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Maxi und Daxi waren immer zusammen gewesen, solange sie zurückdenken konnten.
Natürlich! Der liebe Gott hatte sie ja zusammen zu Vater und Mutter geschickt, und weil man das nicht hatte voraussehen können, mußten sie zuerst in eine m Bettchen schlafen, und da sie so klein und schmal waren, wurden sie gar in ein Steckkissen gelegt.
Später ging das freilich nicht mehr. Die zwei bekamen runde, kräftige Gliederchen
und starke Fäustchen - da brauchte jedes ein Bettchen für sich. Neben Mutters
großem Bett stand das eine, auf Vaters Seite das andere. Wie war das lustig, am
Morgen früh aufzuwachen und so lange zu schwatzen und zu lachen, bis Vater und
Mutter aufwachten und auch zu lachen und zu schwatzen anfingen. Und während des
unausstehlichen Anziehens und des noch sschrecklicheren Waschens wurde
Vaters Stimme klang tief und dröhnte wie die Orgel in der Kirche. Maxi, weil er ein Junge war, wollte dies immer nachmachen, aber seine helle Zirpstimme paßte nicht recht dazu. Daxi sang hoch wie eine frohe kleine Lerche, und Mutters Stimme war das Schönste, das man sich denken konnte. Davon waren Maxi und Dari fest überzeugt und Vater beinahe auch. Mutter hatte ja auch Sängerin werden wollen. Sie war lange bei einem Professor gewesen. Der hatte ihr jeden Tag so wunderschön vorgesungen, daß Mutter es allmählich auch gelernt hatte. Aber gerade wie sie angefangen, in einem prächtigen Seidenkleid vor vielen, vielen Leuten in einem großen Saal zu singen, hatte sie Vater kennen gelernt.
Das war immer von neuem erstaunlich, daß Vater und Mutter nicht immer beisammen gewesen waren wie Maxi und Dari.
Mutter war zu Vater in das große srtille Pfarrhaus gezogen, das ein bischen höher
lag als die andern Häuser im Dorf. Fünfzig Stufen führten zur Haustüre hinauf,
was die alten Tanten
Darauf antworteten die alten Tanten und Onkel immer eine Menge Sachen, die Maxi
und Daxi gar nicht verstanden, wenn sie auch ihre blauen Augen erstaunlich weit
aufrissen. Sie verstanden nur, daß Onkel Robert Mutter hie und da tätschelte und
„gutes Kind“ nannte, und da mußten sie immer so furchtbar lachen. Mutter war
doch kein Kind! Sie durfte zu Bett gehen, wann sie nur wollte; sie konnte, ohne
sich zu strecken, ganz mühelos einen Brief einwerfen. Man dente, Mutter ging
jeden Tag in die Küche und gab alles an, was sie gerne zu Mittag essen mochte;
und ihre Kleider gingen nicht wie Darxis bis ans Knie, sondern hüllten ihre
schlanke Gestalt lang und lose ein. Daxis Locken wehten frei und lustig um ihr
rundes Gesicht, Mutter hatte nur einige wenige, die immer in die Stirne fallen
wollten, die übrigen Haare waren in zwei schwere Zöpfe
Einmal hatte Vater ein Lied gesungen: „Wie bist du meine Königin“. Er hatte Mutter dazu angesehen, die mitten im Abendlicht unter dem Fenster gestanden, und da hatten Maxi und Daxi mit einem Malegesehen, daß Mutter eine Krone, eine wirkliche schimmernde Krone trug, und ganz begeistert hatten sie in Vaters Lied eingestimmt:
„Wie bist du meine Königin“.
Wenn man in den Garten wollte, mußte man nicht alle fünfzig Stufen hinaufsteigen.
Bei der achtunddreißigsten war eine kleine Plattform, „zum Ausschnaufen“, sagten
die alten Tanten und Onkel, und da führte nach jeder Seite ein kleiner Weg in
den Garten. Auf der linken Seite spielten die Kinder nie. Da waren Beete mit so
wunderschönen Blumen, daß man ganz ehrfürchtig und still in den sauberen Wegen
umhergehen mußte. In der Ecke stand „Hildes-Ruh“, so hatte Vater die Laube
genannt, weil Mutter, wenn sie Stille haben wollte, immer dorthin ging. Die
Laube war dicht mit wildem Wein und Geisblatt bewachsen,
In Mutters Laube wurden auch Geschichten erzählt. Schneewittchen mit seinen sieben Zwergen, Rotkäppchen, „die süße kleine Dirn“, das Schwesterlein, das sich, um die Brüder zu erlösen, das Fingerchen abgeschnitten, alle kamen sie in die dämmrige Laube herein, wenn Mutter zu erzählen anfing.
Und da waren drei Geschichten, die mußten immer wieder erzählt werden, weil sie so wunderschön waren.
Maxi wollte die Geschichte haben von dem armen Mann, der von Räubern
ausgeplündert am Wege liegen geblieben war. Wenn Mutter
Daxis Geschichte war „Die Geschichte einer
Mutters Geschichte konnte man in einem Spruch zusammenfassen: „Lasset die Kindlein zu mir kommen“.
Von der Plattform führte auch nach der rechten Seite ein kleiner Weg — ins
„Kinderland“. So hatte Vater den runden Platz benannt, in dessen Mitte ein
ungeheurer Nußbaum stand. Nein, wie konnte man nur so groß sein, so groß! Seine
Zweige beschatteten den ganzen weiten Platz; sie reichten bis dicht an die
Scheiben der Wohnstube, sie lagen auf der alten Mauer, über die niemand, selbst
der große Vater nicht, hinwegsehen konnte. Ja, sie berührten nahezu
Und waren doch all die Zeit mitten drinnen... Aber das erkannten sie erst viele, viele Jahre später. Unter dem Nußbaum stand die „Dreckelbank“.
Die anderen Gartenbänke und Tische waren grün angestrichen und mußten deshalb mit
Anstand behandelt werden. Aber die Dreckelbank war mit keiner Farbe bestrichen;
man konnte auf ihr herumgehen, ja stampfen, man konnte auf ihr Erdkuchen backen
und sie mit Wasser begießen. Es tat nichts, wenn die schöne „Schokoladencreme“
über die ganze Bank lief. Die große starke Marie stellte sie nachher
Sonntags wurde immer artig gespielt, d. h. es durfte nicht gedreckelt werden. So
wurden Soldaten aufgestellt oder man spielte mit der Puppenstube. Daxi konnte
ebenso gut eine begeisterte Speerjungfrau als ein zärtliches Mütterchen sein.
Maxi war, nachdem er den bunten Soldatenrock ausgezogen, ein höchst solider
Hausvater. Seine Rolle war auch keine allzu schwierige. Da er den etwas zu lang
geratenen Papa zu vertreten hatte, der seine steifen Beine sso unbequem in die
Stube streckte und von allen Sesseln abrutschte, mußte er zu jeder Tages- und
Nachtstunde „ins Geschäft“ abziehen. Das „Geschäft“ war eine kleine Tanne, auf
deren grüner Spitze der unglückliche Vater kunstvoll aufgespießt wurde. Dann
kehrte Maxi auf sein Stühlchen neben die Schwester zurück und hörte und schaute
bewundernd zu. Er durfte manchmal noch eine kleine Nebenrolle übernehmen, etwa
für den unartigen Buben schreien, oder als „Marie“ fragen, was man zu
Maxi und Daxi waren ganz überzeugt, daß es nur eine Treckelbank in der Welt gäbe,
und das war eben die ihre. Wenn man sie umstürzte, diente sie als Schiff.
„Hurtig einsteigen !“ schrie Mari, und nun war er in seinem Element. Unsichtbare
Schrauben wurden gedreht, Segel aufgezogen, und wenn dann das Schiff endlich
flott war und auf der blauen Flut schaukelte, hatte der rastlose kleine Kapitän
immer noch keine Ruhe. Ein in der Bank aufgestellter Schemel war die
Kommandobrücke, von der aus wurde Umschau gehalten nach anderen Schiffen, nach
Ertrunkenen oder Piraten. Das letzte Wort sprachen Mari und Daxi immer mit einem
wonnigen Grausen aus. Sie kannten seine Bedeutung ganz und gar nicht, nur daß
Piraten etwas mit der See zu tun haben, hatten sie einmal aufgeschnappt. Die
Rettung
Wenn die Sonne auf das Wasser schien, war es besonders schön. Mutter hatte nicht umsonst Andersens Märchen von der kleinen Seejungfrau erzählt.
„Dari, siehst du die wunder-wundervollen Korallen und das Perlmuttersschloß ?“
„Maxi, siehst du die kleine Seejungfrau ? Ach, nun ist sie eben weggeschlüpft, weißt du, unter die rote Trauerweide, die in ihrem Gärtchen steht. Nur ihr Schwänzchen guckt noch hervor.“
„Ja, ja!“ lacht Maxi, „und hier kommt die alte Großmutter ~ Königin, die sich zwölf Austern eingeklemmt hat!“
Aber manchmal ziehen finstere Wolken auf, und die Wellen werden hoch und drohend, da muß man schnell in den Hafen einlaufen und sich mit einem großen Satz aufs Trockene retten.
Die Dreckelbank läßt sich auch aufrichten, so daß sie nur auf zwei Beinen steht oder besser sitzt. Die andern zwei Beine, will sagen Arme, streckt sie hilfeflehend steif in die Luft. Nun wird ihr ein Körbchen angehängt oder ein winziges Taschentuch. Marie, immer bereitwillig, leiht eine ihrer großen blauen Schürzen, die mit Hilfe eines Stühlchens der Dreckelbank umgebunden wird, und nun kann die Fahrt mit dem „Kinde“ losgehen. Der kleine dicke Vater und die feingliedrige, leichtfüßige Mutter schieben und rücken unter viel Gekreisch und Lachen ihr plumpes Kind vorwärts, rund um den Nußbaum herum, immer wieder, immer wieder . ..
Die Dreckelbank kann noch etwas ~ sie kann -- es ist kaum glaubhaft! ~ sie kann
Geschichten erzählen. Natürlich Maxi und Daxi hören sie nicht reden, sie haben
nur Kleinkinderohren und die verstehen so etwas nicht, sagt Vater. Aber er,
Vater, hört die allerseltsamsten Geschichten, wenn er abends auf der Dreckelbank
sitzt, und er erzählt sie Maxi und Daxi wieder. Mutter hört auch gern zu, denn
merkwürdigerweise hat sie auch noch Kleinkinderohren,
Am Sonntag darf man früh morgens nicht sehr lärmen und man tut es schon von
selbst nicht. Der liebe Gott ist ja wohl immer da und sieht Maxi und Daxi zu,
wie sie spielen und herumtollen, aber am Sonntag scheint er doch besonders nahe.
Die Glocken läuten schon in aller Frühe „Sonntag, Sonntag !“ Man bekommt das
schönste Höschen und niedlichste Kleidchen an, und Marie schlägt jedesmal die
Hände zusammen
Nach dem Frühstück geht Vater in sein Studierzimmer, und Mutter hält mit Maxi und Dari Kirche. Sie spielt erst einen Choral auf dem Klavier, und Maxi und Dari singen so gut sie können mit. „Die güldne Sonne“ und „Geh aus mein Herz und suche Freud“ sind Daris Lieblingslieder. Da kann man so froh mitsingen und versteht auch vieles. Mutter singt oft drei, vier Choräle, weil ihr Singen Vater gute Gedanken gibt; nachher holt sie die große Bilderbibel und beschaut und bespricht mit Maxi und Dari die längst vertrauten und immer aufs neue bewunderten Bilder. Am Schluß wird immer die erste weiße Seite des Buches aufgeschlagen. Da steht von Tante Lises Hand geschrieben: „Den zwei Sommervögelein Max und Dagmar.“ Tante Lise wohnt in der Schweiz. Da nennt man die Schmetterlinge Sommervögel, und Tante Lise fand immer, Mari und Dari glichen aufs Haar zwei weißen Faltern, wenn sie lustig spielend um den alten Nußbaum schwirrten.
Maxi und Daxi spielen selten mit anderen Mutter ist froh, daß der Pfarrhausgarten so hoch und geschützt liegt. Sie weiß wohl, daß sie das Böse und Dunkle von ihren Sommervögelein nicht ferne halten kann, denn das Böse sitzt auch in Maxis und Daxis Herzen und macht sich gelegentlich in trotzigen Mäulchen und zornigen Augen Luft. Aber das kann Mutter bald in Ordnung bringen. Sie fürchtet nicht so sehr das Böse im Garten, als das, das draußen lauert.
So gehen Maxi und Daxi nur an Mutters Hand ins Dorf hinunter. Sie gehen gern, denn da ist immer etwas Neues zu sehen: Gänse, Hühner, junge Schweinchen oder gar ein neugeborenes Kälbchen, das mit friedlichen Augen um sich sieht. Und manchmal dürfen Maxi und Daxi Kranke besuchen. Da geht Mari begeistert mit ~ er will ja ein Samariter werden. Einmal wollte er eine ganze Flasche Salatöl mitnehmen, weil er gehört hatte, daß ein Junge sich am Knie verletzt hatte.
Die Kranken freuen sich sehr über den Kinderbesuch, aber manchmal seufzen sie
auch, wenn sie sehen, wie flink die kleinen Beine sich bewegen
Mari und Darxi strecken sich. Auf dem Weihnachtstissch liegen neben allem Spielzeug ernste Dinge: zwei Schulranzen, zwei Federnschachteln, zwei Bund Griffel und zwei Schwammbäürchschen. Im Frühling sollen Maxi und Daxi in die Dorfschule eintreten. Dann dürfen sie nicht mehr zu jeder Stunde um den Nußbaum tollen, die Drekkelbank wird traurig und gelangweilt im Garten stehen und warten.
Aber noch ist es nicht Frühling, sondern herrlicher, strahlender Winter.
Als Maxi und Daxi eines Morgens aufwachten, stand im Garten beim Nußbaum ein riesengroßer Schneemann, den hatte ihnen der gute Winterkönig durch seine Diener machen lassen. Maxi und Daxi tanzten und kreischten um den Schneemann, warfen ihn mit Bällen, suchten ihn umzurennen, aber er stand stolz und fest.
Als die frühe Winternacht anbrach, rief Mutter die Kinder ins Haus. Sie stand
seltsam weiß und still im Rahmen der dunkeln Haustüre,
Die Haustüre schloß sich, der Schneemann stand ernst und still in dem schweigsamen Kinderland.
Dann kam eine unruhige Nacht. Maxi und Daxi wachten spät und verwirrt auf ~ ihre kleinen Betten standen im Kinderzimmer. Was war das nur? Marie kam mit rotverweinten Augen, kleidete sie an und schluchzte dabei einmal ums andere. Erst als Maxi und Daxi jämmerlich zu weinen anfingen, nahm sie sich zusammen und erzählte in einem mühsam frohen Ton, Mutter sei in der Nacht krank geworden. Maxi und Daxi sollten nun artig spielen und nicht lärmen.
Nein, natürlich nicht. Man konnte doch nicht lärmen, wenn Mutter krank war, man
konnte nicht einmal spielen. Eng zusammengedrängt saßen die Sommervögelein auf
der Fenssterbankund horchten
Am Mittag kamen Großmama und die lustige junge Tante Trude. Maxi und Dari lebten ein bischen auf bei ihrem Anblick, aber auch Tante Trude war nicht wie sonst. Ihre frohen dunkeln Augen lachten nicht, sie sagte nicht: „Habe die Ehre, Fräulein Dagmar, und empfehle mich Ihnen, Herr von Max.“ Sie zog Maxi und Daxi so fest in ihre Arme, als wollte sie sie zerdrücken und dann sagte sie : „Wißt ihr schon, daß ich euch mit in die Stadt nehme ?“
In die Stadt? War das herrlich! Nun mußte ja in aller Eile gepackt werden, Kleidchen und Schuhe und Schürzen, Soldaten und Puppen. „Bringt mir alles, soviel ihr wollt!“ sagte Tante Trude immer wieder. Sonst durften sie immer nur ein oder zwei Sächelchen mitnehmen. Aber Tante Trude hatte den großen Kosfer vom Boden holen lassen, der faßte viel, und ein Stück Kinderherrlichkeit nach dem andern versank darin. –
Mari und Dari wußten nicht, wie ihnen geschah. Mit einem Male fanden sie sich, warm eingehüllt, in der Eisenbahn. Auf dem Bahnsteig stand Marie und trocknete sich immer wieder das Gesicht mit einem roten Taschentuch. „Bist du so traurig, weil wir fortgehen ?“ fragten Maxi und Daxi. Da weinte Marie noch stärker, und nun sahen Maxi und Daxi, daß auch Tante Trude ein so todtrauriges Gesicht hatte, wie ~ ja wie die arme Frau es gehabt, der das kleine Kindchen gestorben . . .
Ein unfaßbares, jähes Grauen überkam die Kinder. Der Zug machte die ersten sachten Bewegungen, da schnellten sie mit leisem, verzweifeltem Weinen empor. Sie schauten nach dem hohen, weißen Pfarrhaus hinüber, sie streckten schmale flehende Hände danach aus: „Mutter, Mutter“.
Der Zug fuhr langsam, dann rascher, ein Häuschen nach dem andern verschwand; noch war der schlanke Kirchturm und das stille weiße Haus sichtbar, dann versank auch dieses, und ferne und tief verschneit lag Maxi und Darxis Kinderland.
„Jetzt wird Mutterchen bald kommen!“ dachte die kleine Christine, während sie dem Geklingel der alten Kirchenuhr auf St. Pierre lauschte . . . „fünf, sechs, sieben, ja, jezt darf sie aufhören. Armes Muttchen! Sie wird schrecklich müde sein, nachdem sie diesen heißen Tag lang geplättet hat.“
In Christines sanftes Gesichtchen trat ein sorgenvoller Zug. So schmerzlich ernsthaft schauten die eben noch lachenden Augen drein, daß man glauben konnte, ein großes, verständiges Menschenkind vor sich zu haben, statt eines achtjährigen kleinen Mädchens.
Leiden und Not reifen schnell, und Chrisstinchen kannte beides. Sie war lahm, die
arme Kleine. Nicht von Geburt an. O nein, es hatte eine Zeit gegeben, da
sprangen muntere Füßchen dem heimkehrenden Vater entgegen, da mußte manches Paar
kleinwinzige Schuhe gekauft werden, da mußte die
Die kleine Christine war noch nicht drei Jahre alt gewesen, als sie von einem Schlaganfall betroffen worden war, und von da an mußte das lebhafte kleine Menschenkind lernen, stille zu liegen oder zu sitzen. Wäre sie reicher Leute Kind gewesen, hätte man wohl teure Operationen und Kuren mit ihr vorgenommen, man wäre in berühmte Bäder gereist: aber Christinchens Eltern waren arm.
Der Vater arbeitete in einer Fabrik, die etwas vor dem Dorfe stand, in dem die kleine Christine geboren war. Die Mutter nähte und plättete. Manchmal war sie einen ganzen Tag in einer der schönen Villen, die höher am Berg hinauf , hinter dem Dörfchen, lagen; aber um Christinchen brauchte sie sich nicht zu bangen. Es fand sich immer jemand, der die Kleine mit dem strahlenden Kindergesichtchen bei sich aufnahm.
Wie schön waren dann die Abende, wenn Vater und Mutter nach Hause kamen und sich ihr kleines Mädchen holten!
Christinchen wußte nicht viel von diesen Tagen,
Als das Unglück über die kleine Christine hereinbrach, ging die Mutter nicht mehr auf Arbeit aus. Sie konnte es nicht übers Herz bringen, ihr armes Kind zu verlassen, und der Verdienst des Vaters reichte für die kleine Familie.
An diesen Winter, in dem Christinchen vier Jahre alt geworden, konnte sie sich noch gut erinnern. An das kleine, trauliche Stübchen, durch das der Montblanc in all seiner weißen Pracht hereinlugte, an die Abende, wo sie auf Vaters Knien saß und sich so sicher in seinen starken Armen fühlte.
