Die Generalin von Palikow und Fräulein Malwine Bork, ihre langjährige Gesellschafterin und Freundin, kamen in das Wohnzimmer. Sie wollten sich ein wenig erholen. Die Generalin setzte sich auf das Sofa, das frisch mit einem blanken, schwarz und roten Kattun bezogen war. Sie war sehr erhitzt und löste die Haubenbänder unterm Kinn. Das lila Sommerkleid knisterte leicht, die weißen Haarkuchen an den Schläfen waren verschoben und sie atmete stark. Sie schwieg eine Weile und schaute mit den ein wenig hervorstehenden grellblauen Augen kritisch im Zimmer umher. Das Zimmer war weiß getüncht, wenig schwere Möbel standen an den Wänden umher und über die Bretter des Fußbodens war Sand gestreut, der in der Abendsonne glitzerte. Es roch hier nach Kalk und Seemoos.
»Hart,« sagte die Generalin und legte ihre Hand auf das Sofa.
Fräulein Bork neigte den Kopf mit dem leicht ergrauten Haar auf die linke Schulter,
blickte schief durch die Gläser ihres Kneifers auf die Generalin, und das bräunliche
Gesicht, das aussah wie das Gesicht eines klugen älteren Herrn, lächelte ein
nachdenkliches, verzeihendes Lächeln. »Das Sofa,« sagte sie, »natürlich,
»Liebe Malwine,« meinte die Generalin, »Sie haben die Angewohnheit, alles gegen mich zu verteidigen. Ich greife das Sofa gar nicht an, ich sage nur, es ist hart, das wird man doch noch dürfen.«
Fräulein Bork erwiderte darauf nichts, sie lächelte ihr verzeihendes Lächeln und schaute schief durch ihren Kneifer jetzt zum Fenster hinaus auf den kleinen Garten, der davor lag. Salat und Kohl wuchsen dort recht kümmerlich, Sonnenblumen standen da mit großen schwarzen Herzen und über alledem lag ein leichter blonder Staubschleier. Dahinter der Strand grell orange in der Abendsonne, endlich das Meer undeutlich von all dem unruhigen Glanze, der auf ihm schwamm, von den zwei regelmäßigen weißen Strichen der Brandungswellen umsäumt. Und ein Rauschen kam herüber eintönig, wie von einem schläfrigen Taktstock geleitet.
Die Generalin hatte den Bullenkrug für den Sommer gemietet, um hier an der See ihre
Familie um sich zu versammeln. Vor drei Tagen war sie mit Fräulein Bork, Frau Klinke,
der Mamsell, und Ernestine, dem kleinen Dienstmädchen, hier angelangt, um alles
einzurichten. Es erforderte Arbeit und Nachdenken genug, für alle diese Menschen
Platz zu schaffen und nicht nur Platz, »denn,« pflegte die Generalin zu sagen, »ich
kenne meine Kinder, bei allem, was ich gebe, sind sie kritisch wie ein
Theaterpublikum«. Heute nun war die Tochter der Generalin, die Baronin von Buttlär,
mit, den Kindern, den beiden eben erwachsenen Mädchen Lolo und Nini und dem
fünfzehnjährigen Wedig, angelangt. Der Baron Buttlär sollte nachkommen, sobald die
Heuernte beendet
»Werden sie auch heute abend alle satt werden?« begann die Generalin wieder. »Die Reise macht hungrig.« »Ich denke,« erwiderte Fräulein Bork, »da sind die Fische, die Kartoffeln, die Erdbeeren, und Wedig hat sein Beefsteak.«
»So, so,« meinte die Generalin, »übrigens der Junge wird es im Leben nicht leicht haben, wenn er immer sein Beefsteak haben muß.«
Fräulein Bork zuckte mit den Achseln und sagte entschuldigend: »Er ist so zart.« Aber das ärgerte die Generalin: »Gewiß, ich gönne ihm sein Beefsteak, Sie brauchen ihn nicht zu verteidigen. Nur finde ich, liebe Malwine, daß Sie keinen rechten Sinn haben für das, was man allgemeine Bemerkungen nennt.« Dann schwiegen die beiden Damen wieder.
Draußen von der Holzveranda tönte Lärm herüber, Tellergeklapper und hohe Stimmen.
Ernestine deckte dort den Tisch für das Abendessen und stritt dabei mit Wedig. Auch
Lolo und Nini waren erschienen, sie lehnten an der Holzbrüstung der Veranda schmal
und schlank in ihren blauen Sommerkleidern. Der Seewind fuhr ihnen in das leichte
rote Haar und ließ es hübsch um die Gesichter mit den fast krankhaft feinen Zügen
flattern. Die Mädchen zogen ein wenig die Augenbrauen zusammen und schauten mit den
blanken braunroten Augen unverwandt auf das Meer und öffneten die Lippen, als wollten
sie lächeln, aber das große bewegte Leuchten vor ihnen machte sie schwindelig. Auch
Wedig hatte sich nun zu ihnen gesellt und schaute auch schweigend hinaus.
»So,« sagte die Generalin drinnen zu Fräulein Bork, »das war ein angenehmer stiller Augenblick. Ich höre, meine Tochter kommt die Treppe herunter, nun kann es wieder losgehen.«
Frau von Buttlär hatte ein wenig geschlafen, trug ihren Morgenrock und hüllte sich fröstelnd in ein wollenes Tuch. Sie mochte früher das hübsche überzarte Gesicht ihrer Töchter gehabt haben, jetzt waren die Wangen eingefallen und die Haut leicht vergilbt. Aufgebraucht von Mutterschaft und Hausfrauentum war sie sich ihres Rechtes bewußt, kränklich zu sein und nicht mehr viel auf ihr Äußeres zu geben.
Man setzte sich auf der Veranda zur Abendmahlzeit nieder an den Tisch, über den das rote Abendlicht hinflutete und der Seewind an dem Tischtuch und den Servietten zerrte. Das machte die Gesellschaft schweigsam, so das Meer vor sich, war es, als sei man nicht allein, nicht unter sich.
»Ich habe mir das Meer größer gedacht«, erklärte Wedig endlich.
»Natürlich, mein Sohn«, meinte die Generalin. »Du willst wohl für dich ein Extrameer.«
Frau von Buttlär lächelte gerührt und sagte leise: »Er hat so viel Phantasie.« Fräulein Bork sah Wedig schief durch ihren Kneifer an und meinte: »An die Phantasie des Kindes reicht selbst das Weltmeer nicht hinan.«
Nun begann Frau von Buttlär mit ihrer Mutter ein Gespräch über Repenow, ihr Gut, über
Dinge, die sie anzuordnen vergessen hatte, von Gemüsen, die eingemacht werden
sollten, und Dienstboten, die
Das Abendlicht legte sich jetzt plötzlich ganz grellrot und unwahrscheinlich über den Tisch und Fräulein Bork schrie auf: »Seht doch!« Alle fuhren mit den Köpfen herum. An dem blaßblauen Himmel standen riesige kupferrote Wolken und auf dem dunkelwerdenden Meer schwamm es wie große Stücke rotglänzenden Metalls, während die am Ufer zergehenden Wellen den Sand wie mit rosa Musselintüchern überdeckten. Wedig blinzelte mit den roten Wimpern und verzog wieder sein Gesicht, als schmerzte es ihn. »Das ist allerdings rot«, meinte er. Die Generalin jedoch war unzufrieden: »Sie haben mich erschreckt, Malwine, Sie haben eine Art, auf Naturschönheiten aufmerksam zu machen, daß man jedesmal zusammenfährt und glaubt, eine Wespe sitze einem irgendwo im Gesicht.«
Die Mahlzeit war zu Ende, die Mädchen und Wedig stellten sich an die Verandabrüstung,
um auf das Meer zu starren. Frau von Buttlär hüllte sich
Die gewaltsamen Farben am Himmel erloschen jäh. Die farblose Durchsichtigkeit der Sommerdämmerung legte sich über das Land, und das Meer, jetzt lichtlos, schien plötzlich unendlich groß und fremd. Auch das Rauschen war nicht mehr so geordnet eintönig und taktmäßig; es war, als ließen sich die einzelnen Wellenstimmen unterscheiden, wie sie einander riefen und sich in das Wort fielen. Klein und dunkel hockten die Fischerhäuser auf den fahlen Dünen, hie und da erwachte in ihnen ein gelbes Lichtpünktchen, das kurzsichtig in die aufsteigende Nacht hineinblinzelte. Auf der Veranda war es still geworden. Das seltsame Gefühl, ganz winzig inmitten einer Unendlichkeit zu stehen, gab einem jeden für einen Augenblick einen leichten Schwindel und ließ ihn stillehalten, wie Menschen, die zu fallen fürchten.
»Wer wohnt denn dort?« begann Frau von Buttlär endlich und wies auf eines der Lichtpünktchen am Strande.
»Das dort,« erwiderte die Generalin, »das ist das Haus des Strandwächters. Eine verwachsene Exzellenz hat sich bei ihm eingemietet. Du kennst ihn auch, den Geheimrat Knospelius, er ist bei der Reichsbank etwas, er unterschreibt, glaube ich, das Papiergeld.«
Ja, Frau von Buttlär erinnerte sich seiner: »So ein Kleiner mit einem Buckel. Recht unheimlich.«
»Aber so interessant«, meinte Fräulein Bork.
»Und die anderen Häuser?« fragte Frau von Buttlär weiter.
»Das sind Fischerhäuser«, erklärte Fräulein Bork,
»Sie?« fragte Frau von Buttlär, beunruhigt davon, daß Fräulein Bork ihre Stimme so geheimnisvoll dämpfte.
»Nun ja«, flüsterte Fräulein Bork, »sie, die Gräfin Doralice, Doralice Köhne-Jasky, die wohnt dort mit – nun ja, sagen wir mit ihrem Manne.« Frau von Buttlär verstand noch nicht ganz.
– »Doralice Köhne, die Frau des Gesandten, das ist doch die, die mit dem Maler – die wohnt hier, das ist ja aber schrecklich, man kennt sich doch.«
Doch die Generalin ärgerte sich: »Was ist dabei Schreckliches, man hat sich gekannt, man kennt sich nicht mehr. Der Strand ist breit genug, um aneinander vorüberzugehen, eine fremde Frau Grill, nichts weiter. Ihr Maler heißt ja wohl Hans Grill.«
»Sind sie wenigstens verheiratet?« klagte Frau von Buttlär.
»Ja, sie sagen, ich weiß es nicht«, meinte die Generalin, »das ist auch gleich. Sie wird das Meer nicht unrein machen, wenn sie darin badet. Es ist kein Grund, liebe Bella, ein Gesicht zu machen, als seiest du und deine Kinder nun verloren.«
»Und er ist ein ganz gewöhnlicher Mensch«, jammerte Frau von Buttlär weiter.
»Ja,« sagte Fräulein Bork, sie sprach noch immer leise, aber ihre Stimme nahm einen
zärtlichen, feierlichen Klang an, als rezitiere sie ein Gedicht, »es ist traurig und
doch wieder in seiner Art schön, wie der alte Graf das Talent des armen
Schulmeistersohnes entdeckt, er ihn ausbilden läßt, wie er ihn auf das Schloß beruft,
damit er die junge Gräfin malt, ja und dort – müssen sie sich eben lieben,
»Der alte Narr«, unterbrach sie die Generalin. »Wer sagt Ihnen denn, daß es so gewesen ist, wer ist denn dabei gewesen? Wahrscheinlich sind nicht die beiden zu dem Alten gekommen, sondern der Alte ist zu den beiden hereingekommen, das sieht denn anders aus. Köhne war immer ein Narr. Wenn man dreißig Jahre älter als seine Frau ist, läßt man seine Frau nicht malen und spielt man nicht den Kunstfreund. Und diese Doralice, ich habe ihre Mutter gekannt, eine dumme Gans, die nichts zu tun hatte im Leben, als Migräne zu haben und zu sagen: ›Meine Doralice ist so eigentümlich!‹ Ja, eigentümlich ist sie geworden, gleichviel, da ist nichts, um die Augen gen Himmel zu schlagen und zu sagen: Wie schön! Lassen Sie die Grill Grill sein, liebe Malwine, wenn Sie sie mit Ihren Phantasien zur Heldin des Strandes machen, verdrehen Sie den Kindern den Kopf. Ernestine läuft ohnehin alle Augenblicke zum Strande hinunter, um die fortgelaufene Gräfin zu sehen, das verbitte ich mir. Seien Sie so gut und halten Sie mit Ihrer Poesie an sich.«
»Schrecklich, schrecklich«, seufzte Frau von Buttlär. Fräulein Bork aber schien das Schelten der Generalin nicht zu hören, verträumt schaute sie in die Dämmerung hinein, sah, wie die Dämmerung sich sacht aufhellte, der Mond war aufgegangen, Silber mischte sich in das Dunkel der Wellen und der Strand lag hell beleuchtet da.
»Da sind sie!« schrie Fräulein Bork auf.
Frau von Buttlär starrte angstvoll zu dem Paare auf der Düne hinüber, dann rief sie erregt: »Kinder, ihr seid noch da, warum geht ihr nicht schlafen? Ihr seid müde, nein, nein, geht, gute Nacht«, und beruhigte sich erst, als die Kinder fort waren. Da sah sie sich noch einmal das Paar an da drüben, das jetzt eng aneinander geschmiegt den Strand entlang ging, seufzte tief und sagte kummervoll:
»Das ist allerdings unerwartet, unerwartet fatal. Wenn ich mich auf etwas freue, kommt immer so etwas dazwischen. Schon der Kinder wegen ist es mir unangenehm.«
»Ich weiß, ich weiß«, meinte die Generalin. »Du mußt immer etwas haben, das dich quält, sonst ist dir nicht wohl. Schon als kleines Mädchen, wenn alles sich auf einen Spaziergang freute, sagtest du: was hilft es, es werden doch Steinchen in die Schuhe kommen. Unsere Mädchen! Die haben genug Disziplin im Leibe. Sag' ihnen, da ist eine Frau Grill, die nicht gekannt wird, und ich sehe es, wie Lolo und Nini die Lippen zusammenkneifen und gerade vor sich hinsehen, wenn sie an Madame Grill vorübergehen.«
»Ja und dann«, begann Frau von Buttlär wieder leise, »offen gestanden, es ist auch wegen Rolf. Die Person ist sehr hübsch, solche Personen sind immer hübsch und Rolf, du weißt –.«
Die Generalin schlug mit der flachen Hand auf den Tisch: »Natürlich, das mußte
kommen, du bist
Alle erhoben sich, um in das Haus zu gehen. Fräulein Bork warf noch einen Blick zum Meer hinab und sagte in ihrem mitleidig singenden Ton: »Die Gräfin Doralice war einst auch einmal solch eine arme kleine Festung.«
Die Generalin wandte sich in der Tür um: »Bitte, Malwine, meine Vergleiche nicht mit Ihrer Poesie zu umspinnen, dazu mache ich sie nicht. Und dann noch eines, ich bitte, ferner Madame Grill nicht zum Gegenstand Ihres Verteidigungstalentes zu machen, Madame Grill wird nicht verteidigt.«
Oben in der Giebelstube, Lolos und Ninis Schlafzimmer, standen die beiden Mädchen
noch am Fenster und schauten hinaus. Das mondbeglänzte Meer, das Rauschen und Wehen
da draußen ließ ihnen keine Ruhe, es erregte sie fast schmerzhaft, und das Paar,
Unten auf der Bank vor der Küche saß Frau Klinke und kühlte im Seewinde ihre heißen Köchinnenhände. Vor ihr stand Ernestine, wies zum Strande hinunter und sagte: »Nee, Frau Klinke, daß die beiden verheiratet sind, das glaube ich nicht.«
Hans Grill und Doralice gingen am Meeresufer entlang. Es ging sich gut auf dem feuchten, von den Wellen glattgestrichenen Sande. Zuweilen blieben sie stehen und schauten auf den breiten, sich sacht wiegenden Lichtweg hinab, den der Mond auf das Wasser warf.
»Nichts, heute nichts«, sagte Hans und machte eine Handbewegung, als wollte er das Meer beiseite schieben. »Es ziert sich heute, es macht sich klein und süß, um zu gefallen.«
»So laß es doch«, bat Doralice.
– »Ja, ja, ich lasse es ja«, erwiderte Hans ungeduldig.
Als sie weiter schritten, hing Doralice sich ganz fest in Hansens Arm. Sie konnte sich ja gehen lassen, dieser Arm war stark und sie dachte flüchtig an einen anderen zerbrechlichen und zeremoniösen Arm, der ihr feierlich gereicht worden war und auf den sich zu stützen sie nie gewagt hatte.
»Du bist müde?« fragte Hans.
»Ja,« erwiderte sie nachdenklich, »diese langen hellen Tage, glaube ich, machen müde.«
»Viel haben wir an diesen langen hellen Tagen nicht getan«, bemerkte Hans.
»Getan,« fuhr Doralice fort, »nichts. Im Sande
»Gewiß, gewiß,« begann Hans in seiner eifrigen Art, »Möglichkeiten, natürlich Möglichkeiten, das ist es, was der freie Mensch hat, es ist gleich, ob er etwas tut, aber nichts zwingt ihn, nichts schiebt ihn; nichts bindet ihn, was er tut und nicht tut, tut er auf eigene Verantwortung, und das kann müde machen, o ja, das kann müde machen«, und Hans lachte ein lautes Ha! Ha! auf das Meer hinaus, »freie Menschen, freie Liebe, denn das ist ja gleich, ob ein alter Engländer in London uns durch die Nase etwas gesagt hat, was wir nicht verstanden haben, das bindet nicht. Also freie Menschen, freie Liebe, freie –« Er hielt plötzlich inne und fragte: »Warum lachst du?«
Doralice hatte ihren Kopf zurückgebogen, um zu Hans hinaufzusehen, und sie lachte.
Die schmalen, sehr roten Linien der Lippen öffneten sich ein wenig, ließen im
Mondschein für einen Augenblick das Weiß der kleinen Zähne durchschimmern. So hell
beschienen war das Gesicht sehr hübsch mit seinem kindlichen Oval, den graublauen
Augen, in die das Mondlicht ein seltsam farbiges Schillern legte, und dem hellblonden
Haar, an dem der Wind zauste. Ja, Doralice mußte immer lachen, wenn Hans seine großen
Worte hersagte, jene Worte, die klangen, als hätten sie in Zeitungen oder
langweiligen Büchern gestanden, aber wenn Hans sie aussprach, bekamen sie etwas
Junges, etwas Lebendiges, sie klangen, als schmeckten sie ihm
»O nichts,« sagte Doralice, »sprich nur weiter von deinen freien Menschen.« Allein Hans war empfindlich geworden: »Meine freien Menschen, da ist doch nichts zu lachen«, dann schwieg er.
»Du hast ja ganz recht,« meinte Doralice, um ihn zu versöhnen, »vielleicht macht das müde, wenn nichts einen bindet. Bei uns auf dem Lande dort bei der Roggenernte gehen hinter den Mähern Mädchen her, welche die Ähren zu Garben binden. Das ist sehr anstrengend. Um weniger zu ermüden, binden sie sich Tücher ganz fest um die Taille. So war es vielleicht dort, und jetzt, wo mich nichts festbindet –«
– »Unsinn,« unterbrach sie Hans, »ich sehe nicht ein, warum du deine Vergleiche von dort hernimmst, von dort sprechen wir doch nicht.«
»Nein, von dort sprechen wir nicht«, wiederholte Doralice.
Sie kamen am Strandwächterhäuschen vorüber. Durch das geöffnete Fenster scholl eine laute Männerstimme, und ihr antwortete eine Frauenstimme leidenschaftlich und scheltend. Unten am Strande stand der Geheimrat Knospelius, eine kleine, wunderlich verbogene Gestalt, er stand so nah am Wasser, daß sein unförmlicher Schatten sich in den Wellen badete. Als Hans und Doralice sich näherten, grüßte er, zog seinen Panama sehr tief ab, das graue Haar flatterte im Winde, er lächelte und das regelmäßige, bartlose Gesicht sah aus wie ein großes, bleiches Knabengesicht. »Guten Abend«, sagte Hans. Der Geheimrat lachte lautlos in sich hinein und zeigte mit einem merkwürdig langen, dünnen Finger zum Hause des Strandwächters hinauf. »Die streiten wieder«, bemerkte Hans.
»Ja, hm!« sagte Hans, »guten Abend«, und sie gingen weiter.
»Was sagte er?« fragte Doralice ängstlich. Hans zuckte die Achseln. »Verrückt wahrscheinlich. Solche kleinen Ungetüme sind gewöhnlich ein wenig verrückt. Kennst du ihn denn?«
Doralice dachte nach. »Gewiß, ich kenne ihn. Ich erinnere mich, auf einer großen Gesellschaft war es, es war spät, alle waren müde und warteten auf die Wagen. Da saß plötzlich dieser kleine Mann neben mir. Seine Füße reichten nicht an den Fußboden, sondern hingen wie bei Kindern frei vom Stuhle herunter. Er sah mir ganz frech in die Augen, wie man das sonst nicht tut, und sagte: ›Es fällt mir auf, Frau Gräfin, daß jetzt, wo alle schon schläfrig sind, Ihre Augen noch so wach sind; die warten noch.‹ Ich machte wohl ein sehr dummes Gesicht und fragte: ›Worauf?‹ Da lachte er ganz so, wie er jetzt eben lachte, und sagte: ›Nun darauf, daß was geschieht, daß was kommt. O, die geben nicht nach, die stehen auf ihrem Posten.‹ – Mir war das unheimlich, ich war froh, als in dem Augenblick der Wagen gemeldet wurde.«
– »Ich weiß nicht, was du noch immer an allen diesen Erinnerungen hast, erquicklich sind sie nicht«, versetzte Hans verstimmt.
»Was kann ich dafür«, verteidigte sich Doralice, »ich habe doch noch keine anderen
Erinnerungen, und dann, sie kriechen einem doch überall nach. Da steht der Geheimrat
Knospelius plötzlich am Strande, drüben im Bullenkrug zieht die Generalin von
Palikow
Hans blieb nachdenklich stehen: »Du,« sagte er, »das wollen wir machen.« Er ergriff Doralice, legte sie auf seine Arme: »Lieg,« rief er, »wie ein Kind auf den Armen des Paten während der Taufe«, und nun begann er langsam in das Meer hineinzugehen. Regungslos lag Doralice da und schaute hinauf in den Himmel, der bleich von Mondenschein war. Das Wehen, das vom Meere kam, das Rauschen unter ihr, das goldene Fließen und Flimmern ringsumher, all das schien sie zu zwingen und zu schaukeln, und dann war es ihr, als fiele sie, fiele sie in einen Abgrund von Licht, das sie dennoch trug und hielt.
»So, so, weiter, weiter, jetzt sind wir ganz bei ihnen, mitten unter ihnen, das dumme
Land ist fort.« Doralice sprach mit einer Stimme, wie Schlafende es tun, lachte ein
leises, ganz helles Lachen wie Kinder, die auf einer Schaukel sitzen. Sie ließ ihre
Hand herabhängen, griff in den Schaum der Wellen, schnalzte mit den Fingern, als
wollte sie kleine Hunde springen lassen. »Wie sie zu mir heraufwollen«, rief sie,
»kommt, kommt, nein, das ist zu hoch.« Hans stand bis über die Knie im Wasser und
lächelte, das Gesicht rot vor Anstrengung. Aber allmählich wurde er müde, es war
nicht leicht, sicher im Wasser zu stehen, und langsam zog er sich an das Ufer zurück.
Mit einem
– »Das kommt noch«, meinte er, »das Land wird uns jetzt sehr gut schmecken. Eine warme Stube und Rotwein, ich bin naß und mich friert.« – »Ja, gehen wir«, sagte Doralice kleinlaut, »wir gehören ja doch nicht zu denen dort. Aber wie stark du bist, daß du mich so halten konntest.«
– »Nicht wahr«, erwiderte Hans stolz, »und weißt du, wie ich dich so hielt, wenn ich denke, das war eigentlich symbolisch, mitten in den Wellen, und ich halte dich.«
Aber Doralice sagte müde: »Ach nein, laß es lieber nicht symbolisch sein.«
Hans schaute sie verwundert an und murmelte dann ein wenig empfindlich: »Nun dann auch nicht.«
Um den Hof des Wardeinschen Anwesens standen die niedrigen strohgedeckten Häuser, der
Schuppen, der Stall, der Speicher, in dem jetzt die Familie des Fischers wohnte, und
das Wohnhaus, das Hans Grill gemietet hatte. Hier schien die Hitze des Tages noch
eingeschlossen zu sein, die Luft war schwer von den Gerüchen des Strohs, der an
Schnüren trocknenden Fische und feuchter Netze. Man hörte durch die kleinen
geöffneten Fenster den Atem schlafender Menschen, irgendwo schlug ein Hahn auf seiner
Stange mit den Flügeln und im Schuppen grunzte ein Schwein im Traum. Und hier fiel
von Doralice der Rausch der Weite und des Lichtes ab, ganz jäh, es schmerzte fast
Doralice lehnte sich in ihren Korbstuhl zurück und schloß die Augen. »Ach,« sagte sie müde, »nenne mich, bitte, nicht Weib, das klingt so, ich weiß nicht, nach losen blauen Jacken mit weißen Punkten und Kartoffelsuppe.«
Hans errötete: »Nein, nein«, sagte er, »also nicht Weib. Weib ist ein schönes deutsches Wort, aber wie du willst, bitte.«
Sie schwiegen beide eine Weile. Aus dem Nebenzimmer hörte man deutlich das Schnarchen
der alten Agnes, einer fernen Verwandten von Hans Grill, die ihm jetzt die Wirtschaft
führte. Agnes hatte eine
»Bist du noch böse, weil du nicht Weib sagen sollst?« fragte Doralice und versuchte
zu lächeln. Hans hob schnell den Kopf, er begann zu sprechen, aber er mußte einige
Male dazu ansetzen, denn eine Erregung schnürte ihm die Kehle zusammen. »Weib oder
nicht Weib, das ist doch gleich, der Ton ist es, der Ton. Wenn du den hast, dann bist
du mir plötzlich ganz weit, ganz fremd, der streicht plötzlich alles aus, was wir
miteinander erlebt haben. Ich freue mich darauf, daß es gemütlich sein wird, man wird
beieinander sitzen, man wird lachen, man wird glücklich sein und dann sagst du etwas
und dieser Ton ist da und es wird sofort kalt und fremd und peinlich, als setzten wir
uns drüben im Schloß vor den weißen
Doralice hörte ihm gespannt zu, diese erregte Stimme, die sich überstürzenden Worte erwärmten sie. Er sollte weiter sprechen. »Wie ist dieser Ton?« fragte sie.
»Wie? Wie?« fuhr Hans leidenschaftlich fort. »Wenn dir etwas nicht schmeckt, dann schiebst du den Teller fort und sagst feindselig: ›Das will ich nicht.‹ So, so ist dieser Ton, als ob du mich und unsere ganze gemeinsame Geschichte fortschiebst. Das kannst du ja auch, es ist ja auch dein Recht, sag es doch.«
Doralice lächelte jetzt ihr hübsches, strahlendes Lächeln. Sie hob die Arme in die Höhe und reckte sich: »Ach, Hans, das ist ja Unsinn, ich bin einfach müde. Glaubst du, das strengt nicht an, so zwischen Himmel und Meer zu schweben?«
Hans schaute sie erstaunt an, dann begann auch er zu lachen, sein lautes, ein wenig unerzogenes Lachen. »Also das strengt dich an und ich – glaubst du, es ist leicht, fest im Wasser zu stehen und eine Frau über den Wellen zu halten, die Hängematte zu spielen?«
»Du,« meinte Doralice, »du bist ja so stark.«
Befriedigt lehnte Hans sich in seinen Stuhl zurück, goß sich Wein ein, er schüttelte sich vor Gemütlichkeit, als sei eine Gefahr glücklich vorübergegangen.
»Und all das kommt daher«, erklärte Hans und stach dozierend mit seiner Pfeife in die
Luft hinein, »uns fehlt eine gewisse Enge, eine Gebundenheit, Form, Form, Form, das
ist es, das macht reizbar und unsicher. Von Unendlichkeiten kann man nicht leben.
