohnte, ließ seine milde Sehnsucht nach der Geliebten,
der er so nahe war, mit Willen allmählich lebhafter werden, bis er hinabeilte, die
kleine Türe aufschloß und über den Kies mitten durch den Garten zum Haus
hinunterschritt. Oft, in schwüleren Nachmittagsstunden, wenn Anna noch schlief,
setzte er sich in der gedeckten Holzveranda, die längs der Rückseite des Hauses
hinlief, auf einen bequemen, mit geblümtem Kattun überzogenen Lehnstuhl, nahm ein
mitgenommenes Buch aus der Tasche und las. Dann, in einfach-sauberm, dunkeln Kleid,
trat aus dem dämmrigen Innenraum Frau Golowski und stattete mit leiser, etwas
wehmütiger Stimme, einen Zug mütterlicher Güte um den Mund, von Annas Befinden
Bericht ab, insbesondere, ob sie mit Appetit gegessen hatte und ob sie fleißig im
Garten auf und ab gegangen war. Wenn sie geendet, hatte sie immer in Küche oder Haus
etwas Notwendiges zu besorgen und verschwand. Dann, während Georg weiterlas, kam wohl
auch eine trächtige Bernhardinerhündin herbei, die Leuten in der Nachbarschaft
gehörte, begrüßte Georg mit tränenvoll-ernsten Augen, ließ sich von ihm das
kurzhaarige Fell streicheln und streckte sich dankbar zu seinen Füßen hin. Später,
wenn ein gewisser, strenger, dem Tiere wohlbekannter Pfiff ertönte, erhob es sich,
mit der Schwerfälligkeit seines Zustands, schien sich durch einen schwermütigen Blick
zu entschuldigen, daß es nicht länger bleiben durfte, und schlich davon. Im Garten
daneben lachten und lärmten Kinder, ein und das andermal
Heinrich war der einzige von Georgs nähern Bekannten, der sich in diesen drückenden
Julitagen noch in der Stadt aufhielt. Felician, der sich nach des Bruders Heimkehr,
wie in neuerwachter Jugendfreundschaft, ihm angeschlossen hatte, weilte nach
bestandener Diplomatenprüfung mit Ralph Skelton an der Nordsee. Else Ehrenberg, die
Georg bald nach seiner Rückkunft im Sanatorium am Krankenbett ihres Bruders einmal
gesprochen hatte, war mit ihrer Mutter längst wieder im Auhof am See. Auch Oskar, den
sein unglücklicher Selbstmordversuch das rechte Auge gekostet, aber, wie es hieß, die
Leutnantscharge gerettet
Ihn hatte Georg nach seiner Rückkehr vor allen andern besucht, um ihm Blumen vom Grab der Schwester aus Cadenabbia zu überbringen. Auf der Reise hatte er endlich den Roman Nürnbergers gelesen, der in einer nun halbvergangenen Zeit spielte, derselben, wie es Georg schien, von der der alte Doktor Stauber einmal zu ihm gesprochen hatte. Über jener lügendumpfen Welt, in der erwachsene Menschen für reif, altgewordene für erfahren und Leute, die sich gegen kein geschriebenes Gesetz vergingen, als rechtlich; in der Freiheitsliebe, Humanität und Patriotismus schlechtweg als Tugenden galten, auch wenn sie dem faulen Boden der Gedankenlosigkeit oder der Feigheit entsproßt waren, hatte Nürnberger grimmige Leuchten angezündet; und zum Helden seines Buches hatte er einen tätigen und braven Mann gewählt, der, von den wohlfeilen Phrasen der Epoche emporgetragen, auf der Höhe Überblick und Einsicht gewann und in der Erkenntnis seines schwindelnden Aufstiegs von Grauen erfaßt, in das Leere hinabstürzte, aus dem er gekommen war. Daß einer, der dies starke und rings widerhallende Werk geschaffen, später nur mehr wie in lässig höhnischen Randbemerkungen zum Gang der Zeit sich hatte vernehmen lassen, wunderte Georg sehr, und erst ein Wort Heinrichs: daß wohl dem Zorne, nicht aber dem Ekel Fruchtbarkeit beschieden sei, ließ ihn verstehen, warum Nürnbergers Werk für immer abgeschlossen war. Die einsame dunkelblaue Spätnachmittagsstunde auf dem Friedhof von Cadenabbia hatte sich Georg so seltsam tief eingeprägt, als wäre ihm das Wesen, an dessen Grab er gestanden, bekannt, ja wert gewesen. Es hatte ihn ergriffen, daß die goldenen Buchstaben auf dem grauen Stein matt geworden und die Beete im Rasen von Unkraut durchwuchert waren, und nachdem er ein paar gelbblaue Stiefmütterchen für den Freund gepflückt hatte, war er mit bewegtem Herzen geschieden. Jenseits des Friedhoftors warf er einen Blick durch das offene Fenster der Totenkammer und sah im Dämmer, zwischen hohen, brennenden Kerzen, von schwarzem Tuch bis über die Lippen bedeckt, eine Frauensperson aufgebahrt, über deren schmalem Wachsgesicht die Lichter der Kerzen und des Tags ineinanderrannen.
Das Haus, in dem Nürnberger lebte, stand in einer engen, düstern Gasse, die aus der innern Stadt treppenweise gegen die Donau zu führte; war uralt, schmal und hoch. Die Wohnung Nürnbergers befand sich im obersten, fünften Stockwerk, wohin man über eine vielfach gewundene Treppe gelangte. In dem niedrigen, aber geräumigen Zimmer, in das Georg aus einem dunkeln Vorraum trat, standen alte, aber wohlgehaltene Möbel, und aus dem Alkoven in der Tiefe, vor dem ein mattgrüner Vorhang herabgelassen war, drang ein Duft von Kampfer und Lavendel. Jugendbildnisse von Nürnbergers Eltern hingen an der Wand und bräunliche Stiche von Landschaften nach holländischen Meistern. Auf der Kommode in holzgeschnitzten Rahmen standen allerlei alte Photographien, und aus einer Schreibtischlade, unter vergilbten Briefen suchte Nürnberger ein Bildnis der verstorbenen Schwester hervor, das sie als achtzehnjähriges Mädchen zeigte, in einer wie historisch anmutenden Kindertracht, einen Ball in der Hand, vor einem Zaune stehend, hinter dem eine Felsenlandschaft sich türmte. All diese Unbekannten, Entfernte und Verstorbene, stellte Nürnberger dem Freunde heute im Bilde vor und sprach von ihnen in einem Tone, der den Zeitraum zwischen einst und jetzt zu verbreitern und vertiefen schien.
Georgs Blick schweifte manchmal hinaus über die enge Gasse zu dem grauen Mauerwerk uralter Häuser. Er sah schmale, verstaubte Scheiben mit allerlei Hausrat dahinter; auf einem Fensterbrett standen Blumentöpfe mit ärmlichen Pflanzen, zwischen zwei Häusern in einer Rinne lagen Flaschenscherben, zerbrochene Tongefäße, Papierfetzen, vermodertes Pflanzenwerk. Ein verwittertes Rohr lief zwischen all dem Zeug hin und verlor sich hinter einem Rauchfang. Andere Rauchfänge zeigten sich links und rechts, die Rückseite eines gelblichen Steingiebels war sichtbar, zum blaßblauen Himmel ragten Türme auf, und unerwartet nah, in lichtem Grau, mit durchbrochener Steinkuppel erschien einer, der Georg wohlbekannt war. Unwillkürlich suchte sein Blick die Richtung, wo er das Haus vermuten durfte, an dessen Eingang die zwei steinernen Riesen auf gewaltigen Armen das Adelswappen eines versunkenen Geschlechts trugen, und in dem sein Kind gezeugt worden war, das in wenig Wochen zur Welt kommen sollte.
»Gewiß.«
»Und erinnern Sie sich auch, daß uns in Garten und Haus eine Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm herumgeführt hat?«
»Ja.«
»Bevor wir weggingen, hat das Kind die Arme nach Ihnen ausgestreckt, und Sie haben es mit einem ziemlich gerührten Blick betrachtet.«
»Und daraus haben Sie geschlossen, daß ich ...«
»Ach, Sie sind nicht der Mensch, über den Anblick kleiner und überdies etwas ungewaschener Kinder in Rührung zu geraten, wenn sich nicht Ideenverbindungen persönlicher Art daran knüpfen.«
»Vor Ihnen muß man sich in acht nehmen«, sagte Georg scherzend, aber nicht ohne einiges Unbehagen.
Die leichte Gereiztheit, die er Nürnbergers Überlegenheit gegenüber immer wieder
empfand, hielt ihn durchaus nicht ab, den Verkehr mit ihm weiter zu pflegen. Manchmal
holte er ihn vom Hause ab, um mit ihm in Straßen und Gärten umher zu spazieren, und
wie eine Genugtuung, ja wie einen persönlichen Sieg empfand er es, wenn es ihm
gelang, ihn aus den luftdünnen Regionen bittrer Weisheit in die sanftern Gefilde
herzlicher Unterhaltung hinabzuziehen. Die Spaziergänge mit ihm waren Georg zu einer
so angenehmen Gewohnheit geworden, daß er es wie eine Verarmung seiner Tage empfand,
als er eines Morgens die Wohnung Nürnbergers verschlossen fand. Tags darauf kam eine
entschuldigende Abschiedskarte aus Salzburg, von einem Ehepaar mit unterzeichnet,
einem Fabrikanten und dessen Frau, liebenswürdigen, heiteren Leuten, die Georg einmal
durch Nürnberger flüchtig auf dem Graben kennen gelernt hatte. Nach Heinrichs
boshafter Darstellung war der gemeinsame Freund von diesem Ehepaar, nach
verzweifelter Gegenwehr natürlich, die Stiege hinuntergeschleppt, in einen Wagen
gesetzt und gewissermaßen als Gefangener auf die Bahn transportiert worden. Wie
Heinrich behauptete, hatte Nürnberger einige Bekannte dieser harmlosen Art, die das
Bedürfnis empfanden, sich von dem berühmten Spötter
Das Wiedersehen mit Heinrich hatte für Georg eine Enttäuschung bedeutet. Der Dichter,
nach den ersten Begrüßungsworten, hatte wie gewöhnlich nur von sich geredet, und zwar
in den Tönen tiefster Selbstverachtung. Er war endlich darauf gekommen, daß er
eigentlich kein Talent besäße, sondern nur Verstand, den allerdings in enormem Maße.
Was er aber an sich am heftigsten verdammte, das waren die Disharmonien seines
Wesens, unter denen, wie er wohl wußte, nicht nur er zu leiden hatte, sondern alle,
die in seine Nähe gerieten. Er war herzlos und sentimental, leichtfertig und
schwerblütig, empfindlich und rücksichtslos, unverträglich und doch auf Menschen
angewiesen ... zuzeiten wenigstens. Ein Subjekt mit solchen Eigenschaften konnte nun
seine Daseinsberechtigung nur durch eine ungeheure Leistung erweisen, und wenn das
Meisterwerk, zu dem er verpflichtet war, nicht bald, sehr bald in die Erscheinung
träte, so war er als anständiger Mensch verpflichtet sich totzuschießen. Aber er war
kein anständiger Mensch ... daran lag es eben. Georg dachte: Natürlich wirst du dich
nicht totschießen, hauptsächlich, weil du zu feig dazu bist. Er sprach das natürlich
nicht aus, war vielmehr sehr liebenswürdig, redete von Stimmungen, denen schließlich
jeder Künstler unterworfen sei, und erkundigte sich freundlich nach den äußern
Umständen in Heinrichs Leben. Da zeigte sich bald, daß es mit ihm gar nicht so
schlimm bestellt war. Er führte sogar, wie es Georg scheinen wollte, ein
sorgenloseres Leben als je zuvor. Durch eine kleine Erbschaft war die Existenz von
Mutter und Schwester für die nächsten Jahre gesichert; trotz aller Feindseligkeiten,
die gegen ihn am Werke waren, wuchs der Ruf seines Namens von Tag zu Tag; die
klägliche Geschichte mit der Schauspielerin schien endgültig vorbei, und eine ganz
neue, erwünscht leichte Beziehung zu einer jungen Dame brachte sogar einige
Heiterkeit in sein Dasein. Auch die Arbeit ging gut vonstatten. Der erste Akt des
Operntextes war so gut wie fertig und für die politische Komödie vieles
aufgezeichnet. Er hatte die Absicht, im nächsten Jahre Parlamentssitzungen zu
besuchen, Versammlungen mitzumachen, spielte mit dem eingestandenermaßen
kindisch-phantastischen Plan, sich als sozialdemokratischer Genosse aufzuspielen, bei
den Führer, Anschluß zu suchen
Als Georg heute zu Heinrich ins Zimmer trat, saß dieser an dem großen Tisch in der Mitte des Zimmers, der mit Blättern und Briefen überdeckt war. Auch auf dem Pianino und auf dem Diwan lagen beschriebene Papiere aller Art. Ein vergilbtes Blatt hielt Heinrich noch in der Hand, als er aufstand und Georg mit den Worten begrüßte: »Nun, wie gehts auf dem Land?« Dies war die Art, in der er sich nach Annas Befinden zu erkundigen pflegte, und die Georg jedesmal von neuem als zu intim empfand. »Danke, sehr gut«, erwiderte er. »Ich komme Sie übrigens fragen, ob Sie heute vielleicht mit mir hinauskommen wollen.«
»O ja, sehr gern. Die Sache ist nur die, daß ich da eben im Ordnen verschiedener Papiere begriffen bin. Ich könnte erst abends kommen, so gegen sieben. Ist es Ihnen recht?«
»Gewiß«, sagte Georg. »Aber ich störe Sie, wie ich sehe«, setzte er hinzu, indem er auf den übersäten Tisch wies.
»Durchaus nicht«, erwiderte Heinrich, »ich ordne ja nur, wie ich Ihnen eben sagte. Es ist der schriftliche Nachlaß meines Vaters. Das da sind Briefe an ihn. Und hier tagebuchartige Aufzeichnungen, hauptsächlich aus seiner parlamentarischen Zeit. Ergreifend, sag ich Ihnen. Wie hat dieser Mann sein Vaterland geliebt! Und wie hat man's ihm gedankt! Sie haben keine Ahnung, in welcher raffinierten Weise man ihn aus seiner Partei hinausgedrängt hat. Ein verwirrendes Ineinanderspiel von Tücke, Beschränktheit, Brutalität ... echt deutsch, mit einem Wort.«
Heinrich sprach weiter. »Aber ich werde diesem Mann ein Denkmal setzen ... Er, kein anderer, wird der Held meines politischen Dramas sein. Er ist die wahrhaft tragikomische Mittelpunktsfigur, die mir noch gefehlt hat.«
Der innere Widerstand Georgs wuchs. Er bekam große Lust, den alten Bermann gegen seinen Sohn in Schutz zu nehmen. »Tragikomische Figur?« wiederholte er fast feindselig.
»Ja«, entgegnete Heinrich bestimmt. »Ein Jude, der sein Vaterland liebt ... ich meine, so wie mein Vater es getan, mit Solidaritätsgefühlen, mit dynastischer Begeisterung, ist unbedingt eine tragikomische Figur. Das heißt ... er war es zu jener liberalisierenden Epoche der siebziger und achtziger Jahre, da auch kluge Menschen dem Phrasentaumel der Zeit unterlegen sind. Heute wäre ja ein solcher Mensch allerdings ausschließlich komisch. Ja, selbst wenn er sich endlich am erstbesten Nagel aufhinge, ich könnte sein Schicksal nicht anders empfinden.«
»Es ist eine Manie von Ihnen«, erwiderte Georg. »Man hat wirklich manchmal den Eindruck, daß Sie überhaupt nicht mehr imstande sind, etwas anderes in der Welt zu sehen als immer und überall die Judenfrage. Wenn ich so unhöflich wäre, als es Ihnen zuweilen zu sein passiert, so würde ich Sie ... Sie verzeihen schon, verfolgungswahnsinnig nennen.«
»Verfolgungswahnsinnig« ..., wiederholte Heinrich tonlos und sah an die Wand. »So, also Verfolgungswahnsinn nennen Sie das ... Na!« Und plötzlich mit zusammengepreßten Zähnen, heftig, fuhr er fort: »Ich will Sie einmal was fragen, Georg, aufs Gewissen fragen.«
»Ich höre.«
Er stellte sich gerade vor Georg hin und bohrte ihm seine Augen in die Stirn:
»Glauben Sie, daß es einen Christen auf Erden gibt, und wäre es der edelste,
gerechteste und treueste, einen einzigen, der nicht in irgendeinem Augenblick des
Grolls, des Unmuts, des Zorns selbst gegen seinen besten Freund, gegen seine
Geliebte, gegen seine Frau, wenn sie Juden oder jüdischer Abkunft waren, deren
Judentum, innerlich wenigstens, ausgespielt hätte?« Und ohne Georgs Antwort
abzuwarten: »Keinen gibt es, ich versichere Sie. Sie können übrigens auch einen
andern Versuch ma chen. Lesen Sie z.B. die Briefe von irgendwelchen
Tiefe Falten erschienen auf Heinrichs Stirn, und er sah wieder zur Wand hin, über Georg weg, der auf dem harten, schwarzledernen Divan Platz genommen hatte.
»Wenn das Ihre Auffassung ist«, erwiderte Georg »ja, dann müßten Sie sich doch logischerweise Leo Golowski anschließen ...«
»Und mit ihm nach Palästina wandern finden Sie? Politisch-symbolischerweise oder gar in Wirklichkeit wie?« Er lachte. »Hab ich denn behauptet, daß ich von hier fort will? Daß ich irgendwo anders lieber leben möchte als hier? Insbesondere, daß ich unter lauter Juden existieren möchte? Das wäre, für mich wenigstens, eine recht äußerliche Lösung einer höchst innerlichen Angelegenheit.«
»Das denk ich mir eigentlich auch. Und darum verstehe ich, die Wahrheit zu sagen, immer weniger, was Sie wollen, Heinrich. Im vorigen Herbst auf der Sophienalpe, wie Sie sich mit Golowski herumgezankt haben, da hatte ich doch den Eindruck, daß Sie die Sache viel hoffnungsvoller ansähen?«
»Hoffnungsvoller?« wiederholte Heinrich beleidigt.
»Ja. Da mußte man doch denken, daß Sie an die Möglichkeit einer allmählichen Assimilation glauben.«
Heinrich zuckte verächtlich die Mundwinkel. »Assimilation ... Ein Wort ... Ja, sie
wird wohl kommen, irgendeinmal ... In
»Wer weiß«, sagte Georg nachsichtig, »ob Sie nicht recht behalten werden in tausend Jahren. Aber bis dahin?«
»Ja, früher, lieber Georg, wird es wohl mit der Lösung der Frage nichts werden. Für unsere Zeit gibt es keine Lösung, das steht einmal fest. Keine allgemeine wenigstens. Eher gibt es hunderttausend verschiedene Lösungen. Weil es eben eine Angelegenheit ist, die bis auf weiteres jeder mit sich selbst abmachen muß, wie er kann. Jeder muß selber dazusehen, wie er herausfindet aus seinem Ärger, oder aus seiner Verzweiflung, oder aus seinem Ekel, irgendwohin, wo er wieder frei aufatmen kann. Vielleicht gibt es wirklich Leute, die dazu bis nach Jerusalem spazieren müssen ... Ich fürchte nur, daß manche, an diesem vermeintlichen Ziel angelangt, sich erst recht verirrt vorkommen würden. Ich glaube überhaupt nicht, daß solche Wanderungen ins Freie sich gemeinsam unternehmen lassen ... denn die Straßen dorthin laufen ja nicht im Lande draußen, sondern in uns selbst. Es kommt nur für jeden darauf an, seinen inneren Weg zu finden. Dazu ist es natürlich notwendig, möglichst klar in sich zu sehen, in seine verborgensten Winkel hineinzuleuchten! Den Mut seiner eigenen Natur zu haben. Sich nicht beirren lassen. Ja, das müßte das tägliche Gebet jedes anständigen Menschen sein: Unbeirrtheit!«
Georg dachte: Wo ist er nun schon wieder? Er ist in seiner Art genau so krank, wie sein Vater es war. Dabei kann man doch nicht sagen, daß er persönlich schlimme Erfahrungen gemacht hat. Und er hat einmal behauptet, daß er sich mit niemandem zusammengehörig fühle! Es ist ja nicht wahr. Mit allen Juden fühlt er sich zusammengehörig, und mit dem letzten von ihnen noch immer enger als mit mir. Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, fiel sein Blick auf ein großes Kuvert, das auf dem Tisch lag, und er las darauf die mit großen, römischen Buchstaben geschriebenen Worte: »Nicht vergessen, nie dran vergessen.«
Heinrich gewahrte Georgs Blick, nahm das Kuvert in die Hand,
Georg schwieg. Bisher hatte Heinrich über die Umstände, unter denen seine Beziehungen mit der Schauspielerin geendet hatten, nichts verlauten lassen; nur eine Stelle in dem Brief nach Lugano hatte darauf hingedeutet, daß er die einst Geliebte nicht ohne innern Schauer wiedergesehen hatte. Fast gegen den eigenen Willen kam es über Georgs Lippen.»Sie kennen doch die Geschichte von Nürnbergers Schwester, die in Cadenabbia begraben liegt?«
Heinrich bejahte. »Wie kommen Sie darauf?«
»Ich habe ihr Grab besucht, ein paar Tage vor meiner Abreise.« Er zögerte. Heinrich sah ihn starr an, mit einem heftig fragenden Blick, der Georg zum Weitersprechen zwang. »Und nun denken Sie, wie sonderbar, seither vermengen sich in meiner Erinnerung immer diese zwei Wesen, von denen ich das eine nie gesehen habe, das andre nur flüchtig, auf dem Theater, wie Sie wissen nämlich die tote Schwester Nürnbergers und ... diese Schauspielerin.«
Heinrich wurde blaß bis in die Lippen. »Sind Sie abergläubisch?« fragte er höhnisch, aber es klang, als fragte er sich selbst.
»Durchaus nicht«, antwortete Georg. »Was hat übrigens diese Sache mit Aberglauben zu tun?«
»Ich will Ihnen nur sagen, daß mir alle Dinge, die irgendwie mit Mystik zusammenhängen, im Grund der Seele zuwider sind. Über Dinge zu reden, von denen man nichts wissen kann, ja, deren Wesen es ist, daß man nie und nimmer was von ihnen wissen kann, das scheint mir von aller Art Geschwätz, die auf Erden für Wissenschaft ausgegeben wird, die unerträglichste.«
Sollte sie gestorben sein, diese Schauspielerin? dachte Georg.
Plötzlich hielt Heinrich das Kuvert wieder in der Hand, und in dem trockenen Tone,
den er gerade dann anzuschlagen beliebte, wenn er bis ins Tiefste durchwühlt war,
sagte er: »Daß ich diese Worte hergeschrieben habe, ist kindische Spielerei oder
Affektation, wenn Sie wollen. Ich hätte auch wie Daudet vor seine
»Das wäre nicht unmöglich«, entgegnete Georg.
Von irgendwoher, undeutlich, kam schlechtes Klavierspiel. Georg blickte hinaus. Auf der gelben Mauer drüben lag die Sonne. Viele Fenster waren offen. An einem saß ein Junge, die Arme aufs Fensterbrett gestützt, und las. Von einem andern schauten zwei junge Mädchen hinunter in den Gartenhof. Das Klappern von Geschirr war hörbar. Georg sehnte sich nach freier Luft, nach seiner Bank am Waldesrand. Bevor er sich aber zum Gehen wandte, fiel ihm ein: »Was ich Ihnen noch sagen wollte, Heinrich, Ihre Verse haben auch Anna sehr gefallen. Haben Sie weitergeschrieben?«
»Nicht viel.«
»Es wäre hübsch, wenn Sie alles, was vom Text fertig ist, heute mit hinausbrächten und uns vorläsen.« Er stand am Pianino und schlug ein paar Akkorde an.
»Was ist das?« fragte Heinrich.
»Ein Thema«, erwiderte Georg, »das mir für den zweiten Akt eingefallen ist. Es soll den Moment begleiten, in dem der merkwürdige Fremde auf dem Schiff erscheint.«
Heinrich schloß das Fenster, Georg setzte sich nieder und begann weiterzuspielen. Da klopfte es an die Tür, und unwillkürlich rief Heinrich »herein«.
Eine junge Dame trat ein, in lichtem Tuchrock mit roter Seidenbluse, ein weißes Samtband mit einem kleinen Goldkreuz um den Hals. Ein Florentinerhut, rosengeschmückt, beschattete breitkrämpig das kleine, blasse Gesicht, aus dem zwei große, schwarze Augen blickten.
»Guten Tag«, sagte die fremde Dame mit einer dunkeln Stimme, die zugleich trotzig und verlegen klang. »Verzeihen Sie, Herr Bermann, ich wußte nicht, daß Sie Besuch haben.« Und sie sah Georg, der sie gleich erkannt hatte, neugierig an.
»Danke«, erwiderte sie unwirsch und blieb stehen. »Ich komme vielleicht später wieder.«
»O bitte«, fiel Georg ein. »Ich war eben daran, mich zu verabschieden.« Er sah, wie der Blick der Schauspielerin im Zimmer umherirrte, und fühlte ein seltsames Mitleid mit ihr, wie man es manchmal im Traum mit Toten fühlt, die nicht wissen, daß sie gestorben sind. Dann sah er noch den Blick Heinrichs auf diesem blassen, kleinen Gesicht mit unbegreiflicher Härte ruhen und ging. Er erinnerte sich jetzt sehr deutlich, wie er sie auf der Bühne gesehen hatte, mit dem rotblonden Haar, das in die Stirn fiel, und den irrenden Augen. So sehen Wesen nicht aus, dachte er, die dazu bestimmt sind, nur einem zu gehören. Und das sollte Heinrich nie gefühlt haben, der sich auf seine Menschenkenntnis so viel zugute tat? Was wollte er nun eigentlich von ihr? Eitelkeit war es, die in seiner Seele brannte, nichts anderes als Eitelkeit.
Auf der Straße schritt Georg wie durch trockene Gluten. Die Häusermauern warfen den eingetrunkenen Sommer in die Luft. Georg fuhr mit der Pferdebahn den Hügeln und Wäldern entgegen und atmete freier, als er auf dem Lande war. Langsam spazierte er zwischen Gärten und Villen weiter, dann, am Friedhof vorbei, nahm er eine allmählich ansteigende, weiße Straße, die mit einem ihn freundlich anmutenden Namen Sommerhaidenweg hieß und zu dieser sonnigen Spätnachmittagsstunde von Menschen kaum begangen war. Von dem bewaldeten Höhenzug zur Linken kam noch kein Schatten, nur ein mildes Wehen von Lüften, die in den Blättern geschlafen hatten. Zur Rechten senkte der grüne Hang sich abwärts, gegen das länglich dahinziehende Tal, wo zwischen Ästen und Wipfeln Dächer blinkten. Drüben, hinter Gartenzäunen strebten Weinberge und Äcker auf, zu Wiesen und Steinbrüchen, über denen durchglitzertes Gestrüpp und Buschwerk hing. Im Gelände oft verloren, zog als schmale Linie der Weg, den Georg an andern Tagen manchmal zu wandern pflegte, und sein Auge suchte die Stelle am Waldesrand, wo seine Lieblingsbank stehen mochte. Wiesen und Waldeshöhen hielten am Talesende den Blick auf, und im Spiegel der Luft ließen abendliche Fernen mit neuen Tälern und Hügeln sich ahnen.
Dieser Landschaft fühlte Georg sich wunderbar vertraut, und der Gedanke, daß Beruf
und Wille ihn in die Fremde rief, webte
Der Sommerhaidenweg lief in den Wald, und Georg nahm den breiten Villenweg, der an
dieser Stelle das Tal durchquerend nach abwärts bog. In wenigen Minuten befand er
sich auf der Straße, an deren Ende waldesnah, neben bescheidenen, gelben
Parterrehäuschen, nur durch die Balkonmansarde mit dem dreieckigen Holzgiebel über
jene erhöht, die kleine Villa stand, in der Anna wohnte. Er durchschritt das
Vorgärtchen, wo inmitten des Rasens zwischen Blumenbeeten, auf viereckigem Postament,
der kleine blaue Tonengel ihn grüßte; den schmalen Gang, neben dem die Küche lag, das
kahle Mittelzimmer, auf dessen Boden durch die schadhaften grünen Jalousien
Sonnenlinien hinspielten, und trat auf die Veranda. Er wandte sich nach links und
warf einen Blick durchs offne Fenster in Annas Zimmer, das er leer fand. Nun ging er
im Garten längs der Fliederbüsche und Johannisbeerstauden
Er stand vor Anna, küßte sie auf Aug' und Mund und setzte sich an ihre Seite. Das Tier war ihm nachgeschlichen und streckte sich zu seinen Füßen hin.
»Wie gehts, mein Schatz?« fragte er, indem er sei nen Arm um ihren Nacken legte.
Es ging ihr sehr gut, wie gewöhnlich, und heute war ein besonders schöner Tag
gewesen. Seit dem Morgen schon war sie sich ganz selbst überlassen, denn Frau
Golowski hatte wieder einmal in die Stadt fahren müssen, um nach den Ihren zu sehen.
Es war wirklich nicht übel, manchmal so völlig allein mit sich zu bleiben. Da konnte
man sich ungestört in seine Träume versenken. Es waren freilich immer dieselben, aber
sie waren so hold, daß man ihrer nicht müde wurde. Von ihrem Kinde hatte sie sich
träumen lassen. Wie sehr liebte sie es schon heute, noch ehe es geboren war. Nie
hätte sie das für möglich gehalten. Ob Georg es denn auch verstünde? ... und da er
versonnen nickte, schüttelte sie den Kopf. Nein, nein ... ein Mann konnte das nicht
verstehen, auch der beste, der gütigste nicht. Sie fühlte ja das kleine Wesen schon
sich regen, spürte das Klopfen seines zarten Herzens, fühlte diese neue
unbegreifliche Seele in ihrer atmen, geradeso wie sie den neuen jungen Leib in ihrem
blühen und erwachen fühlte. Und Georg sah vor sich hin, wie beschämt, daß sie dem,
was nahe war, mit so viel reinern Sinnen entgegenlebte als er. Denn daß hier, von ihm
gezeugt, ein Wesen wurde
Und ernsthafter, als sie es sonst zu tun pflegten, besprachen sie heute, was nach des Kindes Geburt zu geschehen hätte. In den ersten Wochen behielt Anna es natürlich bei sich, dann mußte man es wohl zu fremden Leuten geben; jedenfalls aber sollte es ganz nahe wohnen, so daß Anna es zu jeder Zeit ohne Schwierigkeit sehen konnte.
»Und du«, sagte sie mit einem Mal ganz leicht, »wirst du manchmal herkommen uns besuchen?«
Er sah ihr in das verschmitzt lächelnde Gesicht, nahm ihre beiden Hände und küßte sie. »Liebste, was soll ich tun, sag selbst? Du kannst dir denken, wie schwer es mir sein wird. Aber was bleibt mir anders übrig? Es muß ein Anfang gemacht werden. Hab ich dir schon gesagt«, setzte er hastig hinzu, als wäre damit jeder Rückzug abgeschnitten, »die Wohnung ist gekündigt. Felician geht wahrscheinlich nach Athen. Ja, wenn ich dich gleich mitnehmen könnte, das wär freilich schön! Aber das ist ja leider nicht möglich, eine gewisse Sicherheit muß vor allem da sein. Ich meine, wenigstens die Sicherheit, daß ich längere Zeit an einem Ort bleibe ...«
Sie hatte ernsthaft-ruhig zugehört. Dann kam sie bedächtig-wichtig auf ihre neueste Idee zu sprechen. Er sollte nicht glauben, daß sie daran dächte, ihm alle Sorgen aufzubürden. Sie war entschlossen, sobald es sich machen ließe, eine Musikschule zu gründen. Wenn er sie noch lange allein ließe, hier in Wien; wenn er bald käme sie holen, dort, wo sie mit ihm zu Hause sein würde. Und wenn sie einmal auf eigenen Füßen stände, dann wollte sie auch ihr Kind zu sich nehmen, ob sie nun seine Frau wäre oder nicht. Sie wäre weit davon entfernt sich zu schämen, das wüßte er wohl. Sie wäre eher stolz ... ja stolz, daß sie Mutter wurde!
Er nahm ihre Hände zwischen die seinen und streichelte sie. »Es wird schon alles
werden«, sagte er ein wenig bedrückt. Er
Der bekannte Pfiff von drüben tönte. Die Hündin erhob sich, ließ sich von Georg noch einmal über den gelb gefleckten Rücken streichen und schlich traurig ihren Weg hinab.
»Herr Gott«, sagte Georg, »das hätte ich ja beinahe vergessen. Heinrich kann jeden Augenblick da sein.« Er erzählte Anna von seinem Besuch und verschwieg auch nicht, daß er zwischen Tür und Angel die ungetreue Schauspielerin kennen gelernt hatte.
»Ist es ihr also gelungen?« rief Anna aus, die für Damen mit irrenden Augen keine Neigung fühlte.