O, auch an den schrecklichen Tag erinnerte sie sich, da man den Vater tot heimgebracht. Er hatte eine kleine Bergtour gemacht mit ein paar alten Schulfreunden. Mutter war so froh gewesen über Vaters freien Tag. Sie hatte, ihr kleines Mädchen im Arm, ihm lange, lange nachgejubelt und -gelacht, und er hatte den alten Filzhut geschwenkt und einen prächtigen Jodler nach dem andern zu Frau und Kind zurückgeschickt.
Und dann sahen sie sein liebes, fröhliches Gesicht nie mehr. Keiner der Kameraden hatte ihn stürzen sehen, der Sturz selbst war nicht tief gewesen; aber der Mann war unglücklich auf die harten Felsen aufgeschlagen, und als die Männer ihn fanden, war er schon tot.
Die kleine Christine hatte ihren Vater sehr geliebt, aber sie war zu klein, ihren Verlust zu fassen. Sie weinte, wenn sie ihre Mutter weinen sah, und sie weinte auch — heiße, bittere Tränen , als sie das liebe kleine Häuschen verlassen mußten, um in die große, große Stadt zu ziehen. Niemand kannte hier die kleine Christine. Keine Nachbarin schaute mit freundlichem Gruß zum Fenster herein, kein zerzauster Kinderkopf tauchte davor auf, um ihr etwas Lustiges zu erzählen oder einen Apfel aufs Fensterbrett zu legen. Wer das jetzt tun wollte, mußte sich tief, tief bücken; denn das Zimmer, das Christine mit ihrer Mutter bewohnte, lag tiefer als die Straße und das Fenster war auf gleicher Linie mit dem Gehweg.
Christine, die sonst auf die herrlichen Savoyerberge, auf den schimmernden
Montblanc geblickt, sie sah jetzt nichts als die Straße, auf der rasselnde
Die Mutter fing an, mehr und mehr auszugehen. So weh es ihr tat, ihr kleines
Mädchen den ganzen Tag allein lassen zu müssen, so freute sie sich doch über die
stetig wachsende Kundschaft. Bald waren alle Tage der Woche regelmäßig besetzt;
nur den Samstag hielt sich die Mutter frei, und so war dieser Tag, der für
manche Kinder der schrecklichste Tag der Woche ist, ein Freudentag für die
kleine Christine. Sie schaute da kaum zum Fenster hinaus. Sie mußte die Mutter
beobachten, wie sie das Zimmer fegte und säuberte, bis alles blizblank war. Dann
kam die kleine
Der Sonntag war noch schöner als der Samstag. Die Mutter ging selten zur Kirche. Sie las und betete mit ihrem kleinen Mädchen, sie sang auch mit ihr und freute sich in der Stille an dem feinen, süßen Stimmchen.
Am Nachmittag, wenn die Straße nicht gar so belebt war, nahm sie bei schönem Wetter Christinchen auf den Arm und setzte sich mit ihr auf die Hausstaffel. Da konnte die Kleine doch wenigstens den Himmel sehen, und sie freute sich an den weißen Wolken und stellte sich vor, es seien silberblitzende Segel und der blaue Himmel ihr vielgeliebter schimmernder See.
Am Abend durfte Christinchen länger aufbleiben als gewöhnlich. Die Lampe wurde nicht angezündet, da die Mutter nicht zu nähen brauchte. In dem heimeligen Dämmerlicht, oft auch bis es ganz dunkel wurde, saßen die beiden eng aneinander geschmiegt, und sprachen und erzählten von den fernen schönen Tagen im kleinen Dörfchen.
„Mutterchen!“ fragte einmal das kleine Mädchen, „warum habt ihr mich Christine genannt? Du heißt doch Luise und beinahe alle meine Freundinnen im Dorf heißen wie ihre Mütter.“
„Das will ich dir erzählen, Herzchen! Siehst du, Vater wohnte als kleiner Junge
im Berner Oberland, wo man nicht wie bei uns französisch, sondern deutsch
spricht. Dann kam er als junger Bursche in unsere Gegend, fand eine gute Stelle
und ist nicht mehr in seine Heimat zurückgegangen. Als wir uns kennen lernten,
hat er anfangs versucht, mich seine Sprache zu lehren, aber Kindchen, deine
Mutter war zu dumm, diese schrecklich schwere Sprache zu lernen. Ich konnte die
harten Laute gar nicht aussprechen, der Hals tat mir weh davon. Dann lachte dein
Vater und ich lachte auch, und wir sprachen eben nach wie vor französisch. Aber
wenn ich auch die deutsche Sprache nicht gelernt habe, so habe ich doch einige
deutsche Sitten und Gebräuche angenommen. Erst deinem Vater zuliebe, später
behielt ich sie bei, weil ich sie selbst nicht mehr missen mochte. Daher kommt
es auch, daß wir immer an Weihnachten ein kleines, mit Lichtern und Äpfeln
geschmücktes Bäumchen
Als die Kerzen des Christbaums zum drittenmal bei uns brannten, konnte ich sie kaum sehen vor lauter Glück und Freude, denn gerade an dem Tage, mein Herzenskind, hatte der liebe Gott dich uns geschickt.
Ich kann den Abend nie vergessen. Der Vater hatte das brennende Bäumchen in unser
Schlafkämmerchen getragen, denn ich lag im Bett und hatte dich im Arm und war so
froh, so froh, daß ich es gar nicht sagen kann. Du warst ein süßes, kleines
Kindchen, gar nicht so häßlich rot, wie sonst neugeborene Kinder sind. Nein,
dein Gesichtchen war weiß und seidenweich, ich hätte es nur immer ansehen und
streicheln mögen. Dein Vater saß neben mir und strahlte vor Glück, da klopfte
plötzlich jemand an das vordere Fenster.
Ich freute mich so sehr, meiner Mutter ihr erstes Enkelkind zeigen zu können, daß ich es kaum erwarten konnte, bis dein Vater ihr die Tür öffne. Ich machte ein sehr erstauntes Gesicht, als er, anstatt zu öffnen, noch einmal bei mir eintrat. , Warum machst du denn nicht auf?: fragte ich ein bißchen ungeduldig. Da lächelte er nur, legte erst ein kleines Kissen auf den Tisch, dann nahm er dich aus meinem Arm und legte dich darauf, gerade unter den brennenden Christbaum. Die grünen Zweige berührten beinahe dein kleines schlafendes Gesichtchen, das wie eine weiße Blüte darunter hervorssah.
Ich schaute dich an und bat den lieben Gott, er möge doch alle die Weihnachtskerzchen so helle in dein kleines Herz leuchten lassen, daß es darinnen nimmer dunkel und traurig aussehen könne.
Da ging die Türe auf, meine Mutter kam mit frohem Gesicht auf mich zu, hinter ihr
trat der Vater ins Zimmer und sagte, auf das Bäumchen
„Ja, das kannst du!‘ lachte der Vater, und um dich noch stolzer zu machen, wollen wir ihm als zweiten Namen den deinen geben. Sein erster Name aber, sein Rufname, muß Christine sein, denn am Christabend ist es geboren und sogar unter dem brennenden Christbaum gelegen.‘
So, nun weißt du, warum du Christinchen heißt, mein Liebling !“
„Ach, wie schön, Mutterchen! Wie wunderschön! Nun will ich immer daran denken, daß du gebetet hast, mein Herz möge immer helle sein. Und wenn ich traurig werden will, mache ich schnell ein frohes Gesicht. Freut dich das, Muttchen ?“
„Mein Herzenskind !“ murmelte die Mutter und küßte das blasse Gesichtchen.
Den Montag liebte die kleine Christine am wenigsten von allen Tagen. Da lag die
ganze einsame Woche vor ihr, die sich so erschrecklich lange ausnahm , als könne
sie nie ein Ende nehmen.
Jeden Morgen, etwas vor acht Uhr, kam immer mit lautem Geklapper ein mit Nägeln beschlagenes Paar Bubensschuhe vorbeigesprungen. Wenn der Junge nur einmal auf der Straße gegangen wäre, sso daß Christinchen ihn hätte sehen können! Sie dachte ihn sich groß und stramm, mit lachenden Augen und roten Backen.
Des Morgens schritten auch auf die Arbeit gehende Männer am Fenster vorbei. Das
machte Christine für ein paar Augenblicke ernst und sinnend. Wie schön wäre es,
der Vater ginge unter ihrer Schar! Sie konnte sich seiner nur undeutlich
erinnern, aber er lebte troßdem in ihrem kleinen Herzen. Es verging ja kein Tag,
an dem
Später am Tag fand Christinchen anderes zum Träumen. Schlanke, elegant beschuhte Füßchen glitten an ihrem Guckloch vorbei. Seidene Röcke knisterten, und die Kleine schaute beinahe andächtig auf die prächtigen weißen Spitzen und Stickereien. Wenn sie einmal der Mutter einen seidenen Rock schenken könnte! Einen knisternden schwarzen Seidenrock. Eine andere Farbe würde Mutterchen ja doch nicht tragen. Aber ach! sie, Christinchen, konnte nie etwas verdienen. Sie war ganz nutzlos und konnte keinem Menschen etwas helfen. Armes kleines Mädchen! Wenn diese Gedanken aufstiegen, half alles Leben auf der Straße nichts, half kaum das Denken an der Mutter Gebet, sie zu zerstreuen; sie ließen sich schwer vertreiben und kehrten wieder und wieder.
Wenn die Kleine der Mutter ihr Abendgebet aufgesagt hatte, fügte sie immer noch leise, so daß diese es nicht hören konnte, hinzu: „Und lieber Gott, laß mich doch nur einmal jemandem etwas helfen können.“ über das Wie machte sich das Kind keine Gedanken, das mußte doch der liebe Gott selbst wissen.
An einem hellen Sommermorgen saß Christinchen wieder am gewohnten Plätzchen und schaute sehr vergnügt zwischen dem Gitter, das als Schutz vor dem Fenster angebracht war, hindurch. Schon oft hatte sie dieser Anblick an ein Gefängnis erinnert, und sie hatte sich als kleine Gefangene gefühlt und die wunderssamsten Pläne zu ihrer Befreiung entworfen. Heute dachte sie nur daran, wie schön der Sonnenschein sei, wie warm die Luft und wie hübsch all die hellgekleideten Leute.
Plötzlich ließ sich ein dickes Etwas gerade vor ihrem Gesicht nieder. Sie fuhr halb erschrocken zurück, da streckte sich eine feste, kleine Hand zwischen den Stäbchen hindurch und packte die lustige Locke, die immer aus der Schleife hüpfte und in Christinchens Stirn hereinhing.
Christinchen griff schnell nach der kleinen Patschhand, da lachte das dicke Etwas
hell auf, und Christinchen schaute ein rundes, stumpfnäsiges Gesichtchen, das
sie mit großen, blauen Augen anfunkelte. Das war noch nie vorgekommen, daß
Christinchen einen kleinen Gast gehabt hätte. Hie und da hatte wohl ein
neugieriges Kindergesicht zu ihr hereingeschaut, aber nur auf kurze Augenblicke.
„Ja, beiben, immer beiben!“ lachte das Jungchen vergnügt und kniff so drollig die Augen ein, daß Christinchen hell auflachen mußte. Sie machte ihm mit ihren Fingern allerlei Kunststücke vor, und als sie nichts mehr wußte, nahm sie ihr Taschen tuch und knüpfte daraus ein possierliches kleine: Männchen. Nun ging der Spaß erst recht los.
„Wie heißt du?“ fragte Christinchen de fleinen Jungen. „Peter Mamasatz !“ war die prompte Antwort.
„Siehst du, kleiner Peter, das ist nun dei Püppchen, wir wollen es Hans nennen.
Sieh, wie es lustig hüpfen kann.!“ Chrisstinchen ließ das närrische Ding in die
Höhe schnellen, mit dem Kopfe wackeln und was dergleichen Possen mehr waren. Sie
wurde selbst ganz ausgelassen dabei,
Doch Peterchen wurde allmählich müde und hungrig und verlangte immer energischer nach dem Apfel. Christinchen besann sich, ob sie wohl einmal der Mutter Gebot zuwider handeln und vor zwölf Uhr essen dürfe, da fing das Glockenspiel auf St. Pierre an zu läuten, und Christinchen zählte frohen Herzens zwölf Schläge.
Peterchen lebte neu auf, als er eine Butterschnitte, eine Wurstscheibe und den halben Apfel erhielt. Dem kleinen Mädchen aber hatte sein Mittagsmahl noch nie so gut geschmeckt, obwohl sie ja die Hälfte weggegeben, denn Peterchens blaue Augen lachten so vergnügt, daß sie darüber alles andere vergaß.
Nachdem Peterchen sich gesättigt hatte, stellte er sich etwas mühsam auf die dicken Beinchen und sagte: „So, ett Mama dehen!“
Christinchen schrak plötzlich zusammen; sie hatte
„Bleib doch noch bei mir, Peterchen!“ schmeichelte sie, „Mama wird dich schon holen. Sieh, du weißt den Weg ja doch nicht, da ist es besser, du wartest noch ein bischen, nicht wahr, Peterchen ?“
Peterchen steckte einen Finger in den Mund, schaute mit ungeheuer geistreichem
Gesicht die Straße hinauf und hinab, dann ließ er sich mit einem tiefen Seufzer
auf seinen alten Platz nieder, streckte
Christinchen war selig, daß es ihr gelungen war, den kleinen Kerl festzuhalten. Sie ergriff mit der einen Hand eines der dicken Patschchen und fing süß und fein an zu singen: „Schlaf, Püppchen, schlaf !“
„Nich Püppsen – Peter!“ verbesserte da der kleine Mann, und Christinchen setzte
gehorsam statt des Püppchens einen Peter an die Stelle. Zu ihrer großen
Überraschung schlossen sich, noch ehe sie das Lied zu Ende gesungen, die
lustigen Blauaugen, die eine Hand hielt mit festem Griff einen von Christinchens
Fingern umklammert. Diese wagte sich kaum zu rühren. Erst machte es ihr Freude,
die warme, kleine Hand zu fühlen, doch allmählich fing die ihre an zu schmerzen.
Auch Arm und Rücken taten ihr weh von der steifen, unbeweglichen Haltung, aber
sie dachte nicht daran, ihre Hand wegzuziehen. Armes kleines Chrisstinchen! Sie
hatte nie ein Brüderchen oder Schwesterchen gehabt und wußte deshalb nicht, wie
tief diese kleinen Menschenkinder zu schlafen pflegen. So hielt sie ihren Arm
geduldig ausgestreckt und versuchte,
Tiefer sank das dunkle Köpfchen, immer tiefer, bis es auf den ausgestreckten Arm zu liegen kam. Doch selbst im Schlaf ließen Christinchens Finger Peters Händchen nicht.
Die Kleine dachte kaum die Augen geschlossen zu haben – in Wirklichkeit war mehr als eine Stunde verflossen ~ als sie plötzlich aufschreckte. Ein Laut war an ihr Ohr gedrungen, der rasch allen Schlaf vertrieben hatte. Es klang wie ein Jauchzen und doch wie ein Schluchzen, und dann sah Christinchen, wie draußen vor dem Fenster eine junge Frau neben Peterchen kniete und ihn stürmisch an sich drückte. Der Kleine wachte auf, schaute mit staunenden Angen um sich, dann verzog er den Mund zu einem breiten, zufriedenen Lächeln und sagte, auf das Fenster deutend: „Das Didin! Tann söhn pielen!“
Die junge Mutter schaute auf das blasse Mädchengesicht, auf die kleine, elende Gestalt, und ein heißes Mitleid sprach aus ihren Augen, die blau und freundlich waren wie die ihres Bübchens.
„Kann ich zu dir hereinkommen, oder bist du eingeschlossen?“ fragte sie. Christinchen nickte. „Ich bin eingeschlossen, aber ich habe den Schlüssel, Mutter reicht ihn mir immer durchs Fenster herein,“ sagte sie schüchtern und legte ihn in die ausgestreckte Hand der jungen Frau.
Wenige Augeublicke später ging die Türe auf und die blonde Frau rückte sich einen Stuhl zurecht, nahm ihr Bübchen auf den Schoß und ließ sich alles erzählen. Nicht nur die Erlebnisse des einen Tages, nein, auch sonst so vieles, was das kleine Mädchen bewegte. Christinchen wußte selbst nicht, wie es kam, daß sie der fremden Frau so rückhaltslos vertrauen konnte; aber ihr war, sie kenne diese gütigen Augen und diese helle Stimme schon lange, lange.
Peterchen ward unruhig und verlangte nach Hause. Die junge Frau erhob sich und
neigte sich zu Christinchen herab. Sie nahm das schmale Gesichtchen zwischen
ihre Hände und sagte, tief in die dunkeln Augen schauend: „Gott behüte dich,
mein liebes Kind! Du hast mir heute einen großen, großen Dienst getan! Wenn du
nicht so lieb mit meinem kleinen Jungen gespielt hättest, wäre er
Die Türe ward verschlossen, der Schlüssel von Peterchen durchs Fenster hereingereicht, dann war Christinchen wieder allein. Aber was für ein glückliches, kleines Mädchen war sie geworden! Sie war nicht mehr ein mutloses Menschenkind, nein, der liebe Gott selbst hatte sie gebraucht, daß sie ihm eines seiner Kinderchen hüte.
Als am Abend die arme, müde Mutter nach Hause kam, fand sie ein Kind, das überströmte von Glück und Seligkeit und das ihr nicht genug erzählen konnte von einem dicken Peterchen und von seiner lieben, sanften Mutter, der sie, das lahme, kleine Mädchen, einen Dienst, einen großen Dienst erwiesen habe.
Das war Christinchens großer Tag.
Der Sanitätsrat Siegel erstieg pustend die hohen Stufen eines Eisenbahnwagens,
der in der hell erleuchteten Halle des Genfer Bahnhofs stand. In dem behaglich
durchwärmten Abteil der zweiten Klasse angelangt, warf er den schweren
Pelzmantel von sich und setzte sich tiefaufatmend auf die weichen Polster. Das
Kupee war leer und würde es wohl auch bleiben, wenigstens dachte dies der
Sanitätsrat mit einem nahezu grimmigen Lächeln. Man schrieb ja den 24. Dezember,
da blieb doch jedermann zu Hause und feierte Weihnachten. Nur er nicht. Geradezu
davongelaufen war er vor den festlich erleuchteten Zimmern mit ihren
Tannenbäumen und Gabentischen. Im eigenen Heim bescherte ihm niemand. Lange
Jahre hindurch hatte es die Mutter getan. Später erhielt er genug Einladungen zu
deutschen und französischen Weihnachtsabenden,
Noch fünf Minuten bis zur Abfahrt des Zuges. Herr Sanitätsrat Siegel entfaltete mit großer Umständlichkeit ein Zeitungsblatt, schlug ein Bein übers andere und fühlte, wie sich seiner in dem beinahe überheizten Raum allmählich eine wohlige Schläfrigkeit bemächtigte.
Noch drei Minuten. Da polterte etwas die
Der Sanitätsrat brummte, natürlich nur sehr leise; aber er konnte es nicht hindern, daß der kleine quecksilbrige Kerl und seine schlanke, blondhaarige Mutter ihm gegenüber Platz nahmen, nachdem sich der Kleine seiner verschiedenen Hüllen entledigt hatte. Der Zug fuhr schon längst dem See entlang, bis sich der Junge endlich mit einem tiefen Seufzer in die Ecke sinken ließ und sein Gegenüber zu studieren begann. Herr Sanitätsrat Siegel hatte die Zeitung sinken lassen und hielt die Augen halb geschlossen. Dadurch gewann sein Gesicht einen beinahe feindseligen Ausdruck, der den kleinen Jungen zu ängstigen schien.
„Maman, il n'est pas gentil!“ flüsterte er in einem hohen, deutlichen Flüsterton.