Immer kann der eine nicht stehen und den anderen zwischen Himmel und Meer in den
Mondschein
»Du könntest ja wieder malen«, warf Doralice hin.
»Das werde ich auch«, rief Hans hitzig, »glaubst du, ich werde ruhig dasitzen und von deinem Gelde leben?«
– »Ach was, das dumme Geld.«
»Gleichviel, ich werde arbeiten, ich weiß auch, was ich zu malen habe, ich studiere meine Modelle, euch beide.«
– »Uns beide?«
»Ja, dich und das Meer. Ihr beide müßt zusammen auf ein Bild und eine Synthese von dir und dem Meer, verstehst du?«
– »Ja so«, bemerkte Doralice, »ob du nicht versuchst, zuerst das Meer zu malen. Du sagtest doch, daß du mich nicht malen kannst.«
Das ärgerte Hans wieder. »Ja dort, dort konnte ich dich allerdings nicht malen. Ich war berauscht von dir. Man muß doch seinem Modell auch einigermaßen objektiv gegenüberstehen.«
– »Stehst du mir jetzt objektiv gegenüber?« fragte Doralice verwundert.
»Ja,« meinte Hans, »es kommt wenigstens allmählich und das haben wir nötig, etwas Nüchternheit, so eine selbstgeschaffene Bürgerlichkeit, in die man sich fest einschließt. Du sprachst da vorhin wegwerfend von Kartoffelsuppe, ich möchte sagen, kein Leben, auch das idealste, ist möglich, in dem es nicht einige Stunden am Tage nach Kartoffelsuppe riecht.« Er lachte und sah Doralice triumphierend an, stolz auf seine Bemerkung.
»Bitte,« sagte Hans empfindlich, »wer da nicht atmen kann, darf hinaus, wir sind freie Menschen, daß wir uns selbst binden, ist unsere Freiheit, aber keiner von uns ist gebunden.«
Doralice zog die Augenbrauen in die Höhe und sagte ziemlich schläfrig: »Ach, lassen wir doch die alte Freiheit. Es ist ja ganz hübsch, wenn eine Tür immer offen steht, aber man braucht doch nicht beständig drauf hinzuweisen. Die Freiheit wird dann fast ebenso langweilig wie das ›tenue ma chère‹ dort, du weißt.«
Hans schaute Doralice bestürzt an. Er wollte etwas sagen, verschluckte es jedoch. Er
erhob sich und begann im Zimmer auf- und abzugehen, er ging schnell, stapfte stark
mit seinen Filzschuhen auf den Boden. Doralice folgte ihm neugierig mit den Blicken.
Jetzt war er zornig, jetzt würde er leidenschaftlich losbrechen, sie freute sich
darauf, sie liebte es, wenn er die Worte so heiß hervorsprudelte und ein Gesicht
machte wie ein zorniger Knabe. Das hatte ihr an ihm gefallen dort in der Welt der
beständigen Selbstbeherrschung. Aber es wollte nicht kommen, immer noch ging er
schnell und schweigend in dem engen Raum umher. Plötzlich blieb er vor Doralice
stehen, kniete nieder mit beiden Knien hart auf den Boden schlagend und legte seinen
Kopf auf Doralicens Knie und so begann er zu sprechen leise und klagend: »Wie kannst
du das sagen, ich – ich – ich weise auf die Tür hin. Aber wenn du zu dieser Tür
hinausgingst, dann wäre es aus, dann hätte nichts mehr einen
Doralice strich mit der Hand ihm leicht über das krause Haar. »Nein, nein«, sagte sie und das klang müde und mitleidig zugleich, »zusammen, wir bleiben zusammen, wir beide sind ja doch miteinander ganz allein.«
Hans richtete sich auf, er lachte wieder, zuversichtlich und triumphierend, indem er Doralicens Arm faßte und ihn schüttelte: »Das will ich meinen und ich werde auch dafür sorgen, daß niemand an dich herankommt.« Dann nahm er ihre kleine Gestalt auf seine Arme, wie man ein Kind nimmt, und trug sie in das Schlafzimmer hinüber.
Der Morgen dämmerte, als Doralice erwachte. So war es jetzt immer, wenn sie sich
niederlegte, schlief sie schnell und tief ein, aber lange vor Sonnenaufgang erwachte
sie, und es war mit dem Schlaf zu Ende. Dann lag sie da, die Arme erhoben, die Hände
auf ihrem Scheitel gefaltet, die Augen weit offen und schaute der graublauen
Helligkeit zu, wie sie durch die weiß-und rotgestreiften Gardinen in das Zimmer
drang, den Waschtisch, die beiden plumpen Stühle, den großen gelben Holzschrank aus
der Dämmerung herausschälte, das Zimmer erhellte, ohne es zu beleben, gleichsam ohne
es zu wecken. Und dieses Zimmer, klein wie eine Schiffskabine, erschien Doralice
Am häufigsten aber befand Doralice sich im Traum in dem großen Salon der Dresdner
Gesandtschaft. Immer lag dann ein winterliches Nachmittagslicht auf dem blanken
Parkett. In den süßen Duft der Hyazinthen, die in den Fenstern standen, mischten die
großen Ölbilder an der Wand einen leichten Terpentingeruch. Von der anderen Seite des
Saals kam ihr Gemahl entgegen, sehr schlank in seinen schwarzen Rock geknüpft, die
Bartkommas auf der Oberlippe hinaufgestrichen. Ein wenig zu zierlich aber hübsch sah
er aus, wie er so auf sie zukam, die glatte weiße Stirn, die regelmäßige Nase, die
langen Augenwimpern. Allein der Traum spielte ein seltsames Spiel, je näher der Graf
kam, um so älter wurde dies Gesicht, es welkte, es verwitterte zusehends. Er legte
den Arm um Doralicens Taille, nahm ihre Hand und küßte sie. »Scharmant, scharmant«,
sagte er, »wieder eine reizende Aufmerksamkeit. Wir haben unsere Ausfahrt aufgegeben,
weil wir wußten, daß der Gemahl heut nachmittag ein Stündchen frei hat. Da wollen wir
Als der Graf Köhne seinen Abschied nahm, als er, wie er es nannte, gestürzt wurde, und sich gekränkt und schmollend auf sein einsames Schloß zurückzog, um sich fortan damit zu beschäftigen, die Geschichte der Köhne-Jaskys zu schreiben und melancholisch zu altern, da war es eine neue Doralice, die Doralice dort auf dem alten Schlosse erwartete. »Ah, ma petite châtelaine ist hier endlich in ihrem wahren Elemente, stille, ruhige, etwas verträumte Beschäftigungen, der wohltätige Engel des Gemahls und des Gutes, das hat uns gefehlt.« Und der stille wohltätige Engel, der sie nun plötzlich war, drückte auf Doralice wie ein bleiernes Gewand.
Da kam Hans Grill ins Schloß, um Doralice zu malen, Hans mit seinem lauten Lachen und
seinen knabenhaft unbesonnenen Bewegungen und seiner unbesonnenen Art, noch alles,
was ihm durch den Kopf ging, unvermittelt und eifrig auszusprechen. »Ich empfehle dir
meinen Schützling«, hatte der Graf zu seiner Frau gesagt, »gewiß, als Gesellschafter
kommt er nicht in Betracht, du hast ja ganz recht, ihn sehr à distance zu halten,
aber dennoch empfehle ich ihn deinem Wohlgefallen.« Es begannen nun die langen
Sitzungen in dem nach Norden gelegenen Eckzimmer des Schlosses. Hans stand vor seiner
Leinwand, malte und kratzte wieder ab. Dabei sprach er stets, erzählte, fragte, ließ
große Worte klingen. Doralice hörte ihm anfangs neugierig zu, es war ihr
»Ja, ja«, meinte Doralice. Es wunderte sie selbst, wie gering die Gewissensbisse waren über das Unrecht, das sie ihrem Manne antat, ja, es war fast nur so wie damals, wenn sie Miß Plummers hinterging. »Und er ahnt es«, sagte Hans, »er bewacht uns, man begegnet ihm überall, hast du es bemerkt? Seine Stiefel knarren nicht mehr, wir müssen ihm zuvorkommen.«
Allein der Graf kam ihnen zuvor. Es war ein grauer Nebeltag, Doralice stand im großen
Saal am Fenster und schaute zu, wie der Wind die Krone des alten Birnbaums hin- und
herbog und die gelben Blätter von den Zweigen riß und sie in toller Jagd durch die
Luft wirbelte. Es sah ordentlich aus, als freuten sich diese hellgelben kleinen
Blätter, von dem Baume loszukommen, so ausgelassen schwirrten sie dahin. Doralice
hörte ihren Gemahl in das Zimmer kommen. Er machte einige kleine knarrende Schritte,
rückte den Sessel am Kamin, setzte sich, nahm ein Schüreisen, um, wie er es liebte,
im Kaminfeuer herumzustochern. Als er mit einem »ma chère« zu sprechen begann, wandte
sie sich um und es fiel ihr auf, daß er krank aussah, daß seine Nase besonders bleich
und spitz war. Er schaute nicht auf, sondern blickte
Doralice war bis in die Mitte des Zimmers gekommen, da stand sie in ihrem schieferfarbenen Wollenkleide, die Arme niederhängend, in der ganzen Gestalt eine Gespanntheit, als wollte sie einen Sprung tun, in den Augen das blanke Flackern der Menschen, die vor einem Sprunge von einem leichten Schwindel ergriffen werden.
»Wenn Hans Grill geht, gehe ich auch«, sagte sie und im Bemühen ruhig zu sein, klang ihre Stimme ihr selbst fremd.
– »Wie? Was? Ich verstehe nicht, ma chère.« Das Schüreisen fiel klirrend aus seiner Hand und Doralice sah wohl, daß er sie gut verstand, daß er längst verstanden haben mußte. Um seine Augen zogen sich viele Fältchen zusammen und die Bartkommas auf seiner Oberlippe zitterten wunderlich.
»Ich meine«, fuhr Doralice fort, »daß ich nicht mehr deine Frau bin, daß ich nicht
mehr deine Frau sein darf, daß ich mit Hans Grill gehe, daß, daß –« sie hielt inne,
Schrecken und Verwunderung über den Anblick des Mannes dort im Sessel ließen sie
nicht weiter sprechen. Er knickte in sich zusammen und sein Gesicht verzog sich,
wurde klein und runzlig. War das Schmerz? War das Zorn? Es hätte auch ein unheimlich
scherzhaftes Gesichterschneiden sein
»Mein Herz schlug dabei sehr stark«, hatte später Doralice zu Hans Grill gesagt, »ich hörte es schlagen, es schien mir das Lauteste im Zimmer. Ich weiß nicht, was es war, vielleicht war es plötzlich eine sehr starke Freude.«
»Natürlich, natürlich«, meinte Hans Grill, »was sollte es denn anderes gewesen sein.« –
Im Wardeinschen Anwesen erwachte das Leben, eine Stalltür knarrte, nackte Füße
stapften die Holzstufen am Hause auf und ab. Doralice fuhr aus ihrem Sinnen auf, aus
dem Weiterleben des nächtlichen Traumes. Das Zimmer war jetzt ganz hell, die Decke
mit den großen Streckbalken, die Möbel in
Als sie draußen auf die Düne hinaustrat, wehte ein lebhafter, kühler Seewind ihr
entgegen. Über einen blaßblauen Himmel zogen eilige hellgraue Wölkchen und auf dem
Meere hoben sich die Wellen ohne Schaum, groß und grüngrau, ein mächtiges stilles
Atmen, erst näher dem Strande wurden sie lebhafter und ließen die weißen Schaumtücher
flattern. Dieses Atmen des Meeres erinnerte Doralice an etwas, was war es? Ach ja, an
Hans, an seine Brust, die sich dort in dem Zimmer eben ruhig und kraftvoll hob und
senkte. Sie begann am Strande entlang zu gehen, der Wind fuhr ihr in die Röcke, er
trieb sie, sie spürte es deutlich, wie er zu kleinen Stößen ausholte, bald von
hinten, bald von der Seite sie anfiel
Als Doralice um den Vorsprung einer Düne bog, sah sie den Geheimrat von Knospelius, der vor ihr her den Strand entlang ging. Im gelben Leinenanzug, den Panama im Nacken, einen schönen gelben Setter neben sich, holte er mit dem dicken Spazierstock weit aus, machte große Schritte, warf sich in den Schultern hin und her, hatte, wie es Verwachsene lieben, die Bewegungen starker, großer Leute. Als er Schritte hinter sich hörte, wandte er sich um, er grüßte sehr tief und das große, bleiche Knabengesicht lächelte. Da es schien, als wolle er etwas sagen, blieb Doralice stehen. »Guten Morgen, gnädige Frau«, begann er und schaute mit seinen stahlblauen Augen scharf und aufmerksam hinauf in Doralicens Gesicht, »schon vor Sonnenaufgang auf dem Posten?«
Doralice errötete und lachte: »Es ist Ihnen wohl
»So so«, meinte Knospelius, »möglich, ich interessiere mich für diese Sachen. Sie haben ein gutes Gedächtnis. Darf ich Sie einige Schritte begleiten, gnädige Frau?«
Sie nickte, obgleich es ihr nicht recht war, dieses kleine Ungeheuer neben sich zu haben, das sie von unten auf ansah, unbekümmert, wie man einen Kupferstich, nicht wie man einen Menschen anschaut. Im Gehen sprach er mit tiefer Stimme, deren Metall ihm selbst zu gefallen schien. »Mit dem Schlafen, meine Gnädige, scheint es Ihnen hier auch nicht recht gelingen zu wollen.«
»Doch,« meinte Doralice, »nur die anderen alle sind so früh auf, die Fischersleute, die Hähne, nun und das Meer schläft ohnehin nicht.«
Knospelius lachte jetzt sein lautloses Lachen: »Ja, ja, hier ist Betrieb, hier kann man was lernen. Denn, sehen Sie«, er wurde ernst, sein Gesicht nahm einen bösen, fast haßerfüllten Ausdruck an, »sehen Sie, es gibt nichts Dümmeres, nichts Sinnloseres als die Schlaflosigkeit, als im Bett zu liegen, auf den Schlaf zu warten und nicht schlafen zu können. In solchen Stunden komme ich mir vor wie meiner Menschenrechte beraubt. Ich tue nicht meine Pflicht als Mensch.«
»Pflicht als Mensch«, wiederholte Doralice etwas zerstreut.
»Ja, gerade so«, fuhr der Geheimrat fort, zänkisch als hätte jemand ihm
widersprochen, »meine Pflicht als Mensch ist, zu schlafen oder mein Handwerk als
Mensch zu treiben, zu arbeiten wie da die Fischer
Knospelius schwieg und schaute ärgerlich auf das Meer hinaus.
Doralice tat der kleine Mann leid. Es war doch eine Qual, die zu ihr gesprochen
hatte, sie wollte ihm etwas Freundliches sagen. Es kam ihr jedoch kühl und flach
heraus: »Ich hoffe die Seeluft wird Ihnen gut tun, Exzellenz.« Knospelius begann
wieder weiter zu gehen und murmelte: »Ich, ach, es ist nicht das, ich sage es so im
allgemeinen. Wenn man wacht, muß man was erleben können und wenn man schlafen will,
muß man schlafen können. Das dürfen wir verlangen.« Plötzlich lächelte er, ein
hübsches, fast schüchternes Lächeln. »Na ja, wenn es bei dem einen oder anderen so
'ne Bewandtnis hat, wenn da Hindernisse sind, nu so müssen wir uns an die Erlebnisse
der anderen halten. Ich interessiere mich sehr für die Erlebnisse der andern, ich
kümmere
– »Erleben denn die Leute hier so viel?« fragte Doralice.
»O genug«, erwiderte der Geheimrat, »sehen Sie die Fischer, die Kerls haben sich mit dem Meere eingelassen, und das hält in Atem, das können Sie mir glauben. Und dann die Weiber, wie sie dort oben stehen und warten. So zu stehen und auf den Mann oder Sohn zu warten, das spannt an. Haben Sie die Augen dieser Frauen beobachtet? Das sind Blicke, die nicht so planlos an den Dingen herumwischen, das sind Blicke, die ohne Umweg gerade auf den Punkt treffen, der ihnen wichtig ist, wie der Hammer in der Hand eines guten Handwerkers gerade und hart immer auf den richtigen Fleck schlägt. Und Sie sollten mal diese Augen sehen, wenn so 'n Mann oder Sohn nicht zurückgekehrt ist und die Frau dann tagelang am Strande hin- und herläuft und jeden dunklen Punkt auf dem Wasser oder auf dem Strande erspäht und mit furchtbarer Aufmerksamkeit beobachtet. Das sind Augen, die ihr Handwerk verstehen. Übrigens hat es mich sehr interessiert, daß Sie hergezogen sind. Sie werden schon Farbe in den Betrieb bringen. Es würde mich freuen, den Herrn Maler kennen zu lernen. Es scheint ein lebensvoller Herr zu sein. Das sehe ich gern. Ha, ha, das sehe ich ebenso gern, wie der Bauernfänger den Herrn mit der dicken Brieftasche gern sieht.« Und er lachte lautlos und andauernd über seinen Witz.
Der Himmel wurde jetzt farbig, die Wolken am Horizont bekamen dicke goldene Säume und
eine Welle von Rot übergoß den Himmel. Auch in das
»Sehen Sie«, sagte er, »das ist nun der allmorgendliche Farbenspektakel. Eine hygienische Maßregel. Die Natur wird ganz rücksichtslos da mit all diesem Rot und Gold überschüttet. Das soll anregen wie uns die Morgendusche oder der Morgenkaffee. Wenn Sie noch einige Schritte weiter gehen wollen, so können wir einen hübschen, ja ich sage geradezu einen hübschen Anblick haben.«
So gingen sie denn weiter. Sie kamen an eine Stelle des Ufers, wo eine hohe Sanddüne
ganz nah bis an das Wasser herantrat, die Wellen unterspülten sie so, daß die
Sandwand teilweise eingestürzt war. Bei hohem Seegang waren große Stücke des
Erdreichs abgebröckelt und fortgerissen worden, überall klafften Höhlen und Risse,
das alles triefte jetzt von rotem Morgenlicht. Hie und da ragte aus dem
hellbeschienenen Sande morsches Holzwerk hervor, das metallisch glänzte, und weiße
Stücke, die – »Aber,« rief Doralice, »das ist dort eine Hand.« »Allerdings,« erklärte
der Geheimrat, »das da ist eine Hand und ein Arm und dort ist ein Schädel hübsch rosa
angeleuchtet und in dem verfallenen Sarge dort ein ganzer Mann. Wie Sie sehen, ist
dies ein Friedhof, mit dem das Meer langsam aufräumt. Für Friedhofsromantik und
Friedhofschauer habe ich wenig übrig, die sind billig. Dies aber gefällt mir. Ein
Friedhof,
Knospelius schaute zu Doralice auf. Sie war ein wenig bleich geworden, sie preßte die Lippen aufeinander und zog die Augenbrauen zusammen. Es sah aus, als sei sie böse. »Nun, es scheint Ihnen nicht zu gefallen«, bemerkte der Geheimrat, »fürchten Sie sich vielleicht? Wir werden ja zur Furcht vor diesen Dingen erzogen.«
– »Nein,« erwiderte Doralice, »ich fürchte mich nicht. Dies hier ist sehr seltsam. Nur, ich weiß nicht, ich hätte es vielleicht heute morgen lieber nicht gesehen.«
»So, so«, meinte der Geheimrat, »dann können wir ja gehen. Sie haben übrigens recht, über den Tod und was mit ihm zusammenhängt nachzudenken ist wohl augenblicklich ganz und gar nicht Ihr Beruf.«
Auf dem Rückweg war Doralice schweigsam. Knospelius plauderte behaglich vor sich hin.
Die Generalin Palikow, ja, die kannte er. Eine kluge alte Frau, ein wenig laut, und
liebte es, die Angelegenheiten anderer Leute fest in ihre Hand zu
Doralice hörte ihm mit Abneigung zu. Sie fand jetzt ihren Begleiter unheimlich und er verdarb ihr den schönen Morgen. Was ging sie die Welt der Buckligen an, sie sehnte sich nach Menschen mit geradem Rücken. Dazu hatte er eine unangenehme Art, so von unten herauf ihr scharf auf die Lippen zu sehen. Doralice verzog die Lippen, als schmeckte sie etwas Bitteres.
Nach Sonnenaufgang hatte sich der Wind gelegt. Das Meer glättete sich und glitzerte
weit hinaus. Viele Fischerboote kehrten heim. Von den Dünen liefen die Fischerfrauen
zum Strande hinab, schürzten ihre Röcke hoch auf und wateten in das Wasser, um den
Männern behilflich zu sein die Boote auf den Sand zu ziehen. Mitten im
Brandungsschaum standen alle diese Menschen blank von Wasser und Sonnenschein. »Ah,
unsere Fischer«, sagte der Geheimrat. Er trat an eins der Boote heran, begrüßte die
Fischer, die er kannte: »Guten Morgen, Andree, guten Morgen, Wardein, nun, hat es
sich gelohnt?« – »Bißchen was ist da«, sagte Wardein und wischte sich den
Wellenschaum aus dem grauen Bart.
Doralice sah ihm einen Augenblick zu, dann wandte sie sich mit einem kurzen »guten Morgen« ab und ging schnell weiter. Jetzt hatte sie Eile, bei Hans Grill zu sein. Da kam er ihr schon entgegen in seinem weißen Leinenanzug, das Badetuch über der Schulter, das Gesicht rot und über und über lächelnd. Wie er sich freut, mich zu sehen, dachte Doralice, und sie fühlte diese Freude wie etwas, das sie plötzlich erwärmte. Hans legte seinen Arm um ihre Taille, nahm sie an sich, wie man sein Eigentum an sich nimmt. Er hatte schon gebadet, er roch nach Seewasser. »Kalt war's«, berichtete er, »aber das liebe ich, wenn die Wellen einen ins Fleisch zwicken, willst du nicht auch baden?« Nein, Doralice wollte später baden.
»Ich weiß, ich weiß,« meinte Hans, »du liebst es, wenn das Meer eine lauwarme Tasse Tee ist. Schön, schön. Aber hungrig sind wir, ich habe Agnes gesagt, daß sie für jeden von uns wenigstens vier Eier bereithalten soll.«
»Was sagte Agnes?« fragte Doralice. Hans lachte. »O die, ihr Gesicht versteinerte sich und sie meinte, sie habe nicht gewußt, daß adlige Damen so viel essen müssen.«
Der Tag war sehr heiß. Die Generalin hatte die Strandkörbe auf die Düne stellen lassen. Dort saßen sie und ihre Tochter und machten Handarbeit. Fräulein Bork ruhte vor ihnen im Sande und zeichnete das Meer. Sie zeichnete immer das Meer, lange leichtgewellte Linien, am Horizont ein Segelboot. Wedig saß neben seiner Mutter und mußte aus Fénélons »Télémaque« vorlesen. Er las ganz eintönig in einer Art klagender Melodie, die wie das Schlummerlied für diese heiße Stunde klang. Er selbst fühlte sich ganz hoffnungslos, sein Feriengefühl war ihm abhanden gekommen. Dieses ewig glitzernde Meer, dieser heiße Sand, der sich an die Finger hing und sie nervös machte, die Ereignislosigkeit, all das schien Wedig gewöhnlicher Alltag und machte ihn weltschmerzlich. Dazu noch dieser Mentor mit seinen endlosen Reden. Wedig wünschte, er hätte ihm die Nase abreißen können. Frau von Buttlär hörte der Vorlesung nur unaufmerksam zu, nur mechanisch warf sie hin und wieder ein zerstreutes »faites les liaisons, mon enfant« hin. Oft griff sie nach ihrem Opernglase, um zum Strande hinabzusehen, wo Lolo und Nini auf- und abgingen und sich abkühlten, bevor sie in das Wasser gingen. In den roten Badeanzügen, weiße Stoffkappen auf dem Kopf, sahen sie wie sehr schlanke Knaben aus und sie gingen ganz aufrecht, die Beine ihrer Freiheit ungewohnt ein wenig befangen und steif bewegend.
»Sagen Sie, Malwine,« fragte die Generalin, »sahen wir in unserer Jugend auch so aus, wenn wir badeten?«
Fräulein Bork kniff das eine Auge zu und lächelte
»Ja, o ja«, versetzte die Generalin, »daß das, was wir in unserer Jugend Hüften nannten, immer mehr abkommt!«
Jetzt gingen die Mädchen in das Wasser, vorsichtig wateten sie durch die Brandungswellen, verschwanden zuweilen ganz im weißen Schaum und warfen sich endlich auf das Wasser, um zu schwimmen, zwei rote Striche, in dem weißlichen Grün, das heute die Farbe des Meeres war. Sie waren gute Schwimmerinnen, aber Lolo überholte Nini weit, wunderbar leicht und schnell schoß sie vorwärts, geradeaus, als habe sie ein Ziel.
»Aber wohin will sie«, rief Frau von Buttlär, »warum bleiben sie nicht beisammen? Ich habe ihnen gesagt, sie sollen beisammen bleiben, ich habe ihnen verboten, bis zur zweiten Sandbank zu schwimmen. Lolo! Lolo!« Frau von Buttlär rief und winkte mit ihrem Taschentuche, aber der rote Strich dort drüben fuhr immer weiter ins Meer hinaus. »Ich sage es immer«, klagte Frau von Buttlär, »Lolo hat einen schwierigen Charakter, sie kann nicht gehorchen, ihr Mann wird es schwer haben. Lolo! Lolo!«
»Wer geht denn dort ins Meer?« fragte Wedig und zeigte zum Strande hinab.
»Das«, sagte die Generalin, »muß die Köhne sein.«
»Wo? Was?« rief Frau von Buttlär. »Ach, nenne sie doch nicht Köhne, Mama, sie heißt doch nicht so.«
»– Ach was,« meinte die Generalin, »wenn die Leute beständig ihren Namen ändern, kann
mein alter
Einen Augenblick schwiegen alle und schauten gespannt auf das Meer hinab. Wedig hatte den Télémaque fortgeworfen und legte sich platt in den Sand, lag da wie eine Robbe und starrte vor sich hin. Jetzt kam vielleicht doch ein Ereignis.
»Reizend,« bemerkte Fräulein Bork, »marineblau und einen kleinen gelben Dreimaster und wie sie schwimmt!«
»Sehr schick«, brummte Wedig. Das jedoch erregte aufs neue Frau von Buttlärs Aufregung. »Schweig,« herrschte sie ihren Sohn an, sie stand auf, schwenkte ihr Tuch, rief wieder: »Lolo! Lolo! Aber sie schwimmen ja aufeinander zu, auf der Sandbank müssen sie sich ja treffen. Ach Gott, mein armes Kind!«
»Na, setz' dich, Bella,« beruhigte die Generalin ihre Tochter, »jetzt ist es nicht zu ändern. Sie wird Lolo auch nicht gleich anstecken.«
»Muß man so etwas erleben«, seufzte Frau von Buttlär und setzte sich kummervoll in den Stuhl zurück. Gespannt folgten alle mit den Augen dem roten und dem marineblauen Punkte dort auf der lichtüberglitzerten Fläche.
»Die Dame ist doch zuerst da«, rief Wedig triumphierend.
»Lolo scheint müde, sie schwimmt langsam«, bemerkte Fräulein Bork; »ah, ah, die Gräfin geht ihr entgegen, sie will ihr helfen.«
»Unerhört«, stöhnte Frau von Buttlär.
