Aus Kinderland : ELTeC Ausgabe Frohnmeyer, Ida (1882-1968) ELTeC conversion Priska Rüegg 227 37549

2020-05-18

Aus Kinderland Frohnmeyer, Ida Verlag von D. Gundert Stuttgart 1912

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Aus Kinderland.

Maxi und Daxi waren immer zusammen gewesen, solange sie zurückdenken konnten.

Natürlich! Der liebe Gott hatte sie ja zusammen zu Vater und Mutter geschickt, und weil man das nicht hatte voraussehen können, mußten sie zuerst in eine m Bettchen schlafen, und da sie so klein und schmal waren, wurden sie gar in ein Steckkissen gelegt.

Später ging das freilich nicht mehr. Die zwei bekamen runde, kräftige Gliederchen und starke Fäustchen - da brauchte jedes ein Bettchen für sich. Neben Mutters großem Bett stand das eine, auf Vaters Seite das andere. Wie war das lustig, am Morgen früh aufzuwachen und so lange zu schwatzen und zu lachen, bis Vater und Mutter aufwachten und auch zu lachen und zu schwatzen anfingen. Und während des unausstehlichen Anziehens und des noch sschrecklicheren Waschens wurde weiter gelacht und geschwatzt und dazu auch gesungen.

Vaters Stimme klang tief und dröhnte wie die Orgel in der Kirche. Maxi, weil er ein Junge war, wollte dies immer nachmachen, aber seine helle Zirpstimme paßte nicht recht dazu. Daxi sang hoch wie eine frohe kleine Lerche, und Mutters Stimme war das Schönste, das man sich denken konnte. Davon waren Maxi und Dari fest überzeugt und Vater beinahe auch. Mutter hatte ja auch Sängerin werden wollen. Sie war lange bei einem Professor gewesen. Der hatte ihr jeden Tag so wunderschön vorgesungen, daß Mutter es allmählich auch gelernt hatte. Aber gerade wie sie angefangen, in einem prächtigen Seidenkleid vor vielen, vielen Leuten in einem großen Saal zu singen, hatte sie Vater kennen gelernt.

Das war immer von neuem erstaunlich, daß Vater und Mutter nicht immer beisammen gewesen waren wie Maxi und Dari.

Mutter war zu Vater in das große srtille Pfarrhaus gezogen, das ein bischen höher lag als die andern Häuser im Dorf. Fünfzig Stufen führten zur Haustüre hinauf, was die alten Tanten und Onkel, die manchmal zu Besuch kamen, recht langweilig fanden. Aber Mutter lachte nur und sagte: „O nein, ich finde es sehr schön, daß das Pfarrhaus höher liegt als die andern Häuser. Dann vergessen wir weniger, daß wir sie alle zu hüten haben, und daß sie alle zu uns heraufsehen.“

Darauf antworteten die alten Tanten und Onkel immer eine Menge Sachen, die Maxi und Daxi gar nicht verstanden, wenn sie auch ihre blauen Augen erstaunlich weit aufrissen. Sie verstanden nur, daß Onkel Robert Mutter hie und da tätschelte und „gutes Kind“ nannte, und da mußten sie immer so furchtbar lachen. Mutter war doch kein Kind! Sie durfte zu Bett gehen, wann sie nur wollte; sie konnte, ohne sich zu strecken, ganz mühelos einen Brief einwerfen. Man dente, Mutter ging jeden Tag in die Küche und gab alles an, was sie gerne zu Mittag essen mochte; und ihre Kleider gingen nicht wie Darxis bis ans Knie, sondern hüllten ihre schlanke Gestalt lang und lose ein. Daxis Locken wehten frei und lustig um ihr rundes Gesicht, Mutter hatte nur einige wenige, die immer in die Stirne fallen wollten, die übrigen Haare waren in zwei schwere Zöpfe geflochten und lagen wie eine Krone auf Mutters liebem, schmalem Haupt.

Einmal hatte Vater ein Lied gesungen: „Wie bist du meine Königin“. Er hatte Mutter dazu angesehen, die mitten im Abendlicht unter dem Fenster gestanden, und da hatten Maxi und Daxi mit einem Malegesehen, daß Mutter eine Krone, eine wirkliche schimmernde Krone trug, und ganz begeistert hatten sie in Vaters Lied eingestimmt:

„Wie bist du meine Königin“.

Wenn man in den Garten wollte, mußte man nicht alle fünfzig Stufen hinaufsteigen. Bei der achtunddreißigsten war eine kleine Plattform, „zum Ausschnaufen“, sagten die alten Tanten und Onkel, und da führte nach jeder Seite ein kleiner Weg in den Garten. Auf der linken Seite spielten die Kinder nie. Da waren Beete mit so wunderschönen Blumen, daß man ganz ehrfürchtig und still in den sauberen Wegen umhergehen mußte. In der Ecke stand „Hildes-Ruh“, so hatte Vater die Laube genannt, weil Mutter, wenn sie Stille haben wollte, immer dorthin ging. Die Laube war dicht mit wildem Wein und Geisblatt bewachsen, und daneben stand ein krummgewachsener Fliederbaum, der legte im Frühling die ganze schimmernde Last seiner Blüten auf die Laube. Es war so deutlich zu sehen, wie er Mutter eine Freude damit machen wollte. AU die andern Fliederbäume hingen ihre Zweige über die Mauer hinunter, und das sah prächtig aus, wenn man die Straße heraufkam. Aber dieser eine, Mutters Freund, war nur deshalb so krumm gewachsen, weil er Mutters Laube schmücken wollte. Maxi und Daxi liebten ihn dafür mehr als alle andern Bäume.

In Mutters Laube wurden auch Geschichten erzählt. Schneewittchen mit seinen sieben Zwergen, Rotkäppchen, „die süße kleine Dirn“, das Schwesterlein, das sich, um die Brüder zu erlösen, das Fingerchen abgeschnitten, alle kamen sie in die dämmrige Laube herein, wenn Mutter zu erzählen anfing.

Und da waren drei Geschichten, die mußten immer wieder erzählt werden, weil sie so wunderschön waren.

Maxi wollte die Geschichte haben von dem armen Mann, der von Räubern ausgeplündert am Wege liegen geblieben war. Wenn Mutter erzählte, wie der Priester, der fromme Mann, der eben erst im Tempel dem lieben Gott versprochen hatte, ihm zu dienen, an dem Unglücklichen vorüberging, wurde Maxis Gesichtchen so betrübt und sorgenvoll, daß Mutter immer recht schnell den Leviten hintendrein schickte, und nun leuchteten Maris Augen auf . . . denn wen sah man da auf einem Eselein auf der heißen Straße daherziehen? Ach, der gute, der liebe Samariter! Wie schnell sprang er herab, mit wie weichen Händen berührte er den verletzten Mann, und in die brennenden Wunden goß er linderndes Hl. Manchmal mußte Mari ein bischen aufschluchzen vor lauter Glück und Seligkeit, denn nun ging es langsam, langsam, damit das Eselein nicht etwa über einen Stein stolpere und dem armen Mann der Stoß weh tue, der Herberge zu. Und da war ein reines, o so weiches Bett und guter Himbeerssaft und liebe, liebe Menschen. Ach, wie gut, wie gut, daß der liebe Gott den Samariter geschickk! Wenn man abends in seinem eigenen, warmen Bettchen lag, mußte man so von Herzen beten: „Alle Kindlein bloß und arm, bette du sie weich und warm."

Daxis Geschichte war „Die Geschichte einer Mutter“. Manchmal dachte Mutter, ihr kleines Mädchen verstehe nicht, wie wundervoll dies schönste aller Märchen sei; aber sie freute sich, daß in der kleinen Seele ein Ahnen davon aufgestiegen, und so wurde sie nicht müde von der Mutter zu erzählen, die ihre Lieder, ihr Herzblut, ihre Augen ihre Jugend dahingegeben, um ihr Kind zu finden, und die dann das Größte vollbrachte ~ es in des Todes Arme legte, der es in den himmlischen Garten trug.

Mutters Geschichte konnte man in einem Spruch zusammenfassen: „Lasset die Kindlein zu mir kommen“.

Von der Plattform führte auch nach der rechten Seite ein kleiner Weg — ins „Kinderland“. So hatte Vater den runden Platz benannt, in dessen Mitte ein ungeheurer Nußbaum stand. Nein, wie konnte man nur so groß sein, so groß! Seine Zweige beschatteten den ganzen weiten Platz; sie reichten bis dicht an die Scheiben der Wohnstube, sie lagen auf der alten Mauer, über die niemand, selbst der große Vater nicht, hinwegsehen konnte. Ja, sie berührten nahezu Dornröschens Schloß. Was war das? Dicht neben der Mauer stand ein alter, runder Turm, zu dem eine lange, schmale Treppe emporführte. Nur die obersten Stufen waren vom Garten aus sichtbar und dann die schwere dunkelbraune Türe, die sich nie öffnete, so oft und lange auch Maxi und Daxi darauf hinstarrten. Das vergitterte Fenster schaute auf die Straße hinunter, aber es war nie jemand dahinter zu sehen. Wenn die Kinder darüber klagten, lachte Vater und sagte: „Ich bin recht froh, wenn niemand dahinter steht." Das war doch merkwürdig ! Maxi und Daxi wünschten sich brennend, einmalin Dornröschens Schloßzu kommen.

Und waren doch all die Zeit mitten drinnen... Aber das erkannten sie erst viele, viele Jahre später. Unter dem Nußbaum stand die „Dreckelbank“.

Die anderen Gartenbänke und Tische waren grün angestrichen und mußten deshalb mit Anstand behandelt werden. Aber die Dreckelbank war mit keiner Farbe bestrichen; man konnte auf ihr herumgehen, ja stampfen, man konnte auf ihr Erdkuchen backen und sie mit Wasser begießen. Es tat nichts, wenn die schöne „Schokoladencreme“ über die ganze Bank lief. Die große starke Marie stellte sie nachher etwas schräg gegen den Baum, goß sie tüchtig mit der Gießkanne ab, die Sonne trocknete hintenach, und dann war die gute alte Dreckelbank wieder zu neuem Spiel bereit.

Sonntags wurde immer artig gespielt, d. h. es durfte nicht gedreckelt werden. So wurden Soldaten aufgestellt oder man spielte mit der Puppenstube. Daxi konnte ebenso gut eine begeisterte Speerjungfrau als ein zärtliches Mütterchen sein. Maxi war, nachdem er den bunten Soldatenrock ausgezogen, ein höchst solider Hausvater. Seine Rolle war auch keine allzu schwierige. Da er den etwas zu lang geratenen Papa zu vertreten hatte, der seine steifen Beine sso unbequem in die Stube streckte und von allen Sesseln abrutschte, mußte er zu jeder Tages- und Nachtstunde „ins Geschäft“ abziehen. Das „Geschäft“ war eine kleine Tanne, auf deren grüner Spitze der unglückliche Vater kunstvoll aufgespießt wurde. Dann kehrte Maxi auf sein Stühlchen neben die Schwester zurück und hörte und schaute bewundernd zu. Er durfte manchmal noch eine kleine Nebenrolle übernehmen, etwa für den unartigen Buben schreien, oder als „Marie“ fragen, was man zu Mittag kochen solle. Das Sprechen für die Mutter, für die zwei kleinen Kinder, für das Nesthäkchen in dem mit blauer Seide gefütterten Bettchen übernahm alles Daxi. Bald verriet der besorgte Ton ihrer Stimme die Mutter; dann schmeichelten und quälten die Kleinen oder flötete das winzige Kindchen mit einem süßen Stimmchen.

Maxi und Daxi waren ganz überzeugt, daß es nur eine Treckelbank in der Welt gäbe, und das war eben die ihre. Wenn man sie umstürzte, diente sie als Schiff. „Hurtig einsteigen !“ schrie Mari, und nun war er in seinem Element. Unsichtbare Schrauben wurden gedreht, Segel aufgezogen, und wenn dann das Schiff endlich flott war und auf der blauen Flut schaukelte, hatte der rastlose kleine Kapitän immer noch keine Ruhe. Ein in der Bank aufgestellter Schemel war die Kommandobrücke, von der aus wurde Umschau gehalten nach anderen Schiffen, nach Ertrunkenen oder Piraten. Das letzte Wort sprachen Mari und Daxi immer mit einem wonnigen Grausen aus. Sie kannten seine Bedeutung ganz und gar nicht, nur daß Piraten etwas mit der See zu tun haben, hatten sie einmal aufgeschnappt. Die Rettung von Ertrunkenen war immer sehr aufregend. Daxi mußte natürlich zu Hilfe kommen. Mit weit ausgestreckten Armen, unter großem Stöhnen wurden die Unglücklichen ins Boot gezogen und dort so gut geschüttelt und getrocknet, daß sie samt und sonders wieder zum Leben kamen und mit ihren Rettern weiter segeln konnten.

Wenn die Sonne auf das Wasser schien, war es besonders schön. Mutter hatte nicht umsonst Andersens Märchen von der kleinen Seejungfrau erzählt.

„Dari, siehst du die wunder-wundervollen Korallen und das Perlmuttersschloß ?“

„Maxi, siehst du die kleine Seejungfrau ? Ach, nun ist sie eben weggeschlüpft, weißt du, unter die rote Trauerweide, die in ihrem Gärtchen steht. Nur ihr Schwänzchen guckt noch hervor.“

„Ja, ja!“ lacht Maxi, „und hier kommt die alte Großmutter ~ Königin, die sich zwölf Austern eingeklemmt hat!“

Aber manchmal ziehen finstere Wolken auf, und die Wellen werden hoch und drohend, da muß man schnell in den Hafen einlaufen und sich mit einem großen Satz aufs Trockene retten.

Die Dreckelbank läßt sich auch aufrichten, so daß sie nur auf zwei Beinen steht oder besser sitzt. Die andern zwei Beine, will sagen Arme, streckt sie hilfeflehend steif in die Luft. Nun wird ihr ein Körbchen angehängt oder ein winziges Taschentuch. Marie, immer bereitwillig, leiht eine ihrer großen blauen Schürzen, die mit Hilfe eines Stühlchens der Dreckelbank umgebunden wird, und nun kann die Fahrt mit dem „Kinde“ losgehen. Der kleine dicke Vater und die feingliedrige, leichtfüßige Mutter schieben und rücken unter viel Gekreisch und Lachen ihr plumpes Kind vorwärts, rund um den Nußbaum herum, immer wieder, immer wieder . ..

Die Dreckelbank kann noch etwas ~ sie kann -- es ist kaum glaubhaft! ~ sie kann Geschichten erzählen. Natürlich Maxi und Daxi hören sie nicht reden, sie haben nur Kleinkinderohren und die verstehen so etwas nicht, sagt Vater. Aber er, Vater, hört die allerseltsamsten Geschichten, wenn er abends auf der Dreckelbank sitzt, und er erzählt sie Maxi und Daxi wieder. Mutter hört auch gern zu, denn merkwürdigerweise hat sie auch noch Kleinkinderohren, sie versteht die Dreckelbank-Sprache nicht. Vater erzählt vom unartigen Gänseblümchen, das nicht in die Erde schlafen gehen wollte; er erzählt von der Alpenblume Edelweiß, die auf den kühlen Bergen wohnt; er erzählt von des Winterkönigs blitzendem Schloß und von dem Kampf, den er mit dem lichten Frühlingskönig geführt hat. Aber die schönste aller Geschichten heißt „Schlawigg, Schlawagg“. Es überrieselt einen fremd und kühl, wenn Vater mit geheimnisvoller Stimme sagt: ,„. . . und das Zwerglein klopfte an die kleine Türe und sagte: Schlawigg, Schlawagg! Da plötzlich . . .

Am Sonntag darf man früh morgens nicht sehr lärmen und man tut es schon von selbst nicht. Der liebe Gott ist ja wohl immer da und sieht Maxi und Daxi zu, wie sie spielen und herumtollen, aber am Sonntag scheint er doch besonders nahe. Die Glocken läuten schon in aller Frühe „Sonntag, Sonntag !“ Man bekommt das schönste Höschen und niedlichste Kleidchen an, und Marie schlägt jedesmal die Hände zusammen vor Erstaunen und sagt: „Nun muß ich bald Herr Maxi und Fräulein Daxi sagen.“

Nach dem Frühstück geht Vater in sein Studierzimmer, und Mutter hält mit Maxi und Dari Kirche. Sie spielt erst einen Choral auf dem Klavier, und Maxi und Dari singen so gut sie können mit. „Die güldne Sonne“ und „Geh aus mein Herz und suche Freud“ sind Daris Lieblingslieder. Da kann man so froh mitsingen und versteht auch vieles. Mutter singt oft drei, vier Choräle, weil ihr Singen Vater gute Gedanken gibt; nachher holt sie die große Bilderbibel und beschaut und bespricht mit Maxi und Dari die längst vertrauten und immer aufs neue bewunderten Bilder. Am Schluß wird immer die erste weiße Seite des Buches aufgeschlagen. Da steht von Tante Lises Hand geschrieben: „Den zwei Sommervögelein Max und Dagmar.“ Tante Lise wohnt in der Schweiz. Da nennt man die Schmetterlinge Sommervögel, und Tante Lise fand immer, Mari und Dari glichen aufs Haar zwei weißen Faltern, wenn sie lustig spielend um den alten Nußbaum schwirrten.

Maxi und Daxi spielen selten mit anderen Mutter ist froh, daß der Pfarrhausgarten so hoch und geschützt liegt. Sie weiß wohl, daß sie das Böse und Dunkle von ihren Sommervögelein nicht ferne halten kann, denn das Böse sitzt auch in Maxis und Daxis Herzen und macht sich gelegentlich in trotzigen Mäulchen und zornigen Augen Luft. Aber das kann Mutter bald in Ordnung bringen. Sie fürchtet nicht so sehr das Böse im Garten, als das, das draußen lauert.

So gehen Maxi und Daxi nur an Mutters Hand ins Dorf hinunter. Sie gehen gern, denn da ist immer etwas Neues zu sehen: Gänse, Hühner, junge Schweinchen oder gar ein neugeborenes Kälbchen, das mit friedlichen Augen um sich sieht. Und manchmal dürfen Maxi und Daxi Kranke besuchen. Da geht Mari begeistert mit ~ er will ja ein Samariter werden. Einmal wollte er eine ganze Flasche Salatöl mitnehmen, weil er gehört hatte, daß ein Junge sich am Knie verletzt hatte.

Die Kranken freuen sich sehr über den Kinderbesuch, aber manchmal seufzen sie auch, wenn sie sehen, wie flink die kleinen Beine sich bewegen können, während sie selbst so todesmüde in den Kissen liegen müssen.

Mari und Darxi strecken sich. Auf dem Weihnachtstissch liegen neben allem Spielzeug ernste Dinge: zwei Schulranzen, zwei Federnschachteln, zwei Bund Griffel und zwei Schwammbäürchschen. Im Frühling sollen Maxi und Daxi in die Dorfschule eintreten. Dann dürfen sie nicht mehr zu jeder Stunde um den Nußbaum tollen, die Drekkelbank wird traurig und gelangweilt im Garten stehen und warten.

Aber noch ist es nicht Frühling, sondern herrlicher, strahlender Winter.

Als Maxi und Daxi eines Morgens aufwachten, stand im Garten beim Nußbaum ein riesengroßer Schneemann, den hatte ihnen der gute Winterkönig durch seine Diener machen lassen. Maxi und Daxi tanzten und kreischten um den Schneemann, warfen ihn mit Bällen, suchten ihn umzurennen, aber er stand stolz und fest.

Als die frühe Winternacht anbrach, rief Mutter die Kinder ins Haus. Sie stand seltsam weiß und still im Rahmen der dunkeln Haustüre, nur von ihrem goldnen Haar ging ein Leuchten aus. Mit blitzenden Augen und dunkelroten Backen rannten Maxi und Daxi auf sie zu: „Mutter, Mutter!“ jauchzte Daxi, und Mari krähte, einer plötzlichen Eingebung folgend : „Wie bist du meine Königin.“

Die Haustüre schloß sich, der Schneemann stand ernst und still in dem schweigsamen Kinderland.

Dann kam eine unruhige Nacht. Maxi und Daxi wachten spät und verwirrt auf ~ ihre kleinen Betten standen im Kinderzimmer. Was war das nur? Marie kam mit rotverweinten Augen, kleidete sie an und schluchzte dabei einmal ums andere. Erst als Maxi und Daxi jämmerlich zu weinen anfingen, nahm sie sich zusammen und erzählte in einem mühsam frohen Ton, Mutter sei in der Nacht krank geworden. Maxi und Daxi sollten nun artig spielen und nicht lärmen.

Nein, natürlich nicht. Man konnte doch nicht lärmen, wenn Mutter krank war, man konnte nicht einmal spielen. Eng zusammengedrängt saßen die Sommervögelein auf der Fenssterbankund horchten auf die fremden Schritte und Töne. Sie hörten dice tiefe Stimme des Onkel Doktors und die sanfte der Schwester Elise. Der Vater kam ins Zimmer, küßte sie rasch und hastig und brachte einen Gruß von Mutter.

Am Mittag kamen Großmama und die lustige junge Tante Trude. Maxi und Dari lebten ein bischen auf bei ihrem Anblick, aber auch Tante Trude war nicht wie sonst. Ihre frohen dunkeln Augen lachten nicht, sie sagte nicht: „Habe die Ehre, Fräulein Dagmar, und empfehle mich Ihnen, Herr von Max.“ Sie zog Maxi und Daxi so fest in ihre Arme, als wollte sie sie zerdrücken und dann sagte sie : „Wißt ihr schon, daß ich euch mit in die Stadt nehme ?“

In die Stadt? War das herrlich! Nun mußte ja in aller Eile gepackt werden, Kleidchen und Schuhe und Schürzen, Soldaten und Puppen. „Bringt mir alles, soviel ihr wollt!“ sagte Tante Trude immer wieder. Sonst durften sie immer nur ein oder zwei Sächelchen mitnehmen. Aber Tante Trude hatte den großen Kosfer vom Boden holen lassen, der faßte viel, und ein Stück Kinderherrlichkeit nach dem andern versank darin. –

Mari und Dari wußten nicht, wie ihnen geschah. Mit einem Male fanden sie sich, warm eingehüllt, in der Eisenbahn. Auf dem Bahnsteig stand Marie und trocknete sich immer wieder das Gesicht mit einem roten Taschentuch. „Bist du so traurig, weil wir fortgehen ?“ fragten Maxi und Daxi. Da weinte Marie noch stärker, und nun sahen Maxi und Daxi, daß auch Tante Trude ein so todtrauriges Gesicht hatte, wie ~ ja wie die arme Frau es gehabt, der das kleine Kindchen gestorben . . .

Ein unfaßbares, jähes Grauen überkam die Kinder. Der Zug machte die ersten sachten Bewegungen, da schnellten sie mit leisem, verzweifeltem Weinen empor. Sie schauten nach dem hohen, weißen Pfarrhaus hinüber, sie streckten schmale flehende Hände danach aus: „Mutter, Mutter“.

Der Zug fuhr langsam, dann rascher, ein Häuschen nach dem andern verschwand; noch war der schlanke Kirchturm und das stille weiße Haus sichtbar, dann versank auch dieses, und ferne und tief verschneit lag Maxi und Darxis Kinderland.

Der große Tag.

„Jetzt wird Mutterchen bald kommen!“ dachte die kleine Christine, während sie dem Geklingel der alten Kirchenuhr auf St. Pierre lauschte . . . „fünf, sechs, sieben, ja, jezt darf sie aufhören. Armes Muttchen! Sie wird schrecklich müde sein, nachdem sie diesen heißen Tag lang geplättet hat.“

In Christines sanftes Gesichtchen trat ein sorgenvoller Zug. So schmerzlich ernsthaft schauten die eben noch lachenden Augen drein, daß man glauben konnte, ein großes, verständiges Menschenkind vor sich zu haben, statt eines achtjährigen kleinen Mädchens.

Leiden und Not reifen schnell, und Chrisstinchen kannte beides. Sie war lahm, die arme Kleine. Nicht von Geburt an. O nein, es hatte eine Zeit gegeben, da sprangen muntere Füßchen dem heimkehrenden Vater entgegen, da mußte manches Paar kleinwinzige Schuhe gekauft werden, da mußte die Mutter so viele Strümpfchen flicken. Jetzt brauchten die armen Füße keine derben Schuhe mehr und Strümpfe hielten lange, lange aus.

Die kleine Christine war noch nicht drei Jahre alt gewesen, als sie von einem Schlaganfall betroffen worden war, und von da an mußte das lebhafte kleine Menschenkind lernen, stille zu liegen oder zu sitzen. Wäre sie reicher Leute Kind gewesen, hätte man wohl teure Operationen und Kuren mit ihr vorgenommen, man wäre in berühmte Bäder gereist: aber Christinchens Eltern waren arm.

Der Vater arbeitete in einer Fabrik, die etwas vor dem Dorfe stand, in dem die kleine Christine geboren war. Die Mutter nähte und plättete. Manchmal war sie einen ganzen Tag in einer der schönen Villen, die höher am Berg hinauf , hinter dem Dörfchen, lagen; aber um Christinchen brauchte sie sich nicht zu bangen. Es fand sich immer jemand, der die Kleine mit dem strahlenden Kindergesichtchen bei sich aufnahm.

Wie schön waren dann die Abende, wenn Vater und Mutter nach Hause kamen und sich ihr kleines Mädchen holten!

Christinchen wußte nicht viel von diesen Tagen, aber sie liebte es, die Mutter davon erzählen zu hören, und diese selbst freute sich, von den Tagen versunkenen Glücks sprechen zu können.

Als das Unglück über die kleine Christine hereinbrach, ging die Mutter nicht mehr auf Arbeit aus. Sie konnte es nicht übers Herz bringen, ihr armes Kind zu verlassen, und der Verdienst des Vaters reichte für die kleine Familie.

An diesen Winter, in dem Christinchen vier Jahre alt geworden, konnte sie sich noch gut erinnern. An das kleine, trauliche Stübchen, durch das der Montblanc in all seiner weißen Pracht hereinlugte, an die Abende, wo sie auf Vaters Knien saß und sich so sicher in seinen starken Armen fühlte.

O, auch an den schrecklichen Tag erinnerte sie sich, da man den Vater tot heimgebracht. Er hatte eine kleine Bergtour gemacht mit ein paar alten Schulfreunden. Mutter war so froh gewesen über Vaters freien Tag. Sie hatte, ihr kleines Mädchen im Arm, ihm lange, lange nachgejubelt und -gelacht, und er hatte den alten Filzhut geschwenkt und einen prächtigen Jodler nach dem andern zu Frau und Kind zurückgeschickt.

Und dann sahen sie sein liebes, fröhliches Gesicht nie mehr. Keiner der Kameraden hatte ihn stürzen sehen, der Sturz selbst war nicht tief gewesen; aber der Mann war unglücklich auf die harten Felsen aufgeschlagen, und als die Männer ihn fanden, war er schon tot.

Die kleine Christine hatte ihren Vater sehr geliebt, aber sie war zu klein, ihren Verlust zu fassen. Sie weinte, wenn sie ihre Mutter weinen sah, und sie weinte auch — heiße, bittere Tränen , als sie das liebe kleine Häuschen verlassen mußten, um in die große, große Stadt zu ziehen. Niemand kannte hier die kleine Christine. Keine Nachbarin schaute mit freundlichem Gruß zum Fenster herein, kein zerzauster Kinderkopf tauchte davor auf, um ihr etwas Lustiges zu erzählen oder einen Apfel aufs Fensterbrett zu legen. Wer das jetzt tun wollte, mußte sich tief, tief bücken; denn das Zimmer, das Christine mit ihrer Mutter bewohnte, lag tiefer als die Straße und das Fenster war auf gleicher Linie mit dem Gehweg.

Christine, die sonst auf die herrlichen Savoyerberge, auf den schimmernden Montblanc geblickt, sie sah jetzt nichts als die Straße, auf der rasselnde Fuhrwerke vorüberzogen, fauchende Automobile und behende Fahrräder vorübersausten. Den ganzen Tag über, den langen, einsamen Tag hindurch beschäftigte sich die Kleine damit, das Leben auf der Straße zu beobachten. Diese war breit, und da sie schnurgerade zum See hinabführte, ziemlich belebt. Wie viele Füße glitten täglich an Christinchens Augen vorüber! Zuerst hatte sie kaum aus dem Fenster geschaut. Ihr kleines Herz sehnte sich nach frischen Wiesen, nach dem blauen See, den schneeigen Bergen, und ihr graute beinahe vor der alten, häßlichen Straße.

Die Mutter fing an, mehr und mehr auszugehen. So weh es ihr tat, ihr kleines Mädchen den ganzen Tag allein lassen zu müssen, so freute sie sich doch über die stetig wachsende Kundschaft. Bald waren alle Tage der Woche regelmäßig besetzt; nur den Samstag hielt sich die Mutter frei, und so war dieser Tag, der für manche Kinder der schrecklichste Tag der Woche ist, ein Freudentag für die kleine Christine. Sie schaute da kaum zum Fenster hinaus. Sie mußte die Mutter beobachten, wie sie das Zimmer fegte und säuberte, bis alles blizblank war. Dann kam die kleine Küche an die Reihe und dann kochte die Mutter eine Suppe. Vom Montag an freute sich Christinchen auf die zwei Tage, an denen sie ein warmes Mittagsbrot essen durfte.

Der Sonntag war noch schöner als der Samstag. Die Mutter ging selten zur Kirche. Sie las und betete mit ihrem kleinen Mädchen, sie sang auch mit ihr und freute sich in der Stille an dem feinen, süßen Stimmchen.

Am Nachmittag, wenn die Straße nicht gar so belebt war, nahm sie bei schönem Wetter Christinchen auf den Arm und setzte sich mit ihr auf die Hausstaffel. Da konnte die Kleine doch wenigstens den Himmel sehen, und sie freute sich an den weißen Wolken und stellte sich vor, es seien silberblitzende Segel und der blaue Himmel ihr vielgeliebter schimmernder See.

Am Abend durfte Christinchen länger aufbleiben als gewöhnlich. Die Lampe wurde nicht angezündet, da die Mutter nicht zu nähen brauchte. In dem heimeligen Dämmerlicht, oft auch bis es ganz dunkel wurde, saßen die beiden eng aneinander geschmiegt, und sprachen und erzählten von den fernen schönen Tagen im kleinen Dörfchen.

„Mutterchen!“ fragte einmal das kleine Mädchen, „warum habt ihr mich Christine genannt? Du heißt doch Luise und beinahe alle meine Freundinnen im Dorf heißen wie ihre Mütter.“

„Das will ich dir erzählen, Herzchen! Siehst du, Vater wohnte als kleiner Junge im Berner Oberland, wo man nicht wie bei uns französisch, sondern deutsch spricht. Dann kam er als junger Bursche in unsere Gegend, fand eine gute Stelle und ist nicht mehr in seine Heimat zurückgegangen. Als wir uns kennen lernten, hat er anfangs versucht, mich seine Sprache zu lehren, aber Kindchen, deine Mutter war zu dumm, diese schrecklich schwere Sprache zu lernen. Ich konnte die harten Laute gar nicht aussprechen, der Hals tat mir weh davon. Dann lachte dein Vater und ich lachte auch, und wir sprachen eben nach wie vor französisch. Aber wenn ich auch die deutsche Sprache nicht gelernt habe, so habe ich doch einige deutsche Sitten und Gebräuche angenommen. Erst deinem Vater zuliebe, später behielt ich sie bei, weil ich sie selbst nicht mehr missen mochte. Daher kommt es auch, daß wir immer an Weihnachten ein kleines, mit Lichtern und Äpfeln geschmücktes Bäumchen haben. Dein Vater nannte es einen Christbaum und war immer ganz närrisch vor Freude darüber. Als wir es zum erstenmal anzündeten, konnte ich dies kaum verstehen. Aber das zweitemal freute ich mich ebenso wie er über das grüne Bäumchen und die Geschenke, die darunter lagen. Dein Vater sagte nie, er habe sie mir gegeben, er sagte immer, das Christkind habe sie gebracht.

Als die Kerzen des Christbaums zum drittenmal bei uns brannten, konnte ich sie kaum sehen vor lauter Glück und Freude, denn gerade an dem Tage, mein Herzenskind, hatte der liebe Gott dich uns geschickt.

Ich kann den Abend nie vergessen. Der Vater hatte das brennende Bäumchen in unser Schlafkämmerchen getragen, denn ich lag im Bett und hatte dich im Arm und war so froh, so froh, daß ich es gar nicht sagen kann. Du warst ein süßes, kleines Kindchen, gar nicht so häßlich rot, wie sonst neugeborene Kinder sind. Nein, dein Gesichtchen war weiß und seidenweich, ich hätte es nur immer ansehen und streicheln mögen. Dein Vater saß neben mir und strahlte vor Glück, da klopfte plötzlich jemand an das vordere Fenster. Wie er es öffnete, um nachzufragen, wer da sei, hörte ich die Stimme meiner Mutter, deiner Großmutter, Kindchen. Du hast sie nicht mehr kennen gelernt, sie starb, noch ehe du gehen konntest.

Ich freute mich so sehr, meiner Mutter ihr erstes Enkelkind zeigen zu können, daß ich es kaum erwarten konnte, bis dein Vater ihr die Tür öffne. Ich machte ein sehr erstauntes Gesicht, als er, anstatt zu öffnen, noch einmal bei mir eintrat. , Warum machst du denn nicht auf?: fragte ich ein bißchen ungeduldig. Da lächelte er nur, legte erst ein kleines Kissen auf den Tisch, dann nahm er dich aus meinem Arm und legte dich darauf, gerade unter den brennenden Christbaum. Die grünen Zweige berührten beinahe dein kleines schlafendes Gesichtchen, das wie eine weiße Blüte darunter hervorssah.