„Sprich deutsch, Herzchen, und nicht so laut! Und weißt du, so etwas darfst du gar nicht sagen. Ich finde, daß der Herr sehr freundlich aussieht. ~ Nun sieh einmal zum Fenster hinaus! Wie schnell die Häuserund Bäume und Büsche vorüberspringen!“
Der Sanitätsrat strich sich langsam mit der Hand über den Mund, um ein kleines, mutwilliges Lächeln zu unterdrücken. So, freundlich aussehend fand ihn die junge Frau, und außerdem hielt sie ihn offenbar für einen Franzosen vom reinsten Wasser. Oder war sie ihrer Sache nicht ganz sicher ? Als der Sanitätsrat die Augen öffnete, schaute er in ein ängstlich forschendes Gesicht, das ein bischen länger und schmäler war als das des kleinen Jungen, sonst aber diesem zum Verwechseln ähnlich sah. Des Sanitätsrats Augen sagten nichts; rein nichts. Er vergrub sich wieder in seine Zeitung, nicht, ohne noch gesehen zu haben, daß ein erleichtertes und kindlich frohes Lächeln über das forschende Gesicht ging.
Dann plauderten die beiden, immer in einem halben Flüsterton, um den Herrn nicht zu stören, denn trotz des kleinen Lobspruchs am Anfang ihrer Bekanntschaft schien die Mutter nicht ganz seiner Freundlichkeit zu trauen. Einmal, als der kleine Junge an ihn gestoßen, hatten ihn vier entsetzte Augen dermaßen angestarrt, daß er sich vor sich selber zu schämen begann. Er mußte wirklich einem Bullenbeißer ähneln, und das tat ihm im Grundel leid.
Die beiden fingen an, ihn zu interessieren. Was taten sie eigentlich am heiligen Abend in einer Eisenbahn? Sie waren ihm doch gewiß nicht wie er davongelaufen! Oder fuhren sie ihm erst entgegen? Wo steckte wohl der Vater? . . .
Der Sanitätsrat gab sich einen innerlichen Ruck. Was gingen ihn diese zwei an? Nichts, durchaus nichts. Und doch konnte er nicht hindern, daß ihm ein Gefühl ins Herz kroch, das verzweifelte Ähnlichkeit mit Mitleid hatte, als er sah, wie an der schmalen, weißen Frauenhand, die eben liebkosend ein rundes Patschhändchen erfaßt hatte, zwei goldene Reife blinkten. „Armes kleines Ding!“ dachte der Sanitätsrat, und „armes Kerlchen –~!“ Und er mußte weiter denken, daran, daß er selbst einmal gehungert hatte, einen Vater zu besitzen „wie andere Jungens“.
„Mutti!“ ertönte da die helle Stimme des Kleinen. „Glaubst du, wir werden allein den Weg zur Großmama finden ? Es ist sehr dunkel, weißt du!“
„Wir nehmen einen Wagen, Herzchen, aber ich sage dem Kutscher, nicht bis ganz an
das Haus zu fahren. Wir steigen aus und schleichen uns ganz leisse –~ du darfst
ja nicht lachen,
Jürgen war ganz nahe zur Mutter hingerutscht während dieser Schilderung. Nun mußte er ihr einen Kuß geben und sie ihm wieder einen, weil es zu schón war, am Weihnachtsabend zu Großmama zu fahren und sie zu überraschen. Was sie wohl zu Jürgens schön gezeichnetem Bild sagen würde? Und was hatte Großmama eingekauft ? Vor Jürgens Augen marschierten lange Reihen von Soldaten auf, stolze Schaukelpferde, glänzende Waffen und große, schwere Bilderbücher. Darüber kam ihm ein neuer Gedanke.
„Mutti,“ bat er, „gib mir bitte Olly, Dolly, Dicky‘ heraus.“
Die Mutter kramte gehorsam in der Handtasche, um endlich nebst einigen Biskuits das gewünschte Buch ans Licht zu fördern. Das hübsche Kindergesicht strahlte. „Glaubst du nicht, daß Großmama sich schrecklich freuen wird über „Olly, Dolly, Dicky‘“ ?
„Gewiß!“ lächelte die Mutter, „besonders, da du es ihr so schön vorlesen kannst.“
„Glaubst du, daß sie denken wird, ich lese es, Mutti? Ich will immerzu auf die Seite hinsehen, wo das Gedicht steht, wenn ich es aufsage. Siehst du, so.“
Die blauen Augen starrten wie gebannt auf den obern Rand der bedruckten Seite, während an des Sanitätsrats staunendes Ohr folgende Verse klangen:
Nun muß ich dich schnell etwas fragen, Mutti: Findest du die zwei nicht ganz
erschrecklich
„Aber liebes Herzchen, ich möchte weder das eine noch das andere. Ich finde beides sehr häßlich.“
„Aber wenn du wählen müßtest, Mutti! Jetzt denke dir einmal, der liebe Gott würde fragen: „Willst du lieber einen kleinen Jungen, der in der Nase bohrt, oder einen, der die Nägel kaut ?“ Was würdest du antworten, Mutti ?“
Der Sanitätsrat verspürte gar nichts mehr von Schläfrigkeit. Er war beinahe ebenso begierig, der Mutter Antwort zu hören wie der kleine Junge selbst.
Die Mutter lachte. „Na, weißt du, Jürgen, wenn der liebe Gott die kleinen Kinderchen aus dem Himmel auf die Erde schickt, sind sie noch so artig und lieb, daß sie gar nicht daran denken, dumme, häßliche Sachen zu treiben. Erst wenn sie größer werden, fangen sie manchmal an, ihre armen Näschen oder Finger zu plagen. Weißt du, ich kannte einmal einen kleinen Jungen, der lutschte am Daumen, so lange, daß man ihm zu seinem vierten Geburtstag einen Lutscher kaufte."
Jürgen bekam feuerrote Backen und Ohren.
„Das ist aber schon sehr lange her, Mutti.
Ich glaube, ich will jetzt ein bischen zum Fenster hinaussehen. Wir sind am Ende bald in Lausanne.“
Die Mutter lächelte und tätsschelte wie beruhigend die blonden Locken, die auf die roten Öhrchen niederfielen. Auch der Sanitätsrat lächelte, aber so heimlich, daß niemand es bemerkte.
Vielleicht fünf Minuten vergingen in völligem Stillschweigen. Da stieß Jürgen einen Schrei des Entzückens aus und bat die Mutter in flehenden Tönen, rasch, rasch das Fenster zu öffnen.
„Nur einen Augenblick, Mutti! Ich habe das Christkind gesehen. Ganz sicher . . . es ging durch den Wald in einem schneeweißen Kleidchen. O schnell, Mutti, mach schnell auf !“
Die Mutter rüttelte mit aller Kraft an dem Fenster, aber es wollte nicht
aufgehen. Jürgen hatte große Tränen in den Augen und zappelte vor Aufregung mit
Händen und Füßen. Da kam eine unerwartete Hilfe. Der alte Herr in der Ecke, der
dort die ganze Zeit über geschlafen, stand auf, und als er mit seinen starken
Händen am Fenster
Die Mutter schaute über Jürgens Köpfchen weg in die schweigende Mondnacht hinaus. Dichter Schnee deckte die Wiesen und Felder. Auf den Asten der Bäume lag er so schwer, daß sie wie gebeugt dastanden. Prächtig war der schimmernde Wald, über den der Mond all seine silbernen Strahlen ausgegossen. Das Licht schien über die weißen Äste niederzurieseln, tief in das mächtige Dunkel hinein . . . jetzt blitzte es hier auf, dann dort . . . das war das Christkind, das im weißen Kleidchen durch den Wald schritt .. .
Jürgen starrte mit großen, staunenden Augen in die heilige Nacht; der Mutter Antlitz war blaß geworden und ihre Augen blickten so, als ob die stille Schönheit da draußen sie schmerze. Sie bemerkte nicht, daß hinter ihr noch ein Paar Augen zum Fenster hinausschauten, Augen, die gleich den ihren einen suchenden Ausdruck trugen.
Der Wald wich zurück. Man fuhr dicht an einem Dörfchen vorbei, dann kam eine hell
erleuchtete
Jürgen setzte sich und betrachtete von neuem den alten Herrn. Er hätte jetzt gerne mit ihm geplaudert, denn die Dienstleistung von vorher hatte sein kleines Herz erobert, aber der alte Herr schlief schon wieder. Wie konnte er das nur! Freute er sich wohl gar nicht auf den Weihnachtsbaum und die vielen Sachen, die darunter lagen?
Jürgen mußte das mit Mutti besprechen, doch diese fertigte ihn ein bißchen kurz
ab und sagte nur, er solle nicht so laut sschwayen. Und Jürgen liebte es nicht,
immer zu flüstern. Seit er das Christkind gesehen, war eine solche Freude über
ihn gekommen, daß er am liebsten gejauchzt und geschrieen hätte. Aber Jungens
von fünf Jahren sind doch schon so vernünftig, daß sie wissen, daß man das nicht
jeder Zeit tun darf. Jürgen schlenkerte mit den Beinen und er fing an, sich ein
bißchen zu langweilen. Da kam ihm mit einem Mal ein prächtiger Gedanke. „Mutti,
hör nur, was mir eben eingefallen ist! Wir halten einen kleinen Weihnachtsabend
Jürgen stand gerade unter der Lampe. Ein goldner Schein lag auf seinen hellen Haaren, ein warmer Schein auch auf seinem süßen, andächtigen Kindergesicht, als er mit feinem, dünnem Stimmchen sein Lied begann:
Nun kommt der Spruch, Mutti:
Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“
Die junge Mutter zog ihren kleinen Sohn an sich, hob ihn auf ihren Schoß und schlang die Arme um ihn. Jürgen lehnte den Kopf gegen ihre Schulter und blinzelte zu dem Licht empor. „Nun die Geschichte, Mutti !“
„Ja, Herzchen, aber nicht die vom kleinen Klaus und die vom großen Klaus. Die
paßt für einen lustigen Tag im Wald, oder auch für einen Abend, an dem wir an
unserem hellen Kaminfeuerchen siten und zusammen lachen. Aber siehst du, Jürgen,
wenn man am heiligen Abend unter dem Weihnachtsbaum sitzt, da kann man nur an
eine Geschichte denken, die so schön und wunderbar ist, daß wir uns immer wieder
daran freuen dürfen. Es ist gerade, als ob jedes Lichtlein am Weihnachtsbaum
Und die Mutter erzählte die alte, wundersame Geschichte vom Kindlein in der Krippe.
Es wäre schwierig gewesen zu sagen, wer ihren Worten eifriger lauschte, der blondhaarige kleine Junge auf ihrem Schoß oder der brummig aussehende alte Herr in der Ecke.
„Siehst du, Jürgen,“ schloß die Mutter ihre Erzählung, „das mußt du nie
vergessen, daß diese Geschichte das Schönste ist am ganzen heiligen Abend. Nicht
der Baum, nicht die Geschenke, sondern das, daß uns der liebe Gott so sehr
liebt, daß er uns seinen Sohn sendet. Vielleicht bist du noch ein bißchen zu
klein, um mich ganz zu verstehen, aber das, Jürgen, kann auch ein kleiner Junge
sich schon merken, daß wir am Weihnachtsabend, wenn wir selbst so froh und
glücklich sind,
Jürgen, der gesprächige kleine Mann, antwortete nichts. Die Mutter neigte sich über sein Gesicht. Die blonden Wimpern zuckten nicht ~ Jürgen war fest eingeschlafen. „Wie lange wohl schon?“ fragte sich die Mutter. „Der kleine Schlingel! Da erzähle und spreche ich nun und er hört es nicht einmal.“
Nein, Klein-Jürgen hatte der Mutter letzte Worte allerdings nicht gehört, aber an eines andern Ohr waren sie geklungen, eines andern Herz hatten sie erwärmt. Dem Sanitätsrat Siegel war mit einem Mal, als sei von dem großen Licht, das die Welt erfüllt, auch ein Schein in seine Seele gefallen. Andere froh und glücklich machen, ja, diese Weihnachtsfreude konnte auch er haben. Davon war keiner ausgeschlossen.
Vor den Fenstern blitzten Lichter auf, der Zug fing an langsamer zu fahren, bald
mußte der Lausanner Bahnhof erreicht sein. Jürgen wurde geweckt und saß, einmal
ums andere laut aufgähnend, in der Ecke. Die Mutter ordnete
Der Sanitätsrat war den zweien beim Aussteigen behilflice Er trug sowohl die braune Ledertasche, als auch Klein-Jürgen die eisüberzogene Treppe hinab. Dafür lohnten ihn vier blaue Augen mit freudigem Aufleuchten und Jürgen bot ihm gar die behandschuhte kleine Linke.
Dann kehrte der Sanitätsrat wieder zu seinem Platz zurück, aber noch lange lehnte er am Fenster und starrte hinaus, so lange, bis auch der letzte Punkt verschwunden war von den zweien, die, ohne es zu wissen, ihm eine Ahnung von der großen Weihnachtsfreude geschenkt hatten.
Das Häuschen lag hübsch warm in der Sonne und blinkte ein bischen schlaftrunken mit den kleinen Scheiben. Ein schmaler Weg führte daneben zu dem glitzernden Fluß hinunter, grüne Wiesen reichten bis dicht an die Mauern heran und an der einen Seite lag ein Gärtchen, ein winziges, schlecht gepflegtes. Aber drei hohe, prächtige Sonnenblumen standen darin. Die kleine Marie hatte gesehen, wie die Mutter sie gepflanzt, damals, als man erst anfing, aus der räucherigen Küche heraus ins Freie zu gehen. Wie klein waren die Pflänzchen gewesen! Und nun waren ssie drei leuchtende Sonnen geworden.
Die kleine Marie lehnte an dem schiefen Zaun, der den schmalen Garten umschloß
und blinzelte zu den hohen Blumen empor. Vor der Haustüre saß die Mutter und
schälte Kartoffeln. Drei, vier Kinder, zerlumpt und schmutzig, aber mit
lachenden
Das Marieli kam langsam heran, aber es spielte nicht mit den andern Kindern. Es schaute nur immer zu auf der Mutter braune, hartgearbeitete Hände und stieß dazu ein paar lallende, abgebrochene Worte hervor. Arme, kleine Marie! Wer in ihr schmales Gesichtchen schaute, aus dem die grauen Augen so stumpf und gleichgiltig in die Welt blickten, wußte wohl, daß die Kleine eines der armen Geschöpfe war, deren Geist nie recht erwachen kann, die weder ihre Freuden, noch ihre Leiden richtig auszudrücken vermögen, und die so oft dem grausamen Los verfallen, von andern verachtet und verspottet zu werden.
Die Mutter mit den liebewarmen Augen hörte dem Gestammel freundlich, geduldig
aufmunternd
Das war das Schönste und darüber hinaus wünschte die kleine Marie nicht: in der Sonne sitzen zu können mit dem goldhaarigen kleinen Bruder im Schoß, der nicht lachte, wenn sie zu ihm sprach, der kleine, feine Fingerchen hatte und keine groben Fäuste, die festhalten und schlagen konnten, ja, das war das Schönste. Und das Brüderchen liebte die kleine Schwester, die sich geduldig die hellen Haare zausen ließ, die ihn herumtrug und ihm alles gab, wonach seine verlangenden Händchen griffen. ~
Die Mutter hatte ihre Arbeit beendet. Sie erhob sich schwerfällig, ergriff die große Schüssel voll geschälter Kartoffeln und schickte sich an, in die Küche einzutreten. Da hörte sie neben Rudis fröhlichem Kreischen ein merkwürdiges, beinahe furchtsames Lachen, das nicht oft an ihr Ohr klang. Die Frau wandte den Kopf, auch die spielenden Kinder horchten auf.
„Es lacht, das Marieli!“ sagte ein kleiner Junge. „Aber es lacht nicht wie wir. Hast du's gehört, Mutter? Kann das Marieli nie recht im Kopf werden, Mutter? Vielleicht wenn es jetzt in die Anstalt kommt?“
„Dummer Bub!“ gab die Angeredete unwirsch zur Antwort und ging in die Hütte hinein. Drinnen hörte man sie gewaltig mit Herdreifen und Kesseln rasseln, so daß die größern Kinder auf den kleinen Bruder zu zanken begannen. „Kannst du nie 's Maul halten, du! Immer mußt etwas Dummes fragen! Hörst du nun, wie die Mutter bös ist?“
Die Kartoffeln bräunten sich in der Kachel, die Mutter stand daneben und wendete sie mechanisch um. Ihre Gedanken waren noch draußen bei dem Kinde, dessen Lachen ihr so seltsam durchs Herz gegangen. „Es wird ihn vermissen, den Rudi, ja sicher, aber lieber Gott, was soll ich machen! Ich muß ja froh sein, wenn man das Kind in die Anstalt nimmt . . . Wozu auch nur so ein armer Tropf in die Welt kommen muß, niemand zu Nutz und Freud! Nur dem Rudi wird es fehlen, vielleicht, und ich ~ ich werd’ es auch vermissen. 's ist ein liebes Kind und nicht bösartig, wie oft solche Leute sind . . . aber fort muß es halt. Den Rudi können auch die andern hüten und die zwei Großen haben besser Platz im Bett, wenn das Marieli fort ist. Freilich ~– freilich –
Die Mutter machte sich mit einem plötzlichen
Die allzeit hungrige Kinderschar saß eifrig essend um den Tisch. Die Mutter hielt den kleinen Rudi im Schoß, das Marieli saß daneben und schob ihm von Zeit zu Zeit einen Bissen in das begehrliche Mäulchen.
„Wann geht das Marieli?“ fragte unvermittelt eines der großen Mädchen. Die Kleine horchte auf, als ihr Name genannt wurde, duckte sich aber sogleich erschrocken, denn die Mutter schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie dazu ärgerlich: „Halt's Maul! Das geht dich gar nichts an! .-
„Wie böse sie aussieht!“ dachte das Marieli, und kaum war das Essen fertig,
packte es den kleinen Rudi und wollte sich mit ihm davonmachen. Aber heute ging
das nicht so ohne weiteres. Die großen Schwestern, die sonst nichts von der
kleinen Marie wissen wollten, drängten sich um sie und stellten eine Menge
Fragen, auf die die Kleine keine Antwort wußte. Die Mutter rief etwas aus der
Küche, worauf die große Emma lange in einer
Die vielen Geschwister standen kichernd und allerlei Bemerkungen murmelnd um die gänzlich verdutzte Kleine herum. Da hörte man vor der Türe eine energische Stimme rufen: „Wohnen hier die Bretsschneiders ?“
„Ja! Ja!“ brüllten alle Kinder auf einmal und stoben zur Türe hinaus. Nur die kleine Marie blieb stehen, und auch die Mutter, die erst den Kindern gefolgt war, wandte sich plötzlich, sank schwer auf einen Stuhl nieder und zog das Kind an sich.
„Marieli! Kindli! Wir müssen dich fortgeben,
„Mutter! Mutter!“ lärmte es vor den Fenstern. „Ja, ja, wir kommen!“ sagte diese, langsam aufstehend und das Kind mit sich fortziehend.
Vor der Hütte stand eine sauber gekleidete, ältliche Frau mit einem derben, breiten Gesicht, das durch ein paar gütige Augen seltsam versschönt wurde.
„So, so! Das wäre die Kleine!“ sagte sie und strich dem Marieli über das gesenkte
Köpfchen. „Sieh mal her!“ Sie streckte dem Kind eine halbgeöffnete Düte hin, aus
der prächtige, rote Bonbons lachten. Das Marieli rührte sich nicht, was ihm
„Nimm doch, Marieli!“ ermunterte auch die Mutter. „Gib dem Rudi eines!“ ~ Als das Kind den geliebten Namen hörte, griff es schnell nach der Düte, schaute die Geberin scheu an und rannte dann nach dem kleinen Korbwagen hinüber, in dem der Rudi lag und fröhlich krähte. Im Nu waren die zwei umringt von der begehrlichen Geschwisterschar, die ohne viel Fragen und Danken sich bediente, um dann, als die Mutter scheltend näher trat, lachend davonzustieben.