»Jetzt reicht sie Lolo die Hand«, meldete Wedig, »ah, jetzt steht Lolo, die Dame legt
ihr den Arm
»Dem setzt man sich aus, wenn man so ohne weiteres ins Meer hinausschwimmt«, klagte Frau von Buttlär. Aber die Generalin ärgerte sich: »Bella, du übertreibst wieder, wenn das Kind müde ist vom Schwimmen, so ist es gut, daß jemand ihr die Hand reicht, und das Kind nimmt die Hand und fragt nicht erst: Sind Sie Ihrem Manne auch treu gewesen!«
Lolo stand drüben auf der Sandbank, sie war bleich geworden und atmete schnell. »Oh, ich halte Sie schon«, sagte Doralice, »legen Sie den Arm auf meine Schulter, so wie man beim Tanzen den Arm auf die Schulter des Herrn legt – so. Es war doch ein wenig zu weit, Sie sind das nicht gewohnt.«
»Danke, gnädige Frau«, sagte Lolo und errötete, »jetzt ist mir besser, ich bin das Meer nicht gewohnt und ich wollte dort immer im Blanken schwimmen und das war ein wenig zu weit.«
»Nun erholen wir uns noch«, fuhr Doralice fort. »Ja, im Blanken schwimme ich auch gern, die Sonnenstrahlen fahren einem dann so über die Haut wie kleine warme Fische, das liebe ich. Aber wie Ihr Herz schlägt. Zurück schwimmen wir geradeaus, da ist es nur eine kleine Strecke bis zur ersten Sandbank.«
Lolo antwortete nicht, sie dachte nur, würde sie doch noch sprechen. Nach der
Anstrengung des Schwimmens kam ein köstliches Behagen über sie. Gern wollte sie lange
noch so stehen in dem lauen Wasser, sich schwesterlich an diese schöne geheimnisvolle
Frau lehnend, diese seltsam schimmernden
»Jetzt, denke ich, schwimmen wir«, schlug Doralice vor und sie warfen sich in das Wasser, schwammen dicht nebeneinander, wandten zuweilen die Gesichter einander zu, um sich anzulächeln. »Geht es?« rief Doralice. »Wir sind gleich da.«
»Oh, es geht, es geht schön«, antwortete Lolo.
Es war fast so bequem, dachte Lolo, als lägen sie beide auf einer grünen Atlascouchette und könnten sich unterhalten. Ja, das war es, sie wollte sich unterhalten. Sie fühlte sich nicht mehr so befangen wie dort auf der Sandbank. Sollte sie fragen, ob es bei Wardeins sehr eng sei? Nein, das war zu unpersönlich, so sagte sie denn: »Gnädige Frau, ich sehe Sie jeden Abend von meinem Fenster aus im Mondschein spazierengehen.«
»So,« erwiderte Doralice und legte sich auf die Seite, um Lolo ansehen zu können, ihr Gesicht war über und über mit flimmernden Tropfen übersät, »das ist dann wohl Ihr Fenster oben im Giebel, in dem ich jeden Abend Licht sehe?«
»Ja«, rief Lolo begeistert zurück. Es freute sie, daß Doralice zu ihr hinaufgeschaut hatte. Nun waren sie angekommen und gingen ans Ufer.
»Es ist hübsch«, meinte Doralice, »so zu zweien zu schwimmen«, und sie reichte Lolo
die Hand. Lolo nahm diese kleine feuchte Hand, hielt sie einen Augenblick und führte
sie dann schnell an ihre Lippen.
»Nicht doch«, wehrte Doralice, beugte sich vor und küßte Lolo auf den Mund.
Von der Düne her aber bewegte sich ein Zug eilig auf Lolo zu. Voran Frau von Buttlär, die unausgesetzt »Lolo!« rief und mit dem Taschentuch winkte, ihr folgte Fräulein Bork mit dem Badetuche, dann Wedig die Hände in den Hosentaschen und ein ironisches Lächeln auf den Lippen und zuletzt die Generalin erhitzt und ganz außer Atem. Lolo ging dem Zuge ein wenig zögernd entgegen. »Da bist du endlich«, rief Frau von Buttlär, »du bringst mich noch um mit deinen Geschichten.« Lolo ließ sich schweigend in das Badetuch hüllen, man sah ihrem eigensinnigen Gesicht sofort an, daß sie nichts zu ihrer Entschuldigung anführen wollte. Während sie jetzt alle wieder zum Badehause zogen, ging Frau von Buttlär hinter ihrer Tochter her und schalt unausgesetzt: »So etwas kann nur dir passieren, gerade dieser Person in die Arme zu laufen und geküßt hat sie dich. Wie kommt sie darauf, die freche Person? Und du läßt das geschehen. Von wem wirst du dich nicht noch alles küssen lassen.«
Da wandte Lolo ein wenig den Kopf und sagte entschlossen und eigensinnig: »Sie hat mich geküßt, weil ich ihr die Hand geküßt habe.«
»Du hast ihr die Hand geküßt«, rief Frau von Buttlär, »hat man so etwas gehört und
warum? ich bitte dich. Diese Person, sie ist ja halbnackt, keine Ärmel und die
Dekolletage! Aber du hast keinen Stolz, du bist verlobt, du sollst eine ehrliche Frau
werden; wir ehrliche Frauen müssen doch Front machen gegen diese Damen und du küßt
ihnen die
Da legte sich die Generalin ins Mittel, sie schob Lolo in das Badehaus und sagte: »Für jetzt ist es genug, Bella, das Kind ist angegriffen, geschehen ist geschehen, wir werden ihr mit etwas Baldriantee den Kuß der Jasky wieder wegkurieren.«
Zu Hause schickte Frau von Buttlär Lolo sofort zu Bett, sie selbst legte sich auch hin und Ernestine lief mit Baldriantee treppauf, treppab.
Lolo lag oben in ihrem Zimmer auf ihrem Bett noch immer bleich und schaute mit ihren erregten Augen nachdenklich zur Decke auf. Nini saß neben ihr, sie sprach nichts, sondern schaute Lolo nur wartend an. Endlich begann Lolo zu sprechen, langsam und versonnen: »Ja, sie war herrlich, aber das wußte ich, und daß ich sie werde lieben müssen, das wußte ich auch, aber ich wußte nicht, daß sie etwas an sich hat, das einen weinen machen könnte. Ich hatte so das Gefühl im Halse wie bei ganz rührenden Stellen in Romanen, das ist natürlich deshalb, weil alle so schlecht von ihr sprechen, weil alle so gegen sie sind. Aber ich bin für sie.« – »Ich auch«, sagte Nini.
»Du?« fragte Lolo verwundert. »Du kennst sie ja gar nicht.«
– »Das tut nichts«, meinte Nini, »ich war schon für sie den ersten Abend, als ich sie im Mondschein spazieren gehen sah. Aber was wirst du jetzt tun?«
»Ich weiß, was ich tun werde«, sagte Lolo ernst. Sie stand auf, setzte sich an ihren
Schreibtisch und begann einen Brief zu schreiben. Nini wartete
»O nein«, antwortete Lolo überlegen. »Ich habe mir aus der Stadt sehr viel rote Rosen kommen lassen, die werde ich ihr abends durch das Fenster in ihr Zimmer werfen.«
»Und ich«, beschloß Nini, »werde mich so lange üben, bis ich auch zur zweiten Sandbank schwimmen kann, und wenn ich dabei auch ertrinke.«
Es folgten sich Tage mit unbewölktem Himmel und unerbittlichem Sonnenschein. Überall lag dieses heiße grelle Licht, es schwamm und zitterte auf dem Wasser, es sprühte auf dem Sande, erweckte Funken auf den Kieseln und auf den harten Stengeln des Strandhafers und der Seggen.
»Man kann sich vor Licht nicht mehr retten«, sagte Hans Grill. Aber auch die Abende und Nächte brachten weder Kühlung noch Dunkel. Ein leichter Westwind bewegte die Schwüle nur, ohne sie zu mildern. In einem dunstigen violetten Gewölk wetterleuchtete es jeden Abend am Horizont und dann kam der Mond fast voll und das Glitzern und Sprühen begann wieder allerorten.
»Man möchte zu dieser ewigen Helligkeit sagen«, bemerkte wieder Hans Grill, »ich will meine Ruhe.«
Allein auch in den Stuben war diese Ruhe nicht zu finden, dort war es zu eng und zu
heiß, und die
Doralice und Hans wohnten jetzt fast den ganzen Tag in einer Einsenkung der Düne. Hans spannte dort seinen Malschirm aus, breitete eine Decke über den Sand, auf der Doralice liegen konnte, er selbst saß vor seiner Staffelei und malte das Meer. »Das ist das einzige«, behauptete Grill, »wir müssen es machen wie die Hühner, die sich Erdlöcher machen und sich kühlen.«
Doralice schloß die Augen und murmelte, fast zu faul um die Lippen zu bewegen: »Ganz
still liegen, sich nicht bewegen, denn, spürst du das auch?
»Gut, gut, lieg nur still«, sagte Hans väterlich und beruhigend. Sie schwiegen sie eine Weile, bis Hans seinen Pinsel fortwarf und sich auch auf den Sand ausstreckte.
»Es will und will nicht werden«, sagte er ärgerlich. Doralice öffnete die Augen und schaute das Bild auf der Staffelei an und meinte: »Warum, es ist ja ganz gut, das ist durchsichtig, das ist grün.«
Hans fuhr auf erregt und eifrig: »Durchsichtig und grün. Ein Stück Glas ist auch durchsichtig, ein Stück Stoff kann grün sein. Nein, das ist noch kein Meer. Das Meer muß gezeichnet werden, siehst du, nur die Linie hat Bewegung und Leben. Ich kann dein blaues Kleid malen, nichts leichteres als das, aber es so zu malen, daß jeder sieht, du steckst da drin unter dem Blauen, das ist die Kunst. Im Meer steckt eben auch unter dem Durchsichtigen und Grünen etwas, das lebt und sich bewegt, und das ist eben das Meer.«
»Ah, so ist es«, sagte Doralice wieder mit geschlossenen Augen, »mach' das doch, Lieber.«
»Machen, machen«, wiederholte Hans, »das ist es eben. Ich möchte wissen, wo zum Teufel mein Talent hingekommen ist, es war doch da.«
»Bin ich daran schuld?« fragte Doralice ruhig und schläfrig.
Hans antwortete nicht sogleich. Er lag da und starrte zum Himmel auf und dachte nach.
Ja, wie war das denn? Und er begann langsam zu sprechen, wie zu sich selber: »Schuld,
eine Schuld kann da nicht sein, aber das ist es, du nimmst jetzt in mir
– »Und glaubst du«, unterbrach ihn Doralice ein wenig gereizt, »es strengt nicht an, immer, den ganzen Tag, ein Wunder zu sein?«
Hans lachte gutmütig: »Laß es gut sein, ich gewöhne mich schon an das Wunder.«
– »O wirklich, du gewöhnst dich dran«, warf Doralice hin.
»Sicher,« fuhr Hans fort, »alles, was uns jetzt selbstverständlich scheint, ist einmal ein Wunder gewesen. Du wirst mir auch selbstverständlich werden. Warte nur, bis wir in unserer Ordnung sind.«
Doralice hob ihre Arme hoch über den Kopf empor und streckte sich: »Ach ja, deine Ordnung, nun also erzähle von deiner Ordnung. Ein Häuschen, nicht wahr, damit fängt es doch an?«
»Allerdings ein Häuschen«, begann Hans gereizt, »ein Häuschen irgendwo, sagen wir in einem Vorort von München, ein Häuschen, das deine eigenste Schöpfung ist, der Ausdruck deines Wesens, dort waltest du. Mein Atelier ist natürlich in der Stadt, ich komme zu Mittag heim und du erwartest mich –«
– »Das weiß ich alles schon«, unterbrach ihn Doralice, »nur möchte ich wissen, was ich den ganzen Vormittag allein gemacht habe.«
»Du hast eben deinen Wirkungskreis«, erklärte Hans, »du hast dein Hauswesen, dem du dein Gepräge gibst.«
Hans errötete und machte ein Gesicht, wie jemand, dem es in allen Gliedern ruckt, weil er einen Knoten nicht aufbringen kann: »Allein, warum allein? Da werden doch Menschen sein, wir schaffen uns unseren Kreis, unsere Gesellschaft, wir sind an keine Gesellschaft gebunden, wir sind die Schöpfer unserer Gesellschaft, das ist es.«
Doralice richtete sich ein wenig auf und sah Hans an und ihre Augen wurden groß und bekamen einen hilflosen, angstvollen Ausdruck: »Menschen,« sagte sie leise, »du weißt doch, ich fürchte mich vor den Menschen.«
Hans konnte sich vor dem schmerzhaften Mitleid, das diese Augen in ihm erregten, nur retten, indem er sich in Zorn redete. Er schrie ordentlich: »Fürchten, das sollst du nicht, das darfst du nicht, wenn ich da bin, das ist eine Beleidigung für mich, und wir können nicht immer in einer Einsamkeit leben. Ich will nicht, daß wir Ausnahmen sind. Du sollst nicht für mich das Außerordentliche bleiben, nein, du mußt mein Alltag sein, mein tägliches Brot, dann erst besitze ich dich ganz. Und wir müssen leben wie die anderen Menschen und mit den anderen Menschen. Die Welt ist voll guter herrlicher Menschen, du wirst Frauen finden, großzügige, freidenkende, edle Frauen.«
Doralice hatte sich wieder ruhig zurückgelehnt und die Augen geschlossen: »Diese
Frauen kenne ich«, bemerkte sie, »sie tragen Velveteen-Reformkleider und sprechen von
objektiv und subjektiv. Zwei frühere Schülerinnen besuchten einmal Miß Plummers, die
waren
Hans hatte die Hände voll Strandhafer, den er in seinem Zorn ringsumher ausriß: »Das ist immer so«, sagte er, »du willst mich nicht verstehen. Weil du deine Gesellschaft verlassen hast, glaubst du, es gäbe keine deiner würdigen Menschen mehr. Das ist Hochmut, oder schämst du dich meiner vor den Menschen? Sag, schämst du dich meiner?«
Doralice lächelte mit geschlossenen Augen: »Nein, du bist gut«, erwiderte sie, »du bist mir schon recht, nur deine Frau Grill mit dem Gepräge, die ist mir nicht sympathisch, die möchte ich lieber nicht kennenlernen.«
»Aber du mußt sie kennenlernen«, rief Hans, »wenn du mich willst, mußt du auch Frau Grill wollen, ich trete für sie ein, ich werde nicht erlauben, daß du sie hochmütig beiseite schiebst. Aber so geht es immer, wir reden und reden, als ob der eine auf der ersten Sandbank steht und der andere auf der zweiten. Und keiner versteht, was der andere sagt, und wir rufen uns nur immer: was? was? zu.«
Hans war aufgesprungen, er stand vor Doralice und sah sie an. Wie ruhig sie dalag in
ihrem gelben Sommerkleide, das heiße Gesicht ganz umflimmert von dem blonden Haar,
wie ein friedlich schlafendes ganz junges Mädchen sah sie aus. Nur das Zucken des
Mundes mit den schmalen zu roten Lippen sprach von einer Erregung, die in ihr wach
war. Weiß sie denn nicht, was ich leide? dachte Hans. Er drückte seinen Strohhut
tiefer in die Stirn und lief die Düne hinab an das Meer. Ins Wasser gehen,
Hans Grill hatte nie erwartet, daß das Leben ihn verwöhne, er hatte sich tapfer genug
mit Not und Widerwärtigkeiten herumgeschlagen; aber er hatte ihm vertraut, er hatte
es zuweilen hart gefunden, aber nie unverständlich. Alles Unklare in der Welt wurde
sofort klar, wenn Hansens zwanzigjähriger Egoismus es zu sich selbst in Beziehung
brachte, und alle Rätsel lösten sich, wenn er ihnen die Frage stellte: bist du für
oder gegen Hans Grill? Jetzt aber verstand er nicht mehr. Etwas war in sein Leben
gekommen, das es ihm selber fremd machte, als lebte es ein anderer für ihn. Mädchen,
und was man so Liebe nennt, waren ihm schon früher begegnet, und so etwas verwirrt
zuweilen, man begeht Torheiten, aber verständlich war das und ging schließlich hübsch
glatt in das allgemeine Erleben auf. Man mußte nur fest und ein wenig rücksichtslos
zugreifen. »Stramm halten, dann verfitzt es sich nicht«, pflegte Hansens Großmutter
zu sagen, die für Geld Strümpfe strickte, wenn der kleine Hans vor ihr saß und die
Baumwollsträhnen zum Abwickeln hielt. Aber diese Frau hier, warum mußte er sie so
schmerzhaft begehren, jetzt, wo er sie besaß? Warum hatte er nie das ruhige,
glückliche Gefühl des Besitzes, warum mußte er, wenn er sie am festesten hielt, stets
fürchten, sie zu verlieren? Alles in ihm war voll von dieser Frau und doch war sie
ihm fern. Er verstand nicht, er verstand nicht, und es blieb ihm nichts übrig, als
wie ein Raubtier knurrend seine Beute fest zuhalten, damit niemand sie ihm entreiße.
Hans hatte sich entkleidet und ging langsam durch die Brandung in das Meer hinein.
Ich will es schon
»Ich habe die Ehre«, hörte er eine Stimme neben sich. Unter einer brechenden Welle wie unter einer grünen Glaswölbung stand Knospelius in gelbem Badetrikot. Nun ging die Welle über ihn nieder, verbarg ihn hinter einem weißen Schaumvorhang, gleich darauf tauchte er wieder auf, schüttelte sich, nickte und sagte: »Von Knospelius. Ich habe schon die Ehre gehabt, Ihre Frau Gemahlin zu begrüßen.« Hans verbeugte sich steif.
»Heiße Tage«, fuhr der Geheimrat fort, »man kann nicht genug vom Baden haben. Sonst ein hübscher Aufenthalt hier. Nur ein wenig mehr Geselligkeit wäre zu wünschen. Es fängt doch an, sich zu beleben hier. Baron Buttlär kommt nächstens mit seinem künftigen Schwiegersohn.«
»Ach, meine Frau und ich sind nicht eben gesellig«, erwiderte Hans und schaute neugierig auf das große, bleiche Knabengesicht nieder. Knospelius lachte. »Ich weiß, ich weiß, Flitterwochen, les jeunes mariés. Einer scharmanten Frau dienen, das ist die Beschäftigung der Beschäftigungen. Jeder normale Mensch hat sie oder sucht sie. Alles andere ist daneben nur Nebenbeschäftigung. Aber ein alter Junggeselle wie ich, der nur Nebenbeschäftigungen hat, muß sich an die Geselligkeit halten. So ein winziges Norderney sollten wir hier gründen. Ich erlaube mir, bei Ihnen nächstens meine Aufwartung zu machen.«
»Ich glaube«, meinte Hans, »die meisten suchen hier die Einsamkeit.« Während er
sprach, verschwand der Geheimrat unter einer Welle, wie eine Maus in der Ackerfurche.
Als er wieder auftauchte, hob er
Er verbeugte sich förmlich und ging dem Strande zu, wo ein sehr großer, ernster Mann mit einem Badetuche seiner harrte.
Hans zuckte die Achseln. Was will der wieder? dachte er. Lauter ganz unwahrscheinliches Zeug hängt sich jetzt an einen. Er ging weiter, begann dann zu schwimmen, schwamm weit auf das Meer hinaus. Das tat wohl. Da war nichts Unverständliches, man regt kräftig Arme und Beine, durchschneidet das Wasser und bleibt immer oben und kümmert sich um all die dunklen Tiefen nicht, die unter einem liegen.
Das Bad hatte Hans gut getan; er fühlte sich seiner selbst sicherer und hatte wieder das Vertrauen, daß er es schon machen würde. Als er zur Düne emporstieg, fand er Knospelius bei Doralice. Er hörte schon von weitem, wie sie lachten. Wieder der, dachte Hans mit jenem ärgerlichen Gefühl, das wir zu haben pflegen, wenn eine Fliege sich uns immer wieder auf die Nase setzt. Der Geheimrat saß auf Hansens Malstuhl und sprach angeregt. Doralice hatte sich aufgerichtet, stützte sich auf ihren Ellenbogen, das Gesicht über und über rosa, hörte ihm zu mit dem liebenswürdigen, ein wenig befangenen Ausdruck, den junge Frauen haben, die zum ersten Male in ihrem Salon empfangen.
»Sie sehen«, rief der Geheimrat Hans entgegen, »ich mache mit der Geselligkeit gleich
den Anfang. Ich habe Ihrer Frau Gemahlin eben ein Kompliment
– »Jetzt aber muß ich gehen«, fuhr Knospelius fort und kletterte von seinem Stuhl herab. »Ich will noch einen Besuch bei Buttlärs machen. Zum Abschied noch un mot pour rire. Die Frau von Lossow mit den sieben Töchtern, Sie kennen sie, sagte mir, als Karoline, die dritte, sich mit dem nationalliberalen Doktor Krapp verlobte: ›Es tut mir leid, wir Lossows waren immer konservativ, aber wenn man so viel Töchter zu verheiraten hat, kann man sich nicht nur an eine Partei halten.‹ Was? Nett? Blockpolitik in der Familie.« Er lachte selbst herzlich über seine Anekdote und, was Hans wunderte, Doralice lachte auch darüber. Konnte sie das unterhaltend finden?
Als der Geheimrat gegangen war, streckte Hans sich schweigend auf dem Sande aus. Auch Doralice schwieg eine Weile. Sie starrte zum Himmel auf und lächelte noch immer das liebenswürdige Gesellschaftslächeln.
Lächelt sie noch immer über die Geschichte des Buckligen? dachte Hans. Endlich sagte sie: »Warum bist du so unfreundlich gegen den Kleinen?«
»Was will er denn von uns?« fragte Hans verdrießlich.
– »O nichts, glaube ich«, meinte Doralice, »er will sich unterhalten. Bist du eifersüchtig auf ihn? Er ist doch nur eine groteske Nippfigur.«
Hans fuhr auf: »Ich bin überhaupt nicht eifersüchtig. Das gibt es unter freien
Menschen nicht.
»Meine Gesellschaft«, erwiderte Doralice, etwas Müdes in der Stimme, »die drängt sich gewiß nicht an mich heran. Die kleine Buttlär dort auf der Sandbank, welch ein seltsames Gesicht sie machte, ein Gesicht, als habe sie ein ganz verwegenes, ganz verbotenes Abenteuer zu bestehen.«
– »So laß sie doch alle«, rief Hans, faßte Doralice bei den Schultern und drückte sie an sich mit einer zornigen Leidenschaftlichkeit, »die gehen uns alle nichts mehr an.«
»O ja«, erwiderte Doralice, »ich lasse sie und sie lassen mich.«
Die Sonne ging unter, das strenge Licht schmolz, wurde zu roten und violetten Dunstschleiern, ehe es erlosch. Dann gab es, ehe der Mond höher stieg, eine kurze Zeit des Zwielichts, das den Augen wohltat. Aber diese bleiche Dämmerung legte über das grauwerdende Meer eine unendliche Einsamkeit, das Meer wurde ernst und traurig.
»Warum sprichst du nicht?« fragte Hans Doralice, während sie wie jeden Abend Arm in Arm den Strand entlang gingen.
»Ich weiß nicht«, antwortete Doralice, »um diese Zeit ist die Luft immer so sorgenvoll.«
»Wir haben keine Sorgen«, entschied Hans mit Nachdruck.
»Nein, wir haben keine Sorgen«, wiederholte Doralice, »ich fürchtete schon, du würdest sagen: Freie Menschen haben keine Sorgen.«
»Oh, das tut nichts«, erklärte Hans, »was in uns ist, muß heraus, das gibt Vertrauen.«
Doralice wiegte müde den Kopf. »Ach, das ist so umständlich. Weißt du, um sich ganz zu verstehen, müssen wir es so machen wie die da vor uns.« Sie wies auf ein stilles Liebespaar hin. Der Bursch und das Mädchen wiegten ihre schweren Körper wohlig hin und her, schwenkten taktmäßig die herabhängenden Arme. Doralice ließ Hansens Arm los: »Ganz so wie die«, sagte sie. Und nun gingen sie auch nebeneinander her, wiegten sich in den Hüften, schwenkten die Arme und schwiegen. Allein, als sie eine Weile so gegangen waren, blieb Hans stehen. »Nein, das geht nicht«, sagte Hans, »wenn du so still neben mir gehst, glaube ich, du denkst etwas Unfreundliches von mir oder du hast etwas gegen mich.«
»Schade,« meinte Doralice, »es war so schön. Ich fing schon an zu fühlen, daß ich ganz so wurde wie das Mädchen da. Gerade als du zu sprechen anfingst, wollte ich stehenbleiben, den Mund weit aufmachen und auf das Meer hinausgähnen, ho ho ho, ganz wie das Mädchen vorhin. Denken, man denkt ja überhaupt nicht, wenn man so geht, und daher versteht man sich.«
Nein, nein, Hans wollte das nicht. »Tun wir etwas«, schlug er vor, »da ist der Mond. Soll ich dich wieder nehmen und über die Wellen halten oder sollen wir aufs Meer hinausfahren, oder sollen wir heute nacht Wardein auf den Fischfang begleiten? Tun, tun, siehst du, das fehlt uns.«
Als sie zu Hause in ihr Wohnzimmer traten, fanden sie, daß Agnes die Lampe nicht angezündet hatte. Das Zimmer war voller Mondschein und ein starker, sehr süßer Duft schlug ihnen entgegen. Auf dem hellbeschienenen Fußboden aber lag es wie eine dunkelrote Lache. »Sieh doch, Rosen, lauter Rosen«, rief Doralice. Sie kniete vor den Rosen nieder, beugte sich ganz auf sie hinab, griff nach ihnen, hatte beide Arme voll von ihnen, drückte ihr Gesicht in sie hinein, als wollte sie sich in ihnen baden. An einem der Sträuße hing ein Papierstreifen, auf dem »Lolo« stand.
»Oh, sieh doch«, sagte Doralice, »die kleine Lolo hat mir all die Rosen durch das Fenster geworfen, das gute Kind.« Da fühlte sie, daß Hans sie von hinten um die Taille faßte, sie emporhob, sie heraushob aus allen Rosen und sie hörte ihn leise und grimmig sagen: »Jetzt kommen sie durch alle Fenster zu uns herein. Laß sie und ihre dicken Rosen, was sollen wir damit.« Doralice lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter: »Ach ja«, sagte sie wie mutlos, »nimm mich fort von ihnen«, und aus ihren schlaff werdenden Armen fielen die Rosen wie ein dunkelroter Strom schwer auf den Fußboden nieder.
Im Bullenkruge waren die Herren angekommen: »Jetzt wird das Leben bei uns ganz
freiherrlich«, sagte Ernestine. Die große Abendtafel auf der Veranda
Als die Erdbeerbowle kam, wurde Baron Buttlär ganz der feine Genießer. Er zündete sich seine Havanna an, trank einen Schluck Bowle, warf einen Blick auf das mondbeglänzte Meer, ließ ein jedes verständnisvoll auf sich wirken. Er wurde gefühlvoll: »Mondschein und Meer, Mondschein und Meer«, sagte er und wiegte sachte seinen Kopf, »da kann man gefühlvoll werden, ja da muß man gefühlvoll werden. Das Meer macht immer Eindruck. Die Unendlichkeit ist eben die Unendlichkeit, nicht wahr?« Alle schwiegen einen Augenblick und sahen das Meer an. Dann aber lenkte Frau von Buttlär das Gespräch auf ihr Gut zurück. Sie sprach so gern von ihrem Vieh, ihren Milchmädchen, ihren Hühnern und ihrer Butter. Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu dieser fetten Wohlhabenheit zurück.