Ich schaute dich an und bat den lieben Gott, er möge doch alle die Weihnachtskerzchen so helle in dein kleines Herz leuchten lassen, daß es darinnen nimmer dunkel und traurig aussehen könne.

Da ging die Türe auf, meine Mutter kam mit frohem Gesicht auf mich zu, hinter ihr trat der Vater ins Zimmer und sagte, auf das Bäumchen deutend: Sieh, was uns das Christkind gebracht hat !! Meine Mutter nahm dich in ihre Arme, küßte dich auf dein süßes Gesichtchen, dann sagte sie halb ernsthaft, halb lachend: „Jch kann wirklich stolz sein auf mein erstes Enkelkind.‘

„Ja, das kannst du!‘ lachte der Vater, und um dich noch stolzer zu machen, wollen wir ihm als zweiten Namen den deinen geben. Sein erster Name aber, sein Rufname, muß Christine sein, denn am Christabend ist es geboren und sogar unter dem brennenden Christbaum gelegen.‘

So, nun weißt du, warum du Christinchen heißt, mein Liebling !“

„Ach, wie schön, Mutterchen! Wie wunderschön! Nun will ich immer daran denken, daß du gebetet hast, mein Herz möge immer helle sein. Und wenn ich traurig werden will, mache ich schnell ein frohes Gesicht. Freut dich das, Muttchen ?“

„Mein Herzenskind !“ murmelte die Mutter und küßte das blasse Gesichtchen.

Den Montag liebte die kleine Christine am wenigsten von allen Tagen. Da lag die ganze einsame Woche vor ihr, die sich so erschrecklich lange ausnahm , als könne sie nie ein Ende nehmen. Aber lange hielt die traurige Stimmung bei Christinchen nicht vor. Sie schaute mit doppeltem Interesse auf die Straße, und da war immer etwas, das die Gedanken in dem kleinen Köpfchen beschäftigen konnte. Man ssollte gar nicht denken, daß einen sogar die Füße der Vorübergehenden unterhalten können; aber Christinchen dachte sich die längsten Geschichten aus über die vielen großen und kleinen Füße, die an ihrem Fenster vorüberschritten oder rannten.

Jeden Morgen, etwas vor acht Uhr, kam immer mit lautem Geklapper ein mit Nägeln beschlagenes Paar Bubensschuhe vorbeigesprungen. Wenn der Junge nur einmal auf der Straße gegangen wäre, sso daß Christinchen ihn hätte sehen können! Sie dachte ihn sich groß und stramm, mit lachenden Augen und roten Backen.

Des Morgens schritten auch auf die Arbeit gehende Männer am Fenster vorbei. Das machte Christine für ein paar Augenblicke ernst und sinnend. Wie schön wäre es, der Vater ginge unter ihrer Schar! Sie konnte sich seiner nur undeutlich erinnern, aber er lebte troßdem in ihrem kleinen Herzen. Es verging ja kein Tag, an dem die Mutter und sie nicht von ihm gesprochen hätten.

Später am Tag fand Christinchen anderes zum Träumen. Schlanke, elegant beschuhte Füßchen glitten an ihrem Guckloch vorbei. Seidene Röcke knisterten, und die Kleine schaute beinahe andächtig auf die prächtigen weißen Spitzen und Stickereien. Wenn sie einmal der Mutter einen seidenen Rock schenken könnte! Einen knisternden schwarzen Seidenrock. Eine andere Farbe würde Mutterchen ja doch nicht tragen. Aber ach! sie, Christinchen, konnte nie etwas verdienen. Sie war ganz nutzlos und konnte keinem Menschen etwas helfen. Armes kleines Mädchen! Wenn diese Gedanken aufstiegen, half alles Leben auf der Straße nichts, half kaum das Denken an der Mutter Gebet, sie zu zerstreuen; sie ließen sich schwer vertreiben und kehrten wieder und wieder.

Wenn die Kleine der Mutter ihr Abendgebet aufgesagt hatte, fügte sie immer noch leise, so daß diese es nicht hören konnte, hinzu: „Und lieber Gott, laß mich doch nur einmal jemandem etwas helfen können.“ über das Wie machte sich das Kind keine Gedanken, das mußte doch der liebe Gott selbst wissen.

An einem hellen Sommermorgen saß Christinchen wieder am gewohnten Plätzchen und schaute sehr vergnügt zwischen dem Gitter, das als Schutz vor dem Fenster angebracht war, hindurch. Schon oft hatte sie dieser Anblick an ein Gefängnis erinnert, und sie hatte sich als kleine Gefangene gefühlt und die wunderssamsten Pläne zu ihrer Befreiung entworfen. Heute dachte sie nur daran, wie schön der Sonnenschein sei, wie warm die Luft und wie hübsch all die hellgekleideten Leute.

Plötzlich ließ sich ein dickes Etwas gerade vor ihrem Gesicht nieder. Sie fuhr halb erschrocken zurück, da streckte sich eine feste, kleine Hand zwischen den Stäbchen hindurch und packte die lustige Locke, die immer aus der Schleife hüpfte und in Christinchens Stirn hereinhing.

Christinchen griff schnell nach der kleinen Patschhand, da lachte das dicke Etwas hell auf, und Christinchen schaute ein rundes, stumpfnäsiges Gesichtchen, das sie mit großen, blauen Augen anfunkelte. Das war noch nie vorgekommen, daß Christinchen einen kleinen Gast gehabt hätte. Hie und da hatte wohl ein neugieriges Kindergesicht zu ihr hereingeschaut, aber nur auf kurze Augenblicke. Das dicke Jungchen aber, das sich jetzt bei ihr niedergelassen, schien gar nicht so schnell ans Fortgehen zu denken. „Haben,“ sagte es und deutete auf einen rotbackigen Apfel, der einen Teil von Christinchens Mittagsbrot ausmachte. „Noch nicht, erst wenn es zwölf Uhr schlägt,“ sagte die Kleine ernsthaft. „So lange darfst du doch bleiben ?“

„Ja, beiben, immer beiben!“ lachte das Jungchen vergnügt und kniff so drollig die Augen ein, daß Christinchen hell auflachen mußte. Sie machte ihm mit ihren Fingern allerlei Kunststücke vor, und als sie nichts mehr wußte, nahm sie ihr Taschen tuch und knüpfte daraus ein possierliches kleine: Männchen. Nun ging der Spaß erst recht los.

„Wie heißt du?“ fragte Christinchen de fleinen Jungen. „Peter Mamasatz !“ war die prompte Antwort.

„Siehst du, kleiner Peter, das ist nun dei Püppchen, wir wollen es Hans nennen. Sieh, wie es lustig hüpfen kann.!“ Chrisstinchen ließ das närrische Ding in die Höhe schnellen, mit dem Kopfe wackeln und was dergleichen Possen mehr waren. Sie wurde selbst ganz ausgelassen dabei, und Peterchen vollends vergaß sich ganz und gar. Er lag vor dem Fenster platt auf seinem Bäuchlein, schlug die Beine in die Luft und krähte und kreischte, daß kaum einer der Vorübergehenden ohne ein Lachen oder Scherzwort das Fenster passierte.

Doch Peterchen wurde allmählich müde und hungrig und verlangte immer energischer nach dem Apfel. Christinchen besann sich, ob sie wohl einmal der Mutter Gebot zuwider handeln und vor zwölf Uhr essen dürfe, da fing das Glockenspiel auf St. Pierre an zu läuten, und Christinchen zählte frohen Herzens zwölf Schläge.

Peterchen lebte neu auf, als er eine Butterschnitte, eine Wurstscheibe und den halben Apfel erhielt. Dem kleinen Mädchen aber hatte sein Mittagsmahl noch nie so gut geschmeckt, obwohl sie ja die Hälfte weggegeben, denn Peterchens blaue Augen lachten so vergnügt, daß sie darüber alles andere vergaß.

Nachdem Peterchen sich gesättigt hatte, stellte er sich etwas mühsam auf die dicken Beinchen und sagte: „So, ett Mama dehen!“

Christinchen schrak plötzlich zusammen; sie hatte über der Freude an dem kleinen Gast gar nicht daran gedacht, daß dieser eigentlich viel zu klein sei, eigene Wege zu gehen, daß er sich wohl verlaufen habe und von seiner Mutter mit großer Angst gesucht werde. Aber dann war es wohl das beste, sie behielte den Kleinen zurück. Oder wohnte er am Ende in der Nähe und wußte seinen Weg? Wenn dies der Fall war, warum hatte man ihn nicht längst geholt? Er sah nicht aus wie ein vernachlässsigtes Kind. Er trug ein leinenes Kleidchen, das am Morgen gewiß frisch gewesen; die dicken Beinchen staken in guten, derben Schuhen, darüber guckten rote Söckchen hervor. All diese Gedanken huschten blitzschnell durch Christinchens Köpfchen. Nein, nein, sie durfte den kleinen Peter nicht fortlassen!

„Bleib doch noch bei mir, Peterchen!“ schmeichelte sie, „Mama wird dich schon holen. Sieh, du weißt den Weg ja doch nicht, da ist es besser, du wartest noch ein bischen, nicht wahr, Peterchen ?“

Peterchen steckte einen Finger in den Mund, schaute mit ungeheuer geistreichem Gesicht die Straße hinauf und hinab, dann ließ er sich mit einem tiefen Seufzer auf seinen alten Platz nieder, streckte sich, das Gesichtchen gegen die Stäbe gedrückt, lang aus und befahl: „Didin singen!“

Christinchen war selig, daß es ihr gelungen war, den kleinen Kerl festzuhalten. Sie ergriff mit der einen Hand eines der dicken Patschchen und fing süß und fein an zu singen: „Schlaf, Püppchen, schlaf !“

„Nich Püppsen – Peter!“ verbesserte da der kleine Mann, und Christinchen setzte gehorsam statt des Püppchens einen Peter an die Stelle. Zu ihrer großen Überraschung schlossen sich, noch ehe sie das Lied zu Ende gesungen, die lustigen Blauaugen, die eine Hand hielt mit festem Griff einen von Christinchens Fingern umklammert. Diese wagte sich kaum zu rühren. Erst machte es ihr Freude, die warme, kleine Hand zu fühlen, doch allmählich fing die ihre an zu schmerzen. Auch Arm und Rücken taten ihr weh von der steifen, unbeweglichen Haltung, aber sie dachte nicht daran, ihre Hand wegzuziehen. Armes kleines Chrisstinchen! Sie hatte nie ein Brüderchen oder Schwesterchen gehabt und wußte deshalb nicht, wie tief diese kleinen Menschenkinder zu schlafen pflegen. So hielt sie ihren Arm geduldig ausgestreckt und versuchte, ein tapferes Gesicht zumachen. Sie wurde sehr müdecund allmählich überkam sie eime große Schläfrigkeit. Lange kämpfte sie dagegen, aber vergeblich.

Tiefer sank das dunkle Köpfchen, immer tiefer, bis es auf den ausgestreckten Arm zu liegen kam. Doch selbst im Schlaf ließen Christinchens Finger Peters Händchen nicht.

Die Kleine dachte kaum die Augen geschlossen zu haben – in Wirklichkeit war mehr als eine Stunde verflossen ~ als sie plötzlich aufschreckte. Ein Laut war an ihr Ohr gedrungen, der rasch allen Schlaf vertrieben hatte. Es klang wie ein Jauchzen und doch wie ein Schluchzen, und dann sah Christinchen, wie draußen vor dem Fenster eine junge Frau neben Peterchen kniete und ihn stürmisch an sich drückte. Der Kleine wachte auf, schaute mit staunenden Angen um sich, dann verzog er den Mund zu einem breiten, zufriedenen Lächeln und sagte, auf das Fenster deutend: „Das Didin! Tann söhn pielen!“

Die junge Mutter schaute auf das blasse Mädchengesicht, auf die kleine, elende Gestalt, und ein heißes Mitleid sprach aus ihren Augen, die blau und freundlich waren wie die ihres Bübchens.

„Kann ich zu dir hereinkommen, oder bist du eingeschlossen?“ fragte sie. Christinchen nickte. „Ich bin eingeschlossen, aber ich habe den Schlüssel, Mutter reicht ihn mir immer durchs Fenster herein,“ sagte sie schüchtern und legte ihn in die ausgestreckte Hand der jungen Frau.

Wenige Augeublicke später ging die Türe auf und die blonde Frau rückte sich einen Stuhl zurecht, nahm ihr Bübchen auf den Schoß und ließ sich alles erzählen. Nicht nur die Erlebnisse des einen Tages, nein, auch sonst so vieles, was das kleine Mädchen bewegte. Christinchen wußte selbst nicht, wie es kam, daß sie der fremden Frau so rückhaltslos vertrauen konnte; aber ihr war, sie kenne diese gütigen Augen und diese helle Stimme schon lange, lange.

Peterchen ward unruhig und verlangte nach Hause. Die junge Frau erhob sich und neigte sich zu Christinchen herab. Sie nahm das schmale Gesichtchen zwischen ihre Hände und sagte, tief in die dunkeln Augen schauend: „Gott behüte dich, mein liebes Kind! Du hast mir heute einen großen, großen Dienst getan! Wenn du nicht so lieb mit meinem kleinen Jungen gespielt hättest, wäre er am Ende unter einen Wagen gekommen oder hätte er sich so weit verlaufen, daß alles Suchen vergeblich gewesen wäre. Heute hat der liebe Gott dich dazu gebraucht, als kleiner Schutzengel über meinem Peterchen zu wachen. ~- Komm, Kindchen, gib Christinchen einen Kuß und sage danke schön und auf Wiedersehen, denn wir wollen sie bald wieder besuchen.“

Die Türe ward verschlossen, der Schlüssel von Peterchen durchs Fenster hereingereicht, dann war Christinchen wieder allein. Aber was für ein glückliches, kleines Mädchen war sie geworden! Sie war nicht mehr ein mutloses Menschenkind, nein, der liebe Gott selbst hatte sie gebraucht, daß sie ihm eines seiner Kinderchen hüte.

Als am Abend die arme, müde Mutter nach Hause kam, fand sie ein Kind, das überströmte von Glück und Seligkeit und das ihr nicht genug erzählen konnte von einem dicken Peterchen und von seiner lieben, sanften Mutter, der sie, das lahme, kleine Mädchen, einen Dienst, einen großen Dienst erwiesen habe.

Das war Christinchens großer Tag.

Wie der Weihnachtsabend dem Sanitätsrat Siegel nachlief.

Der Sanitätsrat Siegel erstieg pustend die hohen Stufen eines Eisenbahnwagens, der in der hell erleuchteten Halle des Genfer Bahnhofs stand. In dem behaglich durchwärmten Abteil der zweiten Klasse angelangt, warf er den schweren Pelzmantel von sich und setzte sich tiefaufatmend auf die weichen Polster. Das Kupee war leer und würde es wohl auch bleiben, wenigstens dachte dies der Sanitätsrat mit einem nahezu grimmigen Lächeln. Man schrieb ja den 24. Dezember, da blieb doch jedermann zu Hause und feierte Weihnachten. Nur er nicht. Geradezu davongelaufen war er vor den festlich erleuchteten Zimmern mit ihren Tannenbäumen und Gabentischen. Im eigenen Heim bescherte ihm niemand. Lange Jahre hindurch hatte es die Mutter getan. Später erhielt er genug Einladungen zu deutschen und französischen Weihnachtsabenden, und er nahm sie an, immer wieder, weil er den brennenden Lichterbaum nicht missen mochte. Dann allmählich fing er an, die Einladungen abzulehnen. Die deutschen Feiern stimmten ihn wehmütig, die französischen wütend. Er wußte eigentlich nicht, worüber er sich am meisten ärgern sollte. Und doch graute ihm vor dem einsamen heiligen Abend. Er hatte versucht, ihn zu verschlafen, aber alle seine Gedanken sträubten sich dagegen. Er hatte eine spannende Lektüre vorgenommen und sich hundertmal darauf ertappt, daß er anstatt ins Buch zu schauen irgendwohin ins Leere starrte. Aber dieses Jahr war ihm ein guter Gedanke gekommen. Er wollte den Abend und die halbe Nacht durchreisen und das Christfest in den Bergen verbringen. Das half ihm gewiß alle müßigen Gedanken vertreiben.

Noch fünf Minuten bis zur Abfahrt des Zuges. Herr Sanitätsrat Siegel entfaltete mit großer Umständlichkeit ein Zeitungsblatt, schlug ein Bein übers andere und fühlte, wie sich seiner in dem beinahe überheizten Raum allmählich eine wohlige Schläfrigkeit bemächtigte.

Noch drei Minuten. Da polterte etwas die Treppe herauf, ein leichter Schritt folgte, dann kreischte eine helle Knabenstimme: „O, hier ist Platz, Mutti! Eine Menge Platz! Sieh, nur ein alter Herr sitzt in der Ecke!“ –

Der Sanitätsrat brummte, natürlich nur sehr leise; aber er konnte es nicht hindern, daß der kleine quecksilbrige Kerl und seine schlanke, blondhaarige Mutter ihm gegenüber Platz nahmen, nachdem sich der Kleine seiner verschiedenen Hüllen entledigt hatte. Der Zug fuhr schon längst dem See entlang, bis sich der Junge endlich mit einem tiefen Seufzer in die Ecke sinken ließ und sein Gegenüber zu studieren begann. Herr Sanitätsrat Siegel hatte die Zeitung sinken lassen und hielt die Augen halb geschlossen. Dadurch gewann sein Gesicht einen beinahe feindseligen Ausdruck, der den kleinen Jungen zu ängstigen schien.

„Maman, il n'est pas gentil!“ flüsterte er in einem hohen, deutlichen Flüsterton.

„Sprich deutsch, Herzchen, und nicht so laut! Und weißt du, so etwas darfst du gar nicht sagen. Ich finde, daß der Herr sehr freundlich aussieht. ~ Nun sieh einmal zum Fenster hinaus! Wie schnell die Häuserund Bäume und Büsche vorüberspringen!“

Der Sanitätsrat strich sich langsam mit der Hand über den Mund, um ein kleines, mutwilliges Lächeln zu unterdrücken. So, freundlich aussehend fand ihn die junge Frau, und außerdem hielt sie ihn offenbar für einen Franzosen vom reinsten Wasser. Oder war sie ihrer Sache nicht ganz sicher ? Als der Sanitätsrat die Augen öffnete, schaute er in ein ängstlich forschendes Gesicht, das ein bischen länger und schmäler war als das des kleinen Jungen, sonst aber diesem zum Verwechseln ähnlich sah. Des Sanitätsrats Augen sagten nichts; rein nichts. Er vergrub sich wieder in seine Zeitung, nicht, ohne noch gesehen zu haben, daß ein erleichtertes und kindlich frohes Lächeln über das forschende Gesicht ging.

Dann plauderten die beiden, immer in einem halben Flüsterton, um den Herrn nicht zu stören, denn trotz des kleinen Lobspruchs am Anfang ihrer Bekanntschaft schien die Mutter nicht ganz seiner Freundlichkeit zu trauen. Einmal, als der kleine Junge an ihn gestoßen, hatten ihn vier entsetzte Augen dermaßen angestarrt, daß er sich vor sich selber zu schämen begann. Er mußte wirklich einem Bullenbeißer ähneln, und das tat ihm im Grundel leid.

Die beiden fingen an, ihn zu interessieren. Was taten sie eigentlich am heiligen Abend in einer Eisenbahn? Sie waren ihm doch gewiß nicht wie er davongelaufen! Oder fuhren sie ihm erst entgegen? Wo steckte wohl der Vater? . . .

Der Sanitätsrat gab sich einen innerlichen Ruck. Was gingen ihn diese zwei an? Nichts, durchaus nichts. Und doch konnte er nicht hindern, daß ihm ein Gefühl ins Herz kroch, das verzweifelte Ähnlichkeit mit Mitleid hatte, als er sah, wie an der schmalen, weißen Frauenhand, die eben liebkosend ein rundes Patschhändchen erfaßt hatte, zwei goldene Reife blinkten. „Armes kleines Ding!“ dachte der Sanitätsrat, und „armes Kerlchen –~!“ Und er mußte weiter denken, daran, daß er selbst einmal gehungert hatte, einen Vater zu besitzen „wie andere Jungens“.

„Mutti!“ ertönte da die helle Stimme des Kleinen. „Glaubst du, wir werden allein den Weg zur Großmama finden ? Es ist sehr dunkel, weißt du!“

„Wir nehmen einen Wagen, Herzchen, aber ich sage dem Kutscher, nicht bis ganz an das Haus zu fahren. Wir steigen aus und schleichen uns ganz leisse –~ du darfst ja nicht lachen, Jürgen! ~ durch den Garten zur Hintertüre. Dann macht uns die alte Katharine auf. Sie weiß, daß wir kommen, und dann stehen wir auf einmal da und werden beinahe umgerannt vor lauter Freude.“

Jürgen war ganz nahe zur Mutter hingerutscht während dieser Schilderung. Nun mußte er ihr einen Kuß geben und sie ihm wieder einen, weil es zu schón war, am Weihnachtsabend zu Großmama zu fahren und sie zu überraschen. Was sie wohl zu Jürgens schön gezeichnetem Bild sagen würde? Und was hatte Großmama eingekauft ? Vor Jürgens Augen marschierten lange Reihen von Soldaten auf, stolze Schaukelpferde, glänzende Waffen und große, schwere Bilderbücher. Darüber kam ihm ein neuer Gedanke.

„Mutti,“ bat er, „gib mir bitte Olly, Dolly, Dicky‘ heraus.“

Die Mutter kramte gehorsam in der Handtasche, um endlich nebst einigen Biskuits das gewünschte Buch ans Licht zu fördern. Das hübsche Kindergesicht strahlte. „Glaubst du nicht, daß Großmama sich schrecklich freuen wird über „Olly, Dolly, Dicky‘“ ?

„Gewiß!“ lächelte die Mutter, „besonders, da du es ihr so schön vorlesen kannst.“

„Glaubst du, daß sie denken wird, ich lese es, Mutti? Ich will immerzu auf die Seite hinsehen, wo das Gedicht steht, wenn ich es aufsage. Siehst du, so.“

Die blauen Augen starrten wie gebannt auf den obern Rand der bedruckten Seite, während an des Sanitätsrats staunendes Ohr folgende Verse klangen:

„Olly, Dolly, Dicky, die Nie zerstörte Kompagnie, Die so gern Zerstörung übt, Saß beisammen tief betrübt. Dicty puhlte in der Nas’, Die er kurz und dick besaß ; Bohrte drin so lang herum, Bis die Nase schief und krumm. Dolly knabbert an der Hand Nägel, samt dem Trauerrand, Was ihr Magen stets verdaut, Weil die Nägel gut gekaut.

Nun muß ich dich schnell etwas fragen, Mutti: Findest du die zwei nicht ganz erschrecklich unartig ? Was hättesst du lieber, wenn ich an den Nägeln kaute oder in der Nase bohrte?“

„Aber liebes Herzchen, ich möchte weder das eine noch das andere. Ich finde beides sehr häßlich.“

„Aber wenn du wählen müßtest, Mutti! Jetzt denke dir einmal, der liebe Gott würde fragen: „Willst du lieber einen kleinen Jungen, der in der Nase bohrt, oder einen, der die Nägel kaut ?“ Was würdest du antworten, Mutti ?“

Der Sanitätsrat verspürte gar nichts mehr von Schläfrigkeit. Er war beinahe ebenso begierig, der Mutter Antwort zu hören wie der kleine Junge selbst.

Die Mutter lachte. „Na, weißt du, Jürgen, wenn der liebe Gott die kleinen Kinderchen aus dem Himmel auf die Erde schickt, sind sie noch so artig und lieb, daß sie gar nicht daran denken, dumme, häßliche Sachen zu treiben. Erst wenn sie größer werden, fangen sie manchmal an, ihre armen Näschen oder Finger zu plagen. Weißt du, ich kannte einmal einen kleinen Jungen, der lutschte am Daumen, so lange, daß man ihm zu seinem vierten Geburtstag einen Lutscher kaufte."

Jürgen bekam feuerrote Backen und Ohren.

„Das ist aber schon sehr lange her, Mutti.

Ich glaube, ich will jetzt ein bischen zum Fenster hinaussehen. Wir sind am Ende bald in Lausanne.“

Die Mutter lächelte und tätsschelte wie beruhigend die blonden Locken, die auf die roten Öhrchen niederfielen. Auch der Sanitätsrat lächelte, aber so heimlich, daß niemand es bemerkte.

Vielleicht fünf Minuten vergingen in völligem Stillschweigen. Da stieß Jürgen einen Schrei des Entzückens aus und bat die Mutter in flehenden Tönen, rasch, rasch das Fenster zu öffnen.

„Nur einen Augenblick, Mutti! Ich habe das Christkind gesehen. Ganz sicher . . . es ging durch den Wald in einem schneeweißen Kleidchen. O schnell, Mutti, mach schnell auf !“

Die Mutter rüttelte mit aller Kraft an dem Fenster, aber es wollte nicht aufgehen. Jürgen hatte große Tränen in den Augen und zappelte vor Aufregung mit Händen und Füßen. Da kam eine unerwartete Hilfe. Der alte Herr in der Ecke, der dort die ganze Zeit über geschlafen, stand auf, und als er mit seinen starken Händen am Fenster rüttelte, ging es plötzlich herunter, und Jürgen streckte den blonden Kopf in die Nacht hinaus. „O ja, Mutti! Dort geht es .. . man sieht deutlich das helle Kleidchen, nicht wahr ?“

Die Mutter schaute über Jürgens Köpfchen weg in die schweigende Mondnacht hinaus. Dichter Schnee deckte die Wiesen und Felder. Auf den Asten der Bäume lag er so schwer, daß sie wie gebeugt dastanden. Prächtig war der schimmernde Wald, über den der Mond all seine silbernen Strahlen ausgegossen. Das Licht schien über die weißen Äste niederzurieseln, tief in das mächtige Dunkel hinein . . . jetzt blitzte es hier auf, dann dort . . . das war das Christkind, das im weißen Kleidchen durch den Wald schritt .. .

Jürgen starrte mit großen, staunenden Augen in die heilige Nacht; der Mutter Antlitz war blaß geworden und ihre Augen blickten so, als ob die stille Schönheit da draußen sie schmerze. Sie bemerkte nicht, daß hinter ihr noch ein Paar Augen zum Fenster hinausschauten, Augen, die gleich den ihren einen suchenden Ausdruck trugen.

Der Wald wich zurück. Man fuhr dicht an einem Dörfchen vorbei, dann kam eine hell erleuchtete Station, die zu Jürgens stolzer Freude ohne anzuhalten passiert wurde, und nun schloß die Mutter das Fenster.

Jürgen setzte sich und betrachtete von neuem den alten Herrn. Er hätte jetzt gerne mit ihm geplaudert, denn die Dienstleistung von vorher hatte sein kleines Herz erobert, aber der alte Herr schlief schon wieder. Wie konnte er das nur! Freute er sich wohl gar nicht auf den Weihnachtsbaum und die vielen Sachen, die darunter lagen?

Jürgen mußte das mit Mutti besprechen, doch diese fertigte ihn ein bißchen kurz ab und sagte nur, er solle nicht so laut sschwayen. Und Jürgen liebte es nicht, immer zu flüstern. Seit er das Christkind gesehen, war eine solche Freude über ihn gekommen, daß er am liebsten gejauchzt und geschrieen hätte. Aber Jungens von fünf Jahren sind doch schon so vernünftig, daß sie wissen, daß man das nicht jeder Zeit tun darf. Jürgen schlenkerte mit den Beinen und er fing an, sich ein bißchen zu langweilen. Da kam ihm mit einem Mal ein prächtiger Gedanke. „Mutti, hör nur, was mir eben eingefallen ist! Wir halten einen kleinen Weihnachtsabend ab, hier für uns. Siehst du, so. Wir denken uns, das Licht da oben sei der Christbaum. Du mußt nur die Augen zussammendrücken, Mutti, dann siehst du einen langen goldnen Strich, und dann kannst du glauben, es sei das Licht von einer Kerze am Weihnachtsbaum. Geschenke haben wir nicht. Doch ja, du kannst mir „Olly, Dolly, Dicky‘ schenken und ich gebe dir deine Handschuhe. Nicht wahr? Wir legen sie schön hierher. Und jetzt wollen wir singen. Du nicht, Mutti? O, dann tue ich es allein. Du kannst mir nachher eine Geschichte erzählen, vielleicht vom kleinen Klaus und großen Klaus, diese liebe ich sehr. Nun mache die Augen ein bißchen zu, Mutti! Du weißt schon wie, nicht wahr? Und ich will singen.“

Jürgen stand gerade unter der Lampe. Ein goldner Schein lag auf seinen hellen Haaren, ein warmer Schein auch auf seinem süßen, andächtigen Kindergesicht, als er mit feinem, dünnem Stimmchen sein Lied begann:

Vom Himmel hoch, da komm ich her; Ich bring euch gute, neue Mär’. Der guten Mär’ bring ich so viel, Davon ich sing'n und sagen will. Euch ist ein Kindlein heut gebor'n Von einer Jungfrau auserkor’n, Ein Kindelein, so zart und fein, Das soll eu’rr Freud und Wonne sein.

Nun kommt der Spruch, Mutti:

Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“

Die junge Mutter zog ihren kleinen Sohn an sich, hob ihn auf ihren Schoß und schlang die Arme um ihn. Jürgen lehnte den Kopf gegen ihre Schulter und blinzelte zu dem Licht empor. „Nun die Geschichte, Mutti !“

„Ja, Herzchen, aber nicht die vom kleinen Klaus und die vom großen Klaus. Die paßt für einen lustigen Tag im Wald, oder auch für einen Abend, an dem wir an unserem hellen Kaminfeuerchen siten und zusammen lachen. Aber siehst du, Jürgen, wenn man am heiligen Abend unter dem Weihnachtsbaum sitzt, da kann man nur an eine Geschichte denken, die so schön und wunderbar ist, daß wir uns immer wieder daran freuen dürfen. Es ist gerade, als ob jedes Lichtlein am Weihnachtsbaum uns diese Geschichte erzähle, wenn wir sie nur hören wollen. Aber das müssen wir freilich. Denke daran, Jürgen, daß Mutter so gerne, gerne möchte, daß ihr Junge, auch wenn er ein großer Mann geworden, nie die wunderschöne Geschichte vergesse, die die Weihnachtskerzchen erzählen. Du weißt, welche ich meine, nicht wahr? Nun so höre.“

Und die Mutter erzählte die alte, wundersame Geschichte vom Kindlein in der Krippe.

Es wäre schwierig gewesen zu sagen, wer ihren Worten eifriger lauschte, der blondhaarige kleine Junge auf ihrem Schoß oder der brummig aussehende alte Herr in der Ecke.

„Siehst du, Jürgen,“ schloß die Mutter ihre Erzählung, „das mußt du nie vergessen, daß diese Geschichte das Schönste ist am ganzen heiligen Abend. Nicht der Baum, nicht die Geschenke, sondern das, daß uns der liebe Gott so sehr liebt, daß er uns seinen Sohn sendet. Vielleicht bist du noch ein bißchen zu klein, um mich ganz zu verstehen, aber das, Jürgen, kann auch ein kleiner Junge sich schon merken, daß wir am Weihnachtsabend, wenn wir selbst so froh und glücklich sind, auch andere froh und glücklich machen sollen. Dann erst haben wir recht verstanden, was uns die Weihnachtskerzchen erzählen.“

Jürgen, der gesprächige kleine Mann, antwortete nichts. Die Mutter neigte sich über sein Gesicht. Die blonden Wimpern zuckten nicht ~ Jürgen war fest eingeschlafen. „Wie lange wohl schon?“ fragte sich die Mutter. „Der kleine Schlingel! Da erzähle und spreche ich nun und er hört es nicht einmal.“

Nein, Klein-Jürgen hatte der Mutter letzte Worte allerdings nicht gehört, aber an eines andern Ohr waren sie geklungen, eines andern Herz hatten sie erwärmt. Dem Sanitätsrat Siegel war mit einem Mal, als sei von dem großen Licht, das die Welt erfüllt, auch ein Schein in seine Seele gefallen. Andere froh und glücklich machen, ja, diese Weihnachtsfreude konnte auch er haben. Davon war keiner ausgeschlossen.

Vor den Fenstern blitzten Lichter auf, der Zug fing an langsamer zu fahren, bald mußte der Lausanner Bahnhof erreicht sein. Jürgen wurde geweckt und saß, einmal ums andere laut aufgähnend, in der Ecke. Die Mutter ordnete ihr Gepäck, fing an den Kleinen einzuhüllen und da hielt auch schon der Zug. Statt der einsamen Winternacht sah man nun vor den Scheiben ein geschäftiges Treiben, ein lebhaftes Durcheinanderwogen von Kommenden und Gehenden.

Der Sanitätsrat war den zweien beim Aussteigen behilflice Er trug sowohl die braune Ledertasche, als auch Klein-Jürgen die eisüberzogene Treppe hinab. Dafür lohnten ihn vier blaue Augen mit freudigem Aufleuchten und Jürgen bot ihm gar die behandschuhte kleine Linke.

Dann kehrte der Sanitätsrat wieder zu seinem Platz zurück, aber noch lange lehnte er am Fenster und starrte hinaus, so lange, bis auch der letzte Punkt verschwunden war von den zweien, die, ohne es zu wissen, ihm eine Ahnung von der großen Weihnachtsfreude geschenkt hatten.

Die kleine Marie.