Der Rudi leckte vergnüglich an dem süßen roten Ding, das ihm das Schwesterlein
vor das Mündchen hielt. Dann hob er den Kopf ein bischen und streckte die Arme
aus. Das Marieli wollte ihn bereitwillig aufnehmen, aber die fremde Stimme, die
es bis jetzt noch nie gehört, sagte: „Nein, nein, laß du den Kleinen nur liegen!
Es ist Zeit, daß wir gehen. Ich kann den Wagen nicht gar so lange warten lassen.
Siehst du, Marieli ~ gib mir das Händchen – ~ so ist's recht! ~ dort oben auf
der Straße stehen zwei Pferde und ein schöner, großer Wagen. Da setzen wir uns
Die kleine Marie sah weit oben auf der Straße das Gefährt, auf das die Frau hindeutete, und fing an, rascher zu gehen. Aber da hieß die Mutter sie still stehen und sie tat etwas Seltsames, etwas, das die kleine Marie nicht recht verstand. Sie kniete neben dem Kind nieder und umschloß es so fest mit ihren Armen, daß ihm beinahe der Atem verging. Sie drückte ihre heißen Lippen wie durstig auf das blasse Gesichtchen, dann hielt sie die Kleine auf Armeslänge von sich und wieder leuchtete in ihren Augen der warme Strahl auf, der gleich der Sonne wärmte und liebkoste.
Die kleine Marie ging. Sie lauschte der klaren Stimme, die freundliche Worte sprach, sie sah immer deutlicher die großen braunen Pferde und den wunderbaren Wagen, in dem sie fahren sollte. Nur einmal wandte sie den Kopf, sie hatte ganz deutlich den Rudi weinen hören. Da sah sie die Mutter, nicht an der Seite des kleinen Schreiers, sondern noch unbeweglich an derselben Stelle stehen, wo sie von der kleinen Marie Abschied genommen.
Das Leben in dem Häuschen ging seinen lärmenden Gang weiter. Nur fanden die größeren Kinder manchmal, die Mutter schelte häufiger als sonst. Doch keines kam auf den Gedanken, dies irgendwie in Verbindung zu bringen mit dem Verschwinden der kleinen, blassen Schwester, das ihnen selbst nur eine Erleichterung gebracht. Die große Emma und das lustige Käthi waren die einzigen, die der Kleinen manchmal Erwähnung taten. Das geschah, wenn sie sich abends auf dem harten Lager ausstreckten. „Es ist gut, daß das Mariele fort ist!“ meinten dann beide. „Es war ja nicht dick, und man konnte es leicht an die Wand drücken, aber nun hat man doch wirklich mehr Platz.“ ~
Es waren vielleicht drei Wochen verflossen seit dem Fortgang der kleinen Marie,
da kam der Postbote den schmalen Weg gegangen und brachte einen Brief an Frau
Bretschneider. Das war ein Ereignis. Der Vater, der im Italienischen unten an
einem Eisenbahnbau arbeitete, schrieb nie und sonst hatte die Familie keine
Angehörigen. Wer konnte der Mutter einen Brief schreiben ? Alle Kinder reckten
die Hälse, als die Mutter den
Der Abend kam, aber niemand schritt den kleinen Fußweg herab. Das Grün der fernen
Berge ging langsam in ein weiches, dunkles Blau über; der Fluß, der den ganzen
Tag mit den Sonnenstrahlen gespielt, lag so dunkel und till, als könne er nie
mehr leuchten und fröhlich plätschern.
Die Berge standen jetzt völlig schwarz gegen den sachte dunkelnden Nachthimmel, ein Stern nach dem andern blitzte auf, da sagte die große Emma: „Wir müssen hinein und schlafen, ssonst wachen wir nicht auf für die Schule."
Gehorsam erhob sich die kleine Schar und polterte durch die Küche zur Kammer
hinauf. Die Emma war die letzte. Sie horchte noch einmal in die Nacht hinaus.
Als alles still blieb, schloß sie seufzend die Tür und schob den großen Riegel
vor. Heute plauderte sie nicht mehr mit dem Käthi. Ihre Gedanken gingen die
Mutter suchen, die Mutter, die sie alle so allein gelassen. Das arme Kind konnte
ein plötzliches Schluchzen nicht unterdrücken, aber das hörte einer der kleinen
Buben
Nur das Käthi und die zwei großen Buben gingen am nächsten Tag zur Schule. Die Emma mußte die drei Kleinen hüten, denn die Mutter war nicht, wie sie heimlich gehofft, in der Nacht wiedergekommen.
Dann plötzlich war sie da. Die Emma war mit den Kleinen an den Fluß gegangen. Als sie wieder zurückkehrten, hörten sie den Rudi krähen, und drinnen in der Hütte stand die Mutter und schnitt große Stücke Brot in einen Topf hinein. Das kleine Klärli trottelte auf sie zu und erfaßte ihr Kleid. Sie strich ihm über das zerzauste Köpfchen, nicht ungütig, aber „wie im Traum“ durchzuckte es die Große, die mit beobachtenden Augen unter der Türe lehnte. Der Päuli und das Bethli schoben sie vollends hinein, so daß sie mit einem Male vor der Mutter stand. Diese schaute auf. „Warum bist nicht in der Schule?“ fragte sie gleichmütig.
Und wieder überkam das Kind die weiche Stimmung der verflossenen Nacht. Sie biß
sich auf die Lippen, weil sie sich ihrer Tränen schämte,
„Habt ihr Angst gehabt ohne mich ?“ fragte sie weicher als sonst, und die große Emma nickte und wischte sich die dicken Tränen von den Backen. „Armer Tropf!“ murmelte die Mutter, aber sie gab keine weitere Erklärung und das Kind wagte nicht um eine zu bitten.
Keines der Kinder hätte sagen können, worin eigentlich die Veränderung bestehe,
die mit der Mutter vorgegangen. Nur daß sie nicht mehr dieselbe war, fühlten
alle, von der großen Emma an bis zum kleinen Klärli herab. Früher war es immer
an der Mutter Rock gehangen, jetzt trottelte es mit den kurzen Beinchen eigene
kleine Wege. Nur der Rudi konnte sich über die Veränderung der Mutter freuen.
Sie ließ ihn kaum von der Seite. Manchmal hörten die größeren Geschwister, wie
sie mit ihm sprach und darüber verwunderten sie sich immer aufs neue. Was konnte
die Mutter mit dem kleinen Rudi sprechen,
Die Mutter sprach nicht nur mit dem Kleinen, sie sprach auch mit ihren eigenen Gedanken. Beinahe unaufhörlich verlebte sie jenen Sonntag, die Nacht, den darauffolgenden Morgen, die sie in der Anstalt verbracht. Innerlich erschauernd meinte sie noch den festen Griff der heißen Händchen zu fühlen, die sich an ihr Kleid geklammert. Sie hörte wieder die heiseren, furchtbaren Schreie, die das Marieli ausgestoßen, als man es von ihr gerissen. „Wie ein Tierchen hat es geschrieen, weißt du noch, Rudi? Wie ein armes Tierchen, das nicht reden kann und sich nicht zu helfen weiß ... Mir können nie mehr hingehen, Rudi! Das hat die Frau Vorsteherin gesagt. Aber verstehst du das, Kindli, verstehst du das? Es wird denken, daß wir zwei, du und ich, Rudi, es nicht mehr lieb haben. O, es ist nicht ganz so dumm, als sie denken. Es weiß, wer es liebt und wer nicht. Man ist ja gut zu ihm dort in der Anstalt, ja, ja, schon gut, aber wir zwei, gelt Rudi, wir zwei hatten 's eben lieb . . .“
Die Mutter hing auf der Wiese ein paar zerrissene Wäschestücke auf, der Rudi lag neben ihr im Gras. Der Pänuli und das Bethli, die immer zusammengingen, waren unten am Fluß und ließen selbstverfertigte Boote schwimmen, das Klärli spielte allein im Gärtchen. Da horchte die Mutter auf. Irgend jemand sprach mit der Kleinen, eine helle, klingende Stimme, dazwischen ertönte ein lustiges Auflachen. Die Mutter ergriff den Rudi und schritt eilig zum Gärtchen hinauf. Schon von weitem sah sie das Klärli mitten unter den Sonnenblumen stehen, einen großen rotbackigen Apfel hielt es in den Händen und mit völlig finsterem Gesichtchen starrte es auf den Weg hinüber. Dort stand die Besitzerin der hellen Stimme, eine schlanke, ganz in Weiß gekleidete Mädchengesstalt. Sie hielt den Kopf, der von einem großen Strohhut beschattet war, über ein schwarzes, längliches Kästchen gesenkt, so daß die Mutter ihr Gesicht nicht sehen konnte. Doch das war nur ein Augenblick. Man hörte ein kurzes Ticken und gleich darauf den frohen Ruf : „Bravo Kleines! Du hast schön still gehalten. Nun darfst du auch den Apfel essen.“
Die junge Gestalt trat näher an den Zaun heran und bemerkte die ruhig zusehende Mutter. Sie errötete leicht, was ihr junges Gesicht noch kindlicher erscheinen ließ.
„Ich durfte Ihre Kleine doch photographieren, nicht wahr? Sie sah so niedlich aus mit ihrem Struwwelköpfchen. Und die Sonnenblumen sind die prächtigsten, die ich je gesehen.“
Der Rudi jauchzte und streckte die schmutzige kleine Hand aus nach der hellen Gestalt, auf deren Antlitz sich der leuchtende Sommertag wiederzuspiegeln schien. Die Mutter lächelte und sagte : „Es ist nicht eben angezogen, das Klärli, um photographiert zu werden. Aber hier lasse ich sie irgendwie herumlaufen, es sieht uns ja kein Mensch.“
„O, das Klärli gefällt mir sehr gut in dem Kittelchen. Das Bildchen wird gewiß nett, ich will Ihnen nächste Woche eines schicken.“
„Vergelts's Gott!“ murmelte die Frau. Das junge Ding beugte sich noch einmal zum Klärli herab und ging dann mit leichten Schritten den Weg zum Fluß hinunter. –
Die Mutter war zu ihrer Arbeit zurückgekehrt.
Sie hatte den Rudi wieder ins Gras gelegt, nahm nun ein nasses Wäschestück nach dem andern aus dem Korb und hing es auf — langsam, gleichgültig. Aber ihre Gedanken arbeiteten dabei schnell, fieberhaft schnell. Wie! wenn sie es wagen würde, um das zu bitten, was ihr da vorhin durch den Sinn gegangen! Das junge Fräulein schien nicht stolz; sie hatte ein freundliches Gesicht und sie hatte so lustig mit ihr geplaudert . . . Wenn sie es wagen würde ... Sie durfte nicht mehr in die Anstalt, wenigstens lange nicht, das hatte die Frau Vorsteherin gesagt und man mußte ihr gehorchen. Dann, wenn das Marieli die Mutter vergessen, könne sie wieder kommen. Und wenn sie dann käme ~ ~ das Marieli würde sie anstarren mit denselben stumpfen Augen, mit denen es alles Fremde betrachtete. Nein, nein, nur das nicht, das Marieli durfte sie nie vergessen! Und wenn sie ihm nun ein Bildchen schicken könnte, ein Bildchen von Rudi, den das Marieli so sehr liebte ... Das würde ihr doch zeigen, daß man sie nicht vergessen, das würde am Ende dem Marieli helfen, nicht die Mutter und den Rudi zu vergessen.
Die Mutter nahm den Kleinen auf den Arm und ging langsam über die Wiese dem Weg zu. Sie setzte sich auf einen Holzklotz, der dort lag, und starrte unverwandt zum Fluß hinunter. Sie mußte lange warten. Der Rudi wurde ungeduldig, aber sie sang ihm, sang mit ihrer müden, harten Stimme, die so gar nichts von der fieberheißen Erwartung ihres Inneren verriet.
Endlich tauchte die helle Gestalt zwischen den Weiden unten am Fluß auf. Sie schritt über den kleinen Steg, sorgsam das Bethli und den Päuli leitend, die ob der ungewohnten Fürsorge verdutzte Gesichter machten. Langsam kam das Trüppchen näher, die Mutter erhob sich mühsam. „Ich habe noch nie gebettelt!“ dachte sie mit plöglichem heißen Erröten, „noch nie; aber es ist ja für das Marieli.“
Das junge Mädchen stand jetzt ganz nahe und schaute ein wenig verwundert die Frau an, deren dunkle Augen starr auf ihr Gesicht gerichtet waren. Wieder jauchzte der Rudi der hellen Gestalt zu, und das schien der Mutter Mut zu geben.
„Würden Sie ihn nicht auch photographieren, den Rudi? Er hat ein Schwesterlein,
das hat ihn
„Gerne, gerne !“ schnitt das junge Mädchen der Frau das Wort ab. „Wo wollen Sie ihn hinsetzen? Am Ende dort ins Gras ?“
Der Rudi wurde an die bezeichnete Stelle gesetzt, aber er konnte sich nicht halten. Immer wieder rollte er vornüber, so oft ihn auch die Mutter aufrichtete.
„Könnte man ihn nicht auf ein Kissen legen?“ schlug das junge Mädchen vor. Der Päuli und das Bethli wurden in die Hütte geschickt und brachten nach einiger Zeit eine kleine Federdecke, auf die nun der Kleine gebettet wurde. Aber auch jetzt wollte er immer wieder auf die Seite kugeln, trozdem ihm die Mutter die schönsten Blumen in die Höhe hielt. Endlich gab sie ihm eine ins Händchen und nun schien der Rudi einen Augenblick der Ruhe zu finden.
Das junge Mädchen kniete ein paar Schritte entfernt und dachte dabei, daß ihr
noch nie ein Bildchen so viel Mühe gemacht, wie das des goldhaarigen
„D, wie schade!“ sagte die junge Fremde. „Ich habe keine Platte mehr und ich kann nicht noch einmal kommen, wir gehen schon morgen fort."
„Aber,“ fügte sie schnell hinzu, als sie die Enttäuschung auf der Mutter Gesicht las, ,pvielleicht ist das Bildchen doch etwas geworden. Man irrt sich manchmal. Auf alle Fälle schicke ich Ihnen nächste Woche das Bildchen vom Klärchen und wenn es nicht gar so schlimm ist, das vom Kleinen auch.“
„Vergelt's Gott!“ murmelte die Mutter. Das junge Mädchen mochte diese Worte schon
oft gehört haben, doch als sie dieses Mal an ihr Ohr schlugen, blickte sie
überrascht auf. Ein beinahe leidenschaftlicher Dank hatte daraus geklungen ...
oder war dies nur Täuschung? Die dunkeln Augen der Frau sahen an ihr vorbei in
die Weite. Sie
Die Woche ging zu Ende, auch die nächste, ohne daß das ersehnte Bildchen gekommen wäre. „Sie hat es eben vergessen, natürlich!“ dachte die Mutter. Aber sie glaubte es doch nicht ernstlich, wenn sie sich des sonnigen Gesichts der jungen Fremden erinnerte. Und dann anfangs der zweiten Woche langte ein Päckchen an! Ein warmes rotes Kittelchen für den Rudi lag darin, eine hübsche Schürze für das Klärli und eine Puppe so schön und groß, wie noch nie eine in der kleinen Hütte gewesen.
Die Mutter freute sich über alles, doch am hellsten leuchtete ihr Gesicht auf,
als sie ein weißes, längliches Kuvert entdeckte. Ein Brief steckte darin und
vier kleine Photographien. Zwei waren vom Klärli, wie es mit dem Apfel in der
Hand unter den Sonnenblumen stand. Die zwei anderen zeigten ein Stückchen Wiese
mit hohen Margueriten und Wegwarten, mitten drin auf einem Kissen lag ein
kleiner Junge. Nur das halbe Gesichtchen war
Der Mutter Hand, die das Bildchen hielt, zitterte ein wenig. Langsam stand sie auf, holte Feder und Tinte, einen großen Bogen Papier, auf den oben ein Bildchen geklebt war, und fing an, an das Marieli einen Brief zu schreiben. Es wurde kein langer. Als die Mutter ihn zu Ende geschrieben, seufzte sie schwer auf. Sie fühlte selbst, daß ihre Worte arm und kalt waren – der Ton in der jungen Fremden Brief war ein viel herzlicherer — aber sie konnte ihre heiße, große Liebe zu dem Kind nicht in Worte fassen. Ach ! und sie wußte ja, daß fremde Augen ihre Worte lesen, ein fremder Mund sie dem Marieli erklären würde.
Das eine Bildchen wurde zu dem kurzen Brief ins Kuvert geschoben, das andere barg
die Mutter an einem sichern Platz. Dann rief sie die drei Kleinen zusammen, nahm
den Rudi auf den Arm
Von diesem Tage an war wieder eine Veränderung an der Mutter wahrzunehmen. Sie lachte und scherzte hie und da mit den Kleinen, sie sprach weniger mit dem Rudi und mehr mit den Großen. Es gab zwar noch oft Augenblicke, da es den Kindern schien, die Mutter sei weit weg mit ihren Gedanken, aber sie machte dabei nicht mehr das kummervolle, finstere Gesicht wie früher.
So verfloß eine Woche nach der andern. Außer jenem ersten Brief war nie eine Nachricht aus der Anstalt gekommen. Einmal hatte die Mutter durch Bekannte gehört, der kleinen Marie gehe es gut, aber die Frau Vorsteherin fände es noch nicht ratsam, daß die Mutter ihren Besuch wiederhole.
Und die Tage eilten dahin und jeder nahm ein Stück Sommerwärme und
Sommerherrlichkeit mit sich. Dann war auf einmal der Herbst da. Die Kinder
machten sich am Morgen fröstelnd auf den weiten Schulweg und die Kleinen konnte
die Mutter nicht wie gewöhnlich gleich in der Frühe
An einem Abend klagte der Päuli über Schmerzen im Hals und in der Brust. Die
Mutter kochte einen bittern Tee und bettete den Kleinen so behaglich als möglich
in des Rudis Bettchen. Er schlief ein, aber spät in der Nacht, als die Mutter
eben schlafen gehen wollte, wachte er auf, hatte glänzende Augen und heiße
Händchen und schwatzte und lachte so aufgeregt, daß der Mutter angst und bange
wurde. Sie verstand nicht viel von Krankenpflege. Von den Kindern hatte bis
jetzt keines eine ernstliche Krankheit gehabt. Wenn eines unwohl gewesen, war es
eben von selbst wieder besser geworden, nach einem Arzt hatte
Früher als sonst mußten die Kinder zur Schule, denn vorher sollten sie noch den Arzt aufsuchen. „So schnell als möglich muß er kommen, vergeßt das ja nicht zu sagen!“ mahnte die Mutter immer aufs neue und das kleine, ein bißchen verängstete Trüppchen versprach es ebenso eifrig.
Wieder und wieder spähte die Mutter den Fußweg hinauf, ob nicht der ersehnte Arzt
endlich komme. Aber erst gegen 11 Uhr sah sie die feine, wohlbekannte Gestalt
des Doktors oben an der Landstraße. Mit großen Schritten kam er den Fußweg
herunter, unterwegs mit lustigen Worten das Bethli und Klärli begrüßend. Die
Mutter
Die Mutter nickte schwermütig zu dem Gesagten. Kaum erwiderte sie den Gruß des davoneilenden Arztes. So, jetzt mußte auch der Päuli weg. Aber freilich die Pflege, die er brauchte, konnte sie ihm ja nicht geben, so war es das beste, er ging in die Stadt.
Der Päuli lag ganz ruhig in einer Art Halbschlummer. Die Mutter trat so leise auf, als ihre schweren Schuhe es zuließen, raffte einen Arm voll Bettstücke zusammen und trug sie an die Sonne. Sie hing sie über den Bretterzaun am Gärtchen und starrte dabei einen Augenblick zu den hohen Sonnenblumen auf. All die leuchtenden Blütenblätter waren längst verwelkt. Die schlanken Stengel neigten sich tief zur Seite, so oft hatten die Kinder sie heruntergezogen, um von den schwarzen Kernen zu naschen. Wie oft hatte sie das Marieli hier stehen sehen! Es hatte die leuchtenden Blumen so geliebt . .. Das Marieli, das Kind, was mochte es wohl treiben? . .