Unten am Tische wurde die Jugend unruhig. Nini und Wedig erklärten, auf die Düne gehen zu wollen, und sie taten geheimnisvoll. Sie hatten eine neue Beschäftigung gefunden. Jeden Abend machten sie, wie sie es nannten, Jagd auf die Gräfin. Es kam darauf an, Doralice zu begegnen. Auch das Brautpaar wollte zum Meere hinabgehen: »Ich muß Steine auf dem Meere springen lassen«, sagte Hilmar, »erst wenn ich ihm ein Dutzend Steine ins Gesicht geworfen habe, kriege ich ein Verhältnis zu ihm.«
»Der hat keine Ruh, der muß immer etwas vorhaben«,
»Hitzig ist er«, bestätigte der Baron, »er reitet gut und anfangs auch vernünftig, aber dann kriegt er es mit der Leidenschaft, die teilt er dem Pferde mit, das Pferd übernimmt sich und der Unfall ist da.«
»Ich kann mir wohl denken, daß der Leutnant seine Leidenschaft anderen mitteilen kann«, ließ Fräulein Borks verträumte Stimme sich vernehmen, allein die Generalin wies sie zurecht: »Von Pferden ist die Rede, Malwine, bitte.«
Frau von Buttlär machte noch immer ihr besorgtes Gesicht und sagte: »Ich habe Hilmar verboten, ein Pferd oder ein Auto mitzubringen, und wenn er segelt, fährt Lolo nicht mit. Solange ich über das Kind zu wachen habe, soll er es nicht umbringen.«
»Umbringen,« rief der Baron gutgelaunt, »sag, Mama, als du mir Bella gabst, hattest du auch das Gefühl, daß du sie sozusagen in einen Abgrund hinabstürztest?«
»Abgrund vielleicht nicht«, erwiderte die Generalin, »aber daß ich sie auf einen Luftballon setze, von dem man nicht weiß, wohin der Wind ihn wehen wird.«
»Bitte, bitte«, rief der Baron Buttlär, »ein sehr lenkbarer Luftballon, das weiß Bella gut«, und er lachte über seinen Witz sehr laut und sehr lange, länger vielleicht als es nötig gewesen wäre. Allein das Gefühl, das geistvolle Haupt der Familie zu sein, das Heiterkeit um sich verbreitet, tat ihm wohl.
»Was? Was?« fuhr die Generalin auf »Was ist das, Asra? Wer stirbt, wenn er liebt? Die Hamms nicht. Die kenne ich, die gewiß nicht. Liebe Malwine, reden Sie solches Zeug der Lolo nur nicht vor, das Kind neigt ohnehin zur Überspanntheit.«
»Ach ja«, klagte Frau von Buttlär, »auch wieder eine große Sorge. Denke dir, Buttlär«, und nun berichtete sie mit bekümmerter Stimme die Geschichte von Doralice, der Sandbank und dem Kuß. »Was sagst du dazu, Buttlär«, schloß sie, »ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können.«
Der Baron wurde ernst und zog sinnend seinen Schnurrbart durch die Finger. »So, hm! Die Gräfin Köhne hier, eine süperbe Frau übrigens. Das war eine böse Geschichte. Der Graf hat einen Schlaganfall gehabt und seine Schwester, die Gräfin Benedikte, pflegt ihn. Sehr traurig! Nun, gesellschaftlich kommt diese Dame nicht mehr in Betracht, aber sie hat uns einen Dienst erwiesen, so kann ich ihr gelegentlich dafür danken.«
»Du?« rief Frau von Buttlär. »Warum? Wozu?«
»Höflich kann man trotz allem gegen sie sein«, wandte der Baron ein, aber seine Frau war sehr erregt: »Ich habe es gleich gewußt«, sagte sie, »diese Person ist als schwere Prüfung für mich hergesandt.«
»So,« sagte Hilmar, »jetzt verstehe ich das Meer. Es ist heute übrigens mit seinem Mondschein und allem dem sehr programmäßig und du, Schatz, bist erst recht programmäßig.«
»Schade,« meinte Lolo, »ein Programm ist nie was Überraschendes.« Hilmar lachte: »Willst du mich überraschen? Wozu? Nein, unsere Bräute sollen nicht Überraschungen sein, sondern hübsche Notwendigkeiten.«
Als sie an den Fischerhäusern vorübergingen, begann auch Lolo von Doralice zu sprechen, erzählte ihr Abenteuer, erzählte von dem Kuß und den roten Rosen. »Ach, die durchgebrannte kleine Gräfin ist hier«, sagte Hilmar, »nun, es ist gut, daß sie dich gerettet hat, aber sag, warum sprichst du von ihr mit einer so gerührten Stimme, als sei sie etwas Heiliges? Durchgebrannte Gräfinnen sind doch wohl nichts besonders Heiliges.«
»Weil sie mich rührt«, entgegnete Lolo erregt. »Ich weiß selbst nicht warum. Vielleicht weil sie so schön und doch nicht gut ist. Vielleicht aber, wenn jemand so schön ist, muß man ihn lieben, aber sie tut etwas weh, diese Liebe. Ich glaube, wenn einer sich in die Gräfin verliebt, dann muß es schmerzen.«
»Nun, nun«, beruhigte Hilmar sie, »wird es denn so arg sein mit dieser Schönheit?«
»So zum Beispiel«, fuhr Lolo fort, »mich zu lieben ist da nichts, gar nichts Schmerzhaftes dabei, sag?«
»Und ich«, rief Lolo enttäuscht, »ich bin für dich wie der blaue Sammetkittel und die Orangenblütenpomade.«
»Und der Sonntag«, ergänzte Hilmar, »ja, so ähnlich. Aber wer kommt denn dort?«
»Das ist sie«, flüsterte Lolo.
Ihnen entgegen kamen Hans und Doralice. Als sie aneinander vorübergingen, nickte Doralice lächelnd Lolo zu, die beiden Herren grüßten förmlich. »Nun?« fragte Lolo, sobald sie vorüber waren.
»Gewiß, allerdings«, sagte Hilmar, »ein schönes Kindergesicht mit einem merkwürdig schicksalsvollen Munde.«
Lolo schwieg eine Weile, dann wiederholte sie sinnend: »Ein schicksalsvoller Mund,
das hast du gut gesagt, ich suche lange schon einen Ausdruck für diesen Mund. Es muß
seltsam sein, einen schicksalsvollen Mund zu haben, ich kann mir das denken, ja ich
fühle das jetzt so deutlich, so stark, daß ich überzeugt bin, ich habe in diesem
Augenblicke auch einen schicksalsvollen Mund. Küsse mich jetzt und du wirst sehen.«
Sie blieb stehen und hielt ihr ernstes, vom Monde hellbeschienenes Gesicht hin
Hilmar schüttelte den Kopf: »Von Schicksal keine Spur. Mehr ein friedlicher Pfingstsonntag auf dem Lande.« Lolo zuckte die Achseln und seufzte. »Nein, warte«, fuhr Hilmar fort, »es ist doch anders, dich hier vor dem Meere zu küssen, kommt mir wie eine kolossale Frechheit vor. Es ist so, als sähen alle fünf Weltteile uns zu, das ist ein eigentümliches Gefühl.«
»Nein, das will ich nicht«, rief Lolo und machte sich von ihm los.
Der nächste Tag war ein Sonntag. Die Generalin und Frau von Buttlär saßen in ihren
Strandkörben und lasen Andachtsbücher. Zuweilen hob Frau von Buttlär den Blick und
schaute auf den hellbeschienenen Strand und auf das Meer hinab, das heute blau und
golden und ruhig wie ein Teich war. Plötzlich blieben ihre Augen an zwei bunten
Figürchen hängen, die dort an der gelben Dünenwand entlang gingen. Doralice im
türkisblauen Sommerkleide, einige von Lolos roten Rosen im Gürtel unter einem roten
Sonnenschirm ging neben dem Baron Buttlär her. Der Baron schien lebhaft zu sprechen
und seine ganze Gestalt, seine Art zu gehen drückten höfliche Liebenswürdigkeiten
aus. Frau von Buttlär schlug mit der flachen Hand auf ihr Buch und
»Nichts, nichts«, beruhigte die Generalin, »er kann eben das Kokettieren noch nicht lassen. Es ist immer dieselbe Geschichte, wenn ihr heiratet, wollt ihr hübsche Männer haben, aber ein hübscher Mann konserviert sich länger als unsereins, der bringt keine Kinder zur Welt, er schont sich mehr und da dauert die Lust am Kokettieren länger als bei uns.«
»Aber Mama«, protestierte Frau von Buttlär entrüstet, »die Ehe ist doch zu heilig, als daß solche Dinge in Betracht kämen.«
»Die Ehe, meine Liebe«, versetzte die Generalin, »ist vielleicht sehr heilig, aber unsere Männer sind es nicht. Übrigens wird es da unten immer bunter.«
Hilmar und Lolo kamen Arm in Arm von der anderen Seite den Strand entlang und als sie
Doralice und Herrn von Buttlär begegneten, blieben sie stehen und es fand eine
Begrüßung statt. Von einer anderen Seite erschienen Hans Grill und der Geheimrat und
gesellten sich zu der Gruppe. Es war hübsch, wie diese Menschen in dem grellen
Sonnenschein beisammen standen, wie die hellen Farben der Kleider, das Rot und das
Blond der Haare auf dem Hintergrunde der gelben Düne blühten und leuchteten. Frau von
Buttlär fand nicht mehr die Kraft des Zorns, sie war zu bekümmert: »Was soll man da
machen? Mama«, fragte sie kläglich. – »Liebes Kind«, sagte die Generalin, »da gibt es
»Ich glaube, ich werde das nie können«, klagte Frau von Buttlär, »bin ich nicht eine geplagte Frau? Bisher der Kampf mit den Gouvernanten und jetzt diese.«
Unten löste die Gruppe sich auf, man grüßte und trennte sich. Frau von Buttlär sah ihrem Mann ernst und kummervoll entgegen. Als er jedoch vor ihr stand, schaute sie auf ihr Buch nieder und schwieg. Herr von Buttlär aber fühlte das Bedürfnis, schnell und gezwungen heiter zu sprechen. Nun hatte er also das Unglück des Ortes kennengelernt, Gott, es sah nicht so schlimm aus, aber im Ernst, es war besser so, hier konnte man sich ja doch nicht vermeiden und das mußte auf die Dauer peinlich werden, nun grüßte man sich, sprach miteinander auf neutralem Boden. Hier in dem weltabgeschiedenen Winkel war das ohnehin nicht kompromittierend. Von eigentlichem Verkehr ist ja ohnehin nicht die Rede, nicht wahr? Frau von Buttlär sah jetzt auf und fragte, als hätte sie das Gesagte nicht gehört: »Lesen wir heute keine Predigt?« – »Gewiß, meine Liebe«, rief Herr von Buttlär, »ist es denn schon Zeit? Also gehen wir.« Die Familie begab sich in den Bullenkrug zurück, im Wohnzimmer versammelte man sich und Herr von Buttlär las eine Predigt vor. Es wurde allgemein bemerkt, daß seine Frau während der Predigt weinte.
Der Sonntagnachmittag war sehr heiß, gelber Sonnenschein in den weißgetünchten Zimmern und über dem sandigen Gärtchen. Die Damen zogen sich zurück. Herr von Buttlär saß im Wohnzimmer hinter seiner Zeitung und schlummerte und das Brautpaar ging auf der Veranda auf und ab.
»Bitte, Schatz«, sagte Hilmar, »sieh mich nicht so erwartungsvoll an, das heißt, du hast ein Recht mich so anzusehen, denn du hast ein Recht zu erwarten, daß ich angenehm und unterhaltend bin. Aber ich weiß nicht, dieser Sonntagnachmittag lähmt mich.«
»Armer Hilmar«, meinte Lolo ein wenig spöttisch, »den ganzen Tag im blauen Sammetkittel zu stecken.«
»Unsinn, Unsinn«, rief Hilmar, »es ist nur eine Stimmung. Ich habe Sonntagnachmittage nie recht vertragen. Komm, setzen wir uns in den Schatten und ich lehre dich Pikett spielen.«
Erst gegen Abend wurde es im Hause lebhafter. Die Generalin kam in das Wohnzimmer,
ließ ihre laute, energische Stimme erschallen und weckte mit ihr das verschlafene
Haus. Dann erschien auch Frau
Am nächsten Morgen kam Hilmar erhitzt und mit sprühenden Augen zum Frühstück. Er war
schon weit herum gewesen, hatte Bekanntschaft mit den Fischern gemacht. Famose Leute!
Da war ein Andree Stibbe, ein blonder Riese mit ganz hellblauen Augen, so hell wie
schlechte Milch. Wenn der einen anschaute, war es, als sähe einen ein sehr
hochmütiger Dorsch an. Hilmar hatte mit ihm über ein Boot zum Segeln gesprochen, er
wollte auch mit ihm auf den Fischfang hinausfahren. Übrigens hatte Stibbe für nächste
Zeit einen Sturm versprochen. Auch den Maler hatte Hilmar gesehen, der schien ein
braver Bursch zu sein. Seine schöne Frau ging gerade baden in einem sehr
bemerkenswerten marineblauen Badekostüm. Endlich hatte er noch mit der Exzellenz
Knospelius gesprochen, ein äußerst interessanter Herr. Er interessiert sich sehr für
das Gesellschaftsleben hier; er will ein Fest geben, so was wie eine italienische
Nacht. Sein Diener, ein unheimlich ernster Wiedertäufer, klebt schon die
Papierlaternen dazu. »Klaus ist«, sagt die Exzellenz, »sehr brauchbar für das, was er
unsere Sünden nennt.«
»Wieso, wieso?« rief Hilmar. »Das ist doch nur für die Zwischenzeiten und du weißt, es gibt Zwischenzeiten, Zeiten, in denen ich langweilig bin, in denen du nichts mit mir anfangen kannst. Dann segle ich hinaus. Übrigens steht schon in der Bibel so was davon, daß die Frau zu Hause bleibt und der Mann vor den Toren berühmt ist.« »Dieses Tor merk dir, mein Kind«, meinte die Generalin, »das wird in deiner Ehe noch oft auftauchen.«
»Aber ich fahre mit«, meldete sich Wedig unten am Tisch. Seine Mutter sah ihn mitleidig an. »Du, mein armer Junge, nein, du bleibst zu Hause.«
Da ging eine seltsame Veränderung in dem Knaben vor. Sein bleiches Gesicht mit den kränklichen, zu feinen Zügen errötete, seine Augen füllten sich mit Tränen, und mit leidenschaftlich sich überschlagender Stimme begann er zu sprechen: »Ich bleibe immer zu Hause, ich darf nie etwas, ich hocke immer abseits, warum? Was ist mit mir? Bin ich ein Krüppel? Was sollen die Leute davon denken? Ich bin ja lächerlich. Gestern begegnete mir die Gräfin, ich grüße, sie bleibt stehen und fragt: ›Baden Sie auch?‹ Ich sage ja, aber ich kann ihr nicht sagen, ich darf nicht ins Meer hinein, ich nehme warme Seebäder.«
»Wedig, geh auf dein Zimmer«, sagte Frau von Buttlär. Wedig war wieder sehr bleich
geworden, er stand auf und ging, steifbeinig vor Trotz, hinaus. Am Tische entstand
ein Schweigen, alle waren über den Zwischenfall betroffen. Endlich sagte Frau
»Meine Liebe«, versetzte Herr von Buttlär und legte seine Hand zärtlich auf die Hand seiner Gattin, »die Genialität haben sie jedenfalls von dir.« Die Generalin lachte. »Nun ja«, meinte sie, »es ist das Wetter, das euch alle zu genial macht, aber das Barometer fällt Gott sei Dank.«
Tun, tun, hatte Hans Grill gesagt, und so fuhren sie denn mit Wardein bei Nacht auf
den Fischfang hinaus. Der Mond stand hoch am Himmel, das Meer war ruhig, nur von
einem sanften, langatmigen Auf- und Abschwellen bewegt, wie über ein gläsernes
Hügelland glitt das Boot hin. Wardein saß am Steuer und rauchte. Zwei blonde
rundköpfige Burschen, Mathies und Thomas, ruderten; unförmig in ihren dicken Jacken
bogen sie sich taktmäßig hin und her. Doralice war auf einem Klappstühlchen
eingerichtet worden, fest in Decke und Mantel gehüllt. Hans saß neben ihr auf der
Bank. Alle schwiegen, nur ab und zu gab Wardein ein Kommando, das wie ein tiefes
Brummen klang. Die Ferne war von einem feinen, silbernen Lichtnebel verhangen, aber
Doralice glaubte diese unendliche Weite zu fühlen, wie sie die dunkle Tiefe unter
sich zu fühlen meinte, und beide, die Tiefe und die Weite, legten sich bedrückend auf
sie, wie etwas, das ihr den Atem benahm, sie ängstigte, das ihr die Empfindung des
Verlorenseins und der
Im Boot begannen die Männer sich zu regen, das große Netz wurde vorsichtig in das
Wasser hinabgelassen, das andere Boot wurde angerufen und ihm ein Seil zugeworfen. Im
bewegten Wasser sprühte es wie silberne Flämmchen, im Netze hingen glitzernde
Tropfen. Mathies hatte sich die Hemdsärmel aufgestreift, um im Wasser zu arbeiten,
wenn er die nackten Arme emporhob, rann es silbern an ihnen nieder. Doralice wickelte
sich fester in ihren Mantel, alle Angst und Erregung waren fort, sie fühlte sich
sicher und behaglich. Eine leichte Müdigkeit machte ihr die Augenlider schwer und
wenn sie die Augen schloß, war es ihr fast wie als Kind, wenn sie in ihrem Bette lag
und im Halbschlaf noch die Erwachsenen um sich her hantieren oder sprechen hörte, was
dem Kinde stets ein wohliges Gefühl der Geborgenheit
»Gewiß, gewiß«, bestätigte Hilmar höflich, »eine kritische Stunde.« Da es schien, daß
Doralice schweigen wollte, schwieg auch er und zündete sich eine Zigarette an. Unter
der niedergebogenen Krempe seines Filzhutes sah sein Gesicht mit den scharfen,
gespannten Zügen, den schwarzen unruhigen Augen sehr bleich, fast kränklich aus. Es
war etwas Überfeinertes, Schwächliches an der ganzen Gestalt, das Doralice in diesem
Augenblick gefiel, das ihr das Gefühl gab, einen Kameraden der eigenen Schwäche zu
haben, und der süße Duft der ägyptischen Zigarette schien wie ein Stück Luft einer
Welt, die ihr befreundet war. Jetzt soll er weiter sprechen, dachte sie, daher
lächelte sie
»Nein, nein, es ist schon was daran«, erwiderte Hilmar, »es ist vielleicht traurig, es sollte vielleicht nicht sein, weil es nicht natürlich ist. Stibbe fühlt nichts davon, aber die große Natur macht uns betrunken und Trunkenheit greift an, was Sie, gnädige Frau, natürlich nicht wissen können.«
Doralice nickte: Ja, ja, so was mochte es wohl sein. »Und doch«, fuhr Hilmar fort, froh darüber, daß er zum Sprechen ermutigt wurde, »es ist nicht nur Trunkenheit, es ist – – es ist – geradezu eine große Verliebtheit, was wir dieser Natur gegenüber empfinden, ganz genau, es ist dieselbe Unruhe, dasselbe quälende Gefühl, ganz eng dazu zu gehören, und was die Hauptsache ist, der starke Wunsch zu imponieren, denn, wenn wir verliebt sind, wollen wir imponieren, das ist symptomatisch für den Zustand. Man hat ja seine Erfahrungen.«
»Sie sind ja auch verlobt«, schaltete Doralice ein.
»Gewiß, das auch«, fuhr Hilmar fort, »aber sehen Sie, gnädige Frau, vorhin im Boot war der Trieb in mir zu imponieren so stark, dem Meere zu imponieren oder den Fischern, gleichviel, denn die sind doch die Repräsentanten des Meeres, daß ich auf die Spitze des Bootes stieg und dort frei balanzierte. Ich bin in solchen Künsten ziemlich geübt. Meinen Zweck erreichte ich nun zwar nicht, denn Andree Stibbe sagte trocken: ›Wenn der Herr bei den Faxen ins Wasser fällt, wer anders muß ihn herausholen als wir.‹ Mein Effekt war verfehlt. Aber ich habe das tun müssen.«
»Das ist seltsam«, sagte Doralice nachdenklich.
»Nicht so seltsam«, meinte Hilmar, »der Spielhahn,
Doralice lachte: »Das ist hübsch, ja, ja, man möchte gern dabei sein, dazugehören.«
Hilmar verbeugte sich ein wenig: »Sie, gnädige Frau, sehen ganz aus, als gehörten Sie hier dazu. Sie sehen in dieser Natur vollständig reçue aus.«
Doralice errötete und ärgerte sich, daß sie das tat, Hilmar aber schloß mit einem Seufzer: »Ach ja, wenn alles so schön um uns her ist, fühlen wir ein brennendes Bedürfnis, auch dekorativ zu sein.«
Das Boot fuhr jetzt durch die Brandung über weiße Schaumhügel in graugrüne Wellentäler. Hans kam und setzte sich neben Hilmar auf die Bank. Er rieb sich die Hände und schien sehr vergnügt. »Das war eine Nacht, herrlich, herrlich, was sagst du, Schatz? Du frierst, was? Sie scheinen auch zu frieren, Baron, ja, so ein Morgen auf dem Meere! Zu Hause machen wir uns einen warmen Tee, der wird gut tun. Trinken Sie nicht mit uns eine Tasse, Baron? Nicht war, Schatz, du machst uns doch Tee?«
Doralice schaute Hans ein wenig verwundert an, sagte aber dann: »O gewiß.« Hilmar verbeugte sich.
Jetzt stieß das Boot auf den Sand, und man begann auszusteigen. Hans nahm Doralice auf den Arm und trug sie ans Land. Von den Dünen aber schossen mit flatternden Tüchern und Röcken wie gierige Möwen die Fischerfrauen auf die Boote zu.
In der Wohnstube eilte Hans zur Lampe, um sie anzustecken. »Nur kein Morgengrauen«,
sagte er.
Doralice schenkte die Tassen voll. Der heiße Dampf und der starke Duft des Tees schienen die Müdigkeit noch schwerer zu machen, alle schwiegen wieder eine Weile. Endlich seufzte Hans und sagte: »Immerhin ist es schade, daß man nach einer solchen Nacht eine Art Katzenjammer hat, den Katzenjammer der Weite. Das Land erscheint einem unerträglich eng. Dann ist es schon besser, seine Höhle dunkel zu machen und sich darin zu verkriechen.«
»Naturgesetz dieses Ab und Zu der Gefühle«, murmelte Hilmar zerstreut.
»Und doch«, fuhr Hans fort, »ich fühle eine seltsame
»Und erst ich«, unterbrach ihn Hilmar, »wenn ich eine Stunde Rekruten gelehrt habe sich wie Holzpuppen zu bewegen, wie soll ich da Befriedigung über ein Resultat fühlen?«
»Ach ja«, meinte Hans und gähnte, »es ist schade, daß das Leben so selten bar zahlt.«
Es entstand wieder eine Pause. Doralice war auf ihrem Sessel eingeschlafen, das Gesicht, sehr bleich mitten in den blauen Schatten des Morgens, erhielt von der friedlichen Hilflosigkeit des Schlafes eine wunderbar kindliche Schönheit. Die beiden Männer saßen jetzt ganz still da und schauten andächtig auf dieses schlafende Gesicht. Endlich erhob sich Hilmar, reichte Hans die Hand und flüsterte: »Ich gehe, die Sonne kommt.« Dann ging er leise hinaus.
Draußen war es schon taghell, über dem Horizonte schossen die ersten goldenen Strahlen empor. Hilmar ging sehr schnell, er wollte zu Hause sein, ehe die Sonne da war. Er wunderte sich über sich selber. Warum fühlte er sich elend? Die kleine Lolo hatte wohl recht, diese Frau war so schön, daß man traurig wurde, oder wie sagte doch der Maler: »Katzenjammer der Weite, in dem das Land und das Tageslicht uns eng scheinen«. Die arme kleine Lolo, Hilmar konnte nichts dafür, aber wenn er jetzt an sie dachte, schien es ihm, als habe sie etwas vom Lande und vom Tageslicht an sich.
Der Geheimrat von Knospelius kam zum Fünfuhrkaffee in den Bullenkrug. Behaglich saß er an dem langen Tisch auf der Veranda, über dem die Blätterschatten der rankenden Bohnen flirrten. Es duftete nach den Sträußen von Erbsenblüten und nach frischem Brot. Schmunzelnd schaute Knospelius auf die Reihe der jungen Gesichter am unteren Ende des Tisches. »Familienmahlzeit, Familientisch«, sagte er zur Generalin und sein langer Mund sprach diese Worte aus, als schlürfte er eine Auster. »Das ist für mich ein seltener, aber exquisiter Genuß. Bei meiner Schwester in Thüringen habe ich zuweilen diesen Genuß. Eine Familienmahlzeit hat etwas Sakramentales. Sie ist, möchte ich sagen, das Fundament der Familie. Solange es mit der Familienmahlzeit gut steht, kann es mit der Familie nicht schlecht stehen.«
»Nun,« meinte die Baronin Buttlär, »wir haben Gott sei Dank noch andere Fundamente.«
»Mein Schwager«, fuhr der Geheimrat fort, »sagte zu meiner Schwester: ›Karoline,
sollte ich vormittags sterben, so ist gar kein Grund, daß an dem Tage nicht ebenso
pünktlich gegessen wird wie sonst, sonst wird die Verwirrung nur erhöht.‹ Nicht wahr,
ganz wie auf den großen Passagierdampfern, denen was zugestoßen ist und auf denen bis
zum äußersten Augenblick das Diner regelrecht serviert wird. Es ist gleichsam das
Symbol der moralischen Ordnung.« Der Baron Buttlär nickte ernst und sagte: »Ja, die
Familie überhaupt sei doch die Grundlage des Staates, die Familie und der
Grundbesitz«, und er brachte das Gespräch allmählich auf Steuern und auf Branntwein.
Allein der Geheimrat ging nicht darauf ein, er wollte
Zufrieden über seine Auseinandersetzung schaute er Nini an, die darüber errötete.
»Was Sie da sagen, liebe Exzellenz«, bemerkte die Generalin, »ist gewiß sehr klug, aber mit der Religion scheint es dabei denn doch auch ein wenig unklar zu stehen.«
Knospelius zuckte mit seinen zu hohen Schultern: »Nun, deshalb hat der Staat mich vielleicht zum Rechnen und nicht zum Predigen eingesetzt. Aber ich komme auf mein Fest zurück, da ist nämlich ein kleiner Umstand zu erwähnen. Da ist das Ehepaar Grill. Ich kann es nicht vermeiden, dieses Ehepaar einzuladen. Ich hoffe, es wird niemanden stören.«
»Allerdings,« meinte die Baronin Buttlär und zog die Augenbrauen empor, »dieses
Ehepaar scheint für
Knospelius lachte. »Schicksal, sehr gut. Nun, diese kleine Frau ist kein grausames Schicksal. Und dann, wenn wir die Vergangenheit auf sich beruhen lassen, jetzt sind die Verhältnisse ja korrekt. Sie haben sich in London trauen lassen.«
»So? In London«, bemerkte die Generalin, »davon hört man jetzt oft, eine neue Erfindung. Es scheint, daß in London die Trauungen schneller gemacht werden, auch so moderne Fabrikware.«
Knospelius zuckte die Achseln. »Hausarbeit, meine Gnädige, wird eben selten. Ich darf also annehmen, daß mir meine Grills zugestanden sind.«
Die Baronin Buttlär lehnte sich in ihren Stuhl zurück und seufzte: »Ich sage nichts. Achtung vor der Londoner Trauung habe ich nicht und die Vergangenheit kann ich nicht auf sich beruhen lassen. Aber es scheint, daß das altmodische Ansichten sind.«
Der Baron Buttlär ärgerte sich darüber. »Liebe Bella«, sagte er gereizt, »du mußt zugestehen, daß diese Leute uns bisher nicht belästigt haben, einen Gruß, einmal ein freundliches Wort und dann schließlich so ein Landpartienverkehr –«
»Landpartienverkehr, bravo!« rief der Geheimrat, »das ist das Wort, da haben wir die Formel. Die Hauptsache ist, für jede Lebenslage eine Formel zu finden, das andere findet sich dann schon. Also mein Fest ist gesichert. Ich darf die Herrschaften morgen nachmittag erwarten. Im Birkenwäldchen, bei der Zibbe Waldhüterei. Das Meer ist ausgeschlossen, denn das Meer ist nicht gemütlich. Sie werden sehen, es wird alles sehr harmonisch verlaufen.« Und vergnügt rieb er sich die langen, bleichen Hände.