»Ich glaube nicht«, erwiderte Georg, »daß ihr irgend etwas gelungen ist. Heinrich war von ihrem Erscheinen sogar ziemlich unangenehm berührt, kam mir vor.«
»Nun, vielleicht bringt er sie mit«, sagte Anna mit Spott, »und du hast wieder wen zum kokettieren wie in Lugano die Königsmörderin.«
»Ach Gott«, machte Georg unschuldig, und beiläufig fügte er hinzu: »Was ist's denn übrigens mit Therese, warum kommt sie denn gar nicht mehr zu dir? Demeter ist ja nicht mehr in Wien. Sie hätte wohl Zeit genug.«
»Sie war erst vor ein paar Tagen da. Ich hab dir's ja gesagt, stell dich doch nicht so.«
»Ich hatte es wirklich vergessen«, erwiderte er mit Aufrichtigkeit. »Was hat sie dir denn erzählt?«
»Alles mögliche. Die Geschichte mit Demeter ist aus. Ihr Herz schlägt wieder
ausschließlich für die Armen und Elenden bis auf Widerruf.« Und unter dem Siegel
strengster Verschwiegenheit vertraute ihm Anna Theresens Winterpläne an. Als armes
Georg sah vor sich hin. Er erinnerte sich der eleganten Dame, im weißen Kleid, die im Sonnenglanz von Lugano vor dem Postgebäude gestanden war, fern von allem Jammer der Welt. Sonderbares Geschöpf, dachte er. »Sie will natürlich ein Buch daraus machen«, sagte Anna. »Also daß du keinem Menschen was davon erzählst, auch deinem Freund Bermann nicht.«
»Fällt mir nicht ein. Aber sag, Anna, mußt du nicht was vorbereiten für abend?«
Sie nickte. »Komm, begleit mich hinunter, ich will nachsehen, was da ist, und mich im übrigen mit der Marie beraten ... soweit das möglich ist.«
Sie standen auf. Die Schatten waren lang. Im Garten nebenan lärmten die Kinder. Anna nahm den Arm des Geliebten und ging langsam mit ihm hinab. Sie erzählte die neuesten Beispiele von der fabelhaften Dummheit der Magd. Ich Ehemann, dachte Georg und hörte mit Nachsicht zu. Beim Haus angelangt sprach er die Absicht aus, Heinrich entgegenzusehen, verließ Anna und begab sich auf die Straße. Da rüttelte eben ein Einspänner heran; Heinrich sprang heraus und entließ den Kutscher. »Grüß Sie Gott«, sagte er zu Georg, »haben Sie mich am Ende schon erwartet? Es ist ja noch gar nicht so spät.«
»Gewiß nicht, Sie sind sehr pünktlich. Ist es Ihnen recht, so machen wir noch einen kleinen Spaziergang.«
»Gern.«
Sie spazierten weiter, vorbei an dem gelben Gasthof mit den roten Terrassen, in den Wald.
»Hier ist's ja wundervoll«, sagte Heinrich. »Und auch Ihre Villa sieht ganz nett aus. Warum wohnen Sie eigentlich nicht heraußen?«
»Ja, es ist ein Unsinn«, gab Georg zu, ohne weitere Erklärungen. Dann schwiegen sie eine Weile.
Heinrich war in hellgrauem Sommeranzug und trug auf dem Arm seinen Mantel, den er ein wenig nachschleppen ließ. »Haben Sie sie wiedererkannt?« fragte er plötzlich, ohne aufzusehen.
»Ja«, erwiderte Georg.
»Warum sind Sie so hart?« fragte Georg und dachte an das Riesenkuvert mit den grauen Siegeln und der albernen Aufschrift. »Sie habens eigentlich nicht nötig. Es ist ja doch nur ein Zufall, daß sie nicht auch anonyme Briefe bekommen hat, geradeso wie Sie, Heinrich. Und wer weiß, wenn Sie sie nicht allein gelassen hätten, aus weiß Gott was für Gründen ...«
Heinrich schüttelte den Kopf und sah Georg beinahe mitleidig an. »Meinen Sie vielleicht, ich habe die Absicht zu strafen oder zu rächen? Oder glauben Sie, ich gehöre zu den Tröpfen, die an der Welt irrewerden, weil ihnen etwas passiert ist, wovon sie doch wissen, daß es schon Tausenden passiert ist vor ihnen und Tausenden nach ihnen passieren wird? Meinen Sie, ich verachte die »Ungetreue«, oder ich hasse sie? Fällt mir gar nicht ein. Womit ich nicht sagen will, daß ich nicht zuweilen die Gebärde des Hasses und der Verachtung habe, natürlich nur, um bessere Wirkungen zu erzielen ihr gegenüber. Aber in Wahrheit versteh ich ja alles, was geschehen ist, viel zu gut, als daß ich ...« Er zuckte die Achseln.
»Nun, wenn Sie es verstehen
»Aber lieber Freund, das Verstehen hilft ja gar nichts. Das Verstehen ist ein Sport wie ein anderer. Ein sehr vornehmer Sport und ein sehr kostspieliger. Man kann seine ganze Seele darauf verschwenden und als ein armer Teufel dastehen. Aber mit unsern Gefühlen hat das Verstehen nicht das allergeringste zu tun beinahe so wenig wie mit unsern Handlungen. Es schützt uns nicht vor Leid, nicht vor Ekel, nicht vor Vernichtung. Es führt gar nirgends hin. Es ist eine Sackgasse gewissermaßen. Das Verstehen bedeutet immer ein Ende.«
Auf einem Seitenpfad in mäßiger Steigung, schweigend und langsam, jeder mit seinen
eigenen Gedanken, so kamen sie aus der Waldung auf offenes Wiesenland, das den Blick
talwärts freigab. Sie blickten über die Stadt hin, und weiter gegen die dunstatmende
Ebene, durch die schimmernd der Fluß rann; zu fernen Berglinien, vor denen dünner
Rauch sich hinbreitete. Dann, im Frieden der Abendsonne spazierten sie weiter zu
Georgs Lieblingsbank am Waldesrande. Die Sonne war fort. Georg sah jenseits des
Tales, längs des waldigen Hügels den Sommerhaidenweg ziehen, blaß und wie ausgekühlt.
Dann schaute er hinab, wußte, daß in dem Garten zu seinen Füßen ein Birnbaum stand,
»Nicht daß ich wüßte.«
»Die hübschen Mädchen haben Sie sehr interessiert angeguckt. Das Nichtverheiratetsein der andern bleibt für die Leute doch eine unerschöpfliche Quelle von Anregungen. Diesem Sommervolk da unten bedeuten Sie jedenfalls so eine Art von Don Juan und ... und Ihre Freundin ein ent- und verführtes Mädchen. Glauben Sie nicht?«
»Ich weiß nicht«, sagte Georg, das Gespräch ablehnend.
»Und was mag ich«, fuhr Heinrich unbekümmert fort, »für das Theatervolk in der kleinen Stadt vorgestellt haben? Offenbar den betrogenen Liebhaber, also eine ausschließlich lächerliche Figur. Und sie? Na, man kann sichs ja denken. Riesig einfach liegen die Dinge für die Unbeteiligten. In der Nähe schaut dann jede Geschichte doch ganz anders aus. Aber ob sie aus der Ferne nicht das richtigere Gesicht hat? Ob man sich nicht allerlei einredet, wenn man selber eine Rolle in der Komödie zu spielen hat?«
Er hätte auch daheim bleiben können, dachte Georg. Da er ihn aber nicht nach Hause schicken konnte, und um wenigstens zu einem andern Gespräch mit ihm zu gelangen, fragte er rasch: »Hören Sie nichts von Ehrenbergs?«
»Vor ein paar Tagen«, erwiderte Heinrich, »hatte ich von Fräulein Else einen etwas melancholischen Brief.«
»Sie stehen in Korrespondenz mit ihr?«
»Nein, ich stehe nicht in Korrespondenz mit ihr, wenigstens habe ich ihr noch nicht geantwortet.«
»Sie hat sich die Sache mit Oskar doch mehr zu Herzen genommen«, sagte Georg, »als sie eingestehen will. Ich habe sie einmal gesprochen, im Sanatorium. Wir sind eine ganze Weile draußen auf dem Gang gestanden vor der weiß lackierten Türe, hinter der der arme Oskar lag. Damals fürchtete man auch noch für das andere Auge. Es ist wahrhaftig eine tragische Geschichte.«
»Eine tragikomische«, verbesserte Heinrich hart.
»Sie irren«, erwiderte Heinrich. »Die Ohrfeige des alten Ehrenberg war eine Brutalität, der Selbstmord Oskars eine Albernheit; daß er sich so schlecht getroffen hat, eine Ungeschicklichkeit. Aus diesen Motiven kann doch nichts Tragisches resultieren. Eine etwas widerliche Affäre ist es, das ist alles.«
Georg schüttelte ärgerlich den Kopf. Er hatte für Oskar, seit das Unglück geschehen, wirkliche Sympathie gefaßt. Und auch der alte Ehrenberg, der seither immer draußen in Neuhaus lebte, nur mehr für seine Arbeit, und keinen Menschen sehen wollte, tat ihm leid. Sie hatten beide gebüßt, schwerer als sie es verdient hatten. Vermochte Heinrich das nicht geradesogut einzusehen und zu fühlen wie er? Sie machten einen wirklich manchmal nervös, diese jüdisch-überklugen schonungslos-menschenkennerischen Leute, diese Bermann und Nürnberger. Daß man sich nur ja von nichts überraschen ließ, das blieb ihnen die Hauptsache. Güte, die war es, die ihnen fehlte. Erst wenn sie älter wurden, kam eine gewisse Milde über sie. Georg dachte an den alten Doktor Stauber, Frau Golowski, an den alten Eißler. Aber so lang sie jung waren ... immer hielten sie sich auf dem qui vive. Nur ja nicht die Dümmern sein! Eine unbequeme Gesellschaft. Sehnsucht nach Felician, nach Skelton regte sich in ihm, die doch wahrhaftig auch gerade gescheit genug waren; sogar nach Guido Schönstein.
»Bei aller Melancholie aber«, sagte Heinrich nach einiger Zeit, »scheint sich Fräulein Else ganz leidlich zu amüsieren. Es gibt auch schon wieder Besuch auf dem Auhof. Neulich waren die Wyners dort, Sissy und James. James ist in Cambridge Doktor geworden. Nobel, was?«
Der Name Sissy zuckte an Georgs Herzen vorbei, wie ein glitzernder Dolch. Er wußte es plötzlich, in wenig Tagen würde er bei ihr sein. Seine Sehnsucht schwoll so mächtig auf, daß er es selbst kaum begriff.
Die Dämmerung sank. Georg und Heinrich erhoben sich, gingen die Wiese hinab und traten in den Garten. Da sahen sie Anna in Begleitung eines Herren den mittleren Weg heraufkommen.
»Der alte Doktor Stauber«, sagte Georg, »Sie kennen ihn wohl?« Man begrüßte einander. »Ich freue mich sehr«, sagte Anna zu Heinrich, »daß ich Sie endlich einmal bei uns sehe.«
»Wie sind Sie mit Anna zufrieden?« fragte Georg den Doktor.
»Es kann nicht besser gehen«, erwiderte Stauber. »Sie soll nur weiter regelmäßig und fleißig Bewegung machen.«
Georg fiel es ein, daß er dem Doktor, den er seit seiner Rückkehr zum erstenmal sah, die entliehenen Bücher noch nicht zurückgegeben hatte, und er brachte seine Entschuldigung vor.
»Aber das hat ja Zeit«, erwiderte Stauber. »Wenn sie Ihnen nur zustatten gekommen sind.« Und er fragte ihn nach den Eindrücken, die er aus Rom mit nach Hause genommen hätte.
Georg erzählte von Wanderungen durch die alten Kaiserpaläste, von Fahrten durch die Campagna im Abendglanz, von einer gewitterschwülen Stunde im Garten des Hadrian. Doktor Stauber bat ihn aufzuhören, sonst könnte es geschehen, daß er alle seine Patienten hier im Stich ließe, um geradewegs nach der vielgeliebten Stadt zu entfliehen. Dann erkundigte sich Georg höflich nach Doktor Berthold. Ob es auf Wahrheit beruhe, daß ihn schon der nächste Winter wieder politisch tätig finden werde.
Doktor Stauber zuckte die Achseln. »Er kommt im September zurück. Das ist vorläufig das einzig Sichere. Bei Pasteur ist er sehr fleißig gewesen, und hier im pathologischen Institut will er eine große Serumarbeit weiterführen, die er in Paris begonnen hat. Wenn er mir folgt, bleibt er dabei. Das was er jetzt macht, ist doch wichtiger für die Menschheit als die schönste Revolution, meiner unmaßgeblichen Meinung nach. Freilich, die Talente sind verschieden, und gegen gelegentliche Umstürze habe ich gewiß nichts einzuwenden. Aber unter uns, das Talent meines Sohnes liegt doch mehr auf der wissenschaftlichen Seite. Nach der andern Richtung treibt ihn mehr das Temperament ... vielleicht ausschließlich die Galle. Na, wir werden ja sehen. Aber wie stehts denn mit Ihren Plänen für den Herbst?« fügte er plötzlich hinzu und sah Georg mit seinem gutmütig-väterlichen Blick an. »Wo werden Sie den Taktstock schwingen?«
»Ja wenn ich das schon selber wüßte«, erwiderte Georg. Und während er dem Arzt, der
mit halbgeschlossenen Lidern, die Zigarre im Mund, ihm zur Seite ging, in betonter
Wichtigkeit von seinen Bemühungen und Aussichten erzählte, glaubte er zu fühlen, daß
alles, was er sagte, von Doktor Stauber nur als
»Das wäre nicht das Schlimmste«, erwiderte Doktor Stauber ruhig. »Ich habe einen Vetter, der ist Violinspieler in Boston, ein gewisser Schwarz, der verdient dort mindestens sechsmal soviel, als er hier an der Oper gehabt hat.«
Georg liebte es nicht, mit Violinspielern namens Schwarz verglichen zu werden und behauptete daher mit einer Bestimmtheit, die er selbst als übertrieben empfand, daß es ihm für den Anfang überhaupt nicht aufs Geldverdienen ankäme. Plötzlich, er wußte nicht, woher der Gedanke ihm kam, fuhr es ihm durch den Sinn: Wenn Anna stirbt! ... Wenn das Kind ihr Tod wäre! Er erschrak aufs tiefste, als hätte er mit diesem Gedanken eine Schuld auf sich geladen. Und im Geist sah er Anna daliegen, das Bahrtuch bis übers Kinn gezogen, und sah das Licht des Tags und der Kerzen über ihr wachsbleiches Antlitz rinnen. Angstvoll beinahe wandte er sich um, wie um sich zu vergewissern, daß sie da war und lebte. Im Dunkel verschwammen ihm die Züge ihres Gesichts, was ihn erschauern machte. Er blieb mit dem Doktor stehen, bis Anna mit Heinrich herangekommen war. Er war glücklich, sie so nah zu haben. »Jetzt wirst du aber doch schon müd sein«, sagte er zu ihr in zärtlichstem Tone.
»Mein Pensum hab ich allerdings für heute redlich absolviert«, erwiderte sie. »Im übrigen«, und sie wies zur Veranda hin, wo auf dem gedeckten Tisch die Lampe mit dem grünen Papierschirm stand, »wird auch das Nachtmahl gleich da sein. Es wär hübsch, Herr Doktor, wenn Sie bei uns blieben, ja?«
»Leider, liebes Kind, ist es mir nicht möglich. Ich sollte schon längst wieder in der Stadt sein. Grüßen Sie die Frau Golowski von mir. Auf Wiedersehen. Adieu Herr Bermann. Na«, fügte er hinzu, »wird man bald wieder etwas Schönes von Ihnen zu hören oder zu lesen bekommen?«
Heinrich zuckte die Achseln, lächelte gesellschaftlich und schwieg. Warum, dachte er,
werden sogar die besterzogenen
Der Arzt sprach noch mit einigen Worten Heinrich seine Teilnahme an des alten Bermann Tod aus. Er erinnerte sich an dessen berühmt gewordene Rede gegen die Einführung der tschechischen Gerichtssprache in gewissen böhmischen Bezirken. Damals war es an einem Haar gehangen, daß der jüdische Provinzadvokat Justizminister geworden wäre. Ja, die Zeiten hatten sich geändert.
Heinrich horchte auf. Das ließ sich am Ende für die politische Komödie verwenden.
Doktor Stauber verabschiedete sich, Georg begleitete ihn zum Wagen, der draußen wartete, und benutzte die Gelegenheit, einige Fragen medizinischer Natur an den Arzt zu richten. Dieser konnte ihn in jeder Hinsicht beruhigen. »Nur schade«, schloß er, »daß die Umstände es Anna nicht gestatten, das Kind selbst zu stillen.«
Georg stand gedankenvoll. Ihr konnte es doch nicht schaden? ... Höchstens dem Kind. Oder auch ihr? ... Er fragte den Arzt.
»Was sollen wir davon reden, wenn es ja doch nicht geht, lieber Baron. Na, machen Sie sich keine Sorgen«, setzte er hinzu und hatte den einen Fuß schon auf dem Wagentritt. »Um das Kind von Ihnen beiden braucht einem nicht bang zu sein.«
Georg blickte ihm fest ins Auge und sagte: »Ich werde jedenfalls dafür Sorge tragen, daß es seine ersten Lebensjahre in gesunder Luft zubringt.«
»Das ist ja sehr schön«, sagte Doktor Stauber mild. »Aber gesündere Luft als im Elternhaus gibts im allgemeinen für Kinder nirgends auf der Welt.« Er reichte Georg die Hand, und der Wagen rollte davon.
Georg blieb einen Augenblick stehen, fühlte eine lebhafte Verstimmung gegen den Arzt
und gab sich selbst das Versprechen, es nie wieder zu Gesprächen mit ihm kommen zu
lassen, die diesem gewissermaßen das Recht gaben, ungebetene Ratschläge oder gar
versteckte Vorwürfe vorzubringen. Was wußte der alte Mann? Was verstand er im Grunde
von der Sache? Immer heftiger wehrte es sich in Georg. Wann es mir beliebt, sagte er
bei sich, werde ich sie heiraten. Könnte sie übrigens nicht das Kind bei sich
behalten? Hat sie nicht selbst gesagt, daß sie stolz darauf sein wird, ein Kind zu
haben? Ich will es ja auch nicht verleugnen. Und ich werde alles tun, was in meinen
Kräften
Langsam war er an der Schmalseite des Hauses vorbei in den Garten spaziert. Auf der Veranda sah er Anna und Heinrich sitzen. Eben kam die Marie aus dem Haus, sehr rot im Gesicht, und setzte auf den Tisch eine warme Schüssel, von der der Dampf aufstieg. Wie ruhig Anna dasitzt, dachte Georg, und blieb im Dunkel stehen. Wie wohlgelaunt, wie sorgenlos, als könnte sie mir völlig vertrauen. Als gäbe es nicht Tod, Armut, treuloses Verlassen. Als liebte ich sie so, wie sie es verdient! Und wieder erschrak er. Lieb ich sie denn weniger? Darf sie mir denn nicht vertrauen? Wenn ich dort oben auf der Bank am Waldesrand sitze, quillt manchmal soviel Zärtlichkeit in mir auf, daß ich vergehen möchte. Warum spür ich jetzt so wenig davon? Er stand nur wenige Schritte entfernt, sah, wie sie verteilte; dann, wie sie ins Dunkel hineinstarrte, aus dem er kommen mußte, und wie ihre Augen zu leuchten begannen, als er plötzlich ins Licht trat. Einzig Geliebte! dachte er. Wie er dann bei den andern saß, sagte Anna: »Du hast ja mit dem Doktor eine so lange Konferenz gehabt.«
»Keine Konferenz, wir haben geplaudert. Auch von seinem Sohn hat er mir erzählt, der bald wieder zurückkommt.«
Heinrich fragte nach Berthold. Der junge Mann interessierte ihn, und er hoffte sehr, ihn im nächsten Winter kennen zu lernen. Die Rede voriges Jahr über den Fall Therese Golowski und dann der offene Brief an seine Wähler, in dem er die Gründe seines Rücktrittes dargelegt hatte, das waren Leistungen hohen Ranges gewesen ... Ja und mehr als das Dokumente der Zeit.
Über Annas Antlitz flog ein leichtes, beinahe stolzes Lächeln. Sie sah auf ihren Teller nieder und dann rasch zu Georg auf. Auch Georg lächelte. Keine Spur von Eifersucht regte sich in ihm. Ob Berthold ahnte ...? Gewiß. Ob er litt? ... Wahrscheinlich. Ob er Anna verzeihen könnte? Daß man da erst verzeihen mußte! Wie dumm.
Ein Gericht Schwämme wurde aufgetragen, bei dessen Erscheinen Heinrich die Frage nicht unterlassen konnte, ob sie etwa giftig wären. Georg lachte.
»Sie brauchen mich nicht zu verhöhnen«, sagte Heinrich. »Wenn ich mich umbringen
wollte, würde ich weder vergiftete Schwämme, noch verdorbene Wurst, sondern ein
edleres und
Du Jude, dachte Georg ohne Feindseligkeit, und dann: er hat vielleicht nicht so unrecht.
Das Bier, von dem Anna nicht trank, schmeckte so gut, daß die Marie um einen zweiten
Krug ins Wirtshaus geschickt wurde. Man kam in behagliche Stimmung. Georg erzählte
wieder von der Reise: von den sonnenschweren Tagen in Lugano, von der Fahrt über den
beschneiten Brenner, von der Wanderung durch die dächerlose Stadt, die nach
zweitausendjähriger Nacht dem Licht entgegendrängte; er beschwor den Augenblick
wieder herauf, in dem sie dabei gewesen waren, er und Anna, als Arbeiter vorsichtig
und mühevoll eine Säule aus der Asche herausschaufelten. Heinrich hatte Italien noch
nicht gesehen. Im nächsten Frühjahr wollte er hin. Er erklärte, daß er sich manchmal
in Sehnsucht verzehre, wenn auch nicht gerade nach Italien, doch nach Fremde, Ferne,
Welt. Manchmal, wenn er vom Reisen sprechen hörte, bekäme er Herzklopfen wie ein Kind
am Vorabend des Geburtstages. Er zweifelte, daß es ihm bestimmt war, sein Leben in
der Heimat zu vollenden. Vielleicht auch, daß er nach jahrelangen Wanderungen
zurückkehrte, in einem kleinen Haus auf dem Land den Frieden seiner spätern
Mannesjahre fände. Wer weiß, es gäbe ja so seltsame Zufälle, ob ihm nicht bestimmt
war, gerade in diesem Haus sein Dasein zu beschließen, in dem er nun eben zu Gaste
sei und sich so wohl fühle, wie schon lange nicht. Anna bedankte sich, als wäre sie
nicht nur hier in der Villa Hausfrau, sondern innerhalb dieser ganzen,
abendlich-stillen Welt. Aus dem Dunkel des Gartens begann es milde zu leuchten. Von
den Gräsern und Blumen kam feuchtwarmer Duft. Die längliche Wiese, die zum Gitter
hinlief, schwebte im Mondenschein empor, und die weiße Bank unter dem Birnbaum
schimmerte her, wie
»Ja richtig«, bemerkte Georg, die Beine behaglich gekreuzt und eine Zigarre rauchend, »haben Sie uns etwas Neues mitgebracht?«
Heinrich schüttelte den Kopf. »Nein, nichts.«
»Wie schade«, sagte Anna und machte den Vorschlag, Heinrich sollte doch den Gang der Handlung geordnet und ausführlich erzählen. Schon lange wünschte sie sich das. Aus Georgs Berichten ließe sich kein klares Bild gewinnen.
Sie sahen einander an. Die dunkle, süße Stunde stieg vor ihnen auf, da sie Brust an Brust geruht in einem dunkeln Zimmer, vor dessen Fenstern hinter wallendem Schneevorhang eine graue Kirche verdämmert und in das Orgeltöne dumpf geklungen waren. Ja, nun wußten sie, wo das Haus stand, in dem das Kind zur Welt kommen sollte. Auch ein anderes, dachte Georg, steht vielleicht schon irgendwo, in dem das Kind, das heute noch nicht geboren ist, sein Leben enden wird als Mann oder als Greis oder ... ach, was für Gedanken ... fort, fort.
Heinrich erklärte sich bereit, den Wunsch Annas zu erfüllen, und stand auf. »Es wird mir vielleicht selber nützlich sein«, sagte er wie zur Entschuldigung. »Ich könnte über allerhand ins Reine kommen.«
»Aber geben Sie acht, daß Sie nicht plötzlich in Ihre politische Tragikomödie geraten«, bemerkte Georg. Und zu Anna gewandt: »Er schreibt nämlich ein Stück mit einem deutschnationalen Couleurstudenten als Helden, der sich aus Verzweiflung über die Emanzipation der Juden mit Schwämmen vergiftet.«
Heinrich winkte ab. »Ein Glas Bier weniger und Sie hätten nicht einmal diesen Witz gemacht.«
»Neid«, erwiderte Georg. Er fühlte sich außerordentlich gut aufgelegt, insbesondere, weil er nun fest entschlossen war, übermorgen abzureisen. Er saß ganz nahe bei Anna, hielt ihre Hand in der seinen und hörte es wie von Melodien späterer Tage im tiefsten Grunde seiner Seele rauschen.
Heinrich stand plötzlich im Garten draußen vor der Veranda, griff über die Brüstung, nahm seinen Mantel vom Sessel und schlug ihn romantisch um sich. »Ich beginne«, sagte er. »Erster Akt.«
»Vorher Ouverture in D-moll«, unterbrach ihn Georg. Er pfiff eine getragene Melodie, nur ein paar Töne, und schloß mit einem »und so weiter«.
»Der Vorhang hebt sich«, sagte Heinrich. »Fest im königlichen
»Ein splendider Vater und König«, sagte Georg.
»Für einen geistreichen Einfall ist ihm nichts zu teuer«, erläuterte Heinrich, »das ist seine Natur. Es folgt ein herrliches Duett zwischen Ägidius und der Prinzessin, dann setzt man sich zum Mahl. Nach dem Mahle Tanz. Hohe Stimmung. Ägidius muß sich natürlich für gerettet halten. Er wundert sich nicht übermäßig, denn sein Haß gegen den König war immer sehr von Bewunderung unterzündet. Der Abend bricht an. Plötzlich ist ein Fremder an der Seite des Ägidius. Vielleicht ist er auch längst dagewesen. Einer unter den vielen, unbemerkt, stumm. Er hat ein Wort mit Ägidius zu sprechen. Fest und Tanz gehen unterdessen weiter. Ägidius und der Fremde. All dies ist Euer, sagt der Fremde. Ihr könnt damit nach Belieben walten, könnt Besitz ergreifen und töten, ganz wie Ihr wollt. Aber morgen ... oder in zwei, oder in sieben Tagen, oder in einem Jahr, oder in zehn oder noch später, wird dieses Schiff sich einer Insel nähern, an deren Ufer auf einem Felsen eine marmorne Halle ragt. Und dort wartet Euer der Tod. Der Tod. Euer Mörder ist mit Euch auf dem Schiff. Aber nur der eine, der dazu bestimmt ist, Euer Mörder zu sein, weiß es selbst. Kein anderer kennt ihn. Ja überhaupt kein anderer auf diesem Schiff ahnt, daß Ihr ein Todgeweihter seid. Das bewahrt wohl in Euch! Denn wenn Ihr Euch irgendwie merken laßt, daß Euer Los Euch selbst bekannt ist, so seid Ihr noch in derselben Stunde dem Tode verfallen.«
Heinrich sprach diese Worte mit affektiertem Pathos, wie um seine Befangenheit zu
verbergen. Einfacher fuhr er fort. »Der Fremde verschwindet. Vielleicht laß ich ihn
auch ans Land setzen von zwei Schweigenden, die ihn begleitet haben. Ägidius bleibt
zurück, unter Hunderten, Männern und Frauen, von denen einer oder eine sein Mörder
ist. Wer? Der Weise? Der Narr? Der Sterngucker dort? Irgendeiner von denen, die im
Dunkeln kauern? Die dort am Geländer schleichen? Eine von den Tänzerinnen? Die
Prinzessin selbst? Sie tritt wieder zu ihm, ist sehr
»Und der dritte Akt?« fragte Anna, da Heinrich noch immer schwieg.
»Der dritte Akt«, wiederholte Heinrich, und seine Stimme klang bedrückt, »der dritte wird wohl in jener Halle auf dem Felsen spielen glauben Sie nicht? Er müßte, denk ich, mit einem Gespräch anfangen zwischen dem König und dem Fremden. Oder mit einem Chor? Nein, auf unbewohnten Inseln gibt es ja keine Chöre. Also der König ist jedenfalls da, und das Schiff ist in Sicht. Übrigens, warum muß die Insel unbewohnt sein?« Er hielt inne.
»Nun?« fragte Georg ungeduldig.
Heinrich legte beide Arme auf die Brüstung der Veranda. »Soll ich Ihnen was verraten? es ist gar keine Oper ...«
»Wie meinen Sie?«
»Es hat schon seine guten Gründe, daß ich an dieser Stelle nie recht weiter gekommen bin. Es ist eine Tragödie, offenbar. Und ich habe nur die Courage nicht, sie zu schreiben. Wissen Sie, was darzustellen wäre? Die innere Wandlung des Ägidius wäre darzustellen. Das ist offenbar das Schwierige und Schöne an dem Stoff, mit andern Worten das, woran ich mich nicht wage. Eine Flucht ist die Idee mit der Oper, und ich weiß nicht, ob ich mir dergleichen darf angehen lassen.« Er schwieg.
»Aber jedenfalls«, sagte Anna, »müssen Sie uns den Schluß erzählen, so wie Sie ihn für die Oper im Sinn hatten. Ich kann Ihnen nämlich nicht verhehlen, daß ich sehr gespannt bin.«
Heinrich zuckte die Achseln und erwiderte müde: »Also das Schiff legt an. Ägidius kommt ans Land, er soll ins Meer gestürzt werden.«
»Aber ich weiß ja nicht«, erwiderte Heinrich leidend. »Von jetzt ab weiß ich überhaupt nichts mehr.«
»Ich hab mir gedacht, daß die Prinzessin es sein würde, die ...«, sagte Anna und vollführte eine todverkündende Handbewegung durch die Luft.
Heinrich lächelte mild. »Ich hab natürlich auch daran gedacht, aber ...« Er unterbrach sich und sah plötzlich gespannt zum Nachthimmel auf.
»Im ersten Plan«, bemerkte Georg mißgelaunt, »sollte es mit einer Art Begnadigung enden. Aber sowas ist wohl nur für eine Oper gut genug. Jetzt, als Tragödienheld wird er natürlich wirklich ins Meer hinuntergestürzt werden, Ihr Ägidius.«
Heinrich hob den Zeigefinger geheimnisvoll empor, und seine Züge belebten sich wieder. »Ich glaube, mir dämmert was. Aber sprechen wir vorläufig nicht davon, wenn ich bitten darf. Es ist doch vielleicht gut gewesen, daß ich den Anfang erzählt habe.«
»Wenn Sie aber glauben, daß ich Ihnen eine Zwischenaktmusik machen werde«, sagte Georg ohne besondre Kraft, »so täuschen Sie sich.«
Heinrich lächelte schuldbewußt gleichgültig, und die gute Stimmung war dahin. Anna fühlte mit Mißbehagen, daß die ganze Geschichte verpufft war. Georg war unsicher, ob er sich ärgern sollte, daß seine Hoffnung ins Wanken gekommen, oder sich freuen, daß er einer Art Verpflichtung ledig geworden war. Heinrich aber war zumute, als verließen ihn seine eigenen Gestalten in schattenhafter Verwirrung, höhnisch, ohne Abschied und ohne das Versprechen wiederzukommen. Er fand sich allein, verlassen, in einem traurigen Garten, in Gesellschaft eines liebenswürdigen guten Bekannten und einer jungen Dame, die ihn gar nichts anging. Er mußte mit einemmal an ein Geschöpf denken, das zu dieser Stunde mit rotgeweinten Augen hoffnungslos in einem schlecht beleuchteten Kupee dunkeln Bergen entgegenfuhr, in Sorge, ob sie morgen früh rechtzeitig zur Probe erscheinen würde. Nun fühlte er es wieder: seit das zu Ende war, ging es abwärts mit ihm. Nichts hatte er mehr und niemanden. Das Leid jener kläglichen und in Qual gehaßten Person war sein einziger Besitz. Und wer weiß, morgen schon, mit den rotgeweinten Augen lächelte sie einen andern an, noch immer Schmerz und Sehnsucht in der Seele und doch schon neue Lebenslust im Blut.
Frau Golowski war auf der Veranda erschienen, etwas verspätet
Frau Golowski dankte. Sie wollte es Therese bestellen. Georg sah nach der Uhr und fand, daß es Zeit war, sich auf den Heimweg zu machen. Dann verabschiedete er sich mit Heinrich. Anna begleitete beide bis zur Gartentür, blieb dort noch eine Weile stehen und sah ihnen nach, bis sie auf der Höhe waren, wo der Sommerhaidenweg anfing.
Die kleine Ortschaft im Talgrund floß im Mondenschein dahin. Die Hügel standen fahl,
wie dünne Wände. Der Wald atmete Dunkelheit. In der Ferne glitzerten tausend Lichter
aus dem Nachtsommerdunst der Stadt. Schweigend gingen Heinrich und Georg
nebeneinander her, und Fremdheit stieg zwischen ihnen auf. Georg erinnerte sich jenes
Spaziergangs durch den Prater im vorigen Herbst, da ein erstes, beinahe vertrautes
Gespräch sie einander genähert hatte. Wie viele waren seither gefolgt! Aber waren sie
nicht alle wie in die Luft geweht? Auch heute noch nicht konnte Georg mit Heinrich
wortlos durch die Nacht wandeln wie früher so manchmal mit Guido, mit Labinski auch,
ohne sich innerlich von ihm fort zu verlieren. Das Schweigen wurde ihm drückend. Er
begann, weil das ihm eben zuerst einfiel, von dem alten Stauber und pries dessen
Verläßlichkeit und Vielseitigkeit. Heinrich war nicht für ihn eingenommen, fand ihn
ein wenig berauscht von der eigenen Güte, Weisheit und Tüchtigkeit. Das war auch eine
Sorte Juden, die er nicht leiden mochte: die mit sich einverstandenen. Sie kamen auf
den jungen Stauber zu reden, dessen Schwanken zwischen Politik und Wissenschaft für
Heinrich etwas sehr Anziehendes zu haben schien. Von da aus gerieten sie in eine
Unterhaltung über die Zusammensetzung des Parlaments, über die Zänkereien zwischen
Deutschen und Tschechen, über die Angriffe der Klerikalen gegen den
Unterrichtsminister. Sie redeten mit so angestrengter Beflissenheit, wie man nur über
Dinge zu sprechen pflegt, die einem im Grunde der
Am offenen Fenster seines Schlafzimmers stand Georg noch eine ganze Weile überwach. Er dachte an Anna, von der er morgen für wenige Tage nur Abschied nehmen sollte, und sah sie vor sich, so wie sie in dieser Stunde im blassen Dämmerlicht zwischen Mond und Morgen auf dem Land draußen in ihrem Bette schlummern mochte. Aber es war ihm in dumpfer Weise, als stände diese Erscheinung nicht mit seinem Schicksal in Zusammenhang, sondern irgendwie mit dem eines Unbekannten, der selbst noch nichts davon wußte. Und daß in jenem schlummernden Wesen ein anderes noch tiefer und geheimnisvoller schlief, und daß dies andre sein Kind sein sollte, das vermochte er gar nicht zu fassen. Jetzt, da die Nüchternheit der Frühe beinahe schmerzlich durch seine Sinne schlich, ward ihm das ganze Erlebnis fern und unwahrscheinlich wie noch nie. Immer hellerer Schein zeigte sich über Dächern und Türmen, aber die Stadt war noch lange nicht erwacht. Ganz regungslos lag die Luft. Von den Bäumen drüben aus dem Park kam kein Wehen, kein Duft von den verblühten Beeten. Und Georg stand am Fenster; glücklos und ohne Begreifen.