Das Häuschen lag hübsch warm in der Sonne und blinkte ein bischen schlaftrunken mit den kleinen Scheiben. Ein schmaler Weg führte daneben zu dem glitzernden Fluß hinunter, grüne Wiesen reichten bis dicht an die Mauern heran und an der einen Seite lag ein Gärtchen, ein winziges, schlecht gepflegtes. Aber drei hohe, prächtige Sonnenblumen standen darin. Die kleine Marie hatte gesehen, wie die Mutter sie gepflanzt, damals, als man erst anfing, aus der räucherigen Küche heraus ins Freie zu gehen. Wie klein waren die Pflänzchen gewesen! Und nun waren ssie drei leuchtende Sonnen geworden.

Die kleine Marie lehnte an dem schiefen Zaun, der den schmalen Garten umschloß und blinzelte zu den hohen Blumen empor. Vor der Haustüre saß die Mutter und schälte Kartoffeln. Drei, vier Kinder, zerlumpt und schmutzig, aber mit lachenden Gesichtern, sprangen um sie herum. „Willst nicht mitspielen, Marieli ?“ rief die Mutter herüber. Ihre Stimme tönte ein wenig rauh -- sie mußte gar so viel schelten, um dem neunköpfigen Kinderheer Herr zu werden - aber doch lag eine stille Zärtlichkeit darin, und als der Blick der eingesunkenen, dunklen Augen die dürftige kleine Gestalt am Bretterzaun umfaßte, leuchtete etwas darin auf, das gleich der Sonne wärmte und liebkoste.

Das Marieli kam langsam heran, aber es spielte nicht mit den andern Kindern. Es schaute nur immer zu auf der Mutter braune, hartgearbeitete Hände und stieß dazu ein paar lallende, abgebrochene Worte hervor. Arme, kleine Marie! Wer in ihr schmales Gesichtchen schaute, aus dem die grauen Augen so stumpf und gleichgiltig in die Welt blickten, wußte wohl, daß die Kleine eines der armen Geschöpfe war, deren Geist nie recht erwachen kann, die weder ihre Freuden, noch ihre Leiden richtig auszudrücken vermögen, und die so oft dem grausamen Los verfallen, von andern verachtet und verspottet zu werden.

Die Mutter mit den liebewarmen Augen hörte dem Gestammel freundlich, geduldig aufmunternd zu. Da erklang mit einem Male aus der Hütte ein ungeduldiger Schrei, dem ein zweiter, dritter folgte. Und merkwürdig! Ein heller Freudenschein ging über der kleinen Marie Gesicht. „Rudi!“ sagte sie und auf der Mutter beisstimmendes Nicken hin ging sie in die dunkle Hütte hinein. Von der zu ebener Erde gelegenen Küche führten ein paar Stufen in eine Kammer hinauf, in der einige Betten standen, ein paar wackelige Stühle und ein schwerer ungescheuerter Tisch. In den roten schmutzigen Kissen eines Gitterbettchens lag ein kleiner Junge, der immer aufs neue die ungeduldigen Schreie aussstieß und dazu mit Händen und Füßen in der Luft herumfocht. Als die kleine Marie zu ihm trat, streckte er die Armchen nach ihr aus, und während ihm noch ein paar Zornestränlein über die braunen Bäckchen liefen, lachte er lustig mit den blizenden, dunkeln Augen das geschäftige Schwesterlein an, die ihm ein Jäckchen überstreifte und ihn in einen kleinen Sack steckte, der unter den Armen festgebunden wurde. Dann trug ihn das Marieli fort aus der dumpfen Stube, in der zahllose Fliegen surrten, in das Gärtchen hinaus, wo es sich mit dem Brüderchen auf die Erde setzte:

Das war das Schönste und darüber hinaus wünschte die kleine Marie nicht: in der Sonne sitzen zu können mit dem goldhaarigen kleinen Bruder im Schoß, der nicht lachte, wenn sie zu ihm sprach, der kleine, feine Fingerchen hatte und keine groben Fäuste, die festhalten und schlagen konnten, ja, das war das Schönste. Und das Brüderchen liebte die kleine Schwester, die sich geduldig die hellen Haare zausen ließ, die ihn herumtrug und ihm alles gab, wonach seine verlangenden Händchen griffen. ~

Die Mutter hatte ihre Arbeit beendet. Sie erhob sich schwerfällig, ergriff die große Schüssel voll geschälter Kartoffeln und schickte sich an, in die Küche einzutreten. Da hörte sie neben Rudis fröhlichem Kreischen ein merkwürdiges, beinahe furchtsames Lachen, das nicht oft an ihr Ohr klang. Die Frau wandte den Kopf, auch die spielenden Kinder horchten auf.

„Es lacht, das Marieli!“ sagte ein kleiner Junge. „Aber es lacht nicht wie wir. Hast du's gehört, Mutter? Kann das Marieli nie recht im Kopf werden, Mutter? Vielleicht wenn es jetzt in die Anstalt kommt?“

„Dummer Bub!“ gab die Angeredete unwirsch zur Antwort und ging in die Hütte hinein. Drinnen hörte man sie gewaltig mit Herdreifen und Kesseln rasseln, so daß die größern Kinder auf den kleinen Bruder zu zanken begannen. „Kannst du nie 's Maul halten, du! Immer mußt etwas Dummes fragen! Hörst du nun, wie die Mutter bös ist?“

Die Kartoffeln bräunten sich in der Kachel, die Mutter stand daneben und wendete sie mechanisch um. Ihre Gedanken waren noch draußen bei dem Kinde, dessen Lachen ihr so seltsam durchs Herz gegangen. „Es wird ihn vermissen, den Rudi, ja sicher, aber lieber Gott, was soll ich machen! Ich muß ja froh sein, wenn man das Kind in die Anstalt nimmt . . . Wozu auch nur so ein armer Tropf in die Welt kommen muß, niemand zu Nutz und Freud! Nur dem Rudi wird es fehlen, vielleicht, und ich ~ ich werd’ es auch vermissen. 's ist ein liebes Kind und nicht bösartig, wie oft solche Leute sind . . . aber fort muß es halt. Den Rudi können auch die andern hüten und die zwei Großen haben besser Platz im Bett, wenn das Marieli fort ist. Freilich ~– freilich –

Die Mutter machte sich mit einem plötzlichen Ruck von ihren Gedanken los. Sie hatte keine Zeit zum Träumen. Das Marieli mußte eben fort, damit hatte man sich abzufinden. ~

Die allzeit hungrige Kinderschar saß eifrig essend um den Tisch. Die Mutter hielt den kleinen Rudi im Schoß, das Marieli saß daneben und schob ihm von Zeit zu Zeit einen Bissen in das begehrliche Mäulchen.

„Wann geht das Marieli?“ fragte unvermittelt eines der großen Mädchen. Die Kleine horchte auf, als ihr Name genannt wurde, duckte sich aber sogleich erschrocken, denn die Mutter schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie dazu ärgerlich: „Halt's Maul! Das geht dich gar nichts an! .-

„Wie böse sie aussieht!“ dachte das Marieli, und kaum war das Essen fertig, packte es den kleinen Rudi und wollte sich mit ihm davonmachen. Aber heute ging das nicht so ohne weiteres. Die großen Schwestern, die sonst nichts von der kleinen Marie wissen wollten, drängten sich um sie und stellten eine Menge Fragen, auf die die Kleine keine Antwort wußte. Die Mutter rief etwas aus der Küche, worauf die große Emma lange in einer Schublade kramte und endlich eine saubere Schürze brachte, die dem Marieli umgebunden wurde. Sie ging weit über die Kniee hinunter, doch das fanden die Schwestern des zerlumpten Kleidchens wegen nur günstig. Die kleine Marie strich verlegen an sich herunter. Was bedeutete nur dies alles? Und nun wusch man ihr gar Gesicht und Hände und die Mutter schnitt mit einer Schere den struppigen kleinen Haarschopf im Nacken ab. Auch die wilden Strähnen, die immer in die Stirne fielen, wurden abgeschnitten, und nun sah das Marieli völlig verändert, beinahe wie ein Junge aus.

Die vielen Geschwister standen kichernd und allerlei Bemerkungen murmelnd um die gänzlich verdutzte Kleine herum. Da hörte man vor der Türe eine energische Stimme rufen: „Wohnen hier die Bretsschneiders ?“

„Ja! Ja!“ brüllten alle Kinder auf einmal und stoben zur Türe hinaus. Nur die kleine Marie blieb stehen, und auch die Mutter, die erst den Kindern gefolgt war, wandte sich plötzlich, sank schwer auf einen Stuhl nieder und zog das Kind an sich.

„Marieli! Kindli! Wir müssen dich fortgeben, es geht nicht anders! Du bekommst es gut, viel besser als bei uns. Immer kriegst satt zu essen und niemand schlägt und pufft dich. Hörst du, Marieli? Versstehsst, was ich sage? Gib eine Antwort, Kindli! Schau mich nicht so an, ich kann ja nicht anders, ich würde . . . Herrgott! Herrgott!“ Die arme Frau stöhnte sso qualvoll, daß das Marieli einen kleinen Schrei aussstieß und nach ihrer Hand griff. Was ihm die schweren Worte nicht klar gemacht, das hatte dieser bange Laut getan. Irgend etwas Schreckliches war da, etwas wovor man sich fürchten mußte . . .

„Mutter! Mutter!“ lärmte es vor den Fenstern. „Ja, ja, wir kommen!“ sagte diese, langsam aufstehend und das Kind mit sich fortziehend.

Vor der Hütte stand eine sauber gekleidete, ältliche Frau mit einem derben, breiten Gesicht, das durch ein paar gütige Augen seltsam versschönt wurde.

„So, so! Das wäre die Kleine!“ sagte sie und strich dem Marieli über das gesenkte Köpfchen. „Sieh mal her!“ Sie streckte dem Kind eine halbgeöffnete Düte hin, aus der prächtige, rote Bonbons lachten. Das Marieli rührte sich nicht, was ihm von den Geschwistern ein paar ermahnende Worte und Püffe eintrug.

„Nimm doch, Marieli!“ ermunterte auch die Mutter. „Gib dem Rudi eines!“ ~ Als das Kind den geliebten Namen hörte, griff es schnell nach der Düte, schaute die Geberin scheu an und rannte dann nach dem kleinen Korbwagen hinüber, in dem der Rudi lag und fröhlich krähte. Im Nu waren die zwei umringt von der begehrlichen Geschwisterschar, die ohne viel Fragen und Danken sich bediente, um dann, als die Mutter scheltend näher trat, lachend davonzustieben.

Der Rudi leckte vergnüglich an dem süßen roten Ding, das ihm das Schwesterlein vor das Mündchen hielt. Dann hob er den Kopf ein bischen und streckte die Arme aus. Das Marieli wollte ihn bereitwillig aufnehmen, aber die fremde Stimme, die es bis jetzt noch nie gehört, sagte: „Nein, nein, laß du den Kleinen nur liegen! Es ist Zeit, daß wir gehen. Ich kann den Wagen nicht gar so lange warten lassen. Siehst du, Marieli ~ gib mir das Händchen – ~ so ist's recht! ~ dort oben auf der Straße stehen zwei Pferde und ein schöner, großer Wagen. Da setzen wir uns hinein und fahren lustig zusammen fort. Nicht wahr?"

Die kleine Marie sah weit oben auf der Straße das Gefährt, auf das die Frau hindeutete, und fing an, rascher zu gehen. Aber da hieß die Mutter sie still stehen und sie tat etwas Seltsames, etwas, das die kleine Marie nicht recht verstand. Sie kniete neben dem Kind nieder und umschloß es so fest mit ihren Armen, daß ihm beinahe der Atem verging. Sie drückte ihre heißen Lippen wie durstig auf das blasse Gesichtchen, dann hielt sie die Kleine auf Armeslänge von sich und wieder leuchtete in ihren Augen der warme Strahl auf, der gleich der Sonne wärmte und liebkoste.

Die kleine Marie ging. Sie lauschte der klaren Stimme, die freundliche Worte sprach, sie sah immer deutlicher die großen braunen Pferde und den wunderbaren Wagen, in dem sie fahren sollte. Nur einmal wandte sie den Kopf, sie hatte ganz deutlich den Rudi weinen hören. Da sah sie die Mutter, nicht an der Seite des kleinen Schreiers, sondern noch unbeweglich an derselben Stelle stehen, wo sie von der kleinen Marie Abschied genommen.

Das Leben in dem Häuschen ging seinen lärmenden Gang weiter. Nur fanden die größeren Kinder manchmal, die Mutter schelte häufiger als sonst. Doch keines kam auf den Gedanken, dies irgendwie in Verbindung zu bringen mit dem Verschwinden der kleinen, blassen Schwester, das ihnen selbst nur eine Erleichterung gebracht. Die große Emma und das lustige Käthi waren die einzigen, die der Kleinen manchmal Erwähnung taten. Das geschah, wenn sie sich abends auf dem harten Lager ausstreckten. „Es ist gut, daß das Mariele fort ist!“ meinten dann beide. „Es war ja nicht dick, und man konnte es leicht an die Wand drücken, aber nun hat man doch wirklich mehr Platz.“ ~

Es waren vielleicht drei Wochen verflossen seit dem Fortgang der kleinen Marie, da kam der Postbote den schmalen Weg gegangen und brachte einen Brief an Frau Bretschneider. Das war ein Ereignis. Der Vater, der im Italienischen unten an einem Eisenbahnbau arbeitete, schrieb nie und sonst hatte die Familie keine Angehörigen. Wer konnte der Mutter einen Brief schreiben ? Alle Kinder reckten die Hälse, als die Mutter den Umschlag aufriß und den Bogen auseinanderfaltete. Der Brief war aus der Anstalt und von der Vorsteherin geschrieben. Sie berichtete von der kleinen Marie, aber der Mutter Augen, die beim erstmaligen Lesen des lieben Namens freudig aufgeleuchtet hatten, wurden allmählich kummervoll und finster. Die neugierigen Kinder duckten sich und schlichen eines nach dem andern weg. Als die Mutter den Brief zu Ende gelesen, faltete sie ihn langsam zusammen, strich sich wie in schweren Gedanken über die Stirn und starrte immerzu nach der Höhe hinauf, wo die breite Fahrstraße lag. „So, sie denkt, ich soll am Sonntag nicht kommen – – und man hat mirs doch bestimmt versprochen gehabt. Das Kind scheine immer noch Heimweh zu haben ... Und da soll ich nicht kommen, du gescheite Frau Vorsteherin du! Du hast gewiß nie Kinder gehabt, und gewiß nie so ein elend Kindchen wie das Mariele, das du immer hast hüten und schützen müssen vor den andern . .. und dann nimmt man es weg und man soll es nicht einmal besuchen gehen. Aber das darf mir niemand wehren, nein niemand!“ .... Am darauffolgenden Sonntag saßen die Bretschneiderschen Kinder allein bei ihrem Mittagsbrot. Die Mutter und der Rudi fehlten. Das war im Grund nichts Besonderes. Die Mutter ging oft auf Taglohn aus und nahm den Kleinen mit. Die Emma versah dann so gut es ging das Amt der Hausfrau und teilte nach allen Seiten mehr oder weniger gut gezielte Püffe aus. Aber heute bedeutete das Fehlen der Mutter doch etwas Außerordentliches. Einmal war sie noch nie an einem Sonntag fortgewesen und dann war sie noch nie mit einem so merkwürdigen Gesicht gegangen. Wie Trotz hatte es darauf gelegen und daneben so viel Güte, daß die Kinder, was sie nie sonst getan, sich um die Mutter zum Abschied drängten. Ja, *in paar waren bis auf die Fahrstraße mitgegangen. Nun war man voller Erwartung, was die Mutter am Abend berichten, was für ein Gesicht sie da machen werde.

Der Abend kam, aber niemand schritt den kleinen Fußweg herab. Das Grün der fernen Berge ging langsam in ein weiches, dunkles Blau über; der Fluß, der den ganzen Tag mit den Sonnenstrahlen gespielt, lag so dunkel und till, als könne er nie mehr leuchten und fröhlich plätschern. Selbst die Bäume auf den Wiesen schienen sich zu verwandeln. Ihre Aste streckten sie aus wie flehende oder drohende oder zürnende Arme. Die sonst so lärmende Kinderschar saß eng zusammengeschmiegt vor dem Häuschen. Keines sprach ein lautes Wort, nur hie und da ertönte ein Flüstern oder der halblaute Ausruf ,sie kommt“ und darauf ein enttäuschtes Murmeln, „nein, doch nicht !“

Die Berge standen jetzt völlig schwarz gegen den sachte dunkelnden Nachthimmel, ein Stern nach dem andern blitzte auf, da sagte die große Emma: „Wir müssen hinein und schlafen, ssonst wachen wir nicht auf für die Schule."

Gehorsam erhob sich die kleine Schar und polterte durch die Küche zur Kammer hinauf. Die Emma war die letzte. Sie horchte noch einmal in die Nacht hinaus. Als alles still blieb, schloß sie seufzend die Tür und schob den großen Riegel vor. Heute plauderte sie nicht mehr mit dem Käthi. Ihre Gedanken gingen die Mutter suchen, die Mutter, die sie alle so allein gelassen. Das arme Kind konnte ein plötzliches Schluchzen nicht unterdrücken, aber das hörte einer der kleinen Buben und fing ein solches Geheul an, daß der großen Schwester weiche Stimmung schnell verflog und in ein kräftiges Schelten umschlug. –

Nur das Käthi und die zwei großen Buben gingen am nächsten Tag zur Schule. Die Emma mußte die drei Kleinen hüten, denn die Mutter war nicht, wie sie heimlich gehofft, in der Nacht wiedergekommen.

Dann plötzlich war sie da. Die Emma war mit den Kleinen an den Fluß gegangen. Als sie wieder zurückkehrten, hörten sie den Rudi krähen, und drinnen in der Hütte stand die Mutter und schnitt große Stücke Brot in einen Topf hinein. Das kleine Klärli trottelte auf sie zu und erfaßte ihr Kleid. Sie strich ihm über das zerzauste Köpfchen, nicht ungütig, aber „wie im Traum“ durchzuckte es die Große, die mit beobachtenden Augen unter der Türe lehnte. Der Päuli und das Bethli schoben sie vollends hinein, so daß sie mit einem Male vor der Mutter stand. Diese schaute auf. „Warum bist nicht in der Schule?“ fragte sie gleichmütig.

Und wieder überkam das Kind die weiche Stimmung der verflossenen Nacht. Sie biß sich auf die Lippen, weil sie sich ihrer Tränen schämte, da schaute die Mutter wieder auf und sah den Kampf in dem jungen Gesicht. Über das ihre ging ein jähes Erröten, als komme ihr eine plötzliche, beschämende Erkenntnis.

„Habt ihr Angst gehabt ohne mich ?“ fragte sie weicher als sonst, und die große Emma nickte und wischte sich die dicken Tränen von den Backen. „Armer Tropf!“ murmelte die Mutter, aber sie gab keine weitere Erklärung und das Kind wagte nicht um eine zu bitten.

Keines der Kinder hätte sagen können, worin eigentlich die Veränderung bestehe, die mit der Mutter vorgegangen. Nur daß sie nicht mehr dieselbe war, fühlten alle, von der großen Emma an bis zum kleinen Klärli herab. Früher war es immer an der Mutter Rock gehangen, jetzt trottelte es mit den kurzen Beinchen eigene kleine Wege. Nur der Rudi konnte sich über die Veränderung der Mutter freuen. Sie ließ ihn kaum von der Seite. Manchmal hörten die größeren Geschwister, wie sie mit ihm sprach und darüber verwunderten sie sich immer aufs neue. Was konnte die Mutter mit dem kleinen Rudi sprechen, der selbst nur ein paar Töne zu lallen wußte, der nicht einmal sitzen oder stehen konnte ?

Die Mutter sprach nicht nur mit dem Kleinen, sie sprach auch mit ihren eigenen Gedanken. Beinahe unaufhörlich verlebte sie jenen Sonntag, die Nacht, den darauffolgenden Morgen, die sie in der Anstalt verbracht. Innerlich erschauernd meinte sie noch den festen Griff der heißen Händchen zu fühlen, die sich an ihr Kleid geklammert. Sie hörte wieder die heiseren, furchtbaren Schreie, die das Marieli ausgestoßen, als man es von ihr gerissen. „Wie ein Tierchen hat es geschrieen, weißt du noch, Rudi? Wie ein armes Tierchen, das nicht reden kann und sich nicht zu helfen weiß ... Mir können nie mehr hingehen, Rudi! Das hat die Frau Vorsteherin gesagt. Aber verstehst du das, Kindli, verstehst du das? Es wird denken, daß wir zwei, du und ich, Rudi, es nicht mehr lieb haben. O, es ist nicht ganz so dumm, als sie denken. Es weiß, wer es liebt und wer nicht. Man ist ja gut zu ihm dort in der Anstalt, ja, ja, schon gut, aber wir zwei, gelt Rudi, wir zwei hatten 's eben lieb . . .“

Die Mutter hing auf der Wiese ein paar zerrissene Wäschestücke auf, der Rudi lag neben ihr im Gras. Der Pänuli und das Bethli, die immer zusammengingen, waren unten am Fluß und ließen selbstverfertigte Boote schwimmen, das Klärli spielte allein im Gärtchen. Da horchte die Mutter auf. Irgend jemand sprach mit der Kleinen, eine helle, klingende Stimme, dazwischen ertönte ein lustiges Auflachen. Die Mutter ergriff den Rudi und schritt eilig zum Gärtchen hinauf. Schon von weitem sah sie das Klärli mitten unter den Sonnenblumen stehen, einen großen rotbackigen Apfel hielt es in den Händen und mit völlig finsterem Gesichtchen starrte es auf den Weg hinüber. Dort stand die Besitzerin der hellen Stimme, eine schlanke, ganz in Weiß gekleidete Mädchengesstalt. Sie hielt den Kopf, der von einem großen Strohhut beschattet war, über ein schwarzes, längliches Kästchen gesenkt, so daß die Mutter ihr Gesicht nicht sehen konnte. Doch das war nur ein Augenblick. Man hörte ein kurzes Ticken und gleich darauf den frohen Ruf : „Bravo Kleines! Du hast schön still gehalten. Nun darfst du auch den Apfel essen.“

Die junge Gestalt trat näher an den Zaun heran und bemerkte die ruhig zusehende Mutter. Sie errötete leicht, was ihr junges Gesicht noch kindlicher erscheinen ließ.

„Ich durfte Ihre Kleine doch photographieren, nicht wahr? Sie sah so niedlich aus mit ihrem Struwwelköpfchen. Und die Sonnenblumen sind die prächtigsten, die ich je gesehen.“

Der Rudi jauchzte und streckte die schmutzige kleine Hand aus nach der hellen Gestalt, auf deren Antlitz sich der leuchtende Sommertag wiederzuspiegeln schien. Die Mutter lächelte und sagte : „Es ist nicht eben angezogen, das Klärli, um photographiert zu werden. Aber hier lasse ich sie irgendwie herumlaufen, es sieht uns ja kein Mensch.“

„O, das Klärli gefällt mir sehr gut in dem Kittelchen. Das Bildchen wird gewiß nett, ich will Ihnen nächste Woche eines schicken.“

„Vergelts's Gott!“ murmelte die Frau. Das junge Ding beugte sich noch einmal zum Klärli herab und ging dann mit leichten Schritten den Weg zum Fluß hinunter. –

Die Mutter war zu ihrer Arbeit zurückgekehrt.

Sie hatte den Rudi wieder ins Gras gelegt, nahm nun ein nasses Wäschestück nach dem andern aus dem Korb und hing es auf — langsam, gleichgültig. Aber ihre Gedanken arbeiteten dabei schnell, fieberhaft schnell. Wie! wenn sie es wagen würde, um das zu bitten, was ihr da vorhin durch den Sinn gegangen! Das junge Fräulein schien nicht stolz; sie hatte ein freundliches Gesicht und sie hatte so lustig mit ihr geplaudert . . . Wenn sie es wagen würde ... Sie durfte nicht mehr in die Anstalt, wenigstens lange nicht, das hatte die Frau Vorsteherin gesagt und man mußte ihr gehorchen. Dann, wenn das Marieli die Mutter vergessen, könne sie wieder kommen. Und wenn sie dann käme ~ ~ das Marieli würde sie anstarren mit denselben stumpfen Augen, mit denen es alles Fremde betrachtete. Nein, nein, nur das nicht, das Marieli durfte sie nie vergessen! Und wenn sie ihm nun ein Bildchen schicken könnte, ein Bildchen von Rudi, den das Marieli so sehr liebte ... Das würde ihr doch zeigen, daß man sie nicht vergessen, das würde am Ende dem Marieli helfen, nicht die Mutter und den Rudi zu vergessen.

Die Mutter nahm den Kleinen auf den Arm und ging langsam über die Wiese dem Weg zu. Sie setzte sich auf einen Holzklotz, der dort lag, und starrte unverwandt zum Fluß hinunter. Sie mußte lange warten. Der Rudi wurde ungeduldig, aber sie sang ihm, sang mit ihrer müden, harten Stimme, die so gar nichts von der fieberheißen Erwartung ihres Inneren verriet.

Endlich tauchte die helle Gestalt zwischen den Weiden unten am Fluß auf. Sie schritt über den kleinen Steg, sorgsam das Bethli und den Päuli leitend, die ob der ungewohnten Fürsorge verdutzte Gesichter machten. Langsam kam das Trüppchen näher, die Mutter erhob sich mühsam. „Ich habe noch nie gebettelt!“ dachte sie mit plöglichem heißen Erröten, „noch nie; aber es ist ja für das Marieli.“

Das junge Mädchen stand jetzt ganz nahe und schaute ein wenig verwundert die Frau an, deren dunkle Augen starr auf ihr Gesicht gerichtet waren. Wieder jauchzte der Rudi der hellen Gestalt zu, und das schien der Mutter Mut zu geben.

„Würden Sie ihn nicht auch photographieren, den Rudi? Er hat ein Schwesterlein, das hat ihn so gern, aber es ist fort . . . und wenn ich ihm nun ein Bildchen schicken könnte würde sich so sehr freuen. Ich weiß wohl, es ist –

„Gerne, gerne !“ schnitt das junge Mädchen der Frau das Wort ab. „Wo wollen Sie ihn hinsetzen? Am Ende dort ins Gras ?“

Der Rudi wurde an die bezeichnete Stelle gesetzt, aber er konnte sich nicht halten. Immer wieder rollte er vornüber, so oft ihn auch die Mutter aufrichtete.

„Könnte man ihn nicht auf ein Kissen legen?“ schlug das junge Mädchen vor. Der Päuli und das Bethli wurden in die Hütte geschickt und brachten nach einiger Zeit eine kleine Federdecke, auf die nun der Kleine gebettet wurde. Aber auch jetzt wollte er immer wieder auf die Seite kugeln, trozdem ihm die Mutter die schönsten Blumen in die Höhe hielt. Endlich gab sie ihm eine ins Händchen und nun schien der Rudi einen Augenblick der Ruhe zu finden.

Das junge Mädchen kniete ein paar Schritte entfernt und dachte dabei, daß ihr noch nie ein Bildchen so viel Mühe gemacht, wie das des goldhaarigen kleinen Burschen. Wie hübsch es aussah, als er so aufmerksam die blaue Blüte betrachtete! Jetzt war der Augenblick: tick! machte der Apparat, aber in demselben Moment hatte sich auch schon der Rudi umgedreht und das kleine braune Gesicht ins Kissen gedrückt.

„D, wie schade!“ sagte die junge Fremde. „Ich habe keine Platte mehr und ich kann nicht noch einmal kommen, wir gehen schon morgen fort."

„Aber,“ fügte sie schnell hinzu, als sie die Enttäuschung auf der Mutter Gesicht las, ,pvielleicht ist das Bildchen doch etwas geworden. Man irrt sich manchmal. Auf alle Fälle schicke ich Ihnen nächste Woche das Bildchen vom Klärchen und wenn es nicht gar so schlimm ist, das vom Kleinen auch.“

„Vergelt's Gott!“ murmelte die Mutter. Das junge Mädchen mochte diese Worte schon oft gehört haben, doch als sie dieses Mal an ihr Ohr schlugen, blickte sie überrascht auf. Ein beinahe leidenschaftlicher Dank hatte daraus geklungen ... oder war dies nur Täuschung? Die dunkeln Augen der Frau sahen an ihr vorbei in die Weite. Sie schienen ohne allen Ausdruck, und die junge Fremde hatte noch nicht gelernt, auf bekümmerten Gesichtern zu lesen.

Die Woche ging zu Ende, auch die nächste, ohne daß das ersehnte Bildchen gekommen wäre. „Sie hat es eben vergessen, natürlich!“ dachte die Mutter. Aber sie glaubte es doch nicht ernstlich, wenn sie sich des sonnigen Gesichts der jungen Fremden erinnerte. Und dann anfangs der zweiten Woche langte ein Päckchen an! Ein warmes rotes Kittelchen für den Rudi lag darin, eine hübsche Schürze für das Klärli und eine Puppe so schön und groß, wie noch nie eine in der kleinen Hütte gewesen.

Die Mutter freute sich über alles, doch am hellsten leuchtete ihr Gesicht auf, als sie ein weißes, längliches Kuvert entdeckte. Ein Brief steckte darin und vier kleine Photographien. Zwei waren vom Klärli, wie es mit dem Apfel in der Hand unter den Sonnenblumen stand. Die zwei anderen zeigten ein Stückchen Wiese mit hohen Margueriten und Wegwarten, mitten drin auf einem Kissen lag ein kleiner Junge. Nur das halbe Gesichtchen war sichtbar, die andere Hälfte hatte er ins Kissen gedrückt; aber man konnte doch erkennen, daß es Rudi war, so deutlich sah man den hellen Haarschopf und das gerade Näschen und das eine halbgeschlosssene Auge. Und die lieben Händchen, die das Marieli immer so bewundert, sah man haarscharf, sogar die Grübchen darin.

Der Mutter Hand, die das Bildchen hielt, zitterte ein wenig. Langsam stand sie auf, holte Feder und Tinte, einen großen Bogen Papier, auf den oben ein Bildchen geklebt war, und fing an, an das Marieli einen Brief zu schreiben. Es wurde kein langer. Als die Mutter ihn zu Ende geschrieben, seufzte sie schwer auf. Sie fühlte selbst, daß ihre Worte arm und kalt waren – der Ton in der jungen Fremden Brief war ein viel herzlicherer — aber sie konnte ihre heiße, große Liebe zu dem Kind nicht in Worte fassen. Ach ! und sie wußte ja, daß fremde Augen ihre Worte lesen, ein fremder Mund sie dem Marieli erklären würde.

Das eine Bildchen wurde zu dem kurzen Brief ins Kuvert geschoben, das andere barg die Mutter an einem sichern Platz. Dann rief sie die drei Kleinen zusammen, nahm den Rudi auf den Arm und machte sich auf den Weg ins Dorf. Sie wollte den Brief selbst zur Post bringen.

Von diesem Tage an war wieder eine Veränderung an der Mutter wahrzunehmen. Sie lachte und scherzte hie und da mit den Kleinen, sie sprach weniger mit dem Rudi und mehr mit den Großen. Es gab zwar noch oft Augenblicke, da es den Kindern schien, die Mutter sei weit weg mit ihren Gedanken, aber sie machte dabei nicht mehr das kummervolle, finstere Gesicht wie früher.

So verfloß eine Woche nach der andern. Außer jenem ersten Brief war nie eine Nachricht aus der Anstalt gekommen. Einmal hatte die Mutter durch Bekannte gehört, der kleinen Marie gehe es gut, aber die Frau Vorsteherin fände es noch nicht ratsam, daß die Mutter ihren Besuch wiederhole.

Und die Tage eilten dahin und jeder nahm ein Stück Sommerwärme und Sommerherrlichkeit mit sich. Dann war auf einmal der Herbst da. Die Kinder machten sich am Morgen fröstelnd auf den weiten Schulweg und die Kleinen konnte die Mutter nicht wie gewöhnlich gleich in der Frühe auf die Wiese oder an den Fluß schicken. Weißer, feuchter Nebel lag dicht um das Häuschen her; nur die am nächsten stehenden Bäume konnte man erkennen, darüber hinaus war alles ein undurchdringliches Grau. Nach ein paar Stunden freilich zerrissen die weißen Schleier. Man sah noch ein paar Fetzen drüben am Wald hängen, aber die Wiesen waren rein und grün, und die Bretschneiderschen Kinder jagten sich darauf oder pflückten Herbstzeitlosen und machten lange, schimmernde Ketten.

An einem Abend klagte der Päuli über Schmerzen im Hals und in der Brust. Die Mutter kochte einen bittern Tee und bettete den Kleinen so behaglich als möglich in des Rudis Bettchen. Er schlief ein, aber spät in der Nacht, als die Mutter eben schlafen gehen wollte, wachte er auf, hatte glänzende Augen und heiße Händchen und schwatzte und lachte so aufgeregt, daß der Mutter angst und bange wurde. Sie verstand nicht viel von Krankenpflege. Von den Kindern hatte bis jetzt keines eine ernstliche Krankheit gehabt. Wenn eines unwohl gewesen, war es eben von selbst wieder besser geworden, nach einem Arzt hatte man deshalb nie geschickt. – Aber nun der Päuli ... der hätte wohl einen Arzt nötig . . . aber wo in der Nacht einen finden? Es konnte doch keines der Kinder so spät durch den Wald gehen. – — Die Mutter blieb bei dem Kleinen die ganze lange Nacht hindurch. Sie kühlte seine heiße Stirne, sie wiegte ihn in ihren Armen, als sei er noch ein kleines, kleines Kindchen. Doch der Päuli schlief nicht; das Fieber stieg und als der Morgen kam, kannte der Kleine die Mutter nicht mehr.