Klaus servierte den Kaffee, sehr korrekt in einen schwarzen Rock geknöpft, ernst und traurig. Die Unterhaltung wollte nicht recht in Gang kommen; man sprach von Birken im allgemeinen, dann sprach der Baron Buttlär von Branntwein und Monopol; Hilmar saß einsilbig und zerstreut neben Lolo und machte Ringe aus dem Rauch seiner Zigarette. Mücken tanzten im roten Sonnenstrahl und der Duft des warmen Heidekrautes und der warmen Birkenblätter machte die Menschen schläfrig. Wedig gähnte und äußerte zu Nini: »Nun könnten sie auch kommen.«
»Wen erwartest du?« fragte die Baronin Buttlär streng. Allein es war klar, alle
empfanden dies Beisammensitzen nur als Vorspiel. Nun und dann kamen sie den Hügel
herauf, Hans voran, gefolgt von Doralice, die bleich und ernst war. Sie hatte nicht
kommen
»Schönes Wetter«, sagte die Generalin, »es ist gut, daß Sie sich auch herausgemacht haben. Wir sehen Sie immer baden, Sie schwimmen mir ein bißchen zu kühn.« Während die Generalin mit ihrer mütterlichen Stimme unbefangen fortplauderte, schwiegen die anderen, die Baronin Buttlär errötete, Fräulein Bork lächelte verzückt und die beiden Mädchen richteten ihre grellen braunen Augen unverwandt auf Doralice, öffneten die Lippen, man sah es, die Bewunderung für die schöne Frau benahm ihnen ein wenig den Atem. Dann mischte der Baron Buttlär sich plötzlich in die Unterhaltung, munter und galant. Er wandte sich ausschließlich an Doralice und sprach ziemlich unvermittelt von Paris und dem Bois de Boulogne. Auch Hilmar wurde lebhafter, er erzählte Nini und Lolo etwas, machte sie lachen; er legte Wert darauf, daß es an seiner Ecke lustig zuging. Der Geheimrat, der sich mit Hans unterhielt, blickte zufrieden auf die Gesellschaft, in die jetzt Leben zu kommen schien.
Hinter den Birken erscholl eine dünne, hüpfende
»Sehr hübsch«, sagte Knospelius zur Generalin, während er das Bild vor sich mit einer fast gierigen Aufmerksamkeit betrachtete; »das muß Stimmung in die Gesellschaft bringen. Nichts taugt besser dazu als der Tanz. Man spricht nicht, man denkt nicht, man verständigt sich mit den Füßen, das löst die richtige Elektrizität aus.«
»Was für eine Verständigung, was für Elektrizität?« meinte die Generalin. »Ich freue mich, wenn die Jugend heiter ist, aber Ihre Verständigungen und Elektrizität brauchen wir nicht.«
»Und dann«, fuhr der Geheimrat sinnend fort, »ich habe bemerkt, wenn in unsere
Gesellschaft mal ein fremdes Element kommt, ein outsider, das wirkt erregend wie
Zitronensäure auf Soda. Ein jeder sieht im Fremden ein Publikum. Aha! Der Baron tanzt
mit unserer Frau Gräfin. Wie siegesgewiß er
»Ihre kleine Köhne«, versetzte die Generalin, »ist soweit ein liebes und nettes Ding. Schade um sie.«
»Wieso schade?« fragte Knospelius. »Es wird jetzt vielleicht etwas Wertvolleres aus ihr, als der alte Köhne je gemacht hätte.« Aber die Generalin wollte davon nichts wissen. »Ach, liebe Exzellenz, unsere Frauen, wenn die mal so ganz offen aus Reih und Glied treten, dann finden sie auch keinen Halt mehr. Das ist so wie bei dem Kettenstich auf der Nähmaschine; trennen Sie einen Stich auf, dann geht die ganze Naht los.«
Der Geheimrat lächelte: »Das spricht nicht für den Kettenstich. Aha! Es kommt zur Quadrille, sehr gut. Der Walzer hat Stimmung gemacht. Sehen Sie doch, wie ausdrucksvoll, wie vielsagend die Beine der Herren geworden sind.«
Die Quadrille war allerdings sehr lebhaft. Hilmar tanzte mit Doralice, ihnen
gegenüber Lolo mit ihrem Vater. Doralices Gesicht war ganz rosa und sie lachte, wenn
sie mit Hilmar im carrière, wie er sagte, über den rotbeschienenen Sand hinliefen.
Das Tanzen, diese Menschen, all das gab Doralice das Gefühl, als stünde sie wieder in
jener Welt, die sie jetzt ein Jahr schon nur noch aus ihren Träumen kannte. Sie
vergaß, daß sie hier fremd war, und genoß es gedankenlos lustig zu sein wie einst auf
den Gesellschaften, wenn sie sich von ihrem Gemahl nicht beaufsichtigt fühlte. Und
welch ein handlicher, bequemer Kamerad der Lustigkeit war doch so ein Leutnant, man
tanzte mit ihm so selbstverständlich bequem, als hätte man das ganze Leben schon
miteinander getanzt. Man sprach und lachte mit ihm so mühelos, als hätte man
»Grand rond, s'il vous plaît«, schnarrte Hilmar. Man faßte sich bei den Händen, in der Abendsonne schien es, als erröteten alle Gesichter, dann kam die Promenade, von Hilmar angeführt, eine wilde Promenade zwischen den Birkenstämmen hindurch, über das Heidekraut hin.
»Unser Leutnant steht auf der Höhe seiner Aufgabe«, sagte Knospelius, »aber die Stimmung darf nicht verrauchen. Jetzt muß gleich gesungen werden, ein Volkslied, etwas ganz Herzbrechendes natürlich.«
Als die Quadrille zu Ende war und alle wieder auf den Polstern saßen, war die Sonne untergegangen, unter den Bäumen begann es schnell zu dämmern, von der Seeseite kam ein Wehen, fuhr in die Birken und ließ sie erregt flüstern. Unten aber rauschte das Meer jetzt lauter. Knospelius erhob sich, streckte seinen langen Arm aus, schlug den Takt und stimmte mit lauter gefühlvoller Stimme an:
»Mei Mutter mag mi nit
Und kei Schatz hab i nit.
Ei, warum sterb i nit
Was tu i denn?«
Alle sangen mit, selbst die Generalin, die Mädchen falteten die Hände im Schoß,
schauten mit den blanken Augen gerade vor sich hin und ließen ihre scharfen
Sopranstimmen klagend in die Dämmerung hinausschallen. Doralice tat es auch wohl,
sich von der eigenen Stimme in ein weiches, gedankenloses Behagen wiegen zu lassen.
Ja gedankenlos, denn sie spürte es wohl, da waren so einige kleine widerwärtige
Gedanken, die nur darauf lauerten hervorzukriechen. So der Gedanke an die verlegene
und
»Meine Tochter und mich lassen Sie hier«, meinte die Generalin, »ich bin alt und habe daher häufig gesehen, wie der Mond aufgeht.«
»Wie's beliebt«, erwiderte der Geheimrat, »obgleich ich glaube, daß mein Mond etwas
Besonderes ist. Also wenn ich bitten darf, meine Herrschaften.« Er übernahm die
Führung mit Fräulein Bork. Sie mußten einen Hügel hinansteigen. Der Baron Buttlär
ging neben Doralice her, er sprach mit weicher, singender Stimme von dem Frieden der
abendlichen Natur, von den Mühen und Sorgen der Landwirtschaft. Ach die
Landwirtschaft war ja jetzt eine Industrie und die Poesie hatte in ihr wenig Raum.
Aber wenn er, Buttlär, zuweilen abends auf seine Felder hinausging, mit seinen
Feldfrüchten allein war, dann fühlte
Doralice und Hilmar sprachen von gleichgültigen Dingen, sie sprachen von Pferden, vom Reiten, aber ihre Stimmen nahmen einen ruhevollen vertraulichen Klang an, wie es Stimmen an Sommerabenden gern tun. »Und bei dem letzten Rennen sind Sie gestürzt, nicht wahr?« fragte Doralice, »der Baron Buttlär sprach davon.«
»Ja, ach ja«, erwiderte Hilmar, »die, welche es verstehen, stürzen nicht, die kennen
die Leistungsfähigkeit ihrer Pferde, nehmen vorsichtig die Hindernisse, gehen sicher
durchs Ziel. Natürlich war es meine Schuld. Aber ich muß gestehen, der Genuß, das
Erhebende an der ganzen Chose ist gerade der Augenblick, in dem ich merke, daß alles
Vernünftige von mir abfällt, das Blut singt einem in den Ohren, alles in einem ist
kochend heiß und zittert, etwas in uns, das sonst offenbar in einem Käfig eingesperrt
zu sein pflegt, kommt dann los. Sehen Sie, in solchen
Sie waren stehengeblieben, Doralice schaute vor sich nieder und dachte: Wovon spricht er denn mit dieser leisen, heißen Stimme, ja so, er spricht von Pferden, und plötzlich mußte sie an Hans Grill denken, wie er einmal drüben im Schlosse zu ihr so begeistert von seiner Kunst gesprochen hatte, daß sie sich sagte: Jetzt spricht er nicht mehr von seiner Kunst, jetzt spricht er von mir. Hinter ihnen lachte jemand, es waren Nini und Wedig, die den Hügel heraufkamen. Doralice wandte sich lebhaft ihnen zu. »Ach,« sagte sie, »kommen Sie, wir wollen zusammen den Abhang hinunterlaufen.«
Sie legte den einen Arm auf Wedigs Schultern, den anderen auf Ninis und so liefen alle drei den Hügel hinab. Hilmar schaute ihnen nach, dann blickte er zum Monde auf und verzog seltsam sein Gesicht. Als dann auch die anderen kamen, trat er ein wenig zur Seite, um sie vorüberzulassen, um sich nicht ihnen anzuschließen. Lolo ging zwischen ihrem Vater und Hans Grill einher; sie schienen von Malerei zu sprechen, denn der Baron Buttlär sagte: »Nein, die moderne Malerei läßt mich kalt. Es mag altmodisch sein, aber ich bin für Raffael.«
Ihnen folgten der Geheimrat und Fräulein Bork. Fräulein Borks Stimme klang sehr
lyrisch in die
»Meine Gnädige!« erwiderte Knospelius, »Trübsal blasen wir wohl alle mitunter, aber Konzerte damit zu geben ist nicht empfehlenswert.«
Hilmar blieb zurück, Lolo hatte sich nach ihm umgeschaut, aber hatte nichts gesagt. Er wartete eine Weile, dann ging er ihnen langsam und sinnend nach. Unten im Wäldchen fand er die Birken voll bunter Papierlaternen, viel farbige sich sacht wiegende Lichter. Klaus reichte Sandwichs umher, trug eine Bowle auf und füllte die Gläser. Hilmar sah sich im Kreise um, ging gerade auf Doralice zu und setzte sich neben sie. Sein Gesicht hatte dabei einen düsteren, eigensinnigen Ausdruck. Knospelius rief nach seinen Kolombinen, dann saß er zwischen den beiden Mädchen, schüttelte behaglich seine Schultern wie ein Frierender, der sich eine warme Decke über die Knie zieht. »Meine lieben Gäste«, rief er und erhob sein Glas, »auf Ihr Wohl! Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, jetzt bitte ich zu trinken, dann wollen wir noch die Lorelei singen und endlich eine Mondscheinquadrille tanzen.«
»Wie wissenschaftlich er uns behandelt«, sagte Hilmar zu Doralice. »Er kandiert uns nach allen Regeln.«
Doralice wollte etwas erwidern, aber der gespannte, fast zornige Ausdruck auf seinem
Gesichte überraschte sie und sie schwieg. »Ach,« fuhr Hilmar fort, »bei mir hat er es
leicht, ich bin gegen die Wirkungen einer Sommernacht wehrlos. Nun, Soldaten sind
immer sentimental, aber bei mir war es von jeher so. Ich erinnere mich, daß, wenn ich
als Kind aus der Sommernacht hereingeholt wurde, um zu Bett zu gehen, ich wie toll
heulte. Wenn meine Mutter mich
»Das verstehe ich«, meinte Doralice, »so geht es mir jetzt noch, wenn wir abends vom Spaziergange nach Hause kommen und Agnes steht da mit der Lampe, dann ist mir auch zuweilen so, als könnte ich weinen.« Hilmar lachte grimmig: »Ich begreife, daß man in solchen Augenblicken diese Agnes erwürgen könnte.«
»O nein«, wehrte Doralice, »Agnes ist eine gute alte Frau, aber in solchen Augenblicken steht deutlich auf ihrem Gesicht zu lesen: Was sind Sie denn so glücklich, es wird gleich wieder alles unangenehm und widerwärtig sein.« Hilmar beugte sich vor, um Doralice in das Gesicht zu sehen mit Augen, auf deren pechschwarzem Grunde ganz winzig sich eine rote Laterne spiegelte, ein blutroter Punkt.
»Und diese Agnesen haben recht«, sagte er leise, »es wird gleich wieder alles unangenehm und widerwärtig und daher ist es eine Dummheit, wenn wir wissen, daß da irgendwo ein kleiner glücklicher Augenblick zu haben ist und wir irgend etwas anderes tun, als diesem Augenblick nachzujagen.«
Doralice lehnte sich in den Schatten zurück, um aus dem Bereich der schwarzen Augen zu kommen, die ihr wehtaten, und fragte, um etwas zu sagen: »Sie waren als Kind allein?«
»Ja,« erwiderte Hilmar, »ich bin das einzige Kind meiner Eltern. Es hätte
melancholisch sein können. Vor dem Schlosse ging ein Fluß vorüber, der immer sehr
voll von einem trüben grünlichen Wasser war; dort schnalzten in der Dämmerung die
Fische und
»Das muß köstlich gewesen sein«, wiederholte Doralice sinnend. »Ich war an Sommerabenden in unserem Garten immer allein.«
»Schade,« rief Hilmar, »daß ich damals nicht zu Ihnen kommen konnte, auch so als kleiner Dämmerungsteufel.«
– »Das wäre lustig gewesen«, meinte Doralice, »ich glaube, ich wartete damals immer auf so etwas.«
Jetzt stimmte Knospelius die Lorelei an. Er nahm das Tempo sehr getragen, als wollte er, daß die Seelen seiner Gäste ganz hinschmölzen in den klagenden Tönen. Kaum war das Lied zu Ende, trieb er zur Quadrille; die Harmonika und die Geige begannen zu spielen; Hilmar bot, als verstünde es sich von selbst, Doralice den Arm; der Tanz begann auf dem freien Platz unter den Bäumen. Die hellen Frauengestalten aus dem unsicheren Lichte der bunten Laternen in einen Streifen hellen Mondscheins hinein wurden plötzlich durch einen tiefen Schatten ausgelöscht, um dann wieder aufzutauchen. Knospelius hatte seinen Kneifer aufgesetzt und betrachtete aufmerksam, als säße er in seiner Theaterloge, das Schauspiel.
»Bitte, zu beachten«, sagte er zu der Generalin, »eine Mondscheinquadrille wird anders getanzt als eine Sonnenuntergangsquadrille. Die Bewegungen der Damen sind weicher; da ist so was von angenehmer Mattigkeit drin, ganz wie die Musselinkleider, die auch abends so eine angenehme Welkheit bekommen.«
»Nein, nein, alle«, meinte Knospelius, »ich muß eben die Stimmung meiner Gäste studieren. Auf einem Feste darf nie der Augenblick kommen, in dem die Gäste fühlen: bei allem, was wir hier tun, ist doch nichts dahinter.«
»Was soll denn dahinter sein?« rief die Generalin; »das liebe ich gar nicht, wenn hinter allem etwas stecken soll, wozu? Ich hatte eine Tante, die war verrückt. Wenn man gemütlich beisammensaß, pflegte sie zu sagen: Es ist aber doch noch einer im Zimmer, von dem ihr nichts wißt; das war sehr unheimlich.«
»Nein, es steckt nichts dahinter«, sagte der Geheimrat beruhigend, »ich meine nur, es ist nicht sehr unterhaltend, gerade daran zu denken. Aber was ist denn das? Eine Stockung.«
Er sprang auf, um zum Tanzplatz zu eilen; dort drängten sich alle auf einem Fleck
zusammen und am Boden, hell vom Monde beschienen, lag Lolo bleich mit geschlossenen
Augen. Man rief nach Wasser, Fräulein Bork brachte Riechsalz. Was war geschehen? Eine
Ohnmacht. Lolo hatte mit Hans Grill getanzt und war ganz still umgesunken. Als sie
wieder ein wenig schwankend, sehr weiß im Gesichte, dastand, auf ihren Vater und
Hilmar gestützt, organisierte die Generalin eilig den Rückzug, Lolo, von den beiden
Herren geführt, voran, die anderen folgten, man nahm sich kaum Zeit, ein
Abschiedswort an den Geheimrat zu richten, und die Baronin Buttlär konnte es nicht
lassen, halblaut vor sich hin zu schelten: »Ich habe mir gleich gedacht, daß nichts
Gutes dabei herauskommt.
»Fatal,« sagte der Geheimrat, als er mit Hans und Doralice allein war, »nun, es wird nichts zu bedeuten haben. Hübsch sah es übrigens aus, wie die Kleine da so weiß im Mondschein lag. Nerven. Eine Familienverlobung ist immer etwas Gewaltsames. Ein streng behütetes Mädchen, das nicht einmal einen Roman lesen darf, wird eines schönen Tages einem Leutnant ausgeliefert. Studiere die Liebe, heißt es. Ja, das richtet aber in der Seele solch einer kleinen Familiencolombine zuweilen merkwürdige Verwirrungen an. Na, gleichviel, c'est la vie. Ich danke Ihnen, meine Herrschaften, daß Sie gekommen sind, Sie waren die Königin des Festes, gnädige Frau, natürlich.« Er küßte Doralicens Hand und man trennte sich.
Auf dem Heimwege sprach Hans heiter und eifrig auf die schweigsame Doralice ein. Er freute sich, daß sie sich unterhalten hatte; denn sie hatte sich unterhalten, das hatte er wohl gesehen. »Schön, schön. Teufel, hatten die Herren um sie her Mondscheinaugen gemacht, alle, vom Familienvater bis zum Gymnasiasten. O bitte, bitte.« Sie blieben einen Augenblick stehen, um auf das mondbeschienene Meer hinauszublicken. Hans öffnete seinen Mund, atmete tief. »Weite einatmen«, meinte er, »dort unter den Bäumen war es ein wenig eng, auch die Leute dort ein wenig eng, nicht?«
Zu Hause ging Hans in sein Zimmer. Doralice hörte ihn hin und her gehen, den Kasten
aufschließen, Stiefel werfen. Sie saß in ihrem Sessel und starrte in das Licht, lebte
in Gedanken mechanisch das eben Erlebte weiter, die Glieder ein wenig matt von der
»Ich fahre noch mit Wardein auf den Fischfang hinaus«, sagte er, »für dich ist das nichts, du bist zu müde.« Er küßte Doralice auf die Stirn. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Hans.« Doch als er schon an der Tür war, sagte Doralice: »Du, Hans!« Er wandte sich um: »Was gibt es?«
»Du, Hans, bist du eigentlich böse?«
»Nein, warum?« erwiderte er. Dann kam er wieder an den Tisch heran. Im Schein der Lampe sah Doralice, daß er errötete. »Nein, ich bin nicht böse. Warum sollte ich böse sein? Vielleicht weil die da sich möglicherweise in dich verlieben? Das ist ihr Recht. Das ist erklärlich. Aber das kann doch an uns nicht heran.« Und er klopfte mit den Knöcheln seiner Hand auf den Tisch. »Nein, das wirst du nicht erleben, daß ich knurrend um dich herumgehe. Mir würde vor mir selber ekeln. Wenn du mein bist, weil ich jedem, der mir nahekommt, die Zähne zeige oder weil ein anderer mir nicht beizeiten die Zähne gezeigt hat, dann bist du überhaupt nicht mein – und ich will eine Frau, die mich liebt und nicht eine Beute – und – ich denke, wir gehorchen reineren Gesetzen – und – es ist auch gar nichts geschehen, warum sollte ich böse sein?«
Doralice zog die Augenbrauen empor, sie machte, wie Hans Grill es nannte, ihr Damengesicht und sagte leichthin: »Oh, dann ist es gut, ich wollte nur wissen, gute Nacht also, Hans.«
Doralice schaute noch immer in das Licht. Also, er war doch böse, dachte sie, sonst wäre er nicht so beredt gewesen. Und es war gut so, es beruhigte sie. Wenn man geliebt wird, will man festgehalten, will man bewacht werden. Diese reinen Gesetze, was ist das? Wahrscheinlich wieder diese ewige Freiheit, von der Hans zu sprechen liebte. Jetzt wollte sie schlafen gehen, wollte in der Dunkelheit noch ein wenig von all dem träumen, was der heutige Abend in ihr aufgeregt hatte. Das war vielleicht etwas wie ein Verrat an Hans, aber warum ließ er sie mit ihren Träumen allein?
Knospelius stand im Strandwächterhäuschen am Fenster, ein Opernglas vor den Augen,
und schaute auf den Strand hinab. Er liebte es zu beobachten, wie dort auf dem gelben
Sande die bunten Figürchen hin- und hergingen, sich suchten, sich trafen, beieinander
standen, sich wieder trennten. »Wo die Skorpionen gehen und die Feldteufel sich
begegnen«, zitierte er den Propheten. Der Himmel hing voller Wolken, die das
Morgenlicht dämpften und versilberten. Das graue Meer schillerte wie die Brust eines
Täuberichs. Mitten in dem farbigen Wasser stand Ninis schmale rote Gestalt und die
Baronin Buttlär ging am Strande auf und ab und beobachtete das
Jetzt aber litt es Knospelius nicht mehr an seinem Fenster; er mußte hinunter, mußte mittun. Hinter ihm stand Klaus und hielt schon Hut und Stock. Als der Geheimrat seinen Hut nahm, schaute er zu Klaus' ernstem Gesicht hinauf und sagte: »Sie denken wohl, die da unten sind alles Sünder.«
»Wir sind alle Sünder, wenn Exzellenz gestatten«, erwiderte Klaus, ohne die Miene zu verziehen.
Klaus zuckte kaum merklich mit den Schultern: »Die einen fürchten sich nicht davor Sünder zu sein und wir anderen fürchten uns davor.«
»So, so, ich verstehe«, versetzte der Geheimrat und ging zum Strande hinab.
Unten machte er sich eifrig an das Begrüßen der Anwesenden, ging zu der Gruppe der Generalin, fragte, wie man geschlafen hatte, nannte Lolo »unsere tragische Kolombine«, wandte sich dann zu Hilmar und Doralice, die noch beieinander standen, rieb sich die Hände, tat, als sei er der Hausherr des Meeres und habe seine Gäste zu begrüßen. Er winkte Hans Grill zu, der langsam heranschlenderte. »Guten Morgen, Meister, was? heute nacht auf Fischfang und jetzt wieder bei den Booten, das heißt ja im Schweiße seines Angesichts leben.« Ja, Hans Grill wollte hinausrudern, er lachte: »Das Meer hat mich jetzt, wenn ich nicht was mit ihm zu tun habe, werde ich unruhig. So was wie Säuferdurst. Fährst du mit, Doralice?«
Nein, Doralice wollte nicht mitfahren, das Meer war ihr heute zu grau, sie wollte zu den Birken hinaufgehen und im Heidekraut liegen.
»Aha,« meinte Knospelius, »ich verstehe, graues Meer ist für Ihre Seele heute sozusagen nicht die richtige Toilette. Nehmen Sie mich mit, Meister, meine Seele paßt zu jedem Meer.«
Aus den anderen Gruppen wurde nach Hilmar gerufen, Nini hatte ihr Bad beendet und man
wollte nach Hause gehen. Aber Lolo winkte ihm zu. »Bleibe nur, du willst segeln, auf
Wiedersehen.« Etwas unschlüssig blieb Hilmar zurück, schaute der abziehenden
Er fand Doralice im Heidekraute sitzend, den Rücken gegen den Stamm einer Birke gelehnt, das Buch lag aufgeschlagen auf ihrem Schoß, sie schaute nicht hinein, sondern bog den Kopf zurück und blinzelte mit halbgeschlossenen Augen zu den Wipfeln der Birken hinauf, das Gesicht ruhig wie das Gesicht eines Menschen, der einem Schlummerliede lauscht und darauf wartet, daß der Schlaf komme. Und rings um sie her klang das unablässige und eifrige Schrillen der Feldgrillen. Hilmar räusperte sich leise. Doralice schaute auf. Sie war nicht besonders überrascht, sie zog nur leicht die Augenbrauen empor und sagte: »Oh, Sie sind es. Sind Sie mir hierher nachgekommen? Sie wollten ja segeln.«
Hilmar war etwas befangen. »Ja, – hm, ich bin Ihnen hierher nachgekommen. Sie gestatten doch,« und er setzte sich auf einen Baumstumpf Doralice gegenüber. »Mit dem Segeln war es nichts. Da Sie nicht auf dem Meere waren, schien das Meer mir so sinnlos.«
Hilmar errötete. »Unsinn,« meinte er. »Mir ist gewiß nicht höflich zumute, aber gleichviel, ich kam herauf, weil ich glaubte, daß Sie sich langweilen würden.«
»Ja, warum glaubten Sie, daß ich mich langweilen würde?« fragte Doralice.
»Nun, weil«, sagte Hilmar, »weil ich sah, daß Sie nur dieses Buch da mit hatten und ich annahm, daß an diesem schwülen, etwas traurigen Tage das Schicksal der Miß mit den zu rosa Wangen und zu goldenen Haaren, die sich einen ganzen Band darüber kränkt, daß sie sich in einem Park von einem Herrn hat küssen lassen, Sie auch traurig stimmen würde.«
Doralice lächelte matt.
»Sollen wir nicht eine Zigarette rauchen?« schlug Hilmar vor. Ja, Doralice nahm eine Zigarette an, ließ sich Feuer geben und dann rauchten beide und schwiegen und hörten dem Schrillen der Feldgrillen zu. Endlich bemerkte Doralice: »Sie wollten mich ja unterhalten?«
»Ja, ach ja«, erwiderte Hilmar zögernd, als ließe er sich nur ungern im ruhigen Betrachten der hellen Gestalt vor sich stören. »Aber es gibt Lebenslagen, die so wohltuend sind, daß man sie mit Sprechen nur verdirbt. So hätte ich es als Knabe für eine Entweihung gehalten zu sprechen, während ich einen Kirschkuchen aß.«
Doralice lächelte nicht darüber. Eine seltsame Erregung machte plötzlich ihre Augen
klar und bog die
Hilmar schlug sich mit der flachen Hand auf das Knie: »Ich sagte es gleich, an solch einem verdächtig grauen Tage allein im Heidekraut zu liegen tut nicht gut. Zu sagen? Eine Welt habe ich Ihnen zu sagen, die unerhörtesten Dinge. Da brauchen wir nicht davon zu sprechen, wie es der Baronin Marowitz geht und wel che Liaison die Gräfin Patky jetzt hat, aber, wenn Sie wollen, können wir auch davon sprechen.«
Doralice schien ihm nicht recht zuzuhören, sie blickte an ihm vorüber, lauschte ihrem eigenen quälenden Gedanken. »Und,« begann Sie, »was sagen sie dort von mir – die anderen.«
»Nichts!« rief Hilmar ungeduldig. »Was sollen sie sagen? Sie sprechen nicht mehr davon.«
»Sie sprechen nicht mehr davon«, wiederholte Doralice. »Ich bin also wie eine, die gestorben ist und die vergessen wird.«
»Wie man das macht, Sie zu vergessen«, höhnte Hilmar.
Doralice sann einen Augenblick vor sich hin, bleich und kummervoll, dann fragte sie leise: »Kennen Sie den Friedhof am Meer?«
Nein, Hilmar kannte ihn nicht, er interessierte sich nicht besonders für Friedhöfe.
»Der Geheimrat hat ihn mir gezeigt«, fuhr Doralice fort, »ein Friedhof, von dem das
Meer große Stücke fortspült. Die Särge und die Toten ragen aus dem Sande heraus.