Langsam stieg Georg aus dem untern Schiffsraum empor, auf schmaler, teppichbelegter
Treppe, zwischen langgedehnten, schiefen Spiegeln; und in einen langen, dunkelgrünen
Plaid gehüllt, der nachschleppte, wandelte er unter dem Sternenhimmel auf dem
menschenleeren Verdeck auf und ab. Am Steuer, bewegungslos wie immer, stand Labinski,
drehte das Rad und hatte den Blick zum offenen Meer gerichtet. Welche Karriere!
dachte Georg. Zuerst Toter, dann Minister, dann ein kleiner Bub mit einem Muff und
heute schon ein Steuermann. Wenn er wüßte, daß ich auf diesem Schiff bin, so würde er
sicher appellieren. »Geben Sie acht«, sagten hinter Georg die zwei blauen Mädeln, die
er vom Seeufer her kannte; aber schon stürzte er hin, verwickelte sich in den Plaid
und hörte den Flügelschlag weißer Möven über seinem Haupt. Gleich darauf saß er unten
im Salon an der Tafel, die so lang war, daß die Leute am Ende ganz klein aussahen.
Ein Herr neben ihm, der dem alten Grillparzer ähnlich sah, bemerkte ärgerlich: »Immer
hat dieses Schiff Verspätung, schon längst sollten wir in Boston sein.« Nun bekam
Georg große Angst; denn wenn er beim Aussteigen die drei Partituren im grünen Einband
nicht vorweisen konnte, so wurde er unbedingt wegen Hochverrats verhaftet. Darum sah
ihn auch der Prinz, der den ganzen Tag auf dem Verdeck mit dem Rad hin und herraste,
manchesmal so sonderbar von der Seite an. Und um den Verdacht noch zu steigern, mußte
er an der Tafel in Hemdärmeln dasitzen, während sämtliche Herren, wie immer auf
Schiffen, Generalsuniformen und alle Damen rote Samttoiletten trugen. »Gleich sind
wir in Amerika«, sagte ein heiserer Steward, der Spargel verteilte, »nur noch eine
Station.« Die andern können ruhig sitzen bleiben, dachte Georg, die haben nichts zu
tun, ich aber muß gleich ins Theater schwimmen. Und in dem großen Spiegel ihm
gegenüber erschien die Küste: lauter Häuser ohne Dächer, die terrassenartig immer
höher hinaufstiegen; und ganz oben in einem weißen Kiosk mit durchbrochener
Steinkuppel, ungeduldig, wartete die Musikkapelle. Die Glocke auf dem Verdeck
ertönte, und Georg stolperte mit seinem grünen Plaid und zwei Handtaschen die Treppe
hinauf zum Garten. Aber man hatte den unrichtigen hertransportiert; es war nämlich
der Stadtpark; auf einer Bank saß Felician, neben ihm eine alte Dame in einer
Mantille, legte die Finger an die Lippen, pfiff sehr laut, und mit
Der Zug setzte sich eben wieder in Bewegung. Vor dem geschlossenen Kupeefenster leuchteten zwei rote Laternen auf. Dann rann still und schwarz die Nacht vorbei. Georg zog seinen Reiseplaid fester um sich und starrte auf die grün verhängte Lampe an der Decke. Ach wie gut, dachte er, daß ich allein im Kupee bin, so hab ich doch mindestens vier oder fünf Stunden fest geschlafen. Was war das für ein seltsam wirrer Traum? Die weißen Möven fielen ihm zuerst wieder ein. Ob die irgend etwas zu bedeuten hatten? Dann dachte er an die alte Frau mit der Mantille, die eigentlich niemand anders war, als Frau Oberberger. Sie würde sich nicht sonderlich geschmeichelt fühlen. Aber hatte sie nicht wirklich ausgesehen wie eine ganz alte Dame, als er sie vor ein paar Tagen an der Seite ihres leuchtenden Gemahls in der Loge des kleinen, weiß-roten Kurtheaters erblickt hatte? Und auch Labinski war ihm im Traum erschienen, als Steuermann, sonderbarerweise. Und auch die Mädchen in blauen Kleidern, die vom Hotelgarten aus durchs Fenster ins Klavierzimmer hineingeblickt hatten, sobald sie ihn spielen hörten. Aber was war denn nur das Gespenstische in diesem Traum gewesen?
Nicht die blauen Mädchen, auch Labinski nicht und nicht der Prinz von Guastalla, der zu Rad übers Verdeck gerast war. Nein, seine eigene Gestalt war ihm so gespenstisch erschienen, wie sie zu beiden Seiten neben ihm in den langgedehnten, schiefen Spiegeln, hundertmal vervielfacht einhergeschlichen war.
Es begann ihn zu frösteln. Durch den Luftspalt oben drang kühle Nachtluft ins Kupee
herein. Die tiefschwarze Finsternis draußen wandelte sich allmählich in schweres
Grau, und plötzlich klangen Georg Worte im Ohr, die er vor wenigen Stunden erst von
einer dunkeln Frauenstimme gehört hatte, klangen flüsternd und weh: Wie bald wirst du
mich vergessen haben ... Er wollte die Worte nicht hören. Er wollte, sie wären schon
wahr geworden, und wie verzweifelt stürzte er sich zurück in die Erinnerung seines
Traums. Es war ihm ganz klar, daß der Dampfer, auf dem er die Konzertreise nach
Amerika unternommen, eigentlich das Schiff bedeutet hatte, auf dem Ägidius seinem
düstern Schicksal entgegenfuhr. Und der Kiosk mit der Musikkapelle war die Halle
gewesen, wo den Ägidius der Tod erwartete. Wundervoll hatte der Sternenhimmel sich
über das Meer gebreitet.
Das Grau vor dem Kupeefenster erhellte sich langsam. Georg sah, wie draußen die
Telegraphendrähte in eiligen Wellen mitschwebten und wanderten, und er dachte daran,
daß gestern Nachmittag auf einem dieser Drähte auch seine lügnerischen Worte zu Anna
gewandert waren: Morgen früh bin ich bei dir, in Sehnsucht Dein Georg ... Gleich vom
Amt aus war er wieder zurückgeeilt, zu einer glühenden und verzweifelten
Abschiedsstunde mit jener andern. Und er konnte es nicht fassen, daß sie auch in
dieser Stunde noch, während er schon eine ganze Ewigkeit lang von ihr fort war, noch
in dem gleichen Zimmer mit den fest geschlossenen Fensterläden liegen und schlafen
und träumen sollte. Und heute Abend wird sie daheim sein bei Mann und Kindern, daheim
wie er. Er wußte, daß es so war, und er konnte es nicht verstehen. Das erstemal in
seinem Leben war er nahe daran gewesen, irgend etwas zu begehen, was die Leute
vielleicht Tollheit hätten nennen dürfen. Nur ein Wort von ihr und er
Noch immer lag Georg regungslos ausgestreckt in den Plaid gehüllt und überlegte, ob
er von seiner Begegnung mit der
Jedenfalls muß man es zu sehr verläßlichen Menschen geben. Ich will mich selbst darum
kümmern. Es war ihm, als stände er neuen Aufgaben gegenüber, die er niemals recht
überlegt hatte und denen er innerlich nicht gewachsen war. Die ganze Geschichte fing
gleichsam von neuem für ihn an. Er kam aus einer Welt zurück, in der ihn alle diese
Dinge nichts gekümmert, wo andre Gesetze gegolten hatten, als die, denen er sich
jetzt wieder fügen mußte. Und war es nicht gewesen, als hätten auch die andern
Menschen gefühlt, daß er nicht zu ihnen gehörte, als wären sie alle von einem
gewissen Respekt durchdrungen gewesen, als hätte Ehrfurcht sie erfaßt, vor der Macht
und Heiligkeit einer großen Leidenschaft, die sie in ihrer Nähe walten sahen? Er
Georg zerknüllte den Plaid zwischen den Fingern in ohnmächtiger Sehnsucht und schloß
die Augen. Er sah die sanftbewegten Waldhügellinien nicht mehr, die draußen im
Morgenlicht vorbeizogen, und wie zu einem letzten Glück träumte er sich in die
dunkeln Wonnen jener Abschiedsstunde zurück. Doch wider Willen überkam ihn Mattigkeit
nach der durchrüttelten Eisenbahnnacht, und aus selbstgerufenen Bildern jagte es ihn
wieder durch regellose Träume, über die ihm keine Macht gegeben war. Er ging über den
Sommerhaidenweg, in sonderbarem Dämmerlicht, das ihn mit tiefer Traurigkeit erfüllte.
War es Morgen? War es Abend? Oder trüber Tag? Oder war es der rätselhafte Glanz
irgendeines Gestirns über der Welt, das noch niemandem geleuchtet hatte, als ihm?
Plötzlich stand er auf einer großen,
»Bitte sehr, noch zehn Minuten«, sagte jemand. Georg richtete sich auf. Der Kondukteur stand in der Türe und wiederholte: »In zehn Minuten sind wir in Wien.«
»Danke«, sagte Georg und stand auf, mit ziemlich wirrem Kopf. Er öffnete das Fenster
und freute sich, daß draußen in der Welt schönes Wetter war. Die frische Morgenluft
ermunterte ihn völlig. Gelbe Mauern, Bahnwärterhäuschen, Gärtchen,
Telegraphenstangen, Straßen flogen vorüber, und endlich stand der Zug in der Halle.
Ein paar Minuten darauf fuhr Georg in einem offenen Fiaker nach seiner Wohnung, sah
Arbeiter, Ladenmädchen, Bureauleute zu ihrem täglichen Berufe wandern, hörte Rolladen
in die Höhe schnurren; und inmitten aller Unruhe, die seiner wartete, inmitten aller
Sehnsucht, die ihn anderswo hinzog, empfand er das tiefe Wohlgefühl des
Wiederdaheimseins. Als er in sein Zimmer eintrat, fühlte er sich wie geborgen. Der
alte Schreibtisch
Er hatte seine Kleider abgeworfen, ließ sich in seiner weißen Wanne wonniglich von warmem Wasser umspülen. Um im Bade nicht einzuschlafen, wählte er ein Mittel, das sich schon öfters bewährt hatte. Er dachte eine Fuge von Bach Note für Note durch. Das Klavierspiel fiel ihm ein, das mußte auch wieder tüchtig geübt werden. Und Partituren gelesen. Ob es nicht doch das klügste war, noch ein Jahr dem Studium zu widmen? Nicht erst unterhandeln, oder gar eine Stellung annehmen, die man am Ende nicht ausfüllen konnte? Lieber hier bleiben und arbeiten. Hier bleiben? Wo denn? Die Wohnung war ja gekündigt. Einen Augenblick fuhr ihm durch den Sinn, sich in dem alten Hause einzumieten, der grauen Kirche gegenüber, wo er so schöne Stunden mit Anna verbracht hatte; und es war ihm, als erinnerte er sich einer längst vergangenen Geschichte, eines Jugendabenteuers, heiter und ein wenig geheimnisvoll, das lange vorbei war.
Erfrischt und in einem ganz neuen Gewand, dem ersten hellen, das er seit dem Tode des Vaters anlegte, trat er in sein Zimmer zurück. Ein Brief lag auf dem Schreibtisch, den eben die Frühpost gebracht hatte. Von Anna. Er las. Nur ein paar Worte waren es: »Du bist wieder da, mein Geliebter! Ich grüße Dich. Ich sehne mich nach Dir. Laß mich nicht zu lange warten. Deine Anna« ...
Georg sah auf. Er wußte selbst nicht, was ihn an diesem kurzen Brief so sonderbar
berührte. Annas Briefe hatten sonst immer, bei
»Im Garten oben is die gnä Frau«, sagte sie.
Die Tür zur Veranda stand offen. Die Bretter des Bodens knarrten unter Georgs Füßen. Der Garten mit seinem Duft und seiner Schwüle nahm ihn auf. Der alte Garten war es. Alle die Tage, die Georg fern gewesen, war er stille dagelegen, so wie in diesem Augenblick; im Morgenlicht, im Sonnenglanz, im Abendschatten, im Dunkel der Nacht; immer derselbe ... Gerade schnitt der Kiesweg durch die Wiese nach oben. Kinderstimmen waren jenseits der Stauden, an denen rote Beeren hingen. Und dort auf der weißen Bank, den Arm auf der Lehne, sehr bleich, in wallendem blauen Morgenkleid, das war Anna. Ja wirklich sie. Nun hatte sie ihn erblickt. Sie wollte aufstehen. Er sah es und sah zugleich, daß es ihr schwer wurde. Warum nur? Bannte die Erregung sie nieder? Oder war die schwere Stunde schon so nah? Er winkte ihr mit der Hand, sie sollte sitzen bleiben. Sie setzte sich auch wirklich wieder hin und hatte nur die Arme leicht ausgebreitet, ihm entgegen. Ihre Augen leuchteten glückselig. Georg ging sehr rasch, den weichen, grauen Hut in der Hand, und nun war er bei ihr.
»Endlich«, sagte sie, und es war eine Stimme, die so weither klang wie jene Worte in
ihrem Brief von heut Morgen. Er nahm ihre Hände, schüttelte sie in einer sonderbar
ungeschickten
Frau Golowski kam aus dem Hause. Georg sah sie vom obern Ende des Gartens aus auf die Veranda treten. Erregt eilte er ihr entgegen, aber schon wie sie ihn von ferne gewahrte, schüttelte sie den Kopf.
»Noch nicht?« fragte Georg.
»Der Professor meint«, erwiderte Frau Golowski, »eh es dunkel wird.«
»Eh es dunkel wird«, sagte Georg und sah auf die Uhr. »Und jetzt ist es erst drei.«
Sie reichte ihm teilnahmsvoll die Hand, und Georg blickte ihr in die guten etwas
übernächtigen Augen. Die durchsichtigen weißen Vorhänge vor Annas Fenster wurden eben
leicht zurückgeschlagen. Der alte Doktor Stauber erschien in der Fensteröffnung, warf
Georg einen freundlich-beruhigenden Blick zu, verschwand wieder und die Vorhänge
fielen zu. Im großen Mittelzimmer am runden Tische saß Frau Rosner. Georg nahm von
der Veranda aus nur die Umrisse ihrer Gestalt wahr; ihr Gesicht war ganz umschattet.
Wieder drang ein Wimmern, dann ein lautes Stöhnen aus dem Zimmer, in dem Anna lag.
Georg starrte zum Fenster hin, wartete eine Weile, dann wandte er sich ab und ging,
zum hundertstenmal heute, den Weg hinauf zum obern Gartenende. Offenbar ist sie schon
zu schwach, um zu schreien, dachte er; und das Herz tat ihm weh. Zwei volle Tage und
zwei volle Nächte lag sie in Wehen; der dritte neigte sich zum Ende, und nun sollte
es noch dauern, bis der Abend kam! Schon am Abend des ersten Tages hatte Doktor
Stauber einen Professor beigezogen, der gestern zweimal dagewesen und heute seit
Mittag im Hause war. Während Anna auf ein paar Minuten eingeschlummert
Er ging längs der abgeblühten Fliedersträucher, riß Blätter ab, zerrieb sie in der Hand, warf sie zur Erde. Jenseits der niedern Büsche im andern Garten ging eine Dame im schwarz-weiß gestreiften Morgenkleid. Sie schaute Georg ernst und wie mitleidig an. Ach ja, dachte Georg, die hat natürlich auch das Schreien Annas gehört, vorgestern, gestern und heute. Der ganze Ort wußte ja von den Dingen, die hier vorgingen; auch die jungen Mädchen aus der geschmacklosen, gotischen Villa, für die er einmal den interessanten Verführer bedeutet hatte; und geradezu komisch war es, daß ein fremder Herr mit rötlichem Spitzbart, der zwei Häuser weit wohnte, ihn gestern im Ort plötzlich verständnis- und hochachtungsvoll gegrüßt hatte.
Merkwürdig, dachte Georg, wodurch man sich bei den Leuten beliebt machen kann. Nur Frau Rosner ließ durchblicken, daß sie Georg, wenn sie ihm schon nicht die Hauptschuld an der Schwierigkeit des Falles beimaß, jedenfalls für ziemlich gefühllos hielte. Er nahm es der guten und gedrückten Frau nicht übel. Sie konnte natürlich nicht ahnen, wie sehr er Anna liebte. Es war noch nicht lange her, daß er selber es wußte.
An jenem Ankunftsmorgen, da Georg nach langem, stummem Weinen sein Haupt aus ihrem
Schoß erhoben, da hatte sie keine Frage an ihn gerichtet, aber in ihren schmerzlich
erstaunten Augen las er, daß sie die Wahrheit ahnte. Und warum sie nicht fragte, das
glaubte er zu verstehen. Sie mußte ja fühlen, wie ganz
Seit zwei Wochen wohnte er in der Villa, fühlte sich wohl und war in guter und ernster Arbeitsstimmung. Auf dem Tischchen, wo vor kurzem noch Theresens Nähzeug gelegen war, breitete er jeden Morgen Partituren, musiktheoretische Werke, Notenpapiere aus und beschäftigte sich damit, Aufgaben der Harmonielehre und des Kontrapunkts zu lösen. Oft lag er am Waldessaum auf einer Wiese, las in irgend einem Lieblingsbuch, ließ Melodien in sich klingen, träumte vor sich hin, war vom Rauschen der Bäume und vom Glanz der Sonne beglückt. Nachmittags, wenn Anna ruhte, las er ihr vor oder plauderte mit ihr. Oft sprachen sie auch über das kleine Wesen, das nun bald zur Welt kommen sollte, mit Zärtlichkeit und Voraussicht; doch niemals über ihre eigene, nächste und fernere Zukunft. Aber wenn er an ihrem Bette saß, oder Arm in Arm mit ihr im Garten auf und abging, oder an ihrer Seite auf der weißen Bank unter dem Birnbaum saß, wo die leuchtende Stille der Spätsommertage über ihnen ruhte, da wußte er, daß sie nun für alle Zeit fest aneinandergeschlossen waren, und daß selbst die zeitweilige Trennung, die bevorstand, gegenüber dem sichern Gefühl dieser Zusammengehörigkeit keine Macht mehr über sie haben könnte.
Erst seit die Schmerzen über sie gekommen waren, schien sie ihm entrückt, wohin er ihr nicht folgen konnte. Gestern noch war er stundenlang an ihrem Bett gesessen und hatte ihre Hände in den seinen gehalten. Sie war geduldig gewesen wie immer, hatte sich sorglich erkundigt, ob er nur seine Ordnung im Hause habe, hatte ihn gebeten zu arbeiten, spazieren zu gehen wie bisher, da er ihr ja doch nicht helfen könnte, und ihn versichert, daß sie ihn noch mehr liebe, seit sie leide. Und doch, Georg fühlte es, sie war in diesen Tagen nicht dieselbe, die sie gewesen. Besonders wenn sie aufschrie so wie heute Vormittag in den schlimmsten Schmerzen , da war ihre Seele so weit weg von ihm, daß ihn schauerte.
Doktor Stauber legte ihm die Hand auf die Schulter: »Es geht ganz gut.« Ein Stöhnen kam von drin, wurde lauter, wurde ein wilder, wütender Schrei. Georg strich sich über die feuchte Stirn, und mit bitterm Lächeln sagte er zum Doktor: »Das heißen Sie, es geht ganz gut?«
Stauber zuckte die Achseln: »Es steht geschrieben, mit Schmerzen sollst du ...«
In Georg lehnte sich etwas auf. Er hatte nie an den Gott der Kindlich-Frommen geglaubt, der als Erfüller armseliger Menschenwünsche, als Rächer und Verzeiher kläglicher Menschensünden sich offenbaren sollte. Dem Unnennbaren, das er jenseits seiner Sinne und über allem Verstehen im Unendlichen ahnte, konnte Beten und Lästern nichts anderes sein, als arme Worte aus Menschenmund. Nicht als die Mutter nach unsinnig-martervollem Leid, nicht, als in einem für sein Begreifen schmerzenlosen Hingang der Vater starb, hatte er sich des Glaubens vermessen, daß sein Unglück im Weltenlauf mehr bedeutete, als das Fallen eines Blattes. Keinem unerforschlichen Ratschluß hatte er in feiger Demut sich gebeugt, nicht töricht gemurrt gegen ein ungnädiges, gerade über ihn verhängtes Walten. Heute zum erstenmal war ihm, als ginge irgendwo in den Wolken ein unbegreifliches Spiel um seine Sache. Der Schrei drinnen war verklungen, und nur Stöhnen war vernehmbar.
»Und die Herztöne?« fragte Georg.
Doktor Stauber sah an Georg vorbei. »Vor zehn Minuten waren sie noch deutlich zu hören.«
Georg wehrte sich gegen einen furchtbaren Gedanken, der aus den Tiefen seiner Seele hervorgejagt kam. Er war gesund, sie war gesund, zwei junge kräftige Menschen ... konnte so etwas denn möglich sein? Doktor Stauber legte ihm nochmals die Hand auf die Schulter. »Gehen Sie doch spazieren«, sagte er, »wir rufen Sie schon, wenn's Zeit ist.« Und er wandte sich ab.
Georg blieb noch einen Augenblick auf der Veranda stehen. In dem großen Zimmer, das
in Spätnachmittagsdämmer zu versinken begann, an der Wand auf dem Sofa, ganz in sich
zusammengesunken, sah er Frau Rosner sitzen. Er entfernte sich, spazierte rund um das
Haus herum und begab sich dann über die Holzstiege
Er hörte Stimmen, sah hinunter; der Kutscher des Professors hatte ein Dienstmädchen
am Arm gefaßt, das sich nur wenig sträubte. Auch hier wird vielleicht zu einem neuen
Menschenleben der Grund gelegt, dachte Georg und wandte sich angewidert fort. Dann
trat er ins Zimmer zurück, füllte sich seine Zigarettentasche sorgfältig aus der
Schachtel, die auf dem Tisch stand, und plötzlich kam ihm seine Aufregung
unbegründet, ja kindisch vor. Und es fiel ihm ein: Wie Anna jetzt, so lag auch meine
Mutter einmal da, eh ich zur Welt kam. Ob mein Vater auch in solcher Angst
herumgegangen ist? Ob er heute hier wäre, wenn er noch lebte? Ob ich's ihm überhaupt
gesagt hätte? Ob all
Er hörte unter sich ein Geräusch. Schritte? Ja, Schritte und auch Stimmen. Er verließ den Balkon, das Zimmer, lief über die knarrende Holztreppe hinab. Eine Tür ging, eilige Schritte waren im Flur. Im nächsten Moment stand er auf der untersten Stufe, Frau Golowski gegenüber. Sein Herz stand ihm stille. Er öffnete den Mund ohne zu fragen. »Ja«, nickte sie, »ein Bub«.
Er faßte ihre beiden Hände, spürte, wie er über das ganze Gesicht lachte, ein Strom
von Glück, wie er so mächtig und heiß ihn niemals erwartet, rann durch seine Seele.
Plötzlich merkte er, daß die Augen der Frau Golowski nicht so hell leuchteten, wie
sie
Georg, unwillkürlich den Atem anhaltend, trat ganz nahe hin. Er sah zuerst den Doktor an und dann das kleine Wesen, das auf dem weißen Linnen lag. Das hatte die Augen ganz offen, sonderbar große, blaue Augen, wie die von Anna waren. Das Gesicht sah anders aus, als Georg erwartet hatte, nicht verrunzelt und häßlich wie das eines alten Zwerges, nein; es war wirklich ein Menschenantlitz, ein schönes, stilles Kindergesicht; und Georg wußte, daß diese Züge das Ebenbild seiner eigenen waren.
Der Professor sagte leise: »Schon seit einer Stunde hab ich die Herztöne nicht mehr gehört.«
Georg nickte. Dann fragte er heiser: »Wie geht's ihr?«
»Ganz gut. Aber Sie dürfen jetzt nicht hinein, Herr Baron.«
»Nein«, erwiderte Georg und schüttelte den Kopf. Er starrte den bläulich schimmernden, regungslosen, kleinen Körper an und wußte, daß er vor der Leiche seines Kindes stand. Trotzdem sah er wieder den Arzt an und fragte: »Nichts mehr zu machen?«
Der zuckte die Achseln.
Georg atmete tief auf und wies nach der geschlossenen Schlafzimmertür. »Weiß sie schon ?« fragte er den Arzt.
»Noch nicht. Seien wir vorläufig zufrieden, daß es vorbei ist. Sie hat viel zu leiden gehabt, die Arme. Ich bedaure nur, daß es schließlich für nichts gewesen ist.«
»Sie haben es erwartet, Herr Professor?«
»Und wieso ... wieso?«
Leise und mild erwiderte der Arzt: »Ein sehr seltener Fall, wie ich Ihnen vorher schon sagte.«
»Sie sagten mir ...?«
»Ja. Ich versuchte Ihnen zu erklären, daß diese Möglichkeit Es ist nämlich vom Nabelstrang erwürgt worden. Kaum ein bis zwei Prozent aller Geburten haben diesen Ausgang.« Er schwieg. Georg starrte das Kind an. Ganz recht, der Professor hatte ihn schon vorbereitet; er hatte es nur nicht ernst genommen. Frau Rosner stand neben ihm mit hilflosen Augen. Georg reichte ihr die Hand, und sie sahen einander an, wie Schwergeprüfte, die das Unglück zu Gefährten macht. Dann ließ sich Frau Rosner auf einen Sessel an der Wand nieder.
Der Professor sagte zu Georg: »Ich will jetzt noch einmal nach der Mutter sehen.«
»Mutter«, wiederholte Georg und sah ihn an.
Der Arzt schaute weg.
»Sie wollen's ihr sagen?« fragte Georg.
»Nein, nicht gleich. Sie wird übrigens darauf gefaßt sein. Sie hat im Lauf des Tages einigemal gefragt, ob es noch lebt. Es wird auch nicht so furchtbar auf sie wirken, wie Sie fürchten, Herr Baron ... gerade in den ersten Stunden und Tagen nicht. Sie dürfen nicht vergessen, was sie durchgemacht hat.«
Er drückte Georgs schlaff herabhängende Hand und ging. Georg stand regungslos da,
starrte immerfort das kleine Wesen an, und es erschien ihm wie ein Gebilde von
ungeahnter Schönheit. Er berührte Wangen, Schultern, Arme, Hände, Finger. Wie
rätselhaft vollendet dies alles war. Und da lag es nun, gestorben, ohne gelebt zu
haben, bestimmt, von einer Dunkelheit durch ein sinnloses Nichts hindurch in eine
andre einzugehen. Da lag dieser süße, kleine Leib, der fürs Dasein fertig war und
sich doch nicht regen konnte. Da schimmerten große, blaue Augen, wie in Sehnsucht das
Licht des Himmels in sich einzutrinken und todesblind, eh sie einen Strahl gesehen.
Da öffnete sich wie durstig ein kleiner, runder Mund, der doch nie an den Brüsten
einer Mutter trinken durfte. Da starrte dieses bleiche Kindergesicht, mit den
fertigen Menschenzügen, das nie den Kuß einer Mutter, eines Vaters empfangen und
spüren sollte. Wie liebte er dieses Kind! Wie liebte er es jetzt, da es zu spät war.
Eine schnürende Verzweiflung stieg in seine Kehle. Er konnte nicht weinen. Er sah um
sich.
Er stand oben am Gartengitter und sah zum Waldesrande auf, zu seiner Bank, auf der er oft geruht hatte, und ihm war, als wäre auch Wald und Wiese und Bank früher sein Besitz gewesen und er müsse nun auch das hergeben, wie so vieles andere. Im Winkel des Gartens stand ein dunkelgraues, vernachlässigtes Lusthäuschen mit drei kleinen Fensterhöhlen und einer schmalen Türöffnung. Er hatte es nie leiden mögen und nur einmal auf ein paar Augenblicke betreten. Heute zog es ihn hinein. Er setzte sich auf die rissige Bank hin und kam sich plötzlich geborgen und beruhigt vor, als wäre nun alles, was geschehen, weniger wahr oder in irgendeiner unbegreiflichen Weise rückgängig zu machen. Doch schwand dieser Wahn bald wieder dahin, er verließ den unwirtlichen Raum und trat ins Freie. Ich muß jetzt wohl ins Haus zurück, dachte er müde und faßte es doch nicht ganz, daß in dem dunkeln Zimmer, das er von hier aus hinter der Veranda, wie eine unergründliche Finsternis liegen sah, der Leichnam seines Kindes ruhen sollte. Langsam ging er hinab. Auf der Veranda stand Annas Mutter mit einem Herrn. Georg erkannte den alten Rosner. Im Überzieher stand er da, den Hut hatte er auf den Tisch vor sich hingelegt, fuhr sich mit einem Taschentuch über die Stirn, und es zuckte um seine rotgeränderten Augen. Er ging Georg entgegen und drückte ihm die Hand.»Das ist ja leider anders gekommen«, sagte er, »als wir alle erwartet und gehofft hatten.«
Georg nickte. Dann erinnerte er sich, daß der alte Herr in den letzten Wochen mit dem Herzen nicht ganz in Ordnung gewesen war, und erkundigte sich nach seinem Befinden.
Georg merkte, daß die Glastüre zum Mittelzimmer geschlossen war. »Entschuldigen Sie«, sagte er zu dem alten Rosner, schritt geradenwegs auf die Türe los, öffnete sie und schloß sie rasch wieder hinter sich zu. Frau Golowski und Doktor Stauber standen in der Nähe des Tisches und sprachen miteinander. Er trat zu ihnen, sie schwiegen plötzlich.
»Nun?« fragte er dann.
Doktor Stauber sagte: »Wir haben über ... die Formalitäten gesprochen. Frau Golowski wird so gut sein und all das zu besorgen.«
»Ich danke«, erwiderte Georg und reichte Frau Golowski die Hand. »All das«, dachte er. Ein Sarg, ein Begräbnis, Meldung beim Gemeindeamt: geboren ein Sohn der ledigen Anna Rosner, gestorben am gleichen Tage. Nichts vom Vater natürlich. Ja, seine Rolle war erledigt. Heut erst? War sie's nicht von der Sekunde an gewesen, da er zufällig Vater geworden war?
Er sah auf den Tisch hin. Das Linnen lag über die kleine Leiche hingebreitet. O wie rasch, dachte er bitter. Soll ich's niemals wiedersehen dürfen? Einmal wird's wohl noch erlaubt sein. Er zog das Tuch von der Leiche ein wenig fort und hielt es in die Höhe gefaßt. Er sah ein blasses Kindergesicht, das ihm längst bekannt war, nur daß die Augen seither von irgendwem zugedrückt worden waren. Die alte Standuhr in der Ecke tickte. Sechs Uhr. Es war noch keine Stunde vergangen, seit sein Kind geboren und gestorben war; und schon stand diese Tatsache so unwidersprechlich fest, als hätte es gar nicht anders sein können.
Er fühlte sich leicht an der Schulter berührt.
»Sie hat es mit Ruhe aufgenommen«, sagte Doktor Stauber, der hinter ihm stand.
Georg ließ das Linnen über das Antlitz des Kindes sinken und wandte den Kopf nach der Seite. »Sie weiß also schon ...?«
Doktor Stauber nickte. Frau Golowski hatte sich abgewandt.
»Wer hat's ihr gesagt?« fragte Georg.
»Man hat es ihr gar nicht zu sagen brauchen«, erwiderte Doktor Stauber. »Nicht wahr?« wandte er sich an Frau Golowski.
Diese berichtete: »Wie ich zu ihr hineingegangen bin, hat sie mich nur angeschaut, und da hab ich gleich gesehen, daß sie es schon weiß.«
»Und was hat sie gesagt?«
Georg atmete tief auf. Die Türe von Annas Zimmer öffnete sich. Der Professor, im schwarzen Rock, trat heraus. »Sie ist ganz ruhig«, sagte er zu Georg. »Sie können zu ihr hinein.«
»Hat sie mit Ihnen darüber gesprochen?« fragte Georg.
Der Professor schüttelte den Kopf. Dann sagte er: »Ich muß jetzt leider in die Stadt. Sie entschuldigen, nicht wahr? Ich hoffe, es wird weiter gut gehen. Morgen früh bin ich jedenfalls wieder da. Leben Sie wohl, lieber Herr Baron.« Er drückte ihm teilnahmsvoll die Hand. »Sie fahren mit mir hinein, Doktor Stauber, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Doktor Stauber. »Ich will nur Anna noch Adieu sagen.« Er ging.
Georg wandte sich an den Professor. »Darf ich Sie etwas fragen?«
»Bitte.«
»Ich möchte nämlich gern wissen, Herr Professor, ob das vielleicht nur eine Einbildung ist. Mir kommt nämlich vor« und er hob das Tuch wieder von der kleinen Leiche auf »als wenn dieses Kind gar nicht so aussähe wie ein Neugeborenes. Schöner gewissermaßen. Mir ist, als wenn die Gesichter von Neugeborenen eigentlich faltiger, greisenhafter sein müßten. Ich weiß nicht mehr, hab ich einmal selbst eins gesehen oder hab ich nur davon gelesen.«
»Sie haben nicht unrecht«, erwiderte der Professor, »gerade in Fällen dieser Art, auch bei glücklicherem Ausgang, sind die Züge der Kinder nicht entstellt, ja manchmal geradezu schön.« Er betrachtete das kleine Antlitz mit fachlicher Teilnahme, nickte ein paarmal »schade, schade ...« ließ das Tuch wieder fallen, und Georg wußte, daß er das Antlitz seines Kindes zum letztenmal gesehen hatte. Wie hätte es nur heißen sollen? Felician ... Leb wohl, kleiner Felician.