Früher als sonst mußten die Kinder zur Schule, denn vorher sollten sie noch den Arzt aufsuchen. „So schnell als möglich muß er kommen, vergeßt das ja nicht zu sagen!“ mahnte die Mutter immer aufs neue und das kleine, ein bißchen verängstete Trüppchen versprach es ebenso eifrig.

Wieder und wieder spähte die Mutter den Fußweg hinauf, ob nicht der ersehnte Arzt endlich komme. Aber erst gegen 11 Uhr sah sie die feine, wohlbekannte Gestalt des Doktors oben an der Landstraße. Mit großen Schritten kam er den Fußweg herunter, unterwegs mit lustigen Worten das Bethli und Klärli begrüßend. Die Mutter ging ihm ein paar Schritte entgegen. Er fing an, sie über den Päuli auszufragen. Darüber verlor sein Gesicht den lachenden Ausdruck. Eilig trat er in die dumpfe Stube, neigte sich über den Kleinen und wandte sich nach kurzer Untersuchung zu der angstvoll harrenden Mutter. „Das ist nun schon der zehnte Fall in dieser Woche! Es ist, wie ich dachte: Der Kleine hat Diphtheritis, doch nicht in hohem Grade. Immerhin ist es besser, man bringt ihn sofort in die Stadt ins Krankenhaus. So gegen 4 Uhr wird der Wagen da sein. Sie brauchen sich um nichts weiter zu kümmern. Ich werde dafür sorgen, daß der Kleine den Berg heraufgetragen wird. Aber bis dahin müssen Sie ihn wohl hüten, keinen Augenblick allein lassen! Was? Die andern Kinder? Na, die dürfen natürlich nicht herein. Unter keinen Umständen! Geben Sie ihnen draußen zu essen und später, wenn der Junge fort ist, reißen Sie Türen und Fenster auf, so weit es geht. Haben Sie kein anderes Zimmer? Eine kleine Kammer? Gut! Lassen Sie die Kinder dort schlafen. Aber zuerst die Betten an die Sonne tragen. Und die Kissen, auf denen der Kleine liegt, werfen Sie in den Fluß. Verstanden? Sofort! Meine Frau wird Ihnen für andere sorgen.“

Die Mutter nickte schwermütig zu dem Gesagten. Kaum erwiderte sie den Gruß des davoneilenden Arztes. So, jetzt mußte auch der Päuli weg. Aber freilich die Pflege, die er brauchte, konnte sie ihm ja nicht geben, so war es das beste, er ging in die Stadt.

Der Päuli lag ganz ruhig in einer Art Halbschlummer. Die Mutter trat so leise auf, als ihre schweren Schuhe es zuließen, raffte einen Arm voll Bettstücke zusammen und trug sie an die Sonne. Sie hing sie über den Bretterzaun am Gärtchen und starrte dabei einen Augenblick zu den hohen Sonnenblumen auf. All die leuchtenden Blütenblätter waren längst verwelkt. Die schlanken Stengel neigten sich tief zur Seite, so oft hatten die Kinder sie heruntergezogen, um von den schwarzen Kernen zu naschen. Wie oft hatte sie das Marieli hier stehen sehen! Es hatte die leuchtenden Blumen so geliebt . .. Das Marieli, das Kind, was mochte es wohl treiben? . .

Ein barfüßiger Junge kam den Weg heruntergesprungen und auf die Frau zu. „Da, das hat man mir auf der Post gegeben. Ich soll schnell laufen, hat die Postmeisterin gesagt. Es ist ein Telegramm.“

Der Junge legte das gelbe Kuvert in die ausgestreckte Hand der Frau und wartete mit neugierigen Blicken darauf, daß sie es öffne. Doch die Mutter ging ohne ein Wort zu sprechen nach der hintern Seite des Hauses. Dort, warm umspielt von den Sonnenstrahlen, lag der Rudi in dem alten Korbwagen und schlief. Die Mutter setzte sich auf einen Stein neben ihn und öffnete das Kuvert. Das weiße Papier enthielt nur wenige Worte: „Sofort kommen. Marie krank.“

Mit einer seltsam müden Bewegung strich die Mutter über ihr dichtes schwarzes Haar, dann stand sie auf, band die Schürze los und strich glättend über ihr Kleid. Ihr Blick streifte den schlafenden Kleinen. „Jch gehe natürlich, Rudi! Hörst du, das Marieli ist krank, so krank, daß man mich ruft.“

Das kleine, braune Gesicht rührte sich nicht. Die Mutter strich ganz leise mit ihrer harten Hand darüber und ging wieder . . am Gärtchen vorbei, der Haustüre zu. Am Bretterzaun hingen die Decken und Kissen. Die Mutter blieb stehen. Wer hatte denn das alles herausgeschleppt? Ja — doch, das war sie gewesen . . . Wozu . . . wozu – –

Herrgott, Herrgott! Der Päuli – –

Die Frau tat ein paar taumelnde Schritte und sank schwer auf die Bank vor der Türe.

Der Päuli war krank und sie durfte ihn nicht allein lassen, das hatte der Arzt gesagt. Sie konnte nicht zum Marieli gehen .. . War das möglich, war das wahr? Konnte nicht die Emma den Päuli hüten? Aber nein, keines der Kinder durfte hinein. Sie mußte bleiben, sie mußte und das Marieli war krank — so krank.

O es würde sterben, sie wußte es. Es würde sterben und denken, die Mutter habe es vergessen. Es würde die Händchen ausstrecken und die schrecklichen Schreie ausstoßen . .. Die arme Mutter hatte keine Tränen, kein Laut kam über ihre fest zusammengepreßten Lippen ~ wie sie litt, wie sie litt !

Da drang ein erstickter Schrei aus der Hütte. Der Päuli ~ Im Nu mar die Mutter an seiner Seite und hob ihn empor, bis das arme Kind den Atem wiedergefunden. Völlig erschöpft sank der Kleine auf das Kissen zurück. „Durst“ murmelte er. Die Mutter schaute bekümmert um sich. Da traf ihr Blick auf eine Flasche, die unten am Fußende des Bettchens lag. Ohne daß sie es bemerkt hatte, mußte der Arzt sie hingelegt haben. Ein köstlicher, kühlender Saft war darin, den der Päuli in großen, hastigen Zügen trank, worauf er wieder in einen leichten Schlaf verfiel.

Auf dem kleinen Vorplatz hörte man die Stimmen der heimkehrenden Kinder. Die Mutter ging hinaus mit einem großen Topf Milch und einem Laib Schwarzbrot; sie hatte nicht an die Bereitung eines Mittagsmahles gedacht. Aber den Kindern schmeckte es. Sie hockten wie eine kleine Schar Zigeuner um den Milchtopf herum und tauchten der Reihe nach ihr Schwarzbrot ein. Die Emma hielt den Rudi im Schoß und fütterte ihn gewissenhaft.

Drinnen in der Hütte saß die Mutter am Bettchen des Päuli. Meist lag er still, aber von Zeit zu Zeit fing er an, sich unruhig zu bewegen und nach Luft zu ringen. Dann mußte ihn die Mutter emporrichten, bis er wieder atmen konnte. Sie litt bei diesen Anfällen beinahe so sehr wie das Kind. Wie schrecklich das war, das verzerrte kleine Gesicht, die angstvollen Augen, die sich so vorwurfsvoll auf ihr Gesicht richteten. Dann war ihr mit einem Male, als halte sie nicht den Päuli, sondern das Marieli im Arm, das Marieli, das mit heißen Händchen nach ihr griff. ~

Um vier Uhr, wie der Arzt gesagt, kam man den Päuli holen. Die Mutter befolgte mechanisch alle Anordnungen, die ihr am Morgen gegeben worden waren. Fenster und Türen standen offen, die Betten waren in der kahlen kleinen Kammer aufgeschlagen. Aber noch konnte sie das Haus nicht verlassen. Sie mußte die Rückkehr der größeren Kinder aus der Schule abwarten. Dann erst, als sie der großen Emma in hastigen Worten Bescheid gegeben, konnte sie fort; fort zu dem Kinde, das sie nötiger hatte als alle andern.

Es dunkelte schon und irgendwo in der Ferne schlug eine Kirchenuhr sieben, als die Mutter endlich die hell erleuchtete Anstalt vor sich liegen sah. Sie blieb einen Augenblick stehen und trocknete sich das glühende Gesicht.

Was wartete ihrer? Lebte das Marieli noch? Konnte sie ihm noch ein paar Worte sagen . . . oder. .. . oder .....

Nun stand sie in dem breiten Hausflur. Ein kleiner Junge starrte sie, den Finger im Mund, mit blöden Augen an. Da ging eine Türe auf und dieselbe ältliche Frau, die das Marieli an jenem leuchtenden Sommertag in die Anstalt geholt, trat in den Flur. Als sie die dunkelgekleidete Frauengesstalt gewahrte, ging ein mitleidiger Zug über ihr Gesicht.

„Das Marieli ?“ stammelte die arme Mutter.

„Ich will es Ihnen zeigen, kommen Sie. Diesen Gang herunter. Nein, nicht nach oben, wie das lezte Mal. Wir mußten das Marieli in ein anderes Zimmer nehmen, der Ansteckung wegen. Es hatte Diphtheritis.“

„Es hatte Diphtheritis . . .“ wiederholte die Mutter, „ich dachte es mir . . . wie der Päuli . . . es hatte – “ sie stockte plötzlich und packte der Begleiterin Arm. „Was haben Sie gesagt – es, es hatte .!...

Die andere nickte. „Vor einer Stunde hat es ausgelitten. Danken Sie Gott, daß er das Kind zu sich genommen.“

Die arme Mutter wankte, aber nur einen Augenblick, dann kam eine große, starre Ruhe über sie. Sie überschritt die Schwelle des Totenzimmers mit festen Tritten. Ein kleines Licht brannte darin und warf einen sanften Schein über alle Gegenstände. Die kleine Marie lag noch in ihrem Bettchen. Man sah dem schlafenden Gesichtchen nicht mehr an, welch harter Kampf vorausgegangen. So friedlich sah es aus, so befreit ... Neben dem Bettchen stand ein Stuhl. Die Mutter setzte sich darauf, immer mit denselben ruhigen Bewegungen. Nur ihre Augen sprachen, klagten, jammerten um das tote Kind.

Der kleinen Marie Kopf war ein wenig zur Seite geneigt, die beiden schmalen Händchen lagen wie müde auf der Bettdecke ausgestreckt. Der Mutter Augen glitten langsam über die weißen Fingerchen, dann beugte sie sich mit einem Male über das eine Händchen. Die ältere Frau, die die ganze Zeit über schweigend am Fenster gestanden, hörte die Bewegung, wandte sich und trat näher.

„Ach, Sie sehen, daß sie etwas im Händchen hält. Das ist die Photographie vom Kleinen, die Sie ihr einmal geschickt. Sie hat sich so sehr darüber gefreut, daß sie das Bildchen immer bei sich trug. Man hörte sie manchmal damit sprechen und lachen.“

Der Mutter dunkles Haupt fiel schwer gegen das Gitter des kleinen Bettchens. Sie schluchzte, schluchzte so tief und qualvoll, daß es der anderen ins Herz schnitt. Aber doch hörte sie darin die Erlösung von dem starren Schmerz, der sie geängstet. Sachte ging sie hinaus. – ~

Die Mutter wollte nicht über Nacht in der Anstalt bleiben. Die Frau Vorsteherin stellte ihr umsonst den weiten Weg und die regendunkle Nacht vor Augen. Die Mutter gab immer dieselben müden Worte zur Antwort: „Es braucht mich ja nicht mehr, das Marieli. Und die andern sind so allein.“

Dann schritt sie in die Nacht hinaus. Unter der Türe stand die Vorsteherin mit der ältern Frau zusammen und schaute ihr nach, wie sie, mühsam gegen den Sturm kämpfend, vorwärts schritt.

„Sie hat es besser aufgenommen, als ich dachte. Nun, eigentlich sollte sie nur froh sein. Dem Kind ist ja wohl geschehen. Eine Hilfe hätte sie nie an dem Marieli. gehabt, nur eine unnütze Last.“

Die andere antwortete nichts. Vor ihren Augen tauchte ein angstverzerrtes Antlitz auf mit kummervollen Augen. Sie ging mit sachten Schritten in das stille Zimmer der kleinen Marie, stand einen Augenblick ssinnend an dem Bettchen und sorgte dann mit gütigen Mutterhänden für die kleine Leiche.

Der Wind heulte und riß an den Kleidern der einsam Schreitenden. Der Regen schlug in ihr Gesicht, aber sie empfand es beinahe als Labsal gegen die brennende Hitze ihres schmerzenden Kopfes. Nur einen Augenblick nicht denken müssen! Aber die Gedanken kamen ungerufen, einer den andern überstürzend.

Und die Mutter schritt weiter – immerzu, immerzu. Wie sie an die Stelle kam, wo sie die Fahrstraße verlassen und in den Fußweg einbiegen mußte, sah sie unten in der Tiefe ein schwaches Lichtchen schimmern. So waren die Kinder noch nicht alle zur Ruh. Sie würde die Emma finden, wohl auch das Käthi mit seinem immerfrohen Gesicht. Und in der Kammer daneben schliefen die andern alle, dicht nebeneinander die blonden und dunkeln Köpfchen . . .

Wie reich sie doch war! Trotz allem, trotz allem . . .

Eine seltsame Änderung ging mit der Mutter vor, wie sie langsam talwärts schritt und das Licht größer und größer vor ihr aufleuchtete. Ihr war, eine liebe, liebe Hand strecke sich aus und zöge sie näher, immer näher. Sie gedachte der kleinen Marie, aber nicht mehr mit der grenzenlosen Bitterkeit der vorigen Stunden. Sie sah das Leben der Kleinen vor sich : ein Leben des Leids, der Verachtung, vielleicht des Elends ~ und dann sah sie wieder die gütige Hand, die das Kind von all diesem Jammer zu sich gezogen . . . und ihr Herz ward Stille.

Das Zäpperli.

Wir waren schon im Postwagen zusammengetroffen, hatten uns bei der Unterbringung des Gepäcks gegenseitig Hilfe geleistet und dabei entdeckt, daß unser beiderseitiges Ziel das hoch und verschwiegen gelegene Hotel Alpenruhe sei. Aber in den ersten Tagen nach der Ankunft wechselten wir nur wenige flüchtige Worte. Die Fremde, deren Sprache die Nordländerin verriet, hatte sich an einige Landsleute angeschlossen, mit denen sie täglich eine größere oder kleinere Tour unternahm. Als aber der lebhafte Schwarm abgereist war und auch sonst ein bekanntes Gesicht ums andere verschwand, rückten wir uns langsam näher.

Ich konnte nur bescheidene Gänge machen, etwa zu dem eine halbe Stunde entfernten Hexenktessel oder zu den zwei Ahornbäumen hinauf, die seltsam aus den sie rings umgebenden Tannen heraustraten. Die Fremde schloß sich mir bereitwillig an.

„Ich habe die Sache eigentlich verkehrt angegriffen,“ meinte sie lächelnd, „bei mir heißt es ja: aus der Ferne in die Nähe.“

Nun, jedenfalls hatte ihr das Große und Erhabene den Blick für das Kleine und Zarte nicht getrübt. Sie erzählte mir mit funkelnden Augen von der weißen Einsamkeit, in der sie gewandert, von den schneeigen Gipfeln und Hängen, die so unberührt vor ihr gelegen, als sei nur eben Gottes Schöpferhand davon weggeglitten.

Und mitten in diesen Schilderungen bückte sie sich und bewunderte eine kleine, versteckte Blüte, einen moosigen Stein, oder sie entdeckte in der Ferne ein braunes Häuschen, das sich am Berge festzuklammern schien.

Eines war mir gleich in den ersten Tagen an der Fremden aufgefallen, und vielleicht war es das gewesen, was mich am meisten zu ihr gezogen. Sie liebte die Kinder. Nicht in der Art, wie viele Menschen sie lieben. Sie schenken ihnen etwa ein Biskuit oder ein Stück Schokolade; sie tätscheln im Vorübergehen die blonden und braunen Köpfchen. Sind sie besonders gut gelaunt, so opfern sie wohl gar eine halbe Stunde irgend einem „geisttötenden“ Spiel, um dann mit einem Seufzer der Erleichterung in ihre eigene höhere Sphäre zurückzukehren.

Die Fremde tat dies alles nicht. Sie verschenkte keine Süßigkeiten und keine übergroßen Zärtlichkeiten, aber in ihrer Stimme und in ihren Augen lag eine so warme Liebe, daß ich wohl verstehen konnte, wie sich ihr alle kleinen Hände entgegenstreckten, ihr alle Augen entgegenlachten. Ein- oder zweimal sah ich sie mit Kindern spielen und dann verstand ich vollends das Geheimnis ihrer Macht. Sie spielte wie die Kinder selbst, mit einem Eifer, mit einer Hingebung, die entweder echt oder raffinierte Kunst war.

Bei unserm nächsten Zusammensein fragte ich sie hierüber.Sie schaute mit überraschtem Blick zu mir auf.

„Ich weiß nicht, was antworten. Es ist wohl beides. Es gab eine Zeit, da mußte ich mich redlich abmühen. Aber das ist jezt nicht mehr nötig. Sie müssen es niemandem verraten: ich genieße die Spiele beinahe so sehr wie die Kinder selbst!“

„Sie haben wohl immer Kinder um sich gehabt und sich so diese Spielfähigkeit erhalten ?“

Die Fremde schüttelte den Kopf. „Nein, ach nein! Ich bin ein einziges Kind gewesen und habe wenig mit andern Kindern gespielt. Als ich erwachsen war, stand ich nahezu allein. Ich weiß bestimmt, daß es einmal in meinem Leben eine Zeit gab, in der ich wochen- und monatelang mit keinem Kinde sprach. Jch war so einsam und leer.

Da traf ich mit einem kleinen Jungen zusammen, der mir viel, viel gegeben hat. Ich glaube, er hat mir den größten Dienst erwiesen, den ein Menssch dem andern erweisen kann. Er hat mir gezeigt, wie und wo ich Freude bringen kann. Darf ich Ihnen von meinem kleinen Freund erzählen ? Ich tue es sehr selten; aber ich glaube, Sie werden mein kleines Zäpperli verstehen und lieb gewinnen.

Ich war zur Erholung nach Genf gereist. Nicht, daß ich körperlich krank gewesen wäre; ich war jung und gesund. Aber ich hatte alles, was mir lieb gewesen, verloren und mir graute vor meinem öden Leben.

Und nun stand ich am See und schaute zu, wie ein großes Segelschiff mit Kohlensäcken beladen wurde. Auf den Jurabergen lag leuchtender Schnee, der erste des Jahres. Er hatte die trotzige, kalte Steinmasse seltsam verwandelt. All die schroffen Felsvorsprünge waren weich verhüllt. Bläuliche, sanfte Schatten füllten die dunkeln Risse, und die breiten Schneefelder flimmerten unter den matten Strahlen der Wintersonne. Ein kühler Wind strich von den weißen Höhen zu uns herab. Die Männer, die sich mit den Kohlensäcken mühten, schienen ihn nicht zu achten. Der Schweiß rann über ihre rußigen Gesichter. Einer der Jüngeren arbeitete im ärmellosen Hemde. Wie er so stand, mit starken Armen die Lasten hebend und schwingend, bot er ein Bild voll so gesunder Kraft, daß mich ein leises Gefühl des Neides beschlich. Die kühle Luft machte mich frösteln. Ich schickte mich eben an, tiefer in die Anlagen zu schlendern, da fiel mein Blick auf eine kleine Gestalt, die gleich mir dem Treiben auf dem Schiffe zugesehen. Was für ein drolliger kleiner Kerl! Alles war rot an ihm, die Höschen, der Mantel, an dessen Halsausschnitt ein rotes Jäckchen sichtbar war, selbst die kleinen Handschuhe. Auf dem Kopf trug er eine rotwollene Zipfelmütze, wie sie die Fischer an der irischen Küste tragen.

„Jetzt gehen sie bald!“ rief der Kleine plötzlich, rieb sich die Hände und hob zappelnd bald das eine, bald das andere Bein. „Frau Brand! Frau Brand! Komm sschnell, sie gehen !“

„Mußt nicht so machen, Zäpperli, nicht so wild sein! Sie fahren noch lange nicht, dort liegen noch ein paar Säcke.“

Das zappelnde Figürchen wandte sich der langsam näherschreitenden Kinderfrau zu. „Wir warten, nicht wahr ?“ fragte das etwas krächzende Stimmchen in bittendem Ton. „Ja, ja!“ meinte die Alte gutmütig; dann, als sie auf meinem Gesicht einiges Interesse an ihrem zappelnden Schützling lesen mochte, fügte sie vertraulich hinzu: „Er geht so gern an den See herunter, aber ich tu es nicht oft. Er wird so aufgeregt von allem, was er sieht und zappelt, daß einem ganz angst wird.“

Ich lächelte, da ich wirklich nichts zu sagen wußte.

Frau Brand sowohl wie der Kleine sprachen ein breites, rauhes Deutsch, so wie es im Berner Oberland gesprochen wird. Ich verstand den Dialekt wohl, konnte ihn aber nicht reden, was mich wohl in des Zäpperlis Augen nicht als vollwertigen Menschen erscheinen ließ. Er gab mir auf verschiedene Fragen keine Antwort, schaute mich aber aus großen, braunen Augen starr an und sagte endlich: „Du hast keinen sehr schönen Hut, Mama hat einen viel größern und sschönern.“

Frau Brand raunte dem Kind entsetzte Ermahnungen zu; ich lachte und sagte, um so besser gefalle mir seine rote Kappe. „Du kannst sie haben," erwiderte das Zäpperli bereitwillig, „dann bekomme ich vielleicht eine grüne. Grün ist die aller - allerschönsste Farbe auf der Welt.“

„So! Ich habe ein grünes Kleid. Soll ich es morgen anziehen?“ „Ja, bitte, bitte, und eine grüne Kappe!“ — Die Hände reibend, bald das eine, bald das andere Bein hochziehend, hüpfte das Zäpperli vor mir auf und ab.

„Chum jetze, Frännelil Mer müsen heim!“ mahnte Frau Brand und ergriff eines der geschäftigen Händchen. „Ach, du hast noch einen andern Namen außer Zäpperli?“ fragte ich erstaunt, da wandte sich der Kleine eilig: „François, Roger, Gérard Sarazin. Florissant huit, Genève".

Frau Brand strahlte über ihr ganzes breites Gesicht. „Wissen Sie, ich verliere ihn ja nie; aber was weiß man, was geschehen kann! Es könnte mich einmal der Schlag treffen !“

Ich nickte einen Abschiedsgruß. Eben schickten sich die beiden Gestalten an, dem Ausgang der Anlagen zuzuwandern, da ertönte von dem Segelschiff ein langgezogener Pfiff. Wie ein Blitz fuhr des Zäpperlis Kopf herum; mit einem Jammerschrei stürzte er den eben gegangenen Weg zurück, die halb entsetztte, halb ärgerliche Frau Brand keuchte hinter drein.

„Zäpperli, Zäpperli! Chind, Chind! Um des Himmels ville!“ schrie sie mit zitternder Stimme.

„Sie gehen, Frau Brand, wirklich sie gehen !“ war der Gegenschrei, und da stand das rote Kerlchen wieder neben mir hüpfend, gestikulierend, unaufhörlich schwatzend. Auf dem Schiff herrschte ein munteres Durcheinander. Einige Arbeiter saßen ausruhend auf den Säcken, andere zogen die schweren Ketten herein, mit denen das Schiff befestigt gewesen, wieder andere machten sich mit den Segeln zu schaffen. Langsam glitt das Boot auf dem blauen Wasser dahin. Die Bisse war günstig und füllte die schmutzigen, verflickten Segel. Wie sonderbar zu denken, daß man sie in kaum einer halben Stunde draußen auf dem See silberweiß schimmern sehen werde!

Ich vertraute meine Gedanken meinen beiden Gefährten an; völlig absichtslos bediente ich mich dabei der französischen Sprache. Da faßte mich plötzlich eine kleine Hand, und niederblickend schaute ich in ein Gesichtchen, das von einem warmen, ehrfürchtigen Gefühl völlig durchdrungen schien.

„Du redest wie Papa!“ flüsterte das heisere Stimmchen in einem scheuen, zärtlichen Flüsterton – da beugte ich mich nieder und küßte die runde kleine Hand, die warm in der meinen lag.

Mit einem erwartungsvollen Gefühl, das für den Augenblick alle quälenden verdrängte, betrat ich am nächsten Tag den englischen Garten und wanderte langsam an dem Springbrunnen, an den vielen Rasenplätzen und Ruhebänken vorbei. Ich ging den breiten Weg, der durch ein Geländer gegen den See hin abgeschlossen ist, wohl zwanzigmal auf und ab, immer und immer nach einem kleinen, roten Jungen spähend, aber er kam nicht.

Erschöpft setteich mich auf eine Bank. Schlimme, unnütze Gedanken, wie sie sich leicht Müder und Kranker bemächtigen, gingen mir durch den Sinn. Ich sah nicht, daß die Birken feingliedrig und schlank in der Sonne standen, daß der Hagen- buttenstrauch neben mir rote, glänzende Beeren trug.

Da plötzlich klang eine helle Knabenstimme in mein Ohr und das rote Pilzchen stand wie aus der Erde gewachsen vor mir.

„Du hast es! Du hast das grüne Kleid, das gute, grüne Kleid!“ jauchzte das Zäpperli und streichelte mir Gesicht und Hände.

Frau Brands Begrüßung war formeller. Sie entschuldigte sich wortreich, daß sie mich aufgesucht, aber der Junge habe ihr keine Ruhe gelassen. Am frühen Morgen habe er angefangen, er wolle an den See herunter, die Dame im grünen Kleid zu sehen.

Ich versicherte die gute Alte immer wieder, daß es mir die größte Freude sein werde, wenn sie mir den Kleinen oft, ja womöglich täglich bringen werde. Das benahm ihr beinahe den Atem. „Du meine Güte! Zu Hause will niemand etwas von ihm wissen. Sie finden ihn alle so dumm. Er ist schon fünf Jahre alt. Das würden Sie kaum denken, nicht wahr? Er war lange, lange krank. Daher kommt es wohl, meint der Herr, daß er immer noch zu schlafen scheine.“

„Dies Kind schläfrig!“ entfuhr es mir unwillkürlich. Die Alte schnitt ein merkwürdiges Gesicht. „Ja , ja! Er ist schon wach, aber er versteht gar nicht, wenn man ihn etwas lehren will. Nicht das kleinste Verschen kann er behalten, und so dumme Fragen srtellt er, so dumme !“

„Nun, wonach frägt er denn?“ ~ „Ja, hören Sie nur mal. Erst heute Morgen wollte er wissen, wohin die Tage gehen. Und gestern ob der liebe Gott einen langen Bart habe und ob er größer sei als sein Onkel Buchanan. Das ist ein himmellanger Engländer, müssen Sie wissen. Was soll man denn da antworten! Nein, so ein dummes Kind, so ein dummes !“

Das dumme Kind hatte dieser Auseinander- setzung mit großen Stauneaugen zugehört; nun erhob es sein klägliches Stimmchen und sagte: „Frau Brand weiß nichts, gar nichts. Ich frage sie so viele Sachen und sie lacht nur." — „Ja, das ist schon wahr,“ meinte die Alte gutmütig, „jetzt kannst du einmal deine Dame mit dem grünen Kleid fragen, vielleicht weiß sie etwas.“

Bei diesen Worten nickte uns Frau Brand freundlich zu und ging dann mit kurzen Schritten zu einer benachbarten Bank, wo sie eine Bekannte entdeckt hatte.

Da saßen das Zäpperli und ich allein. Ich legte ganz schüchtern meinen Arm um das rote Figürchen — nicht alle Kinder dulden Liebkosungen– und der Kleine schien es wohlig zu empfinden. Er schob sich näher an mich heran und sagte innig: „Ich habe dich lieb, ich habe immer an dich gedacht.“

Vielleicht erwartete er ein ähnliches Geständnis. Er hob die Augen, da sah er in den meinen etwas, das ihn zu überraschen schien.

„Warum weinst du? Wart’, ich hab’ ein Taschentuch. Komm, trockne die Tränen schnell ab. Du mußt nicht weinen, ich bin bei dir und Frau Brand ist ganz nahe, weißt du.“

Ehe ich es hindern konnte, ward mir ein kleines. Taschentuch in die Hand gedrückt. Halb lachend wischte ich mir damit die Augen, worauf ich es dem mitleidig zusehenden Zäpperli zurückgab. Aber es wanderte nicht so schnell in die Tasche. Erst wurde es an einen Ast des Hagebuttenstrauchs gehängt, um zu trocknen. Es wehte sachte hin und her, worüber sich das Zäpperli so freute, daß es ein Weilchen sein altes Spiel mit Händereiben und Beinehochziehen betreiben mußte. Dann sollte ich das Taschentuch bewundern. Es waren Mäuschen darauf abgebildet, die aufrecht gingen und wie Menschen gekleidet waren. Dies brachte mich auf den Gedanken, ihm eine Mäuschengeschichte zu erzählen, aber es wurde mir nicht klar, wieviel das Zäpperli davon erfaßt hatte. Er seufzte am Schluß tief auf und sagte unvermittelt: „Jch wollte, ich wäre ein Pferd! Ich wollte, der Çbon Dieu! hätte ein Pferd aus mir gemacht. Weißt du, aus was der ,bon Dieu gemacht ist? Aus Holz oder Haut?“

Meine Blicke suchten Frau Brand, obwohl ich wußte, daß mir von ihrer Seite keine Hilfe kommen konnte. Unwillkürlich fiel mir die Antwort ein, die das Konfirmandenbüchlein auf diese Frage gibt, aber dem Zäpperli war wohl kaum damit gedient zu wissen, das Gott ein unerschaffenes, geistiges Wesen sei. Ich schaute. hinunter in die vor Erwartung beinahe schwarzen Augen.

„Gewiß nicht aus Holz, denn weißt du, Fränzchen, der liebe Gott ist doch lebendig. Es weiß niemand so recht, wie er aussieht, aber wir können ihn uns denken als einen lieben Vater, unsern Vater im Himmel.“

„Eh! Eh! Der Vater von Papa und Grandpapa und von Frau Brand und dir und allen Leuten ?"

„Freilich, ja! Von allen Menschen!“

„Eh! Eh!“ staunte das Zäpperli aufs neue, dann fragte er eifrig: „Hat er eine Frau?“ „Wer? Der liebe Gott?“ — „Ja, der ,bon Dieu. Wo hat er sie?“ ~ „Ach Fränzeli,“ sagte ich ein wenig bestürzt, „der liebe Gott hat keine Frau.“ - „Nicht? Eh, der Arme!“ flötete das Zäpperli mit einem ganz kläglichen Stimmchen.

„Erzähle mir von zu Hause, Zäpperli!“ bat ich, um einer neuen ungeheuerlichen Frage zuvorzukommen. „D, zu Hause ist es langweilig. Ich muß jeden Tag Suppe essen, immer Suppe essen, und immer muß ich schlafen.“

„Nun, weißt du, das müssen wir alle, sonst werden wir nicht groß und stark. Und du willst gewiß einmal ein großer Mann werden, nicht?“

„O ja,“ seufzte das Zäpperli, „weißt du, wenn ich groß bin, werde ich ein Bauer und habe viele Kühe und Schafe und Pferde und Schweine. Willst du meine Frau sein? Du kannst dann kochen. O bitte, bitte, sei meine Frau! Versprich mir, daß du mich heiraten willst, wenn ich groß bin!“ „Aber Fränzeli, ich bin viel zu alt für dich. Denke doch, wenn du groß bist, bin ich eine alte Frau !“

Das konnte aber das Zäpperli nicht fassen. „Du bist doch nicht all. Grandmaman ist alt und sie hat ein gelbes Gesicht und Striche darin. Und du bist –~ du bist wie ein Röschen, ja ganz wie ein Röschen.“

Ich lehnte mich zurück und lachte, lachte über die Bewunderung dieses meines jüngsten Verehrers. Das Zäpperli hüpfte vor mir auf und ab, sich an meinem Lachen weidend und immer aufs neue seinen Ausspruch wiederholend. Ich kam mir entsetzlich dumm vor, daß ich meinen Lachreiz nicht dämpfen konnte, aber das rote Kerlchen hatte mich vollständig behext. Er selbst lachte nicht, d. h. nicht laut, wie andere Kinder tun. Er riß nur den Mund auf, streckte ein klein bißchen die Zunge zwischen den schneeweißen Zähnen durch und quietschte dabei die merkwürdigsten Töne hervor.

„Chum jetze, Fränneli! Chum, chum, wir müsen heim!“ ertönte da Frau Brands Stimme. Wie schade! Ich hatte ganz vergessen, daß das Zäpperli noch für andere als mich existieren könnte. Ich fühlte beinahe ein Haßgefühl gegen die gute Frau Brand, die mit vielen Worten sich verabschiedete und mit ebensovielen mir ein baldiges Wiedersehen in Aussicht stellte.