Ein barfüßiger Junge kam den Weg heruntergesprungen und auf die Frau zu. „Da, das
hat
Der Junge legte das gelbe Kuvert in die ausgestreckte Hand der Frau und wartete mit neugierigen Blicken darauf, daß sie es öffne. Doch die Mutter ging ohne ein Wort zu sprechen nach der hintern Seite des Hauses. Dort, warm umspielt von den Sonnenstrahlen, lag der Rudi in dem alten Korbwagen und schlief. Die Mutter setzte sich auf einen Stein neben ihn und öffnete das Kuvert. Das weiße Papier enthielt nur wenige Worte: „Sofort kommen. Marie krank.“
Mit einer seltsam müden Bewegung strich die Mutter über ihr dichtes schwarzes Haar, dann stand sie auf, band die Schürze los und strich glättend über ihr Kleid. Ihr Blick streifte den schlafenden Kleinen. „Jch gehe natürlich, Rudi! Hörst du, das Marieli ist krank, so krank, daß man mich ruft.“
Das kleine, braune Gesicht rührte sich nicht. Die Mutter strich ganz leise mit
ihrer harten Hand darüber und ging wieder . . am Gärtchen vorbei, der Haustüre
zu. Am Bretterzaun hingen die
Herrgott, Herrgott! Der Päuli – –
Die Frau tat ein paar taumelnde Schritte und sank schwer auf die Bank vor der Türe.
Der Päuli war krank und sie durfte ihn nicht allein lassen, das hatte der Arzt gesagt. Sie konnte nicht zum Marieli gehen .. . War das möglich, war das wahr? Konnte nicht die Emma den Päuli hüten? Aber nein, keines der Kinder durfte hinein. Sie mußte bleiben, sie mußte und das Marieli war krank — so krank.
O es würde sterben, sie wußte es. Es würde sterben und denken, die Mutter habe es vergessen. Es würde die Händchen ausstrecken und die schrecklichen Schreie ausstoßen . .. Die arme Mutter hatte keine Tränen, kein Laut kam über ihre fest zusammengepreßten Lippen ~ wie sie litt, wie sie litt !
Da drang ein erstickter Schrei aus der Hütte. Der Päuli ~ Im Nu mar die Mutter an
seiner Seite und hob ihn empor, bis das arme Kind den Atem wiedergefunden.
Völlig erschöpft sank der
Auf dem kleinen Vorplatz hörte man die Stimmen der heimkehrenden Kinder. Die Mutter ging hinaus mit einem großen Topf Milch und einem Laib Schwarzbrot; sie hatte nicht an die Bereitung eines Mittagsmahles gedacht. Aber den Kindern schmeckte es. Sie hockten wie eine kleine Schar Zigeuner um den Milchtopf herum und tauchten der Reihe nach ihr Schwarzbrot ein. Die Emma hielt den Rudi im Schoß und fütterte ihn gewissenhaft.
Drinnen in der Hütte saß die Mutter am Bettchen des Päuli. Meist lag er still,
aber von Zeit zu Zeit fing er an, sich unruhig zu bewegen und nach Luft zu
ringen. Dann mußte ihn die Mutter emporrichten, bis er wieder atmen konnte. Sie
litt bei diesen Anfällen beinahe so sehr wie
Um vier Uhr, wie der Arzt gesagt, kam man den Päuli holen. Die Mutter befolgte mechanisch alle Anordnungen, die ihr am Morgen gegeben worden waren. Fenster und Türen standen offen, die Betten waren in der kahlen kleinen Kammer aufgeschlagen. Aber noch konnte sie das Haus nicht verlassen. Sie mußte die Rückkehr der größeren Kinder aus der Schule abwarten. Dann erst, als sie der großen Emma in hastigen Worten Bescheid gegeben, konnte sie fort; fort zu dem Kinde, das sie nötiger hatte als alle andern.
Es dunkelte schon und irgendwo in der Ferne schlug eine Kirchenuhr sieben, als die Mutter endlich die hell erleuchtete Anstalt vor sich liegen sah. Sie blieb einen Augenblick stehen und trocknete sich das glühende Gesicht.
Was wartete ihrer? Lebte das Marieli noch?
Nun stand sie in dem breiten Hausflur. Ein kleiner Junge starrte sie, den Finger im Mund, mit blöden Augen an. Da ging eine Türe auf und dieselbe ältliche Frau, die das Marieli an jenem leuchtenden Sommertag in die Anstalt geholt, trat in den Flur. Als sie die dunkelgekleidete Frauengesstalt gewahrte, ging ein mitleidiger Zug über ihr Gesicht.
„Das Marieli ?“ stammelte die arme Mutter.
„Ich will es Ihnen zeigen, kommen Sie. Diesen Gang herunter. Nein, nicht nach oben, wie das lezte Mal. Wir mußten das Marieli in ein anderes Zimmer nehmen, der Ansteckung wegen. Es hatte Diphtheritis.“
„Es hatte Diphtheritis . . .“ wiederholte die Mutter, „ich dachte es mir . . . wie der Päuli . . . es hatte – “ sie stockte plötzlich und packte der Begleiterin Arm. „Was haben Sie gesagt – es, es hatte .!...
Die andere nickte. „Vor einer Stunde hat es ausgelitten. Danken Sie Gott, daß er das Kind zu sich genommen.“
Die arme Mutter wankte, aber nur einen Augenblick, dann kam eine große, starre Ruhe über sie. Sie überschritt die Schwelle des Totenzimmers mit festen Tritten. Ein kleines Licht brannte darin und warf einen sanften Schein über alle Gegenstände. Die kleine Marie lag noch in ihrem Bettchen. Man sah dem schlafenden Gesichtchen nicht mehr an, welch harter Kampf vorausgegangen. So friedlich sah es aus, so befreit ... Neben dem Bettchen stand ein Stuhl. Die Mutter setzte sich darauf, immer mit denselben ruhigen Bewegungen. Nur ihre Augen sprachen, klagten, jammerten um das tote Kind.
Der kleinen Marie Kopf war ein wenig zur Seite geneigt, die beiden schmalen Händchen lagen wie müde auf der Bettdecke ausgestreckt. Der Mutter Augen glitten langsam über die weißen Fingerchen, dann beugte sie sich mit einem Male über das eine Händchen. Die ältere Frau, die die ganze Zeit über schweigend am Fenster gestanden, hörte die Bewegung, wandte sich und trat näher.
„Ach, Sie sehen, daß sie etwas im Händchen hält. Das ist die Photographie vom
Kleinen, die
Der Mutter dunkles Haupt fiel schwer gegen das Gitter des kleinen Bettchens. Sie schluchzte, schluchzte so tief und qualvoll, daß es der anderen ins Herz schnitt. Aber doch hörte sie darin die Erlösung von dem starren Schmerz, der sie geängstet. Sachte ging sie hinaus. – ~
Die Mutter wollte nicht über Nacht in der Anstalt bleiben. Die Frau Vorsteherin stellte ihr umsonst den weiten Weg und die regendunkle Nacht vor Augen. Die Mutter gab immer dieselben müden Worte zur Antwort: „Es braucht mich ja nicht mehr, das Marieli. Und die andern sind so allein.“
Dann schritt sie in die Nacht hinaus. Unter der Türe stand die Vorsteherin mit der ältern Frau zusammen und schaute ihr nach, wie sie, mühsam gegen den Sturm kämpfend, vorwärts schritt.
„Sie hat es besser aufgenommen, als ich dachte. Nun, eigentlich sollte sie nur
froh sein.
Die andere antwortete nichts. Vor ihren Augen tauchte ein angstverzerrtes Antlitz auf mit kummervollen Augen. Sie ging mit sachten Schritten in das stille Zimmer der kleinen Marie, stand einen Augenblick ssinnend an dem Bettchen und sorgte dann mit gütigen Mutterhänden für die kleine Leiche.
Der Wind heulte und riß an den Kleidern der einsam Schreitenden. Der Regen schlug in ihr Gesicht, aber sie empfand es beinahe als Labsal gegen die brennende Hitze ihres schmerzenden Kopfes. Nur einen Augenblick nicht denken müssen! Aber die Gedanken kamen ungerufen, einer den andern überstürzend.
Und die Mutter schritt weiter – immerzu, immerzu. Wie sie an die Stelle kam, wo
sie die Fahrstraße verlassen und in den Fußweg einbiegen mußte, sah sie unten in
der Tiefe ein schwaches Lichtchen schimmern. So waren die Kinder noch nicht alle
zur Ruh. Sie würde die Emma finden, wohl auch das Käthi mit seinem immerfrohen
Wie reich sie doch war! Trotz allem, trotz allem . . .
Eine seltsame Änderung ging mit der Mutter vor, wie sie langsam talwärts schritt und das Licht größer und größer vor ihr aufleuchtete. Ihr war, eine liebe, liebe Hand strecke sich aus und zöge sie näher, immer näher. Sie gedachte der kleinen Marie, aber nicht mehr mit der grenzenlosen Bitterkeit der vorigen Stunden. Sie sah das Leben der Kleinen vor sich : ein Leben des Leids, der Verachtung, vielleicht des Elends ~ und dann sah sie wieder die gütige Hand, die das Kind von all diesem Jammer zu sich gezogen . . . und ihr Herz ward Stille.
Wir waren schon im Postwagen zusammengetroffen, hatten uns bei der Unterbringung des Gepäcks gegenseitig Hilfe geleistet und dabei entdeckt, daß unser beiderseitiges Ziel das hoch und verschwiegen gelegene Hotel Alpenruhe sei. Aber in den ersten Tagen nach der Ankunft wechselten wir nur wenige flüchtige Worte. Die Fremde, deren Sprache die Nordländerin verriet, hatte sich an einige Landsleute angeschlossen, mit denen sie täglich eine größere oder kleinere Tour unternahm. Als aber der lebhafte Schwarm abgereist war und auch sonst ein bekanntes Gesicht ums andere verschwand, rückten wir uns langsam näher.
Ich konnte nur bescheidene Gänge machen, etwa zu dem eine halbe Stunde entfernten Hexenktessel oder zu den zwei Ahornbäumen hinauf, die seltsam aus den sie rings umgebenden Tannen heraustraten. Die Fremde schloß sich mir bereitwillig an.
„Ich habe die Sache eigentlich verkehrt angegriffen,“ meinte sie lächelnd, „bei mir heißt es ja: aus der Ferne in die Nähe.“
Nun, jedenfalls hatte ihr das Große und Erhabene den Blick für das Kleine und Zarte nicht getrübt. Sie erzählte mir mit funkelnden Augen von der weißen Einsamkeit, in der sie gewandert, von den schneeigen Gipfeln und Hängen, die so unberührt vor ihr gelegen, als sei nur eben Gottes Schöpferhand davon weggeglitten.
Und mitten in diesen Schilderungen bückte sie sich und bewunderte eine kleine, versteckte Blüte, einen moosigen Stein, oder sie entdeckte in der Ferne ein braunes Häuschen, das sich am Berge festzuklammern schien.
Eines war mir gleich in den ersten Tagen an der Fremden aufgefallen, und
vielleicht war es das gewesen, was mich am meisten zu ihr gezogen. Sie liebte
die Kinder. Nicht in der Art, wie viele Menschen sie lieben. Sie schenken ihnen
etwa ein Biskuit oder ein Stück Schokolade; sie tätscheln im Vorübergehen die
blonden und braunen Köpfchen. Sind sie besonders gut gelaunt, so opfern sie wohl
gar eine halbe Stunde irgend einem
Die Fremde tat dies alles nicht. Sie verschenkte keine Süßigkeiten und keine übergroßen Zärtlichkeiten, aber in ihrer Stimme und in ihren Augen lag eine so warme Liebe, daß ich wohl verstehen konnte, wie sich ihr alle kleinen Hände entgegenstreckten, ihr alle Augen entgegenlachten. Ein- oder zweimal sah ich sie mit Kindern spielen und dann verstand ich vollends das Geheimnis ihrer Macht. Sie spielte wie die Kinder selbst, mit einem Eifer, mit einer Hingebung, die entweder echt oder raffinierte Kunst war.
Bei unserm nächsten Zusammensein fragte ich sie hierüber.Sie schaute mit überraschtem Blick zu mir auf.
„Ich weiß nicht, was antworten. Es ist wohl beides. Es gab eine Zeit, da mußte ich mich redlich abmühen. Aber das ist jezt nicht mehr nötig. Sie müssen es niemandem verraten: ich genieße die Spiele beinahe so sehr wie die Kinder selbst!“
„Sie haben wohl immer Kinder um sich gehabt und sich so diese Spielfähigkeit erhalten ?“
Die Fremde schüttelte den Kopf. „Nein, ach nein! Ich bin ein einziges Kind gewesen und habe wenig mit andern Kindern gespielt. Als ich erwachsen war, stand ich nahezu allein. Ich weiß bestimmt, daß es einmal in meinem Leben eine Zeit gab, in der ich wochen- und monatelang mit keinem Kinde sprach. Jch war so einsam und leer.
Da traf ich mit einem kleinen Jungen zusammen, der mir viel, viel gegeben hat. Ich glaube, er hat mir den größten Dienst erwiesen, den ein Menssch dem andern erweisen kann. Er hat mir gezeigt, wie und wo ich Freude bringen kann. Darf ich Ihnen von meinem kleinen Freund erzählen ? Ich tue es sehr selten; aber ich glaube, Sie werden mein kleines Zäpperli verstehen und lieb gewinnen.
Ich war zur Erholung nach Genf gereist. Nicht, daß ich körperlich krank gewesen wäre; ich war jung und gesund. Aber ich hatte alles, was mir lieb gewesen, verloren und mir graute vor meinem öden Leben.
Und nun stand ich am See und schaute zu, wie ein großes Segelschiff mit
Kohlensäcken beladen wurde. Auf den Jurabergen lag leuchtender Schnee, der erste
des Jahres. Er hatte die
„Jetzt gehen sie bald!“ rief der Kleine plötzlich,
„Mußt nicht so machen, Zäpperli, nicht so wild sein! Sie fahren noch lange nicht, dort liegen noch ein paar Säcke.“
Das zappelnde Figürchen wandte sich der langsam näherschreitenden Kinderfrau zu. „Wir warten, nicht wahr ?“ fragte das etwas krächzende Stimmchen in bittendem Ton. „Ja, ja!“ meinte die Alte gutmütig; dann, als sie auf meinem Gesicht einiges Interesse an ihrem zappelnden Schützling lesen mochte, fügte sie vertraulich hinzu: „Er geht so gern an den See herunter, aber ich tu es nicht oft. Er wird so aufgeregt von allem, was er sieht und zappelt, daß einem ganz angst wird.“
Ich lächelte, da ich wirklich nichts zu sagen wußte.
Frau Brand sowohl wie der Kleine sprachen ein breites, rauhes Deutsch, so wie es
im Berner Oberland gesprochen wird. Ich verstand den Dialekt wohl, konnte ihn
aber nicht reden, was mich wohl in des Zäpperlis Augen nicht als vollwertigen
Menschen erscheinen ließ. Er gab mir auf verschiedene
Frau Brand raunte dem Kind entsetzte Ermahnungen zu; ich lachte und sagte, um so besser gefalle mir seine rote Kappe. „Du kannst sie haben," erwiderte das Zäpperli bereitwillig, „dann bekomme ich vielleicht eine grüne. Grün ist die aller - allerschönsste Farbe auf der Welt.“
„So! Ich habe ein grünes Kleid. Soll ich es morgen anziehen?“ „Ja, bitte, bitte, und eine grüne Kappe!“ — Die Hände reibend, bald das eine, bald das andere Bein hochziehend, hüpfte das Zäpperli vor mir auf und ab.
„Chum jetze, Frännelil Mer müsen heim!“ mahnte Frau Brand und ergriff eines der geschäftigen Händchen. „Ach, du hast noch einen andern Namen außer Zäpperli?“ fragte ich erstaunt, da wandte sich der Kleine eilig: „François, Roger, Gérard Sarazin. Florissant huit, Genève".
Frau Brand strahlte über ihr ganzes breites Gesicht. „Wissen Sie, ich verliere
ihn ja nie; aber
Ich nickte einen Abschiedsgruß. Eben schickten sich die beiden Gestalten an, dem Ausgang der Anlagen zuzuwandern, da ertönte von dem Segelschiff ein langgezogener Pfiff. Wie ein Blitz fuhr des Zäpperlis Kopf herum; mit einem Jammerschrei stürzte er den eben gegangenen Weg zurück, die halb entsetztte, halb ärgerliche Frau Brand keuchte hinter drein.
„Zäpperli, Zäpperli! Chind, Chind! Um des Himmels ville!“ schrie sie mit zitternder Stimme.
„Sie gehen, Frau Brand, wirklich sie gehen !“ war der Gegenschrei, und da stand
das rote Kerlchen wieder neben mir hüpfend, gestikulierend, unaufhörlich
schwatzend. Auf dem Schiff herrschte ein munteres Durcheinander. Einige Arbeiter
saßen ausruhend auf den Säcken, andere zogen die schweren Ketten herein, mit
denen das Schiff befestigt gewesen, wieder andere machten sich mit den Segeln zu
schaffen. Langsam glitt das Boot auf dem blauen Wasser dahin. Die Bisse war
günstig und füllte die schmutzigen, verflickten Segel. Wie sonderbar zu denken,
daß man sie in kaum
Ich vertraute meine Gedanken meinen beiden Gefährten an; völlig absichtslos bediente ich mich dabei der französischen Sprache. Da faßte mich plötzlich eine kleine Hand, und niederblickend schaute ich in ein Gesichtchen, das von einem warmen, ehrfürchtigen Gefühl völlig durchdrungen schien.
„Du redest wie Papa!“ flüsterte das heisere Stimmchen in einem scheuen, zärtlichen Flüsterton – da beugte ich mich nieder und küßte die runde kleine Hand, die warm in der meinen lag.
Mit einem erwartungsvollen Gefühl, das für den Augenblick alle quälenden verdrängte, betrat ich am nächsten Tag den englischen Garten und wanderte langsam an dem Springbrunnen, an den vielen Rasenplätzen und Ruhebänken vorbei. Ich ging den breiten Weg, der durch ein Geländer gegen den See hin abgeschlossen ist, wohl zwanzigmal auf und ab, immer und immer nach einem kleinen, roten Jungen spähend, aber er kam nicht.
Erschöpft setteich mich auf eine Bank. Schlimme, unnütze Gedanken, wie sie sich
leicht Müder und Kranker bemächtigen, gingen mir durch den Sinn.
Da plötzlich klang eine helle Knabenstimme in mein Ohr und das rote Pilzchen stand wie aus der Erde gewachsen vor mir.
„Du hast es! Du hast das grüne Kleid, das gute, grüne Kleid!“ jauchzte das Zäpperli und streichelte mir Gesicht und Hände.
Frau Brands Begrüßung war formeller. Sie entschuldigte sich wortreich, daß sie mich aufgesucht, aber der Junge habe ihr keine Ruhe gelassen. Am frühen Morgen habe er angefangen, er wolle an den See herunter, die Dame im grünen Kleid zu sehen.