Doktor Stauber trat aus dem Nebenzimmer und schloß leise die Türe. »Anna erwartet Sie«, sagte er zu Georg. Dieser gab ihm die Hand, reichte sie auch dem Professor noch einmal, nickte Frau Golowski zu und trat ins Nebenzimmer.
Die Wärterin erhob sich von Annas Seite und verschwand aus dem Zimmer. Der Tür
gegenüber hing ein Spiegel in dem Georg einen jungen, eleganten Herrn erblickte, der
blaß war und lächelte. Anna lag in ihrem Bett, das frei in der Mitte stand, mit
Anna sprach zuerst. »Du warst im Garten?« fragte sie.
»Ja, ich war im Garten.«
»Ich habe dich von oben herunterkommen gesehen vor einiger Zeit.«
»Du sollst lieber gar nichts reden, Anna. Strengt es dich nicht an?«
»Die paar Worte, o nein. Aber du kannst mir ja was erzählen ...«
Er hielt ihre Hand immer in der seinen und betrachtete ihre Finger. Dann sagte er: »Weißt du eigentlich, daß da oben am Ende des Gartens ein kleines Lusthäuschen steht? Ja, natürlich weißt du ... ich meine nur, wir haben es nie so recht bemerkt.«
»In den ersten Tagen war ich einigemale drin«, sagte Anna. »Schön ist es nicht.«
»Nein, wahrhaftig.«
»Hast du heut vormittag was gearbeitet?« fragte sie dann.
»Was fällt dir ein, Anna.«
Sie schüttelte ganz leicht den Kopf. »Und gerade in der letzten Zeit ist es dir so gut damit gegangen.«
»Ja, wirklich wahr, Anna, du hast dich sehr rücksichtslos benommen.« Er lächelte, sie blieb ernst.
»Du warst gestern in der Stadt?« fragte sie.
»Du weißt ja.«
»Hast du Briefe vorgefunden? Ich meine, wichtige?«
»Du sollst gewiß nicht so viel reden, Anna, ich erzähl dir schon alles. Also: Ich hab keine Briefe von Bedeutung vorgefunden. Auch aus Detmold ist keiner gekommen. Dieser Tage geh ich übrigens wieder zu Professor Viebiger. Aber wir können wirklich ein andermal über diese Dinge reden, glaubst du nicht? Und was das Arbeiten anbelangt ... in den Tristan hab ich heute morgens noch ein wenig hineingesehen. Den kenn ich aber wirklich bis ins kleinste. Ich würde mich getrauen, ihn heut zu dirigieren, wenn's drauf ankäme.«
Sie schwieg und sah ihn an.
Er erinnerte sich des Abends, an dem er mit ihr in der Münchener Oper gesessen hatte, wie eingehüllt in einen durchsichtigen Schleier von geliebten Klängen. Aber er sprach nichts davon.
»Fährst du heute noch in die Stadt?« fragte sie.
Er hatte gar nicht daran gedacht. Jetzt aber war ihm, als winkte damit eine Art von Erlösung. Ja, er wollte hinein. Was konnte er auch hier heraußen noch tun? Aber er antwortete nicht gleich.
Anna begann wieder: »Ich denke, du wirst vielleicht deinen Bruder sprechen wollen.«
»Ja, das möcht ich recht gern. Und du wirst wohl bald schlafen?«
»Ich hoffe.«
»Wie müd mußt du sein«, sagte er, indem er ihre Hand streichelte.
»Nein, es ist etwas anderes. Ich bin so wach ... ich kann dir gar nicht sagen, wie wach ich bin. Mir ist, als wär ich in meinem ganzen Leben nicht so wach gewesen. Und weiß zugleich, daß ich so tief schlafen werde, wie noch nie ... wenn ich nur erst die Augen geschlossen habe.«
»Ja gewiß wirst du das. Aber nun darf ich doch wohl noch eine Weile bei dir bleiben? Am liebsten möcht ich so lange hier sitzen, bis du eingeschlafen bist.«
»Nein, Georg, wenn du da bist, kann ich ja doch nicht einschlafen. Aber bleib nur noch ein bißchen. Das ist schon gut.«
Er hielt immer ihre Hand und blickte zum Garten hinaus, der nun ganz im Abendschatten lag.
»Du warst nicht sehr viel im Auhof oben dieses Jahr?« fragte Anna gleichgültig, als gälte es nur irgend etwas zu reden.
»O ja, täglich beinahe. Hab ich dir's denn nicht gesagt? Ich denke, Else wird James Wyner heiraten und mit ihm nach England gehen.«
Er wußte, daß sie nicht an Else dachte, sondern an eine ganz andere. Und er fragte sich: meint sie etwa, das sei schuld?
Ein lauer Hauch kam von draußen geweht. Kinderstimmen klangen herein. Georg blickte
hinaus. Er sah die weiße Bank unter dem Birnbaum schimmern und dachte daran, wie Anna
ihn dort oben erwartet hatte, im wallenden Kleid, die fruchtschweren Äste über sich,
umflossen vom sanften Wunder ihrer Mütterlichkeit. Und er fragte sich: war es schon
damals bestimmt, daß es so enden müßte? Oder war es am Ende schon in dem Augenblick
bestimmt, da wir einander zum erstenmal umarmt haben? Die Bemerkung des Professors
fuhr ihm durch den Sinn, daß ein bis
Draußen war die Dämmerung, und im Zimmer war es beinahe schon Nacht. Anna lag still und regungslos. Ihre Hand in der Georgs rührte sich nicht. Aber als Georg sich erhob, sah er, daß ihre Augen offen waren. Er beugte sich nieder, zögerte einen Augenblick, dann legte er den Arm um ihren Hals und küßte sie auf die Lippen, die heiß und trocken waren und seine Berührung nicht erwiderten. Dann ging er. Im Nebenzimmer brannte die Hängelampe über dem Tisch, auf dem früher das tote Kind gelegen hatte. Nun war die grüne Tischdecke ausgebreitet, als wäre nichts geschehen. Die Türe zu dem Zimmer, in dem Frau Golowski wohnte, war geöffnet. Das Licht einer Kerze schimmerte herein, und Georg wußte, daß da sein Kind den ersten und letzten Schlummer schlief.
Frau Golowski und Frau Rosner saßen nebeneinander auf dem Sofa an der Wand, stumm, wie zusammengekauert. Georg trat zu ihnen. »Der Herr Gemahl ist schon fort?« wandte er sich an Frau Rosner.
»Ja, er ist mit den Herren Doktoren in die Stadt hineingefahren«, erwiderte sie und sah ihn wie fragend an.
»Sie ist ruhig«, beantwortete Georg ihren Blick. »Ich denke, sie wird fest schlafen.«
»Wollen Sie nicht etwas zu sich nehmen?« fragte Frau Golowski. »Seit ein Uhr haben Sie ...«
Mit raschen Schritten durchmaß er die langgestreckte Ortschaft, wollte nichts denken und betrachtete mit absichtlicher Aufmerksamkeit jedes einzelne Haus, an dem er vorbeikam. Sie waren alle niedrig, die meisten recht trübselig und arm. Hinter ihnen, im Abenddunst, stiegen kleine Gärtchen an zu Weinbergen, Ackern und Wiesen. In einem beinahe menschenleeren Wirtshausgarten, an einem länglichen Tisch, saßen ein paar Musikanten und spielten auf Violine, Gitarre und Harmonika einen klagenden Walzer. Später kam er an ansehnlichen Landhäusern vorbei, und durch offene Fenster sah er in anständig erleuchtete Räume, in denen gedeckte Tische standen. In einem freundlichen Gasthausgarten, möglichst weit von den andern nicht sehr zahlreichen Gästen, ließ er sich endlich nieder, nahm seine Mahlzeit und spürte bald eine wohltuende Müdigkeit über sich kommen. Auf der Pferdebahn duselte er in seiner Ecke beinahe ein. Erst als der Wagen durch belebtere Straßen fuhr, fand er sich wieder und entsann sich des Geschehenen mit quälender, aber trockener Deutlichkeit. Er stieg aus, und durch die feuchte Schwüle des Stadtparks begab er sich nach Hause. Felician war nicht daheim. Auf dem Schreibtisch fand er ein Telegramm liegen. Es war aus Detmold und lautete: »Wir ersuchen höflichst um Nachricht, ob es Ihnen möglich wäre, innerhalb der nächsten drei Tage bei uns einzutreffen. Doch wolle diese Einladung vorläufig als für beide Teile unverbindlich hinsichtlich weiterer Entschließungen angesehen werden. Reisekosten werden in jedem Falle ersetzt. Hochachtungsvoll Hoftheaterintendanz.« Daneben lag das rötliche Blankett für die Antwort.
Georg war enerviert. Was sollte er nun erwidern? Das Telegramm
Die Klingel tönte. Georg fuhr auf. Was war das? Ach ja, es war niemand da, um aufzuschließen. Der Diener war seit erstem entlassen, und die Portiersfrau, die jetzt die Brüder bediente, war um diese Zeit nicht in der Wohnung. Georg ging ins Vorzimmer und öffnete. Heinrich Bermann stand auf dem Flur. »Ich sah von unten Licht in Ihrem Zimmer«, sagte er. »Es war ein guter Einfall von mir, zuerst an Ihrem Haus vorüber zu gehen. Eigentlich wollte ich zu Ihnen aufs Land hinausfahren.«
Spricht er wirklich so erregt, dachte Georg, oder klingt es mir nur so? Er bat ihn einzutreten und Platz zu nehmen.
»Danke, danke, ich gehe lieber auf und ab. Nein, schalten Sie die obere Flamme nicht ein, die Schreibtischlampe genügt. Im übrigen wie geht es bei Ihnen draußen?«
»Heute Nachmittag ist das Kind zur Welt gekommen«, erwiderte Georg ruhig. »Aber leider war es tot.«
»Totgeboren?«
»Ich weiß nicht, ob man es so nennen kann«, entgegnete Georg bitter lächelnd, »denn einen Atemzug soll es getan haben, sagt der Arzt. Drei Tage lang haben die Wehen gedauert. Es war schrecklich. Nun ist es vorbei.«
»Tot. Das tut mir aber sehr leid, glauben Sie mir.« Er reichte Georg die Hand.
»Es war ein Knabe«, sagte Georg, »und merkwürdigerweise sehr schön, anders als
Neugeborene sonst auszusehen pflegen.« Er erzählte auch dann, wie er sich eine ganze
Weile in einem ungastlichen Gartenhaus aufgehalten hatte, das er früher nie betreten,
und wie seltsam sich die Beleuchtung der Landschaft mit
Heinrich saß in der Ecke des Divans und ließ den andern reden. Dann begann er: »Es ist sonderbar, all das ergreift mich natürlich sehr, und doch ... es beruhigt mich zugleich.«
»Beruhigt Sie?«
»Ja. Als wären nun gewisse Dinge, die ich leider befürchten muß, mit einemmal weniger wahrscheinlich geworden.«
»Was für Dinge?«
Ohne auf ihn zu hören, sprach Heinrich weiter, mit zusammengepreßten Zähnen. »Oder ist es nur deshalb so, weil ich dem Schmerz eines andern gegenüberstehe? Oder gar nur, weil ich wo anders bin, in einer fremden Wohnung? Das wäre schon möglich. Haben Sie nicht bemerkt, daß sogar der eigene Tod einem gleich wie etwas höchst Unwahrscheinliches vorkommt, wenn man zum Beispiel auf Reisen ist; manchmal schon auf einem Spaziergang? Solchen unbegreiflichen Selbsttäuschungen ist der Mensch unterworfen.« Er war aufgestanden, zum Fenster getreten, hatte das Gesicht abgewandt. Georg, an den Schreibtisch gelehnt, wartete ahnungsvoll, was er hören sollte. Nach ein paar Sekunden, als hätte er Fassung gewonnen, wandte Heinrich sich um, blieb aber am Fenster stehen, beide Hände rückwärts auf die Brüstung gestützt, und sagte kurz und hart: »Es besteht nämlich die Möglichkeit, daß die junge Dame, die Sie neulich bei mir flüchtig kennen gelernt haben, einen Selbstmord verübt hat. Bitte machen Sie kein so erschrockenes Gesicht. Sie wissen, es war schon in manchen ihrer Briefe zu lesen, daß sie es tun will.«
»Nun also«, sagte Georg.
Heinrich hob abwehrend die Hand. »Ich habe es ja auch niemals ernst genommen. Heute Morgen aber kam ein Brief, der, wie soll ich nur sagen, einen unheimlichen Klang von Wahrheit hatte. Es steht eigentlich auch nichts anderes drin, als was sie mir schon zehn- oder zwanzigmal geschrieben hat, aber der Ton ... der Ton ... kurz und gut, ich bin so gut wie überzeugt, daß es diesmal geschehen ist. Daß es vielleicht in diesem Augenblick schon ...«, er hielt inne und starrte vor sich hin.
»Nein Heinrich.« Georg trat zu ihm hin und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Nein«, fügte er kräftiger hinzu, »ich glaube es absolut nicht. Ich habe sie ja
gesprochen, vor ein paar Wochen
Heinrich schüttelte ungeduldig den Kopf. »Hören Sie, Georg, ich habe an das Sommertheater telegraphiert. Ich habe angefragt, ob sie noch dort ist, etwa so, als wenn es sich um eine Rolle für sie handelte, Probeaufführung eines neuen Stücks von mir, oder dergleichen. Ich habe zu Hause gewartet bis jetzt ... aber es ist noch keine Antwort da. Kommt keine, oder keine genügende, so werde ich auf alle Fälle hinfahren.«
»Ja warum haben Sie nicht einfach angefragt, ob sie ...«
»Ob sie sich umgebracht hat? Man will sich doch nicht blamieren, Georg! Da hätt ich mich ja ungefähr jeden dritten Tag erkundigen können ... Das hätte allerdings eines gewissen grotesken Humors nicht entbehrt.«
»Nun sehen Sie, Sie glauben ja selbst nicht dran.«
»Ich will jetzt nach Hause, schauen, ob ein Telegramm da ist. Adieu Georg. Verzeihen Sie mir. Ich hab es nämlich daheim nicht mehr ausgehalten ... Es tut mir wirklich sehr leid, daß ich Sie in einer solchen Stunde mit meinen Angelegenheiten belästigt habe. Nochmals, verzeihen Sie ...«
»Sie wußten ja nicht ... Und auch wenn Sie gewußt hätten ... Bei mir ist es ja doch ... sozusagen eine abgeschlossene Geschichte. In meiner Angelegenheit ist leider absolut nichts mehr zu tun.« Er blickte angestrengt zum Fenster hinaus, über die Wipfel der Bäume, zu den dunkeln Türmen und Dächern, die aus dem matt rötlichen Glanz der abendlichen Stadt emporstiegen. Dann sagte er: »Ich begleite Sie, Heinrich. Ich kann ja zu Hause doch nichts anfangen. Das heißt wenn Ihnen meine Gesellschaft nicht unangenehm ist.«
»Unangenehm? ... Georg! ...« Er drückte ihm die Hand.
Sie gingen. Anfangs spazierten sie längs des Parks und schwiegen. Georg erinnerte
sich seines Spazierganges mit Heinrich durch die Praterallee, im vorigen Herbst, und
gleich darauf kam ihm der Maienabend ins Gedächtnis, an dem Anna Rosner im
Waldsteingarten erschienen war, später als die andern, und Frau
»Anna befindet sich doch außer Gefahr?« fragte Heinrich.
»Ich hoffe«, erwiderte Georg. Dann sprach er von den Schmerzen, die sie gelitten, von ihrer Geduld und ihrer Güte. Er hatte das Bedürfnis, sie als vollkommenen Engel darzustellen; als könnte er damit etwas sühnen, was er gegen sie verschuldet hätte.
Heinrich nickte. »Sie scheint wirklich eine von den wenigen Frauen, die zur Mutterschaft bestimmt sind. Es ist nämlich nicht wahr, daß es viele von der Art gibt. Kinder zu kriegen dazu sind sie ja alle da, aber Mütter zu sein! Und gerade sie mußte das erleiden! Es ist mir eigentlich nie in den Sinn gekommen, daß so etwas eintreten könnte.«
Georg zuckte die Achseln. Dann sagte er: »Ich hatte erwartet, Sie noch einmal draußen zu sehen. Ich glaube, Sie versprachen mir sogar etwas dergleichen, als Sie vor acht Tagen mit Therese zusammen bei uns nachtmahlten.«
»Ach ja, wie wir uns so furchtbar gezankt haben, Therese und ich. Auf dem Heimweg ist es noch ärger geworden. Zum lachen. Wir gingen nämlich zu Fuß bis in die Stadt. Die Leute, die uns begegneten, müssen uns unbedingt für ein Liebespaar gehalten haben, so fürchterlich haben wir uns gestritten.«
»Und wer hat am Ende recht behalten?«
»Recht? Kommt das jemals vor, daß einer recht behält? Man diskutiert doch nur, um
sich selbst, und nie um den andern zu überzeugen. Denken Sie nur, wenn Therese am
Ende eingesehen hätte, daß ein vernünftiger Mensch sich nie und nimmer einer Partei
anschließen kann! Oder wenn ich ihr hätte zugestehen müssen, daß meine
Parteilosigkeit einen Mangel an Weltanschauung bedeute, wie sie behauptete! Wir
hätten uns beide sofort totschießen können. Was sagen Sie übrigens zu diesem Gerede
von Weltanschauung? Wie wenn Weltanschauung etwas anderes wäre, als der Wille und die
Fähigkeit die Welt wirklich zu sehn, das heißt, anzuschauen, ohne durch eine
vorgefaßte Meinung verwirrt
Sie nahmen den Weg durch wenig belebte und mäßig beleuchtete Vorstadtstraßen. Georg
war es, als spazierte er in einer fremden Stadt umher. Plötzlich erschien ein Haus
ihm sonderbar bekannt, und er merkte jetzt erst, daß sie an dem Haus der Familie
Rosner vorbeigingen. Das Speisezimmer war erleuchtet. Wahrscheinlich saß dort oben
der Alte allein, oder in Gesellschaft seines Sohnes. Ist es denn möglich, dachte
Georg, daß in wenigen Wochen auch Anna wieder dort sitzen wird, am selben Tisch mit
Vater, Mutter und Bruder, als wäre nichts geschehen? Daß sie wieder hinter jenem
Fenster mit den jetzt geschlossenen Jalousien Nacht für Nacht schlafen, Tag für Tag
aus diesem Hause sich zu ihren armseligen Lektionen begeben daß sie dieses ganze,
klägliche Leben wieder aufnehmen wird, als hätte nichts, gar nichts sich verändert?
Nein! Sie durfte nicht mehr zu den
Heinrich sprach noch immer; es war ganz offenbar, daß er sich übertäuben wollte. Er fuhr fort, die Philosophen zu vernichten. Eben war er daran, sie von Dichtern zu Spielenden zu degradieren. Jedes System jedes philosophische und jedes moralische sei Wortspielerei. Eine Flucht aus der bewegten Fülle der Erscheinungen in die Marionettenstarre der Kategorien. Aber das war es eben, wonach es die Menschen verlangte. Daher alle Philosophie, alle Religion, alle Sittengesetze! Auf dieser Flucht waren sie immerfort begriffen. Wenigen, gar wenigen war die ungeheure, innere Bereitschaft gegeben, jede Erfahrung als neu und einzig zu empfinden die Kraft es zu ertragen, daß sie in jedem Augenblick gleichsam in einer neuen Welt stünden. Und doch: nur dem, der den feigen Drang überwinde, alle Erlebnisse in Worte einzuengen, dem zeige das Leben das vielfältig-eine, das wunderbare, sich in seiner wahren Gestalt.
Georg hatte die Empfindung, als strebte Heinrich mit all seinen Reden nur dies an:
vor sich selbst jede Verantwortung gegenüber einem höhern Gesetz abzuschütteln, indem
er keines anerkannte. Und wie in einem wachsenden Widerstand gegen Heinrichs
faselhaft wunderliches Gebaren fühlte er, wie sich in seiner eigenen Seele das Bild
der Welt, das ihm vor Stunden erst wie in Stücke zu zerfallen gedroht hatte,
allmählich wieder zusammenzuschließen begann. Eben noch hatte er sich gegen die
Sinnlosigkeit des Schicksals aufgelehnt, das ihn heute betroffen, und schon begann er
dumpf zu ahnen, daß auch das, was ihm ein trauriger Zufall geschienen, nicht aus dem
Leeren auf sein Haupt heruntergestürzt war, sondern daß es ebenso auf einem
vorbestimmten,
Sie waren vor dem Hause, in dem Heinrich wohnte. Der Hausmeister stand am Tor und teilte mit, daß er vor kurzem eine Depesche in Heinrichs Zimmer gelegt hätte.
»So?« sagte Heinrich wie gleichgültig und ging langsam die Treppen hinauf. Georg folgte. Im Vorzimmer zündete Heinrich eine Kerze an. Auf einem kleinen Tischchen lag die Depesche. Heinrich öffnete sie, hielt sie nah zum flackernden Licht hin, las für sich und wandte sich dann zu Georg. »Sie wurde heute morgens auf der Probe erwartet und ist nicht erschienen.« Er nahm den Leuchter in die Hand und trat, von Georg gefolgt, in den nächsten Raum, stellte das Licht auf den Schreibtisch und ging im Zimmer auf und ab. Georg hörte durchs offene Fenster über den dunkeln Hof Klaviergeklimper. »Sonst enthält die Depesche nichts?« fragte er.
»Nein. Aber offenbar ist sie nicht nur nicht auf der Probe gewesen, sondern war auch in ihrer Wohnung nicht zu finden. Sonst hätte man wohl telegraphiert, daß sie krank sei, oder sonst ein Wort der Erklärung. Ja, lieber Georg« er atmete tief auf »diesmal ist es geschehen.«
»Warum? Dafür ist doch kein Beweis vorhanden, kaum ein Anhaltspunkt.«
Heinrich schnitt mit einer seiner kurzen Handbewegungen die Rede des andern ab. Dann sah er auf die Uhr und sagte: »Heut hab ich keinen Zug mehr ... Ja ... was soll man nur was soll man nur beginnen?« Er hielt inne, blieb stehen und sagte plötzlich: »Ich werde zu ihrer Mutter fahren. Ja. Das ist das beste ... Vielleicht, vielleicht ...«
Sie verließen die Wohnung. An der nächsten Ecke nahmen sie einen Wagen.
»Hat die Mutter etwas gewußt?« fragte Georg.
»Ach Gott«, sagte Heinrich. »Was Mütter eben zu wissen pflegen. Es ist ja unglaublich, wie wenig die Menschen über das nachdenken, was in ihrer nächsten Nähe vorgeht, wenn sie nicht durch einen äußern Anlaß dazu genötigt werden. Und die meisten Menschen ahnen nicht einmal, was sie alles wissen, in der Tiefe ihrer Seele wissen, ohne sich's einzugestehen. Die gute Frau wird wohl etwas erstaunt sein, wenn ich so plötzlich vor ihr auftauche ... ich habe sie schon lange nicht gesehen.«
»Ja, was werde ich ihr sagen?« wiederholte Heinrich und biß an seiner Zigarre herum. »Hören Sie, ich habe eine großartige Idee. Sie werden mit mir kommen, Georg, ich stelle Sie als Direktor vor, ja? Sie sind auf der Durchreise hier, müssen noch heute mit einem Separatzug um elf Uhr fort, nach Petersburg, haben irgendwie gehört, daß sich das Fräulein in Wien aufhält, und ich, als alter Bekannter des Hauses bin so liebenswürdig Sie vorzustellen.«
»Sind Sie zu dergleichen Komödien aufgelegt?« fragte Georg.
»Ach verzeihen Sie, Georg! Es ist ja alles gar nicht notwendig. Ich frage die Alte einfach, ob sie Nachricht hat ... Was sagen Sie ... wie schwül diese Nacht ist?«
Sie fuhren über den Ring, durch den hallenden Burghof, durch die Straßen der Stadt. Georg war eigentümlich gespannt. Wenn die Schauspielerin nun wirklich ruhig bei ihrer Mutter zu Hause säße, dachte er. Er fühlte, daß es eine Art Enttäuschung für ihn bedeuten würde. Dann schämte er sich dieser Regung. Ist denn die ganze Geschichte eine Zerstreuung für mich, dachte er. Was den andern Leuten passiert ... ist uns wohl selten mehr, würde Nürnberger finden ... Eine seltsame Art sich zu zerstreuen, um den Tod seines Kindes zu vergessen ... Aber was soll man tun? ... Ändern kann ich nichts mehr. In ein paar Tagen reis' ich fort. Gott sei Dank.
Der Wagen hielt vor einem Hause in der Nähe des Pratersterns. Über den Viadukt gegenüber dröhnte eben ein Zug, darunter weg liefen die Alleen des Praters ins Dunkle. Heinrich schickte den Wagen fort. »Ich danke Ihnen sehr«, sagte er zu Georg. »Leben Sie wohl.«
»Ich warte hier auf Sie.«
»Wollen Sie wirklich? Nun, ich bin Ihnen sehr dankbar.«
Er verschwand im Haustor. Georg ging auf und ab. Rings herum auf den Straßen war es
trotz der späten Stunde noch ziemlich belebt. Aus dem Prater drangen die Klänge eines
Militärorchesters zu ihm her. Ein Mann und eine Frau kamen an ihm vorbei. Der Mann
trug ein schlafendes Kind auf dem Arm, das die Hände um den Hals des Vaters
geschlungen hatte. Georg dachte an den Grinzinger Garten, an das kleine, ungewaschene
Ding, das ihm von den Armen der Mutter aus die Händchen entgegengestreckt hatte. War
er damals wirklich gerührt gewesen, wie Nürnberger behauptet hatte? Nein, Rührung war
es wohl nicht. Etwas anderes
Heinrich kam aus dem Haustor. Hinter ihm fiel das Tor zu. »Nichts«, sagte er. »Ganz ahnungslos ist die Mutter. Ich habe nach der Adresse gefragt, als wenn ich ihr was Wichtiges mitzuteilen hätte. Ich wäre gerade aus dem Prater gekommen, und da fiel mir ein ... na und so weiter. Eine gute, alte Frau. Der Bruder sitzt am Tisch und zeichnet auf einem Reißbrett eine Ritterburg mit unzähligen Türmen aus einer illustrierten Zeitung ab.«
»Jetzt seien Sie einmal aufrichtig«, sagte Georg. »Wenn Sie sie auf diese Weise retten könnten, würden Sie ihr auch jetzt nicht verzeihen?«
»Ja Georg, merken Sie denn noch immer nicht, daß es sich gar nicht darum handelt, ob ich verzeihen will oder nicht? Denken Sie doch, ich hätte einfach aufgehört sie zu lieben, was doch gelegentlich passieren kann, auch ohne daß man ›verraten‹ worden ist. Denken Sie, eine Frau, die Sie liebt, würde Sie verfolgen, eine Frau, vor deren Berührung Ihnen aus irgendeinem Grunde graut, würde Ihnen schwören, sie bringt sich um, wenn Sie sie verschmähen. Wären Sie verpflichtet ihr nachzugehen? Könnten Sie sich den leisesten Vorwurf machen, wenn sie wirklich aus sogenannter verschmähter Liebe in den Tod ginge? Würden Sie sich als ihr Mörder fühlen? Das ist doch lauter Unsinn, nicht wahr? Also wenn Sie glauben, daß es das sogenannte Gewissen ist, das mich jetzt peinigt, so irren Sie sich. Es ist einfach die Sorge um das Schicksal eines Wesens, das mir einmal nahestand und gewissermaßen heute noch nahesteht. Die Ungewißheit ...« Plötzlich blickte er starr nach einer Richtung.
»Was ist Ihnen?« fragte Georg.
»Sehen Sie nicht? Ein Telegraphenbote. Er kommt auf das Haustor zu.« Ehe der Mann
noch klingeln konnte, war Heinrich bei ihm, und sagte ihm ein paar Worte, die Georg
nicht verstehen konnte. Der Bote schien Einwendungen zu machen, Heinrich erwiderte,
und Georg, der nähergetreten war, konnte es
Der Bote war befremdet, aber durch das Trinkgeld milde gestimmt. Heinrich klingelte und wandte sich ab. »Kommen Sie«, sagte er zu Georg. Sie gingen stumm die Straße weiter. Nach ein paar Minuten sagte Heinrich: »Es ist geschehen.«
Georg erschrak heftiger, als er erwartet hätte. »Ist es möglich ...« rief er aus.
»Ja«, sagte Heinrich. »Im See hat sie sich ertränkt. In dem See, an dem Sie heuer im Sommer ein paar Tage gewohnt haben«, setzte er hinzu, in einem Ton, als trüge Georg nun auch irgendwie einen Teil der Verantwortung für das, was geschehen war.
»Was steht in dem Telegramm?« fragte Georg.
»Es ist vom Direktor. Er hat eben die Nachricht erhalten, daß sie beim Kahnfahren verunglückt ist. Erbittet nähere Weisungen von der Mutter.« Er sprach kühl, hart, als läse er eine Notiz aus der Zeitung vor.
»Die unglückliche Frau! Sollten Sie nicht doch, Heinrich ...«
»Was ...? Zu ihr? Was soll ich denn bei ihr tun?«
»Wer denn als Sie, kann ihr jetzt ... und muß ihr beistehen?«
»Wer denn als ich?« Er blieb stehen. »Sie denken, weil es sozusagen meinetwegen
geschehen ist? Ich erkläre Ihnen hiermit feierlich, daß ich mich total unschuldig
fühle. Der Kahn, aus dem sie sich hat sinken lassen, und die Wellen, die sie
empfangen haben, können sich nicht schuldloser fühlen, als ich. Das will ich nur
feststellen. Aber daß ich zu der Mutter hinein muß ... Ja, damit haben Sie vollkommen
recht.« Und er schlug wieder die Richtung nach dem Hause ein. »Wenn Sie wollen«,
sagte Georg, »so bleibe ich bei Ihnen.« »Was fällt Ihnen ein, Georg. Gehen Sie nur
ruhig nach Hause. Was soll ich noch alles von Ihnen verlangen? Und grüßen Sie Anna
und sagen Sie ihr, wie sehr ich beklage ... na Sie wissen ja ... Da wären wir. Sie
gestatten, daß ich noch ein paar Sekunden verziehe, ehe ich ...« Er blieb stumm
Das Tor öffnete sich und fiel wieder zu. Georg stand allein auf der Straße. Der Kopf
war ihm wirr, das Herz bedrückt. Er ging ein paar Schritte, dann nahm er einen Wagen
und fuhr nach Hause. Er sah die Tote vor sich, so wie sie an jenem hellen Sommertage
vor der Bühnentür gestanden war, in roter Bluse und kurzem, weißen Rock, mit den
irrenden Augen unter dem rötlichen Schopf. Er hätte damals übrigens geschworen, daß
sie mit dem Komödianten, der Guido ähnlich sah, ein Verhältnis hatte. Vielleicht war
es auch so. Das konnte eine Art von Liebe gewesen sein und was sie für Heinrich
fühlte, eine andere. Es gab wirklich viel zu wenig Worte. Für den einen geht man in
den Tod, mit dem andern liegt man im Bett, vielleicht noch in der Nacht, eh man sich
für den einen ertränkt. Und was beweist ein Selbstmord am Ende? Vielleicht nur, daß
man in irgendeinem Augenblick den Tod nicht recht verstanden hat. Wie wenige
versuchen es noch einmal, wenn es ihnen einmal mißglückt ist. Das Gespräch mit Grace
fiel ihm ein, an Labinskis Grab, das glühend-kalte, an dem sonnigen Februartag im
schmelzenden Schnee. In jener Stunde hatte sie ihm gestanden, daß sie von keinem
Grauen erfaßt worden war, als sie Labinski erschossen vor ihrer Wohnungstür gefunden
hatte. Und als vor vielen Jahren ihre kleine Schwester gestorben war, hatte sie eine
Nacht lang am Totenbett gewacht, ohne auch nur eine Spur von dem zu empfinden, was
andere Menschen Grauen nannten. Aber etwas, das diesem Gefühle ähnlich sein mochte,
so erzählte sie Georg, hatte sie in der Umarmung von Männern kennen gelernt. Zuerst
war ihr das selbst rätselhaft
Als er erwachte, suchten seine Augen durchs Fenster, wie er es nun seit Tagen gewohnt war, eine weiße Linie, zwischen Wald und Wiesen: den Sommerhaidenweg. Er sah aber nur einen bläulichen, leeren Himmel, in den eine Turmspitze sich bohrte, mit einemmal wußte er, daß er zu Hause war, und alles, was er gestern erlebt hatte, fiel ihm ein. Doch fühlte er Leib und Seele morgenfrisch, und ihm war, als hätte er außer dem Traurigen, das geschehen war, sich auch irgendeiner günstigen Sache zu entsinnen. Ach ja. Das Telegramm aus Detmold ... War das denn etwas so Günstiges? Gestern Abend hatte er es nicht so empfunden.
Es klopfte an seine Tür. Felician trat zu ihm ins Zimmer, Hut und Stock in der Hand. »Ich hab gar nicht gewußt, daß du heute zu Hause geschlafen hast«, sagte er. »Grüß dich Gott. Also was gibts denn draußen neues?«
Georg hatte den Arm auf den Polster gestützt und blickte zu seinem Bruder auf. »Es ist vorüber«, sagte er. »Ein Bub, aber tot.« Und er sah vor sich hin.
»Geh«, sagte Felician bewegt, trat auf ihn zu und legte unwillkürlich
»Ah, das ist die«, sagte Felician. »Es steht nämlich schon in der Zeitung.«
»Also wie ist es denn geschehen?« fragte Georg neugierig.
»Sie ist in den See hinausgefahren und hat sich vom Kahn aus ins Wasser gleiten lassen ... Na, du wirst ja lesen ... Jetzt fährst du wohl gleich wieder aufs Land hinaus?« fügte er hinzu.