Das Zäpperli und ich wurden innige Freunde. Zum Glück strahlte Frau Brands rotes Antlitz als günstiger Stern über unserm Bündnis. Sie lenkte jeden Tag ihre Schritte in den englischen Garten, übergab mir dort das Zäpperli und ging dann regelmäßig zur selben Bank, wo ssie entweder schlief - sie schien gegen jedes Kältegefühl gefeit zu sein ~ oder mit einer Nachbarin plauderte. Sie störte uns nie in unsrer Unterhaltung, aber nach Verlauf einer Stunde stand sie vor uns wie das unerbittliche Schicksal: „Chum jjete, Fränneli!“

Eine Stunde am Tag war das Zäpperli mein, und diese Stunde war so voller Licht und Glück, daß davon auch ein warmer Schein auf die übrigen des Tages fiel. Ich hatte nie vorher geahnt, wie selig ein Kind machen kann. Zwar hatte ich die Kinder immer geliebt. Selbst als kleine Göhre pflegte ich die noch kleineren zu bemuttern und zu hätscheln; wenn ich mir je mein „Großsein“ ausmalte, sah ich mich inmitten einer zappelnden Kinderschar. ~ Und nun, da mein Leben so einsam geworden, hatte ich mir eingeredet, daß niemand meiner bedürfe, und ich hatte meinen ganzen Schatz an Liebesfähigkeit tief, tief begraben. Da pochte das Zäpperli bei mir an, und ich tat ihm mein Herz weit auf und fühlte, wie auch er mir sein kleines, hungriges Herz schenkte. Wir waren einander so ähnlich, wir beiden. Äußerlich betrachtet, erschienen wir wohl vielen als beneidenswerte Menschenkinder, und doch gehörten wir zu den armen, einsamen.

Das Zäpperli war sich dessen freilich nicht bewußt — glücklicherweise. Frau Brands Behauptung, er sei ein Dummerchen, war nicht ganz unberechtigt. Der Kleine war in seinem Geistesleben in manchem weit hinter seinen Altersgenossen zurück; aber mich störte dies nicht. Ich fand das Zäpperli immer liebenswert, auch wenn die runden Augen ein bißchen dumm-erstaunt in die Welt guckten.

Was für ein Poet steckte in dem kleinen Jungen! Er machte die niedlichsten kleinen Beobachtungen über Menschen und Blumen, über den ,bon Dien! und den blauen, blauen See. Er sprach von unserm zukünftigen Eheleben mit Worten, um die ihn ein Minnesänger hätte beneiden können.

Als der erste Schnee fiel und wie schimmernde Blüten an den feinen Gräsern und Zweigen haften blieb, war das Zäpperli außer sich vor Entzücken: „Nein, das ist zu schön! Ich könnte den .bon Dieu‘ küssen, weil er das alles gemacht hat. Meinst du, er werde mich bald in den Himmel rufen? Ich wache in der Nacht manchmal auf und liege ganz still und horche, horche . . . Aber er ruft nie, nur Frau Brand schnauft ganz laut.“

Das Zäpperli pflegte mir hie und da Geschenke zu machen. Ich habe noch ein kleines Blechbüchschen, das er mir „für Knöpfe“ überreichte. Ein glattgeschliffener Stein und ein altes, sehr verwaschenes Schiffchen folgten im Lauf der Wochen. Die übrigen Geschenke bestanden aus Zeichnungen, nein Gemälden. Eisenbahnzüge, Häuschen, Burgen strahlten mir in immer neuem Farbenglanz entgegen. Es waren schreckliche Gebilde, die wirklich keinen Funken von Talent verrieten; aber troßdem nahmen sie vor meinen Augen Form und Gestalt an, denn das Zäpperli erklärte sie. Pustend keuchte die Lokomotive heran, alles auf dem Bahnhof rannte und zappelte durcheinander, ein Pfiff und die Fahrt ging weiter. Eine Burg tauchte auf. Unwissende sahen zwar nur eine braune Masse, über der eine schauerliche Röte lagerte; aber ich war eine gelehrige Schülerin. Ich sah deutlich die vielen Türme und Fenster, die Fallbrücke, die wehenden Fahnen und starrte bewundernd in das brennende Abendrot.

Das Zäpperli liebte es sehr, mich von meiner Kindheit erzählen zu hören; Geschichten und Märchen ließen ihn dagegen ziemlich kühl. Hie und da berichtete er mir von zu Hause, von den „großen“ Brüdern und Schwestern, die ihn so viel „schikanieren“. Wenn er von seinem Vater sprach, geschah es immer in einem nahezu ehrfürchtigen Ton. Nie sah ich sein Gesichtchen lieber, als wenn es erfüllt war von diesem warmen Ausdruck, den ich schon am ersten Tag unseres Zusammentreffens gesehen. Aber nie auch tat mir das Herz so weh, als in einem solchen Augenblick. Armes, einsames Zäpperli! Einmal mußte die Zeit kommen, wo das kleine Herz zu dieser Erkenntnis erwachen würde.

Von seiner Mutter sprach das Zäpperli selten. Eines Tages äußerte er, sie habe eine große Nase und sei alt und gar nicht schön. Doch kannte ich des Kleinen Geschmack allmählich zu gut, um nicht zu wissen, daß Frau Sarazin trotz dieser Beschreibung eine Schönheit sein könnte. Einmal übrigens war ihr kleiner Sohn sehr entzückt, nicht von der Mutter selbst, aber von einem Kleid, das sie getragen. Offenbar ging sie zu einem Ball und das Zäpperli sah sie in einem „weißen, ganz weichen Kleid mit Gold daran“. Dieser letztere Umstand hatte ihm besonders imponiert. Er war eine kleine Kaufmannsseele und freute sich beinahe über nichts so sehr, als über ein Geldstück. Möglichst groß mußte es sein, der Wert ließ ihn gleichgültig.

Eines Tages, als ich länger als gewöhnlich auf das Zäpperli gewartet hatte, erschien er, nicht in Begleitung der behäbigen Frau Brand, sondern an der Hand einer eleganten Dame. Sie war groß und schlank gewachsen; das knapp anliegende Kostüm saß gut und der große Hut mit den wallenden Federn war geschmackvoll ~ ich mußte dem Zäpperli recht geben. Dagegen paßte seine übrige Beschreibung so wenig, daß ich beinahe lächeln mußte, als sich die Dame näherte. Sie war noch jung, vielleicht 30- oder 32jährig. Zwar fehlten dem Gesicht jugendfrische Farben, aber es gehörte zu denjenigen, die dies wohl entbehren können. Die Züge waren vornehm. Die leicht gebogene Nase gab ihnen etwas Kühnes und dabei sehr Unnahbares, und dieser Eindruck wurde noch durch den Blick der schmalen grauen Augen verstärkt. Des Zäpperlis „Maman“ konnte sich wohl sehen lassen und doch hätte ich ihm eine andere gewünscht, eine, die statt der schmalen, überlegen blickenden Augen liebevolle, mütterliche gehabt.

Als das Zäpperli mich erkannte, redete es eifrig an der Mutter in die Höhe und wies mit der Hand nach mir. Das stolze Haupt wandte sich, einen Augenblick ruhten die kritischen Augen auf mir, dann grüßte sie, kaum merklich und sehr herablassend. Das Zäpperli strahlte und nickte mir von weitem zu ~ und vorüber waren sie. Ich sah ihnen nach mit einem sonderbaren Gefühl. Die Dame ging mit großen, festen Schritten - ein leichter, schwebender Gang war zu ihrer Erscheinung kaum denkbar — das Zäpperli kam ihr mit seinen kurzen Beinchen kaum nach. Mit hüpfenden, ungleichen Schritten ging er an ihrer Hand, aber sie schien dies nicht zu bemerken. Wie wenig paßten sie zusammen . . . die kühlblickende, stolze Frau und das eigenartige, warmherzige Jungchen. Was hätte ich nicht darum gegeben, das Zäpperli mein nennen zu dürfen, und sie, die es durfte . . .

Ganz unerwartet brachen kalte Tage an. Die Bise wehte mit solcher Kraft und Schärfe, daß ein Ausgehen kaum möglich, ein Verweilen im englischen Garten undenkbar war. So sah ich das Zäpperli viele Tage nicht, und zu meinem Schrecken merkte ich, daß ich mich nach dem Kinde sehnte, sehnte mit einer wahren Leidenschaft. Und ich hatte kein Recht auf ihn, auch nicht das geringste. Ich kannte ja nicht einmal seine Familie, würde sie wohl nie kennen lernen, denn meine Tage in Genf waren gezählt. Ob der Kleine mich wohl auch vermißte? Ein wenig jedenfalls, aber in zwei Wochen war Weihnachten. Diese Aussicht konnte ein Kindesherz wohl ausfüllen. – Ganz ausfüllen? In ehrlichen Augenblicken wünschte ich es nicht.

Acht Tage vor Weihnachten sahen wir uns wieder, nicht im englischen Garten, sondern in der Nähe von ,„Florissant huité. Das Zäpperli wollte mir nicht recht gefallen. Sein Gesichtchen schaute blaß aus den roten Hüllen hervor, von Zeit zu Zeit hustete er rauh und tief. Frau Brand machte nicht viel daraus. „Ach, er hat oft Husten, seine Geschwister auch. Das kommt von der kalten Bise und wird schon wieder vergehen." Ich war froh, diese ruhigen, bestimmten Worte zu hören und lachte mich selbst aus über die Furcht, die mir das blasse Gesichtchen eingejagt hatte.

Hand in Hand gingen wir die Straße auf und ab. „Zäpperli“, sagte ich, „morgen gehe ich fort, weit fort. Weißt du, zurück in das große, stille Haus, von dem ich dir erzählt habe.“

„Und kommst du dann übermorgen wieder ?"

„Nein, Herzchen, nicht so schnell, aber vielleicht im Sommer. Was für ein großer Junge wirst du dann. sein! Ob ich dich wohl noch kennen werde?“

„Der Sommer ist sehr bald, nicht wahr?" fragte das Zäpperli. Wie merkwürdig müde hatte das geklungen! Nahm sich das Kind den Abschied wirklich zu Herzen? Einen Augenblick durchzuckte mich eine heiße Freude, aber dann eine noch heißere Angst. War die Stunde des Erwachens für das Zäpperli gekommen? Ach, nur das nicht, nur jetzt nicht, da ich fort mußte!

„Ist der Sommer sehr bald?“ ertönte noch einmal das müde Stimmchen, und ich log: „O ja, bald! Nun kommt Weihnachten und du kriegst gewiß hübsche Spielsachen. Da spielst du wunderschön und bist immer froh und vergnügt. Nicht wahr, Kindchen?“

„Glaubst du, daß ich das große Pferd bekomme? Ich hätte es so gerne, so gerne o sieh, hier ist ein armer Junge! Er hat keinen Mantel und keine Mütze und er friert.“ Dicht neben uns auf dem Trottoirrand saß ein kleiner Junge, vielleicht 6-, 7 jährig. Als er Fränzchens Stimme hörte, hob er den Kopf und schaute uns an mit wundervollen, tiefblauen Augen. Aber welch ein Ausdruck lag darin! Ich hätte am liebsten meine Hand darüber gelegt, so weh tat dieser hoffnungslose Gram in den Kinderaugen. Selbst das Zäpperli schien ihn zu fühlen.

„O gib ihm etwas, sonst weint er!“ bat er, sich ängstlich an mich drängend. Ich hätte dem armen Kind gerne etwas anderes als ein Geldstück geschenkt, aber ich hatte sonst nichts bei mir.

„Da, gib ihm das, Fränzeli!“ Das Zäpperli bückte sich und legte die kleine Münze in das blau gefrorene Händchen. Wieder schaute uns der Junge an mit einem plötzlichen, dankbaren Leuchten in den tiefen Augen. Er murmelte ein paar Worte, stand auf und ging in der entgegengesetzten Richtung von uns fort.

Auf das Zäpperli hatte diese Begegnung einen großen Eindruck gemacht. Es gestikulierte lebhafter als je, schwatzte und hustete fortwährend, so daß sogar Frau Brand etwas von ihrem Gleichmut verlor.

„Bekommt der arme Junge nichts zu Weihnachten?" fragte das Zäpperli, mit einem kummervollen Gesichtchen stehen bleibend. „Freilich!“ sagte ich beruhigend. „Hier in Genf sorgt man sehr gut für die Armen. Allen Schulkindern wird beschert, da kriegt der Kleine gewiß etwas Schönes.“ „O, wie froh bin ich! Aber die andern Armen kriegen sie auch etwas?“ — „Was für Andere?“

„Weißt du, weit fort, die nicht in Genf sind. Hat es in der Stadt, wo du wohnst, auch Arme? Und kriegen alle die kleinen Jungens etwas zu Weihnachten?“

Ich schämte mich plötzlich vor den mitleidigen braunen Augen; ich mußte daran denken, wie wenig ich mich bis jetzt um die andern Armen gekümmert hatte. Und dann sah ich mein großes, stilles Haus vor mir. Aber es war nicht still ... viele kleine Füße polterten die Treppe herauf. Erwartungsvolle Gesichtchen schauten nach einer Türe, die sich plögzzlich öffnen und der jubelnden Schar einen Lichterbaum zeigen würde . ..

Ich erzählte dem entzückt lauschenden Fränzchen von diesen meinen Gedanken, dann waren wir an seinem Heim angelangt. Ich mußte Abschied nehmen von meinem kleinen Freund. Ich schaute hinunter in die lieben, warmen Kinderaugen ~ ich hätte am liebsten das Kind an mich gerissen ~ mein . ... mein ~ = Â aber ich lächelte nur: „Auf Wiedersehen im Sommer, mein Zäpperli!“ Und das Kind nickte mit ernsthaften Augen.

Es war am zweiten Tag nach meiner Ankunft in der Heimat, als mir der Postbote einen Brief brachte. Große Buchstaben, von einer ungeübten Hand geschrieben. Wer konnte das sein? Der Stempel war verwischt. Ich ergriff den Brieföffner und ließ ihn wieder sinken. Sollte der Brief von Frau Brand sein? Ich hatte ihr meine Adresse gegeben und sie gebeten, mir hie und da Nachricht vom kleinen Zäpperli zukommen zu lassen. Wozu schon so bald? ~

Mir graute davor, den Brief zu öffnen. Ich wußte es, ich fühlte es, das Kind war krank schwerkrank, am Ende ~ ~ Ich riß den Brief auf, durchflog die wenigen Zeilen. Ja, das HZäpperli war krank, so sehr, daß die gute Frau Brand es für ihre Pflicht gehalten, mich davon in Kenntnis zu setzen. Freilich war es ihre Pflicht. Hat man kein Recht darum zu wissen, wenn einem das Liebste geraubt wird! Und ich liebte das Kind, liebte es . .. und die Andere, die ihm jetzt nahe sein durfte, liebte es nicht, nicht wie ich.

Ich verlebte drei qualvolle Tage. Das Bild des kranken, des sterbenden Kindes war immer vor mir. Trotzdem rüstete ich auf den heiligen Abend, kaufte Eßwaren und Spielsachen, kaufte eine hohe, duftende Tanne; aber ich freute mich nicht mehr auf die strahlenden Kinderaugen. Ich wollte, ich konnte sie nicht sehen – ~

Und sah sie doch.

Noch ehe das Christkindchen seine Klingel ertönen ließ, klang eine andere schrill durchs Haus.

Meine Hand zitterte, als ich den Umschlag aufriß; dann mußte ich mich setzen und die Tränen liefen mir über die Wangen herab. heiligen Abend, unter dem Lichterbaum ~ es waren die seligsten, die ich je geweint.

Das Zäpperli war besser, viel bessser. Das waren gute Worte, aber die nächsten waren noch schöner — nie werde ich sie vergessen können.

„Der Herr und die Frau sind immer bei dem Kleinen drinnen. Die Frau will alles selbst machen und das Kind hängt auch so an ihr.“

Ich sah in den Lichterbaum hinauf. Wie die Kerzen leuchteten, die Zweige dufteten! Wie fröhlich die hellen Kindersstimmen klangen! – –

Und diese Kinderstimmen sind seither nie mehr in meinem Leben verklungen. Sie haben mich mit dem kleinen Volk hier gesehen, aber nicht alle meine kleinen Freunde sind so munter und froh. Ich kenne viele Kinder, auf denen das Leben schwer und dunkel liegt. Und ihnen, den Hungrigen, ein wenig Licht und Freude zu bringen, das hat mich zuerst das kleine Zäpperli gelehrt, das liebe kleine Zäpperli.“ -

Die Fremde schwieg und schaute mit verträumtem Blick den Waldweg hinunter. Ging dort unten in der Ferne wohl ein rotgekleideter kleiner Junge vorüber?

Tief unten im Tal fing die Abendglocke an zu summen, da erhob sich die schlanke Frauengestalt mit rascher Bewegung.

„Sie müssen entschuldigen, daß ich Sie allein lasse. Jch habe den Kindern versprochen, nach dem Abendläuten Verstecken zu spielen, da muß ich mich sputen.“

Die alte Bodenkammer.

Wohl jeder trägt in sich verborgen die Erinnerung an einen Ort, über dem der Stern der Kindheit mit besonders hellem Glanze leuchtet.

Vielleicht ist es ein Garten, ein weltfremder, drin prunkende Pfingstrosen und hohe Malvensstauden stehen; oder ein trauliches Zimmerchen mit herabgelassenen Vorhängen, und man sieht sich selbst klein und schmal an Mutters Knie lehnen und ihren Geschichten lauschen. Wieder zaubert die Erinnerung schneeige Berge, leuchtende Seen oder auch einen alten Hof, eine Scheuer - eine Bodenkammer.

Sie lag nicht in unserm Haus. Bei uns war alles hell und neu und sauber, sogar auf dem Boden. Aber im Nachbarhaus, schräg über der Straße, war eine richtige alte Bodenkammer, durch deren halbblindes Fenster das Licht nur spärlich eindringen konnte. Gegen Abend wurde es daher düster und schön gruselig. so nahe wie möglich zusammen auf der riesigen alten Kiste und erzählte sich Geistergeschichten, bis einem vor Angst beinahe die Stimme versagte. Ich hatte an unserer Köchin eine sehr ergiebige Quelle und wußte u. a. von „den Mädchen, die noch Erbsen einlegen wollten“ und von dem fürchterlichen Telegramm „Habe acht auf den Sarg“ zu erzählen.

Anni, die Alteste unserer kleinen Schar, behandelte Hauffs „Gespensterschiff“. Wir kannten ja die Geschichte längst auswendig, aber Anni sorgte für Variationen, so daß wir immer neuen Grund zum Kreischen fanden.

Die andern zwei erzählten nie. Dem dicken Gretchen fiel nichts ein und das kleine Elschen zählte noch gar nicht recht mit. Sie mußte sich überhaupt geschmeichelt fühlen, daß wir großen acht- und neunjährigen Mädels sie mittun ließen. Wenn man erst fünf Jahre alt ist und noch nicht einmal lesen kann!

Sie, Klein-Elschen, war übrigens manchmal recht angenehm. Wenn man statt der Puppen gerne ein lebendiges Kindchen gehabt hätte, ließ sie sich geduldig in einen großen Schal wickeln und herumschleppen. Ja, sie nahm sogar mit sichtlichem Vergnügen den Schnuller in den Mund, den wir dem richtigen Baby entwendet hatten. Mit unserer Moral war es überhaupt etwas lax bestell. Wurde in unserm Haushalt irgend ein Mangel entdeckt, so unternahm das für die Sache am meisten Befähigte einen Beutezug nach unten, wir nannten es einen Ausgang in die Stadt.

Die Bodenkammer war sehr geräumig. Wir hatten uns in einer Ecke ein ganz behagliches Wohnzimmerchen eingerichtet, dessen Hauptstolz ein dreibeiniges Sofa – an Stelle des vierten Beines stand eine Kiste ~ und eine wacklige Kinderbettlade bildete. Wir waren auch im Besitz einer Truhe, deren Deckel so schwer war, daß wir ihn nur mit Lebensgefahr aufheben konnten. Lange war es uns überhaupt nicht gelungen, und wir hatten uns schon darein ergeben, nie etwas von den darin verborgenen Schätzen zu Gesicht zu bekommen. Aber einmal packte uns die Neugierde so mächtig, daß sie uns wahre Riesenkräfte zu verleihen schien; unter Stöhnen und Ächzen gelang es uns, den Deckel zurückzuschlagen. Eine dicke Staubdecke war das erste, was sich den vier neugierig gesenkten Kinderköpfchen darbot. Sie lag über einer Menge Bücher und vergilbter Blätter und hatte sich auf einem rundlichen, mit einem Tuch bedeckten Gegenstand, der in der untersten Tiefe sichtbar ward, angesammelt. Was sstak wohl unter dem Tuch ?

„Ein Ball!“ riet das kleine Elschen. „Ein Goldklumpen!“ meinte Gretchen mit bedächtiger Stimme.

„Wir wollen es herausholen,“ schlug Anni vor. „Steig’ du hinein, Mixi, du bist die Dünnste.“

Dagegen ließ sich nichts einwenden. Jch hockte zwischen den staubigen Büchern nieder und fing an, das runde Ding aus seiner Umhüllung zu schälen. Ich versuchte dabei mit Kopf und Schulter den andern die Aussicht zu verdecken. Mußte ich in die staubige Kiste kriechen, so wollte ich wenigstens die Entdeckerfreude erst allein genießen.

Die letzte Hülle fiel und ~ ~ ein Totenschädel grinste mich an aus leeren Augenhöhlen . .. in dem Oberkiefer staken noch ein paar gelbliche Zähne.

Ein eisiges Grauen packte mich, aber ich ließ den Schädel nicht fallen. Langsam, wie von einer unsichtbaren Hand gezogen, richtete ich mich auf und hielt meinen Spielgefährten den unheimlichen Fund entgegen.

Anni stieß einen gellenden Schrei aus. Das sonst etwas schwerfällige Gretchen flüchtete mit ein paar jähen Sätzen. Nur Elschen blieb stehen und tippte mit seinem rosigen Fingerchen auf den bleichen Schädel. Sie lachte dazu und sagte: „Was für ein komischer alter Mann!“

Die kalte Hand des Grauens ließ mich los. Ich lachte, lachte, daß mir beinahe die Tränen kamen. Dabei entglitt mir der Schädel und rollte mit merkwürdigem Ton über den Fußboden. Elschen hob ihn beinahe mitleidig auf und wickelte ihn in ihr Schürzchen.

Wir drei andern standen etwas verlegen beiseite. Zum erstenmal war sie die Überlegene, die Tonangebende.

„Wollen wir ihn begraben ?“ fragte die Kleine plötzlich, und wir stimmten begeistert zu.

Anni mußte sich unten nach einer passenden Schachtel, will sagen nach einem Sarg umsehen. Gretchen ging auf die Suche nach der Begräbnisstätte und dem Grabstein. Ich übernahm es, die Inschrift zu schreiben. Elschen, immer noch den Schädel im Schürzchen, lehnte neben mir und schaute bewundernd zu, wie ich mit krampfhaft festgehaltenem Federnhalter meine großen, steifen Buchstaben malte.

„Lies es mir einmal vor!“ bat sie, als das Werk beendet war, und ich las:

Hier ruht unser liber Uhruhrgroßyvater.

Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle.

„Du hättest nicht diesen Spruch schreiben sollen,“ sagte Anni, mißbilligend das Schriftstück betrachtend. „Auf Gräber schreibt man ganz andere Sachen. Etwas von Aufersstehen oder Wiedersehen.“

„Das ist mir einerlei!“ entgegnete ich unerschüttert. „Mir gefällt der Spruch und ich habe den Ururgroßvater gefunden."

Gretchen stand unter der Türe, die Hacke über der Schulter.

„Ich habe einen feinen Platz, kommt schnell!“

Eiligst wurde der Schädel in Annis Schachtel gesteckt. Der Deckel wollte zwar nicht zugehen, aber das schadete nichts. Wir legten einen Fetzen schwarzes Tuch darüber und nun ordnete sich der Zug. Voraus ging Gretchen, der Totengräber, dann Anni, der Pfarrer; Elschen, die den Schädel trug, war der Leichenwagen, ich stellte das Trauergeleite dar.

Wir gingen mit ernsten Köpfen und bedächtigem Schritt die Treppe hinunter. Unter der Türe begegnete uns die kleine Mutter des Hauses. Sie war eine zierliche, bewegliche Frau mit lebhaften Augen, die sich stets zu freuen schienen, obwohl sie oft genug Grund gehabt hätten, ärgerlich und müde drein zu sehen. Außer meinen drei Freundinnen waren noch zwei größere und zwei ganz kleine Brüder zu versorgen. Das zappelte und schrie, lachte und kreischte den ganzen Tag um die Mutter herum, zerriß Kleider und Strümpfe, beschmuttte Fußböden und Fensterscheiben, wollte gewaschen und gefüttert sein. In dem allem stand die kleine Mutter, trug den Kopf mit dem tiefschwarzen Haar froh und aufrecht und hatte lachende, warme Augen.

Wir waren das so gewohnt und es erschien uns nichts Absonderliches. Erst viele Jahre später verstanden wir, was für eine tapfere Seele in der kleinen Mutter gewohnt hatte.

„Mama, wir müssen ganz still sein, wir spielen Begraben!“ krähte Elschen im Vorübergehen, und die Mutter stand denn auch andächtig und still.

Das Haus lag inmitten eines großen Gartens, der in verschiedene Abteilungen zerfiel. Da war ein freier Platz mit einem Sandhaufen für die Kinder. In einem andern Teil standen Blumen und Ziersträucher und wieder in einem andern lagen in schönen Reihen Gemüsebeete, daneben zog sich eine dichte Himbeerhecke. Am Ende dieser Hecke war der von Gretchen gewählte Begräbnisplatz. Sie hatte schon ein Loch gegraben, das sich aber als viel zu flach erwies. So arbeiteten Totengräber, Pfarrer und Trauergeleite mit vereinten Kräften, bis das Loch tief genug war, den Ururgroßvater aufzunehmen.

Die Grabrede fiel kurz aus, um so kräftiger und anhaltender war der Gesang. Wir hatten als passende Lieder gewählt: „Morgenrot, Morgenrot! Leuchtest mir zum frühen Tod!“ und: ,„Der Pilger aus der Ferne zieht seiner Heimat zu.“

Elschen hatte noch vorgebracht „Wenn ich groß bin“, aber das war als völlig unmöglich abgeschlagen worden. Überdies sank sie durch diese Forderung in unserer Achtung wieder auf die frühere Stufe zurück.

An diesem Tag blieben wir bis zum Abendbrot im Garten. Der Sonnenschein war so hell und freundlich, während über der alten Bodenkammer immer noch etwas Unheimliches zu lagern schien. Aber am nächsten Tag unterzogen wir den Inhalt der Truhe einer weitern Besichtigung.

Die Bücher rochen uralt und hatten schwere, feste Einbanddecken. Die Schrift war merkwürdig schnörkelig und ließ sich nicht ohne Mühe entziffern. Wir strengten uns auch nicht sonderlich an. Eine Menge der Bücher wurden mit Abscheu zur Seite gelegt, weil sie sich als „Doktorsbücher“ erwiesen. Dasselbe Schicksal teilten ein paar An- dachtsbücher „auf Kosten einer wahrheitliebenden Gesellschaft gedruckt“. Dann stieß Anni einen Schrei des Entzückens aus, denn sie hatte ein Geschichtenbuch, nein, noch schöner, ein Märchenbuch entdeckt. Wer hätte der Truhe diesen köstlichen Schatz angesehen!

Anni fing gleich an, uns „die Geschichte von dem tugendhaftigen Prinzen Treuherz und der wonnesamen Prinzessin Herzelaide" vorzulesen, aber der Genuß war nur mäßig. Sie blieb immer wieder an den feinen Schnörkelchen der Buchstaben hängen, und da die Sätze endlos lang waren, hielt sie an, wenn der Atem ausging, was nicht zur Erleichterung des Verständnisses beitrug.

Gretchen gähnte unverhohlen. Elschen spielte längst mit ihrer Puppe, da ging auch mir die Geduld aus.

„Laß doch die gräßlichen alten Prinzen und Prinzessinnen in Ruh ! Man versteht ja gar nicht, was sie miteinander sprechen. Und richtig ordentlich schreiben konnten die Leute früher scheints auch nicht. Wir wollen das Buch wieder in die Truhe werfen.“

Das Schließen des Deckels war viel leichter zu bewerkstelligen als das Öffnen. Mit einem dumpfen Knall schloß sich die Truhe, und fortan war sie vor unserer Neugier sicher.

Ein paar Tage lang besuchten wir regelmäßig Ururgroßvaters Grab und schmückten es mit Blumen. Auch mußte die Inschrift zweimal erneuert werden. Das eine Mal hatte sie der Regen zerstört, das andere Mal war sie den Buben in die Hände gefallen.

Diese schrecklichen Buben! Wie viel schöner wäre die Welt gewesen ohne sie! Wenn man mit den Puppen spazieren ging, äfften sie die Unterhaltung nach oder versuchten einen Überfall auf die Kinder. Wenn man im Bodenkammerzimmer eine Einladung an sie ergehen ließ, aßen und tranken sie all das mühsam Gekochte im Augenblick weg, und statt des Dankes brummten sie über „das bißchen Zeug“.

Nur bei den Ball- und Springspielen, hauptsächlich bei dem unvergleichlichen „Pflumeboppi, '8 Hüsli brennt!“ gingen wir Mädel und Buben gemeinsame Wege. Ja, und dann noch bei einem ganz besonderen Anlaß.

Unsere Vaterstadt feierte die 400jährige Wiederkehr des Tages, an dem sich die beiden, durch den Strom getrennten Stadthälften zusammen geschlossen hatten, mit der Aufführung eines historischen, eigens für die Gelegenheit verfaßten Festspiels.

Weit draußen vor der Stadt war die Bühne errichtet worden. Am zweiten Tag — die Stadt schwelgte eine halbe Woche lang in ihren Erinnerungen – waren bei der Vorstellung sämtliche Schulkinder zugegen.

Das war ein Ereignis, vor dem alles andere, das sonst unser Leben ausfüllte, zurücktreten mußte. Während der Vorstellung saßen wir getrennt, aber auf dem Nachhauseweg fanden wir uns zusammen und konnten das Gesschaute besprechen.

Anni schwärmte besonders für den König Rudolf. Wie er sich hielt, wie er sich neigte! Sie streckte ihren schwarzen Wuschelkopf und die kurze Stumpfnase höher in die Luft, als erwerbe sie sich dadurch etwas von der königlichen Würde.

Gretchen war entzückt von all den holdseligen Frauengestalten, auch von den Kindern, die so niedliche, lange Kleider trugen. „Jch wollte, wir hätten auch welche!“ meinte sie seufzend. „Unsere kurzen Röcke und Socken sehen gar nicht schön aus."

Damit war ich jedoch nicht einverstanden.

„Denk dir doch, wie unangenehm die dummen langen Kleider beim Springen wären! Der „Pflumeboppi‘ z. B. fiele alle Augenblicke auf die Nase.“

„Ja, das ist wahr!“ stimmte mir Anni zu. „Wer hat denn dir am besten gefallen, Mixi ? — Seht, nun wird sie schon wieder ganz rot!“

„Gar nicht!“ wehrte ich ab, obwohl ich die Glut bis unter die Haarwurzeln steigen fühlte. „Ihr werdet natürlich lachen, aber das ist mir einerlei. Mir hat der Priester am besten gefallen.“

„Der alte, heidnische Kerl!“ Anni war entrüstet. Das gutmütige Gretchen, wohl um mir wieder zu meiner natürlichen Gesichtsfarbe zu verhelfen, meinte tröstlich: „Sie hatten ihn, glaube ich, alle sehr gern.“

„Ja, und hörtest du nicht, wie sie alle so jammervoll aufschrieen, als er sich den Dolch ins Herz stieß ?“

„Du tust gerade, wie wenn er es richtig getan hätte, Mixi! Du brauchst gar keine so fürchterlichen Augen zu machen, es ist ja doch alles nicht wahr.“

Ich duckte mich und schwieg. Da war wieder das Wort, das ich am meisten fürchtete und haßte — - es ist nicht wahr.

Wozu hatte man denn all die seltsamen Gedanken und Träume, die einen halb froh, halb traurig stimmten, wenn alles nicht wahr sein sollte!

Freilich, das auf der Bühne war vielleicht nicht wahr gewesen. Das waren ja alles gewöhnliche Menschenkinder. Unter den langlockigen Pagen hatte ich einen Knaben entdeckt, von dem ich genau wußte, daß er in Wirklichkeit einen struppigen roten Haarschopf besitze. Aber wozu daran denken? Das ließ sich alles so hübsch beiseite schieben. Das gehörte in die Welt, die Schule, Aufgaben, Stricken und Gemüse-essen hieß.

Die andere Welt, die man in sich trug, und die sich doch so seltsam weit ausbreitete, bis zu den weichen, weißen Wolken hinauf, bis zu den winzigen Maßliebchen und Marienkäferchen hinab D diese Welt war weit schöner und heimatlicher.

„Miri, was träumst du wieder! So hör' doch! Ich habe einen wunderschönen Plan. Wir wollen das Festspiel aufführen, daheim in unsrer Bodenkammer. Dann kannst du ja deinen alten Priester spielen.“

„Nein, nein! Das soll Teddy tun. Ich will den Kaiser Valentinian, du nimmst König Rudolf und Gretchen kann Bischof sein. Ach, und für Elschen müssen wir auch eine Rolle finden. Wie herrlich wird das werden, ich freue mich halb zu Tod !“

Hatte uns schon die große Vorstellung die Köpfe verdreht, so tat es unsere eigene noch weit mehr. Die Mutter mußte natürlich in die Sache eingeweiht werden, denn die Blumentöpfe, die wir als Kulissen brauchten und die langen Kleider, auf denen Gretchen mit großer Energie bestand, waren alle in ihrer Verwahrung und konnten denn doch nicht ohne weiteres herbeigeschafft werden. Meine Großmutter steuerte zu unserer Kostümierung einige Umlegtücher und Schmucksachen bei.