Ich versicherte die gute Alte immer wieder, daß es mir die größte Freude sein werde, wenn sie mir den Kleinen oft, ja womöglich täglich bringen werde. Das benahm ihr beinahe den Atem. „Du meine Güte! Zu Hause will niemand etwas von ihm wissen. Sie finden ihn alle so dumm. Er ist schon fünf Jahre alt. Das würden Sie kaum denken, nicht wahr? Er war lange, lange krank. Daher kommt es wohl, meint der Herr, daß er immer noch zu schlafen scheine.“
„Dies Kind schläfrig!“ entfuhr es mir unwillkürlich. Die Alte schnitt ein merkwürdiges Gesicht. „Ja , ja! Er ist schon wach, aber er versteht gar nicht, wenn man ihn etwas lehren will. Nicht das kleinste Verschen kann er behalten, und so dumme Fragen srtellt er, so dumme !“
„Nun, wonach frägt er denn?“ ~ „Ja, hören Sie nur mal. Erst heute Morgen wollte er wissen, wohin die Tage gehen. Und gestern ob der liebe Gott einen langen Bart habe und ob er größer sei als sein Onkel Buchanan. Das ist ein himmellanger Engländer, müssen Sie wissen. Was soll man denn da antworten! Nein, so ein dummes Kind, so ein dummes !“
Das dumme Kind hatte dieser Auseinander- setzung mit großen Stauneaugen zugehört; nun erhob es sein klägliches Stimmchen und sagte: „Frau Brand weiß nichts, gar nichts. Ich frage sie so viele Sachen und sie lacht nur." — „Ja, das ist schon wahr,“ meinte die Alte gutmütig, „jetzt kannst du einmal deine Dame mit dem grünen Kleid fragen, vielleicht weiß sie etwas.“
Bei diesen Worten nickte uns Frau Brand freundlich zu und ging dann mit kurzen
Schritten
Da saßen das Zäpperli und ich allein. Ich legte ganz schüchtern meinen Arm um das rote Figürchen — nicht alle Kinder dulden Liebkosungen– und der Kleine schien es wohlig zu empfinden. Er schob sich näher an mich heran und sagte innig: „Ich habe dich lieb, ich habe immer an dich gedacht.“
Vielleicht erwartete er ein ähnliches Geständnis. Er hob die Augen, da sah er in den meinen etwas, das ihn zu überraschen schien.
„Warum weinst du? Wart’, ich hab’ ein Taschentuch. Komm, trockne die Tränen schnell ab. Du mußt nicht weinen, ich bin bei dir und Frau Brand ist ganz nahe, weißt du.“
Ehe ich es hindern konnte, ward mir ein kleines. Taschentuch in die Hand
gedrückt. Halb lachend wischte ich mir damit die Augen, worauf ich es dem
mitleidig zusehenden Zäpperli zurückgab. Aber es wanderte nicht so schnell in
die Tasche. Erst wurde es an einen Ast des Hagebuttenstrauchs gehängt, um zu
trocknen. Es wehte sachte hin und her, worüber sich das Zäpperli so freute, daß
es
Meine Blicke suchten Frau Brand, obwohl ich wußte, daß mir von ihrer Seite keine Hilfe kommen konnte. Unwillkürlich fiel mir die Antwort ein, die das Konfirmandenbüchlein auf diese Frage gibt, aber dem Zäpperli war wohl kaum damit gedient zu wissen, das Gott ein unerschaffenes, geistiges Wesen sei. Ich schaute. hinunter in die vor Erwartung beinahe schwarzen Augen.
„Gewiß nicht aus Holz, denn weißt du, Fränzchen, der liebe Gott ist doch
lebendig. Es weiß niemand so recht, wie er aussieht, aber wir
„Eh! Eh! Der Vater von Papa und Grandpapa und von Frau Brand und dir und allen Leuten ?"
„Freilich, ja! Von allen Menschen!“
„Eh! Eh!“ staunte das Zäpperli aufs neue, dann fragte er eifrig: „Hat er eine Frau?“ „Wer? Der liebe Gott?“ — „Ja, der ,bon Dieu. Wo hat er sie?“ ~ „Ach Fränzeli,“ sagte ich ein wenig bestürzt, „der liebe Gott hat keine Frau.“ - „Nicht? Eh, der Arme!“ flötete das Zäpperli mit einem ganz kläglichen Stimmchen.
„Erzähle mir von zu Hause, Zäpperli!“ bat ich, um einer neuen ungeheuerlichen Frage zuvorzukommen. „D, zu Hause ist es langweilig. Ich muß jeden Tag Suppe essen, immer Suppe essen, und immer muß ich schlafen.“
„Nun, weißt du, das müssen wir alle, sonst werden wir nicht groß und stark. Und du willst gewiß einmal ein großer Mann werden, nicht?“
„O ja,“ seufzte das Zäpperli, „weißt du, wenn ich groß bin, werde ich ein Bauer
und habe viele
Das konnte aber das Zäpperli nicht fassen. „Du bist doch nicht all. Grandmaman ist alt und sie hat ein gelbes Gesicht und Striche darin. Und du bist –~ du bist wie ein Röschen, ja ganz wie ein Röschen.“
Ich lehnte mich zurück und lachte, lachte über die Bewunderung dieses meines jüngsten Verehrers. Das Zäpperli hüpfte vor mir auf und ab, sich an meinem Lachen weidend und immer aufs neue seinen Ausspruch wiederholend. Ich kam mir entsetzlich dumm vor, daß ich meinen Lachreiz nicht dämpfen konnte, aber das rote Kerlchen hatte mich vollständig behext. Er selbst lachte nicht, d. h. nicht laut, wie andere Kinder tun. Er riß nur den Mund auf, streckte ein klein bißchen die Zunge zwischen den schneeweißen Zähnen durch und quietschte dabei die merkwürdigsten Töne hervor.
„Chum jetze, Fränneli! Chum, chum, wir müsen heim!“ ertönte da Frau Brands Stimme. Wie schade! Ich hatte ganz vergessen, daß das Zäpperli noch für andere als mich existieren könnte. Ich fühlte beinahe ein Haßgefühl gegen die gute Frau Brand, die mit vielen Worten sich verabschiedete und mit ebensovielen mir ein baldiges Wiedersehen in Aussicht stellte.
Das Zäpperli und ich wurden innige Freunde. Zum Glück strahlte Frau Brands rotes Antlitz als günstiger Stern über unserm Bündnis. Sie lenkte jeden Tag ihre Schritte in den englischen Garten, übergab mir dort das Zäpperli und ging dann regelmäßig zur selben Bank, wo ssie entweder schlief - sie schien gegen jedes Kältegefühl gefeit zu sein ~ oder mit einer Nachbarin plauderte. Sie störte uns nie in unsrer Unterhaltung, aber nach Verlauf einer Stunde stand sie vor uns wie das unerbittliche Schicksal: „Chum jjete, Fränneli!“
Eine Stunde am Tag war das Zäpperli mein, und diese Stunde war so voller Licht
und Glück, daß davon auch ein warmer Schein auf die übrigen des Tages fiel. Ich
hatte nie vorher geahnt, wie
Das Zäpperli war sich dessen freilich nicht bewußt — glücklicherweise. Frau Brands Behauptung, er sei ein Dummerchen, war nicht ganz unberechtigt. Der Kleine war in seinem Geistesleben in manchem weit hinter seinen Altersgenossen zurück; aber mich störte dies nicht. Ich fand das Zäpperli immer liebenswert, auch wenn die runden Augen ein bißchen dumm-erstaunt in die Welt guckten.
Was für ein Poet steckte in dem kleinen Jungen! Er machte die niedlichsten kleinen Beobachtungen über Menschen und Blumen, über den ,bon Dien! und den blauen, blauen See. Er sprach von unserm zukünftigen Eheleben mit Worten, um die ihn ein Minnesänger hätte beneiden können.
Als der erste Schnee fiel und wie schimmernde Blüten an den feinen Gräsern und Zweigen haften blieb, war das Zäpperli außer sich vor Entzücken: „Nein, das ist zu schön! Ich könnte den .bon Dieu‘ küssen, weil er das alles gemacht hat. Meinst du, er werde mich bald in den Himmel rufen? Ich wache in der Nacht manchmal auf und liege ganz still und horche, horche . . . Aber er ruft nie, nur Frau Brand schnauft ganz laut.“
Das Zäpperli pflegte mir hie und da Geschenke zu machen. Ich habe noch ein
kleines Blechbüchschen, das er mir „für Knöpfe“ überreichte. Ein
glattgeschliffener Stein und ein altes, sehr verwaschenes Schiffchen folgten im
Lauf der Wochen. Die übrigen Geschenke bestanden aus Zeichnungen, nein Gemälden.
Eisenbahnzüge, Häuschen, Burgen strahlten mir in immer neuem Farbenglanz
entgegen. Es waren schreckliche Gebilde, die wirklich
Das Zäpperli liebte es sehr, mich von meiner Kindheit erzählen zu hören;
Geschichten und Märchen ließen ihn dagegen ziemlich kühl. Hie und da berichtete
er mir von zu Hause, von den „großen“ Brüdern und Schwestern, die ihn so viel
„schikanieren“. Wenn er von seinem Vater sprach, geschah es immer in einem
nahezu ehrfürchtigen Ton. Nie sah ich sein Gesichtchen lieber, als wenn es
erfüllt war von diesem warmen Ausdruck, den ich schon am ersten Tag unseres
Zusammentreffens gesehen. Aber nie auch tat mir das Herz so weh, als in einem
solchen Augenblick. Armes, einsames
Von seiner Mutter sprach das Zäpperli selten. Eines Tages äußerte er, sie habe eine große Nase und sei alt und gar nicht schön. Doch kannte ich des Kleinen Geschmack allmählich zu gut, um nicht zu wissen, daß Frau Sarazin trotz dieser Beschreibung eine Schönheit sein könnte. Einmal übrigens war ihr kleiner Sohn sehr entzückt, nicht von der Mutter selbst, aber von einem Kleid, das sie getragen. Offenbar ging sie zu einem Ball und das Zäpperli sah sie in einem „weißen, ganz weichen Kleid mit Gold daran“. Dieser letztere Umstand hatte ihm besonders imponiert. Er war eine kleine Kaufmannsseele und freute sich beinahe über nichts so sehr, als über ein Geldstück. Möglichst groß mußte es sein, der Wert ließ ihn gleichgültig.
Eines Tages, als ich länger als gewöhnlich auf das Zäpperli gewartet hatte,
erschien er, nicht in Begleitung der behäbigen Frau Brand, sondern an der Hand
einer eleganten Dame. Sie war groß und schlank gewachsen; das knapp anliegende
Kostüm saß gut und der große Hut mit den wallenden
Als das Zäpperli mich erkannte, redete es eifrig an der Mutter in die Höhe und
wies mit der Hand nach mir. Das stolze Haupt wandte sich, einen Augenblick
ruhten die kritischen Augen auf mir, dann grüßte sie, kaum merklich und sehr
herablassend. Das Zäpperli strahlte und nickte mir von weitem zu ~ und vorüber
waren sie. Ich sah ihnen nach mit einem sonderbaren Gefühl. Die Dame ging mit
großen, festen Schritten - ein
Ganz unerwartet brachen kalte Tage an. Die Bise wehte mit solcher Kraft und Schärfe, daß ein Ausgehen kaum möglich, ein Verweilen im englischen Garten undenkbar war. So sah ich das Zäpperli viele Tage nicht, und zu meinem Schrecken merkte ich, daß ich mich nach dem Kinde sehnte, sehnte mit einer wahren Leidenschaft. Und ich hatte kein Recht auf ihn, auch nicht das geringste. Ich kannte ja nicht einmal seine Familie, würde sie wohl nie kennen lernen, denn meine Tage in Genf waren gezählt. Ob der Kleine mich wohl auch vermißte? Ein wenig jedenfalls, aber in zwei Wochen war Weihnachten. Diese Aussicht konnte ein Kindesherz wohl ausfüllen. – Ganz ausfüllen? In ehrlichen Augenblicken wünschte ich es nicht.
Acht Tage vor Weihnachten sahen wir uns wieder, nicht im englischen Garten, sondern in der Nähe von ,„Florissant huité. Das Zäpperli wollte mir nicht recht gefallen. Sein Gesichtchen schaute blaß aus den roten Hüllen hervor, von Zeit zu Zeit hustete er rauh und tief. Frau Brand machte nicht viel daraus. „Ach, er hat oft Husten, seine Geschwister auch. Das kommt von der kalten Bise und wird schon wieder vergehen." Ich war froh, diese ruhigen, bestimmten Worte zu hören und lachte mich selbst aus über die Furcht, die mir das blasse Gesichtchen eingejagt hatte.
Hand in Hand gingen wir die Straße auf und ab. „Zäpperli“, sagte ich, „morgen gehe ich fort, weit fort. Weißt du, zurück in das große, stille Haus, von dem ich dir erzählt habe.“
„Und kommst du dann übermorgen wieder ?"
„Nein, Herzchen, nicht so schnell, aber vielleicht im Sommer. Was für ein großer Junge wirst du dann. sein! Ob ich dich wohl noch kennen werde?“
„Der Sommer ist sehr bald, nicht wahr?" fragte das Zäpperli. Wie merkwürdig müde
hatte das geklungen! Nahm sich das Kind den Abschied
„Ist der Sommer sehr bald?“ ertönte noch einmal das müde Stimmchen, und ich log: „O ja, bald! Nun kommt Weihnachten und du kriegst gewiß hübsche Spielsachen. Da spielst du wunderschön und bist immer froh und vergnügt. Nicht wahr, Kindchen?“
„Glaubst du, daß ich das große Pferd bekomme? Ich hätte es so gerne, so gerne o sieh, hier ist ein armer Junge! Er hat keinen Mantel und keine Mütze und er friert.“ Dicht neben uns auf dem Trottoirrand saß ein kleiner Junge, vielleicht 6-, 7 jährig. Als er Fränzchens Stimme hörte, hob er den Kopf und schaute uns an mit wundervollen, tiefblauen Augen. Aber welch ein Ausdruck lag darin! Ich hätte am liebsten meine Hand darüber gelegt, so weh tat dieser hoffnungslose Gram in den Kinderaugen. Selbst das Zäpperli schien ihn zu fühlen.
„O gib ihm etwas, sonst weint er!“ bat er,
„Da, gib ihm das, Fränzeli!“ Das Zäpperli bückte sich und legte die kleine Münze in das blau gefrorene Händchen. Wieder schaute uns der Junge an mit einem plötzlichen, dankbaren Leuchten in den tiefen Augen. Er murmelte ein paar Worte, stand auf und ging in der entgegengesetzten Richtung von uns fort.
Auf das Zäpperli hatte diese Begegnung einen großen Eindruck gemacht. Es gestikulierte lebhafter als je, schwatzte und hustete fortwährend, so daß sogar Frau Brand etwas von ihrem Gleichmut verlor.
„Bekommt der arme Junge nichts zu Weihnachten?" fragte das Zäpperli, mit einem kummervollen Gesichtchen stehen bleibend. „Freilich!“ sagte ich beruhigend. „Hier in Genf sorgt man sehr gut für die Armen. Allen Schulkindern wird beschert, da kriegt der Kleine gewiß etwas Schönes.“ „O, wie froh bin ich! Aber die andern Armen kriegen sie auch etwas?“ — „Was für Andere?“
„Weißt du, weit fort, die nicht in Genf sind. Hat
Ich schämte mich plötzlich vor den mitleidigen braunen Augen; ich mußte daran denken, wie wenig ich mich bis jetzt um die andern Armen gekümmert hatte. Und dann sah ich mein großes, stilles Haus vor mir. Aber es war nicht still ... viele kleine Füße polterten die Treppe herauf. Erwartungsvolle Gesichtchen schauten nach einer Türe, die sich plögzzlich öffnen und der jubelnden Schar einen Lichterbaum zeigen würde . ..
Ich erzählte dem entzückt lauschenden Fränzchen von diesen meinen Gedanken, dann waren wir an seinem Heim angelangt. Ich mußte Abschied nehmen von meinem kleinen Freund. Ich schaute hinunter in die lieben, warmen Kinderaugen ~ ich hätte am liebsten das Kind an mich gerissen ~ mein . ... mein ~ = Â aber ich lächelte nur: „Auf Wiedersehen im Sommer, mein Zäpperli!“ Und das Kind nickte mit ernsthaften Augen.
Es war am zweiten Tag nach meiner Ankunft in der Heimat, als mir der Postbote
einen Brief brachte. Große Buchstaben, von einer ungeübten Hand geschrieben. Wer
konnte das sein?
Mir graute davor, den Brief zu öffnen. Ich wußte es, ich fühlte es, das Kind war krank schwerkrank, am Ende ~ ~ Ich riß den Brief auf, durchflog die wenigen Zeilen. Ja, das HZäpperli war krank, so sehr, daß die gute Frau Brand es für ihre Pflicht gehalten, mich davon in Kenntnis zu setzen. Freilich war es ihre Pflicht. Hat man kein Recht darum zu wissen, wenn einem das Liebste geraubt wird! Und ich liebte das Kind, liebte es . .. und die Andere, die ihm jetzt nahe sein durfte, liebte es nicht, nicht wie ich.
Ich verlebte drei qualvolle Tage. Das Bild des kranken, des sterbenden Kindes war immer vor mir. Trotzdem rüstete ich auf den heiligen Abend, kaufte Eßwaren und Spielsachen, kaufte eine hohe, duftende Tanne; aber ich freute mich nicht mehr auf die strahlenden Kinderaugen. Ich wollte, ich konnte sie nicht sehen – ~
Und sah sie doch.
Noch ehe das Christkindchen seine Klingel ertönen ließ, klang eine andere schrill durchs Haus.
Meine Hand zitterte, als ich den Umschlag aufriß; dann mußte ich mich setzen und die Tränen liefen mir über die Wangen herab. heiligen Abend, unter dem Lichterbaum ~ es waren die seligsten, die ich je geweint.
Das Zäpperli war besser, viel bessser. Das waren gute Worte, aber die nächsten waren noch schöner — nie werde ich sie vergessen können.
„Der Herr und die Frau sind immer bei dem Kleinen drinnen. Die Frau will alles selbst machen und das Kind hängt auch so an ihr.“
Ich sah in den Lichterbaum hinauf. Wie die Kerzen leuchteten, die Zweige dufteten! Wie fröhlich die hellen Kindersstimmen klangen! – –
Und diese Kinderstimmen sind seither nie mehr in meinem Leben verklungen. Sie
haben mich mit dem kleinen Volk hier gesehen, aber nicht alle meine kleinen
Freunde sind so munter und froh. Ich kenne viele Kinder, auf denen das Leben
schwer und dunkel liegt. Und ihnen, den Hungrigen, ein wenig Licht und Freude zu
bringen, das hat mich
Die Fremde schwieg und schaute mit verträumtem Blick den Waldweg hinunter. Ging dort unten in der Ferne wohl ein rotgekleideter kleiner Junge vorüber?
Tief unten im Tal fing die Abendglocke an zu summen, da erhob sich die schlanke Frauengestalt mit rascher Bewegung.
„Sie müssen entschuldigen, daß ich Sie allein lasse. Jch habe den Kindern versprochen, nach dem Abendläuten Verstecken zu spielen, da muß ich mich sputen.“
Wohl jeder trägt in sich verborgen die Erinnerung an einen Ort, über dem der Stern der Kindheit mit besonders hellem Glanze leuchtet.
Vielleicht ist es ein Garten, ein weltfremder, drin prunkende Pfingstrosen und hohe Malvensstauden stehen; oder ein trauliches Zimmerchen mit herabgelassenen Vorhängen, und man sieht sich selbst klein und schmal an Mutters Knie lehnen und ihren Geschichten lauschen. Wieder zaubert die Erinnerung schneeige Berge, leuchtende Seen oder auch einen alten Hof, eine Scheuer - eine Bodenkammer.
Sie lag nicht in unserm Haus. Bei uns war alles hell und neu und sauber, sogar
auf dem Boden. Aber im Nachbarhaus, schräg über der Straße, war eine richtige
alte Bodenkammer, durch deren halbblindes Fenster das Licht nur spärlich
eindringen konnte. Gegen Abend wurde
Anni, die Alteste unserer kleinen Schar, behandelte Hauffs „Gespensterschiff“. Wir kannten ja die Geschichte längst auswendig, aber Anni sorgte für Variationen, so daß wir immer neuen Grund zum Kreischen fanden.
Die andern zwei erzählten nie. Dem dicken Gretchen fiel nichts ein und das kleine Elschen zählte noch gar nicht recht mit. Sie mußte sich überhaupt geschmeichelt fühlen, daß wir großen acht- und neunjährigen Mädels sie mittun ließen. Wenn man erst fünf Jahre alt ist und noch nicht einmal lesen kann!