»Natürlich«, erwiderte Georg. »Aber ich hab dir ja noch was zu sagen, Felician, was dich interessieren dürfte.« Und er berichtete dem Bruder von dem Detmolder Telegramm.
Felician schien erstaunt. »Das wird ja ernst«, rief er aus.
»Ja, es wird ernst«, wiederholte Georg.
»Du hast noch nicht geantwortet?«
»Nein, wie hätt ich können?«
»Und was gedenkst du zu tun?«
»Aufrichtig gestanden, ich weiß nicht recht. Du begreifst, daß ich nicht auf der Stelle hinfahren kann, besonders unter diesen Umständen.«
Felician schien nachdenklich. »Mit einem kleinen Aufschub wird ja wohl nichts verloren sein«, sagte er dann.
»Das denk ich mir auch. Vor allem muß ich wissen, wie's draußen geht. Ich möchte mich natürlich auch gern mit Anna beraten.«
»Wo hast du denn das Telegramm, darf man's lesen?«
»Drin auf dem Schreibtisch liegt's«, sagte Georg, der eben damit beschäftigt war, sich die Schuhe zuzuschnüren.
Felician begab sich ins Nebenzimmer, nahm die Depesche zur
»Mir scheint, Felician, es kommt dir noch immer merkwürdig vor, daß ich nun bald einen wirklichen Beruf haben soll.«
Felician stand wieder bei seinem Bruder, strich ihm übers Haar und sagte: »Es ist vielleicht eine gute Fügung, daß die Depesche gerade gestern gekommen ist.«
»Gut? Inwiefern?«
»Ich meine, nach so einem trüben Ereignis dürfte dir die Aussicht auf praktische Betätigung doppelt wohltun ... Aber ich muß dich jetzt leider verlassen. Ich hab noch eine ganze Menge zu tun; Abschiedsbesuche unter anderm.«
»Wann fährst du denn, Felician?«
»Heut in acht Tagen. Sag Georg, du kommst doch heut wahrscheinlich noch vom Land zurück?«
»Wenn draußen alles in Ordnung ist, ganz bestimmt.«
»Wir könnten uns vielleicht am Abend noch treffen?«
»Das wär mir sehr lieb, Felician.«
»Also wenn's dir recht ist ich bin von sieben Uhr an zu Hause. Wir können vielleicht zusammen soupieren, aber allein, nicht im Klub.«
»Ja, gern.«
»Und ich möcht dich was bitten«, begann Felician nach kurzem Schweigen wieder. »Bestell draußen einen Gruß von mir, einen herzlichen ... und sag ihr, daß ich den innigsten Anteil nehme.«
»Ich danke dir, Felician, ich werde es ihr ausrichten.«
»Wirklich, Georg, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr es mich berührt hat«, fuhr Felician mit Wärme fort. »Ich hoffe nur, sie kommt bald darüber hin weg ... Und du auch.«
Georg nickte. »Weißt du«, sagte er leise, »wie er hätte heißen sollen? Felician!«
Felician sah seinem Bruder ins Auge, sehr ernst, dann drückte er ihm die Hand. »Aufs nächstemal«, sagte er mit einem guten Lächeln. Noch einmal drückte er dem Bruder die Hand und ging. Georg sah ihm nach, zwiespältig bewegt. Ganz unangenehm ist es ihm ja doch nicht, dachte er, daß es so gekommen ist. Rasch machte er sich fertig und beschloß, heute wieder einmal zu Rad aufs Land zu fahren.
Erst als er über die belebteren Straßen hinaus war, kam er zum Gefühl seiner selbst.
Der Himmel hatte sich ein wenig getrübt, und von den Hügeln her wehte Georg ein
kühler Wind wie
»Guten Morgen«, rief er möglichst heiter.
Frau Golowski, die an Annas Bett gesessen war, erhob sich und erzählte gleich: »Gut haben wir geschlafen, fest und gut.«
»Na, das ist schön«, sagte Georg und schwang sich über die Brüstung ins Zimmer.
»Du bist ja sehr unternehmend heute«, sagte Anna mit ihrem verschmitzten Lächeln, das Georg an längst vergangene Zeiten erinnerte. Frau Golowski teilte mit, der Professor wäre am frühen Morgen dagewesen, hätte sich vollkommen zufrieden gezeigt, und Frau Rosner in seinem Wagen mit in die Stadt genommen. Dann entfernte sie sich, mit guten Blicken.
Georg beugte sich zu Anna nieder, küßte sie innig auf Augen und auf Mund, rückte den Stuhl näher, setzte sich und sagte: »Mein Bruder grüßt dich herzlich.«
Es zuckte unmerklich um ihre Lippen. »Danke«, erwiderte sie leise und bemerkte dann: »Du bist ja mit dem Rad herausgekommen?«
»Ja«, erwiderte er. »Da muß man nämlich auf den Weg aufpassen, was zuweilen sein Gutes hat.« Dann berichtete er vom Abschluß des gestrigen Abends, erzählte das Ganze wie eine spannende Geschichte, und erst zum Schluß, wie es sich gehörte, durfte Anna er fahren, wie Heinrichs Geliebte geendet hatte. Er erwartete sie bewegt zu sehen, aber sie behielt einen sonderbar harten Zug um den Mund.
»Es ist doch furchtbar«, sagte Georg. »Findest du nicht?«
»Ja«, erwiderte Anna kurz, und Georg fühlte, daß ihre Güte hier völlig versagte. Er
sah den Widerwillen aus ihrer Seele fließen, nicht lau wie von einem Wesen zum andern
hin, sondern stark und tief, wie einen Strom des Hasses von Welt zu Welt. Er ließ
»Nun?« fragte sie gespannt.
Er nahm das Detmolder Telegramm aus seiner Brusttasche und las es ihr vor. »Was sagst du dazu?« fragte er mit gespieltem Stolz.
»Und was hast du geantwortet?«
»Noch gar nichts«, erwiderte er beiläufig, als wäre er nicht gesonnen, die Sache sonderlich ernst zu nehmen. »Ich wollt es natürlich vorher mit dir besprechen.«
»Also was denkst du?« fragte sie unbeweglich.
»Ich ... lehne natürlich ab. Ich depeschiere, daß ich ... in der nächsten Zeit keineswegs hinkommen könnte.« Und er erläuterte ihr ernsthaft, daß mit einem Aufschub weiter nichts verloren sei, da er ja als Gast jedenfalls willkommen und diese dringende Aufforderung doch nur einem Zufall zu verdanken war, auf den zu hoffen man nicht das Recht gehabt hätte.
Sie ließ ihn eine Weile reden, dann sagte sie. »Du bist schon wieder einmal leichtsinnig. Vor allem find ich, hättest du gleich antworten sollen. Und ...«
»Nun, und? ... Vielleicht auch gleich heute früh fortfahren, statt zu dir herauszukommen wie?« scherzte er.
Sie blieb ernst. »Warum nicht?« sagte sie. Und auf sein befremdetes Zurückwerfen des Kopfes: »Mir geht es ja Gott sei Dank sehr gut, Georg; und auch wenn es mir etwas schlechter ginge, helfen könntest du mir ja doch nicht, also ...«
»Ja, Kind«, unterbrach er sie, »mir scheint, du verstehst gar nicht recht, um was es sich handelt! Das Hinfahren ist natürlich eine ziemlich einfache Sache aber das Dortbleiben! Das Dortbleiben mindestens bis Ostern! So lange dauert die Saison.«
»Na, daß du nicht fortgefahren bist, ohne mir vorher adieu zu sagen, Georg, das finde ich natürlich ganz in der Ordnung. Aber siehst du, fort mußt du ja jedenfalls, nicht wahr? Wenn wir auch gerade in der letzten Zeit nicht darüber gesprochen haben, wir haben's doch beide gewußt. Also ob du in vier Wochen wegfährst, oder übermorgen oder heute ...«
Nun begann Georg sich ernstlich zu wehren. Das sei durchaus nicht gleichgültig, ob in vier Wochen oder heute. Im Laufe von vier Wochen könne man sich doch mit gewissen Gedanken vertraut machen und überdies alles genau besprechen hinsichtlich der Zukunft.
»Was gibt es da viel zu besprechen«, erwiderte sie müd. »In
Sie sah ihn an. »Ich weiß, was es bedeutet«, sagte sie.
Unwillkürlich wich er ihrem Blick aus, nahm ihre Hände, küßte sie, war innerlich aufgewühlt. Als er wieder aufblickte, sah er ihre Augen mütterlich auf sich ruhen. Und wie eine Mutter sprach sie ihm zu. Sie erklärte ihm, daß er gerade in Hinsicht auf die Zukunft und es schwebte um dieses Wort kaum wie ein linder Hauch eigener Hoffnung eine solche Gelegenheit nicht versäumen dürfe. In zwei oder drei Wochen konnte er ja von Detmold aus auf ein paar Tage wieder nach Wien zurückkommen. Denn das würden die Leute dort gewiß einsehen, daß er seine Angelegenheiten hier in Ordnung bringen müßte. Aber vor allem wäre es notwendig, ihnen einen Beweis seines ernsten Willens zu geben. Und wenn er auf ihren Rat etwas halte, so gäbe es nur eins: noch heute abends abzureisen. Um sie brauche er keine Sorge zu hegen, sie fühlte, daß sie außer jeder Gefahr sei, ganz untrüglich fühle sie das. Natürlich werde er täglich Nachricht haben, zweimal, wenn er wollte, früh und abends. Er gab nicht gleich nach, kam nochmals darauf zurück, daß das Unerwartete dieser Trennung ihn geradezu niederdrücken würde. Sie erwiderte, daß ihr ein solcher rascher Abschied viel lieber sei, als die Aussicht auf weitere vier Wochen in Bangen, Rührung und Abschiedsangst. Und das wesentliche bleibe doch immer: daß es sich um nicht viel mehr handle als ein halbes Jahr. Dann hatte man wieder ein halbes für sich, und wenn alles gut ginge, so standen vielleicht nicht mehr viele solcher Trennungszeiten bevor.
Nun fing er wieder an: »Und was wirst du in diesem halben Jahr tun, während ich fort bin? Es ist doch ...«
Sie unterbrach ihn: »Vorläufig wird es schon so weitergehen, wie es eben jahrelang gegangen ist. Aber ich hab heute früh über vielerlei nachgedacht.«
»Die Gesangschule?«
»Auch das. Obzwar das natürlich nicht so leicht ist und nicht
»Ja was?« rief er so verzweifelt aus, daß sie lachen mußte. Dann sagte sie: »Sehr einfach. Werde morgen mittag die Ehre haben, mich in Ihrer Kanzlei einzufinden. Aller-, alleruntertänigst, oder ergebenst ... oder allerhochmütigst ...«
Er sah sie an. Dann küßte er ihr die Hand und sagte: »Du bist entschieden die Gescheitere von uns zweien.« Sein Ton deutete an: auch die Kühlere, aber ein Blick von ihr, mild, zärtlich und etwas spöttisch, lehnte diesen Nebensinn ab.
»Also in zehn Minuten bin ich wieder da.« Er verließ sie mit heiterer Stirn, trat ins Nebenzimmer und schloß die Türe. Gegenüber, hinter jener andern, jetzt fiel es ihm mit Macht wieder ein, lag sein totes Kind im Sarg ... denn das »Nötige«, wie gestern Doktor Stauber sich ausgedrückt hatte, war ja wohl schon besorgt worden. In einer wehen Sehnsucht krampfte sich sein Herz. Frau Golowski kam aus dem Vorzimmer. Sie trat auf ihn zu, sprach bewundernd von der Ergebenheit und der Gefaßtheit Annas. Georg hörte etwas zerstreut zu. Seine Blicke glitten immerfort über jene Türe hin, und endlich sagte er leise: »Ich möcht es doch noch einmal sehen.«
Sie schaute ihn an, leicht erschrocken zuerst und dann mitleidig.
»Schon zugenagelt?« fragte er angstvoll.
»Schon fortgeschafft«, erwiderte Frau Golowski langsam.
»Fortgeschafft?!« Sein Gesicht verzerrte sich mit einmal so peinvoll, daß die alte Frau wie beruhigend die Hände auf seinen Arm legte. »Ich war in aller Früh die Anmeldung machen«, sagte sie, »und das andre ist dann sehr schnell gegangen. Vor einer Stunde hat man's abgeholt in die Totenkammer.«
In die Totenkammer ... Georg erbebte. Und er schwieg lange, verstört, wie wenn er eine völlig unerwartete grauenhafte Neuigkeit erfahren hatte. Als er wieder zu sich kam, fühlte er noch immer die freundliche Hand Frau Golowskis auf seinem Arm und sah ihren Blick aus übernächtigen, gütigen Augen auf seinem Antlitz ruhen.
»Also erledigt«, sagte er, mit einem empörten Blick nach oben, als wär ihm jetzt erst
die letzte Hoffnung tückisch geraubt. Dann reichte er Frau Golowski die Hand. »Und
Sie haben alles das auf
Eine Bewegung der alten Frau wehrte jeden weitern Dank ab. Georg verließ das Haus, warf auf den kleinen, blauen Engel, der wie ängstlich zu den verblühten Beeten niederschaute, einen verächtlichen Blick und trat auf die Straße. Auf dem Weg zum Amt überlegte er angestrengt die Fassung des Telegramms, das seine Ankunft in dem Ort des neuen Berufs und der neuen Verheißung ankündigen sollte.
Der alte Doktor Stauber und sein Sohn saßen beim schwarzen Kaffee. Der Alte hielt ein Zeitungsblatt in der Hand und schien darin etwas zu suchen. »Der Termin für den Prozeß«, sagte er, »ist noch nicht festgesetzt.«
»So«, erwiderte Berthold, »Leo Golowski glaubt, daß er Mitte November, also in etwa drei Wochen stattfinden wird. Therese hat ihren Bruder nämlich vor ein paar Tagen in der Haft besucht. Er soll vollkommen ruhig sein, geradezu gut aufgelegt.«
»Nun wer weiß, vielleicht wird er freigesprochen«, sagte der Alte.
»Das ist recht unwahrscheinlich, Vater. Er muß eher froh sein, daß er nicht wegen gemeinen Mords unter Anklage gestellt worden ist. Der Versuch dazu ist ja für alle Fälle gemacht worden.«
»Das kann man doch keinen ernsthaften Versuch nennen, Berthold. Du siehst, daß sich die Staatsanwaltschaft um die alberne Verleumdung, auf die du anspielst, gar nicht gekümmert hat.«
»Wenn sie es aber als Verleumdung erkannt hat«, entgegnete Berthold scharf, »so wäre sie verpflichtet gewesen, die Verleumder vor Gericht zu stellen. Im übrigen leben wir bekanntlich in einem Staat, wo ein Jude nicht davor sicher ist, wegen Ritualmords zum Tode verurteilt zu werden; warum sollten also die Behörden vor der offiziösen Annahme zurückscheuen, daß Juden sich bei Pistolenduellen gegen Christen vielleicht aus religiösen Gründen einen verbrecherischen Vorteil zu sichern wissen? Daß es der Behörde an dem guten Willen nicht gefehlt hat, auch diesmal der herrschenden Partei einen Dienst zu erweisen, das ist am besten daraus zu ersehen, daß die Untersuchungshaft nicht aufgehoben wurde, trotz der angebotenen hohen Kaution.«
»Es waren nicht fünfzig- sondern hunderttausend, und Leo Golowski weiß bis heute überhaupt nichts davon. Im Vertrauen kann ich dir sagen, Vater, daß Salomon Ehrenberg das Geld zur Verfügung gestellt hat.«
»So? Also da werd ich dir auch was im Vertrauen sagen, Berthold.«
»Nun?«
»Es ist möglich, daß es gar nicht zu dem Prozeß kommt. Golowskis Advokat hat ein Abolitionsgesuch eingebracht.«
Berthold lachte auf. »Deswegen! Und du glaubst, daß das nur die geringste Aussicht auf günstige Erledigung haben könnte, Vater? Ja, wenn Leo gefallen und der Oberleutnant am Leben geblieben wär ... dann vielleicht.«
Der Alte schüttelte ungeduldig den Kopf. »Du mußt um jeden Preis oppositionelle Reden halten, mein Sohn.«
»Verzeih, Vater«, sagte Berthold mit zuckenden Brauen, »es hat nicht jeder die beneidenswerte Gabe, von gewissen Erscheinungen im öffentlichen Leben, wenn sie ihn persönlich nicht angehen, einfach den Blick abzuwenden.«
»Ist das vielleicht meine Gewohnheit?« entgegnete der Alte heftig, und unter der hohen Stirn taten die halbgeschlossenen Augen sich fast erbittert auf. »Du, Berthold, viel eher als ich bist es, der den Blick verschließt, wo er nicht sehen will. Ich finde, du fängst an, dich in deine Ideen zu verbohren. Es wird krankhaft bei dir. Ich habe gehofft, der Aufenthalt in einer andern Stadt, in einem andern Land wird dich von gewissen beschränkten und kleinlichen Auffassungen kurieren. Aber es ist eher ärger geworden. Ich merk es ja. Daß einer losschlägt, wie es Leo Golowski getan, das kann ich noch verstehen, so wenig ich es billigen möchte. Aber immer dastehen, die geballte Faust in der Tasche, sozusagen, was hat das für einen Zweck? Besinn dich doch auf dich! Persönlichkeit und Leistung setzen sich am Ende immer durch. Was kann dir Arges passieren? Daß du um ein paar Jahre später die Professur kriegst als ein anderer. Das Unglück fänd ich nicht so groß. Deine Arbeiten wird man doch nicht totschweigen können, wenn sie was wert sind ...«
»Es kommt ja nicht allein auf mich an!« warf Berthold ein.
»Aber es handelt sich meist um derartige Interessen zweiten
Berthold schüttelte den Kopf. »Nein Vater. Ich verbringe den heutigen Abend in einem minder gebildeten Lokal, in der silbernen Weintraube, wo eine Versammlung des sozialpolitischen Vereins stattfindet.«
»Bei der du nicht fehlen kannst?«
»Unmöglich.«
»Na, sag's mir lieber gleich aufrichtig. Du kandidierst für den Landtag?«
»Ich ... werde kandidiert.«
»So! Glaubst du dich denn jetzt fähig, den ... Unannehmlichkeiten die Stirn bieten zu können, vor denen du im vorigen Jahr die Flucht ergriffen hast?«
Berthold blickte durchs Fenster, in den Herbstregen hinaus. »Du weißt, Vater«, erwiderte er mit zuckenden Brauen, »daß ich damals nicht in der richtigen Verfassung gewesen bin. Jetzt fühl ich mich stark und gewappnet ... trotz deiner früheren Bemerkungen, die doch nicht durchwegs zutreffen. Und vor allem: ich weiß ganz genau, was ich will.«
Der Alte zuckte die Achseln. »Ich versteh's ja nicht recht, wie man eine positive Arbeit aufgeben kann ... Ja du wirst sie aufgeben müssen, denn zwei Herren kann man nicht dienen ... wie man so was hinwerfen kann, um ... um Reden zu halten vor Leuten, deren Beruf es sozusagen ist, vorgefaßte Meinungen zu haben hinwerfen, um Überzeugungen zu bekämpfen, an die meistens auch der nicht glaubt, der vorgibt, sie zu vertreten.«
Berthold schüttelte den Kopf. »Diesmal, ich versichre dich, Vater, lockt mich kein
rednerischer oder dialektischer Ehrgeiz. Diesmal hab ich mir ein Gebiet abgesteckt,
auf dem es mir hoffentlich möglich sein wird ebenso positive Arbeit zu leisten wie im
Laboratorium. Ich habe nämlich die Absicht, mich, wenn es
»Auf meinen ... ja. Aber ob auf deinen eigenen ...?«
»Wie meinst du das?«
»Auf den Segen, den man etwa innere Berufung nennen könnte.«
»Du zweifelst sogar an der?« erwiderte Berthold betroffen.
Der Diener trat ein und brachte dem alten Doktor eine Visitenkarte. Der las sie. »Ich stehe gleich zur Verfügung.« Der Diener entfernte sich.
Berthold, ziemlich erregt, sprach weiter: »Ich darf wohl sagen, daß meine Vorbildung, meine Kenntnisse ...«
Der Vater, mit der Karte spielend, unterbrach ihn.
»Ich zweifle nicht an deinen Kenntnissen, deiner Energie, deinem Fleiß. Aber mir scheint, um auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheitspflege was besonders zu leisten, dazu gehört, außer diesen vortrefflichen Eigenschaften doch noch eine, von der du meiner Ansicht nach sehr wenig besitzest: Güte, lieber Berthold, Liebe zu den Menschen.«
Berthold schüttelte heftig den Kopf »Die Menschenliebe, die du meinst, Vater, halt ich für ganz überflüssig, eher für schädlich. Das Mitleid und was kann Liebe zu Leuten, die man nicht persönlich kennt, am Ende anderes sein führt notwendig zu Sentimentalität, zu Schwäche. Und gerade, wenn man ganzen Menschengruppen helfen will, muß man gelegentlich hart sein können gegen den einzelnen, ja muß imstande sein ihn zu opfern, wenn's das allgemeine Wohl verlangt. Du brauchst nur dran zu denken, Vater, daß die ehrlichste und konsequenteste Sozialhygiene direkt darauf ausgehen müßte, kranke Menschen zu vernichten, oder sie wenigstens von jedem Lebensgenuß auszuschließen. Und ich leugne gar nicht, daß ich in dieser Richtung allerlei Ideen habe, die auf den ersten Blick grausam erscheinen könnten. Aber Ideen, glaub ich, denen die Zukunft gehört. Du brauchst dich nicht zu fürchten, Vater, daß ich gleich damit beginnen werde, den Mord der Schädlichen und Überflüssigen zu predigen. Aber philosophisch geht mein Programm ungefähr darauf hinaus. Weißt du übrigens, mit wem ich neulich über dieses Thema ein sehr interessantes Gespräch gehabt habe?«
»Was für ein Thema meinst du?«
»Präzis ausgedrückt: ein Gespräch über das Recht, zu töten.
»Wo hast du denn Gelegenheit gehabt, ihn zu sehen?«
»Neulich in einer Versammlung. Therese Golowski hat ihn mitgebracht. Du kennst ihn doch auch, nicht wahr, Vater?«
»Ja«, erwiderte der Alte, »schon lang.« Und er fügte hinzu: »Heuer im Sommer hab ich ihn wieder gesprochen, bei Anna Rosner.«
Wieder zuckte es heftig um Bertholds Brauen. Dann sagte er wie höhnisch: »So was ähnliches hab ich mir gedacht. Bermann erwähnte nämlich, daß er dich vor einiger Zeit gesehen hätte, wollte sich aber nicht recht erinnern wo. Ich schloß daraus, es müßte sich um eine diskrete Angelegenheit handeln. Ja. So hat es also dem Herrn Baron beliebt, seine Freunde bei ihr einzuführen!«
»Dein Ton, lieber Berthold, läßt vermuten, daß gewisse Dinge bei dir doch nicht so gänzlich überwunden sind, als du früher angedeutet hast.«
Berthold zuckte die Achseln. »Ich habe nie geleugnet, daß mir der Baron Wergenthin antipathisch ist. Darum war mir ja diese ganze Geschichte von Anfang an so peinlich.«
»Darum?«
»Ja.«
»Und doch glaub ich, Berthold, würdest du der Sache anders gegenüberstehen, wenn du Anna Rosner irgend einmal als Witwe wiederfändest selbst im Fall, daß dir der verstorbene Gatte noch antipathischer gewesen wäre, als der Freiherr von Wergenthin.«
»Das ist möglich. Man könnte dann doch annehmen, daß sie geliebt oder wenigstens respektiert worden ist, nicht genommen und weggeworfen, sobald der Spaß zu Ende war. Das hat für mich etwas ... nun, ich will mich nicht näher ausdrücken.«
Der Alte sah seinen Sohn kopfschüttelnd an. »Es scheint wirklich, daß all die vorgeschrittenen Ansichten von euch jungen Leuten auf der Stelle hinfällig werden, sobald eure Leidenschaften und Eitelkeiten mit ins Spiel kommen.«
»In Hinsicht auf gewisse Fragen der Reinheit oder Reinlichkeit weiß ich mich keiner sogenannten vorgeschrittenen Ansicht schuldig, Vater. Und ich glaube, auch du wärst nicht sehr entzückt, wenn ich Lust verspürte, der Nachfolger eines mehr oder weniger verstorbenen Baron Wergenthin zu werden.«
»Sei unbesorgt«, erwiderte Berthold. »Anna schwebt in keinerlei Gefahr von meiner Seite. Es ist vorbei.«
»Das ist ein guter Grund. Aber zum Glück gibt es einen noch bessern. Der Baron Wergenthin ist weder tot noch durchgegangen ...«
»Auf das Wort kommt es wohl nicht an.«
»Er hat, wie dir bekannt ist, eine Stellung in Deutschland als Kapellmeister ...«
»Das hat sich gut getroffen. Er hat überhaupt viel Glück gehabt in der ganzen Sache. Nicht einmal für ein Kind sorgen zu müssen!«
»Du hast zwei Fehler, Berthold. Erstens bist du wirklich ein ungütiger Mensch, und zweitens läßt du einen nicht ausreden. Ich wollte nämlich sagen, daß es zwischen Anna und dem Baron Wergenthin durchaus nicht aus zu sein scheint. Erst vorgestern hat sie mir einen Gruß von ihm ausgerichtet.«
Berthold zuckte die Achseln, als wäre diese Angelegenheit für ihn erledigt. »Wie geht's denn dem alten Rosner?« fragte er dann.
»Diesmal kommt er wohl noch durch«, erwiderte der Alte. »Übrigens hoff ich, Berthold, du hast dir die nötige Objektivität bewahrt, um zu wissen, daß an seinen Anfällen nicht der Gram um die »ungeratene Tochter« schuld ist, sondern eine leider ziemlich weit vorgeschrittene Arteriosklerose.«
»Gibt Anna wieder ihre Lektionen?« fragte Berthold nach einigem Zögern.
»Ja«, erwiderte der Alte, »aber vielleicht nicht mehr lang.« Und er zeigte seinem Sohn die Visitenkarte, die er noch immer in der Hand hielt.
Berthold verzog die Mundwinkel. »Du denkst«, fragte er spöttisch, »er kommt her, um Hochzeit zu feiern, Vater?«
»Das werd ich gleich erfahren«, erwiderte der Alte. »Jedenfalls freu ich mich, ihn wiederzusehen denn ich versichre dich, daß er einer der sympathischsten jungen Menschen ist, die ich je kennen gelernt habe.«
»Merkwürdig«, sagte Berthold. »Ein Herzenbezwinger ohnegleichen. Auch Therese schwärmt für ihn. Und Heinrich Bermann neulich, es war fast komisch ... Nun ja, ein schöner, schlanker, blonder junger Mann; Freiherr, Germane, Christ welcher Jude könnte diesem Zauber widerstehen ... Adieu, Vater!«
»Was denn?« Er biß sich auf die Lippen.
»Besinn dich auf dich! Wisse, wer du bist.«
»Ich ... weiß es.«
»Nein. Du weißt es nicht. Sonst könntest du nicht so oft vergessen, wer die andern sind.«
Wie fragend hob Berthold den Kopf.
»Du solltest einmal zu Rosners hingehen. Es ist deiner nicht würdig, daß du Anna deine Mißbilligung in so kindischer Weise zu erkennen gibst. Auf Wiedersehen ... Und gute Unterhaltung in der silbernen Weintraube.« Er reichte dem Sohn die Hand, dann begab er sich in sein Sprechzimmer. Er öffnete die Türe des Wartesalons und lud Georg von Wergenthin, der in einem Album blätterte, durch eine freundliche Neigung des Kopfes ein, bei ihm einzutreten.
»Vor allem Herr Doktor«, sagte Georg, nachdem er Platz genommen hatte, »muß ich mich bei Ihnen entschuldigen. Meine Abreise kam so plötzlich ... Leider hatte ich keine Gelegenheit mehr, mich bei Ihnen zu verabschieden, Ihnen persönlich zu danken, für Ihre große ...«
Doktor Stauber wehrte ab. »Es freut mich sehr, Sie wiederzusehen«, sagte er dann. »Sie sind wohl auf Urlaub hier in Wien?«
»Natürlich«, erwiderte Georg. »Es ist ein Urlaub von nur drei Tagen. So dringend brauchen sie mich dort«, setzte er bescheiden lächelnd hinzu.
Doktor Stauber saß ihm gegenüber im Schreibtischsessel und betrachtete ihn freundlich. »Sie fühlen sich sehr zufrieden in Ihrer neuen Stellung, wie mir Anna sagt.«
»O ja. Schwierigkeiten gibt es natürlich überall, wenn man so plötzlich in neue Verhältnisse kommt. Aber im ganzen hat sich wirklich alles viel leichter gemacht, als ich erwartet hätte.«
»So hör' ich. Auch bei Hof sollen Sie sich ja schon sehr glücklich eingeführt haben.«
Georg lächelte. »Diesen Vorgang stellt sich Anna offenbar großartiger vor, als er war. Ich habe beim Erbprinzen einmal gespielt; und ein weibliches Mitglied des Theaters hat dort zwei Lieder von mir gesungen; das ist alles. Viel wesentlicher ist, daß ich Aussicht habe, noch in dieser Saison zum Kapellmeister ernannt zu werden.«
»Ich dachte, Sie wären es schon.«
»Nein, Herr Doktor, offiziell noch nicht. Ich hab zwar schon
Auf weitere Fragen des Arztes erzählte er noch einiges von seiner Wirksamkeit an der Detmolder Oper, dann stand er auf und empfahl sich.
»Vielleicht kann ich Sie eine Strecke in meinem Wagen mitnehmen«, sagte der Arzt, »ich fahre in die Rembrandtstraße, zu Golowskis.«
»Danke sehr, Herr Doktor, das liegt nicht in meiner Richtung. Ich habe übrigens vor, im Laufe des morgigen Tags Frau Golowski zu besuchen. Sie ist doch nicht krank?«
»Nein. Freilich, ganz spurlos sind die Aufregungen der letzten Wochen nicht an ihr vorübergegangen.«
Georg erwähnte, daß er gleich nach dem Duell ein paar Worte an sie und auch an Leo geschrieben hätte. »Wenn man denkt, daß es auch anders hätte ausfallen können ...«, setzte er hinzu.
Doktor Stauber sah vor sich hin. »Kinder haben ist ein Glück«, sagte er, »für das man in Raten bezahlt ... und man weiß bei keiner, ob der da droben schon zufrieden gestellt ist.«
An der Tür begann Georg etwas zögernd: »Ich wollte mich auch ... bei Ihnen erkundigen, Herr Doktor, wie es denn eigentlich mit Herrn Rosner steht ... Ich muß sagen, ich fand ihn besser aussehend, als ich nach Annas Briefen erwartet hatte.«
»Ich hoffe, daß er sich erholen wird«, erwiderte Stauber. »Aber immerhin muß man bedenken ... er ist ein alter Mann. Sogar älter, als er seinen Jahren nach sein müßte.«
»Aber um etwas Ernstes handelt es sich nicht?«
»Das Alter ist an sich eine ernste Angelegenheit«, entgegnete Doktor Stauber, »besonders wenn alles, was vorherging, Jugend und Mannheit, auch nicht sonderlich heiter waren.«
Georg hatte seine Augen im Zimmer umherschweifen lassen und rief plötzlich aus: »Da fällt mir ein, Herr Doktor, ich habe Ihnen noch immer nicht die Bücher zurückgeschickt, die Sie so gut waren, mir im Frühjahr zu leihen. Und jetzt stehen alle unsere Sachen leider beim Spediteur; die Bücher geradeso wie Silberzeug, Möbel, Bilder. Also ich muß Sie bitten, Herr Doktor, sich bis zum Frühjahr zu gedulden.«
»Wenn Sie keine ärgern Sorgen haben, lieber Baron ...«
Sie gingen zusammen die Treppe hinunter, und Doktor Stauber erkundigte sich nach Felician.
»Er ist in Athen«, erwiderte Georg, »ich hab erst zweimal
Doktor Stauber stieg in den Wagen ein. Georg bat, Frau Golowski vielmals zu grüßen.
»Ich werd's ausrichten. Und Ihnen, lieber Baron, wünsch ich weiter viel Glück. Auf Wiedersehen!«
Auf der Uhr der Stephanskirche war es fünf. Eine leere Stunde lag vor Georg. Er beschloß, in dem dünnen, lauen Herbstregen langsam in die Vorstadt hinauszubummeln, was auch eine Art Erholung bedeutete. Die Nacht im Kupee hatte er beinahe schlaflos verbracht, und schon zwei Stunden nach seiner Ankunft war er bei Rosners gewesen. Anna selbst hatte ihm die Tür geöffnet und ihn mit einem innigen Kuß empfangen, ihn aber gleich ins Zimmer geleitet, wo ihre Eltern ihn eher höflich als herzlich begrüßten. Die Mutter, befangen und leicht verletzt, wie immer, sprach nur wenig; der Vater, in der Divanecke sitzend, einen drapfarbenen Plaid über den Knien, fühlte sich verpflichtet, Erkundigungen nach den gesellschaftlichen und musikalischen Zuständen der kleinen Residenz einzuziehen, aus der Georg kam. Dann war er mit Anna eine Weile allein gewesen; in allzuhastiger Frag- und Antwortrede zuerst, später in matt verlegenen Zärtlichkeiten, beide wie betroffen, das Glück des Wiedersehens nicht so zu empfinden, wie die Sehnsucht es versprochen hatte. Sehr bald erschien eine Schülerin Annas; Georg empfahl sich, und im Vorzimmer vereinbarte er mit der Geliebten noch rasch ein Rendezvous für heute Abend; er wollte sie von Bittners abholen und dann mit ihr in die Oper zur Tristanvorstellung gehen, über deren Neuinszenierung zu berichten sein Intendant ihn gebeten hatte. Dann hatte er sein Mittagmahl eingenommen, an einem großen Fenster eines Ringstraßenrestaurants, Einkäufe und Bestellungen bei seinen Lieferanten gemacht, Heinrich aufgesucht, den er nicht zu Hause traf, und war endlich dem plötzlichen Einfall gefolgt, seine Dankvisite bei Doktor Stauber abzustatten.