Wir arbeiteten täglich stundenlang an unsern Vorbereitungen. Natürlich, das ganze Festspiel konnten wir nicht aufführen; wir mußten uns auf solche Szenen, in denen möglichst wenig Personen auftraten, beschränken. Aber wir trösteten uns damit, daß sich ja das Publikum das übrige dazu denken könne.

Der große Tag nahte. Punkt 2 Uhr sollte die Vorstellung beginnen; ein paar Minuten früher fanden sich die Zuschauer ein. Wir hatten ihrer nur wenige gebeten. Natürlich die kleine Mutter, die sich beinahe ebenso sehr wie wir auf das Festspiel freute, dann Großmutter und eine Tante, die auf Besuch gekommen. Großmutter erhielt den gedruckten Text, da sie die richtige Aufführung nicht mit angesehen hatte. Sie hielt das Heftchen weit von sich, denn ihre alten Augen konnten nicht mehr in die Nähe sehen. Das imponierte mir immer gewaltig, und es verfehlte auch seinen Eindruck auf meine Spielgefährten nicht. Es hat nicht jeder eine Großmutter, die so merkwürdig liest.

Die Zuschauer saßen auf dem alten Sofa. Wir hielten uns in einer Nebenkammer verborgen, bis es 2 Uhr schlug.

Das erste Bild stellte die Gründung unserer Stadt durch Kaiser Valentinian im Jahre 374 dar. Anni, Gretchen, Elschen und Teddy zogen als raurakischer Volkshaufe auf die „Bühne“ und sangen ein Lied, von dessen sanfter, fließender Weise uns allerdings nur zwei Zeilen im Gedächtnis geblieben waren, weshalb das übrige mehr rezitativartig vorgetragen wurde. Dann stürzte Willy herein und verkündete das Nahen römischer Scharen, was erregtes Sprechen und Schreien zur Folge hatte. Er verschwand blitzschnell, um nach wenigen Augenblicken als römischer Hauptmann aufzutreten, der an Stelle der uns fehlenden Kriegerhaufen einen seltsamen Schwerttanz aufführte. Mit einem Male wandte er sich gegen die Türe und während seines Jubelrufs: „Großer Cäsar, Imperator, Heil sei dir, du starker Held!“ ritt ich auf sschnaubendem Roß auf die Bühne.

Das ging so zu: Wir hatten ein Schaukelpferd, das bei jeder starken schwingenden Bewegung einige Zoll vorwärts glitt; so konnte man also tatsächlich reiten.

Kaiser Valentinian trug ein Barett mit weißen Gänssefedern und einen malerisch umgeworfenen roten Mantel. Außer dem Scepter hielt er merkwürdigerweise auch ein Heftchen in der Hand, denn es war ihn das Genieren angekommen, und die rasch eingelernten und nur halb verstandenen Worte schienen sich alle verflüchtigt zu haben. So las denn der gute Kaiser Valentinian seine wohlmeinenden Worte an die verängsteten Rauraker. Ihre freudigen Zurufe wurden durch den Priester übertönt, der vor dem neuen Leben sich zu den alten Göttern flüchtet.

„Nehmet mich auf! von mannigfaltigen

Greueln und Sünden, von Schand und Not

Löse mich leicht der heilige Tod !“

Teddy in einem langen, dunkeln Gewand, mit mächtigem weißem Bart sah nach Annis Urteil ganz wie ,so ein heidnischer Kerl“ aus. Die letzten Worte heulte er geradezu. Dann ließ er sich, in dem schönen Glauben, die klagenden Weiber würden ihn auffangen, rücklings zu Boden stürzen. Aber o weh! Keine schützenden Arme umfingen seinen sinkenden Leib. Er schlug mit solchem Dröhnen auf den harten Fußboden, daß aus dem Zuschauerraum ein Entsetzensschrei erscholl, der freilich in ein Lachen überging, als der tote Priester wütend zischte: „Na, wartet nur bis nachher!“

Kaiser Valentinian stellte die Stimmung wieder her, indem er ein leuchtendes Bild der zukünftigen Stadt Basilea entwarf.

Unter dem Jubelchor des Volkes und von ihrer Schar begleitet und hilfreich geschoben, ritt seine Majestät davon.

Die zweite Scene, die den Bau der alten Rheinbrücke im Jahre 1225 behandelte, überschlugen wir, der vielen Personen wegen. Um sie aber nicht ganz unerwähnt zu lassen, wandelte Gretchen langsam und heimlich als Bischof über die Bühne; Elschen trippelte, ein Meßglöcklein schwingend, hintendrein.

Das dritte Bild brachte den Höhepunkt des Festes: Anni als König Rudolf. Ihre schwarzen Zöpfe waren unter einem Turban verborgen. Sie stak in einem deutschen Militärrock und schulterte einen uralten Schießprügel. Um den Hals hing ihr eine goldene Kette, und ihre Beine waren mit Reiterstiefeln bekleidet. König Rudolf versprach mit großem Pathos der Stadt ihre Freiheit; Schultheiß Gretchen dankte tief.

Die kriegerischen Rollen des vierten Bildes, wo es sich um den in die Schlacht von Sempach abziehenden Herzog Leopold handelte, wurden durchweg von den Buben gespielt, deren schauspielerische Begabung sich hauptsächlich in einem ungeheuren Stimmenaufwand äußerte. Auch die feierliche Vereinigung der beiden links und rechts vom Strom gelegenen Städte, des mehrern und mindern Basel, wurden von den Buben in stark verkürzter Form vorgetragen.

Den erhebenden Schluß bildete das Auftreten der drei Frauengestalten: Helvetia, Basilea, Klio. Unter dem völlig programmwidrigen Hurrahgeschrei der Buben sank Basilea in die mütterlichen Arme Helvetias.

Das Publikum erwies sich sehr aufmerksam. Die kleine Mutter lachte Tränen. Die Tante fühlte sich „bewegt“ und auch Großmutters alte Augen schauten freundlich zu uns herüber. In die Ferne konnte sie ja gut sehen, und so war ihr keine Einzelheit unserer Kostüme, keine einzige fürstliche Geste und dramatische Bewegung entgangen.

Nach dem wirklichen Festspiel hatte ein großes Festessen stattgefunden. Auch uns ward eines zu Teil.

Als die Vorstellung zu Ende war, lud uns die kleine Mutter feierlich ein, hinunter zu kommen. Der Tisch im Eßzimmer war gedeckt. In der Mitte stand eine Riesenplatte mit Erdbeeren. Hei! Wie da König Rudolf, Kaiser Valentinian und Herzog Leopold fröhlich schmausten. Auch der alte Priester vergaß seinen Groll, während er eine saftige Beere nach der andern in den Mund schob.

Diese Aufführung blieb nicht die einzige, die die alte Bodenkammer erlebt hat. Das Bühnenfieber hatte uns gepackt, und eine Zeit lang mußten sich Großmutter und die kleine Mutter wieder und wieder zu dem alten Sofa hinaufbequemen, um unsere „Lebenden Bilder“, Komödien und Tragödien anzusehen.

Der Winter machte diesen Vorstellungen ein Ende, und der Winter brachte auch eine schmerzliche Trennung. Meine Freunde verließen die Stadt. Das alte Haus wurde eingerissen, und in dem zierlichen Neubau, der sich an seiner Stelle erhob, war keine alte Bodenkammer mehr zu finden.

Die Schuld.

Der kleine Konzertsaal war gedrängt voll, obschon die Uhr erst 1/2 5 Uhr zeigte.

Um 5 Uhr sollte das Konzert beginnen, dem schon viele Tage lang erwartungsvolle Kinderherzen entgegengeschlagen hatten. Denn es war ein Kinderliederabend, dessen Erlös helfen sollte, kleine, verwahrloste, pflegebedürftige Kinderchen zu wärmen und zu kleiden.

Und nun saß man in festlich erregter Stimmung, nickte hier einer Schulfreundin zu oder begrüßte mit artigem Aussstehen eine bekannte Dame, denn die Zuhörersschar bestand nicht nur aus Kindern. Mütter und Tanten und große Schwestern, auch Großväter und Großmütter waren mitgekommen und ihre Herzen schlugen ebenso freudig der jungen Sängerin entgegen. Einige unter ihnen hatten sie als kleines Mädchen gekannt. Ihre ersten Kinderjahre gehörten ja der Stadt; sie war eigentlich keine Fremde und wie es schien, hatte sie auch den heimischen Dialekt nicht vergessen, denn ihre letzten Lieder waren „Für Schwyzerchind“.

In einer der hintersten Reihen saß eine Dame mit stark ergrautem Haar. Ihr Gesicht mit den regelmäßigen Zügen sah ernst und vornehm aus, wurde aber durch den gelblichen, mit Sommersprossen bedeckten Teint und durch die farblosen Augen seltsam entstellt.

Eben neigte sich ihre Nachbarin, eine noch jugendliche Großmutter, die zwei quecksilbrige Enkel zu überwachen hatte, zu ihr hinüber.

„Sie müssen Frau Werner wohl auch kennen. War sie nicht in Ihrer Schule ?“

Die Angeredete nickte, während sie die dichten Brauen leicht zusammenzog.

„Sie war nahezu zwei Jahre bei mir, dann verließen ihre Eltern die Stadt. Ich habe keine allzu deutliche Erinnerung an sie. Es sind gar so viele Kinder durch meine Hände gegangen.“

Der Großmutter Blick glitt unwillkürlich über ihrer Nachbarin Hände. Sie waren schön geformt, aber durch denselben Fehler entstellt wie das Gesicht. Und sie sahen so hart – so unerbittlich aus. Wo hatte sie doch das Gedicht von der „harten Hand“ gelesen, das mit den jammervollen Worten schloß: „Und ob es ihr lächelnd dein Mund verbot — sie drückt dir das zitternde Seelchen tot!“

Was waren das für törichte Gedanken! Fräulein Marx galt als eine der tüchtigsten Lehrerinnen, und wie sie selbst gesagt, es waren Scharen von Kindern durch ihre Hände gegangen.

Wie um ihre finsteren Gedanken gut zu machen, wandte sich die Großmutter noch einmal zu ihrer Nachbarin.

„Aber ihre Stimme muß Ihnen doch aufgefallen sein? Ich erinnere mich noch an einen Tag der Weihnachtsferien, den sie, kurz vor ihrer Abreise, bei uns verbrachte. Mit einem Stimmchen, das an einen frohen kleinen Vogel erinnerte, sang sie mir das Märchenlied „Schneewittchen hinter den Bergen“. Sie wird es heute wieder singen, wohl schöner und kräftiger als dazumal, aber hoffentlich noch mit der alten, einfachen Innigkeit. Ich meine, ich sehe noch ihre blauen, nachdenklichen Kinderaugen. Sind sie Ihnen nicht auch aufgefallen ?"

Fräulein Marx, die dem ganzen Redestrom mit unbeweglichem Antlitz standgehalten, ward einer Antwort enthoben. Die sehnsüchtig erwartete Sängerin war eingetreten und hatte sich an den Flügel gesetzt.

„Wie reizend, daß sie sich selbst begleitet !“ flüsterte die Großmutter noch, dann wandte sich ihre ganze Aufmerksamkeit ihr zu, deren Augen und Stimme sie nie vergessen hatte.

Frau Werner sang erst für die ganz Kleinen ein Koseliedchen und „Häslein in der Grube.“ Sie hatte das Notenbuch vor sich aufgeschlagen, aber sie warf kaum einen Blick darauf. Sie hielt den Kopf leicht zur Seite geneigt und schaute mit mütterlichen Augen auf zwei kleine Mädchen der vordersten Reihe. Es war, als habe sie vergessen, daß man von ihr als von einer großen, gottbegnadeten Sängerin spreche. Sie war einfach eine Mutter, die ihrem kleinsten Kleinchen vorsingt.

Dann kamen muntere Reiter- und Soldatenlieder für die Knaben. Das klang so mitreißend, daß ein kleiner Junge anfing, mit den Füßen den Takt zu stampfen. Für die Mädchen gab es Puppenwiegenlieder, Tanzliedchen und das wunderzarte Märchenlied „Schneewittchen hinter den Bergen bei den sieben Zwergen.“

Ganz leise und geheimnisvoll, beinahe ein bischen wehmütig tönten die lezten Worte, so als sängen sie die kleinen Zwerge ihrem scheidenden Schneewittchen nach. Die ganze große Kinderschar saß unbeweglich, als stünde der Zauberwald hinter den sieben Bergen vor ihnen, als riefen fremde, süße Stimmen aus seiner Tiefe.

Da erhob sich die Sängerin, und während sie sich leicht verneigte, fingen all die großen und kleinen Hände an zu klatschen, zu klatschen, immer aufs neue — es wollte kein Ende nehmen. Einige der Kleinsten standen auf den Sitzen lachend und zappelnd. Man hörte Bravorufe und dazwischen die Beschwichtigungsbefehle der Erwachsenen.

Die Großmutter schaute mit glücklichen Augen um sich.

„Was für ein prächtiges Menschenkind ist sie doch geworden und wie lieb ist diese klare Stimme! Sind Sie nicht stolz auf Ihre einstige Schülerin? Sie sind es ja gewesen, die als Erste ihre musikalische Ausbildung übernommen hat.“

„Ich glaube kaum, daß ich mich sehr verdient gemacht habe um ihre Stimme,“ meinte Fräulein Marx abwehrend. Dann schloß sie, wie müde, die Augen und die Großmutter wandte sich, ein wenig gekränkt, ihren Enkeln zu.

Sie fand sich übrigens bald wieder zurecht. Einmal lag dies in ihrer Natur, das übrige tat Frau Werners Stimme. Sie sang von allem, was in einem Kinderleben hell und leuchtend ist. Sie sang vom Christkindlein, vom Weihnachtsbaum, vom Osterhasen. Sie ließ Knecht Rupprecht daher poltern und erzählte schalkhaft, wie der Kaminfeger der Köchin einen schwarzen Kuß gegeben. Sie quietschte wie ein Mäuschen und krähte wie ein Hahn.

Ganz am Schluß, als die Kleinsten schon anfingen schläfrig und unruhig zu werden, sang sie von einer Mutter, deren Kindchen zur Taufe getragen wird.

Während der Sängerin Augen den ganzen Abend über auf den Kindern geruht hatten, – lachend, ernsthaft, geheimnisvoll, - schaute sie jezt über alle hinweg. Sie hatte sich nur bei den ersten, einfachen Liedern selbst begleitet. Nun stand sie frei, die Hände leicht ineinandergelegt und sang mit wundervoller Innigkeit „mys sschneewyßes Chindli.“

Fräulein Marx war unter den erssten, die den Konzertsaal verließen. Als sie sich in der Garderobe ankleidete, öffnete sich plötzlich eine Seitentüre und Frau Werner, gefolgt von einigen Freunden, trat in den Raum. Es war offenbar ein Versehen. Sie wollte sich lachend zurückziehen, da fiel ihr Blick auf Fräulein Marx und das lächelnde Antlitz erstarrte. In ihre schmalen Wangen stieg langsam ein heißes Rot. Groß, angstvoll schauten ihre Augen in das Gesicht der Lehrerin, so daß sich diese mit einer hastigen Bewegung abwandte.

Sie ging zu Fuß nach Hause zurück, obwohl ein sachter Regen niederrieselte und ein kalter Wind die Straßen fegte. Recht so. Ihr Gesicht brannte und das Blut jagte heiß durch ihre Adern. Und im Kopf wirbelten die Gedanken wirr durcheinander. Die Bilder alle, denen sie Schweigen geboten, standen auf, drohend, richtend . . . weißt du noch? .... erinnerst du dich? . . . da . .. und da . . ..und da...

Fräulein Marx war zu Hause angekommen. Das Dienstmädchen nahm ihr den nassen Mantel ab und meldete, daß das Abendessen bereit stehe. Sie trat in das behaglich durchwärmte Zimmer, aber anstatt sich an den zierlich gedeckten Tisch zu setzen, zog sie sich einen niedern Stuhl ans Kamin. Ein, zwei Stücke Holz warf sie auf das müde fläckernde Feuer. Dann setzte sie sich und beobachtete die Flämmchen, wie sie die dicken Holzklötze umspielten, plötzlich auflodernd, scheu sich duckend. Und sie wuchsen höher und höher, die gierigen kleinen Flämmchen. Ihr Licht ward greller und blendender mit jedem Angenblick. Nein, es gab kein Entrinnen vor ihnen. Sie leuchteten die einsamen Gänge der Vergangenheit hinab .. .

Da kommt sie geschritten, die feine, kleine Kindergestalt. Das Ränzel auf dem Rücken, die kurzgesschnittenen Blondhaare mit einem Strohhut bedeckt — eine zögernde Hand legt sich in die ihre: „Kommst du auch gerne in die Schule?“ fragt die Lehrerin und schaut ernst in die blauen Kinderaugen. Vielleicht allzu ernst. Die kleine Hand wird energisch zurückgezogen und der Mund mit den schmalen, tiefroten Lippen öffnet sich zu einem kurzen, energischen „Nein!“

„Entsinnst du dich noch deiner Gedanken?“ fragen die roten Flämmchen. Entsinnst du dich? Du bedachtesst nicht, daß das Kind aus seiner goldenen Spielfreiheit kam, daß ihm die Schule fremd und drohend erscheinen mochte. Ein Wort von dir hätte sie in einen frohen Ort verwandeln können, aber du sprachst es nicht aus. Du ärgertest dich über die trotzige Antwort; du faßtesst eine Abneigung gegen das Kind. Und du ließest sie wachsen, Tag um Tag, Woche um Woche. Du hast das Kind gequält .. .

Es war boshaft, unwahrhaftig . . . War es das wirklich ? Andern Kindern heimlich den Zopf auflösen, ein Papierchen in den Nacken schieben, lustige Fratzen auf die Tafel zeichnen, sind keine Bosheiten. Aber wenn du den andern Kindern zuflüstertest, das unartige Ding laufen zu lassen, das war boshaft. Siehst du noch die Kleine abseits im Hofe stehen mit halb erstaunten, halb kummervollen Augen? Und weißt du noch den Tag, da sie so einsam stand, daß sie sich schluchzend an das schwarzlockige, von allen zurückgeschobene Judenmädchen wandte? .Jetztt klagt sie Sara ihr Leid! kicherte deine Lieblingsschülerin, und du nicktest zu den unkindlichen Worten. Entsinnst du dich?

Das Kind war unwahrhaftig, sagst du. Sie log den andern die längsten Geschichten vor. Natürlich war es deine Pflicht, sie darüber zur Rede zu stellen. War es auch deine Pflicht, dies vor der ganzen Klasse zu tun, sie öffentlich als Lügnerin zu brandmarken? Und du wußtest, daß sie es nicht war. Du wußtest, daß eine reiche, unbändige Phantasie in dem Kinde steckte, die sich irgendwie Luft machen mußte. Warum sagtest du dem Kinde nicht: „Sieh', all die schönen Dinge, die du dir austräumst: daß du in einem Garten ein Zwerglein gesehen und es dir eine Puppe, die gehen und sprechen kann, versprochen, sind ja ganz wundervolle Geschichten, und wenn du sie deinen kleinen Freundinnen so erzählst, ist alles schön und gut.“

Ja, so hättest du sprechen sollen. Aber du sagtest: „Wie kannst du nur solches Zeug zusammenlügen!“ Und du schlugst zweimal schwer auf die weichen, weißen Kinderhände. Dann sollte das Kind abbitten. Aber es wollte nicht und schluchzte nur: „meine Puppe, meine wunderschöne Puppe!“ Das war ja empörend, diese Hartnäckigkeit! Dafür war eine halbe Stunde Nachsitzen noch eine milde Strafe, nicht wahr?

Das Kind war klug und lernte leicht. Du mußtest das zugeben. Nur das Rechnen machte ihr große Mühe und du halfst ihr nicht mit geduldigen Worten. Du ssteigertest ihre Angstlichkeit durch rasches Erklären, hastige Fragen. Eines Tages stand sie an der schwarzen Tafel und sollte die Zahl 109 schreiben. Sie schrieb 1009, sie konnte nicht verstehen, daß die eine Null plötzlich zu verschwinden habe. „Besinne dich!“ riefst du streng. „Schreibe noch einmal!“

Das Kind dachte nach, ernsthaft, zitternd und schrieb –~ 1009. Die ganze Klasse kicherte. Du lachtest nicht, aber du nahmst des Kindes Hand und du sagtest: „Komme einmal in die I. Klasse hinüber, vielleicht kann dir eine der Kleinen helfen.“

Das Kind schaute auf. Es versuchte in deine strengen Augen zu lächeln: „Ach, bitte nein! Es tut mir so leid!“

Aber dein Griff war hart und du gingst nach der Türe. Da geschah etwas ganz Unerhörtes. Das Kind wehrte sich, wehrte sich aus allen Kräften. Es versuchte sich loszureißen, es hielt sich an der Wandtafel, es schluchzte und schrie, es brach endlich in die verzweifelten Worte aus: „O diese böse Schule! Ich will fort, ich will zu meiner Mutter! Sie soll mich wegnehmen aus dieser bösen, bösen Schule!“

Aber du warst stärker. Du rissest die zuckenden Händchen los; du schlepptest das Kind über die Schwelle und stelltest es vor die erstaunten Kleinsten hin. „Da seht ihr ein dummes, ungezogenes Mädchen!“

Und das Kind ward mit einemmal ruhig, unheimlich ruhig. Es blieb vor den Kleinen stehen, an dem Platz, an dem es stehen sollte und schaute mit ganz starren Augen über alle hinweg.

Von diesem Tage an haßtest du das Kind. Du entsinnst dich doch? Das Kind aber hatte seine Hilflosigkeit erkannt und wehrte sich nicht mehr. Es ward furchtsam, feige und nun log es auch. „Wer hat die Kreide zerbrochen ?“ Noch vor wenigen Monaten hätte das Kind ,ich“ geantwortet, nun sagte es: „ich weiß nicht.“

Einmal kam die Mutter des Kindes in die Schule. Die Zeugnisse waren immer schlechter geworden und das Kind schwieg hartnäckig über alle Schulerlebnisse. Nun kam die Mutter sich zu erkundigen. Das Kind stand mit gesenktem Kopf daneben, als du deine vielen Klagen und Vorwürfe vorbrachtest. Und du hattest ganz recht. Das Kind war faul und unartig. Die Mutter mußte dir zustimmen, und das Kind selbst gab dir Recht in seinen verzweifelten Gedanken. Es hatte so oft gehört, daß es das ungezogenste Kind der Schule sei, daß es felsenfest daran glaubte.

Die Mutter erhob sich seufzend. Sie hatte eine große Kinderschar zu erziehen. Dies Kind war ihr letztes und hatte ihr bis jetzt nur Freude gebracht. Sollte sie sich so getäuscht haben?

Sie verabschiedete sich mit einigen bedauernden Worten, dann reichte sie auch dem Kinde die Hand. Das schaute zur Mutter auf, glühend rot vor Scham, aber mit ssehnsüchtigen, hungrigen Augen. Die Mutter strich ihr leise übers Haar und sagte: „Mein Kind wird sich Mühe geben, nicht wahr?“

Wie sie sich an jenem Tag mühte! Sie las ohne Anstoß; sie schrieb, ohne aufzublicken, ohne mit der Nebensitzerin zu plaudern. Nicht ein einziges mal ließ sie, wie sonst so oft, das Tintenfaß und die Feder eine gelispelte Unterhaltung ühren.

Die letzte Stunde war eine Singstunde. Die liebte das Kind über alles. Sie hatte die süßeste, klarste Stimme, die sich denken läßt. Du hörtest sie freilich nicht allzu deutlich. Sie stand ja in der hintersten Reihe bei der kleinen Sara und andern, die nicht singen konnten oder mochten. Du selbst saßest am Klavier, und deine liebsten und artigsten Schülerinnen standen dicht um dich her. Da — zu deinem maßlosen Erstaunen steht plötzlich das Kind neben dir. Es hat sich wohl an diesem Tag so „gut“ gefühlt, daß es gewagt hat, in deine Nähe zu kommen. Mit einem verschämten Lächeln schaut es zu dir auf, und du sagst langsam und deutlich: „Was tust denn du da!“

Siehst du noch die weitgeöffneten blauen Augen, die sich plötzlich mit Tränen füllen? Die kleine Gestalt geht zurück, bis sie wieder in der hintersten Reihe steht. Aber der Kinderchor klingt heute dünn und schwach, denn die süßeste und klarste Stimme fehlt.

Entsinnst du dich der letzten Woche, die das Kind bei dir zugebracht? Das schlimme Ding! Wie furchtbar hat sie noch gelogen! Ein-, zweimal hatte sie vergessen, das Strafgeld zu bringen für die mit Tintenflecken beschmutzte Bank. Und am dritten Morgen?

„Wo ist das Geld ?" fragtest du.

„Ich + ich habe es verloren!“ stotterte das Kind. Die Lüge trieb ihm das Blut in die schmalen Wangen und in die hohe, schöne Stirne.

„Gut!“ sagtest du, „ich will mal deine Mutter fragen.“

Das Kind machte entsetzte Augen; stumm schlich es an seinen Platz. Es trieb auch heute keinen Unfug, aber es gab verkehrte Antworten; beim Schreiben machte es einen Tintenklex um den den andern, und in der Spielpause stand es trübe in einer Ecke.

Um 12 Uhr gabsst du ihr den kleinen Brief. Das Kind steckte ihn in den Schulranzen und ging. Du hattest um Antwort gebeten und das Kind brachte sie dir am andern Morgen. Mit einem vertrauensvollen Gesicht legte es den Brief in deine Hand.

Du lasest und das Mitleid faßte dich hart an. Die Mutter erzählte, wie ihr das Kind gebeichtet habe, und sie bat um Gnade. „Wenn Sie sie in ihrem Bettchen gesehen hätten, wie sie mit ganz trosilosen Augen sagte: ,ich lüge wieder, Mutter, ich weiß gewiß, ich werde wieder lügen. Ich fürchte mich zu sehr.‘ Es ist mir ja selbst schrecklich, daß das Kind so schwach ist. Ich will das Lügen gewiß nicht entschuldigen ~ aber haben Sie nur dies eine und letzte Mal Geduld.“

Du ließest das Blatt sinken und schautest über die Klasse. Vielleicht wenn dich das Kind mit flehenden Augen angesehen, hätte dein Mitleid gesiegt. Aber das Kind lachte, lachte unbekümmert, beinahe triumphierend in dein ernstes Gesicht. So sicher fühlte es sich . .. Und du?

„Wir haben Kopfrechnen.“ Du stelltest die Aufgaben und fragtest der Reihe nach ab. Aber wenn sich das Kind zum Antworten erhob, riefst du die Nächste auf.

Ein leises Flüstern ging durch die Klasse. Die Köpfe wandten sich nach der Verfehmten; fragende, mitleidige, schadenfrohe Blicke streiften sie.

Entsinnst du dich ?

Es war dein letzter Triumph. Am andern Tag kam die Kleine nicht mehr zur Schule, und du hast sie nie wieder gesehen.“

Fräulein Marx saß unbeweglich vor dem Feuer. Zweimal hatte das Dienstmädchen die Türe geöffnet und war kopfschüttelnd wieder gegangen.

Die hellen, lodernden Flammen sanken immer mehr in sich zusammen. Nun liefen sie nur noch als kleine, glimmende Funken über die verkohlten Holzscheite.

Die feine Gestalt, die aus der fernen Vergangenheit hervorgetreten ~ verschwand; an ihre Stelle trat das Bild der jungen Frau Werner. Weiches, schimmerndes Blondhaar, schmale Wangen, eine hohe, schöne Stirne, tiefblaue, nachdenkende Augen.

Sie hatte diese Augen heute auf sich gerichtet gefühlt, furchtsam, entsetzt. Das Kind hatte nichts vergessen. Vergeben vielleicht, doch wer kann die Erinnerung auslöschen?

Mit einem plötzlichen Aufsschluchzen streckte Fräulein Marx die Hände aus und ließ sie wieder sinken.

Ihr Leben war reich und schenkte ihr Freude und Anerkennung. Es gab genug Menschen, die ihrer in dankbarer Liebe gedachten.

Was galt ihr das alles in diesem Augenblick!

Einmal war in ihre Hand ein scheues, zitterndes Seelchen gelegt worden . . . einmal . .. Das war lange her. Das Seelchen hatte längst sein Flügel gebreitet und war in ein seliges Reich geflogen. Und trotzdem . . . Konnte es je vergessen, daß es einmal in einer kalten, mitleidslosen Hand gelegen?

Das einsame Kind.

„Und wenn wir uns wiedersehen, ist mein Hansel ein großer, sstrammer Bub geworden. Ach, wie froh will ich dann sein !“

Das hatte Mutterchen gesagt, als sie zum letzten Male an ihres Jungen kleinem Bett gesessen war. Am andern Morgen, noch ehe Hansi die Augen geöffnet hatte, waren sie und der Vater fort gereist, weit fort, zurück in das heiße Land, in dem Hansi geboren war und als kleiner Junge gespielt hatte.

Wie war es da schön gewesen! Hansi erschien es wie ein langer, ununterbrochener Sonnentag. Ein bißchen heiß manchmal, aber dann hatte ihn die freundliche braune Ajah gefächelt, und Mutterchen hatte ihm erlaubt, wie ein kleiner Hindujunge, nur mit einem Lendentuch bekleidet, herumzusspringen. Und da war eine große, mattenbedeckte Veranda gewesen, und ein prächtiger Blumengarten, und das weite blaue Meer, in dem er jeden Morgen gebadet, und das ihm so viele schöne Müschelchen geschenkt. Ja, und einmal eine große Muschel, die sah aus, als habe sie ein Tigerfellchen angezogen, und sie hatte etwas ganz Wundersames in sich verborgen – ~ das Rauschen des Meeres. Man mußte sie nur dicht ans Ohr halten, dann hörte man es deutlich, und wenn man die Augen schloß, konnte man denken, nahe bei Vater und Mutter zu sein. Gerade so klang das Meer zu Mutters Lieblingsplätzchen im Garten herauf.

Jetzt wohnte Hansi in einem großen Haus mit vielen andern Buben zusammen. Eine Veranda gab es da nicht, nur große, helle Stuben, die ein bißchen leer und nüchtern dreinsahen, denn an der Wand hingen keine Bilder, und nirgends standen Blumentöpfe oder schön geformte Vasen. Natürlich, in einem Haus mit so vielen wilden Buben konnte man derartiges nicht haben. Mutterchen wenigstens hatte den Mangel so erklärt, und Hansi hatte ihr, ein wenig seufzend, beigestimmt.

Wenn sie nur ein bißchen weniger wild gewesen wären, diese Buben! Hansi fürchtete sich vor ihnen, oft unnötigerweise, denn im Grund meinten sie es ganz gut mit dem neuen Kameraden. Nur reizte sie sein verträumtes Wesen, seine erstaunliche Kindlichkeit – „Dummheit“ nannten es die Großen – zu immer neuen Neckereien. Er war so fabelhaft leichtgläubig, der kleine Hansi. Wenn man zu ihm sagte: „Hansi, du mußt einmal ein Sandmännchen werden und mit einem Karren herumziehen und Sand verkaufen!“ — so zog der arme kleine Kerl ein bestürztes Mäulchen und sagte kläglich: „Jch will aber nicht !“

„Ja, du mußt eben, du mußt!“ gröhlte die ganze Bande, und sie sahen voller Entzücken, ohne die geringste Rührung, wie in Hanssis großen graublauen Augen eine heiße Angst aufwachte. Vielleicht, daß. ihnen die dummen Worte leid gewesen wären, wenn sie gewußt hätten, daß sie wochenlang wie ein schweres Gewicht auf Hansis Herzchen drückten. Ja, wochenlang. Dann auf einmal kommen ihm wie eine Erleuchtung Mutterchens Worte in den Sinn: „Wenn wir uns wiedersehen, ist mein Hansel ein großer, strammer Bub geworden.“ Also noch ein Buh! Mutterchen doch gewiß verhindern, daß er ein Sandmännchen werde. Und Hansi war darüber so froh, daß er einen bescheidenen kleinen Luftsprung machen mußte. Dann lief er in den großen Hof hinunter, wo die andern Jungens spielten und schrieen, und schrie zum ersten Male in seinem Leben tüchtig mit.

Der Hof erinnerte in nichts an den herrlichen Blumengarten; nur in einer Ecke war ein kleiner Abglanz davon. Da hatten die größeren Buben ihre Gärtchen. Jedem gehörte ein schmales Beet, das er sselbst bepflanzen durfte. Wie sehr liebte Hansi diese kleinen Gärten! Keiner der eigenen Besitzer wartete mit größerer Spannung auf das Erblühen einer Knospe, auf das Aufgehen irgend eines geheimnisvollen Blumensamens. Die großen Jungens fanden es oft ganz angenehm, den Kleinen helfen zu lassen.

„Er tut es ja so gern,“ entschuldigten sie sich vor sich selbst, wenn sie sahen, wie er mit glühendem Gesicht die Beete von Unkraut und Steinen säuberte. Aber keiner dachte daran, dem kleinen Hansi ein Stückchen, ach! nur ein winziges Stückchen zu geben. Und er mußte noch so lange warten! Wer in die dritte Klasse eintrat, bekam ein Gärtchen, und Hansi gehörte noch zu den „Nullten“. So nannte man die Bürsschchen unter sechs Jahren, die noch nicht zur Schule gingen. Manchmal waren deren zwei, drei, oder noch mehr beisammen, aber als Hansi in die Anstalt gekom- men, waren eben alle Nullten stolze „Erstkläßler“ geworden, und Hansi war die einzige kleine Null. Das war dem armen Mutterchen gar hart erschienen. Sie hatte wohl vorausgesehen, wie verloren die arme kleine Null in dem großen Hause herumwandern werde. Den ganzen Vormittag hindurch waren Lektionen; für Hansi war niemand da, und so ging er mit seinen kleinen, immer noch ein bißchen trippelnden Kindersschritten treppauf, treppab. Oft blieb er vor einem Klassenzimmer stehen und hörte ein Weilchen zu. Es freute ihn, wenn er die verschiedenen Stimmen unterscheiden konnte.