»Das kleine Ungeheuer«, rief Hilmar, »warum zeigte er Ihnen das? Er will, daß Sie sich fürchten.«
»Vor dem Totsein würde ich mich sonst nicht fürchten«, meinte Doralice, »man braucht ja vielleicht nicht da zu sein. Nur daß das Totsein so furchtbar nach Alleinsein klingt, und – ich kann nicht allein sein.« Sie saß da, ein wenig aufgerichtet, die eine Hand in das Heidekraut gestützt, ihr Gesicht war ernst, obgleich die Lippen jetzt lächelten; ein unendlich einsames, frierendes Lächeln und die Augen füllten sich mit Tränen.
»Sie weinen«, stieß Hilmar hervor. Eine plötzliche Ergriffenheit würgte ihn wie ein Schmerz: »Sie dürfen nicht allein sein.« Er glitt von seinem Sitz in das Gras nieder, lag ausgestreckt da, wie einer am Bachrande sich ausstreckt, um zu trinken, und drückte seine Lippen auf Doralicens Hand, die im Heidekraut ruhte. Einen Augenblick blieb diese Hand unbeweglich, dann wurde sie fortgezogen, eine leichte Röte stieg in Doralicens Gesicht und ihre Stimme war wieder wach und lebensvoll, als sie sagte: »Was tun Sie da, stehen Sie doch auf. Ich bin ja gar nicht allein.«
Hilmar richtete sich auf, er kniete jetzt im Heidekraute, jede Linie seines Gesichts und seines Körpers schien gespannt von übergroßer Erregung. »Sie und allein sein. Jeder Augenblick, den Sie allein sind, ist eine furchtbare Verschwendung für einen – für einen von uns anderen. Das weiß ich jetzt. Aber das Leben ist ja reich an solch wahnsinniger Verschwendung. Was ist denn unser Leben anders, als ein beständig dummes Versäumen der ganz kostbaren Augenblicke.«
Hans wartete schon ungeduldig auf Doralice. Mit großen Schritten ging er um den gedeckten Mittagstisch herum und schalt leise vor sich hin ... »Ich komme zu spät, bist du böse?« sagte sie, als sie eintrat. Er lächelte gutmütig: »Ja, ich war sehr böse, aber jetzt, wo du da bist, hat das keinen Sinn mehr. Agnes! die Suppe. Ich habe einen Hunger, komm, setzen wir uns.« Agnes brachte die Suppe, sehr ernst, denn sie hatte Doralicens Zuspätkommen nicht verziehen. Sie füllte die Teller und stellte sich dann wie jeden Tag neben dem Tische auf, um aufmerksam zuzusehen, wie Hans aß.
»Nun also«, begann Hans gut gelaunt die Unterhaltung, »wie war deine Einsamkeit oben im Heidekraute?«
»Hübsch war es dort«, antwortete Doralice, »der Baron Hamm kam vorüber und plauderte einen Augenblick.«
– »Ah!« Hans schien ganz von seiner Suppe hingenommen. »Was sagte er denn?«
»O nichts!« meinte Doralice, sie könnte ja erzählen, was sich dort droben zugetragen,
dachte sie, aber wozu, Hans würde doch nur sagen, das reiche nicht an sie
»Ja, belehrend sind sie natürlich nicht«, bemerkte Doralice ein wenig gereizt.
»Nein, das verlange ich auch nicht«, sagte Hans beruhigend. »Ich greife die Leute übrigens nicht an. In ihrer Art sind sie gewiß nette, kluge Leute, man muß sich vielleicht an ihre Art gewöhnen.«
Doralice erwiderte nichts; es ärgerte sie, daß er plötzlich den Abgeklärten und Gerechten spielte. Warum schalt er nicht drauf los wie früher? Agnes nahm die Teller und ging hinaus, um das Brathuhn zu holen.
»Muß Agnes hier stehen und bewachen, wie du ißt?« fragte Doralice.
»Stört dich das?« sagte Hans. »Ich müßte vielleicht sagen, daß sie es läßt, aber ich fürchte, es ist die größte Freude ihres Lebens, mich essen zu sehen.« – »O dann«, meinte Doralice und nachdenklich fügte sie hinzu: »Mich liebt sie nicht, sie sieht nie hin, wie ich esse.« Hans lachte: »Die arme Agnes braucht eben ihre ganze Liebesfähigkeit für mich auf, aber sie wird doch fest zu dir halten, wie zu allem, was mir gehört. Sie ist wie ein Hund, dem der Stock seines Herrn auch nicht sympathisch ist und der ihn doch bewacht und verteidigt.«
»Es ist nicht besonders angenehm, dein Stock zu sein«, bemerkte Doralice. Dann kam
Agnes zurück und brachte das Huhn. Die Unterhaltung geriet ins Stocken. Doralice
fragte nach der Bootfahrt und
»Wie bist du denn?« Doralice schaute neugierig auf.
»Es scheint, ich bin sehr gut«, berichtete Hans, »aber wie alle sehr guten Menschen lebe ich von Mißverständnissen.«
»Ach was, der Knirps«, meinte Doralice ungeduldig. Als dann beim Kaffee Hans sich eine Zigarette anzündete, wurde er schläfrig. Er reckte sich, gähnte diskret, die Nacht auf dem Meere lag ihm doch noch in den Knochen. Endlich stand er auf. Es sei doch das beste, er lege sich noch ein wenig nieder, meinte er.
Doralice rückte ihren Sessel an das geöffnete Fenster. Draußen hatte es zu regnen
begonnen, ein feiner, dichter Regen, der einen bleifarbenen Vorhang vor das Fenster
zog. Das Zimmer füllte sich mit einem grauen nüchternen Lichte. Agnes räumte das
Geschirr ab, stapfte ab und zu, schlug die Türen, dann war auch sie fort. Doralice
bewegte ihren Kopf langsam auf der Rücklehne des Stuhles hin und her, wie es ihre
Gewohnheit war, wenn sie sich einsam fühlte. Gewiß, dieser Regen, dieses graue Licht
im engen Zimmer, dieses Mittagessen bewacht von Agnes' freudlosen Blicken, diese ganz
aussichtslose Alltäglichkeit, all das war traurig und Doralice wußte, daß sie auch
gleich traurig werden würde, noch aber fühlte sie sich von alledem seltsam losgelöst.
Es war eine Traurigkeit und Alltäglichkeit, die nicht zu ihr gehörten, die an ihr
vorübergingen. Sie kam sich vor wie ein Reisender, der auf irgendeiner kleinen
verschollenen Station liegen bleibt und nun in dem häßlichen Stationszimmer sitzt und
sich für eine Weile von der
Hans setzte sich auf einen Stuhl, zerrte an seinem Bart und schaute an Doralice vorüber zum Fenster hinaus. »O gewiß, sehr schön, sehr schön«, sagte er zerstreut. »Nur, sag' mal, willst du die Erinnerungen, von denen dieses Kleid voll ist?«
»Ich will überhaupt keine Erinnerungen«, erwiderte Doralice und das Weinen war ihr nahe. Hans sann noch vor sich hin: »Ja, ja«, murmelte er, »dir war es hier grau und häßlich und du wolltest etwas Schönes haben, natürlich, ich verstehe. Schön, schön.«
Beide schwiegen nun eine Weile und Doralice empfand, daß das bißchen Festlichkeit, welche das Kleid ihr gegeben hatte, fort war. Hans erhob sich und ging nervös im Zimmer auf und ab, dann blieb er stehen und fragte:
»Wirst du das Kleid anbehalten?«
»Ich kann es ja wieder ausziehen«, erwiderte Doralice kleinlaut.
»Ja,« fuhr Hans fort, »es ist nämlich hier in diesem Zimmer etwas fremd. Ich habe das Gefühl, als ob ein Modell bei mir wäre.«
»Ein Modell«, wiederholte Doralice gekränkt.
»Nein, nein, nicht ein Modell«, beruhigte Hans sie, »es war dumm, daß ich das sagte.
Höre, ich werde es dir erklären. Es war in München, ich wohnte im vierten Stock, in
einem sehr häßlichen Zimmer natürlich. Da verliebe ich mich beim Kunsthändler in eine
französische Glasschale, ein hübsches Ding wie aus rosa und grünem Eis, für mich viel
zu teuer. Gut. Aber ich bin verliebt und als ich für ein Bild etwas Geld bekomme,
kaufe ich sie und trage sie nach Hause.
»Bin ich diese Schale?« fragte Doralice. – »Nicht du, dein Kleid, dein Kleid.« Hans stand vor Doralice und wartete gespannt, was sie sagen würde. Sie jedoch sagte nichts, erhob sich und ging in ihr Schlafzimmer hinüber, um sich umzukleiden. Er aber begann wieder im Zimmer auf- und abzurennen, er war wütend. Also er hatte sie wieder einmal gekränkt, aber das schien jetzt nicht anders sein zu können. Sah es nicht aus, als sei die Liebe eine Einrichtung, die zwei Menschen aneinander bindet, damit sie einander quälen? Wahrhaftig, so sah es aus. Aber es sollte anders werden und als Doralice in ihrem dunkeln Kleide zurückkehrte, um sich wieder still in ihren Sessel zu setzen, brach er los: »Du bist gekränkt, ich weiß, ich weiß. Aber du wirst sehen, ich werde dir einen Rahmen schaffen, in dem du dich anziehen kannst wie eine Königin.«
»Ah, das kleine Häuschen«, warf Doralice hin.
»Nun, etwas viel Schöneres«, fuhr Hans ungeduldig fort. »In München läßt sich jetzt
viel machen. Ich werde eine Malschule gründen und dann werde ich arbeiten, ich bin
voller Ideen, ich habe ja so viel in mir aufgespeichert, ich bin geladen wie eine
Bombe, und wenn ich da einschlage in diese Welt abgelebter Großstadtleute, die werden
Augen machen. Ich freue
Hans stand einen Augenblick da und sann, dann setzte er sich langsam auf einen Stuhl, zündete sich eine Zigarette an und rauchte. Beide schwiegen, es dunkelte immer mehr, die Dämmerung schien mit dem Regen auf das Land niederzufließen, der Wind verfing sich irgendwo im Hause und es gab einen Ton wie ein trauriges Lachen. Doralice fühlte wohl, daß Hans dort neben ihr in der Dämmerung mit sich kämpfte, das Bewußtsein dieser Erregung, die Erwartung, daß es vielleicht einen leidenschaftlichen Auftritt geben würde, tröstete sie in der Melancholie dieser Stunde. Da begann Hans wieder ruhig, freundlich: »Sieh, das kommt daher.«
»Was denn?« fragte Doralice. – »Daß wir hier so zusammensitzen und nicht zueinander sprechen, als seien wir verfeindet. Wir sind nicht miteinander verfeindet und wir haben uns sehr viel zu sagen, aber das kommt daher, daß etwas in unserer Liebe zu Ende ist und etwas Neues anfangen muß. Jetzt haben sich die feinsten, empfindlichsten Teile unserer Seelen auseinanderzusetzen, jetzt fängt die ganz komplizierte Rechnung an, so eine Art Ausziehen von Kubikwurzeln, das ist immer so, das muß so sein. Ich kann nicht immer wie damals ein Ereignis sein.«
»Ich habe gar nicht verlangt von dir, immer ein Ereignis zu sein«, meinte Doralice.
– »Ich weiß, ich weiß, und ich weiß auch, was wir zu tun haben, um jetzt dieser
jämmerlichen Stunde ein Ende zu machen. Wir müssen hinausgehen ans
Er holte Doralicens Mantel, hüllte sie fest ein, nahm sie und zog sie mit sich hinaus.
Draußen mußten sie gegen einen starken Wind ankämpfen, das Meer rauschte sehr laut, ein Durcheinander großer Stimmen, die sich überschrien und einander ins Wort fielen. Und in der Dämmerung hoben sich die Wellen wie große weiße Gestalten, die sich aufrecken, sich neigen, niederfallen. Zuweilen standen Hans und Doralice plötzlich wie auf einem weißen kalten Tuche, das war dann eine brandende Welle, die bis zu ihnen heraufgelaufen war. Beide lachten, drückten sich fest aneinander und Hans fragte laut in das Rauschen hinein: »Fühlst du es, fühlst du es schon, wie wir einander wieder befreundeter werden?«
»Ja, ja«, erwiderte Doralice atemlos von all der mächtig bewegten Luft, die sie atmen mußte. – – –
Im Bullenkrug drückte der Regennachmittag auch auf die Stimmung. Es lag ohnehin eine
Spannung in der Luft, welche die Menschen mit einer gereizten und freudlosen Unruhe
in den engen Räumen herumtrieb. »Meine Schar«, sagte die Generalin zu Fräulein Bork,
»geht hier heute umher wie die Eisbären im Käfig. Lassen Sie alle Lampen anstecken,
nur keine Dämmerung, die ist gefährlich. Und dann viel und gutes Essen. So kommen wir
am leichtesten über die Schwierigkeiten hinweg.« Das Haus wurde sehr hell, die
Generalin setzte sich mit Fräulein Bork auf das
»Gewiß, meine Liebe«, erwiderte er und richtete sich mit einem Ruck strammer auf, »was gibt es denn?« Er folgte seiner Frau ins Eßzimmer und die Tür fiel hinter ihnen ins Schloß. Die Generalin schüttelte unzufrieden den Kopf und bemerkte: »Bella überschätzt von jeher die Wirkung von Auseinandersetzungen.« Das Gespräch des Ehepaares dauerte ziemlich lange. Man hörte die Stimme des Barons, die pathetisch wurde, und Wedig flüsterte Nini zu: »Hör', eben hat der Papa gesagt: poetisches Bedürfnis.«
Hilmar und Lolo wurden sehr zerstreut bei ihrem Spiel. Endlich ging die Eßzimmertür wieder auf, Frau von Buttlär kam in das Wohnzimmer, setzte sich schweigend an den Tisch und nahm ihre Häkelarbeit auf. Sie war blaß, man sah es ihr an, daß sie geweint hatte. Der Baron aber war in der Tür stehen geblieben und sagte feierlich: »Hilmar, bitte auf ein Wort.«
»Zu Befehl«, erwiderte Hilmar und sprang auf. Er zog dabei die Augenbrauen zusammen
und sein Gesicht nahm einen Augenblick einen so zornigen Ausdruck an, daß Lolo ihn
erschrocken anschaute. Dann verschwanden die beiden Herren hinter der Eßzimmertür.
Die Generalin zog die Augenbrauen hinauf und sagte: »Wozu diese Konferenzen gut sind,
weiß ich nicht, zur
»Aber Bella«, wandte die Generalin ein. Fräulein Bork jedoch fand das schön. Sie fand das schön, die Mutterliebe als die Polizei für das Glück der anderen.
»Sie haben gut reden, liebe Bork«, meinte die Baronin und die Generalin wurde ärgerlich: »Ich sage nicht, daß einmal tüchtig dreinfahren nicht ganz nützlich sein kann, aber immer besser kurz und scharf, als lang und sauer.«
»Wer ist denn sauer?« fragte die Baronin, worauf die Generalin nichts erwiderte. Lolo
ging währenddessen im Zimmer unruhig auf und ab, blieb an der Glastür stehen und
schaute in die Dunkelheit hinein, dann öffnete sie die Tür und trat auf die Veranda
hinaus. Der Wind, als hätte er auf sie gewartet, fiel sie sofort an, zerrte an ihrem
Kleide, wühlte in ihrem Haar. Lautes Tönen flog durch die Finsternis wie Sausen
großer, hastiger Flügel, ein hastiges, ausgelassenes Leben trieb hier in der Nacht
sein Wesen und Lolo stand da und atmete tief und angestrengt. Sie litt, aber da
drinnen im Schein der Lampe war ihr Schmerz eine unerträglich nagende Qual gewesen,
hier draußen konnte sie ihn als groß, fast als schön empfinden. Als sie dann hörte,
daß die Eßzimmertür ging und die beiden Herren wieder in das Wohnzimmer gekommen
waren, öffnete sie ein wenig die Glastür und rief Hilmar. Hilmar trat zu ihr auf die
Veranda hinaus. Sie standen einen Augenblick im Dunkeln still beieinander, Lolo hatte
Hilmars Arm genommen
»Ach, er hat ja recht«, erwiderte Hilmar und seine Stimme klang gepreßt und mutlos. »Alle haben sie recht, wenn du um meinetwillen leidest, dann bin ich ein gemeiner Hund. Ich durfte nicht zu dir kommen, du mußt sicher und glücklich sein.«
Lolo begann jetzt wieder zu sprechen ganz sanft und tröstend: »Nein, du kannst nichts dafür, wir können beide nichts dafür. Es gibt manches in der Welt, das stärker ist als wir beide. Ich habe das jetzt verstanden. Oh, ich habe jetzt sehr viel verstanden. Früher glaubte ich, sich lieben ist Hand in Hand sitzen und sich lange Briefe schreiben. Aber jetzt weiß ich, sich lieben ist eine furchtbar große Sache und da muß man auch die ganz großen Dinge tun können und – warum soll ich nicht auch leiden? Du leidest auch und so viele, viele leiden. Nein, mein armer Hilmar, wenn ich auch keinen schicksalsvollen Mund habe, mit dem blauen Sonntagskittel ist es doch nichts. Aber sei ruhig, wir werden schon den richtigen Weg finden.« Und sie strich sanft mit der Hand über seinen Ärmel hin.
»Lolo! Lolo!« rief die Baronin und der Baron klopfte an die Fensterscheiben. »Sie rufen, wir müssen hinein«, sagte Lolo.
»Da hinein kann ich jetzt nicht«, stöhnte Hilmar, »aber du, du mußt sicher und glücklich sein und ich – ich bin ein gemeiner Hund.« Dann beugte er sich über sie und drückte seine heißen, trockenen Lippen fest auf ihre Augen, schob sie dann von sich und lief in die Dunkelheit hinaus. Lolo stand noch einen Augenblick da, sie legte beide Hände auf ihre Brust und schaute mit heißen, fanatischen Augen in die Nacht hinein und berauschte sich an ihrem großen Schmerz.
»Ja, weil es eine furchtbare Verantwortung ist, so schön zu sein«, klang es feierlich und weise aus Lolos Bett zurück.
Um Mitternacht war ein Gewitter niedergegangen und ein plötzlicher Sturm hatte sich erhoben, stoßweise sich um sich selber drehend, als käme er von allen Seiten zugleich, so daß die Wellen sich hoch aufreckten und wie betrunken taumelten. Allein es dauerte nicht lange. So plötzlich wie er gekommen war, ließ der Sturm nach, von Westen her kam ein sanftes Wehen, das die Wellen streichelte und beruhigte. Ein wolkenloser Tag brach an, die Sonne schien auf ein prächtig grünes Meer nieder, der Strand war von dem ausgeworfenen Seetang überdeckt wie von schwarzer Seide und die Luft war ganz voll vom scharfen salzigen Dufte des Meeres.
Hans und Doralice waren schon zeitig am Vormittage zu ihrem Platz auf der Düne
hinaufgezogen. Doralice lag dort auf ihrer Decke im Sande und sah
»Du weißt in mir Bescheid?« fragte Doralice. – »Natürlich.«
»Da weißt du mehr als ich«, meinte Doralice.
Hans legte seinen Pinsel fort und schaute Doralice verwundert an: »Sag' mal, seit einiger Zeit jetzt hast du zuweilen solche Aussprüche unangenehmer Lebensweisheit wie der Geheimrat.«
Doralice seufzte: »Ach ja, angenehm ist es nicht, die Ähnlichkeit mit dem Geheimrat in sich wachsen zu fühlen.«
Hans zuckte mit den Achseln und griff nach dem Pinsel. Jetzt schwiegen sie. Doralice
spähte aufmerksam zum Strande hinunter, als könnte dort unten etwas sich ereignen,
das sie anginge. Karren standen dort unten und kleine struppige Pferde und
Fischer,
»Ob der nun auch kommen wird«, antwortete die Alte mit einer Stimme, die tief wie
eine Männerstimme klang, »ob er nun mit dem Boot kommen wird oder ob er ohne Boot
kommen wird, das kann man nicht wissen. Der Matthies, mein Mann, kam am zweiten Tage
dort nicht weit vom Friedhofe ohne Boot heraus. Der Ernst, mein Sohn, kam gar nicht
heraus. Na ja, so ist der Steege, wenn keiner fahren will, dann fährt er, dann glaubt
er, daß er alle Fische allein haben wird. Häßlich blies es schon, als ich um
Mitternacht nachsehen ging. Ich gehe immer um Mitternacht nachsehen, das ist noch von
der Zeit, als ich auf Meine wartete.« Die tiefe heisere Stimme sprach ruhig vor sich
hin, nicht, als spräche sie für die anderen, sondern als könnte sie einmal in Schwung
gebracht nicht sogleich wieder verstummen. Doralice richtete sich ein wenig auf, um
die Fischersfrau am Strande besser sehen zu können, die rastlos an dem Saum der
brandenden Wellen entlang irrte und wartete, auf das Schreckliche wartete, und was
die Mutter Wardein da erzählte, war es nicht auch ein endlos langes Leben, in dem sie
immer wieder auf das Schreckliche gewartet hatte? Doralice zog die Augenbrauen
zusammen, sie hätte weinen können, nicht aus Mitleid, sondern weil all dieses Dunkle
plötzlich so nah an sie herankam. Der Morgen mit seinem Licht, seinem Duft, seinem
Wehen hatte ihr voller Versprechungen geschienen.
Er kommt geradesweges zu uns, dachte Doralice, ein toller Junge. Auch Hans sah ihn kommen und das Blut stieg ihm heiß in die Schläfen. Als jedoch Hilmar vor ihnen stand und grüßte, sagte Hans ruhig und freundlich: »Guten Morgen, Herr Baron, schöner Morgen.«
»Guten Morgen«, erwiderte Hilmar, ein wenig atemlos vor Erregung, »die Herrschaften sind schon fleißig. Ah, Mutter Wardein, ja, die würde ich auch malen, wenn ich könnte. Es muß sein, als ob man die Ewigkeit malt.«
»Glänzend!« beteuerte Hilmar, »das Meer ist heute wie eine Wiege. Ja, und da wollte ich fragen«, er wandte sich an Doralice, »ob Sie, gnädige Frau, nicht mitfahren wollen? Für drei ist im Boote Platz und Stibbe und ich sind sichere Segler.«
Doralice schaute überrascht zu ihm auf und dann mußte sie über den eigensinnigen, entschlossenen Ausdruck seines Gesichts lächeln. »O, ich«, sagte sie, »ich glaube nicht, daß mein Mann das gestattet.«
Hans hatte mit dem Pinsel voll Zinnober einen so kräftigen Hieb gegen das Bild geführt, daß die Wange der Mutter Wardein eine breite rote Schramme erhielt, und es wunderte ihn, als er seine eigene Stimme ruhig und überredend sagen hörte: »Warum nicht? Heute ist wohl keine Gefahr dabei. Wenn es dir Vergnügen macht, der Baron ist ja ein sichrer Segler.«
Es war ein seltsam erstaunter und kalter Blick, mit dem Doralice Hans ansah: »Das ist etwas anderes«, sagte sie, »dann also wollen wir fahren. Kommen Sie, Baron.« Sie erhob sich, nickte Hans kurz zu, dann gingen sie die Dünen hinab.
Hans saß noch einige Augenblicke da und kratzte den roten Strich vom Gesicht der
Mutter Wardein ab. Plötzlich warf er alles fort, stellte sich auf den Rand der Düne
und schaute den beiden nach. Die waren schon bei den Booten, er sah Doralice
einsteigen, sah Stibbe und Hilmar das Boot flott machen, nun saßen sie alle drei
darin und wunderbar leicht klomm das Fahrzeug die ersten grünen Wellenberge hinauf.
Ohne sich um die Mutter Wardein zu kümmern, stürmte Hans die Düne hinab an das Meer,
dort begann er auf und ab zu gehen, zuweilen stehenbleibend,
»Gut, gut, ich sitze ja hier«, antwortete Doralice, »aber sprechen Sie jetzt nicht solche – – solche heiße Sachen.«
»O nein! Gewiß nicht«, rief Hilmar begeistert, »es ist auch gar nicht nötig, es ist gar nichts mehr zu sagen. Sie sitzen da, Worte können da nicht mehr heran. Gespräche haben überhaupt für mich in letzter Zeit etwas Fatales. Miteinander sprechen, das kann jeder, miteinander sein, das ist die Kunst. Also, wenn Sie vielleicht müde sind, hier ist eine Decke, hier ist ein Polster, Sie können ein wenig schlafen. Es würde doch die unterhaltendste Stunde meines Lebens sein. Sie wollen nicht? Nun, legen Sie sich dieses Polster in den Rücken und dieses hier unter die Füße, so – nun wäre nichts mehr zu bemerken, außer vielleicht, daß Sie noch ein wenig zufriedener aussehen könnten. Haben Sie bemerkt, wenn ein Kind etwas ganz Süßes ißt, dann wird es ernst und die Augen werden groß und füllen sich etwas mit Tränen. So sollten Sie aus sehen.«
»Ach,« meinte Doralice ungeduldig, »wollen Sie mir auch sagen, wie ich bin?«
»Nein, nein«, versicherte Hilmar, »ich meine nur,
»Was ist das für ein Blick?« fragte Doralice.
– »Nun, als Sie gestern abend bei der Lampe auf Ihrem Sessel saßen und vor sich hinsahen«, erklärte Hilmar. »Ja, ich habe durch Ihr Fenster zu Ihnen hineingeschaut; ich tue das immer, natürlich, was soll ich anderes tun? Sie finden das unerhört. Es ist vielleicht unerhört, aber ich würde noch viel unerhörtere Dinge tun. Sind Sie böse?«
»Ach ja«, sagte Doralice langsam und träge, »gewiß bin ich böse, aber später, nicht jetzt.«
– »Gut, später«, schloß Hilmar die Unterhaltung. »Rauchen wir eine Zigarette.« Die Sonne schien heiß auf das Meer nieder, ihr gelber Glanz floß wie Öl an den Wellen herab, Möwen flogen ganz niedrig und langsam über das Wasser und wie leichtes Flügelschlagen klang das Segel in dem schwächer werdenden Winde.
Als die Fahrt zu Ende war, als Doralice und Hilmar am Strande niedergeschlagen einander gegenüberstanden, reichte Doralice Hilmar die Hand und sagte: »Danke.« Hilmar zog die Augenbrauen zusammen. »Das Land«, versetzte er grimmig, »das Land ist eine Gemeinheit.« Dann trennten sie sich. Doralice ging lässig und zögernd nach Hause. Der Gedanke an das Mittagessen, an den Dampf der großen Kartoffeln, an Agnes' strengen, wachsamen Blick und etwas anderes noch kam unerwartet, um sie zu quälen, ein Gefühl des Mitleids für Hans. Sie war die ganze Zeit über so weit fort von ihm gewesen, mit keinem Gedanken war sie zu ihm zurückgekehrt. Nun, wenn sie ihn jetzt zu Hause traurig oder böse oder unangenehm finden würde, so wollte sie liebenswürdig sein und diese gute Regung tat ihr wohl.
Hans saß am gedeckten Mittagstisch und las. Als Doralice eintrat, schaute er auf und sagte mit seiner gewöhnlichen ruhigen Stimme: »Nun, hast du dich gut unterhalten?«
– »Ja, sehr gut!« erwiderte sie.
»Das ist ja schön«, meinte Hans, »ich werde auch das Segeln lernen, damit du dieses Vergnügen auch ohne fremde Leutnants haben kannst. Aber jetzt wollen wir essen.«
Während der Mahlzeit schien Hans sich behaglich zu fühlen, er sprach wieder viel von seinen Plänen, er hatte einen Brief aus München bekommen, die Aussichten schienen gut. Es war dort der rechte Augenblick, um etwas zu unternehmen. Zuweilen sah er Doralice an und erwartete eine Antwort, und sie gab diese Antwort, allein sie klang abweisend und gereizt. Doralice glitt immer mehr in die Stimmung des Gekränktseins hinein. Hans schien das nicht zu bemerken, er war nur besonders rücksichtsvoll, stimmte ihr eifrig zu und beihandelte sie wie jemanden, der geschont werden muß. Der Nachmittag kam dann und füllte das Zimmer mit seinem gelben Sonnenschein. Hans sprach noch immer weiter von all diesen Dingen, die, wie es Doralice schien, nichts mit ihr zu tun hatten. Immer wieder hieß es: »Wenn wir in München sein werden«, so daß Doralice ungeduldig ihn unterbrach: »In München? aber das wird noch lange nicht sein.« Hans blieb vor ihr stehen: »Nicht? So, hm. Gut also, dann bleiben wir hier.«
Nachdenklich zerrte er an seinem Barte und nahm wieder seinen Gang durch das Zimmer
auf. »Das ist nur«, begann er endlich, »etwas muß der Mensch
»Das ist ja gut«, meinte Doralice.