Nun spazierte er langsam weiter, durch die Straßen, die ihm so wohlbekannt waren, und
doch schon den Hauch der Fremde für ihn hatten; und er dachte an die Stadt, aus der
er kam und in der er sich rascher heimisch werden fühlte, als er erwartet hatte. Graf
Malnitz war ihm vom ersten Augenblick an mit viel Freundlichkeit entgegengekommen; er
trug sich mit dem Plan, die Oper
Wie sonderbar, dachte Georg, daß sie gerade heute Abend wirklich die Micaela singt, die ich mit ihr studiert habe, und daß ich hier denselben Weg spaziere, nach Mariahilf hinaus, den ich vor einem Jahr so oft und so gern gegangen bin. Und er dachte eines ganz bestimmten Abends, da er Anna von da draußen abgeholt hatte, mit ihr zusammen in stillen Straßen herumspaziert war, unter einem Haustor komische Photographien betrachtet hatte, und endlich auf den kühlen Steinfliesen einer alten Kirche gewandelt war, in leisem, wie ahnungsvollem Gespräch über eine unbekannte Zukunft ... Nun war alles ganz anders gekommen, als er es geträumt hatte. Anders ... Warum schien ihm das so? ... Was hatte er damals denn erwartet ...? War dies Jahr, das seither vergangen war, nicht wunderbar reich und schön gewesen, mit seinem Glück und mit seinen Schmerzen? Und liebte er Anna heute nicht besser und tiefer als je? Und in der neuen Stadt, hatte er sich nicht manchmal nach ihr gesehnt, so heiß, wie nach einer Frau, die ihm noch niemals gehört hatte? Das Wiedersehen von heute früh, in der übeln Stimmung einer grauen Stunde, mit seiner matt verlegenen Zärtlichkeit, das durfte ihn doch nicht irremachen ...
Er war zur Stelle. Als er zu den erleuchteten Fenstern aufsah, hinter denen Anna ihre Lektion erteilte, kam eine leichte Ergriffenheit über ihn. Und als sie in der nächsten Minute aus dem Tor trat, im einfachen, englischen Kleid, den grauen Filzhut auf dem reichen, dunkelblonden Haar, ein Buch in der Hand, ganz so wie vor einem Jahr, da durchströmte ihn mit einmal ein unerwartetes Gefühl von Glück. Sie sah ihn nicht gleich, da er im Schatten eines Hauses stand, spannte ihren Schirm auf und ging bis zur Ecke, wo er im vorigen Jahr zu warten gepflegt hatte. Er blickte ihr eine Weile nach und freute sich, wie vornehm und wie brav sie aussah. Dann folgte er ihr rasch, und nach ein paar Schritten hatte er sie eingeholt.
Sie hatte ihm gleich die Mitteilung zu machen, daß sie nicht mit ihm in die Oper gehen könnte; der Vater hätte sich nachmittags gar nicht wohl befunden.
Georg war sehr enttäuscht. »Willst du nicht wenigstens auf den ersten Akt mit mir hineingehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, so was tu ich nicht gern. Da
»Nein«, erwiderte er. »Wenn du nicht mitgehst, geh ich lieber allein. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut. Mir persönlich läge gar nicht so viel an der Vorstellung. Ich bliebe lieber mit dir zusammen ... meinetwegen sogar bei euch oben; aber ich muß hineingehen, ich habe ja Bericht zu erstatten.«
»Natürlich mußt du hineingehen«, bekräftigte Anna; und sie fügte hinzu: »Ich möchte dir auch nicht zumuten einen Abend bei uns oben zuzubringen, es ist wirklich nicht besonders heiter.«
Er hatte ihr den Schirm aus der Hand genommen, hielt ihn über sie, und sie hing sich in seinen Arm.
»Du Anna«, sagte er, »ich möchte dir einen Vorschlag machen.« Er wunderte sich, daß er nach einer Einleitung suchte, und begann zögernd: »Meine paar Tage in Wien sind naturgemäß so was Unruhiges, Zerrissenes und jetzt kommt noch diese gedrückte Stimmung bei euch oben dazu ... wir haben wirklich gar nichts voneinander, findest du nicht?«
Sie nickte, ohne ihn anzusehen.
»Also möchtest du mich nicht eine Strecke begleiten, Anna, wenn ich wieder abreise?«
Sie sah ihn in ihrer verschmitzten Art von der Seite an und antwortete nicht.
Er sprach weiter: »Ich kann mir nämlich ganz gut noch einen Urlaubstag herausschlagen, wenn ich ans Theater telegraphiere. Es wär doch wirklich wunderschön, wenn wir ein paar Stunden für uns allein hätten.«
Sie gab es zu, herzlich, aber ohne Begeisterung, und machte die Entscheidung vom Befinden ihres Vaters abhängig. Dann fragte sie ihn, wie er den Tag verbracht hätte. Er berichtete eingehend und fügte sein Programm für morgen hinzu. »Wir zwei werden uns also erst am Abend sehen können«, schloß er. »Ich komme zu euch hinauf, wenn's dir recht ist. Und da besprechen wir dann alles weitere.«
»Ja«, sagte Anna und blickte vor sich hin, auf die feuchte bräunlichgraue Straße.
Nochmals versuchte er sie zu überreden, die Oper mit ihm zu besuchen; aber es war
vergeblich. Dann erkundigte er sich nach ihren Gesangsstunden und begann gleich
darauf von seiner eigenen Tätigkeit zu sprechen, als müßte er sie überzeugen, daß es
ihm am Ende nicht viel besser erginge als ihr. Und er wies auf
»Was das anbelangt«, sagte sie plötzlich ganz hart ... und als er von ihrem Ton getroffen, unwillkürlich den Kopf zurückwarf: »Was steht denn schon in Briefen, wenn sie noch so ausführlich sind!«
Er wußte, woran sie dachte und was sie heute sowenig aussprach, als sie's jemals
getan hatte, und etwas Schweres legte sich ihm aufs Herz. Ruhte nicht gerade in der
Unerbittlichkeit dieses Schweigens alles, was sie verschwieg: Frage, Vorwurf und
Zorn? Heute morgen schon hatte er es gefühlt, und jetzt fühlte er es wieder, daß in
ihr irgend etwas ihm geradezu Feindseliges sich regte, gegen das sie selbst
vergeblich anzukämpfen schien. Heute Morgen erst? ... War es nicht schon viel länger
her? Immer vielleicht? Vom ersten Augenblick an, da sie einander gehört hatten und
auch in den Zeiten ihres höchsten Glücks? War dies Feindselige nicht dagewesen, als
sie bei Orgelklängen, hinter dunkeln Vorhängen ihre Brust an seine gedrängt, als sie
in dem Hotelzimmer zu Rom ihn erwartet, mit geröteten Augen, während er beglückt von
dem Monte Pincio aus die Sonne in der Campagna versinken gesehen und, einsam, die
wundervollste Stunde der Reise zu genießen gewähnt hatte? War es nicht dagewesen, als
er an einem heißen Morgen den Kiesweg hinangelaufen, ihr zu Füßen gesunken war und in
ihrem Schoß geweint hatte, wie in einer Mutter Schoß; und als er an ihrem Bette
gesessen war und in den abendlichen Garten hinausgeblickt hatte, während drin auf dem
weißen Linnen ein totes Kind lag, das sie eine Stunde zuvor geboren, war es nicht
wieder dagewesen, düsterer als je und kaum zu tragen, wenn man sich nicht längst
damit abgefunden hätte, wie mit so mancher Unzulänglichkeit, so manchem Weh, das aus
den Tiefen menschlicher Beziehungen emporstieg? Und jetzt, wie schmerzlich fühlte
er's, während er Arm in Arm mit ihr, sorglich den Schirm über sie haltend, die
feuchte Straße weiterspazierte, jetzt war es wieder da; drohend und vertraut. Noch
klangen die Worte in seinem Ohr, die sie gesprochen hatte: Was steht denn in Briefen,
wenn sie noch so ausführlich sind? ... Aber ernstere klangen für ihn mit: Was
bedeutet am Ende auch der glühendste Kuß, in dem sich Leib und Seele zu vermischen
scheinen? Was bedeutet es am Ende, daß wir monatelang durch fremde Länder miteinander
gereist sind? Was bedeutet es, daß ich ein Kind von dir gehabt habe? Was bedeutet es,
daß du dich über deinen Betrug in meinem Schoße ausgeweint
Aber während all dies schwer in seine Seele sank, gab er ihr mit leichten Worten zu, daß sie wirklich nicht unrecht hätte, und daß Briefe und seien sie selbst zwanzig Seiten lang nicht sonderlich viel enthalten könnten; und während ein peinigendes Mitleid mit ihr in ihm aufquoll, sprach er linde die Hoffnung auf eine Zeit aus, in der sie auf Briefe beide nicht mehr angewiesen sein würden. Und dann fand er zärtlichere Worte, erzählte von seinen einsamen Spaziergängen in der Umgebung der fremden Stadt, wo er ihrer dächte; von den Stunden in dem gleichgültigen Hotelzimmer, mit dem Blick auf den lindenbepflanzten Platz und von seiner Sehnsucht nach ihr, die immer da war, ob er allein über seiner Arbeit saß, oder Sänger am Klavier begleitete oder mit neuen Bekannten plauderte. Aber als er mit ihr vor dem Haustor stand, ihre Hand in der seinen, und ihr mit einem heitern »Auf Wiedersehen« in die Augen blickte, sah er betroffen in ihnen eine müde, kaum mehr schmerzliche Enttäuschung verglimmen. Und er wußte: Alle die Worte, die er zu ihr gesprochen, nichts, weniger als nichts hatten sie ihr zu bedeuten gehabt, da das einzige, das kaum mehr erwartete und immer wieder ersehnte doch nicht gekommen war.
Eine Viertelstunde später saß Georg auf seinem Parkettsitz in der Oper, zuerst noch
ein wenig verdrossen und matt; bald aber strömte die Freude des Genießens durch sein
Blut. Und als Brangäne ihrer Herrin den Königsmantel um die Schultern warf, Kurwenal
das Nahen des Königs meldete und das Schiffsvolk auf dem Verdeck im Glanz des
aufleuchtenden Himmels dem Land entgegenjauchzte, da wußte Georg längst nichts mehr
von einer übel verbrachten Nacht im Kupee, von langweiligen Bestellungsgängen, von
einem recht gezwungenen Gespräch mit einem alten, jüdischen Doktor und von einem
Spaziergang über feuchtes Pflaster, in dem das Licht der Laternen sich spiegelte, an
der Seite einer jungen Dame, die brav, vornehm und etwas gedrückt aussah. Und als der
Vorhang zum erstenmal gefallen war und das Licht den rotgoldenen Riesenraum
durchflutete, fühlte er sich keineswegs in unangenehmer Weise ernüchtert, sondern es
war ihm vielmehr, als tauchte er sein Haupt von einem Traum in den
Georg erklärte es kurz und wohlgelaunt.
»Es war übrigens nett«, sagte Frau Ehrenberg, »daß Sie uns ein Wort aus Detmold geschrieben haben.«
»Das hätte er auch nicht tun sollen?« bemerkte Else, » da hätt man ja glauben können, daß er mit irgendwem nach Amerika durchgegangen ist.«
James stand mitten in der Loge, groß, hager, gemeißelten Antlitzes, das dunkle, glatte Haar seitlich gescheitelt. »Nun sagen Sie Georg, wie fühlen Sie in Detmold?«
»Es sind noch keine Karten ausgeschickt«, fügte Frau Ehrenberg hinzu.
Georg brachte seine Glückwünsche dar.
»Frühstücken Sie doch morgen bei uns«, sagte Frau Ehrenberg. »Sie treffen nur ein paar Leute, die sich gewiß alle sehr freuen würden Sie wiederzusehen. Sissy, Frau Oberberger, Willy Eißler.«
Georg entschuldigte sich. Er könne sich für keine bestimmte Stunde binden, aber im Lauf des Nachmittags wenn irgend möglich wollte er sich gern einfinden.
»Nun ja«, sagte Else leise, ohne ihn anzusehen und hatte den einen Arm mit dem langen weißen Handschuh lässig auf der Brüstung liegen, »Mittag verbringen Sie wahrscheinlich im Familienkreise.«
Georg tat, als wenn er nichts gehört hätte, und lobte die heutige Vorstellung. James äußerte, daß er »Tristan« mehr liebe als alle andern Opern von Wagner, die »Meistersinger« mit inbegriffen.
Else bemerkte einfach: »Es ist ja wunderschön, aber eigentlich bin ich gegen Liebestränke und solche Geschichten.«
Georg erklärte, daß der Liebestrank hier als Symbol aufzufassen sei, worauf Else sich
auch gegen Symbole eingenommen aussprach. Das erste Zeichen zum zweiten Akt war
gegeben. Georg verabschiedete sich, eilte hinunter und hatte eben Zeit, seinen Platz
einzunehmen, eh der Vorhang aufging. Er erinnerte sich wieder, in welch
halboffizieller Eigenschaft er heute im Theater säße, und beschloß, sich den
Eindrücken nicht länger ohne Widerstand hinzugeben. Bald gelang es ihm zu entdecken,
daß die Liebesszene doch noch ganz anders herauszubringen wäre, als es hier geschah;
und gar nicht einverstanden war er damit, daß Melot, durch dessen Hand Tristan
sterben mußte, hier von einem Sänger zweiten Ranges dargestellt wurde, wie übrigens
beinahe überall. Nach dem zweiten Fallen des Vorhangs erhob er sich mit einer
gewissen Steigerung des Selbstgefühls, blieb auf seinem Platze stehen und sah
manchmal zu der Ersten-Stock-Loge auf, aus der Frau Ehrenberg ihm wohlwollend
zunickte, während Else mit
Ein Herr in der ersten Reihe grüßte. Ralph Skelton war es. Georg verständigte sich durch Zeichen mit ihm, daß sie einander nach Schluß der Vorstellung treffen wollten.
Die Lichter verlöschten, das Vorspiel zum dritten Akt begann. Georg hörte müde Meereswellen an ein ödes Ufer branden und die wehen Seufzer eines totwunden Helden in bläulich dünne Luft verwehen. Wo hatte er dies nur zum letztenmal gehört? War es nicht in München gewesen? ... Nein, es konnte noch nicht so lange her sein. Und plötzlich fiel ihm die Stunde ein, da auf einem Balkon, unter hölzernem Giebel die Blätter der Tristanpartitur vor ihm offen gelegen waren. Drüben zwischen Wald und Wiese war ein besonnter Weg zum Friedhof hingezogen, ein Kreuz hatte golden geblinkt; unten im Hause hatte eine geliebte Frau in Schmerzen aufgestöhnt, und ihm war weh ums Herz gewesen. Und doch, auch diese Erinnerung hatte ihre schwermutvolle Süßigkeit, wie alles, was völlig vergangen war. Der Balkon, der kleine, blaue Engel zwischen den Blumen, die weiße Bank unter dem Birnbaum ... wo war das nun alles! Noch einmal mußte er jenes Haus wiedersehen, einmal noch, ehe er Wien verließ.
Der Vorhang hob sich. Sehnsüchtig tönte die Schalmei, unter einem blaß und
gleichgültig hingespannten Himmel, im Schatten von Lindenästen schlummerte der
verwundete Held, und ihm zu Häupten wachte Kurwenal, der treue. Die Schalmei schwieg,
Isolde, in Brangänens Armen, war tot über Tristans Leiche hingesunken, die letzten
Töne verklangen, der Vorhang fiel. Georg warf einen Blick nach der Loge im ersten
Stock. Else stand an der Brüstung, den Blick zu ihm herabgerichtet, während James ihr
den dunkelroten Mantel um die Schultern legte, und jetzt erst, nach einem Kopfnicken,
so rasch, als hätte es niemand bemerken sollen, wandte sie sich dem Ausgang zu.
Merkwürdig, dachte Georg, von weitem hat ihre Haltung, hat manche ihrer Bewegungen
Im Foyer traf er Skelton. »Also wieder zurückgekehrt?« fragte dieser.
»Nur auf ein paar Tage«, erwiderte Georg. Es stellte sich heraus, daß Skelton nicht recht gewußt hatte, was mit Georg vorging und ihn auf einer Art musikalischer Studienreise durch deutsche Städte geglaubt hatte. Nun war er ziemlich erstaunt zu hören, daß Georg sich auf Urlaub hier befände und sich die Neuinszenierung des »Tristan« sozusagen im Auftrag des Intendanten angesehen hätte.
»Ist es Ihnen recht?« sagte Skelton, »ich bin verabredet mit Breitner; im Imperial, weißer Saal.«
»Famos«, erwiderte Georg, »ich wohne dort.«
Doktor von Breitner rauchte schon eine seiner berühmten Riesenzigarren, als die beiden Herren an seinem Tisch erschienen. »Was für eine Überraschung«, rief er aus, als Georg ihn begrüßte. Ihm war es bekannt, daß Georg als Kapellmeister in Düsseldorf wirkte.
»Detmold«, sagte Georg, und er dachte: Sonderlich viel beschäftigen sich die Leute hier ja nicht mit mir ... Aber was tut's.
Skelton erzählte von der Tristanvorstellung, und Georg erwähnte, daß er Ehrenbergs gesprochen hatte.
»Wissen Sie, daß Oskar Ehrenberg sich auf dem Weg nach Indien oder Ceylon befindet?« fragte Doktor von Breitner.
»So?«
»Und was glauben Sie mit wem?«
»Wohl in weiblicher Gesellschaft.«
»Ja, das natürlich, ich höre sogar, sie haben fünf oder sieben Weiber mit.«
»Wer sie?«
»Oskar Ehrenberg ... und raten Sie einmal ... Na, der Prinz von Guastalla.«
»Nicht möglich!«
»Komisch was? Sie haben sich heuer in Ostende oder in Spa sehr angefreundet.
›Cherchez‹ ... und so weiter. Wie es nämlich Frauenzimmer
Willy Eißler war erschienen, blaßgelb im Gesicht, übernächtig und heiser. »Grüß Sie Gott Baron, verzeihen Sie, daß ich nicht paff bin, aber ich habe schon gehört, daß Sie da sind. Irgendwer hat Sie in der Kärtnerstraße gesehen.«
Georg bat Willy, seinem Vater vom Grafen Malnitz Grüße zu bestellen er selbst hätte diesmal leider keine Zeit, den alten Herrn aufzusuchen, dem er wie er mit bescheidner Koketterie bemerkte seine Stellung in Detmold verdanke.
»Was Ihre Zukunft anbelangt, lieber Baron«, sagte Willy, »hab ich mir nie Sorgen gemacht, besonders seit ich im vorigen Jahr oder ist es schon länger her? Ihre Lieder von der Bellini hab singen hören. Aber daß Sie sich entschlossen haben Wien zu verlassen, das war eine gute Idee von Ihnen. Hier hätte man Sie jedenfalls noch einige Jahrzehnte lang für einen Dilettanten gehalten. Das ist schon einmal nicht anders in Wien. Ich kenne das. Wenn die Leute wissen, daß einer aus guter Familie ist, nebstbei Sinn für schöne Krawatten, gute Zigaretten und verschiedene andre Annehmlichkeiten des Daseins hat, so glauben sie ihm die Künstlerschaft nicht. Ohne ein Zeugnis von draußen werden Sie hier nicht ernst genommen ... also bringen Sie nur bald einige glänzende mit, Baron.«
»Ich werde mich bemühen«, sagte Georg.
»Haben die Herren übrigens schon das Neueste gehört«, begann Willy wieder. »Leo Golowski, wissen Sie, der Einjährige, der den Oberleutnant Sefranek erschossen hat, ist frei.«
»Aus der Untersuchungshaft entlassen?« fragte Georg.
»Nein, ganz frei ist er. Sein Advokat hat ein Abolitionsgesuch an den Kaiser eingereicht, das ist heute günstig erledigt worden.«
»Unglaublich«, rief Breitner.
»Warum wundern Sie sich denn so, Breitner?« meinte Willy. »Es kann doch auch einmal etwas Vernünftiges geschehen in Österreich.«
»Duell ist nie vernünftig«, sagte Skelton, »und daher kann auch eine Begnadigung wegen Duells nicht vernünftig sein.«
»Duell, lieber Skelton, ist entweder etwas viel Schlimmeres oder viel Besseres als
vernünftig«, erwiderte Willy. »Entweder
»Absolut«, sagte Breitner.
»Ich kann mir ein Staatswesen denken«, bemerkte Skelton, »in dem selbst Differenzen solcher Art vor Gericht ausgeglichen würden.«
»Solche Differenzen vor Gericht! O fröhlich! ... Glauben Sie wirklich, Skelton, daß in einem Fall, wo es sich nicht um Besitz- und Rechtsfragen handelt, sondern wo sich Menschen mit einem ungeheuern Haß gegenüberstehen, glauben Sie wirklich, daß da mit Geld- oder Arreststrafen ein Ausgleich geschaffen werden könnte? Es hat schon seinen tiefen Sinn, meine Herren, daß Duellverweigerung in solchen Fällen bei allen Leuten, die Temperament, Ehre und Aufrichtigkeit in sich haben, stets als Feigheit gelten wird. Bei den Juden wenigstens«, setzte er hinzu. »Denn bei den Katholiken ist es bekanntlich immer nur die Frömmigkeit, die sie abhält sich zu schlagen.«
»Kommt sicher vor«, sagte Breitner schlicht.
Georg wünschte zu wissen, wie sich die Sache zwischen Leo Golowski und dem Oberleutnant abgespielt hätte.
»Ja richtig«, sagte Willy, »Sie sind ja ein Zugereister. Also der Oberleutnant hat das ganze Jahr hindurch diesen Leo Golowski erheblich kuranzt und zwar ...«
»Die Vorgeschichte kenn ich«, unterbrach Georg, »zum Teil aus direkter Quelle.«
»Ach so. Also am ersten Oktober war die Vorgeschichte, um bei diesem Ausdruck zu bleiben, zu Ende; das heißt, Leo Golowski hat das Freiwilligenjahr hinter sich gehabt. Und am zweiten in der Früh hat er sich vor die Kaserne hingestellt und ruhig gewartet, bis der Oberleutnant aus dem Tor gekommen ist. In diesem Moment ist er auf ihn zugetreten, der Oberleutnant greift nach seinem Säbel, Leo Golowski packt ihn aber bei der Hand, läßt sie nicht aus, hält ihm die andere Faust vor die Stirn und damit war das Weitere so ziemlich gegeben. Übrigens wird auch erzählt, daß Leo dem Oberleutnant folgende Worte ins Gesicht geschleudert haben soll ... ich weiß nicht recht, ob's wahr ist.«
»Welche Worte?« fragte Georg neugierig.
»Etwas talmudisch«, bemerkte Breitner.
»Das müssen Sie freilich am besten beurteilen können, Breitner«, erwiderte Willy und erzählte weiter: »Also am nächsten Morgen in den Auen bei der Donau war das Duell. Dreimaliger Kugelwechsel. Zwanzig Schritte ohne Avance. Wenn resultatlos, Säbel bis zur Kampfunfähigkeit ... Die ersten Schüsse hüben und drüben fehlen, und nach dem zweiten ... nach dem zweiten ist der Golowski richtig bedeutend mehr gewesen als der Oberleutnant denn der war nichts, weniger als nichts; ein toter Mann.«
»Armer Teufel«, sagte Breitner.
Willy zuckte die Achseln. »Es ist halt einmal einer an den Unrechten gekommen. Mir tut er auch leid. Aber man muß doch sagen, es stände manches anders in Österreich, wenn alle Juden entsprechenden Falls sich so zu benehmen wüßten wie der Leo Golowski. Leider ...«
Skelton lächelte. »Sie wissen Willy, vor mir darf man nichts gegen die Juden sagen, ich liebe sie. Und es täte mir leid, wenn man sich entscheiden wollte die Judenfrage durch eine Reihe von Zweikämpfen zu lösen, denn dann würde am Ende von dieser vortrefflichen Rasse kein einziges männliches Exemplar übrigbleiben.«
Am Ende des Gesprächs mußte Skelton zugeben, daß das Duell in Österreich vorläufig
nicht abzuschaffen wäre. Aber er erlaubte sich die Frage, ob das gerade für das Duell
und nicht vielmehr gegen Österreich spräche, da doch manche andere Länder, er wollte
aus Bescheidenheit keines nennen, seit Jahrzehnten den Zweikampf nicht mehr kennten.
Und ob er zu weit gehe, wenn er sich gestatte, Österreich, in dem er sich übrigens
seit sechs Jahren wahrhaft zu Hause fühle, als das Land der sozialen
Unaufrichtigkeiten zu bezeichnen. Hier wie nirgends anderswo gebe es wüsten Streit
ohne Spur von Haß und eine Art von zärtlicher Liebe, ohne das Bedürfnis der Treue.
Zwischen politischen Gegnern existierten oder entwickelten sich lächerliche
persönliche Sympathien; Parteifreunde hingegen beschimpften, verleumdeten, verrieten
einander. Nur bei wenigen fände man ausgesprochene Ansichten über Dinge oder
Menschen, jedenfalls seien auch diese wenigen allzuschnell bereit, Einschränkungen zu
machen, Ausnahmen
»Was glauben Sie, Skelton«, fragte Willy, »zwinkern sie auch, wenn die Kugeln hin und herfliegen?«
»Sie täten's wohl, Willy, wenn nicht der Tod hinter ihnen stünde. Aber dieser Umstand beeinflußt nicht die Gesinnung, sondern nur die Haltung, denk ich mir.«
Sie saßen noch lange Zeit zusammen und plauderten fort. Georg hörte allerlei Neuigkeiten. Er erfuhr unter anderm, daß Demeter Stanzides den Kauf des Gutes an der ungarisch-kroatischen Grenze abgeschlossen habe, und daß die Rattenmamsell einem freudigen Ereignis entgegensehe. Willy Eißler war gespannt auf das Ergebnis dieser Rassenkreuzung und vergnügte sich indes damit, Namen für das zu erwartende Kind zu erfinden, wie Israel Pius oder Rebekka Portiunkula.
Später begab sich die ganze Gesellschaft ins benachbarte Kaffeehaus, Georg spielte mit Breitner eine Partie Billard; dann ging er auf sein Zimmer. Im Bett notierte er sich eine Stundeneinteilung für den nächsten Tag und sank endlich in einen Schlaf, der tief und köstlich wurde.
Am Morgen mit dem Tee brachte man ihm die abends vorher bestellte Zeitung und ein
Telegramm. Der Intendant bat ihn über einen Sänger zu berichten. Es war zur
Befriedigung Georgs derjenige, den er gestern als Kurwenal gehört hatte. Ferner wurde
ihm freigestellt »zur bequemen Ordnung seiner Angelegenheiten« drei Tage über den
bedungenen Urlaub auszubleiben, da zufällig eine Änderung des Spielplans dies
gestatte. Wirklich charmant, dachte Georg. Es fiel ihm ein, daß er seine eigene
Absicht, um Verlängerung des Urlaubs zu depeschieren, vollkommen vergessen hatte. Nun
hab ich ja noch mehr Zeit für Anna, als ich geglaubt hätte, dachte er. Man könnte
vielleicht ins Gebirge. Die Herbsttage sind schön und mild. Auch wäre man jetzt
überall ziemlich allein und ungestört. Aber, wenn wieder ein Malheur passiert! Ein
Malheur passiert! So und nicht anders waren ihm die Worte durch den Sinn geflogen. Er
biß sich auf die Lippen. So stellte sich die Sache mit einem Male für ihn dar? Ein
Malheur ... Wo war die Zeit, da er, mit Stolz beinahe, sich als ein Glied in der
endlosen Kette gefühlt hatte, die von Urahnen zu
Er durchflog die Zeitung. Durch einen kaiserlichen Gnadenakt war die Untersuchung gegen Leo Golowski eingestellt, gestern Abend war er aus der Haft entlassen worden. Georg freute sich sehr und beschloß Leo noch heute zu besuchen. Dann setzte er ein Telegramm an den Grafen auf und berichtete mit vornehmer Ausführlichkeit über die gestrige Aufführung. Als er auf die Straße trat, war es beinahe elf Uhr geworden. Die Luft war herbstlich kühl und klar. Georg fühlte sich ausgeschlafen, frisch und wohlgelaunt. Der Tag lag hoffnungsreich vor ihm und versprach allerlei Anregung. Nur irgend etwas störte ihn, ohne daß er gleich wußte, was es wäre. Ach ja, ... der Besuch in der Paulanergasse, die trübseligen Räume, der kranke Vater, die verletzte Mutter. Ich werde Anna einfach abholen, dachte er, mit ihr spazieren gehen und irgendwo mit ihr soupieren. Er kam an einem Blumenladen vorbei, kaufte wundervolle dunkelrote Rosen, und mit einer Karte, auf die er schrieb: »Tausend Morgengrüße, auf Wiedersehen«, ließ er sie an Anna senden. Als er dies getan hatte, war ihm leichter. Dann begab er sich durch die Straßen der innern Stadt zu dem alten Hause, in dem Nürnberger wohnte. Er stieg die fünf Stockwerke hinauf. Eine huschelige, alte Magd mit dunklem Kopftuch öffnete und ließ ihn in das Zimmer ihres Herrn treten. Nürnberger stand am Fenster mit leicht gesenktem Kopf, in dem braunen, hochgeschlossenen Sacco, das er daheim zu tragen liebte. Er war nicht allein. Von dem Schreibtisch aus einem alten Armstuhl erhob sich eben Heinrich, ein Manuskript in den Händen. Georg wurde herzlich empfangen.
»Sollte Ihr Eintreffen in Wien mit der Direktionskrise in der Oper im Zusammenhang stehen?« fragte Nürnberger. Er ließ diese Bemerkung nicht ohne weiteres als Spaß gelten. »Ich bitte Sie«, sagte er, »wenn kleine Jungen, die ihre Beziehungen zur deutschen Literatur bis vor kurzem nur durch den regelmäßigen Besuch eines Literatenkaffees zu dokumentieren in der Lage waren, als Dramaturgen an Berliner Bühnen berufen werden, so sähe ich keinen Anlaß zum Staunen, wenn der Baron Wergenthin, nach der immerhin mühevollen, sechswöchentlichen Kapellmeisterkarriere an einem deutschen Hoftheater, im Triumph an die Wiener Oper geholt würde.«
Georg stellte zur Steuer der Wahrheit fest, daß er nur einen
Heinrich sah auf die Uhr. Es war Zeit für ihn sich zu empfehlen.
»Hab ich die Herren nicht gestört?« fragte Georg. »Ich glaube, Sie haben was vorgelesen, Heinrich, als ich kam.«
»Ich war schon zu Ende«, erwiderte Heinrich.
»Den letzten Akt lesen Sie mir morgen vor, Heinrich«, sagte Nürnberger.
»Ich denke nicht daran«, erwiderte Heinrich lachend. »Wenn die zwei ersten Akte im Theater so durchgefallen wären, wie jetzt vor Ihnen, lieber Nürnberger, so könnte man das Ding doch auch nicht zu Ende spielen. Nehmen wir an, Nürnberger, Sie seien entsetzt aus dem Parkett ins Freie gestürzt. Den Hausschlüssel und die faulen Eier erlaß ich Ihnen.«
»Donnerwetter!« rief Georg aus.
»Sie übertreiben wieder einmal, Heinrich«, sagte Nürnberger. »Ich habe mir nur erlaubt, einige Einwendungen vorzubringen«, wandte er sich an Georg, »das ist alles. Aber er ist ein Autor!«
»Es kommt alles auf die Auffassung an«, sagte Heinrich. »Es ist schließlich auch
nichts andres als eine Einwendung gegen das Leben eines Mitmenschen, wenn man ihm mit
der Hacke den Schädel einschlägt, nur eine ziemlich wirksame.« Er deutete auf sein
Manuskript und wandte sich zu Georg. »Wissen Sie, was das ist?