„Das ist Karl, und das Gerhard, und das Fritz."

Er konnte sich beinahe einbilden, mit im Klassenzimmer zu sein, wie ein richtiger, großer Junge. Ach, wenn doch das Frühjahr bald kommen wollte!

Aber vorerst war es Juni. Im Juli und August waren lange Ferien. Das wußte Hansi. Alle Jungens sprachen von diesen Ferien. Jeder war irgendwohin eingeladen, zu Verwandten oder guten Freunden, und jeder hatte etwas Schönes von den kommenden Wochen zu erzählen.

Nur Hansi nicht. Er wußte nicht, daß ihn eine Tante längst eingeladen, und niemand dachte daran, ihm etwas davon mitzuteilen. Da überkam ihn nach und nach eine große Traurigkeit. „Alle werden sie fortgehen, dann bin ich ganz allein,“ dachte das arme Hänschen, und in Gedanken durchwanderte er das große Haus und horchte vergeblich an den totenstillen Klassenzimmern. Wie liebte er mit einem Male die vielen wilden Buben! Er konnte es ihnen nicht sagen, nur manchmal sprachen die großen, angstvollen Augen so deutlich: „Jch hab’ dich lieb! Geh nicht fort! Weißt du denn nicht, daß ich dann ganz allein bin?“

Aber frische, lebenslustige Buben verstehen eine leise Augensprache schlecht. Hansi mußte deutlicher reden und das tat er auch eines Tages. Der Größte der ganzen Schar, der Hansi beinahe wie ein Herr vorkam, hatte ihm erlaubt, sein Gärtchen zu begießen. Eifrig trippelte Hansi hin und her. Das Wasser lief aus der Gießkanne nicht nur auf die Blumen hinab, sondern auch auf Hanssis Schürze und Schuhe. Etwas ängstlich beschaute er den Schaden; aber der große Junge wußte Rat.

„Komm, die Schürze hängen wir an die Mauer, da scheint noch Sonne hin, die trocknet bald.“

Er tätschelte bei diesen Worten Hansis blonden Haarschopf ~ das tat wohl bis tief ins kleine Herz hinunter. Hansi faßte plötzlich Mut.

„Ach du, Ernst, kann ich nicht mit dir in die Ferien gehen? Weißt du, ich muß sonst allein dableiben.“

Noch ehe Ernst antworten konnte, klang ein unbändiges Gelächter an Hanssis Ohr. Da stand hinter ihm sein schlimmster Quälgeist, ein lang aufgeschossener, sommersprossiger Junge mit schlenkrigen Gliedern. „Nun meint das Baby, es bleibe allein zu Hause! Ha, ha, das ist ja rein zum Totlachen. Aber halt!“ — der lustige Ton schlug plötzlich in einen ernsthaften um ~ „du hast ganz recht. Du mußt freilich allein dableiben. Ganz allein. Die Hauseltern gehen weg, und die Mägde gehen weg, und die Lehrer gehen weg, nur du allein mußt dableiben und das Haus hüten.“

Hansi starrte den Sprechenden in ssprachlosem Schreck an, und nun geschah etwas völlig Unerwartetes. Er schrie auf, so jammervoll, daß es sogar dem dummen Buben ins Herz drang, und dann stürzte er, immer die gleichen schmerzlichen Töne ausstoßend, auf das Haus zu.

„Du Esel!“ knurrte der große Ernst, dem Sommersprossigen einen Rippensstoß versetzend, dann rannte er in großen Sprüngen der kleinen Gestalt Hansis nach. Drinnen im Haus fand er ihn. Die Hausmutter, eine rüstige Frau, mit einem freundlichen, tüchtigen Gesicht, hielt Hansi auf dem Schoß und strich ihm beruhigend über die tränennassen Bäckchen.

„Nun, weine nur nicht mehr! Hat es denn gar so weh getan? Wo bist du denn gefallen? Komm, jetzt machen wir „Heile, heile Segen! Drei Tag’ Regen, drei Tag’ Schnee — tut dem Kindchen nimmer weh..“

In ihrer Stimme lag etwas so Beruhigendes, daß Hanssis wildes Schluchzen allmählich verstummte. Da stellte ihn die Frau wieder auf den Boden, putzte ihm noch einmal das Näschen und ging eilig, um in der Küche ihre Befehle für das Abendbrot zu geben.

Der große Ernst stand etwas verlegen neben dem kleinen Kameraden. „Hansi!“ sagte er, „sieh mich einmal an." Gehorsam hob Hansi das Köpfchen. „Du mußt nicht dableiben, du bist auch eingeladen. Du darfst zu deiner Tante in den Schwarzwald. Das wird fein, freu dich nur. Auf Karl brauchst du nicht zu hören, der schwatzt nur dummes Zeug.“

Hansi sagte nur das eine Wörtchen ,o“; aber dabei schaute er den großen Ernst an, mit so sonnenwarmen Augen, daß ein wunderssames Gefühl über den Jungen kam. Zärtlichkeiten waren in der Anstalt verpönt; aber nun konnte er nicht anders. Er bückte sich und küßte das glückstrahlende Gesichtchen vorssichtig und rasch.

Ende August rückte Hansi wieder in der Anstalt an. Er brachte ein sonnenverbranntes Gesichtchen mit, und hatte frohe, blanke Augen, in denen sich viel Liebes gespiegelt hatte. Das war deutlich zu sehen. Und ebenso deutlich war zu sehen, wie allmählich die Augen den frohen Glanz verloren, und wieder den alten suchenden, verträumten Ausdruck gewannen.

Und doch war eigentlich niemand unfreundlich mit dem Kleinen. Nur . . . es hatte niemand Zeit für ihn. Das war es. Die Hausmutter und die vier Mägde hatten alle Hände voll zu tun mit dem großen Haushalt. Der Hausvater und die Lehrer beschäftigten sich wohl auch außer den Stunden mit den Buben, aber mit Hansi wußten sie nicht viel anzufangen. Nur der Singlehrer gab sich hie und da mit ihm ab. Der hatte ihn einmal im Hof ein Lied, das ihn seine Ayah gelehrt, singen hören, und seither durfte Hansi in der Singstunde der Kleinen mitsingen. Ja, und manchmal durfte er auch noch nach der Stunde eine Weile bei dem freundlichen Herrn bleiben, der ihm auf dem Klavier allerlei vorspielte.

Gleich nach Vater und Mutter und den Blumen liebte Hansi die Musik. Aber es mußte schöne sein. Die Übungsstücke der Buben waren ihm zuwider; auch der Lehrer spielte nicht immer schöne Musik nach Hanssis Meinung. „Schön“ waren nur die feinen, zarten Töne, die licht und weich über Hansi hinglitten. Dabei konnte er das große Haus vergessen und an alles Gute und Liebe denken, das ihm in seinem kleinen Leben schon begegnet war.

Der Herbst brachte eine große Freude für den kleinen Hansi. Bei Vater und Mutter war ein Mädelchen angekommen. Mutterchen war so froh, wieder ein Kindchen zu haben, aber den Hansel habe sie deshalb nicht vergessen. Im Gegenteil, sie müsse mehr als je an ihn denken, seit das Schwesterlein da sei. Es schaue aus ebenso erstaunten Blau-Augen in die Welt, wie es Hansi als kleiner Junge getan. Ein paar Wochen später kam eine Photographie des Schwesterleins. Hansi fand, daß sie ein niedliches Dinglein sei, und die Hausmutter und der große Ernst dachten ganz dasselbe.

„Nicht wahr, Tante?“ sagte Hansi zur Hausmutter. „Einmal hat der liebe Gott gedacht: Nu will ich mal ein süßes kleines Mädchen machen, und da hat er Käthe gemacht.“

„Ja, ja, das wird wohl so sein," lächelte die Tante, und dabei setzte sie den großen Wäschekorb, den sie eben auf den Boden tragen wollte, noch einmal ab, um Hansi einen Kuß zu geben.

Hansi trug das Bildchen immer bei sich in der kleinen Tasche seiner Matrosenbluse. Wenn er sich sehr klein und verlassen vorkam, zog er es hervor und setzte sich damit in die Nähe der Gärtchen, um den Blumen von der kleinen Schwester zu erzählen. Sie verstanden ihn sehr gut, besonders die Dahlien, die mit ihren dicken Köpfen so vergnügt und wohlgenährt drein sahen. Sie erinnerten Hansi immer an einen Buben der Anstalt, der rote Pausbacken hatte und immer zufrieden aussah. Die Blumen waren überhaupt wie die Menschen. Sie hatten ihre eigenen Gesichter und ihr eigenes Wesen, z. B. die Pensées im Frühling. Das waren liebe, freundliche Kinderchen; Hansi konnte sehr gut mit ihnen plaudern. Vor den Rosen genierte er sich etwas. Sie trugen sich gar zu stolz und hatten so wundervolle Seidenkleider, daß man sie gar nicht anzufassen wagte. Noch schlimmer waren die Lilien, die immer steif und gerade standen, nie sich hin und her wiegten und flüsterten und kicherten, wie es die heitern Nelken taten. Aber am meisten liebte Hansi die Sonnenblume. Das war die Mutter aller Blumen. Es konnte nicht anders sein. Sie glich ganz und gar einer freundlichen, liebespendenden Mutter.

Aber nun waren die Sonnenblumenmutter und alle ihre Sonnenkinder verblüht. In den Gärten standen außer Dahlien nur noch Chrysanthemen. Der große Ernst hatte sein ganzes Stückchen Land damit bepflanzt. Da waren violette und bronzefarbene, blaßgelbe und weiße. Hansi liebte die weißen am meisten. Sie sahen aus wie Sterne, und deshalb war es ihm auch immer, als erzählten sie ihm von Weihnachten, vom Stern zu Bethlehem.

Auf Weihnachten freute sich Hansi so sehr, so sehr, daß ihm das Herz beinahe weh tat davon. Es war ja traurig, daß auch die bunten Herbstblumen verblühen mußten, und daß der weiße Schnee, der so naß und kalt war, alles zudeckte. Hansi konnte nicht verstehen, daß er die Blumen warm halte, wenn es ihm die andern auch noch so oft vorsagten. Nein, die Blumen waren alle erfroren, und konnten sich gewiß nie mehr durch den dichten Schnee hinausfinden.

Eigentlich war das schrecklich traurig. Aber Hansi wollte nicht daran, sondern an das wunderschöne Christfest denken. Er lernte viele Weihnachtslieder; ja der Lehrer lehrte ihn ganz allein ein altes Lied, das fing an: „O Jesulein süß, O Jesulein mild“. Es waren ein paar Worte drin, die Hansi nicht ganz verstand, aber das schadete nichts. Die Melodie war süß und zart, gerade wie ein Lied sein muß, das man dem Jesuskindlein in der Krippe singen darf.

Hansi sang es oft. Wenn er allein in dem großen Kinderzimmer saß und mit dem alten Baukasten spielte, baute er einen wunderschönen Stall mit vielen Türmchen und Erkern. Dann legte er den blonden Kopf auf die Tischplatte, um durch das winzige Fensterchen in das geheimnisvolle Innere zu sehen und sang dazu mit einer lieben, feinen Stimme: „O Jesulein süß !“ Dabei gewannen seine Augen einen Ausdruck, als wachse das winzige Ställchen zu einem großen, als stehe die Türe weit offen und das Hänschen wandere hinein in den seligen Glanz, der von dem Kindlein in der Krippe ausgeht.

Nun waren nur noch wenige Tage bis zum Chrisstfest. In der Stadt war Weihnachtsmarkt. Von dem alten Stadttor, das einst trutzig jedem Fremden den Einlaß verweigert hatte, nun aber längst friedlich, mit efeuumsponnenen Türmen innen in der Stadt stand, führte eine breite Straße auf den Andreasplatz hinunter. Und hier standen alle die Weihnachtsbäume. Prächtige Weißtannen, die wohl bestimmt waren, einen großen Saal zu schmücken; schlanke Rottannen, deren Zweige verlangend ausgestreckt waren, als könnten sie es kaum erwarten, die strahlenden Kerzen und goldenen Ketten zu tragen. Da waren auch putzige kleine Bäumchen, zu denen sich Hansi ganz besonders hingezogen fühlte. Er schritt neben der Hausmutter die grüne Tannenstraße auf und ab, aber während diese die großen Bäume musterte, hielt Hansi eine zärtliche Augensprache mit den kleinen. Endlich wurde eine große, stolze Tanne gewählt, und Elise, die neu eingetretene Magd und der große Ernst, der zur Hilfe mitgekommen, packten sie vorsichtig und machten sich auf den Nachhauseweg.

„Komm, Hansi,“ sagte die Tante, wir gehen nun auch.“

Gehorsam streckte Hansi sein Händchen aus, aber er konnte es nicht hindern, daß ihm dabei ein kleiner Seufzer entschlüpfte. Er hatte, während die Tante mit dem Verkäufer verhandelt, die ganze Zeit neben einem Bäumchen gestanden, dessen grüne Spitze nur eben an Hansis Näschen reichte. Das Bäumchen war sehr niedlich gewachsen, wie ein zierliches kleines Mädchen.

„Gefällt dir das Bäumchen? Möchtest du es gerne?“ fragte mit einem Mal der Verkäufer. „Jch schenke es dir. Die Frau Mama haben ja eine so große Tanne gekauft, da geht das Kleine noch drein.“

Hansi konnte sein Glück kaum fassen. Er dankte mehr mit den Augen als mit dem Mund, dann schritt er neben der Tante, vorsichtig die grüne Last gegen das klopfende Herzchen gedrückt.

Es war merkwürdig. Als der Morgen des heiligen Abends dämmerte, auf den sich Hansi wochenlang mit ganzem Herzen gefreut, war die Freude mit einem Schlag wie weggewischt. Hansi war sich noch nie so klein und verlassen vorgekommen wie in dem festlichen, frohen Treiben, das den ganzen Tag beherrschte. Er wurde erst ein bißchen froher, als ihm die Tante zwei beschädigte Glaskugeln, ein paar schillernde Goldfäden und sogar einige Halter mit Lichtsstimpchen darin schenkte. Nun konnte er doch sein Bäumchen , sein eigenes liebes Bäumchen schmücken. Er hatte sich selbst schon einiges fabriziert: aus Karton wundersam gezackte Sterne, die mit Goldpapier beklebt worden waren; und aus rotem und grünem Papier hatte er Blumen und Vögel und Häschen geschnitten. Sie sahen zwar ein bißchen seltsam drein ~ Mutterchen hatte das entschieden besser gekonnt – aber im Grund schadete es nichts. Die wundersam geschwänzten Vögel wiegten sich sehr vergnüglich in den grünen Zweigen, die Goldsterne und Silberfäden leuchteten prächtig, und die Glaskugeln waren so schön, daß Hansi eine Weile seine Arbeit unterbrechen mußte, um das Bäumchen von allen Seiten bewundern zu können. Nun wurden noch die fünf Kerzchen angesteckt und das Bäumchen war geschmückt. Es stand in einem Rumpelkämmerchen auf einer alten Kiste, die Hansi erst fein säuberlich mit einem Taschentuch bedeckt hatte. Es war kalt in der Dachkammer, und Hansi hatte nahezu blau gefrorene Händchen und ein rotes Näschen. Aber er schien es gar nicht zu beachten. Er war ganz versunken in den Anblick seines Bäumchens, und erst als die Glocke zum Vieruhrbrot rief, verließ er das Kämmerchen.

Um 1/2 6 sollte die Weihnachtsfeier beginnen. Vorher mußten alle die vielen Buben noch einmal gewaschen und gekämmt, gebürstet und gestriegelt werden. Da konnte es leicht passieren, daß ein so kleines Männchen wie Hansi übersehen wurde. Niemand vermißte ihn, bis es an das Ordnen des Zuges ging. Den mußte ja der Kleinste anführen. Aber wo war er nur? Nicht im Wohnzimmer, nicht in der Kinderstube, in keinem der Lehr-, in keinem der Schlafsäle. Die Buben lachten und stellten die ungeheuerlichssten Vermutungen auf. „Er hat vielleicht gemeint, die Krippe sei im Kohlenkeller,“ meinte der lange Sommersprossige. Das schien der Tante gar nicht so unmöglich. Sie ging selbst die Kellertreppe hinunter; die blonde Elise aber, die neue Magd, schickte sie auf den Boden, nach Hansi zu suchen.

Langsam schritt das junge Mädchen die steile Stiege hinauf. Oben angekommen, lehnte sie einen Augenblick den Kopf gegen die Wand und schluchzte laut und schmerzlich auf. Es war zum erstenmal, daß sie in der Fremde Weihnacht feiern mußte . . . Wie froh war sie zu Hause gewesen! Wie hatten sie alle geliebt! Und hier brauchte sie niemand, es war ihnen gleichgültig, ob sie da war oder nicht. Doch — sie mußte ja Hansi suchen gehen.

Ein, zwei Türen hatte Elise schon geöffnet und umsonst in dem Halbdunkel herumgespäht, da sah sie einen Lichtstrahl aus dem alten Rumpelkämmerchen fallen. Die Türe war nur angelehnt. Mit sachter Hand öffnete Elise ein bißchen weiter und da sah sie das verlorene Hänschen auf einer niedern Kiste sien. Vor ihm stand das wundersam geschmückte Bäumchen mit fünf brennenden Kerzen daran.

Wie arm und wehmäütig sah das drein . . . Aber das Kind saß davor mit glückstrahlenden Augen und sang:

„O Jesulein süß! O Jesulein mild! Des Vaters Will’n Hast du erfüllt; Bist kommen aus dem Himmelreich, Uns armen Menschen worden gleich. O Jesulein süß! O Jesulein mild!“

Die blonde Elise lehnte unter der Türe. In ihre guten Kinderaugen, die doch schon so mütterlich schauen konnten, traten heiße Tränen, die langsam über ihr Gesicht rollten. Sie achtete es nicht. Hier in dem kleinen Dachkämmerchen, als sie das Kind so einsam sitzen sah, war plötzlich eine große Freude in ihr aufgestiegen. Der brauchte sie . .. Der hatte ja auch ein einsames Herz! Es tat ihm gewiß not, daß ihn jemand mit großer, warmer Liebe umfasse, und sie war so froh, wenn sie jemandem ihre Liebe schenken durfte. . .

„Hansi!“ sagte sie mit weicher Stimme, in der ihre ganze Glückseligkeit zitterte, „komm Bubele, wir haben dich gesucht, weil man jetzt zur Bescherung geht. Aber dein schönes Bäumle zünden wir morgen wieder an, gelt ?* ~ „Ach ja, nicht wahr, es ist wunderschön ?“ sagte Hansi. Dann faßte er mit seinem kalten Händchen die braune, warme Hand des Mädchens, und in ihr gutes Gesicht aufblickend, flüsterte er zärtlich: „Du bist lieb.“

Eine Mutter und ihr kleines Mädchen.

Wenn man den kleinen Weg, der gerade vor der Kirche abzweigt, hinaufgeht, kommt man auf die breite Landstraße, die langsam in großen Windungen zur Paßhöhe hinaufführt. Vorbei an hügeligen Bergwiesen ~ wie tief und leuchtend sind die Farben ihrer Blumen! . .. Vorbei an blizenden Bächen, deren Wellen wie wilde Kinder zu Tale stürmen. „Ich fange dich!“ jauchzt das eine. „Jch bin noch schneller!“ das andere. Es scheint, als hätten sie die Einsamkeit der großen, weißen Berge satt. Sie können es kaum erwarten, hinunterzukommen in die farbenfrohe Ebene, in die weiche, linde Luft, in den leuchtenden Sonnenschein.

Wir gehen weiter und wundern uns über die kleinen, lebensfrohen Wellen, deren Rauschen und Jauchzen uns noch lange verfolgt. Noch ist es früh am Tag, aber die Sonne brennt heiß, und der Weg liegt vor uns gleißend, schattenlos. Da tut es gut, die Augen zu kühlen an den Bergen, die wie ein weißes, verschlossenes Zauberland vor uns liegen. Und wir wundern uns wieder über die kleinen Wellen.

Dann tritt der Weg in den Wald. Gleich einer sachten, liebevollen Umarmung empfinden wir seinen kühlenden Schatten. Und er tut uns all seine Wunder auf. Wer kann sie erzählen ... Wir finden prächtige Farnkräuter und hohen blauen Eisenhut. An einer Lichtung leuchten Erdbeeren, reif und sonnenwarm. Eine kleine Eidechse huscht aus einer Felsenritze, und lange, lange gehen wir über weichen Waldboden, auf dem hundert und hunderte der weißen Wollgräser stehen in spinnefeinen, seidenen Röckchen.

Der Wald hält uns fest bis zur Höhe. Dann läßt er uns frei mit einem Male. Und wir stehen und schauen und sind fast geblendet von Licht und Glanz, und nur allmählich finden wir uns zurecht und erkennen in dem zackigen Berggipfel, der jetzt so drohend auf uns herabschaut, einen alten Freund, der uns sonst von seiner lichten Schneeseite her bekannt war. Aber wir finden uns durchaus nicht mit allem zurecht, und das tut auch nichts.

Wir setzen uns auf einen Felsblock. Es gibt deren eine Menge auf der Paßhöhe. Vielleicht haben einmal zwei Riesen hier gekämpft und sich artigerweise mit den Felsstücken geworfen. Aber das muß schon lange her sein. Die Felsen sind mit Moos und Gräsern bewachsen, und auf dem einen oder andern steht gar eine bescheidene, kleine Kiefer.

Die Welt, in der wir sonst leben, die Staub und Lärm, Hasten und Erraffen heißt, versinkt. Wirruhen in einem unbeschreiblich seligen Frieden ... Die weißen Berge strahlen ihn aus, aus den blumigen Wiesen steigt er empor – die ganze klare Luft hüllt uns darein.

Unten im Tal bei der Kirche liegen Häuser und Häuschen, meist mit niedern Dächern, was ihnen ein trauliches Aussehen gibt. Wir können nur wenige Neubauten, deren Holz noch hell ist entdecken. Die meisten sind alt und von der Sonne dunkelbraun gebrannt. An einzelnen vorstehenden Balken leuchtet das Holz wie warmer brauner Samt. Blendend weiß hebt sich dagegen der steinerne Unterbau an der Vorderseite des Hauses ab. Zum obern Stockwerk führt eine Treppe empor, die außen angebracht ist. Das sieht so einladend aus, fast als wollte das Häuschen sagen: Komm nur herein, alles steht dir offen. Rund um das Haus läuft eine Veranda, „Laube“ wird sie genannt, und diese Laube ist der Blumengarten des Häuschens. Brennend rote Nelken hängen über das braune Geländer herab, auch weiße und rosenfarbene. Daneben stehen gelber und brauner Goldlack, Fuchsien und Geranien.

Die Häuschen liegen nicht nur um die Kirche gedrängt. Weit in den Wiesen drin, an den Berghängen hinauf stehen ihrer noch viele, und erst, wenn wir uns dem Walde nähern, bleiben sie zurück. Nur ein einziges hat sich tief in den Wald hinein verlaufen bis zur Paßhöhe hinauf. Da steht es etwas abseits von den großen Felsblöcken, im Schatten mächtiger Föhren und schaut auf das weiße Bergland und darüber hinaus in den Himmel hinein.

Das war die Heimat der kleinen Sophie.

In diese Einsamkeit herein kam sie in einer warmen Sommernacht, als ihre Eltern fast ein Jahr lang in dem stillen Häuschen gewohnt hatten. Zwei Jahre später gesellte sich ein kleiner Toneli dazu und wieder ein Jahr darauf das Lisi. Aber das Lisi hatte kein sonnenbraunes, gesundes Körperchen wie seine Geschwister. Es lernte zwar gehen, aber wie bald war es müde! Wenn die kleine Sophie und der Toneli auf den Felsblöcken herumkletterten, lag es ganz still im Gras und schaute blinzelnd nach den weißen Bergen. Oder es ging mit unsichern Schritten auf der Matte umher und pflückte die starkduftenden, braunroten Männertren und die tiefblauen Enzianen, um sie der Mutter ins Häuschen zu bringen. Die nahm die Blümchen und freute sich darüber und nahm auch wohl das bleiche Mensschenblümchen auf den Arm und trug es ein paar mal in der Sonne auf und ab. Das war das Schönste in Lisis kleinem Leben. Die Mutter schien ihm groß und stark, und sie hielt das kleine Lisi so fest und sicher, daß eine tiefe Beruhigung über sein zitterndes Seelchen kam. Sonst, wenn es auf den eigenen schwachen Beinchen stand, mußte es sich oft und viel fürchten. Vor dem großen Hund z. B., der das kleine Ding in seiner täppischen Zärtlichkeit mehr als einmal umgeworfen, vor den fremden Leuten , die bei schönem Wetter vorbeimarsschierten und unversständliche Worte mit ihm redeten, oder auch vor dem zahmen Raben, der nicht fliegen konnte, aber mit seinen hüpfenden Schritten ganz erstaunlich schnell vom Flecke kam. Was für einen garstigen Schnabel, was für böse, stechende Augen hatte er doch! Auch vor dem Vater fürchtete sich das Lisi und vor dem Knecht. Sie hatten tiefe, starke Stimmen, und wenn sie in die Stube traten, krachten alle Balken, und wenn ssie sich auf die Fensterbank fallen ließen, zitterten die Gläser auf dem Tisch. Und das überfeine Liseli zitterte mit. Da war es nur gut, daß die kleine Sophie, das beschützende Schwesterlein, zur Hand war. Nächst der Mutter war sie das Schönste in Lisis Leben. Sie konnte prächtig spielen, und das war auch etwas, bei dem einem das Fürchten verging. Und sie konnte singen, so fein und süß, daß das Lisi nie müde wurde zuzuhören.

Die zwei Kinder hatten im Wald ein Versteck, von dem außer der Mutter niemand etwas wußte. Es war eine kleine Felsenhöhle, deren Boden sie ganz mit Moos ausgelegt hatten. In die Ritzen der Wände steckten sie Blumen und hübsche Steine oder Tannen- und Fichtenzapfene. Wenn das Lisi hier saß, fühlte es sich beinahe so sicher wie auf der Mutter Arm. Andächtig sah es zu der kleinen Schwester auf, die, das lichte Köpfchen gegen den dunkeln Stein gelehnt, ihre kleinen Lieder sang.

Einmal, nur einmal verirrte sich ein fremder Wanderer in die Nähe der Felssenhöhle, aber er ging, ehe die kleinen Schwestern ihn gehört. Er ging und konnte lange Jahre das Bild, das er im Waldesdunkel gefunden, das lichthaarige Kind mit dem unberührten Gessichtchen, nicht vergessen. Der da ging, war ein Maler. Er hatte schon viele Bilder geschaffen, die gelobt und anerkannt worden waren, aber nicht alle waren schöne Bilder gewesen. Es waren solche darunter, von denen sich seine alte Mutter betrübt abgewandt hatte.

Und dann schickte er ihr einmal ein Bild, das war wie ein lichter Sonnenblick: ein dunkler Hintergrund, ein Mädchengesichtchen mit blauen, weitgeöffneten Augen, zwei blonde Zöpfe fallen über die Schultern.

Der Maler hatte vielleicht schon schönere Kinderköpfe gemalt, aber keinen, von dem ein solcher Zauber ausgegangen wäre. „Man könnte es Unschuld oder Angela nennen, in meinen Gedanken heißt es das stille Kind,“ schrieb er damals an seine Mutter.

Als die kleine Sophie sechs Jahre alt war, wurde das Lisi krank. Erst lag es in der Schlafstube in seinem Bettchen neben der Mutter Bett. Dann, als es schlimmer mit ihm wurde und es gar keinen Lärm ertragen konnte, bettete die Mutter das Kind und sich in die anstoßende Kammer. Sophieli und Toneli durften nicht mehr hinein, aber sie schickten ihre Grüße: Blumen und Steinchen. Einmal sammelte der Toneli einen mächtigen Strauß Wollgräser. Den wollte das Lisi immer auf der Bettdecke haben, weil er so wunderschön weich war.

Und dann starb das Lisi.

Nun gingen keine unsichern Schrittchen mehr um das Haus, kein ängstliches Stimmchen rief : „Sophieli, komm schnell!! Nun war die Felsenhöhle still und dunkel und traurig. Einen Augenblick besann sich das Sophieli, ob es dem Toneli von dem Versteck sagen sollte, aber nein, nein! Der Toni würde nicht ruhig auf dem weichen Moos- teppich sißzen. Der wollte keine Lieder und keine sanften Spiele. Und selbst wenn er es gewollt -- die kleine Sophie hätte niemand anders an Lisis Platz sehen mögen. Ach nein, niemand in der ganzen weiten Welt konnte diesen Platz ausfüllen!

„Siehst du, Sophieli, dort im Himmel ist nun das Liseli!“ sagte die Mutter und deutete mit der Hand über die weißen Berge. „So weit!“ fragte das Kind erschrocken und ungläubig. Wie hatte nur das Lisi über die hohen, hohen Berge und durch den kalten, tiefen Schnee wandern können! Darüber mußte die Kleine immer wieder nachsinnen, und dann mit einem Male wußte sie, wie alles zugegangen. Wie dumm war sie doch gewesen! Das Lisi war natürlich über den Berg geflogen mit schönen, glänzenden Flüglein. Wenn ein Kindchen sterben wollte, schenkte ihm der liebe Gott zwei Flügel. Das hatte die Mutter einmal erzählt, und Sophieli wußte noch gut, wie sich das Lisi über den Gedanken gefreut. Und nun hatte es also wirklich die Flüglein ausgebreitet ...

Drei Tage später sollte die kleine Leiche ins Dorf hinuntergebracht werden. Die Kinder schickte man in aller Frühe mit dem Knecht zur Sennhütte hinauf. Diese lag nahe an der Spitze eines hohen, runden Berges, mitten in einer Wiese drin, die, mit gelben Arnika bedeckt, wie lauter Gold leuchtete. „Wie wird sich das Lisi freuen!“ dachte Sophieli eifrig pflückend, dann ward sie plötzlich dunkelrot, warf den ganzen leuchtenden Strauß weg und setzte sich in eine Ecke der Sennhütte. Sie schaute dem Knecht zu, wie er mit starken Armen in einem Riesenkessel rührte, der von der Decke an einem eisernen Haken herabhing. Das mächtige Feuer war immer Sophielis Freude. Wie die roten Zungen hoch an dem rußigen Kessel hinaufleckten! „Nun wollen sie auch etwas von dem schönen Käse, aber sie kriegen doch nichts, der gehört uns !“ dachte sie mit einem vergnügten kleinen Schmunzeln. „Das muß ich dem Lisi erzählen, es wird ~"

Sophieli stand auf und ging wieder in den Sonnenschein hinaus. Die schöne, runde Bergkuppel lag gerade vor ihr, das Blau des Himmels floß zu beiden Seiten daran herab wie ein langes, flimmerndes Band. Daher kam es wohl, daß Sophieli geblendet die Augen schließen mußte. Sie legte sich ins Gras, bis der Knecht seine Arbeit getan hatte, dann zogen alle drei wieder den Berg hinunter. Zu Hause fanden sie vor dem Häuschen zwei Wagen. Auf dem einen stand ein mit schwarzem Tuch bedeckter Kasten, im andern sollten Vater und Mutter, Sophieli und Toneli nach dem Mittagessen ins Dorf hinunterfahren. Das war sonst ein großes Vergnügen, aber heute wollte keine Freude aufkommen.

Endlich waren sie alle zur Abfahrt bereit. Die Mutter trug ein schwarzes Kleid und einen schwarzen Hut. Sie sah so ernst und fremd darin aus, und noch fremdartiger schaute der Vater drein. Um Tonelis Jackenärmel war ein schwarzes Band geschlungen, und statt der bunten Sonntagskrawatte, auf die er so mächtig stolz war, hatte er einen schwarzen Florstreiken umgebunden. Sophieli stak in einer dunkeln Armelschürze, die das rote Kleidchen gänzlich verbarg. Von dem hellen Strohhut waren die grünen Bänder weggetrennt und ein schwarzes Band darauf gesteckt worden. Der Kleinen war sehr beklommen zu Mute. Was war nur in dem schmalen schwarzen Kasten drin, der auf dem vordern Wagen stand? Sie fragte die Mutter, aber die weinte und antwortete nicht. Und es war gut so. Was hätte Sophieli gesagt, wenn man ihr geantwortet hätte, das Lisi liege darin? So glaubte sie, das Schwesterlein sei über die hohen Berge in den Himmel hinein geflogen. Und daß es das getan, daß es von Vater und Mutter, von den Geschwistern und dem lieben Häuschen weggeflogen, war schon Schmerz genug für Sophielis Herz.

Die Kinder waren vor der Beerdigung zu einer Verwandten gebracht worden. Nachher kamen die Eltern auch dahin. Die Base schenkte Kaffee ein und nötigte die Mutter, von dem knusperigen Kuchen zu essen. Aber sie konnte nicht. Sie schaute trübe vor sich hin, und einmal sagte sie: „Es bangt mir vor dem Nachhausekommen. Es ist mir immer so lieb entgegengesprungen.“ Sophieli schaute auf; sie wollte etwas Tröstliches sagen, aber sie fand keine Worte. Sie mußte nur immerzu denken: „Nun habe ich das kleine Lisi nicht mehr, das kleine, liebe Lisi."