– »Vielleicht!« fuhr Hans fort. »Fährst du heute Nacht mit uns aufs Meer hinaus?«
Nein, sie mochte nicht. »Dann etwas anderes«, schlug Hans vor. »Es würde dich vielleicht unterhalten, bei Agnes ein wenig kochen zu lernen.«
– »Bei Agnes?« Nein, dazu hatte Doralice gar keine Lust. Nun ja, das fand er am Ende verständlich, aber da hatte dieses Fräulein Bork ihm von den Fischerkindern vorgesprochen. Sie hatte gemeint, so eine Art Unterricht könnte viel Segen stiften; man könnte sich liebevoll mit diesen Armen beschäftigen.
»Willst du mich beschäftigen?« fragte Doralice.
»Ich suche nach etwas, das dir gut tut«, erwiderte Hans, aber sie fuhr gereizt fort: »Soll das so etwas wie der Anfang einer Erziehung für mich sein?«
Hans errötete: »Nein, nein, gar nichts soll es sein.« Er wandte Doralice den Rücken
und schaute zum Fenster hinaus. Draußen von der Düne her kamen ein Mann und eine Frau
herauf, der Fischer Steege, der endlich doch heimgekommen war, und seine Frau. Er
ging breitbeinig und gemächlich einher, als sei nichts geschehen, und die kleine Frau
trottete hinter ihm her, alle Aufregung war von ihr gewichen und wie sonst schaute
sie mit mürrischer Geduld vor sich nieder auf ihre nackten Füße, um die großen
Kieselsteine zu vermeiden. Dieser Anblick gab Hans wieder ein wenig guter Laune
zurück. »Der Steege ist doch wieder heimgekommen«, meldete er, »und die Frau, wie sie
hinter ihm hergeht. Sie macht ein Gesicht wie ein verdrießlicher Gläubiger, dem ein
Sie machten den Spaziergang landeinwärts an der Zibbel Waldhüterei vorüber zur Föhrenschonung hinauf. Die jungen Bäume standen dort in gleichen Abständen voneinander da, rosa Stämme und blaugrüne Schöpfe, schnurgerade gelbe Wege durchschnitten den Bestand. Hier war die Luft heiß und schwer von Harzduft. Hans versuchte sich zu begeistern: »Wunderbar! Farbe, Farbe! Und was für eine! Daraus kann man hunderttausend Mäntel für venezianische Madonnen schneiden.«
– »Ich finde, es sieht hier aus wie in einer Schulstube während der Nachmittagstunde«, sagte Doralice abweisend. Hans lachte darüber sehr laut, denn er hoffte, Doralice würde mitlachen: »Schulstube! Sehr gut, aber was für eine. Grünblaue Wände und goldener Fußboden und der Duft. Wenn wir in solchen Schulstuben gesessen hätten, dann wären wir andere Kerle.« Doralice lachte nicht mit. Es fiel sie hier plötzlich ein unerträglich starkes Verlangen nach dem Meere im Mittagsonnenschein, nach dem Segelboot, nach Hilmar, nach dem jungen Stibbe an, wie es ja zuweilen geschieht, daß die Sehnsucht nach einer vergangenen glücklichen Stunde uns so stark anpackt, daß es schmerzt, und sie mußte davon sprechen: »Der Baron Hamm sagt«, begann sie, »das Meer sei heute grün, durchsichtig und süß wie russische Marmelade.«
»So, sagte er das?« meinte Hans wegwerfend. »Ja, so ein Leutnant hat immer was mit
Süßigkeiten
Doralice erwiderte nichts und schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander die geraden Wege entlang. Als die Sonne rot durch die Birkenstämme schien, schlugen sie den Heimweg ein. Sie begegneten Arbeitern vom Felde zurückkehrend, Männer in weißen Leinwandhosen, hinter ihnen her die Frauen mit dem Grützespann in der Hand. Hie und da blieb ein Paar an einer der kleinen Katen stehen; der Mann öffnete die Tür, bückte sich, um hindurch zu gehen, die Frau folgte ihm; so verschwanden sie in dem schwarzen Loche und mit einem knarrenden Ton fiel die Tür ins Schloß. Und als Hans und Doralice an ihrer Wohnung angekommen waren und er voran durch die Tür ging, sich ein wenig bückend, seufzte Doralice und dachte: »Das ist so wie bei den kleinen Katen; man verschwindet still in dem schwarzen Loch, die Tür knarrt, die Welt voll schöner, erregender Möglichkeiten bleibt draußen.«
Das Abendessen kam mit seinen Flundern und großen Kartoffeln, Hans aß eilig und viel, er sprach aufgeräumt mit Agnes und schien sich auf das Hinausfahren zum Fischfang zu freuen. Bald stand er vom Tische auf um sich umzukleiden und ging dann fort. »Gute Nacht, schlafe wohl«, sagte er und küßte Doralice auf die Stirn. Agnes brummte etwas von »in der Nacht fortrennen« und daß das keine Manier sei.
Die Nacht brach herein, Agnes hatte die Lampe gebracht und sich mit einem mürrischen
Gute Nacht entfernt. Doralice rückte den Sessel näher nach dem
– »Nein, das ist schlecht«, erwiderte Doralice.
»Schlecht, vielleicht«, erwiderte Hilmar, »aber unsere Schlechtigkeit, Ihre und meine. Und wenn die anderen verfluchen und verfemen, dann sind wir erst miteinander allein, so wie heute mittag auf dem Meer. Dann können wir uns ein Leben erfinden, das ganz unser Leben ist. Es ist ja zu dumm, immer das Leben zu leben, das die anderen sich für uns ausdenken. Nein, hören Sie, Sie können nicht das Leben des Herrn Grill leben, und ich kann nicht der Bräutigam meiner kleinen Heiligen sein, das ist doch verständlich. Also, morgen soll ich zu meinem Regiment zurück, um mich zu bessern. Aber Sie werden sagen, daß ich bleiben soll, und ich bleibe und das Regiment und die Uniform und alles, alles zählt nicht. Und Sie, Doralice, werden Herrn Grill entlassen.«
– »Sprechen Sie nicht so«, unterbrach ihn Doralice. »Er ist gut.«
»Gut! Gut!« rief Hilmar, »natürlich ist er gut, alle sind sie gut, die anderen, nur wir sind nicht gut, wir können nicht gut sein, daher sollen sie uns unseren eigenen Weg gehen lassen.«
Doralice seufzte, seufzte ganz tief und sagte dann leise: »Jetzt müssen Sie gehen.«
»Ja, jetzt, jetzt«, wiederholte Hilmar. Er schüttelte Doralices Hände, die er fest in den seinen hielt, und ein ausgelassener Triumph leuchtete aus seinen Augen: »Sie sagen jetzt, aber ich kann kommen und dann – dann –«
Am Fenster, das nach der Düne hinausging, stand
Lolo war, wie jeden Abend, mit Nini in ihre Giebelstube hinaufgestiegen und hatte
sich zu Bett gelegt. Dort lag sie wach da und schaute mit weitoffenen Augen in das
Dunkel hinein. Sie dachte ihren einen großen, unklaren Gedanken, den sie all diese
Tage über mit sich herumgetragen hatte, der in ihr gewachsen und mächtig geworden
war. Ein Opfer, ein Opfer wollte sie bringen. Die wirren Qualen und Enttäuschungen
ihrer Liebesgeschichte ertrug sie nicht länger, so flüchtete sie sich denn in den
Rausch, wie ihn so stark nur der Wille zum Opfer einem Frauenherzen gibt. Das war
jetzt ihr Erlebnis und es erfüllte sie ganz mit Andacht vor der eigenen Seele.
Sterben war leicht. Sie wollte in das Meer hinausschwimmen weit, weit über die
Sandbank hinaus. Sie wollte schwimmen, bis diese Müdigkeit kam, die sie kannte, in
der wir nichts anderes wünschen, als uns willenlos und untätig auf dem Wasser
auszustrecken. Ja, und dann würde es sich vollziehen, das dunkle Ruhevolle, und all
die furchtbare Spannung des Fühlens und Wollens würde sich lösen. Sobald es im Hause
still war, stand Lolo auf. Sie kleidete sich in ihren Badeanzug, hüllte sich in ihren
Mantel und schlich hinaus. Draußen die Nacht schwarz und warm, am Himmel große, sehr
helle Sterne. So hatte sie es erwartet, das war in Ordnung. Als sie in Wardeins
Anwesen noch Licht im Fenster sah, wollte sie herangehen und hineinschauen aus
unklarem Verlangen nach noch mehr Bitterkeit und Schmerz. Sie sah Doralice im Sessel
sitzen und Hilmar neben ihr knien, allein das erschütterte sie nicht stark, sie hatte
das erwartet, auch das mußte so sein. Ruhig
»Nu haben wir den kuriosen Nachtfisch«, sagte Stibbe und hob Lolo in sein Boot hinein; »dacht's mir, das ist die Marjell vom Bullenkruge. Wasser hat sie schon geschluckt. Nimm du sie, Andree, du weißt ja mit Marjellen umzugehen.«
Doralice war wieder allein in ihrem Zimmer, als die Männer zu ihr eintraten. Sie verstand nicht gleich. Da stand der Fischer Stibbe und noch einer und Stibbe trug jemand, er trug Lolo, die ganz bleich war und die Augen geschlossen hielt, ihr Haar schwer und feucht hing lang über den Arm des Fischers herab.
»Die haben wir nun aufgefischt«, sagte Stibbe, »da weit draußen, die wollte nicht mehr zurück. Was ist denn das für ein Nachtfisch, sagte ich zu Andree, und wir sind ihr nachgefahren. Ach, die lebt schon, die lebt ganz gut. Nur Wasser hat sie geschluckt. Wo soll ich sie hinlegen? Aha, da drin aufs Bett. Andree ist zum Bullenkrug hinauf, es der Mamsell zu sagen, damit sie sie holt.«
Lolo wurde auf das Bett gelegt, Stibbe wiederholte noch einmal: »Die lebt ganz gut«, dann gingen die Männer. Der Lärm hatte Agnes herbeigerufen und sie übersah sofort die Lage, machte sich über Lolo her, entkleidete sie, hüllte sie in Decken, rieb sie, immer schweigsam und mürrisch, nur einmal bemerkte sie: »Sie macht die Augen nicht auf, nicht weil sie nicht kann, sondern weil sie nicht will.« Endlich beschloß sie einen heißen Tee zu kochen, Doralice sollte nur weiter reiben.
»Wie – wie ist Ihnen jetzt?« fragte Doralice.
– »Gut,« sagte Lolo mit einer Stimme, als antworte sie auf eine müßige, gleichgültige Frage. Aber Doralice beugte sich leidenschaftlich über sie, als wollte sie sie erwärmen und beschützen. »Wie konnten Sie das tun?« flüsterte sie.
Lolo zog ein wenig die Augenbrauen empor und sagte in demselben kühlen, überlegenen Tone: »Er kann nichts dafür. Das wußte ich, als ich Sie sah, er wird nicht anders können und Sie – Sie können nichts dafür, daß Sie so schön sind.«
»Nein, das will ich nicht«, rief Doralice fast zornig. »Er soll bei Ihnen bleiben, er soll Sie lieben, er soll, soll.«
Lolo wandte den Kopf zur Seite und schloß die Augen, als wollte sie Ruhe haben, und sagte kummervoll und müde: »Ja, jetzt, jetzt weiß ich nicht.«
Doralice wagte nicht mehr zu sprechen. Sie kniete dort vor dem Bett und ein
unerträgliches Gefühl der Demütigung machte sie elend. Im Nebenzimmer wurde es wieder
lebhaft. Die laute Stimme der Generalin ließ sich vernehmen: »Wo ist sie? Wo liegt
sie? Heißen Tee haben Sie da, liebe Frau, das ist gut.« Dann erschien die Generalin
in der Schlafzimmertür, sie hatte ihren Strohhut über ihre Nachthaube aufgesetzt und
ihren Regenmantel über ihr Nachtkleid angezogen. Sie war rot und atemlos: »Kind!
Kind!« rief sie, »was sind das für Geschichten! Hat man je so was
Fräulein Bork und Ernestine waren auch da mit Tüchern und Mänteln beladen und nun begann ein Kommandieren und Hin- und Hergehen und dazwischen schalt die Generalin immer weiter: »Das ist die Buttlärsche Übertriebenheit, die dummen Buttlärschen Herzen. Von mir habt ihr das nicht. Liebe Köhne, geben Sie ein Handtuch her, wir müssen das Haar noch trocknen. Zu meiner Zeit verlobte man sich auch und verliebte sich auch und war eifersüchtig, denn die Männer taugten damals auch nicht viel, aber gestorben sind wir daran nicht. Aber die heutige Jugend, die ist ja wie betrunken!«
Lolo ließ alles willenlos wie eine Puppe mit sich geschehen. Endlich stand sie in Tücher und Mäntel gehüllt da, von Fräulein Bork und Ernestine gestützt. »Geht jetzt nach Hause«, befahl die Generalin, »aber leise, daß meine Tochter nicht aufwacht, es ist genug, wenn morgen das Gerede anfängt. Steckt das Kind ins Bett, eine Wärmflasche und Baldriantee, also vorwärts, ich bleibe noch einen Augenblick hier. Sie erlauben schon, meine Liebe«, wandte sie sich an Doralice.
So wurde Lolo fortgeführt.
»Kommen Sie, liebe Köhne«, sagte die Generalin, nahm Doralices Arm und führte sie in das Wohnzimmer; »setzen Sie sich, Sie sind ja weiß wie ein Tuch. Ich will mich auch ein bißchen hersetzen, so was fährt einem in die alten Knochen.« Seufzend nahm sie in einem Sessel Platz und sann eine Weile schweigend vor sich hin. Das große Gesicht war jetzt bleich und sah alt und kummervoll aus.
»Nein!« begann sie dann wieder, »das habe ich nicht
Die Generalin erhob sich, streichelte mütterlich Doralices tränenfeuchte Wangen und ging hinaus. Doralice blieb auf ihrem Platze sitzen und starrte mit angstvollen Augen vor sich hin. Sie zog die Füße auf den Sessel hinauf, umschlang ihre Knie mit den Armen, kroch ganz in sich zusammen. War sie das, von der die alte Frau so gesprochen hatte? Sahen die Leute sie so? Sah sie so aus? Widerwille und Furcht stiegen in ihr auf, es war, als klebe etwas Unreines und Häßliches ihr an, das sie verzerrte und gespenstisch machte.
Agnes kam herein und brachte Tee: »Den müssen Sie jetzt trinken«, sagte sie barsch. Doralice gehorchte, Agnes stand dabei, schaute aufmerksam zu und murmelte: »Das kommt davon, Hans ist auch schuld. Ich habe es ihm gesagt, was rennt er immer fort. Man paßt doch auf, wenn man eine hat, die schon einmal einem fortgelaufen ist. Na, aber die alte Frau hat hier bei uns auch nichts zu predigen. Sie soll ihre Marjellen und Jungherrn strammer halten. Und jetzt müssen wir schlafen gehen.«
Sie faßte Doralice an beide Arme, um sie aus dem Sessel zu heben, führte sie in das Schlafzimmer, kleidete sie aus, wie man ein Kind auskleidet, half ihr in das Bett hinein und deckte sie fest zu. »Jetzt schlafen«, sagte sie, »das kann nie schaden«, und löschte das Licht aus.
Als Doralice erwachte, hörte sie, daß im Nebenzimmer gesprochen wurde. Hans mußte von seiner Nachtfahrt zurück sein und Agnes erzählte ihm etwas flüsternd, so daß es wie ein fortgesetztes Zischen klang. Nur selten warf Hansens tiefe Stimme Worte mit hinein. Das dauerte ziemlich lange, plötzlich brach das Gespräch ab, eine Tür ging und es wurde ganz still. Draußen war es sonnig und ein Wind schien zu gehen, denn die Netze, welche vor Doralices Fenster zum Trocknen aufgehängt waren, wiegten sich hin und her. Auf dem Zaun saßen zwei Kinder, trommelten mit den nackten Füßchen an die Bretter und sangen mit den schrillen Stimmen in den Wind hinein: »Henne, henne, helle, helle, ho, ho!« Doralice drückte sich fest in ihre Kissen. In ihren Gedanken begann die peinvolle Arbeit, den vergangenen Tag an den beginnenden zu knüpfen. Die Ereignisse der Nacht kamen, sie meldeten sich wie Gläubiger, die ihre Rechnung präsentieren. Vor allem aber meldete sich jene unheimliche, gespenstische Doralice, von der die Leute wie von einem reißenden Tiere sprachen, die davon lebte, sich entführen zu lassen, und die junge Mädchen in den Tod trieb. Zum ersten Male in ihrem Leben empfand Doralice sich selbst als eine Qual.
Agnes kam herein und brachte den Tee, Doralice sollte ihn heute im Bett trinken.
Agnes stand dabei und berichtete, Hans war zurück, sie hatten viele Fische gefangen.
Vom Bullenkruge war zum Strandwächter geschickt worden nach den Pferden, sie sollten
das Gepäck zur Bahn bringen. Ja, und dann war der junge Herr vom Bullenkruge
dagewesen, er wollte die Gnädige sprechen: »Was soll ich ihm sagen, wenn
»Werd' es ausrichten«, brummte Agnes und ging.
Eine Weile später, als Doralice gerade vor dem Spiegel saß, ihr Haar kämmte und ihr Gesicht im Spiegel aufmerksam betrachtete, als wäre es ihr neu, da wurden im Nebenzimmer Stimmen laut. Agnes sprach mit tiefer Stimme deutlich und langsam, wie sie am Sonntagmorgen sich selbst ihre Bibel vorzulesen pflegte: »Die Gnädige sagt, sie will den Herrn nicht sehen. Der Herr soll nur abreisen. Sie sagt, sie will ihn nicht sehen, nie. So sagte sie.«
Hilmars ein wenig schnarrende Stimme ließ sich vernehmen und Agnes begann wieder: »Die Gnädige sagt, sie will den Herrn nicht sehen, der Herr soll nur abreisen. Sie sagt, sie will ihn nicht sehen, nie, so sagte sie.«
Einen Augenblick wurde es ganz still, dann klirrten Sporen, eine Tür ward
zugeschlagen. Doralice trat an das Fenster, sie sah Hilmar die Düne hinabsteigen. Er
war in Uniform. Anfangs ging er langsam und zögernd, den Kopf ein wenig gebeugt.
Unten am Strande jedoch kam in seinen Gang wieder das hübsche, leichtsinnige
Sichwiegen. Die Sonne erweckte in den Sporen, in den Knöpfen und Schnüren der Uniform
helle Funken, überstreute die ganze Gestalt mit kleinen, unruhigen Lichtern: »O
nein!« dachte Doralice, »es ergreift mich nicht, das zu sehen.« Allein eine ferne
Kindererinnerung kam, Doralice konnte
Endlich kam Hans die Landstraße herauf. Er ging
Hans wandte sich ihr zu, er steckte beide Hände in die Rocktaschen, stand ein wenig gebeugt da. Wenn ihn etwas drückte oder stark hinnahm, dann konnte seine schöne Gestalt zuweilen das Schwere, Ungelenke eines Dorfburschen bekommen, der müde von der Feldarbeit ist. »Was kann ich sagen«, versetzte er, »was habe ich für ein Recht? Das Recht, das du mir gegeben hast, kannst du mir nehmen und dem anderen geben. Wie du es dem alten Herrn genommen und es mir gegeben hast, anders ist es nicht. Wir Bauern können gut rechnen.«
Doralice hob die Arme empor und legte die ineinander gerungenen Hände auf ihren Scheitel: »Du bist sehr gerecht«, stieß sie hervor und es klang wie Zorn, »aber so ist es nicht. Da ist kein anderer. Er ist fort, ganz fort. Er hat kein Recht. Ich brauche keinen, der vor mir kniet«, sie brach ab und die aufsteigenden Tränen machten ihre Stimme unsicher und leise, als sie hinzufügte: »Was hilft das? Was soll ich jetzt tun?«
Hans wandte sich ab und sah zum Fenster hinaus. Einen Augenblick war es wieder ganz
still im Zimmer. Draußen auf dem Zaune sangen noch immer die Kinder
Doralice antwortete nicht, stumm und verschüchtert stand sie da. Das »stille Einhergehen« neben diesem starken, sanften Manne erschien ihr jetzt wie Geborgenheit und in der Angst ihrer Seele, in der Angst vor sich und den anderen glaubte sie, Geborgenheit sei es, was ihr nottat.
Die Septembertage waren hell, dabei wehte ein frischer Nordost. Die Wolken ballten sich zu großen weißen Inseln zusammen und zogen schnell über den Himmel und ihre Schatten liefen dunkelgrün über das grüngraue Meer. Am Ufer war alles in beständiger Bewegung, die harten Halme auf den Dünen zitterten, die zum Trocknen aufgehängten Netze und Fische wiegten sich und die Röcke und Tücher der Fischersfrauen flatterten.
»Ich habe, wie Sie wissen, meinen Abschied genommen«, sagte der Geheimrat Knospelius
zu Hans, während sie langsam dem Winde entgegen am Meere spazierengingen, »ich habe
genug gerechnet, und ich
»Mich ärgert dieser Wind«, meinte Hans. »Sie wissen, ich male das Meer, ich male es den ganzen Tag, wenn ich es nicht gerade studiere. Nun, bei diesem Winde sitzt das Meer schlecht, es hat alle fünf Minuten ein anderes Gesicht.«
»Das kann ich mir denken«, bemerkte Knospelius. »Die Mutter Wardein ist bequemer, die sitzt da wie eine aus Holz geschnittene heilige Anna.«
Hans, von seinen Gedanken hingenommen, fuhr eifrig fort: »Überhaupt eine verteufelte Geschichte mit diesem Meere, es läßt sich nicht fassen, ich kriege die Logik seiner Linien und Bewegungen nicht heraus, sein Durchschnittsgesicht, wissen Sie, denn bei dem Porträt muß ich mir in dem Modell ein Durchschnittsgesicht konstruieren, das die Möglichkeit aller Augenblicksgesichter in sich schließt. Nun, bei dem Meere bringe ich es nicht fertig, und ich studiere es doch in- und auswendig. Ich schwimme Stunden in ihm herum, ich fahre auf ihm bei Tag und bei Nacht, ich beschleiche es zu allen Tageszeiten. Wahrhaftig, es wird für mich zu einer Art Besessenheit.«
»So, so«, murmelte Knospelius und sah Hans schlau von der Seite an, »das also ist jetzt Ihre Besessenheit. Na ja, es ist ganz bequem, eine Besessenheit zu haben. Man braucht da nicht nachzudenken, was man tun soll, man muß etwas tun, ob man will oder nicht. Das ist so wie bei einer Staatsanstellung, man muß in das Bureau, ob man will oder nicht. Ich habe meiner Besessenheit jetzt den Abschied gegeben.«
Sie mußten stehen bleiben und nach ihren Hüten greifen, die ein Windstoß ihnen vom
Kopfe reißen wollte. Dann wies Knospelius zur Düne hinüber und
»Ja, sie näht Hemden für Fischerkinder«, erwiderte Hans zerstreut. Aber Knospelius' großes, bleiches Knabengesicht schaute forschend und aufmerksam zu ihm auf: »So, das ist neu.«
»Ja, das ist neu«, bestätigte Hans obenhin. »Übrigens gehe ich auch jetzt arbeiten; auf Wiedersehen«, und er stieg die Dünen hinauf.
Knospelius stand noch da, schaute zu Doralice hinüber und murmelte: »Ja, das ist neu.« –
Doralice saß da und nähte. Das tat sie jetzt gern, denn es sah beruhigt aus, sah aus, als sei alles in Ordnung. Nur hielt sie es nicht lange aus, das Säumen der Leinwand machte ihre Finger nervös. Bald warf sie die Arbeit fort und streckte sich auf ihrer Decke aus, um zu den Wolken hinaufzustarren. Sie hörte Hans zuweilen zu seiner Malerei sprechen. »Was ist denn das?« rief er plötzlich, »etwas ganz Neues.« – »Was denn?« fragte Doralice. – »Sehr merkwürdig«, sagte Hans, »mit einem Male auf jeder Welle ein kleiner Heiligenschein. Es sieht aus, als ob jeder Wellenkamm mit einem Lichtstifte übergangen worden wäre.«
»Ja, da kommt alles Mögliche vor«, bemerkte Doralice, ohne sich aufzurichten.
»Sehr merkwürdig«, fuhr Hans fort, »einmal habe ich schon etwas Ähnliches gesehen, als ich als Knabe einmal die Schafe hütete, da hatten all die kleinen Hügel plötzlich diese Heiligenscheine.«
Ach, dachte Doralice, jetzt hat er noch die Schafe gehütet. In letzter Zeit kamen in
Hansens Bemerkungen immer wieder das Dorf und das Bauernblut und die Feldarbeit vor.
Das klang fast wie ein
Hans machte sofort sein förmlich freundliches Gesicht, mit dem er in letzter Zeit ihr zu begegnen pflegte, und sagte höflich: »Gewiß, das verlangt niemand von dir. Du hast auch sicherlich in deinen Verhältnissen manches Wertvolle gelernt, das man auf der Schafweide nicht lernen kann.«
Doralice seufzte, und es entstand wieder eines dieser langen Schweigen, das jetzt
häufig zwischen ihnen herrschte. Sie hatte nicht gewußt, daß zwei Menschen so viel
miteinander schweigen könnten, wie Hans und sie es taten. Plötzlich warf Hans seinen
Pinsel fort und meinte, diese Erscheinung müsse er näher beobachten, er wolle auf das
Meer hinausfahren. Dann lief er zum Meere hinab. Doralice blieb ruhig liegen, bei
diesem Winde nahm er sie ja doch nicht mit. Das war also das stille
Nebeneinanderhergehen. Anfangs war es Doralice wie Friede und Sicherheit erschienen.
Sie war ja ganz verlassen inmitten einer feindlichen, unheimlichen Welt, nun aber
wurde es zu einer sehr erregenden Sache. Wenn Hans da schweigend vor seiner Staffelei
stand, dann wußte Doralice doch, daß er innerlich mit ihr sprach, daß er ihr Vorwürfe
machte, daß seine stolze und verwundete Liebe sich mit der ganzen heißen Beredsamkeit
über sie ergoß, die Hans eigen war. Sie war dessen so gewiß, als sähe sie, wie einer
zu ihr sprach, nur daß er noch zu fern war, daß sie ihn hörte. Sie sprach ja auch
beständig in Gedanken zu Hans, rechtfertigte sich, beschuldigte ihn, demütigte sich.
Einmal jedoch mußte der Augenblick kommen, daß sie beide zu voll von dem, das sie
Heiß schien die Sonne auf die Bank. Die Mutter Wardein nickte und rückte zur Seite,
als Doralice sich zu ihr setzte. Vor ihnen auf dem Sande trieben sich magere Hennen
umher und piepten freudlos und ergeben. Durch das geöffnete Fenster hörte man das
Klappern von Löffeln, die Familie Wardein saß dort schweigend bei ihrem Mittagsmahl.