Nürnberger lachte. »Ich versichre Sie, Heinrich, aus dem Sujet wäre noch immer was ganz Famoses zu machen. Sie könnten beinah die ganze Szenenführung beibehalten und eine Anzahl von Figuren. Sie müßten sich nur dazu entschließen, bei Wiederaufnahme Ihres Planes weniger gerecht zu sein.«
»Das ist aber doch eigentlich schön«, sagte Georg, »daß er gerecht ist.«
Nürnberger schüttelte den Kopf. »Überall mag man es sein nur nicht im Drama.« Und sich wieder an Heinrich wendend: »In solch einem Stück, das eine Zeitfrage behandelt, oder gar mehrere, wie es Ihre Absicht war, werden Sie mit der Objektivität nie was erreichen. Das Publikum im Theater verlangt, daß die Themen, die der Dichter anschlägt, auch erledigt werden, oder daß wenigstens eine Täuschung dieser Art erweckt werde. Denn natürlich gibt's nie und nimmer eine wirkliche Erledigung. Und scheinbar erledigen kann eben nur einer, der den Mut oder die Einfalt oder das Temperament hat, Partei zu ergreifen. Sie werden schon darauf kommen, lieber Heinrich, daß es mit der Gerechtigkeit im Drama nicht geht.«
»Wissen Sie, Nürnberger«, sagte Heinrich, »es ging vielleicht auch mit der Gerechtigkeit. Ich glaub, ich hab nur nicht die richtige. In Wirklichkeit hab ich nämlich gar keine Lust gerecht zu sein. Ich stell mir's sogar wunderschön vor ungerecht zu sein. Ich glaube, es wäre die allergesündeste Seelengymnastik, die man nur treiben könnte. Es muß so wohl tun, die Men schen, deren Ansichten man bekämpft, auch wirklich hassen zu können. Es erspart einem gewiß sehr viel innere Kraft, die man viel besser auf den Kampf selbst verwenden dürfte. Ja, wenn man noch die Gerechtigkeit des Herzens hätte ... Ich hab sie aber nur da«, und er deutete auf seine Stirn. »Ich stehe auch nicht über den Parteien, sondern ich bin gewissermaßen bei allen oder gegen alle. Ich hab nicht die göttliche Gerechtigkeit, sondern die dialektische. Und darum ...«, er hielt sein Manuskript in die Höhe, »ist da auch so ein langweiliges und unfruchtbares Geschwätz herausgekommen.«
»Weh dem Manne«, sagte Nürnberger, »der sich erdreistete derartiges über Sie zu schreiben.«
»Na ja«, erwiderte Heinrich lächelnd. »Wenn's ein anderer sagt, kann man nie den
leisen Verdacht unterdrücken, daß er recht
»Morgen.«
»Aber man sieht Sie doch noch vor Ihrer Abreise? Ich bin heute den ganzen Nachmittag und Abend zu Hause, kommen Sie, wann es Ihnen paßt. Sie werden einen Menschen finden, der sich mit Entschlossenheit von den Zeitfragen ab und wieder den ewigen Problemen zugewandt hat: Tod und Liebe ... Glauben Sie übrigens an den Tod, Nürnberger? Hinsichtlich der Liebe frag ich schon gar nicht.«
»Dieser für Ihre Verhältnisse doch etwas zu billige Witz«, sagte Nürnberger, »läßt mich vermuten, daß Sie sich durch meine Kritik, trotz Ihrer sehr würdigen Haltung ...«
»Nein, Nürnberger, ich schwöre Ihnen, ich bin nicht verletzt. Ich habe sogar eher ein angenehmes Gefühl, daß die Sache abgetan ist.«
»Abgetan? Warum denn? Es ist doch immerhin möglich, daß ich mich geirrt habe und daß gerade diesem Stück, das ich für minder gelungen halte, auf dem Theater ein Erfolg beschieden wäre, der Sie zum Millionär machen kann. Ich wäre trostlos, wenn durch meine vielleicht ganz unmaßgebliche Kritik ...«
»Gewiß, gewiß, Nürnberger, das müssen wir nun schon einmal alle und in jedem einzelnen Fall auf uns nehmen, daß wir uns geirrt haben können. Und nächstens schreib ich doch wieder ein Stück und zwar mit folgendem Titel: Mir macht niemand was weiß und ich mir selber erst recht nicht ... und Sie, Nürnberger, werden der Held sein.«
Nürnberger lächelte. »Ich? Das heißt, Sie werden einen Menschen hernehmen, den zu kennen Sie sich einbilden, werden diejenigen Seiten seines Wesens zu schildern versuchen, die Ihnen gerade in den Kram passen andre unterschlagen, mit denen Sie nichts an fangen können, und am Ende ...«
»Am Ende«, unterbrach ihn Heinrich, »wird es ein Porträt sein, aufgenommen von einem irrsinnigen Photographen durch einen verdorbenen Apparat, während eines Erdbebens und bei Sonnenfinsternis. Einverstanden oder fehlt noch was?«
»Die Charakteristik dürfte erschöpfend sein«, sagte Nürnberger.
Heinrich nahm Abschied in überlauter Lustigkeit und entfernte sich mit seinem zusammengerollten Manuskript.
»Finden Sie? Ich hab ihn in der letzten Zeit immer auffallend gut gestimmt gefunden.«
»Wirklich gut gestimmt? Glauben Sie das ernstlich? Nach dem, was er erlebt hat?«
»Warum nicht? Menschen, die sich so viel, fast ausschließlich mit sich selbst beschäftigen wie er, verwinden ja seelische Schmerzen überraschend schnell. Auf solchen Naturen, und wohl nicht nur auf solchen, lastet das geringfügigste physische Unbehagen viel drückender, als jede Art von Herzenspein, selbst Untreue und Tod geliebter Personen. Es rührt wohl daher, daß jeder Seelenschmerz irgendwie unserer Eitelkeit schmeichelt, was man von einem Typhus oder einem Magenkatarrh nicht behaupten kann. Und beim Künstler kommt vielleicht dazu, daß aus einem Magenkatarrh absolut nichts zu holen ist ... wenigstens vor kurzem stand das noch ziemlich fest ... aus Seelenschmerzen hingegen alles, was man nur will, vom lyrischen Gedichte bis zu philosophischen Werken.«
»Es gibt doch wohl Seelenschmerzen recht verschiedener Art«, erwiderte Georg. »Und es ist doch noch etwas anderes, wenn uns eine Geliebte betrügt oder verläßt ... und selbst wenn sie eines natürlichen Todes stirbt, als wenn sie sich unseretwegen umbringt.«
»Sie wissen ganz bestimmt?« fragte Nürnberger, »daß Heinrichs Geliebte sich seinetwegen umgebracht hat?«
»Hat Ihnen denn Heinrich nicht erzählt ...?«
»Allerdings. Aber das beweist nicht viel. In Hinsicht auf Dinge, die uns selber angehen, sind wir immer Tröpfe, auch die Klügsten unter uns.«
Solche Bemerkungen aus Nürnbergers Munde hatten für Georg etwas seltsam Beunruhigendes. Sie gehörten in die Reihe jener, die Nürnberger nicht ungern vernehmen ließ und die, wie Heinrich sich einmal ausgedrückt hatte, den Sinn jedes menschlichen Verkehrs, ja aller menschlichen Beziehungen geradezu aufhoben.
Nürnberger sprach weiter: »Wir kennen nur zwei Tatsachen. Die eine, daß unser Freund
einmal mit einer jungen Dame ein Verhältnis gehabt und die andere, daß diese junge
Dame sich ins Wasser gestürzt hat. Von allem, was dazwischen liegt, ist uns beiden so
gut wie nichts und Heinrich wahrscheinlich nicht viel mehr bekannt. Warum sie sich
umgebracht hat, können wir alle
Georg sah durchs Fenster, erblickte Dächer, Schornsteine, verwitterte Röhren und ziemlich nah den hellgrauen Turm mit der durchbrochenen Steinkuppel. Der Himmel darüber war blaß und leer. Es fiel Georg plötzlich auf, daß Nürnberger noch mit keinem Wort nach Anna gefragt hatte. Was mochte er wohl vermuten? Am Ende, daß Georg sie verlassen und sie sich schon mit einem andern Liebhaber getröstet hätte? Warum bin ich nach Wien gefahren, dachte er flüchtig, wie wenn seine Reise keinen andern Zweck gehabt hätte, als sich von Nürnberger Aufschlüsse über das Dasein erteilen zu lassen, die nun schlimm genug ausgefallen waren. Es schlug zwölf. Georg nahm Abschied. Nürnberger begleitete ihn bis an die Tür und dankte ihm für den Besuch. Mit Herzlichkeit, als hätte das frühere Gespräch über Georgs neuen Aufenthaltsort überhaupt keine Geltung zu beanspruchen, erkundigte er sich nach der Beschäftigung, den Arbeiten, den neuen Bekannten Georgs und erfuhr jetzt erst, welchem Zufall Georg seine plötzliche Berufung nach der kleinen Stadt zu verdanken hatte.
»Das ist's ja, was ich immer sage«, bemerkte er dann, »nicht wir sind's, die unser Schicksal machen, sondern meist besorgt das irgendein Umstand außer uns, auf den wir keinerlei Einfluß zu nehmen in der Lage waren, ja den wir nicht einmal in den Kreis unserer Berechnungen einbeziehen konnten. Ist es schließlich ... bei aller Schätzung Ihres Talents darf ich es wohl sagen ist es Ihr Verdienst oder das des alten Eißler, von dessen Verwendung in Ihrer Sache Sie mir einmal erzählt haben, daß Sie telegraphisch nach Detmold beschieden wurden und dort so rasch Ihren Wirkungskreis gefunden haben? Nein. Ein Unschuldiger, Ihnen Unbekannter mußte eines plötzlichen Todes sterben, damit Sie dort den Platz frei finden durften. Und welche andern Dinge, auf die Sie gleichfalls keinen Einfluß nehmen und die Sie nicht vorhersehen konnten, mußten eintreten, um Sie von Wien leichten Herzens, ja um Sie überhaupt von hier scheiden zu lassen?!«
»Wieso leichten Herzens?« fragte Georg befremdet.
»Leichteren Herzens, als unter andern Umständen, mein ich. Wenn das kleine Geschöpf am Leben geblieben wäre, wer weiß ob Sie ...«
»Sie können überzeugt sein, auch dann wär ich fortgefahren. Und Anna hätte es
geradeso natürlich gefunden, wie sie es jetzt
»O ich zweifle nicht daran. Nach allem, was Sie mir gelegentlich von ihr erzählt haben, hat sie sich ja anscheinend auch in ihre Situation mit mehr Würde gefunden, als junge Damen aus ihren Kreisen bei solchen Gelegenheiten sonst aufzubringen pflegen.«
»Lieber Herr Nürnberger, die Situation war ja nicht so furchtbar.«
»Ach, sagen Sie das nicht. Wenn sie auch durch Ihre Noblesse und Rücksichtnahme sehr gemildert war, seien Sie überzeugt, das Fräulein hat gewiß öfter in dieser Zeit das Unregelmäßige in ihrer Situation empfunden. Es gibt wohl kein weibliches Wesen, und dächte es noch so kühn und überlegen, das in einem solchen Fall nicht lieber den Ring am Finger trüge. Und es spricht eben wieder für die kluge und vornehme Gesinnung Ihrer Freundin, daß sie Sie das niemals hat merken lassen und daß sie auch die bittre Enttäuschung am Ende dieser gewiß nicht ausschließlich süßen neun Monate mit Fassung und Ruhe hingenommen hat.«
»Enttäuschung ist ein mildes Wort. Schmerzen wäre vielleicht das richtigere.«
»Es war wohl beides. Doch wie meistens wird wohl auch hier die brennende Wunde des Schmerzes schneller verheilt sein, als die quälende, bohrende der Enttäuschung.«
»Ich verstehe Sie nicht recht.«
»Nun daran, lieber Georg, werden Sie doch nicht zweifeln, daß Sie sehr bald, am Ende schon heute, verheiratet wären, wenn das kleine Wesen am Leben geblieben wäre.«
»Und Sie glauben, daß jetzt, weil wir kein Kind haben ... ja Sie scheinen der Ansicht zu sein, daß ... daß ... es überhaupt aus ist? Sie sind vollkommen im Irrtum, aber vollkommen, lieber Freund.«
»Lieber Georg«, erwiderte Nürnberger, »wir wollen lieber beide von der Zukunft nicht
reden. Weder Sie noch ich wissen es, wo in diesem Augenblick ein Faden zu unserm
Schicksal gesponnen wird. Sie haben auch in dem Augenblick, als jener Kapellmeister
vom Schlag gerührt wurde, nicht das geringste verspürt. Und wenn ich Ihnen jetzt
Glück wünsche zu Ihrer weiteren Laufbahn,
Auf dem Flur nahmen sie Abschied. Auf die Stiege rief Nürnberger Georg nach: »Lassen Sie gelegentlich was von sich hören.«
Georg wandte sich noch einmal um: »Und Sie, tun Sie desgleichen! ...« Er sah nur noch die abwehrend-resignierte Handbewegung Nürnbergers, lächelte unwillkürlich und eilte hinab. An der nächsten Ecke nahm er einen Wagen. Auf dem Weg zu Golowskis dachte er über Nürnberger und Bermann nach. Was für ein seltsames Verhältnis das zwischen ihnen war! Vor Georg erschien ein Bild, das er ähnlich irgend einmal in einem Traum gesehen zu haben glaubte. Die zwei saßen sich gegenüber; jeder hielt dem andern einen Spiegel vor, darin sah der andere sich selbst mit einem Spiegel in der Hand, und in dem Spiegel wieder den andern mit dem Spiegel in der Hand und so fort in die Unendlichkeit. Kannte da einer noch den andern, kannte einer noch sich selbst? Georg wurde schwindlig zumute. Dann dachte er an Anna. Sollte Nürnberger wieder einmal recht behalten? War es denn wirklich aus? Konnte es überhaupt jemals enden? Jemals? ... Das Leben ist lang! Aber waren schon die nächsten Monate bedenklich? Micaela vielleicht ... Nein. Das war nicht schwer zu nehmen, wie immer es kommen sollte. Und zu Ostern war er ja wieder in Wien, dann kam der Sommer; man blieb zusammen. Und dann? Ja was dann? Vermählung? Herrn Rosners und Frau Rosners Schwiegersohn, Josefs Schwager! Ach, was ging ihn die Familie an. Anna war es doch, die seine Frau sein würde, das gütige, sanfte, kluge Wesen.
Der Wagen hielt vor einem ziemlich neuen, häßlichen, gelb angestrichenen Haus, in einer breiten, einförmigen Gasse. Georg hieß den Kutscher warten und trat ins Tor. Im Innern sah das Haus recht verwahrlost aus; Mörtel war an vielen Stellen von den Mauern abgebröckelt, und die Stiegen waren schmutzig. Aus einigen Küchenfenstern roch es nach schlechtem Fett. Auf dem Gang im ersten Stock unterhielten sich zwei dicke Jüdinnen in einem für Georg unerträglichen Jargon, und die eine sagte zu einem Buben, den sie an der Hand hielt: »Moritz, laß den Herrn vorbei.« Warum sagt sie das, dachte Georg. Es ist ja Platz genug. Offenbar will sie sich mit mir verhalten. Als wenn ich ihr schaden oder nützen könnte. Und ein Wort Heinrichs aus einem verflossenen Gespräch fiel ihm ein: »Feindesland«.
Ein Dienstmädchen ließ ihn in ein Zimmer treten, das er sofort
»Sie können sich gar nicht denken, wie ich mich gefreut habe ...«, begann Georg.
»Ich glaub's Ihnen ... aber bitte kommen Sie mit mir weiter, wir sind nämlich noch beim Essen aber gleich fertig.«
Er führte ihn ins Nebenzimmer. Die Familie war um den Tisch versammelt. »Ich glaube, meinen Vater kennen Sie noch nicht«, bemerkte Leo und stellte die beiden einander vor. Der alte Golowski stand auf, legte die Serviette fort, die er um den Hals gebunden hatte, und reichte Georg die Hand.
Dieser wunderte sich, daß der alte Mann vollkommen anders aussah, als er sich ihn vorgestellt hatte; nicht patriarchalisch, graubärtig und ehrwürdig, sondern glattrasiert und mit breit verschlagenen Mienen glich er am ehesten einem alternden Provinzkomiker. »Ich freu mich sehr, Herr Baron, Sie kennen zu lernen«, sagte er, und in seinen listigen Augen stand zu lesen: »Ich weiß doch alles.«
Therese stellte hastig die üblichen Fragen an Georg, wann er gekommen wäre, wie lange er bliebe, wie es ihm ginge; er antwortete geduldig und liebenswürdig, und sie sah ihm neugierig-lebhaft ins Gesicht. Dann fragte er Leo nach dessen Absichten für die nächste Zeit.
»Vor allem werd ich fleißig Klavier spielen müssen, um mich vor meinen Schülern nicht zu blamieren. Die Leute sind ja sehr nett gegen mich gewesen. Bücher hab ich gehabt, soviel ich wollte. Aber ein Klavier haben sie mir doch nicht zur Verfügung gestellt.« Er wandte sich an Therese: »Das solltest du in einer deiner nächsten Reden unbedingt geißeln. Diese schlechte Behandlung der Untersuchungshäftlinge muß abgestellt werden.«
»Gestern um die Zeit«, sagte der alte Golowski, »war ihm wirklich noch nicht zum Lachen.«
»Wenn du vielleicht glaubst«, meinte Therese, »daß der Glücksfall, der dir begegnet
ist, meine Ansichten ändern wird, so irrst du dich gewaltig. Im Gegenteil.« Und zu
Georg gewandt fuhr sie fort: »Theoretisch bin ich nämlich absolut dagegen, daß sie
ihn
Der nickte nur und dachte an den armen jungen Menschen, den Leo erschossen und der eigentlich gar nichts anderes gegen die Juden gehabt hatte, als daß sie ihm so zuwider gewesen waren, wie schließlich den meisten Menschen und dessen Schuld im Grunde nur darin bestanden hatte, daß er an den Unrechten gekommen war. Leo strich seiner Schwester übers Haar und sagte: »Siehst du, wenn du das, was du hier in diesen vier Wänden gesagt hast, nächstens öffentlich aussprächest, dann würdest du mir imponieren.«
»Na und du mir«, erwiderte Therese, »wenn du dir morgen samt dem alten Ehrenberg ein Billett nach Jerusalem löstest.«
Sie standen vom Tisch auf. Leo lud Georg ein, mit ihm in sein Zimmer zu kommen.
»Stör' ich euch?« fragte Therese. »Ich möcht nämlich auch was von ihm haben.«
Sie saßen alle drei in Leos Zimmer und plauderten. Leo schien sich der wiedergewonnenen Freiheit unbedenklich und reuelos zu freuen, was Georg sonderbar berührte. Therese saß auf dem Divan, in einem dunkeln anliegenden Kleid und sah heute zum erstenmal wieder der jungen Dame ähnlich, die in Lugano als die Geliebte eines Kavallerieoffiziers unter einer Platane Asti getrunken und nachher einen anderen geküßt hatte. Sie bat Georg Klavier zu spielen. Noch nie hatte sie ihn gehört. Er setzte sich hin, spielte einiges aus Tristan und phantasierte dann mit glücklicher Eingebung. Leo sprach seine Anerkennung aus.
»Wie schade, daß er nicht dableibt«, sagte Therese und kreuzte, an der Wand lehnend, die Hände über ihrer hohen Frisur.
»Zu Ostern komm ich wieder«, erwiderte Georg und sah sie an.
»Aber doch nur, um wieder zu verschwinden«, sagte Therese.
»Das wohl«, entgegnete Georg, und es fiel ihm plötzlich auf die Seele, daß hier nicht mehr seine Heimat war, daß er nun überhaupt keine mehr hatte, für lange Zeit.
»Wie wär's«, sagte Leo, »wenn wir im Sommer eine gemeinsame
»Ach«, sagte Therese und reckte sich, »es kommt so wie so nichts dabei heraus. Taten! meine Herren!«
»Und was kommt bei Taten heraus?« fragte Leo. »Sie sind höchstens Privaterlösungen für den Moment.«
»Ja, Taten, die man für sich selbst begeht«, sagte Therese. »Nur was man fähig ist, für die andern zu leisten, ohne Rachsucht, ohne Eitelkeit persönlicher Natur, namenlos womöglich, nur das nenn ich eine Tat.«
Georg mußte endlich fort. Was hatte er noch alles zu besorgen!
»Ich begleite Sie ein Stück«, sagte Therese zu ihm.
Leo umarmte ihn noch einmal und sagte: »Es war wirklich schön von Ihnen.«
Therese verschwand, um Hut und Jacke zu holen. Georg begab sich ins Nebenzimmer; die alte Frau Golowski schien ihn erwartet zu haben. Mit einem sonderbar ängstlichen Gesicht trat sie auf ihn zu und gab ihm ein Kuvert in die Hand.
»Was ist das?«
»Der Schein, Herr Baron, ich habe ihn nicht der Anna geben wollen ... es hätt sie vielleicht zu sehr aufgeregt.«
»Ach ja ...« Er steckte das Kuvert ein und fand, daß es sich seltsamer anfühlte, als andre ...
Therese erschien mit einem spanischen Hütchen, zum Fortgehen bereit. »Da bin ich. Auf Wiedersehen, Mama. Zum Nachtmahl komm ich nicht nach Haus.«
Sie ging mit Georg die Treppe hinab, sah ihn vergnügt von der Seite an.
»Wohin darf ich Sie führen?« fragte Georg.
»Nehmen Sie mich nur mit, irgendwo steig ich halt aus.« Sie stiegen ein, der Wagen fuhr davon. Sie fragte ihn um allerlei, worauf er schon in der Wohnung Antwort gegeben hatte, als nähme sie an, daß er jetzt, mit ihr allein, aufrichtiger sein müßte, als vor den andern. Sie erfuhr nichts anderes, als daß er sich in der neuen Umgebung wohl fühlte und daß seine Arbeit ihm Befriedigung gewährte. Ob sein Erscheinen eine große Überraschung für Anna bedeutet hätte? Nein, das nicht, er hatte sie ja verständigt. Und ob es denn wahr sei, daß er zu Ostern wiederkommen wollte? Es sei seine bestimmte Absicht ...
»Was?«
»Man würde Sie niemals wiedersehen.«
Er erwiderte nichts, etwas betroffen. Dann fuhr es ihm durch den Sinn: Wär es nicht vernünftiger gewesen ...? Er saß ganz nahe neben Therese, fühlte die Wärme ihres Körpers wie damals in Lugano. In welchem ihrer Träume mochte sie jetzt leben? In dem wirr-düstern der Menschheitsbeglückung, oder in dem heiter-leichten eines neuen Liebesabenteuers? Sie sah angelegentlich zum Fenster hinaus. Er nahm ihre Hand, die sie ihm nicht entzog, und führte sie an die Lippen. Plötzlich wandte sie sich zu ihm und sagte harmlos: »So, nun lassen Sie halten, hier steig ich am besten aus.«
Er ließ ihre Hand los und sah Therese an.
»Ja, lieber Georg, wohin geriete man«, sagte sie, »wenn man sich nicht ...«, sie verzog spöttisch den Mund, »für die Menschheit zu opfern hätte. Wissen Sie, was ich mir manchmal denke ...? Vielleicht ist das alles nur eine Flucht vor mir selbst.«
»Warum ... warum fliehen Sie?«
»Leben Sie wohl, Georg.« Der Wagen hielt. Therese stieg aus, ein junger Mann blieb stehen, starrte sie an; sie verschwand in der Menge. Ich glaube nicht, daß sie auf dem Schafott enden wird, dachte Georg. Er fuhr in sein Hotel, aß zu Mittag, zündete sich eine Zigarette an, kleidete sich um und begab sich zu Ehrenbergs.
Im Speisezimmer, beim schwarzen Kaffee, mit den Damen des Hauses waren James, Sissy,
Willy Eißler und Frau Oberberger anwesend. Georg nahm zwischen Else und Sissy Platz,
trank ein Gläschen Benediktiner und beantwortete alle Fragen, die seinem neuen Wirken
galten, geduldig und mit Humor. Bald begab man sich in den Salon, und nun saß er eine
Weile im erhöhten Erker mit Frau Oberberger, die heute wieder ganz jung aussah und
vor allem über Georgs persönliche Erlebnisse in Detmold näheres zu hören wünschte.
Sie glaubte ihm nicht, daß er nicht mit sämtlichen Sängerinnen Verhältnisse
angeknüpft hatte, wie ihr überhaupt das Theaterleben nur als Anlaß und Vorwand für
galante Abenteuer zu gelten schien; jedenfalls bestand sie darauf, über Vorgänge
hinter den Kulissen, in den Garderoben und in der Direktionskanzlei
Ungeheuerlichkeiten zu vernehmen. Als Georg nicht umhin konnte, sie durch seine
Berichte von der bürgerlich anständigen, beinahe philiströsen Lebensweise der
Bühnenmitglieder
Plötzlich aber, ganz unvermutet und etwas leiser fragte sie: »Wie geht's denn Ihrem Kind?«
»Meinem Kind ...?« Er zögerte. »Sagen Sie mir, Else, warum fragen Sie mich eigentlich ...? Es ist ja doch nur Neugier.«
»Sie irren sich, Georg«, erwiderte sie ruhig und ernst, »wie Sie sich ja meistens in mir geirrt haben. Sie halten mich für recht oberflächlich, oder weiß Gott was. Nun, es hat ja keinen Sinn, weiter darüber zu reden. Aber jedenfalls ist es nicht so ganz unbegreiflich, daß ich mich nach dem Kind erkundige. Ich möchte es gern einmal sehen.«
»Sie möchten es sehen?« Er war bewegt.
»Ja. Ich hätte sogar noch eine andre Idee ... die Sie aber wahrscheinlich ganz verrückt finden werden.«
»Lassen Sie doch hören, Else.«
»Ich denke mir nämlich, wir könnten es zu uns nehmen.«
»Wer, wir?«
»James und ich.«
»Nach England?«
»Wer sagt Ihnen denn, daß wir nach England gehen? Wir bleiben hier. Wir haben schon eine Wohnung gemietet, im Cottage draußen. Es braucht's ja niemand zu wissen, daß es Ihr Kind ist.«
»Was für ein romanhafter Gedanke.«
»Gott, warum romanhaft? Anna kann's doch nicht bei sich haben und Sie doch erst recht nicht. Wo soll's denn während der Proben stecken? Im Souffleurkasten vielleicht?«
Georg lächelte. »Sie sind sehr gut, Else.«
»Ich bin gar nicht gut. Ich denk nur, warum soll denn so ein unschuldiges kleines
Geschöpf dafür büßen, oder darunter leiden,
»Es war ein Bub.« Er machte eine Pause. Dann sagte er leise: »Es ist nämlich tot.« Und er sah vor sich hin.
»Was? Ach so, Sie wollen sich ... vor meiner Zudringlichkeit schützen.«
»Else, wie können Sie denn ... Nein, Else. In solchen Dingen lügt man nicht.«
»Also wirklich? Ja, wie ist denn das ...«
»Es ist tot zur Welt gekommen.«
Sie sah zu Boden. »Nein, wie schrecklich!« Sie schüttelte den Kopf. »Wie schrecklich! ... Nun hat sie mit einemmal gar nichts mehr.«
Georg zuckte leicht zusammen, aber vermochte nichts zu antworten. Wie entschieden es für alle schien, daß die Geschichte mit Anna zu Ende war. Und ihn bedauerte Else gar nicht. Sie ahnte wohl nicht einmal, wie der Tod des Kindes ihn erschüttert hatte. Wie konnte sie es auch ahnen! Was wußte sie von der Stunde, da der Garten seine Farben, der Himmel sein Licht für ihn verloren hatte, weil sein wunderschönes Kind tot drin im Hause lag.
Frau Ehrenberg war herangekommen. Sie drückte Georg ihre besondere Zufriedenheit aus. Sie habe übrigens nie daran gezweifelt, daß er seinen Mann stellen würde, sobald er nur einmal in einem Beruf mitten drin stände. Auch sei sie fest überzeugt: in drei bis fünf Jahren hätten sie ihn hier, in Wien, als Kapellmeister. Georg wehrte ab. Er denke vorläufig gar nicht daran, nach Wien zurückzukehren. Er fühle, daß man draußen im Reich mehr und ernster arbeite. Hier sei man immer in Gefahr, sich zu verlieren.
Frau Ehrenberg stimmte zu und nahm Anlaß, sich über Heinrich Bermann zu beschweren, der als Dichter verstummt sei und sich nebstbei nicht mehr blicken lasse.
Georg nahm ihn in Schutz und fühlte sich verpflichtet, festzustellen, daß Heinrich
fleißiger wäre als je. Aber Frau Ehrenberg hatte auch andre Beispiele für den
verderblichen Einfluß der Wiener Luft. Nürnberger vor allem, der sich nun vollkommen
von der Welt abzuschließen scheine. Und was mit Oskar passiert sei ... hätte das in
einer andern Stadt als in Wien geschehen können? Ob Georg übrigens wüßte, daß Oskar
mit dem Prinzen von Guastalla auf Reisen wäre? Sie tat, als fände sie daran nichts
Besonderes, Georg merkte ihr aber an, daß sie ein wenig stolz war
Während Georg mit Frau Ehrenberg sprach, sah er zuweilen die Blicke Elses auf sich gerichtet, die sich mit James in den Erker zurückgezogen hatte, wissende, schwermütige Blicke, die ihn beinahe durchschauerten. Er empfahl sich bald, fühlte einen unbegreiflich fremden Händedruck von Else, gleichgültig-liebenswürdige von den andern und ging.
Wie das nur zugeht, dachte er im Wagen, der ihn zu Heinrich führte. Die Leute wußten alles früher als er selbst. Sie hatten von seinem Verhältnis mit Anna gewußt, ehe es angefangen und jetzt wußten sie wieder früher als er, daß es zu Ende war. Er hatte nicht übel Lust, ihnen allen zu beweisen, daß sie sich irrten. Freilich, in solch einer Lebenssache durfte man sich durch Trotz am wenigsten bestimmen lassen. Es war gut, daß nun ein paar Monate kamen, in denen er sich wieder sammeln, alles reiflich erwägen konnte. Auch für Anna würde es gut sein; für sie vielleicht ganz besonders. Der gestrige Spaziergang mit ihr im Regen über die feuchtbräunlichen Straßen fiel ihm wieder ein und erschien ihm wie etwas unsagbar Trauriges. Ach, die Stunden in dem gewölbten Zimmer, in das von drüben durch den wallenden Schneevorhang die Orgel hereinklang! Wo waren sie! Diese und so viele andre wundervolle Stunden, wo waren sie hin! Er sah sich und Anna im Geiste wieder, ein junges Paar auf der Hochzeitsreise, durch Gassen wandeln, in denen der wunderbare Hauch der Fremde war; banale Hotelräume, in denen er nur für kurze Tage mit ihr geweilt, tauchten vor ihm plötzlich wieder auf und waren wie geweiht vom Duft der Erinnerung ... Dann erschien ihm die Geliebte auf einer weißen Bank, unter schweren Ästen, die hohe Stirn von einer trügerischen Ahnung sanfter Mütterlichkeit umflossen und endlich stand sie da, ein Notenblatt in der Hand und weiße Vorhänge bewegten sich leise im Winde. Und als er sich bewußt wurde, daß es dasselbe Zimmer war, in dem sie jetzt seiner wartete und daß nicht viel mehr als ein Jahr verflossen, seit jener abendlichen Spätsommerstunde, da sie, von ihm begleitet, sein Lied zum erstenmal ihm vorgesungen atmete er in seiner Wagenecke schwer und beinahe angstvoll auf.
Als er ein paar Minuten drauf bei Heinrich im Zimmer stand, bat er ihn, dies nicht
als Besuch anzusehen. Nur die Hand wollte er ihm drücken morgen vormittags wenn's ihm
recht sei, wollte er ihn abholen zu einem Spaziergang ... Ja dies fiel ihm während
Heinrich war einverstanden, bat ihn nur ein paar Augenblicke zu verweilen. Georg fragte ihn scherzend, ob er sich schon von seinem Mißerfolg von heute Morgen erholt hätte.
Heinrich wies auf den Schreibtisch, wo lose Blätter lagen, die mit großen, erregten Schriftzeichen bedeckt waren. »Wissen Sie, was das ist? Den Ägidius habe ich mir wieder hergenommen. Und gerade, bevor Sie kamen, ist mir ein ziemlich möglicher Schluß eingefallen. Wenn es Sie interessiert, so erzähl ich Ihnen morgen mehr davon.«
»Gewiß. Ich bin sehr gespannt. Das ist übrigens hübsch, daß Sie sich gleich wieder an eine Arbeit gemacht haben.«
»Ja, lieber Georg, ganz allein bin ich nicht gern. Ich muß mir möglichst rasch Gesellschaft verschaffen, nach meiner Wahl ... sonst kommt eben wer will, und man möchte doch nicht für jedes Gespenst zu sprechen sein.«
Georg erzählte, daß er Leo besucht und ihn so heiter angetroffen, wie er es kaum vermutet hätte.
Heinrich lehnte am Schreibtisch, beide Hände in den Hosentaschen vergraben, mit leicht gesenktem Kopf; die beschirmte Lampe zeichnete von unten unsichere Schatten in sein Gesicht. »Warum haben Sie's nicht erwartet, ihn heiter zu finden? Uns ... mir wenigstens ging es wahrscheinlich gerade so.«
Georg saß auf der Lehne eines schwarzledernen Fauteuils, die Beine übereinandergeschlagen, Hut und Stock in der Hand. »Vielleicht haben Sie recht«, sagte er, »aber ich kann Ihnen nicht verhehlen, mir war es trotzdem sonderbar zu denken, während ich sein frohes Gesicht sah, daß er ein Menschenleben auf dem Gewissen hat.«
»Das heißt«, sagte Heinrich und begann im Zimmer hin und her zu gehen, »es ist einer der Fälle, wo die Beziehung von Ursache und Wirkung so einleuchtend ist, daß man ruhig sagen darf: ›Er hat getötet‹, ohne daß es beinahe nach einem Wortspiel aussähe ... Im ganzen aber, finden Sie nicht, Georg, sehen wir diese Dinge doch ein bißchen oberflächlich an. Wir müssen einen Dolch blitzen sehen, eine Kugel pfeifen hören, um zu begreifen, daß ein Mord geschehen ist. Als wär nicht einer, der jemanden sterben läßt, vom Mörder oft durch weiter nichts unterschieden, als durch einen höhern Grad von Bequemlichkeit und Feigheit ...«
»Vielleicht. Ich weiß nicht. Aber eins kann ich Ihnen sagen, Georg, wenn sie noch lebte ... das heißt, wenn ich ihr verziehen hätte, wie Sie sich gelegentlich auszudrücken beliebten, so käme ich mir schuldiger vor, als ich mir heute erscheine. Ja, ja, so ist es nun einmal. Ich will's Ihnen gar nicht verhehlen, Georg, es gab eine Nacht ... ein paar Nächte gab es, da war ich wie vernichtet vor Schmerz, vor Verzweiflung, vor ... nun, andre hätten es eben für Reue gehalten. Es war aber nichts derart. Denn mitten in meinem Schmerz, in meiner Verzweiflung hab ich's ja gewußt, daß dieser Tod etwas Erledigendes, etwas Versöhnendes, etwas Reines bedeutete. Wär ich schwach gewesen, oder weniger eitel ... wie Sie's eben auffassen wollen ... wär sie wieder meine Geliebte geworden, so wäre viel schlimmeres gekommen, als dieser Tod, auch für sie ... Ekel und Qual, Wut und Haß wären um unser Bett gekrochen ... unsere Erinnerungen wären verfault, Stück für Stück, ja, bei lebendigem Leibe wäre unsere Liebe verwest. Es durfte nicht sein. Ein Verbrechen wär es gewesen, dieses todkranke Verhältnis weiterzufristen, so wie es ein Verbrechen ist und in der Zukunft auch so gelten wird das Leben eines Menschen hinzufristen, dem ein qualvolles Sterben bestimmt ist. Das wird Ihnen jeder vernünftige Arzt sagen. Und darum bin ich sehr fern davon, mir Vorwürfe zu machen. Ich will mich auch nicht vor Ihnen oder sonst jemandem auf der Welt rechtfertigen, aber es ist nun einmal so: ich kann mich nicht schuldig fühlen. Es geht mir ja manchmal sehr schlimm, aber mit Schuldgefühlen hat das nicht das Geringste zu tun.«
»Sie sind damals hingereist?« fragte Georg.