Sie, Klein-Elschen, war übrigens manchmal recht angenehm. Wenn man statt der
Puppen gerne ein lebendiges Kindchen gehabt hätte, ließ
Die Bodenkammer war sehr geräumig. Wir hatten uns in einer Ecke ein ganz
behagliches Wohnzimmerchen eingerichtet, dessen Hauptstolz ein dreibeiniges Sofa
– an Stelle des vierten Beines stand eine Kiste ~ und eine wacklige
Kinderbettlade bildete. Wir waren auch im Besitz einer Truhe, deren Deckel so
schwer war, daß wir ihn nur mit Lebensgefahr aufheben konnten. Lange war es uns
überhaupt nicht gelungen, und wir hatten uns schon darein ergeben, nie etwas von
den darin verborgenen Schätzen zu Gesicht zu bekommen. Aber einmal packte uns
die Neugierde so mächtig, daß sie uns wahre Riesenkräfte zu verleihen schien;
unter Stöhnen und Ächzen gelang es uns, den Deckel zurückzuschlagen. Eine dicke
„Ein Ball!“ riet das kleine Elschen. „Ein Goldklumpen!“ meinte Gretchen mit bedächtiger Stimme.
„Wir wollen es herausholen,“ schlug Anni vor. „Steig’ du hinein, Mixi, du bist die Dünnste.“
Dagegen ließ sich nichts einwenden. Jch hockte zwischen den staubigen Büchern nieder und fing an, das runde Ding aus seiner Umhüllung zu schälen. Ich versuchte dabei mit Kopf und Schulter den andern die Aussicht zu verdecken. Mußte ich in die staubige Kiste kriechen, so wollte ich wenigstens die Entdeckerfreude erst allein genießen.
Die letzte Hülle fiel und ~ ~ ein Totenschädel grinste mich an aus leeren Augenhöhlen . .. in dem Oberkiefer staken noch ein paar gelbliche Zähne.
Ein eisiges Grauen packte mich, aber ich ließ den Schädel nicht fallen. Langsam, wie von einer unsichtbaren Hand gezogen, richtete ich mich auf und hielt meinen Spielgefährten den unheimlichen Fund entgegen.
Anni stieß einen gellenden Schrei aus. Das sonst etwas schwerfällige Gretchen flüchtete mit ein paar jähen Sätzen. Nur Elschen blieb stehen und tippte mit seinem rosigen Fingerchen auf den bleichen Schädel. Sie lachte dazu und sagte: „Was für ein komischer alter Mann!“
Die kalte Hand des Grauens ließ mich los. Ich lachte, lachte, daß mir beinahe die Tränen kamen. Dabei entglitt mir der Schädel und rollte mit merkwürdigem Ton über den Fußboden. Elschen hob ihn beinahe mitleidig auf und wickelte ihn in ihr Schürzchen.
Wir drei andern standen etwas verlegen beiseite. Zum erstenmal war sie die Überlegene, die Tonangebende.
„Wollen wir ihn begraben ?“ fragte die Kleine plötzlich, und wir stimmten begeistert zu.
Anni mußte sich unten nach einer passenden Schachtel, will sagen nach einem Sarg
umsehen.
„Lies es mir einmal vor!“ bat sie, als das Werk beendet war, und ich las:
Hier ruht unser liber Uhruhrgroßyvater.
Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle.
„Du hättest nicht diesen Spruch schreiben sollen,“ sagte Anni, mißbilligend das Schriftstück betrachtend. „Auf Gräber schreibt man ganz andere Sachen. Etwas von Aufersstehen oder Wiedersehen.“
„Das ist mir einerlei!“ entgegnete ich unerschüttert. „Mir gefällt der Spruch und ich habe den Ururgroßvater gefunden."
Gretchen stand unter der Türe, die Hacke über der Schulter.
„Ich habe einen feinen Platz, kommt schnell!“
Eiligst wurde der Schädel in Annis Schachtel gesteckt. Der Deckel wollte zwar nicht zugehen, aber das schadete nichts. Wir legten einen Fetzen schwarzes Tuch darüber und nun ordnete sich der Zug. Voraus ging Gretchen, der Totengräber, dann Anni, der Pfarrer; Elschen, die den Schädel trug, war der Leichenwagen, ich stellte das Trauergeleite dar.
Wir gingen mit ernsten Köpfen und bedächtigem Schritt die Treppe hinunter. Unter der Türe begegnete uns die kleine Mutter des Hauses. Sie war eine zierliche, bewegliche Frau mit lebhaften Augen, die sich stets zu freuen schienen, obwohl sie oft genug Grund gehabt hätten, ärgerlich und müde drein zu sehen. Außer meinen drei Freundinnen waren noch zwei größere und zwei ganz kleine Brüder zu versorgen. Das zappelte und schrie, lachte und kreischte den ganzen Tag um die Mutter herum, zerriß Kleider und Strümpfe, beschmuttte Fußböden und Fensterscheiben, wollte gewaschen und gefüttert sein. In dem allem stand die kleine Mutter, trug den Kopf mit dem tiefschwarzen Haar froh und aufrecht und hatte lachende, warme Augen.
Wir waren das so gewohnt und es erschien uns nichts Absonderliches. Erst viele Jahre später verstanden wir, was für eine tapfere Seele in der kleinen Mutter gewohnt hatte.
„Mama, wir müssen ganz still sein, wir spielen Begraben!“ krähte Elschen im Vorübergehen, und die Mutter stand denn auch andächtig und still.
Das Haus lag inmitten eines großen Gartens, der in verschiedene Abteilungen zerfiel. Da war ein freier Platz mit einem Sandhaufen für die Kinder. In einem andern Teil standen Blumen und Ziersträucher und wieder in einem andern lagen in schönen Reihen Gemüsebeete, daneben zog sich eine dichte Himbeerhecke. Am Ende dieser Hecke war der von Gretchen gewählte Begräbnisplatz. Sie hatte schon ein Loch gegraben, das sich aber als viel zu flach erwies. So arbeiteten Totengräber, Pfarrer und Trauergeleite mit vereinten Kräften, bis das Loch tief genug war, den Ururgroßvater aufzunehmen.
Die Grabrede fiel kurz aus, um so kräftiger und anhaltender war der Gesang. Wir
hatten
Elschen hatte noch vorgebracht „Wenn ich groß bin“, aber das war als völlig unmöglich abgeschlagen worden. Überdies sank sie durch diese Forderung in unserer Achtung wieder auf die frühere Stufe zurück.
An diesem Tag blieben wir bis zum Abendbrot im Garten. Der Sonnenschein war so hell und freundlich, während über der alten Bodenkammer immer noch etwas Unheimliches zu lagern schien. Aber am nächsten Tag unterzogen wir den Inhalt der Truhe einer weitern Besichtigung.
Die Bücher rochen uralt und hatten schwere, feste Einbanddecken. Die Schrift war
merkwürdig schnörkelig und ließ sich nicht ohne Mühe entziffern. Wir strengten
uns auch nicht sonderlich an. Eine Menge der Bücher wurden mit Abscheu zur Seite
gelegt, weil sie sich als „Doktorsbücher“ erwiesen. Dasselbe Schicksal teilten
ein paar An- dachtsbücher „auf Kosten einer wahrheitliebenden Gesellschaft
gedruckt“. Dann stieß Anni einen
Anni fing gleich an, uns „die Geschichte von dem tugendhaftigen Prinzen Treuherz und der wonnesamen Prinzessin Herzelaide" vorzulesen, aber der Genuß war nur mäßig. Sie blieb immer wieder an den feinen Schnörkelchen der Buchstaben hängen, und da die Sätze endlos lang waren, hielt sie an, wenn der Atem ausging, was nicht zur Erleichterung des Verständnisses beitrug.
Gretchen gähnte unverhohlen. Elschen spielte längst mit ihrer Puppe, da ging auch mir die Geduld aus.
„Laß doch die gräßlichen alten Prinzen und Prinzessinnen in Ruh ! Man versteht ja gar nicht, was sie miteinander sprechen. Und richtig ordentlich schreiben konnten die Leute früher scheints auch nicht. Wir wollen das Buch wieder in die Truhe werfen.“
Das Schließen des Deckels war viel leichter zu bewerkstelligen als das Öffnen.
Mit einem
Ein paar Tage lang besuchten wir regelmäßig Ururgroßvaters Grab und schmückten es mit Blumen. Auch mußte die Inschrift zweimal erneuert werden. Das eine Mal hatte sie der Regen zerstört, das andere Mal war sie den Buben in die Hände gefallen.
Diese schrecklichen Buben! Wie viel schöner wäre die Welt gewesen ohne sie! Wenn man mit den Puppen spazieren ging, äfften sie die Unterhaltung nach oder versuchten einen Überfall auf die Kinder. Wenn man im Bodenkammerzimmer eine Einladung an sie ergehen ließ, aßen und tranken sie all das mühsam Gekochte im Augenblick weg, und statt des Dankes brummten sie über „das bißchen Zeug“.
Nur bei den Ball- und Springspielen, hauptsächlich bei dem unvergleichlichen „Pflumeboppi, '8 Hüsli brennt!“ gingen wir Mädel und Buben gemeinsame Wege. Ja, und dann noch bei einem ganz besonderen Anlaß.
Unsere Vaterstadt feierte die 400jährige Wiederkehr
Weit draußen vor der Stadt war die Bühne errichtet worden. Am zweiten Tag — die Stadt schwelgte eine halbe Woche lang in ihren Erinnerungen – waren bei der Vorstellung sämtliche Schulkinder zugegen.
Das war ein Ereignis, vor dem alles andere, das sonst unser Leben ausfüllte, zurücktreten mußte. Während der Vorstellung saßen wir getrennt, aber auf dem Nachhauseweg fanden wir uns zusammen und konnten das Gesschaute besprechen.
Anni schwärmte besonders für den König Rudolf. Wie er sich hielt, wie er sich neigte! Sie streckte ihren schwarzen Wuschelkopf und die kurze Stumpfnase höher in die Luft, als erwerbe sie sich dadurch etwas von der königlichen Würde.
Gretchen war entzückt von all den holdseligen Frauengestalten, auch von den
Kindern, die so niedliche, lange Kleider trugen. „Jch wollte, wir hätten auch
welche!“ meinte sie seufzend. „Unsere
Damit war ich jedoch nicht einverstanden.
„Denk dir doch, wie unangenehm die dummen langen Kleider beim Springen wären! Der „Pflumeboppi‘ z. B. fiele alle Augenblicke auf die Nase.“
„Ja, das ist wahr!“ stimmte mir Anni zu. „Wer hat denn dir am besten gefallen, Mixi ? — Seht, nun wird sie schon wieder ganz rot!“
„Gar nicht!“ wehrte ich ab, obwohl ich die Glut bis unter die Haarwurzeln steigen fühlte. „Ihr werdet natürlich lachen, aber das ist mir einerlei. Mir hat der Priester am besten gefallen.“
„Der alte, heidnische Kerl!“ Anni war entrüstet. Das gutmütige Gretchen, wohl um mir wieder zu meiner natürlichen Gesichtsfarbe zu verhelfen, meinte tröstlich: „Sie hatten ihn, glaube ich, alle sehr gern.“
„Ja, und hörtest du nicht, wie sie alle so jammervoll aufschrieen, als er sich den Dolch ins Herz stieß ?“
„Du tust gerade, wie wenn er es richtig getan hätte, Mixi! Du brauchst gar keine
so fürchterlichen
Ich duckte mich und schwieg. Da war wieder das Wort, das ich am meisten fürchtete und haßte — - es ist nicht wahr.
Wozu hatte man denn all die seltsamen Gedanken und Träume, die einen halb froh, halb traurig stimmten, wenn alles nicht wahr sein sollte!
Freilich, das auf der Bühne war vielleicht nicht wahr gewesen. Das waren ja alles gewöhnliche Menschenkinder. Unter den langlockigen Pagen hatte ich einen Knaben entdeckt, von dem ich genau wußte, daß er in Wirklichkeit einen struppigen roten Haarschopf besitze. Aber wozu daran denken? Das ließ sich alles so hübsch beiseite schieben. Das gehörte in die Welt, die Schule, Aufgaben, Stricken und Gemüse-essen hieß.
Die andere Welt, die man in sich trug, und die sich doch so seltsam weit ausbreitete, bis zu den weichen, weißen Wolken hinauf, bis zu den winzigen Maßliebchen und Marienkäferchen hinab D diese Welt war weit schöner und heimatlicher.
„Miri, was träumst du wieder! So hör'
„Nein, nein! Das soll Teddy tun. Ich will den Kaiser Valentinian, du nimmst König Rudolf und Gretchen kann Bischof sein. Ach, und für Elschen müssen wir auch eine Rolle finden. Wie herrlich wird das werden, ich freue mich halb zu Tod !“
Hatte uns schon die große Vorstellung die Köpfe verdreht, so tat es unsere eigene noch weit mehr. Die Mutter mußte natürlich in die Sache eingeweiht werden, denn die Blumentöpfe, die wir als Kulissen brauchten und die langen Kleider, auf denen Gretchen mit großer Energie bestand, waren alle in ihrer Verwahrung und konnten denn doch nicht ohne weiteres herbeigeschafft werden. Meine Großmutter steuerte zu unserer Kostümierung einige Umlegtücher und Schmucksachen bei.
Wir arbeiteten täglich stundenlang an unsern Vorbereitungen. Natürlich, das ganze
Festspiel konnten wir nicht aufführen; wir mußten uns auf solche Szenen, in
denen möglichst wenig Personen
Der große Tag nahte. Punkt 2 Uhr sollte die Vorstellung beginnen; ein paar Minuten früher fanden sich die Zuschauer ein. Wir hatten ihrer nur wenige gebeten. Natürlich die kleine Mutter, die sich beinahe ebenso sehr wie wir auf das Festspiel freute, dann Großmutter und eine Tante, die auf Besuch gekommen. Großmutter erhielt den gedruckten Text, da sie die richtige Aufführung nicht mit angesehen hatte. Sie hielt das Heftchen weit von sich, denn ihre alten Augen konnten nicht mehr in die Nähe sehen. Das imponierte mir immer gewaltig, und es verfehlte auch seinen Eindruck auf meine Spielgefährten nicht. Es hat nicht jeder eine Großmutter, die so merkwürdig liest.
Die Zuschauer saßen auf dem alten Sofa. Wir hielten uns in einer Nebenkammer verborgen, bis es 2 Uhr schlug.
Das erste Bild stellte die Gründung unserer Stadt durch Kaiser Valentinian im
Jahre 374 dar. Anni, Gretchen, Elschen und Teddy zogen
Das ging so zu: Wir hatten ein Schaukelpferd, das bei jeder starken schwingenden Bewegung einige Zoll vorwärts glitt; so konnte man also tatsächlich reiten.
Kaiser Valentinian trug ein Barett mit weißen Gänssefedern und einen malerisch
umgeworfenen roten Mantel. Außer dem Scepter hielt er merkwürdigerweise auch ein
Heftchen in der Hand,
„Nehmet mich auf! von mannigfaltigen
Greueln und Sünden, von Schand und Not
Löse mich leicht der heilige Tod !“
Teddy in einem langen, dunkeln Gewand, mit mächtigem weißem Bart sah nach Annis Urteil ganz wie ,so ein heidnischer Kerl“ aus. Die letzten Worte heulte er geradezu. Dann ließ er sich, in dem schönen Glauben, die klagenden Weiber würden ihn auffangen, rücklings zu Boden stürzen. Aber o weh! Keine schützenden Arme umfingen seinen sinkenden Leib. Er schlug mit solchem Dröhnen auf den harten Fußboden, daß aus dem Zuschauerraum ein Entsetzensschrei erscholl, der freilich in ein Lachen überging, als der tote Priester wütend zischte: „Na, wartet nur bis nachher!“
Kaiser Valentinian stellte die Stimmung wieder
Unter dem Jubelchor des Volkes und von ihrer Schar begleitet und hilfreich geschoben, ritt seine Majestät davon.
Die zweite Scene, die den Bau der alten Rheinbrücke im Jahre 1225 behandelte, überschlugen wir, der vielen Personen wegen. Um sie aber nicht ganz unerwähnt zu lassen, wandelte Gretchen langsam und heimlich als Bischof über die Bühne; Elschen trippelte, ein Meßglöcklein schwingend, hintendrein.
Das dritte Bild brachte den Höhepunkt des Festes: Anni als König Rudolf. Ihre schwarzen Zöpfe waren unter einem Turban verborgen. Sie stak in einem deutschen Militärrock und schulterte einen uralten Schießprügel. Um den Hals hing ihr eine goldene Kette, und ihre Beine waren mit Reiterstiefeln bekleidet. König Rudolf versprach mit großem Pathos der Stadt ihre Freiheit; Schultheiß Gretchen dankte tief.
Die kriegerischen Rollen des vierten Bildes, wo es sich um den in die Schlacht
von Sempach abziehenden Herzog Leopold handelte, wurden durchweg
Den erhebenden Schluß bildete das Auftreten der drei Frauengestalten: Helvetia, Basilea, Klio. Unter dem völlig programmwidrigen Hurrahgeschrei der Buben sank Basilea in die mütterlichen Arme Helvetias.
Das Publikum erwies sich sehr aufmerksam. Die kleine Mutter lachte Tränen. Die Tante fühlte sich „bewegt“ und auch Großmutters alte Augen schauten freundlich zu uns herüber. In die Ferne konnte sie ja gut sehen, und so war ihr keine Einzelheit unserer Kostüme, keine einzige fürstliche Geste und dramatische Bewegung entgangen.
Nach dem wirklichen Festspiel hatte ein großes Festessen stattgefunden. Auch uns ward eines zu Teil.
Als die Vorstellung zu Ende war, lud uns die kleine Mutter feierlich ein,
hinunter zu kommen.
Diese Aufführung blieb nicht die einzige, die die alte Bodenkammer erlebt hat. Das Bühnenfieber hatte uns gepackt, und eine Zeit lang mußten sich Großmutter und die kleine Mutter wieder und wieder zu dem alten Sofa hinaufbequemen, um unsere „Lebenden Bilder“, Komödien und Tragödien anzusehen.
Der Winter machte diesen Vorstellungen ein Ende, und der Winter brachte auch eine schmerzliche Trennung. Meine Freunde verließen die Stadt. Das alte Haus wurde eingerissen, und in dem zierlichen Neubau, der sich an seiner Stelle erhob, war keine alte Bodenkammer mehr zu finden.
Der kleine Konzertsaal war gedrängt voll, obschon die Uhr erst 1/2 5 Uhr zeigte.
Um 5 Uhr sollte das Konzert beginnen, dem schon viele Tage lang erwartungsvolle Kinderherzen entgegengeschlagen hatten. Denn es war ein Kinderliederabend, dessen Erlös helfen sollte, kleine, verwahrloste, pflegebedürftige Kinderchen zu wärmen und zu kleiden.
Und nun saß man in festlich erregter Stimmung, nickte hier einer Schulfreundin zu
oder begrüßte mit artigem Aussstehen eine bekannte Dame, denn die Zuhörersschar
bestand nicht nur aus Kindern. Mütter und Tanten und große Schwestern, auch
Großväter und Großmütter waren mitgekommen und ihre Herzen schlugen ebenso
freudig der jungen Sängerin entgegen. Einige unter ihnen hatten sie als kleines
Mädchen gekannt. Ihre ersten Kinderjahre gehörten ja der Stadt; sie war
eigentlich keine
In einer der hintersten Reihen saß eine Dame mit stark ergrautem Haar. Ihr Gesicht mit den regelmäßigen Zügen sah ernst und vornehm aus, wurde aber durch den gelblichen, mit Sommersprossen bedeckten Teint und durch die farblosen Augen seltsam entstellt.
Eben neigte sich ihre Nachbarin, eine noch jugendliche Großmutter, die zwei quecksilbrige Enkel zu überwachen hatte, zu ihr hinüber.
„Sie müssen Frau Werner wohl auch kennen. War sie nicht in Ihrer Schule ?“
Die Angeredete nickte, während sie die dichten Brauen leicht zusammenzog.