Auch aus den Schornsteinen der anderen kleinen Katen stieg der Rauch und auch dort
wurde geschwiegen. Diese Häuschen standen ja meist schwarz und still da, höchstens
daß sich einmal bei Steeges eine gellende Frauenstimme vernehmen ließ, wenn Steege
betrunken nach Hause kam, oder daß oben beim Strandwächter Lärm entstand, wenn der
Strandwächter seine Frau schlug. »Die schlagen sich«, hätte der Geheimrat gesagt,
»weil sie ineinander verliebt sind.« Nun, dachte Doralice, das mochte ja eine bequeme
Art sein, eine Aussprache
Zum Mittagessen kehrte Hans nach Hause zurück. Bei Tische sprach er wieder vom Meere, sprach von Zibbe Waldhüter, der von einem Wilddiebe einen Schrotschuß in das Bein bekommen hatte, und vom Bilde der Mutter Wardein, das zu einer Ausstellung geschickt werden sollte. Sobald er mit dem Essen fertig war, stand er auf, er behauptete, viel zu tun zu haben, die Bilderkiste mußte zugenagelt werden und dann wollte er mit einer Anweisung zur Post gehen.
»Hast du Bilder verkauft?« fragte Doralice. Ja, er hatte Bilder verkauft, das Geschäft ging gut. In der Tür wandte er sich noch einmal um und fügte hinzu: »Wenn du etwas nötig hast, brauchst du es nur zu sagen, ich komme schon dafür auf.« Damit ging er.
Er kam dafür auf. Immer gerecht und billig,
Hans zuckte die Achseln: »Mit niemand; ich rezitierte nur so für mich den Homer.«
Das war natürlich gelogen, dachte Doralice, sie glaubte wohl zu wissen, was und zu wem er da gesprochen hatte. »Machen wir noch einen Spaziergang?« fragte sie. Sie bogen um die Dünenspitze die Dorfstraße hinauf, gingen an den Kartoffelfeldern und Stoppelfeldern entlang und gelangten endlich auf die geraden Wege der Föhrenschonung. Hans sprach wieder von Farben und von Licht, behauptete, daß die jungen Föhren in den rötlichen Sonnenstrahlen violett würden. Das alles war Doralice unendlich gleichgültig, sie wünschte einen Gesprächsstoff, in dem sie vorkam, sie und Hans. Der beste Ausweg waren dann in letzter Zeit gemeinsame Reiseerinnerungen gewesen. »Erinnerst du dich«, fragte sie, »der Engländerin in den Uffizien, die zwei Kneifer auf der Nase hatte, einen hinter dem anderen?«
Ja, Hans erinnerte sich ihrer, »und,« meinte er, »war es nicht der Tag, an dem wir nach Fiesole hinaufstiegen, und auf den Ziegelstufen saßen, die zu dem antiken Theater hinabführen? Ich glaube, es war der heißeste Sitz, auf dem ich je gesessen habe.«
»O nein«, sagte Doralice, »wir haben einmal noch heißer gesessen. Das war in Padua
auf dem Rasenplatz
Hans lachte, diese Erinnerungen erheiterten ihn stets. »Ach ja, und ich übte mich, ein Gesicht zu machen wie Giottos Verzweiflung drinnen in der Kirche.«
Mit Sonnenuntergang traten sie den Rückweg an und an einem geschützten Plätzchen an der Düne erwarteten sie die Dunkelheit. Hans schwieg und Doralice dachte über Hansens Schweigen nach. Dann tauchte wohl in der Finsternis der rote Punkt einer brennenden Zigarre nicht eben hoch über dem Erdboden auf und Knospelius' tiefe Stimme sagte: »Guten Abend.« Der Geheimrat setzte sich zu den beiden und sprach in seiner langsamen Weise von fernen beruhigenden Dingen. Er sprach von alten Ministern, die lächerliche Angewohnheiten gehabt hatten, oder von einem stillen Café in Konstantinopel, in dem er mit schweigenden Türken gesessen hatte und geraucht, während sie durch die geöffnete Tür alle die weißen turbangeschmückten Grabsteine eines kleinen türkischen Friedhofes nachdenklich betrachteten. Oder er sprach von einer ganz rosa Wüste und von Arabern, die alle geistvolle, ernste Gesichter hatten und doch Dummköpfe waren. Wenn das Licht des fernen Leuchtturmes deutlich zu sehen war, trennte man sich.
Da der Nordostwind das Hinausfahren zum Fischfang verhinderte, mußte Hans zu Hause bleiben, Doralice und er saßen bei der Lampe, sie versuchte zu nähen, er las. »Willst du nicht laut lesen?« fragte Doralice.
»O gewiß, wenn dir das angenehm ist«, erwiderte Hans höflich, »aber es ist Homer.«
Hans las die Beschreibung von Alkinoos' Garten:
»Birnen reifen auf Birnen, auf Äpfel röten sich Äpfel,
Trauben auf Trauben erdunkeln, und Feigen schrumpfen auf Feigen.«
Er gab dem Klang der Verse ein eintöniges Rollen, ein wellenhaftes Auf- und Abschwellen, das Doralice in eine köstliche Ruhe wiegte. Sie warf ihre Arbeit fort, lehnte sich in den Sessel zurück und schloß die Augen. Sie erwachte davon, daß Hans ihr leicht über das Haar strich. »Du bist müde, Kind, du mußt schlafen«, sagte er. Seine Stimme klang seltsam weich und ergriff Doralice so stark, daß ihre Augen sich mit Tränen füllten. Hans bemerkte es nicht, er zündete die Kerzen an, löschte die Lampe aus und sagte gute Nacht.
Doralicens Nächte waren in letzter Zeit unruhig. Sie lag lange wach und horchte auf all die Töne, die durch das Haus liefen, und wenn dann eine Tür knarrte, wenn sie Schritte vernahm, dann wußte sie, daß Hans hinausging an das Meer. Er tat das jetzt öfters des Nachts, er wollte das Meer studieren, allein Doralice wußte es wohl, auch er konnte nicht schlafen, auch er litt und darin lag etwas, das sie ganz heiß und unruhig vor Freude machte.
Am Morgen flaute der Nordostwind ab und um die Mittagzeit legte er sich ganz. Gegen Abend frischte ein leichter Westwind auf, der große weiße Wolken herantrieb.
»Sonnchen wollt im Meere schlafen,
Schwarze Wasser sind die Decken,
Hecht, du grüner Offizier,
Laufe schnell, es aufzuwecken.
Raderi, raderi, raderidira.«
Der Geheimrat Knospelius erschien auch wie gewöhnlich, klein und grau, die große Zigarre zwischen den Lippen. »Guten Abend«, sagte er, »also wir kriegen ein Gewitter.« Hans protestierte eifrig: »Nicht vor morgen früh. Stibbe weiß das ganz genau, er fährt daher heute nacht hinaus. Ich fahre mit Steege; weit da draußen soll es eine Stelle geben, an der bei solchem Wetter die Butten so fest liegen, daß man sie im Netz wie Kartoffeln aus dem Sande pflügen kann.«
»So, so«, meinte Knospelius, »also Tatendurst, Tatendurst.« Sie schwiegen eine Weile und hörten dem klagenden Gesange der Fischersfrauen zu:
»Hecht, du grüner Offizier,
Laufe schnell, es aufzuwecken.«
»Wie diese Melodie sich Zeit nimmt«, bemerkte Doralice.
»Ach ja«, seufzte Doralice, »hier geht alles langsam, langsam.«
»Dafür werden wir gründlich, meine Gnädige«, meinte Knospelius. »In der Stadt, da lebte ich von zerhackten Erlebnissen, von zerhackten Geschichten und Gedanken, hier erzählt man jede Geschichte ganz bis zu Ende, denkt jeden Gedanken bis in seine letzten Tiefen.«
»Und wird nie mit ihm fertig«, warf Hans ein.
»Das kommt vor«, bestätigte Knospelius, »sehen Sie unsere Liebespaare, die da im
Dunkeln so still nebeneinander hergehen; sie sprechen am Abend vielleicht drei Worte
miteinander; sie haben eben Zeit, sich auszusprechen. Temposachen. Der Inhalt der
Liebesgeschichten ist ja immer derselbe, sie verteilen ihn auf einige Jahre, andere
müssen in wenig Tagen fertig werden. Temposache, nichts weiter. Da gibt es so ein
indisches Märchen von einer seligen Insel; den Leuten dort geht es gut, wie das auf
solchen Inseln zu sein pflegt; sie haben alles, was sie wünschen können.
Charakteristisch für die Natur dieser schönen Insel ist es, daß die Bäume Mädchen
tragen, schöne Mädchen, die am Morgen erblühen und am Abend welken und sterben. Jetzt
sage ich mir, pflückt ein Insulaner sich am Morgen solch eine schöne Frucht,
Da ließ Doralice sich vernehmen, klagend und zugleich gereizt, als stritte sie mit jemand: »Ach ja, die Mädchen, die werden es ja wohl verstehen, ihre ganze Liebe in einen Tag zu legen, aber die Männer verstehen so schrecklich langsam. Wenn da am Morgen etwas vorkommt zwischen ihnen, dann werden diese armen Mädchen sterben müssen, ohne daß die Männer sich ausgesprochen haben.«
Knospelius kicherte und Hans meinte: »Auf seligen Inseln kommt vielleicht nie etwas zwischen Liebenden vor.«
»Doch, doch«, widersprach Knospelius, »das ist unvermeidlich. Ich bin zwar in diesen
Sachen keine Autorität, in mich hat sich nie jemand verliebt. Ich meine aber, das muß
eine verantwortungsvolle Lebenslage sein. Jemand also verliebt sich in mich, sieht in
mir sein Ideal und ich bin gleichsam das Depot für diesen idealen, herrlichen
Knospelius, ich verwalte ihn. Da ist es dann natürlich, daß beständig Mißgriffe
vorkommen. Ich würde ein Gefühl haben, als hätte mir jemand einen selten kostbaren
Prachtband geliehen, und ich müßte in steter Sorge leben, daß dem wertvollen Buche
nicht etwas passiert. Aber es ist immerhin möglich, daß die Männer auf der seligen
Insel schneller von Begriff sind und die Mädchen weniger durstig
Das Licht des Leuchtturms war in der Ferne schon deutlich zu sehen und Hans trieb zum Heimgehen, da er ja noch mit Steege hinausfahren wollte. Zu Hause hatte Agnes schon die Mahlzeit bereitgestellt. Hans nahm sich kaum die Zeit zum Essen und eilte in sein Zimmer, um sich umzukleiden. Doralice stand am Fenster und schaute in das weiße Aufdämmern des Mondes hinaus. Sie hörte, daß Hans wieder in das Zimmer kam; er trat an sie heran, umfaßte mit seinen Händen ihre beiden Schultern: »Verstehe ich so langsam?« fragte er. Das klang weich, fast schüchtern. Doralice bog ihren Kopf zurück, so daß er sich gegen Hansens Brust lehnte. Ihr Herz klopfte sehr stark und die Augen wurden ihr heiß von Tränen. »Du verstehst nicht«, sagte sie kummervoll, »du sprichst nicht, du sagst nicht.«
»Ach Kind«, erwiderte Hans, »mit dem Sprechen ist es so eine Sache, man spricht und es klingt hart und sauer und häßlich und ist ungerecht und rücksichtslos und ist doch nicht das, was man sagen wollte.«
»Es kann hart sein, es kann ungerecht und rücksichtslos sein«, rief Doralice leidenschaftlich, »nur nicht so, nur nicht so! An dieser Gerechtigkeit und an dieser Rücksicht stirbt man.«
Hans beugte sich über sie und küßte sie fest auf die Lippen: »Gut, gut«, sagte er in seinem gewohnten freundlichen, eifrigen Ton, »so wollen wir uns denn morgen alles sagen, was wir heute dem Meere zugeschrien haben. Für heute gute Nacht.«
Doralice stand noch lange am Fenster und die Tränen, die warm über ihre Wangen
niederrannen,
Um Mitternacht erwachte Doralice von einem starken Geräusch, das im Zimmer um sie her sich vernehmen ließ. Das Meer rauschte stark, so stark, als stünde das Häuschen mitten in den Wellen. Dazu war es, als ob alle Gegenstände im Zimmer sich bewegten, die Sachen auf der Toilette klirrten, der Waschkrug schnurrte leise vor sich hin, die Tür klapperte. Draußen aber über dem Dache schienen schwere Gegenstände sausend durch die Luft zu fahren, zuweilen kam ein Pfeifen, ein ausgelassenes, höhnisches Pfeifen, als jagte dort irgendwo ein Gassenbube durch die Luft. Oder ein Klagelaut kam schrill und verzweifelt, und plötzlich wurde all das übertönt von dem mächtigen Rollen und Krachen des Donners. Doralice sprang aus dem Bett und lief an das Fenster des Wohnzimmers. Die Nacht war ganz schwarz und schien voll wilden Getümmels, ein Blitz zuckte auf und zeigte für einen Augenblick in einem blauen Lichte das seltsam veränderte Meer. Es erhob sich dort wie große schwarze Mauern, Mauern, die schwankten und stürzten und überall lag es auf ihnen wie bläulicher Schnee. Doralice hatte Angst, nur das, keinen anderen Gedanken als nur diese Angst, die uns treibt, uns zu verbergen, zu verkriechen, nach Hilfe zu rufen. Das Zimmer wurde hell, Agnes stand da, die Lampe in der Hand und die gelben Augen der alten Frau sahen Doralice starr und böse an. Da begriff Doralice. »Hans,« murmelte sie.
»Ja, bei diesem Wetter auf dem Wasser zu sein«, sagte Agnes scheltend, »hat man so
was gehört, und
So still zu sitzen und hinauszuhorchen war furchtbar qualvoll, Doralice ertrug das nicht, sie mußte etwas tun. »Ich gehe zu Wardeins«, sagte sie. Agnes zuckte die Achseln. »Was können die tun?« meinte sie. Aber Doralice ging doch hinaus, schlich sich an der Mauer hin, um von dem Sturm nicht umgeworfen zu werden, und trat in die Stube der Wardeins. Die Wardeinin hatte eine kleine Lampe angesteckt und ging nur mit einem kurzen Rocke bekleidet im Zimmer umher, befestigte die Fensterläden, löschte die letzte Glut auf dem Herde, rückte an den klappernden und schnurrenden Geräten auf dem Bord. Als Doralice eintrat, schaute die Wardeinin sie ruhig und ernst an und wandte sich wieder schweigend ihrer Hantierung zu. Doralice stand da, atemlos von dem Gang durch den Sturm, und sagte leise: »Ach, Frau Wardein, dieser Wind.«
»Der ist nicht gut«, antwortete die Wardeinin, »aber was kann man machen?«
Doralice setzte sich auf einen Stuhl und wartete, daß die Frau noch etwas sagen
würde, etwas, das wie Trost klang. Da ließ sich von dem großen Bett her Wardeins
tiefe Stimme vernehmen: »Ich hab's gesagt,
Diese rauhe Stimme, die grob und vertraulich von dem Furchtbaren da draußen sprach, tat Doralice wohl. Die Kinder begannen im Bett zu weinen und die Mutter mußte sie schelten und schlagen. Die Großmutter hatte sich in ihren Kissen aufgerichtet und starrte auf das Fenster, als könnten ihre Augen sehr weit in die Dunkelheit hineinsehen. »Schlechter Wind, schlechter Wind«, murmelte sie. Doralice saß noch immer da, sie konnte sich nicht entschließen zu gehen. Die enge Stube mit ihrem alltäglichen Leben mitten in all dem Furchtbaren da draußen war etwas wie Geborgenheit. Allein die Wardeinin schien mit ihren Geschäften fertig zu sein, sie stand vor ihrem Bett, gähnte und sah Doralice an. Doralice mußte gehen, hier wollte man sie nicht mehr. Und sie ging wieder in das Wohnzimmer hinüber, wo Agnes vor der Lampe saß und den Oberkörper sachte hin und her wiegte.
Fröstelnd drückte sich Doralice wieder in den Sessel und hüllte sich in ihre Decken.
Es war qualvoll und furchtbar anstrengend, beständig auf die wirren Töne da draußen
zu hören, diese Töne, die, je länger sie ihnen lauschte, um so ausdrucksvoller
wurden, sich in gespenstische Gestalten wandelten. Wenn das höhnische
Gassenjungenpfeifen erscholl, sah sie deutlich ein kleines Ungetüm mit gelbem Gesicht
voller Sommersprossen, mit rotem Haar, in grauen, zu weiten Kleidern, das die Hände
in den Hosentaschen unendlich frech durch die dunkle Luft hinschlenderte. Die lauten
Klagelaute gehörten einer großen Frau mit lang niederhängendem,
»Von Dorschen zu träumen ist schlecht und von Butten gut«, wiederholte die Mutter
Wardein ernst, »das ist richtig.« – Als die Frauen gegangen waren, kam der Geheimrat;
er war steif und offiziell, dabei hatten seine Züge etwas Gekniffenes und Verzerrtes,
als schmerze ihn sein Gesicht. Er sagte, Doralice könne sich auf ihn verlassen, alles
Nötige würde geschehen. Sobald es möglich wäre, würden Leute hinausfahren.
Gegen Abend verbreitete sich das Gerücht, der Fischer Stibbe sei zurück. Wieder war das Zimmer voller Frauen; die Stibbin erzählte, ihr Mann habe sich bald von Steege getrennt, da ihm das Wetter verdächtig erschienen sei. Unterwegs habe das Gewitter ihn noch erwischt, es sei dunkel geworden, daß er nicht die Hand vor Augen sah, und der Sturm! Es war noch gut gewesen, daß er bald in die Bucht hinter den Leuchtturm geraten war und dann – ein gutes Boot war eben ein gutes Boot. Wenn er das neue Boot nicht gehabt hätte, wer weiß, wie es ihm dann ergangen wäre. Von Steege und Hans wußte er nichts. Die Frauen sprachen alle zu gleicher Zeit, die Steegin weinte wieder: »Hu, hu, hu«, endlich schickte Agnes sie alle hinaus.
Der Abend brach herein; Doralice und Agnes saßen sich gegenüber; Agnes wiegte sich
sachte und jammerte leise; Doralice versuchte es mit ihren Gedanken, sich in
irgendwelche ferne, friedliche Erinnerungswinkel zu flüchten, oder sie hörte
gedankenlos dem Sturm und dem Meere zu. Die Nacht kam, Agnes brachte Doralice zu Bett
und Doralice versank in einen schweren Schlaf; durch den tiefen Schlaf ging zuweilen
etwas, das zu schwer zu tragen war, und das Erwachen wurde dann zur einzigen
Zuflucht. Doralice schlug die Augen auf. Das Zimmer war hell; auf dem Stuhl am
Fußende
Agnes' Lachen klang herzlich und behaglich in das Pfeifen und Stöhnen des Windes hinein. –
In der Nacht hatte sich der Sturm gelegt. Der Regen dauerte noch den ganzen Vormittag
des nächsten Tages an, erst am Nachmittage hörte er auf. Doralice ging zum Strande
hinab, eilig, als warte dort jemand auf sie, die Wellen hatten den Sand aufgepflügt,
ihr Fuß sank tief in Algen und Seetang ein. Unter dem eisengrauen Himmel lag das Meer
weiß von
Agnes trug das Essen auf, stand dabei und sah zu, wie Doralice aß, und beiden rannen
dabei die Tränen über die Wangen. Spät am Abend kam noch der Geheimrat, dessen Diener
Klaus mit einer großen Stallaterne leuchtete. Knospelius saß Doralice gegenüber, er
wußte nicht viel zu sagen. Von alten Ministern und türkischen Cafés durfte er hier
nicht sprechen. Aber Doralice konnte dann klagen und weinen und
»Mein Gott«, sagte Knospelius und zog die Augenbrauen empor: »was wir auch sagen, wir nehmen unser Geheimnis ja doch mit.«
»Welches Geheimnis?« fragte Doralice und ihre Augen wurden groß und rund vor Erstaunen.
Knospelius verzog ärgerlich sein Gesicht: »Nichts, nichts, das war nur so ein Ausspruch, und Sie wissen, wenn man nichts Rechtes zu sagen weiß, so tut man einen Ausspruch. Übrigens«, fuhr er zögernd fort: er war es nicht gewohnt zu trösten und auch nicht gewohnt so starkes Mitleid zu empfinden, »übrigens«, fuhr er fort, »von denen, die uns nahe stehen, wollen wir doch nichts Neues erfahren, sie sollen sich immer wieder so bestätigen, wie wir sie kennen. Wir wollen nichts bei ihnen entdecken, was wir nicht schon wissen.«
»Ich wollte wissen, ob er mich noch so liebt wie früher«, sagte Doralice einfach. Darauf fand der Geheimrat keine Antwort. Er bog den Kopf zurück und schloß die Augen, das schöne, tränenüberströmte Gesicht ihm gegenüber ergriff ihn zu stark.
Von der Küche her klang Klaus' laute, predigende Stimme herüber, er las Agnes aus der Bibel vor.
Am vierten Tage nach der Sturmnacht kam die Nachricht, bei dem Fischerdorf hinter dem
Leuchtturm sei ein Boot an das Ufer gespült worden. Die Steegin zog ihr Sonntagskleid
an und fuhr mit dem Strandwächter hin. Spät am Nachmittag kehrte sie zurück und
berichtete, es sei ihr Boot gewesen, übel zugerichtet, sie habe es dort gleich an
einen Fischer verkauft.
Der Sonntagmorgen war sonnig und der sandige Weg, der zur Kirche führte, belebt von
Kirchengängern. Als Doralice und Agnes die kleine Kirche betraten, fanden sie alle
Bänke dicht besetzt. An den teilnahmsvollen Blicken, die auf sie gerichtet waren,
merkten sie, daß auf sie gewartet worden war, und auf der vordersten Bank neben der
Steegin und ihren drei Kindern waren für sie Plätze frei gehalten worden. Der
weißgetünchte Raum war voller Sonnenschein und das Altarbild, Christus Petrus über
das Wasser geleitend, mit seinen giftgrünen Wellen, seinen rot und gelben Gewändern
schrie ordentlich in die weiße Helligkeit hinein. Ein Choral wurde gesungen von
lauten, heiseren Frauenstimmen, dann las der Schullehrer eine Predigt vor, sein
bleiches, gedunsenes Gesicht verzog sich zu einer traurigen Miene, sein Tonfall war
singend und eintönig. Auf allen Bänken begannen die Frauen zu seufzen, die Steegin
und ihre Kinder weinten laut, auch Agnes weinte. Doralice jedoch konnte nicht weinen
und weil sie fühlte, daß die Frauen sie deshalb verwundert und mißbilligend ansahen,
zog sie sich ihren Schleier vor das Gesicht. Sie hatte nicht die Empfindung, daß
diese singenden und seufzenden Frauen, daß die Worte, die dieser häßliche Mann dort
auf der Kanzel vorlas, irgend etwas mit ihr und ihrem Schmerze zu tun haben könnten.
Der Gottesdienst war
Doralice ging jetzt allein am Strande hin, sie ging täglich stundenlang, das war der
Inhalt ihres Lebens. Sie wollte Hans dienen, wollte bei ihm sein, wollte ihm treu
sein. Dort auch vermochte sie ihren Schmerz tief zu fühlen, konnte um ihre Liebe
trauern, konnte unglücklich sein, denn, wenn sie das nicht konnte, was hatte sie
dann, was war sie dann? Und dann war um sie und in ihr alles leer. Etwas anderes noch
war es, was sie auf ihren Wanderungen begleitete. Wenn sie so an den Wellen entlang
ging, die weiß mit leisem Prickeln über den Sand bis zu ihr hinaufliefen, da schien
es ihr, als wollte das Meer sie zu etwas überreden, zu etwas, gegen das sie sich
sträubte, gegen das sie stritt, zuweilen so heftig stritt, daß sie laut vor sich hin
ein »nein, nein« in das Rauschen der Wellen hineinsprach. Allein dieser Streit mit
dem Meere hatte für sie eine furchtbar erregende Anziehung. Zu Zeiten jedoch entglitt
ihr all das, dann versank sie gedankenlos in die Betrachtung der feinen Linien, die
das Wasser auf den Sand geschrieben hatte, in den Anblick der zitronengelben,
hellblauen und
Wir können einen sehr großen Schmerz haben, wir können sehr unglücklich sein und doch hält all das nicht stand vor der Wonne, nach einer langen ermüdenden Wanderung wohlig die Beine von sich zu strecken. Sie sah hinauf in die Wipfel der Föhren, hoch oben revierte ein Falke metallblank in all dem Blau. Neben ihr stand eine Espe und flüsterte unablässig. Wie war es hier gut, über alles Wünschen hinaus gut. Doralice fielen die Augen zu, das letzte, was sie mit halbgeschlossenen Lidern noch sah, war ein Sprung Rehe, der von der Höhe niederstieg. Vorsichtig hoben die Tiere ihre dünnen Läufe über das hohe Farnkraut. Sie gingen bis an den Rand der Düne vor, blieben dort stehen und äugten regungslos auf das Meer hinaus.
Doralice schlief so süß, daß, als der Schlaf vorüber
Die Nächte waren wieder mondhell. Knospelius und Doralice saßen an dem gewohnten Platz auf der Düne, ihnen zu Füßen schlief Karo der Hühnerhund. Das Meer war tief beruhigt, sachte wiegte sich der Mondglanz auf dem Wasser, nur an der Brandung schnurrten kleine silberne Wellen behaglich vor sich hin. Vor Stibbes Hütte wurden wieder Fische gereinigt und die Frauen sangen ihr altes klagendes Lied:
»Sonnchen wollt im Meere schlafen,
Schwarze Wasser sind die Decken,
Hecht, du grüner Offizier,
Laufe schnell es aufzuwecken,
Raderi raderi raderira!
Sonnchen wollt im Meere schlafen,
Wo mein Junge schlafen muß.
Butte, kleines braunes Frauchen,
Bringe beiden meinen Gruß.
Raderi raderi raderira!«
»Karo schläft jetzt viel«, sagte der Geheimrat, »er ist verstimmt, das Meer interessiert ihn nicht, daher will er träumen, er jagt im Traum, seine Träume sind grün oder korngelb.«
Der Geheimrat zog eine Weile sinnend an seiner Zigarre: »Ich weiß, ich weiß«, begann er dann wieder, »hab' auch solche Zeiten gehabt, an der Wirklichkeit liegt einem dann nichts und die Träume werden einem dann wichtig. In solchen Zeiten muß man den Träumen entgegenkommen; man muß Orte aufsuchen, die den Träumen förderlich sind oder sie nicht stören. Solche Orte gibt es, dort unten in Italien oder auf den griechischen Inseln. Ich habe gedacht, wenn Sie von hier fortgehen ...«
– »Wohin soll ich gehen?« unterbrach ihn Doralice leidenschaftlich. »Sie wissen doch, der einzige Ort, an dem mein Leben einen Sinn hat, ist hier.«
»Natürlich, natürlich«, brummte Knospelius, »ich sage nur, wenn Sie fortgehen. Schließlich kommt der Winter, dann ist das Land hier auch nicht mehr dasselbe; dann wäre so eine stille südliche Bucht empfehlenswert, blau, Sonnenschein, die Luft weich wie eine Puderquaste; das Leben so selbstverständlich, daß man nicht darüber nachdenkt, ob man es leben soll oder nicht. Man denkt überhaupt nicht nach, oder wenn man denkt, so komponiert man an seiner Vergangenheit, denn unsere Gegenwart können wir wohl verachten, aber von seiner Vergangenheit will jeder etwas haben. Ich meine also, wenn Sie von hier fort können, so sollten wir an solch eine stille Bucht gehen.«
– »Wir?« fragte Doralice.
»Ja, ich sage wir«, erwiderte Knospelius, »denn Sie müssen einen haben, der Sie
begleitet und beschützt und, sehen Sie, ich bin der geborene Begleiter, der geborene
Beschützer, sozusagen der geborene Vormund,
»Ich danke Ihnen«, sagte Doralice leise, »aber ich kann jetzt von hier nicht fort.«
»Freilich, freilich«, sagte Knospelius heiter, »wir haben Zeit, wir haben hier gelernt, Zeit zu haben, wir warten, wir warten ruhig ab, bis das Meer uns freigibt.« –
So kam es denn, daß, als der Oktoberwind die gelben Birkenblätter von der Zibbehöhe
auf das Meer hinaustrieb und das blassere Gold der Oktobersonne