»Ja. Ich bin hingereist. Ich bin sogar dabeigestanden, als man den Sarg in die Erde
senkte. Ja. Mit der Mutter zusammen bin ich hingefahren.« Er stand am Fenster, ganz
im Dunkel und schüttelte sich. »Nein, nie werd ich es vergessen. Übrigens ist es auch
nur eine Lüge, daß sich Menschen in einem gemeinsamen Leid finden. Nie finden sich
Menschen, wenn sie nicht zueinander gehören. Noch ferner werden sie einander in
schweren Stunden. Diese Fahrt! Wenn ich mich daran erinnere! Ich hab übrigens beinahe
die ganze Zeit gelesen. Es war mir unerträglich, mit der dummen, alten Person zu
reden. Man haßt doch niemanden mehr als jemand gleichgültigen, der einem Mitleid
abfordert. Wir sind
Georg empfand ein leises Grauen. Er stand auf. »Ich muß Sie leider verlassen, Heinrich. Ich werde erwartet. Sie verzeihen.«
Heinrich trat aus dem Dunkel des Fensters hervor, zu ihm. »Ich danke Ihnen sehr für Ihren Besuch. Also morgen, nicht wahr? Sie gehen jetzt wohl zu Anna? Bitte grüßen Sie sie herzlich. Ich höre ja, daß es ihr gut geht. Therese erzählte mir's.«
»Ja, sie sieht vortrefflich aus. Sie hat sich vollkommen erholt.«
»Das freut mich. Also auf morgen, nicht wahr? Ich freu mich sehr, daß ich Sie noch einmal sehen kann, eh Sie abreisen. Sie müssen mir auch noch allerlei erzählen. Ich habe ja wieder einmal nichts getan, als von mir geredet.«
Georg lächelte. Als wenn er das von Heinrich nicht gewohnt gewesen wäre! »Auf Wiedersehen«, sagte er und ging.
Manches von dem, was Heinrich gesprochen, klang in Georg nach, als er wieder im Wagen
saß. »Wir müssen einen Dolch blitzen sehen, um zu begreifen, daß ein Mord geschehen
ist.« Georg fühlte, daß vom Sinn dieser Worte eine gleichsam unterirdische, aber
längst geahnte Beziehung zu einem dumpfen Unbehagen hinging, das er manchmal in
seiner Seele spürte. Er dachte einer Stunde, da ihm gewesen war, als ginge in den
Wolken ein Spiel um sein ungeborenes Kind, und seltsam erschien es ihm plötzlich, daß
Anna über den Tod des Kindes mit ihm noch kein Wort gesprochen, daß sie sogar in
ihren Briefen jede Andeutung nicht nur auf den unglücklichen Ausgang, sondern auch
auf den ganzen Zeitraum, da sie das Kind unter dem Herzen getragen, vollkommen
vermieden hatte. Der Wagen näherte sich dem Ziel. Warum klopft mir das Herz, dachte
Georg. Freude? ... Schlechtes Gewissen? ... Heut mit einemmal! Sie kann mir doch die
Schuld nicht geben ...? Was für Unsinn. Ich bin abgespannt und erregt zugleich, das
ist es. Ich hätte nicht herkommen sollen. Warum hab ich all diese Menschen
wiedergesehen? War mir
Als er bei Rosners eintrat, saß die Mutter allein am Tische, sah von einem Buche auf und klappte es zu. Über den Tisch, gleichmäßig nach allen Seiten, glitt von oben der Schein einer leicht hin und her schwingenden Lampe. Josef erhob sich aus einer Divanecke. Anna trat eben aus ihrem Zimmer, strich mit beiden Händen über das hochgekämmte, gewellte Haar, begrüßte Georg mit leichtem Kopfneigen und hatte für ihn in diesem Augenblick mehr von einer Erscheinung als von einer wirklichen Gestalt. Georg reichte allen die Hand und erkundigte sich nach dem Befinden des Herrn Rosner.
»Es geht ihm nicht grad schlecht«, sagte Frau Rosner. »Aber aufstehen kann er halt schwer.«
Josef entschuldigte sich, daß er schlafend auf dem Divan betroffen worden war. Er mußte den Sonntag benutzen, um sich auszuruhen. Er bekleidete eine Stellung bei seiner Zeitung, die ihn nachts manchmal bis drei festhielt.
»Er ist jetzt sehr fleißig«, bestätigte auch die Mutter.
»Ja«, sagte Josef bescheiden, »wenn man gewissermaßen einen Wirkungskreis hat ...« Er bemerkte weiter, daß der »Christliche Volksbote« sich einer immer größern Verbreitung erfreue, sogar draußen im Reich. Dann richtete er an Georg einige Fragen über dessen neuen Aufenthaltsort, interessierte sich lebhaft für Bevölkerungszahl, Zustand der Straßen, Verbreitung des Radfahrsports und Umgebung.
Frau Rosner ihrerseits erkundigte sich höflich nach der Zusammenstellung des Repertoires, Georg gab Auskunft, bald war ein Gespräch im Gange, an dem sich auch Anna sachlich beteiligte, und Georg fand sich plötzlich zu Besuch in einer Bürgerfamilie von angenehmen Umgangsformen, in der die Tochter des Hauses musikalisch war. Die Unterhaltung gelangte endlich dahin, daß Georg sich zur Äußerung des Wunsches veranlaßt fand, die junge Dame wieder einmal singen zu hören und er mußte sich gleichsam besinnen, daß es ja seine Anna war, deren Stimme zu vernehmen ihn verlangt hatte.
»Gewiß«, sagte Georg lächelnd. Und er zitierte: »Der Gott, der Eisen wachsen ließ ...«
»Der wollte keine Knechte«, ergänzte Josef. »Aber das singen wir schon lange nicht mehr. Es ist zu verwandt mit der ›Wacht am Rhein«; und man soll uns nicht mehr nachsagen, daß wir über die Grenze schielen. Es hat große Kämpfe gegeben bei uns im Ausschuß. Ein Herr hat sogar demissioniert. Er ist nämlich Solizitator in der Kanzlei vom Doktor Fuchs, dem deutschnationalen Abgeordneten. Ja, es ist halt alles Politik.« Er zwinkerte. Man sollte nicht glauben, daß er den Schwindel noch ernst nahm, jetzt da er selbst in die Maschinerie des öffentlichen Lebens Einblick hatte. Mit der kaum mehr überraschenden Bemerkung, daß er überhaupt Geschichten erzählen könnte, empfahl er sich. Frau Rosner fand es an der Zeit, nach ihrem Gatten zu sehen.
Georg saß Anna gegenüber, allein mit ihr an dem runden Tisch, über den der Schein der Hängelampe floß.
»Ich danke dir für die schönen Rosen«, sagte Anna, »ich hab sie drin in meinem Zimmer.« Sie erhob sich, und Georg folgte ihr. Er hatte ganz vergessen, daß er ihr Blumen geschickt hatte. In einem hohen Glas, vor dem Spiegel standen sie, dunkelrot, und spiegelten farblos dunkel sich ab. Das Pianino war offen, Noten waren aufgeschlagen, zwei Kerzen brannten zu den Seiten. Sonst war nur so viel Licht in dem Raum, als durch den breiten Türspalt aus dem Nebenzimmer hereinfiel.
»Du hast gespielt, Anna?« er trat näher hin. »Die Arie der Gräfin? Auch gesungen?«
»Ja. Versucht.«
»Geht's?«
»Es fängt an ... kommt mir vor. Na, wir werden ja sehen. Aber sag mir vor allem, was du heut den ganzen Tag gemacht hast.«
»Gleich. Wir haben uns ja noch gar nicht begrüßt.« Er umarmte und küßte sie.
»Lang ist's her«, sagte sie, an ihm vorbeilächelnd.
»Also«, fragte er lebhaft, »fährst du mit mir?«
Anna zögerte. »Aber wie denkst du dir denn eigentlich die Sache, Georg?«
»Sehr einfach. Morgen nachmittag können wir fortfahren. Wahl des Ortes bleibt dir
überlassen. Reichenau, Semmering, Brühl,
Anna sah vor sich hin. »Es wär ja schön«, sagte sie tonlos, »aber es wird halt nicht möglich sein, Georg.«
»Wegen deines Vaters?«
Sie nickte.
»Es geht ihm doch besser?«
»Nein, es geht ihm gar nicht gut. Er ist so schwach. Man würde mir natürlich keinen direkten Vorwurf machen. Aber ich ... ich kann die Mutter jetzt nicht allein lassen, wegen so eines Ausfluges.«
Er zuckte die Achseln, ein wenig verletzt über die Bezeichnung, die sie gewählt hatte.
»Und sag einmal aufrichtig«, fügte sie wie scherzend hinzu, »liegt dir denn gar so viel dran?«
Er schüttelte den Kopf, schmerzlich beinahe. Aber er fühlte, daß auch diese Geste der Aufrichtigkeit entbehrte. »Ich versteh dich nicht, Anna«, sagte er schwächer, als er gewünscht hätte. »Daß so ein paar Wochen des Fern-voneinander-seins, daß die ... Ja ich weiß gar nicht, wie ich's nennen soll ... Es ist ja, als hätte man sich verloren. Ich bin's doch, Anna, ich bin's doch ...«, wiederholte er heftig aber müd. Er saß auf dem Sessel vor dem Pianino. Er nahm ihre Hände, führte sie an die Lippen, zerstreut und ein wenig erregt.
»Wie war's denn in Tristan?« fragte sie.
Beflissen berichtete er von der Vorstellung, verschwieg auch seinen Besuch in der Ehrenbergschen Loge nicht, sprach von all den andern Menschen, die er gesehen, und bestellte ihr die Grüße von Heinrich Bermann. Dann zog er sie zu sich auf die Knie und küßte sie. Als er sein Antlitz von dem ihren entfernte, sah er Tränen über ihre Wangen rinnen. Er spielte den Befremdeten. »Was hast du denn, Kind ...? Ja warum denn, warum ...«
Sie erhob sich, trat zum Fenster, das Gesicht von ihm abgewandt. Nun stand er auf,
etwas ungeduldig, ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, trat endlich zu ihr, drängte
sich nah an sie und begann wieder, unvermittelt, hastig: »Anna! Überleg dir's, ob du
nicht doch mit mir fahren könntest! Es wäre alles so anders, als hier. Man könnte
sich aussprechen. Wir haben über so wichtige Dinge zu reden. Ich brauch ja auch
deinen Rat; wegen meiner Entschlüsse für das nächste Jahr. Ich hab dir ja
geschrieben, nicht wahr? Es ist also sehr wahrscheinlich, daß man mir schon in
»Was soll man da raten?« sagte sie. »Du wirst schließlich am besten wissen, ob du dich dort wohlfühlst, oder nicht.«
Er begann zu erzählen, von dem liebenswürdigen und begabten Intendanten, der ihn offenbar als Mitarbeiter heranzuziehen wünschte, von dem sympathischen, alten Kapellmeister, der einmal so berühmt gewesen war, von irgendeinem sehr klein geratenen Bühnenarbeiter, den man Alexander den Großen nannte, von einer jungen Dame, mit der er die Micaela studiert hatte und die mit einem Berliner Arzt verlobt war, von einem Tenor, der schon siebenundzwanzig Jahre an dem Theater wirkte und Wagner grimmig haßte. Dann begann er von seinen persönlichen Aussichten in künstlerischer und materieller Beziehung zu sprechen. Ohne Zweifel könnte er an dem kleinen Hoftheater bald zu einer gesicherten und günstigen Position gelangen. Andererseits wäre zu bedenken, daß es gefährlich sei, sich auf allzulange zu binden; eine Karriere wie die des alten Kapellmeisters wäre nicht nach seinem Geschmack. Freilich ... die Temperamente seien verschieden, er für seinen Teil glaube sich vor einem ähnlichen Schicksal gefeit.
Anna sah ihn immer nur an, und in einem nachsichtig-spöttischen Ton, wie wenn sie zu einem Kinde spräche, sagte sie endlich: »Nein, wie er sich anstrengt.«
Er war betroffen. »Inwiefern streng ich mich an?«
»Schau, Georg, du bist mir doch nicht Aufklärungen irgendwelcher Art schuldig.«
»Aufklärungen? Du bist aber wirklich ... Ich gebe dir doch keine Aufklärungen, Anna. Ich schildere dir einfach, wie ich lebe, und mit was für Leuten ich zu tun habe ... weil ich mir schmeichle, daß dich diese Dinge interessieren; geradeso wie ich dir erzählt habe, wo ich heute und gestern gewesen bin.«
Sie schwieg. Und Georg fühlte wieder, daß sie ihm nicht glaubte, daß sie ein Recht
hatte ihm nicht zu glauben selbst wenn zufällig einmal Wahrheit über seine Lippen
kam. Allerlei Worte traten ihm auf die Zunge, Worte des Gekränktseins, des Zorns, der
milden Zusprache jedes schien ihm gleich wertlos und leer. Er erwiderte gar nichts,
setzte sich zum Pianino, griff leise Töne und Akkorde. Nun war ihm wieder, als liebte
er sie sehr und könnte es ihr nur nicht sagen, und als wäre diese Stunde des
Wiedersehens ganz anders geworden, wenn man sie anderswo gefeiert
Sie auf seinen Knien, die Arme um seinen Hals, erwiderte leise: »Noch einmal Georg, mach ich das nicht durch.«
Schon hatte er ein Wort auf den Lippen, mit dem er ihre Befürchtungen zerstreuen
konnte. Aber er hielt es zurück. Denn
Immer noch ruhte sie auf seinen Knien, ihre Wange an seine Wange gelehnt; sie schwiegen lang und wußten, daß dies der Abschied war.
Endlich, entschlossen sagte Georg: »Wenn du also nicht mit mir kommen willst, Anna, dann reise ich ganz direkt zurück morgen. Und wir sehen uns erst im Frühjahr wieder. Bis dahin gibt's wieder nur Briefe. Es sei denn, daß ich zu Weihnachten, wenn's möglich ist ...«
Sie hatte sich erhoben und lehnte am Klavier. »Schon wieder ist er leichtsinnig«, sagte sie. »Ist es nicht am Ende sogar besser, wenn wir uns erst nach Ostern wiedersehen?«
»Warum besser?«
»Bis dahin wird alles noch viel klarer sein.«
Er wünschte sie nicht zu verstehen. »Du meinst, wegen des Vertrags? Ja ... da muß ich mich schon in den nächsten Wochen entscheiden. Die Leute wollen ja wissen, woran sie sind. Andererseits, auch wenn ich unterschriebe, auf drei Jahre, und es kämen andere Chancen, gegen meinen Willen werden sie mich nicht halten. Aber bis jetzt scheint es wirklich, daß der Aufenthalt in der kleinen Stadt mir sehr förderlich ist. Nie hab ich so intensiv arbeiten können, wie dort. Hab ich dir nicht geschrieben, wie ich manchmal nach dem Theater bis drei Uhr früh an meinem Schreibtisch gesessen bin? Und war um acht ausgeschlafen und frisch!«
Sie sah ihn immer nur an, mit einem Blick, schmerzlich und nachsichtig zugleich, der
ihn wie ein Blick des Zweifels berührte. Hatte sie nicht einmal an ihn geglaubt!
Hatte sie nicht in einer halbdunkeln Kirche vertrauensvoll und zärtlich zu ihm
gesprochen: »Ich will zum Himmel beten, daß ein großer Künstler aus
Sie sagte: »Du hast mir auch von ein paar neuen Phantasiestücken geschrieben, für Klavier allein.«
»Ganz richtig. Sie sind aber noch nicht ganz fertig. Aber ein anderes, das ich ... das ich ... er fand es selbst töricht, daß er zögerte heuer im Sommer komponiert habe, an dem See, wo diese arme Person ertrunken ist, die Geliebte Heinrichs, das kennst du ja auch noch nicht. Könnt ich nicht ... ich spiel dir's vor, ganz leise, willst du?«
Sie nickte und schloß die Tür. Dort, hinter ihm blieb sie regungslos stehen, als er begann.
Und er spielte. Er spielte das kleine, leidenschaftlich-schwermütige Stück, das er an seinem See komponiert hatte, als Anna und das Kind für ihn völlig vergessen waren. Es erleichterte ihn sehr, daß er es ihr vorspielen durfte. Sie mußte ja verstehen, was diese Töne zu ihr sprachen. Es war gar nicht möglich, daß sie es nicht verstand. Er hörte sich selbst gleichsam sprechen aus diesen Tönen; ja ihm war, als verstände er jetzt erst völlig sich selbst. Leb wohl, Geliebte, leb wohl. Es war schön. Und nun ist es vorbei ... Leb wohl Geliebte ... Was uns beiden gemeinsam bestimmt war, haben wir durchlebt. Und was nun kommen mag, für mich und für dich, wir werden einander etwas Unvergeßliches bedeuten. Nun geht mein Leben einen andern Weg ... Und deines auch. Es muß vorbei sein ... Ich hab dich geliebt. Ich küsse deine Augen ... Ich danke dir, du Gütige, Sanfte, Schweigende. Leb wohl, Geliebte ... Leb wohl ... Die Töne verklangen. Er hatte nicht von den Tasten aufgesehen, während er spielte; jetzt wandte er sich langsam nach ihr um. Ernst, mit leise zitternden Lippen stand sie hinter ihm. Er faßte ihre Hände und küßte sie. »Anna, Anna ...!« rief er aus. Das Herz wollte ihm zerspringen.
»Vergiß mich nicht ganz«, sagte sie leise.
»Ich schreib dir, sobald ich wieder dort bin.«
Sie nickte.
»Und du mir auch, Anna ... Und alles ... alles ... verstehst du mich.«
»Und ... und ... morgen früh seh ich dich noch einmal.«
Sie schüttelte den Kopf. Er wollte etwas erwidern, wie erstaunt als verstünde es sich eigentlich von selbst, daß er sie noch einmal vor der Abreise sehen müßte. Sie erhob leicht die Hand, als bäte sie ihn zu schweigen. Er stand auf, drückte sie an sich, küßte ihren Mund, der kühl war und seinen Kuß nicht erwiderte, und verließ das Zimmer. Sie blieb zurück, mit schlaffen Armen, stehend, die Augen geschlossen. Er eilte die Treppen hinab. Unten auf der Straße war ihm, als müßte er noch einmal hinauf ihr sagen: »Es ist ja alles nicht wahr! Das war nicht der Abschied. Ich liebe dich ja. Ich gehöre dir. Es kann nicht zu Ende sein ...«
Aber er fühlte, daß er es nicht durfte. Jetzt nicht. Morgen vielleicht. Von heute Abend bis morgen früh würde sie ihm nicht entglitten sein ... Und er eilte umher, planlos, durch leere Straßen, wie in einem leichten Rausch von Schmerz und Freiheit. Er war froh, daß er sich mit niemandem verabredet hatte und allein bleiben durfte. Weit draußen in einem niedern, alten, rauchigen Wirtshaus, wo an Nebentischen Menschen aus einer andern Welt saßen, in einer stillen Ecke nahm er sein Nachtmahl und erschien sich wie in einer fremden Stadt: einsam, ein wenig stolz auf seine Einsamkeit und ein wenig durchschauert von seinem Stolz.
Am nächsten Tag um die Mittagsstunde spazierte Georg mit Heinrich durch die Alleen des Dornbacher Parks. Eine Luft, die von dünnen Nebeln schwer war, umgab sie, durchfeuchtetes Laub knisterte und glitt unter ihren Füßen, und durchs Gesträuch schimmerte die Straße, auf der sie gerade vor einem Jahr den rötlich-gelben Hügeln entgegengezogen waren. Die Äste breiteten sich regungslos, als drückte die ferne Schwüle der umgrauten Sonne sie nieder.
Heinrich war eben daran, den Schluß seines Dramas zu erzählen, der ihm gestern eingefallen war. Ägidius war auf der Insel gelandet, gefaßt nach der Todesfahrt von sieben Tagen sein vorverkündetes Schicksal zu erleiden. Der Fürst schenkt ihm das Leben, Ägidius nimmt es nicht an und stürzt sich vom Felsen ins Meer hinab.
Georg war nicht befriedigt. »Warum muß Ägidius sterben?« Er glaubte nicht daran.
Heinrich begriff nicht, daß man das erst erklären sollte. »Wie kann er denn
weiterleben«, rief er aus. »Er war zum Tode verurteilt. Immer mit dem Ausblick auf
das Ende, als unumschränkter Herr auf dem Schiff, Geliebter der Prinzessin, Freund
von
»Und Sie halten das für wahr?« fragte Georg mit noch stärkerem Zweifel als vorher. »Ich kann mir nicht helfen, ich nicht.«
»Das macht nichts«, erwiderte Heinrich. »Wenn es Ihnen jetzt schon wahr erschiene, hätte ich es zu leicht. Aber wenn die letzte Silbe meines Stückes einmal geschrieben ist, wird es wahr geworden sein. Oder ...« Er sprach nicht weiter. Sie stiegen eine Wiese hinan, und bald breitete sich das wohlbekannte Tal zu ihren Füßen aus. An der Hügellehne rechts schimmerte der Sommerhaidenweg, auf der andern Seite, hart am Wald, zeigte sich der gelb angestrichene Gasthof, mit den roten Holzterrassen und nicht weit davon, das kleine Haus mit dem dunkelgrauen Giebel. In ungewissem Nebel war die Stadt zu ahnen, noch weiter schwamm die Ebene zur Höhe auf und ganz ferne verdämmerten blasse, niedrig gezogene Berglinien. Nun war eine breite Fahrbahn zu überschreiten, und endlich führte ein Feldweg über Wiesen und Äcker nach abwärts. Weit abgerückt zu beiden Seiten ruhte der Wald.
In Georg war ein Vorgefühl der Sehnsucht, mit der er in Jahren, vielleicht schon morgen sich dieser Landschaft erinnern würde, die nun aufgehört hatte ihm Heimat zu sein.
Endlich standen sie vor dem kleinen Haus mit dem Giebel, das Georg ein letztes Mal hatte sehen wollen. Tür und Fenster waren mit Brettern verschlagen; verwittert, wie uralt geworden vor der Zeit, stand es da und wollte von der Welt nichts wissen.
»Ja, nun heißt es Abschied nehmen«, sagte Georg in leichtem Ton. Sein Blick fiel auf die Tonfigur inmitten der verblühten Beete. »Komisch«, sagte er zu Heinrich, »daß ich den blauen Knaben da immer für einen Engel gehalten hab. Das heißt, ich hab ihn nur so genannt, denn ich hab ja immer gewußt, wie er aussieht, und daß er eigentlich ein gelockter Bub ist, barfuß, mit Röckchen und Gürtel.«
»Heut über ein Jahr«, sagte Heinrich, »hätten Sie doch geschworen, daß der blaue Knabe Flügel gehabt hat.«
»Wie warm es geworden ist«, sagte Heinrich, zog den Überzieher aus und warf ihn seiner Gewohnheit nach über die Schultern.
In Georg war ein ödes, etwas trockenes Erinnern. Er wandte sich an Heinrich. »Ich will es Ihnen lieber gleich sagen. Die Geschichte ist aus.«
Heinrich sah ihn rasch von der Seite an, dann nickte er, nicht sonderlich überrascht.
»Aber«, setzte Georg mit einem schwachen Versuch zu scherzen hinzu, »Sie werden dringend gebeten, nicht an den Engelsknaben zu denken.«
Heinrich schüttelte ernsthaft den Kopf. »Danke. Die Fabel vom blauen Engel können Sie Nürnberger widmen.«
»Er hat doch wieder einmal recht behalten«, sagte Georg.
»Er behält immer recht, lieber Georg. Man kann nämlich nie und nimmer betrogen werden, wenn man allem auf Erden mißtraut, sogar seinem eigenen Mißtrauen. Auch wenn Sie Anna geheiratet hätten, hätte er recht behalten ... oder es käme Ihnen wenigstens so vor. Aber jedenfalls denk ich ... Sie erlauben mir wohl das auszusprechen ... ist es gut so, wie es gekommen ist.«
»Gut? Für mich gewiß«, erwiderte Georg mit absichtlicher Schärfe, als hätte er durchaus nicht die Absicht seine Handlungsweise zu beschönigen. »In Ihrem Sinn Heinrich, war es vielleicht sogar eine Pflicht gegen mich, daß ich ein Ende machte.«
»Dann war es wohl auch Ihre Pflicht gegen Anna«, sagte Heinrich.
»Das wird sich doch erst zeigen. Wer weiß, ob ich sie nicht aus ihrer Bahn gerissen habe.«
»Aus ihrer Bahn?«
»Erinnern Sie sich noch, wie Leo Golowski einmal von ihr sagte, sie sei bestimmt, im Bürgerlichen zu enden?«
»Meinen Sie, Georg, eine Ehe mit Ihnen wäre etwas sehr Bürgerliches
Sie spazierten auf dem Sommerhaidenweg weiter, in der Richtung gegen die Stadt, die aus grauem Dunst hervorstieg, und näherten sich dem Friedhof.
»Hat es eigentlich einen Sinn«, fragte Georg zögernd, »das Grab eines Wesens zu besuchen, das niemals gelebt hat?«
»Dort liegt Ihr Kind?«
Georg nickte. Sein Kind! Wie seltsam es immer wieder klang! Sie gingen längs der braunen Holzlatten hin, über die Grabsteine und Kreuze ragten, an einer niedern Ziegelmauer weiter, zum Eingang. Ein Wächter, den sie fragten, wies ihnen den Weg über die breite, mit Weiden bepflanzte Mittelstraße. Auf einem Wiesenplan, hart an den Planken, auf niedern wie zum Spiel aufgeworfenen Hügeln, reihten sich ovale Plättchen aneinander, jedes mit zwei kurzen Armen in die Erde gerammt. Der Hügel, den Georg suchte, lag in der Mitte der Wiese. Dunkelrote Rosen lagen darauf. Georg erkannte sie. Das Herz stand ihm stille. Wie gut, dachte er, daß wir einander nicht begegnet sind. Hat sie's am Ende gehofft?
»Dort wo diese Rosen liegen?« fragte Heinrich.
Georg nickte.
Sie standen eine Weile stumm. »Nicht wahr«, fragte Heinrich dann, »an die Möglichkeit dieses Ausgangs hatten Sie wohl innerhalb der ganzen Zeit niemals gedacht?«
»Niemals? Ich weiß nicht recht. Es gehen einem ja allerlei Möglichkeiten durch den Sinn. Aber ernstlich hab ich natürlich nie daran gedacht. Wie sollte man auch?« Er erzählte Heinrich nicht zum erstenmal, wie der Professor damals den Tod des Kindes erklärt hatte. Ein unglücklicher Zufall war es gewesen, an dem ein bis zwei Perzent der Neugeborenen zugrunde gehen mußten. Freilich, warum gerade hier dieser Zufall eingetreten war, das hatte der Professor nicht zu sagen gewußt. Aber war Zufall nicht nur ein Wort? Mußte nicht auch dieser Zufall seine Ursache gehabt haben? ...
Heinrich zuckte die Achseln. »Natürlich ... Eine Ursache nach der andern und seinen
letzten Grund im Anfang aller Dinge. Wir
»Und vielleicht wäre es sogar in meiner Macht gestanden«, sagte Georg langsam.
»Das versteh ich nicht. Waren denn irgendwelche Vorzeichen, oder ...«
Georg stand da, den Blick starr auf den kleinen Hügel gerichtet: »Ich will Sie was fragen, Heinrich, aber lachen Sie mich nicht aus. Halten Sie es für möglich, daß ein ungeborenes Kind daran sterben kann, daß man es nicht so herbeisehnt, wie man sollte: an zu wenig Liebe gewissermaßen?«
Heinrich legte ihm die Hand auf die Schulter. »Georg, wie kommen Sie, der sonst ein so anständiger Mensch ist, auf derartige metaphysische Einfälle?«
»Nennen Sie's, wie Sie wollen, metaphysisch oder dumm; ich kann seit einiger Zeit den Gedanken nicht los werden, daß ich in einem gewissen Grad an diesem Ausgang die Schuld trage.«
»Sie?«
»Wenn ich früher sagte, daß ich's nicht genug herbeigesehnt habe, so hab ich mich nicht gut ausgedrückt. Die Wahrheit ist: daß ich an dieses kleine Wesen, das auf die Welt kommen sollte, geradezu vergessen hatte. Und besonders in den letzten Wochen vor seiner Geburt hatte ich es völlig vergessen gehabt. Ich kann's nicht anders sagen. Natürlich wußte ich immer, was bevorstand, aber es ging mich sozusagen nichts an. Ich habe hingelebt, ohne dran zu denken. Nicht immerfort, aber oft und ganz besonders im Sommer am See, an meinem See, wie Sie ihn nennen ... da war ich ... Ja da wußt ich einfach nichts davon, daß ich ein Kind bekommen sollte.«
»Man hat mir allerlei erzählt«, sagte Heinrich vorbeischauend.
Georg sah ihn an. »So wissen Sie also, was ich meine. Nicht nur dem Kind, dem ungeborenen, sondern auch der Mutter war ich fern in einer so unheimlichen Weise, daß ich es Ihnen beim besten Willen nicht schildern, daß ich's heut selber kaum mehr begreifen kann. Und es gibt Momente, da kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß zwischen jenem Vergessen und dem Tod meines Kindes irgendein Zusammenhang bestehen müßte. Halten Sie denn so was für vollkommen ausgeschlossen?«
Heinrich hatte tiefe Falten in der Stirn. »Vollkommen ausgeschlossen,
»Für mich keine Geltung?«
»Der ganze Einfall, den Sie da ausgesprochen haben, der paßt mir nicht zu Ihnen. Der kommt nicht aus Ihrer Seele. Bestimmt nicht. Nie in Ihrem Leben wär Ihnen etwas Derartiges eingefallen, wenn Sie nicht mit einem Subjekt meiner Art verkehrten und es nicht zuweilen Ihre Art wäre, nicht Ihre Gedanken zu denken, sondern die von Menschen, die stärker oder auch schwächer sind als Sie. Und ich versichre Sie, was Sie auch an dem See dort, an Ihrem ... an unserm ... erlebt haben mögen, Sie haben damit gewiß keine sogenannte Schuld auf sich geladen. Bei einem andern wär es vielleicht Schuld gewesen. Aber bei Ihnen, der von Natur aus Sie verzeihen schon ziemlich leichtfertig und ein bißchen gewissenlos angelegt ist, war es gewiß nicht Schuld. Soll ich Ihnen was sagen? Sie fühlen sich nämlich gar nicht schuldig in Hinsicht auf das Kind, sondern das Unbehagen, das Sie spüren, kommt nur daher, daß Sie die Verpflichtung zu haben glauben sich schuldig zu fühlen. Sehen Sie, ich, wenn ich irgend was in der Art Ihres Abenteuers erlebt hätte, wäre vielleicht schuldig geworden, weil ich mich möglicherweise schuldig gefühlt hätte.«
»Sie Heinrich, hätten sich in meinem Falle schuldig gefühlt?«
»Vielleicht auch nicht. Wie kann ich das wissen. Sie denken jetzt wahrscheinlich daran, daß ich neulich ein Wesen direkt in den Tod getrieben und mich trotzdem sozusagen ohne Schuld gefühlt habe?«
»Ja daran denk ich. Und darum versteh ich nicht ...«
Heinrich zuckte die Achseln. »Ja. Ich hab mich ohne Schuld gefühlt. Irgendwo in
meiner Seele. Und wo anders, tiefer vielleicht, hab ich mich schuldig gefühlt ... und
noch tiefer, wieder schuldlos. Es kommt immer nur darauf an, wie tief wir in uns
hineinschauen. Und wenn die Lichter in allen Stockwerken angezündet sind, sind wir
doch alles auf einmal: schuldig und unschuldig, Feiglinge und Helden, Narren und
Weise. ›Wir‹ das ist vielleicht etwas zu allgemein ausgedrückt. Bei Ihnen, zum
Beispiel, Georg, dürften sich alle diese Dinge viel einfacher
Sein Gesicht verzerrte sich, als wenn er aufschreien wollte. Gleich aber stand er wieder da, starr, regungslos, fahl, wie ausgelöscht. Und er sagte: »Glauben Sie mir, Georg, es gibt Momente, in denen ich die Menschen mit der sogenannten Weltanschauung beneide. Ich, wenn ich eine wohlgeordnete Welt haben will, ich muß mir immer selber erst eine schaffen. Das ist anstrengend für jemanden, der nicht der liebe Gott ist.«
Er seufzte schwer auf. Georg gab es auf, ihm zu erwidern. Unter den Weiden schritt er mit ihm dem Ausgang zu. Er wußte, daß diesem Menschen nicht zu helfen war. Irgend einmal war ihm wohl bestimmt, von einer Turmspitze, auf die er in Spiralen hinaufgeringelt war, hinabzustürzen ins Leere; und das würde sein Ende sein. Georg aber war es gut und frei zumut. Er faßte den Entschluß, die drei Tage, die jetzt ihm gehörten, so vernünftig als möglich auszunutzen. Das beste war wohl, irgendwo in einer schönen, stillen Landschaft allein zu sein, auszuruhen und sich zur neuen Arbeit zu sammeln. Das Manuskript der Violinsonate hatte er mit nach Wien genommen. Die vor allem dachte er zu vollenden.
Sie durchschritten das Tor und standen auf der Straße. Georg wandte sich um, aber die Friedhofsmauer hielt seinen Blick auf. Erst nach ein paar Schritten hatte er den Ausblick nach dem Talgrund wieder frei. Doch konnte er nur mehr ahnen, wo das kleine Haus mit dem grauen Giebel lag; sichtbar war es von hier aus nicht mehr. Über die rötlich-gelben Hügel, die die Landschaft abschlossen, sank der Himmel in mattem Herbstschein. In Georgs Seele war ein mildes Abschiednehmen von mancherlei Glück und Leid, die er in dem Tal, das er nun für lange verließ, gleichsam verhallen hörte; und zugleich ein Grüßen unbekannter Tage, die aus der Weite der Welt seiner Jugend entgegenklangen.