Langsam und sachte schob sie sich zur Mutter hin. Die Base bemerkte es und lachte: „Du willst wohl ganz in die Mutter hineinkriechen, du kleines Ding du! Das ist nicht gut. Man muß auch allein hinstehen können.“ Das konnte die Base allerdings. Jeder ihrer gewichtigen Schritte schien es zu sagen, und ihre fünf Buben, die, wie Sophieli mit Erleichterung festgestellt hatte, alle zur Sennhütte gegangen waren, konnten es auch. Sie fürchteten sich vor niemandem und nichts, und wo es Händel gab, waren sie immer im dichtesten Knäuel.

„Nein, das ist nicht gut!“ wiederholte die Base in eindringlichem Ton, zur Mutter gewandt. „Du mußt dir das Kind nicht immer an der Schürze hängen lassen, nicht immer nach ihm ausschauen. Sonst wird es immer stiller und dösiger.“

Der Mutter war bei diesen Worten eine helle Röte in die Wangen gestiegen. Sie war keine energische, tatkräftige Frau wie die Base, sie hatte in der Schule immer ein bißchen Mühe gehabt mit dem Lernen, sie war immer eine „Stille“ gewesen. Und seit sie in der Einsamkeit, um die sie viele bemitleideten, wohnte, war s ie noch stiller geworden. Nicht, weil sie sich langweilte oder gar abhärmte, wie die Leute im Dorf wohl meinten. Nein, weil in der großen Einsamkeit so vieles zu ihr redete, daß sie selbst schweigen und lauschen mußte. Sie hatte eine feine, kluge Seele, und das ist mehr wert als alle Bücherweisheit, die das Herz oft arm und leer läßt. Diese feine, kluge Seele war es, die sie gelehrt hatte, ihre Kinder als das anzusehen, was sie eigentlich sind, als Gottes liebevollstes Gnadengeschenk für uns arme Menschenkinder. Wie die kleine Sophie zum erstenmal vor ihr gelegen, weiß und fein, wie eine vom Himmel gefallene Schneeflocke, war neben dem Glücksgefühl ein zitternder Gedanke so mächtig in ihr, daß sie mit plötzlichem Aufsschluchzen das Kindlein an sich riß.

„Kann ich es hüten, kann ich es schützen?“ . . .

Sechs Jahre lang hatte sie es versucht, und sie war allmählich ruhiger und zuversichtlicher geworden. Nicht, weil ein stärkeres Kraftgefühl über sie gekommen wäre. Im Gegenteil, das Gefühl der Unfähigkeit, des Nicht-wert-seins war mit den Jahren nur gewachsen, aber gewachsen auch die starke, gläubige Sehnsucht, mit der sie sich an Gottes Vaterhand hielt. Sie konnte nicht viel Worte darüber machen, nur mit den Kindern, hauptsächlich mit Sophieli, redete sie manchmal von diesen ihren innersten Gedanken.

So auch beim Nachhausefahren. Es war ihr gelungen – ihr Mann ließ ihr in derlei Dingen freie Hand ~ ihren Kindern das Grause, Unnatürliche des Todes fernzuhalten. Sie wußte, was für ein Entsetzen ihr einst der Anblick eines toten Nachbarkindes eingejagt hatte. Davor wollte sie ihre Kinder bewahren, so lange es ging. Aber in ihrer Fürsorge, die Kinder möglichst vom Hause fernzuhalten, hatte sie sie auch von sich getrennt. Das fiel ihr mit einem Male schwer aufs Herz, als sie in Sophielis Augen den dunkeln Jammer las. Es war nicht das Leid, das sie in den ersten Stunden darin gesehen. Ein banges, ach nein, viel schlimmer, ein verwundetes Seelchen schaute daraus. Der Mutter Herz faßte eine eisige Angst. Hatte das Kind trotz aller Vorsicht gehört, was es nicht hören sollte? Sie hob die Kleine auf ihren Schoß; sie beugte sich tief zu dem ernsten Gesichtchen herab und flüsterte so leise und doch so deutlich, wie nur eine liebe Mutterstimme flüstern kann: „Was hast du, Kindli, sag mir's!“

Da kam es heraus, das große Leid, das seit drei Tagen Sophielis Herz bedrückt hatte. Stockend, schluchzend . . . es gehörte ein feines Ohr dazu, aus dem Geflüster klug zu werden. Aber sie, die Mutter, verstand alles, und ein beinahe frohes Lächeln spielte dabei über ihr Gesicht. Dann sprach sie davon, daß das Lisi nicht weggeflogen sei von sich aus, aus freiem, eigenem Entschluß, wie das dumme, dumme Sophieli gemeint. Der liebe Gott — und das wissen wir doch, daß er es immer gut mit uns meint — der liebe Gott hatte ihm gerufen. Und da mußte doch das Liseli folgen, das war doch ganz klar. Freilich war es schwer, ach, ganz furchtbar schwer, daß man nun kein Lisi mehr hatte, aber das mußte man tragen lernen mit einem tapfern, geduldigen Herzen, und weil man sich das nicht selbst geben kann, muß man alle Tage den lieben Gott darum bitten.

Sophieli lehnte sich zurück, um besser in der Mutter Gesicht sehen zu können, und diese erzählte weiter, wie gut es nun das Liseli im Himmel habe. „Nicht wahr, Kindli, wir wollen es nicht mehr zurückwünschen, wir wollen uns nur freuen, daß wir es drei lange, schöne Jahre haben durften. Und siehst du, Sophieli, ich glaube, der liebe Gott hat uns durch das Lisi etwas ganz besonderes sagen wollen. Das lernst du vielleicht erst in vielen Jahren verstehen, aber einmal sicher.“ Sophieli saß still auf der Mutter Schoß und dachte über ihre Worte nach. Ganz verflogen war das große Leid nicht, das wäre auch gar nicht gut gewesen; aber das Finstere, Unversständliche daran hatte eine gütige Hand weggestrichen.

Kinder vergessen rasch, auch die mit weichen, [iebewarmen Herzen. Das anfängliche Vermissen geht über in ein schmerzloses Erinnern, das vielleicht hie und da ein feines, seltsam-sehnsüchtiges Gefühl wachruft; aber dann genügt der Ruf eines Spielkameraden, ein Vogelschrei, eim Wagenrasseln, und das Kind steht wieder mitten in der Gegenwart.

Sophieli jagte sich mit Toneli, bis ihre langen, sitssamen Zöpfe ganz zerzaust waren. Sie wetteiferten im Klettern und Rennen, und einmal machten sie sich daran, die Ouelle des wilden Baches, der in der Nähe der Sennhütte zu Tale stürzte, aufzufinden. Am Anfang ging es gut. Da lief ein schmaler Fußweg neben dem Bachbett her. Als aber dieser in eine Wiese einbog, rutschten die Kinder auf die Felsblöcke hinunter, durch die sich der Bach mühsam hindurchzwängte, und nun begann ein tollkühnes Springen, Ausgleiten, sich Festklammern und Weiterspringen. Daß Röckchen und Höschen allmählich pitschnaß wurden, beunruhigte die zweie nicht. Einmal oben in der Sonne angelangt, ließen sie sich schon wieder trocknen.

Ja, oben in der Sonne! . . . Aber, wo war nur die Höhe? Sie mußte in unendlicher Ferne liegen. Immer neue Felsblöcke starrten empor; immer neue Wellen sprangen an den Kindern vorbei. Manchmal spritzte der weiße Schaum hoch an ihnen hinauf. Wie eisig kalt war das! Überhaupt, der Bach war wohl nicht zufrieden, daß man in seinem Bett herumkletterte. Je höher Sophieli und Toneli stiegen, desto zorniger klang sein Rauschen. Und dann kam das Allersschrecklichste. Mit einemmal waren auf ihrer Seite keine Steine mehr, nur eine glatte Felswand stieg stolz und kerzengerade in die Höhe. Nirgends ein Vorsprung oder eine Ritze, wo man den Fuß hätte ansetzen können. Es war auch nicht möglich, auf die andere Seite zu gelangen, so mußte man eben umkehren. Aber wie? Sophieli und Toneli starrten staunend auf den Weg zurück, den sie soeben erklommen. Wie konnten sie da hinuntergelangen . . . Die Steine waren ja alle schlüpfrig und schienen weit, weit auseinander zu liegen. Hei, wie der Bach lachte und höhnte und seine eisigen Tropfen in die Luft schleuderte!

Sophieli und Toneli standen dicht zusammengedrängt mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen. Dann, wie aus Verabredung, brachen sie in ein Jammergeheul aus, das seltsam in das Rauschen des Baches hineinklang und beinahe darin unterging. Aber irgend ein Ton verirrte sich doch zu der Sennhütte hinüber. In mächtigen Sätzen kam der große Hund über die Wiese gerannt, etwas gemächlicher folgte der Vater. Als er die beiden Kinder erblickte, brach er in ein dröhnendes Lachen aus. Das klang so beruhigend und erfrischend in das zornige Wasserrauschen hinein, daß Sophieli und Toneli ihr Schreien aufsteckten und mit einem halben Lächeln dem Vater entgegenschauten. Er holte erst den Buben, der leichter zu erreichen war, dann nach ein paar Augenblicken stand auch Sophieli oben auf der Wiese. Die lag warm und weich im Sonnenlicht, und nur noch ganz von ferne klang das zornige Lachen des Baches.

Der Vater sah die ganze Sache als einen lustigen Scherz an. Anders die Mutter. Als sie am Abend die Geschichte erfuhr, ward sie blaß und in ihre Augen trat ein erschrockenes Leuchten. Sie sagte kein tadelndes Wort zu den Kindern, und doch überkam Sophieli mit einemmal ein schweres Gefühl der Schuld. Als sie der Mutter angstvolle Augen gesehen, war ihr das Liseli in den Sinn gekommen. Das feine Liseli . . . Wäre sie, Sophieli, auch mit dem Schwesterlein an der Hand den Bach hinaufgeklommen? Ach nein, gewiß nicht. Das Liseli hätte sich ja gefürchtet. Sie wären beide hübsch auf der Wiese geblieben, hätten Blumen gepflückt oder aus sicherer Entfernung die grasenden Kühe betrachtet . .. War die Mutter ein bißchen ein Lisell? Mußte man auch darauf achten, nichts zu tun, das sie ängsten könnte? . ..

Als Sophieli abends im Bettchen lag und die Mutter sich zum Gutenachtkuß darüber beugte, legte das Kind seine braunen Arme um ihren Hals. „Ich gehe nie mehr den Bach hinauf, Mutter, und nie mehr auf den wackeligen Felsen und nie mehr auf die Tanne, auf die das Klettern so schrecklich schwer ist.“

„Das freut mich“, sagte die Mutter innig. Sie legte die Decke weich und sorglich um das Mäùdelchen, glättete sie ein paarmal und ging dann nach einem letzten warmen Blick hinaus. Sophieli lag still und muckste sich nicht. Eigentlich war die Decke schwer und drückend, aber sie hätte sie um die Welt nicht zurückgestrichen.

Sie verstanden sich ohne Worte, diese zwei. Jede Bewegung der Mutter hatte zu Sophieli gesprochen. „Ach, wie froh, wie dankbar bin ich, daß du da liegst in deinem eigenen kleinen Bett, daß du mir nicht in den kalten Bach, auf die harten Steine gefallen bist! Und ach, wie froh bin ich über das, was du mir eben gesagt hast!“

Im Herbst die Berge hatten über ihr altes Schneekleid ein neues, hellglänzendes gezogen, dessen Saum schwer und tief auf den Hängen lag und bald wohl auch das Tal bedecken würde, im Herbst war es, als die Mutter einen wichtigen Brief erhielt. Ihre Schwester, die so erschrecklich weit weg in der Stadt verheiratet war, bat sie um einen Besuch. Sie könne auch eines der Kinder mitbringen, am liebsten das ältere.

Sophieli machte große Augen, als sie von der Reise hörte. Sie war noch nie weiter als bis zum nächstliegenden Dorf gekommen, sie war noch nie in der Eisenbahn gefahren. Und was für Herrlichkeiten warteten ihrer wohl in der fernen, großen Stadt? Die Mutter kannte ihr stilles Kind kaum mehr. Es plapperte unaufhörlich, stellte hunderttausend Fragen und erzählte dem Toneli die abenteuerlichsten Geschichten. Der Mutter ward beinahe bange. Wenn die Stadt das Kind schon jetzt so gefangen nahm, wie würde es später werden ? Fast bereute sie, eine zusagende Antwort gegeben zu haben. Konnte sie ihr Kind in der großen, lauten Stadt so behüten wie sie es bisher getan? . .. Aber immer konnte es ja nicht unter ihren Augen bleiben. Vom nächsten Frühling an mußte es in die Schule wandern, und im Winter mußte sie es wohl ganz ins Dorf hinunter geben. Das waren Aussichten, die einem das Herz schwer genug machen konnten. Zum erstenmal ertappte sich die Mutter darauf, ihre Lage bemitleidenswert zu finden.

Die andern Frauen, die so gemütlich im Dorf beieinander saßen, brauchten sich nicht von ihren Kindern zu trennen. Nur sie, weil sie hier oben in der großen Einsamkeit wohnte.

Sophieli war in der Stadt. In den ersten Tagen konnte man sie kaum auf die Straße bringen. Sie fürchtete sich vor den vielen schwatzenden, hastenden Menschen, vor den klingelnden Straßenbahnen, noch mehr vor den Wagen, die ohne Pferde unglaublich schnell dahersausten und merkwürdige Töne ausstießen. Es gab nur einen Platz in dieser schrecklichen Stadt, den Sophieli liebte. Der lag hinter der alten Kirche mit ihrem merkwürdig schillernden Dach, hoch über dem Rhein. Über die Mauer hinweg sah man in eine Pracht goldener und roter Blätter hinein. Und durch die Bäume hindurch und darüber hinaus leuchtete das Wasser, das nicht blau und ruhig war wie das eines Bergsees, sondern grünlich und in fortwährender, hastiger Bewegung. Manchmal sprang eine Welle mit leisem Plätschern in die Höhe. Es geläüsstete sie wohl, schneller als die andern zu der Brücke zu gelangen, die mit trutzigen Pseilern im Wasser stand und deren Geländer aus der Ferne beinahe einem zarten Spitzenwerk glich. Auf der andern Seite des Flusses waren wieder Häuser, kleine und große, dazwischen Schornsteine und auch Bäume, die verzweifelt ihre kahlen Äste in den Himmel reckten, oder auch ängstlich den letzten bunten Blätterschmuck festzuhalten suchten. Hinter der Stadt bauten sich braungrüne, weichgerundete Hügel auf und hinter diesen lagen blaue Höhenzüge, die nur an klaren Tagen scharf hervortraten. Sophieli liebte unter den nahen Hügeln besonders einen, der ein schmales, weißschimmerndes Kirchlein trug.

Allmählich gewöhnte sich das Kind an den Straßenlärm, und es fing an, Gefallen zu finden an den Schaufenstern, die so herrliche Dinge bargen: Bilder, Puppen, Kleider, Hüte. Das einfache Kind, das mit Steinen und Blumen und Tannenzapfen gespielt, das nur eine steife Puppe mit blödem Gesichtsausdruck sein eigen nannte, lernte nur langsam all das Geschaute verstehen. Dann ganz plötzlich erwachte in ihr ein beinahe gieriges Verlangen nach diesen Schätzen, und weil dieses Verlangen natürlicherweise nicht befriedigt werden konnte, wandelte es sich in ein Gefühl der Unzufriedenheit. Wie hatten es diese Stadtkinder so gut! Sie lebten in schönen Häusern, hatten hübsche Kleider und Spielsachen; sie kicherten und lachten miteinander, wenn sie in langen Reihen in die Schule zogen. Daß daneben auch stumme, einsame Gestalten gingen in armseligen Kleidern, in deren bleichen Gesichtern hungrige, leidvolle Augen standen, das wollte Sophieli nicht sehen.

O, die böse Stadt . .. Am liebsten hätte die Mutter ihr kleines Mädchen genommen und wäre mit ihr in die große Einsamkeit geflüchtet. Es war so bitter, in den klaren, lieben Augen das unruhige, unzufriedene Leuchten zu sehen. Es tat weh, die zärtliche Kinderstimme, die wie keine andere zum Lachen und Singen geschaffen war, schmollende Worte sagen zu hören. An das Lisi dachte Sophieli in diesen Tagen nicht. Sie schob die Erinnerung ängstlich weg, und einmal, als die Mutter mit der leisen Absicht, das Kind zu rühren, von dem Schwesterlein zu sprechen anfing, da trat ein so abwehrender, beinahe finsterer Zug in Sophielis Gesicht, daß die Mutter erschrocken schwieg. Und dann lernte sie die schwerste aller Aufgaben. Sie sah das Liebste, das ihr Gott gegeben, das sie bisher behütet und bewahrt, einen falschen Weg gehen und konnte ihm nicht zurückhelfen.

Und sie lernte weiter. Es war vielleicht gut, ach, es mußte ja am Ende gut sein, daß Sophieli diesen Weg ging. Sie lernte dabei ihr eigenes Herz ein wenig kennen.

Es war bis jetzt sso leicht gewesen für das Kind, froh und zufrieden zu sein! Hatte sie, die Mutter, es ihm am Ende zu leicht gemacht? Nein, das nicht. Sie war nicht blind gewesen gegen die Fehler des Kindes, und darin, daß sie es ganz eingehüllt hatte in ihre große, warme Liebe, lag keine Schuld.

Aber die Gedanken, die sich mit der Zukunft, mit dem Fortgehen des Kindes beschäftigt hatten, die waren nicht recht gewesen. Und nun wußte sie mit einemmal, daß es heilsam war so, für sie und das Kind.

Als die Mutter in ihren Gedanken so weit war, kam eine große, starke Ruhe über sie. Und nun bangte sie sich auch nicht mehr so verzweifelt um ihr kleines Mädchen. Nein, sie konnte ihr nicht zurückhelfen, aber sie konnte ihr vorauseilen auf ihrem Weg, auf dem sie bis jetzt miteinander gegangen. Und an der Stelle, an dem Sophielis Weg sich dem ihren wieder nähern würde ~ und daß diese Stelle in nicht allzu weiter Ferne liege, glaubte die Mutter felsenfest – wollte sie warten, ganz geduldig und stille.

In den letzten Tagen vor der Abreise erlebte Sophieli etwas Neues und Wunderbares. Die Messe hatte ihren Anfang genommen. Vierzehn Tage lang erfüllte sie die Stadt mit ihrem Lärm und Getriebe. Auf dem Andreasplatz standen lange Reihen Buden. Da konnte man warme Schuhe und Kappen, Kleider und Stoffe kaufen. Daneben hatte ein Juwelier seine glitzernde Ware ausgebreitet: alles echt Gold und spottbillig. Sehr hübsch nahmen sich die aufgestellten Geschirrwaren aus: neben die tiefen und kräftigen Farben der Milchtöpfe traten die zarteren der Tassen, Vasen und Kännchen. Die Süßigkeitskrämer waren überreichlich vertreten; sie priesen mit schreiender Stimme ihre braunen Honiglebkuchen und die vielfarbigen Zuckerstangen, „Meßmoggen“ genannt.

Auf den schmalen Wegen zwischen den Buden drängten sich neben den Einheimischen auch Landleute, die in großen Scharen die Messe besuchen kamen. Hie und da tauchte neben dem wippenden Federhut der Städterin die große, schwarzseidene „Haube“ einer schmucken Wiesentälerin auf , der das feine, seidene Umschlagtuch zierlich auf den Schultern lag. Beinahe an jeder Ecke stand ein Drehorgelmann, der eine an Krücken, der andere einarmig, der dritte blind. Die vielen Melodien griffen seltsam ineinander. Ein Choral wurde von dem neuesten Gassenhauer und dieser wieder von einer Opernmelodie verschlungen.

Auf dem Johanniterplatz war das Gedränge womöglich noch größer. Da waren Karusselle, ein Panorama, Schießbuden, ein Wachsfigurenkabinett u. a. mehr. liber alles weg ragte das große, grauweiße Zelt des Zirkus „Sarussi.“ Der Eingang war immer dicht umlagert von Kindersscharen, die mit sehnsüchtigen Augen die Glücklichen betrachteten, die den dunkelroten Vorhang zur Seite streifen und eintreten konnten. Von Zeit zu Zeit hörte man das Brüllen einer wilden Bestie, das flang einladend und zugleich so schauerlich, daß Sophieli, die eben an der Hand der Mutter das Zelt betrat, erschrocken anhielt. Freilich nur einen Augenblick. Sie waren etwas zu spät daran; die Vorstellung hatte schon ihren Anfang genommen, und das erste, was Sophieli erblickte, war ein Clown in rotsseidener Pluderhose, der eine Anzahl Gänse exerzieren ließ. Dann stieg er in einen kleinen Wagen und ließ sich von der sschnatternden Schar unter schallendem Gelächter davonziehen. In rascher Folge reihte sich ein Bild ans andere. Der Besitzer des Zirkus selbst, in der Kleidung eines indischen Radscha, trat mit zwölf mächtigen Elefanten auf; später erschien er noch einmal in enganliegendem, glitzerndem Kostüm und ließ zwei feurige schneeweiße Pferde ihre Künste vorführen.

Sophieli schaute und staunte, und auch die Mutter, die noch nie etwas ähnliches gesehen, freute sich an der farbigen Pracht und besonders auch an der Musik, die alle Vorstellungen zart und unaufdringlich begleitete.

Während der großen Pause wurde in halber Höhe des Zirkus ein breites Sicherheitsnetz aufgespannt, weshalb, war Mutter und Kind nicht ganz klar. Aber dann begriffen sie es ... Unwillkürlich hatten sie sich an der Hand gefaßt, während sie mit angehaltenem Atem die beiden Männer beobachten, die sich hoch oben, unter den betörenden Klängen der Musik, langsam, langsam in schwingende Bewegung setzten. Ihre geschmeidigen Körper staken in lichtblauen, silberbestickten Kleidern. Es sah prächtig aus, wie sie sich in den waghalsigsten Stellungen sachte hin und her wiegten, jezt an den Fersen, dann an den Fingerspitzen hangend, wie sie sich mit einem riesigen, kühnen Bogen von einem Trapez zum andern gleiten ließen —~ es sah prächtig aus und war doch so jammervoll, so todtraurig. Der Mutter erschien der ganze Raum mit einem Mal verwandelt. Sie wollte nichts sehen, und doch hingen ihre Augen wie gebannt an den schwingenden Gestalten. Ste wollte nichts hören, und die Musik klagte und schmeichelte ... Da war eine Geige, die klang lauter und eindringlicher als die andern. Es war, als hätte sie eine Seele, eine gequälte, heimwehkranke Seele

Das Sicherheitsnetz wurde wieder aufgerollt. Sophieli reckte sich erleichtert und freute sich mit lebhaften Worten auf die nächste Nummer, die das Auftreten von vier japanischen Künstlern ankündigte. Die Mutter freute sich nicht mehr. Sie saß da, und in ihrem Herzen stritten Jammer und Scham.

Die vier Japaner, ein Mann, eine Frau und zwei kleine Mädchen, traten in scharlachroten Gewändern auf. Sie legten die buntgestickten Oberkleider und Schuhe ab, verneigten sich anmutig, und nun begannen ihre Vorführungen. Sophieli mußte lachen, als die kleinen Mädchen — sie waren höchstens vier- und fünfjährig ~ wie Bälle durch die Luft geschleudert wurden, oder wie sie gleich flinken kleinen Affchen an schwankenden Seilen turnten und kletterten. Zum Schluß legte sich der Mann eine Stange über die Schulter. An jedem Ende hing ein rotes, breites Band, in das die kleinen Mädchen hineingehoben wurden. Und nun begann sich der Mann mit der Stange zu drehen, erst langsam, dann immer schneller . . . immer toller. Die sich jagenden roten Punkte waren kaum mehr zu erkennen, es sah aus als drehe sich ein ungeheurer roter Kreisel. Sophieli kreischte vor Entzücken, während die Mutter angstvoll betete: Lieber Gott, laß sie nicht stürzen! Die armen, armen kleinen Dinger .. .

Der Kreisel drehte sich langsamer; die Musik, die eine wirre Tanzmelodie gespielt, ging in eine weiche, süße Weise über. Die kleinen Mädchen standen wieder auf der Erde. Sie rückten sich die leuchtendroten Schleifen im schwarzen Haar zurecht und, während noch der Beifall tobte, streiften sie die kleinen Schuhe und buntgestickten Obergewänder über und verschwanden.

Wie leid tat das Sophieli! Die Kunststücke der Erwachsenen ließen sie gleichgültig. „Wollen wir nicht gehen, Mutter!“ bettelte sie, und diese gab nur zu gerne nach.

Draußen vor dem Zelt war das Gedränge so groß, daß Mutter und Kind nur langsam vorwärts kamen. Die Mutter trug mehrere Pakete im Arm, es war ihr fast nicht möglich, auch noch des Kindes Hand zu halten. überdies kamen sie wohl schneller vom Fleck, wenn das Kind hinter ihr ging. „Halte dich fest an meinem Rock, Sophieli! Ich will sehen, daß wir möglichst rasch heraus kommen.“

Sophieli hielt Mutters Kleid fest mit beiden Händen und ließ sich vorwärts ziehen. Da plötzlich schnupperte ein großer Hund an ihr hinauf. Das Kind erschrak. Um das Tier abzuwehren, ließ sie das Kleid der Mutter los, und als sie wieder danach greifen wollte, war es verschwunden. Wie eine drohende Mauer erhob sich vor ihr der breite Rücken eines Mannes. Es vergingen ein paar Minuten, bis sie sich an ihm durchdrücken konnte, und als es geschehen, war wieder ein fremdes Gesicht vor ihr, und nirgends, wohin sie auch blickte, war ein Stückchen von Mutter zu sehen.

Sophieli war ein schüchternes, aber kein feiges Kind. Sie versuchte tapfer vorwärts zu kommen. Sie hatte eine unbestimmte Idee von dem Weg, den sie gehen sollte, aber der Menschenstrom kam ihr entgegen, und so wurde das Kind immer wieder zurückgeschoben. Sie gab schließlich nach, wandte sich, und in kurzer Zeit fand sie sich wieder vor dem großen Zelt des Zirkus Sarussi. Die Nachmittagsvorstellung mußte ihr Ende erreicht haben, denn von der nahen Kirche herüber hatte es fünf Uhr geschlagen. Um sieben fing die große Abendvorstellung an, die ungleich prächtiger werden sollte. Da wurden auch die wilden Löwen vorgeführt, die sich auf den Reklamezetteln wie artige Kinder schulmeistern ließen.

Sophieli stand lange in der Nähe der Eingangstüre, so lange bis die Lampen angezündet wurden und der Kassier sie bemerkte. „Was stehst du immer da herum, mach daß du nach Hause kommst!“ herrschte er die Kleine an.

Nach Hause . . . wie gerne wäre Sophieli nach Hause gegangen. Aber wer konnte ihr den Weg weisen? So viele, viele Menschen waren um sie, und doch war sie ganz allein. Vor Sophielis Augen tauchte das ferne Bergdorf auf. Dort war sie nie einsam gewesen.

Mit zögernden Schritten ging das Kind an der Zeltwand weiter. Sie wollte nicht weinen, sie wollte tapfer sein. Mutter würde gewiß bald kommen und sie holen. Aber eine Minute nach der andern versstrich, und die Dunkelheit senkte sich tiefer.

Sophieli fand sich mit einem Male unter den Wagen, die den Zirkusleuten zur Wohnung dienten. Einige sahen einladend genug aus mit grünen Fensterladen und weißen Vorhängen an den winzigen Fensierrahmen. Sophieli war so müde. Sie setzte sich auf eine der Treppen, stützte den Kopf in die Hände, und nun kamen die Tränen, die lange tapfer zurückgehaltenen Tränen.

Da legte sich ganz sachte ein kleiner Arm um ihren Hals, und eine feine, fremdklingende Stimme sagte dicht an ihrem Ohr: „Kodomo! Nein, nein!“ Sophieli schaute erstaunt auf. An ihrer Seite kauerte die kleine Japanerin, die sie vor kurzem im Zirkus bewundert. Statt des scharlachfarbenen Kleides trug sie nun ein dunkles, aber Sophieli erkannte deutlich das schwarze Haar, in dem noch die brennend rote Schleife steckte, und das kleine gelbe Gesicht mit den schmalen, schwarzen Augen. Die Kleine lächelte, als Sophieli sich ihr zuwandte. „Nein, nein!“ sagte sie noch einmal und ahmte dabei die Gebärde des Weinens nach. Da mußte Sophieli lachen, und die kleine Fremde stimmte fröhlich ein. Sie schien große Lust zum Plaudern zu haben, obwohl sie nur wenige deutsche Worte wußte. Aber es ging trotzdem, denn das Fehlende ersezte das bewegliche Persönchen durch ein lebhaftes Gebärdenspiel. Sie sprach von ihrer „Ningio“ und Sophieli verstand, daß sie ihre Puppe meine; sie erzählte von „Hana“, und Sophieli begriff, daß es Blumen, große, duftende Blumen sein mußten. Und allmählich fing sie selbst zu sprechen an. Sie erzählte von der Mutter und vom Vater und dem Toneli. Sie erzählte vom lieben fernen Häuschen, von den stillen Bäumen und den weißen Bergen. Erzählte sie nicht von der Stadt und ihrer Herrlichkeit ? Nein, nein . . . Sophieli fragte nichts mehr nach ihr. Während des einsamen Wanderns und Wartens waren allerlei Gedanken durch ihr Herz gegangen, Gedanken, die Sophieli selbst nicht recht verstand. Sie hatte nur ein unbestimmtes Gefühl, daß sie unrecht getan, und daneben war ein großes Verlangen, wieder „lieb“ zu sein. Und merkwürdig. Nun kam ihr auch wieder das Lisi in den Sinn. Es war gerade, als schiebe es seine vertrauende kleine Hand in die ihre. Diese Empfindung war so stark, daß Sophieli, als sie den Arm der kleinen Japanerin gespürt, halb und halb geglaubt hatte, das Lisi neben sich zu finden.

Nein, das Lisi war nicht gekommen; aber vielleicht war sie es, die die kleine Suzu geschickt. Sophieli schaute das gelbe Gesichtchen mit neuem Interesse an, und dann war ihr mit einem Male, als sehe sie die liebesheischenden Augen des Schwesterleins. Sie zog das zappelnde Geschöpfchen an sich wie ein kleines Mütterchen und murmelte dabei zärtlich: „Du liebes, kleines Suzu du.“

So fand sie die Mutter. Für sie waren die verflossenen Stunden wohl noch herber gewesen als für das Kind. Aber alles war vergessen im Augenblick des Wiederssehens. Sophieli hielt die Mutter umfaßt, als wollte sie sie nie mehr gehen lassen. „Mutter, ich will lieb sein, ich will immer lieb sein!“ sagte sie einmal übers andere. Und die Mutter verstand.

Dann mußte die kleine Suzu begrüßt werden. Die Mutter setzte sich auf das Treppchen und nahm beide Kinder auf den Schoß. Das blonde und das dunkle Köpfchen an sich gepreßt, lauschte sie ein paar Augenblicke auf den festlichen Trubel, der von allen Seiten hereindrang. Ein großes Dankgefühl bewegte ihr Herz und daneben ein warmes Mitleid für das kleine, fremde Mädelchen in ihrem Arm. Nun ging sie mit ihrem Kind nach Hause, und morgen nahm sie es zurück in den reinen Frieden ihrer Berge, und dieses hier . ..

In dem Wagenhäuschen wurden Schritte hörbar. Die Türe ward geöffnet und irgend ein lakonischer Befehl herausgerufen. Die kleine Suzu umschloß mit ihren schmalen Händchen der Mutter Gesicht. „Obasan“ sagte sie zärtlich, dann glitt sie eillg von ihrem Schoß herab und faßte nach Sophielis Hand.

Am nächsten Morgen standen die Mutter und Sophieli reisefertig am Bahnhof. In der großen Halle, in der die Billette gelöst wurden, hingen riesige Photographien, alles Aufnahmen aus den Alpen. Sophielis Augen lachten. Bald, bald würde sie sie selbst wiedersehen. Und die Mutter dachte ganz ähnlich.

„Nicht wahr, Sophieli, so gut und schön wie wir hat es doch niemand?“ sagte sie, als sie miteinander – die lange Eisenbahnfahrt lag glücklich hinter ihnen - die breite Landstraße emporstiegen. Da wandte ihr das Kind sein liebes Gesichtchen zu, und die sonnigen Augen jubelten frohe Antwort.

Am Abend, als Sophieli ihr Nachtgebet sprach, nannte sie nach dem Toneli die kleine Suzu. Die stand derweil in ihren roten Höschen vor der großen Zuschauermenge und ließ sich beklatschen und bewundern . .. Arme Suzu!

Der Mutter Gedanken waren noch mit der kleinen Fremden beschäftigt, als sie von ihrer Kinder Betten weg vor das Häuschen trat. Die Bäume rauschten träumerisch . . . Die Berge standen im Mondlicht weich und friedlich in ihre schimmernden Mäntel gehüllt.

Da kam es über die Mutter als tiefe, beseligende Gewißheit, daß Gottes Liebesmantel warm und weit genug sei, um alle frierenden kleinen Mädchen, um auch die kleine Suzu darein zu hüllen.