„Sie war nahezu zwei Jahre bei mir, dann verließen ihre Eltern die Stadt. Ich habe keine allzu deutliche Erinnerung an sie. Es sind gar so viele Kinder durch meine Hände gegangen.“
Der Großmutter Blick glitt unwillkürlich über ihrer Nachbarin Hände. Sie waren
schön geformt, aber durch denselben Fehler entstellt wie das Gesicht. Und sie
sahen so hart – so unerbittlich aus.
Was waren das für törichte Gedanken! Fräulein Marx galt als eine der tüchtigsten Lehrerinnen, und wie sie selbst gesagt, es waren Scharen von Kindern durch ihre Hände gegangen.
Wie um ihre finsteren Gedanken gut zu machen, wandte sich die Großmutter noch einmal zu ihrer Nachbarin.
„Aber ihre Stimme muß Ihnen doch aufgefallen sein? Ich erinnere mich noch an einen Tag der Weihnachtsferien, den sie, kurz vor ihrer Abreise, bei uns verbrachte. Mit einem Stimmchen, das an einen frohen kleinen Vogel erinnerte, sang sie mir das Märchenlied „Schneewittchen hinter den Bergen“. Sie wird es heute wieder singen, wohl schöner und kräftiger als dazumal, aber hoffentlich noch mit der alten, einfachen Innigkeit. Ich meine, ich sehe noch ihre blauen, nachdenklichen Kinderaugen. Sind sie Ihnen nicht auch aufgefallen ?"
Fräulein Marx, die dem ganzen Redestrom mit unbeweglichem Antlitz standgehalten, ward einer Antwort enthoben. Die sehnsüchtig erwartete Sängerin war eingetreten und hatte sich an den Flügel gesetzt.
„Wie reizend, daß sie sich selbst begleitet !“ flüsterte die Großmutter noch, dann wandte sich ihre ganze Aufmerksamkeit ihr zu, deren Augen und Stimme sie nie vergessen hatte.
Frau Werner sang erst für die ganz Kleinen ein Koseliedchen und „Häslein in der Grube.“ Sie hatte das Notenbuch vor sich aufgeschlagen, aber sie warf kaum einen Blick darauf. Sie hielt den Kopf leicht zur Seite geneigt und schaute mit mütterlichen Augen auf zwei kleine Mädchen der vordersten Reihe. Es war, als habe sie vergessen, daß man von ihr als von einer großen, gottbegnadeten Sängerin spreche. Sie war einfach eine Mutter, die ihrem kleinsten Kleinchen vorsingt.
Dann kamen muntere Reiter- und Soldatenlieder für die Knaben. Das klang so
mitreißend, daß ein kleiner Junge anfing, mit den Füßen den Takt zu stampfen.
Für die Mädchen gab es Puppenwiegenlieder, Tanzliedchen und das wunderzarte
Ganz leise und geheimnisvoll, beinahe ein bischen wehmütig tönten die lezten Worte, so als sängen sie die kleinen Zwerge ihrem scheidenden Schneewittchen nach. Die ganze große Kinderschar saß unbeweglich, als stünde der Zauberwald hinter den sieben Bergen vor ihnen, als riefen fremde, süße Stimmen aus seiner Tiefe.
Da erhob sich die Sängerin, und während sie sich leicht verneigte, fingen all die großen und kleinen Hände an zu klatschen, zu klatschen, immer aufs neue — es wollte kein Ende nehmen. Einige der Kleinsten standen auf den Sitzen lachend und zappelnd. Man hörte Bravorufe und dazwischen die Beschwichtigungsbefehle der Erwachsenen.
Die Großmutter schaute mit glücklichen Augen um sich.
„Was für ein prächtiges Menschenkind ist sie doch geworden und wie lieb ist diese klare Stimme! Sind Sie nicht stolz auf Ihre einstige Schülerin? Sie sind es ja gewesen, die als Erste ihre musikalische Ausbildung übernommen hat.“
„Ich glaube kaum, daß ich mich sehr verdient
Sie fand sich übrigens bald wieder zurecht. Einmal lag dies in ihrer Natur, das übrige tat Frau Werners Stimme. Sie sang von allem, was in einem Kinderleben hell und leuchtend ist. Sie sang vom Christkindlein, vom Weihnachtsbaum, vom Osterhasen. Sie ließ Knecht Rupprecht daher poltern und erzählte schalkhaft, wie der Kaminfeger der Köchin einen schwarzen Kuß gegeben. Sie quietschte wie ein Mäuschen und krähte wie ein Hahn.
Ganz am Schluß, als die Kleinsten schon anfingen schläfrig und unruhig zu werden, sang sie von einer Mutter, deren Kindchen zur Taufe getragen wird.
Während der Sängerin Augen den ganzen Abend über auf den Kindern geruht hatten, –
lachend, ernsthaft, geheimnisvoll, - schaute sie jezt über alle hinweg. Sie
hatte sich nur bei den ersten, einfachen Liedern selbst begleitet. Nun stand sie
frei, die Hände leicht ineinandergelegt und
Fräulein Marx war unter den erssten, die den Konzertsaal verließen. Als sie sich in der Garderobe ankleidete, öffnete sich plötzlich eine Seitentüre und Frau Werner, gefolgt von einigen Freunden, trat in den Raum. Es war offenbar ein Versehen. Sie wollte sich lachend zurückziehen, da fiel ihr Blick auf Fräulein Marx und das lächelnde Antlitz erstarrte. In ihre schmalen Wangen stieg langsam ein heißes Rot. Groß, angstvoll schauten ihre Augen in das Gesicht der Lehrerin, so daß sich diese mit einer hastigen Bewegung abwandte.
Sie ging zu Fuß nach Hause zurück, obwohl ein sachter Regen niederrieselte und ein kalter Wind die Straßen fegte. Recht so. Ihr Gesicht brannte und das Blut jagte heiß durch ihre Adern. Und im Kopf wirbelten die Gedanken wirr durcheinander. Die Bilder alle, denen sie Schweigen geboten, standen auf, drohend, richtend . . . weißt du noch? .... erinnerst du dich? . . . da . .. und da . . ..und da...
Fräulein Marx war zu Hause angekommen. Das Dienstmädchen nahm ihr den nassen Mantel ab und meldete, daß das Abendessen bereit stehe. Sie trat in das behaglich durchwärmte Zimmer, aber anstatt sich an den zierlich gedeckten Tisch zu setzen, zog sie sich einen niedern Stuhl ans Kamin. Ein, zwei Stücke Holz warf sie auf das müde fläckernde Feuer. Dann setzte sie sich und beobachtete die Flämmchen, wie sie die dicken Holzklötze umspielten, plötzlich auflodernd, scheu sich duckend. Und sie wuchsen höher und höher, die gierigen kleinen Flämmchen. Ihr Licht ward greller und blendender mit jedem Angenblick. Nein, es gab kein Entrinnen vor ihnen. Sie leuchteten die einsamen Gänge der Vergangenheit hinab .. .
Da kommt sie geschritten, die feine, kleine Kindergestalt. Das Ränzel auf dem
Rücken, die kurzgesschnittenen Blondhaare mit einem Strohhut bedeckt — eine
zögernde Hand legt sich in die ihre: „Kommst du auch gerne in die Schule?“ fragt
die Lehrerin und schaut ernst in die blauen Kinderaugen. Vielleicht allzu ernst.
Die kleine Hand wird energisch zurückgezogen und der Mund mit
„Entsinnst du dich noch deiner Gedanken?“ fragen die roten Flämmchen. Entsinnst du dich? Du bedachtesst nicht, daß das Kind aus seiner goldenen Spielfreiheit kam, daß ihm die Schule fremd und drohend erscheinen mochte. Ein Wort von dir hätte sie in einen frohen Ort verwandeln können, aber du sprachst es nicht aus. Du ärgertest dich über die trotzige Antwort; du faßtesst eine Abneigung gegen das Kind. Und du ließest sie wachsen, Tag um Tag, Woche um Woche. Du hast das Kind gequält .. .
Es war boshaft, unwahrhaftig . . . War es das wirklich ? Andern Kindern heimlich
den Zopf auflösen, ein Papierchen in den Nacken schieben, lustige Fratzen auf
die Tafel zeichnen, sind keine Bosheiten. Aber wenn du den andern Kindern
zuflüstertest, das unartige Ding laufen zu lassen, das war boshaft. Siehst du
noch die Kleine abseits im Hofe stehen mit halb erstaunten, halb kummervollen
Augen? Und weißt du noch den Tag, da sie so einsam stand, daß sie sich
schluchzend an das schwarzlockige, von allen zurückgeschobene Judenmädchen
Das Kind war unwahrhaftig, sagst du. Sie log den andern die längsten Geschichten vor. Natürlich war es deine Pflicht, sie darüber zur Rede zu stellen. War es auch deine Pflicht, dies vor der ganzen Klasse zu tun, sie öffentlich als Lügnerin zu brandmarken? Und du wußtest, daß sie es nicht war. Du wußtest, daß eine reiche, unbändige Phantasie in dem Kinde steckte, die sich irgendwie Luft machen mußte. Warum sagtest du dem Kinde nicht: „Sieh', all die schönen Dinge, die du dir austräumst: daß du in einem Garten ein Zwerglein gesehen und es dir eine Puppe, die gehen und sprechen kann, versprochen, sind ja ganz wundervolle Geschichten, und wenn du sie deinen kleinen Freundinnen so erzählst, ist alles schön und gut.“
Ja, so hättest du sprechen sollen. Aber du sagtest: „Wie kannst du nur solches
Zeug zusammenlügen!“ Und du schlugst zweimal schwer auf die weichen, weißen
Kinderhände. Dann sollte das Kind abbitten. Aber es wollte nicht und schluchzte
nur: „meine Puppe, meine wunderschöne Puppe!“
Das Kind war klug und lernte leicht. Du mußtest das zugeben. Nur das Rechnen machte ihr große Mühe und du halfst ihr nicht mit geduldigen Worten. Du ssteigertest ihre Angstlichkeit durch rasches Erklären, hastige Fragen. Eines Tages stand sie an der schwarzen Tafel und sollte die Zahl 109 schreiben. Sie schrieb 1009, sie konnte nicht verstehen, daß die eine Null plötzlich zu verschwinden habe. „Besinne dich!“ riefst du streng. „Schreibe noch einmal!“
Das Kind dachte nach, ernsthaft, zitternd und schrieb –~ 1009. Die ganze Klasse kicherte. Du lachtest nicht, aber du nahmst des Kindes Hand und du sagtest: „Komme einmal in die I. Klasse hinüber, vielleicht kann dir eine der Kleinen helfen.“
Das Kind schaute auf. Es versuchte in deine strengen Augen zu lächeln: „Ach, bitte nein! Es tut mir so leid!“
Aber dein Griff war hart und du gingst nach der Türe. Da geschah etwas ganz
Unerhörtes. Das Kind wehrte sich, wehrte sich aus allen Kräften.
Aber du warst stärker. Du rissest die zuckenden Händchen los; du schlepptest das Kind über die Schwelle und stelltest es vor die erstaunten Kleinsten hin. „Da seht ihr ein dummes, ungezogenes Mädchen!“
Und das Kind ward mit einemmal ruhig, unheimlich ruhig. Es blieb vor den Kleinen stehen, an dem Platz, an dem es stehen sollte und schaute mit ganz starren Augen über alle hinweg.
Von diesem Tage an haßtest du das Kind. Du entsinnst dich doch? Das Kind aber hatte seine Hilflosigkeit erkannt und wehrte sich nicht mehr. Es ward furchtsam, feige und nun log es auch. „Wer hat die Kreide zerbrochen ?“ Noch vor wenigen Monaten hätte das Kind ,ich“ geantwortet, nun sagte es: „ich weiß nicht.“
Einmal kam die Mutter des Kindes in die Schule. Die Zeugnisse waren immer
schlechter
Die Mutter erhob sich seufzend. Sie hatte eine große Kinderschar zu erziehen. Dies Kind war ihr letztes und hatte ihr bis jetzt nur Freude gebracht. Sollte sie sich so getäuscht haben?
Sie verabschiedete sich mit einigen bedauernden Worten, dann reichte sie auch dem Kinde die Hand. Das schaute zur Mutter auf, glühend rot vor Scham, aber mit ssehnsüchtigen, hungrigen Augen. Die Mutter strich ihr leise übers Haar und sagte: „Mein Kind wird sich Mühe geben, nicht wahr?“
Wie sie sich an jenem Tag mühte! Sie las ohne Anstoß; sie schrieb, ohne
aufzublicken, ohne mit der Nebensitzerin zu plaudern. Nicht ein einziges mal
ließ sie, wie sonst so oft, das Tintenfaß
Die letzte Stunde war eine Singstunde. Die liebte das Kind über alles. Sie hatte die süßeste, klarste Stimme, die sich denken läßt. Du hörtest sie freilich nicht allzu deutlich. Sie stand ja in der hintersten Reihe bei der kleinen Sara und andern, die nicht singen konnten oder mochten. Du selbst saßest am Klavier, und deine liebsten und artigsten Schülerinnen standen dicht um dich her. Da — zu deinem maßlosen Erstaunen steht plötzlich das Kind neben dir. Es hat sich wohl an diesem Tag so „gut“ gefühlt, daß es gewagt hat, in deine Nähe zu kommen. Mit einem verschämten Lächeln schaut es zu dir auf, und du sagst langsam und deutlich: „Was tust denn du da!“
Siehst du noch die weitgeöffneten blauen Augen, die sich plötzlich mit Tränen füllen? Die kleine Gestalt geht zurück, bis sie wieder in der hintersten Reihe steht. Aber der Kinderchor klingt heute dünn und schwach, denn die süßeste und klarste Stimme fehlt.
Entsinnst du dich der letzten Woche, die das Kind bei dir zugebracht? Das
schlimme Ding!
„Wo ist das Geld ?" fragtest du.
„Ich + ich habe es verloren!“ stotterte das Kind. Die Lüge trieb ihm das Blut in die schmalen Wangen und in die hohe, schöne Stirne.
„Gut!“ sagtest du, „ich will mal deine Mutter fragen.“
Das Kind machte entsetzte Augen; stumm schlich es an seinen Platz. Es trieb auch heute keinen Unfug, aber es gab verkehrte Antworten; beim Schreiben machte es einen Tintenklex um den den andern, und in der Spielpause stand es trübe in einer Ecke.
Um 12 Uhr gabsst du ihr den kleinen Brief. Das Kind steckte ihn in den Schulranzen und ging. Du hattest um Antwort gebeten und das Kind brachte sie dir am andern Morgen. Mit einem vertrauensvollen Gesicht legte es den Brief in deine Hand.
Du lasest und das Mitleid faßte dich hart an. Die Mutter erzählte, wie ihr das
Kind gebeichtet
Du ließest das Blatt sinken und schautest über die Klasse. Vielleicht wenn dich das Kind mit flehenden Augen angesehen, hätte dein Mitleid gesiegt. Aber das Kind lachte, lachte unbekümmert, beinahe triumphierend in dein ernstes Gesicht. So sicher fühlte es sich . .. Und du?
„Wir haben Kopfrechnen.“ Du stelltest die Aufgaben und fragtest der Reihe nach ab. Aber wenn sich das Kind zum Antworten erhob, riefst du die Nächste auf.
Ein leises Flüstern ging durch die Klasse. Die Köpfe wandten sich nach der Verfehmten; fragende, mitleidige, schadenfrohe Blicke streiften sie.
Entsinnst du dich ?
Es war dein letzter Triumph. Am andern
Fräulein Marx saß unbeweglich vor dem Feuer. Zweimal hatte das Dienstmädchen die Türe geöffnet und war kopfschüttelnd wieder gegangen.
Die hellen, lodernden Flammen sanken immer mehr in sich zusammen. Nun liefen sie nur noch als kleine, glimmende Funken über die verkohlten Holzscheite.
Die feine Gestalt, die aus der fernen Vergangenheit hervorgetreten ~ verschwand; an ihre Stelle trat das Bild der jungen Frau Werner. Weiches, schimmerndes Blondhaar, schmale Wangen, eine hohe, schöne Stirne, tiefblaue, nachdenkende Augen.
Sie hatte diese Augen heute auf sich gerichtet gefühlt, furchtsam, entsetzt. Das Kind hatte nichts vergessen. Vergeben vielleicht, doch wer kann die Erinnerung auslöschen?
Mit einem plötzlichen Aufsschluchzen streckte Fräulein Marx die Hände aus und ließ sie wieder sinken.
Ihr Leben war reich und schenkte ihr Freude und Anerkennung. Es gab genug Menschen, die ihrer in dankbarer Liebe gedachten.
Was galt ihr das alles in diesem Augenblick!
Einmal war in ihre Hand ein scheues, zitterndes Seelchen gelegt worden . . . einmal . .. Das war lange her. Das Seelchen hatte längst sein Flügel gebreitet und war in ein seliges Reich geflogen. Und trotzdem . . . Konnte es je vergessen, daß es einmal in einer kalten, mitleidslosen Hand gelegen?
„Und wenn wir uns wiedersehen, ist mein Hansel ein großer, sstrammer Bub geworden. Ach, wie froh will ich dann sein !“
Das hatte Mutterchen gesagt, als sie zum letzten Male an ihres Jungen kleinem Bett gesessen war. Am andern Morgen, noch ehe Hansi die Augen geöffnet hatte, waren sie und der Vater fort gereist, weit fort, zurück in das heiße Land, in dem Hansi geboren war und als kleiner Junge gespielt hatte.
Wie war es da schön gewesen! Hansi erschien es wie ein langer, ununterbrochener
Sonnentag. Ein bißchen heiß manchmal, aber dann hatte ihn die freundliche braune
Ajah gefächelt, und Mutterchen hatte ihm erlaubt, wie ein kleiner Hindujunge,
nur mit einem Lendentuch bekleidet, herumzusspringen. Und da war eine große,
mattenbedeckte Veranda gewesen, und ein prächtiger Blumengarten, und das
Jetzt wohnte Hansi in einem großen Haus mit vielen andern Buben zusammen. Eine Veranda gab es da nicht, nur große, helle Stuben, die ein bißchen leer und nüchtern dreinsahen, denn an der Wand hingen keine Bilder, und nirgends standen Blumentöpfe oder schön geformte Vasen. Natürlich, in einem Haus mit so vielen wilden Buben konnte man derartiges nicht haben. Mutterchen wenigstens hatte den Mangel so erklärt, und Hansi hatte ihr, ein wenig seufzend, beigestimmt.
Wenn sie nur ein bißchen weniger wild gewesen wären, diese Buben! Hansi fürchtete
sich vor ihnen, oft unnötigerweise, denn im Grund
„Ja, du mußt eben, du mußt!“ gröhlte die ganze Bande, und sie sahen voller
Entzücken, ohne die geringste Rührung, wie in Hanssis großen graublauen Augen
eine heiße Angst aufwachte. Vielleicht, daß. ihnen die dummen Worte leid gewesen
wären, wenn sie gewußt hätten, daß sie wochenlang wie ein schweres Gewicht auf
Hansis Herzchen drückten. Ja, wochenlang. Dann auf einmal kommen ihm wie eine
Erleuchtung Mutterchens Worte in den Sinn: „Wenn wir uns wiedersehen, ist mein
Hansel ein großer, strammer Bub geworden.“ Also noch ein Buh! Mutterchen doch
gewiß verhindern, daß er ein Sandmännchen werde. Und Hansi war darüber
Der Hof erinnerte in nichts an den herrlichen Blumengarten; nur in einer Ecke war ein kleiner Abglanz davon. Da hatten die größeren Buben ihre Gärtchen. Jedem gehörte ein schmales Beet, das er sselbst bepflanzen durfte. Wie sehr liebte Hansi diese kleinen Gärten! Keiner der eigenen Besitzer wartete mit größerer Spannung auf das Erblühen einer Knospe, auf das Aufgehen irgend eines geheimnisvollen Blumensamens. Die großen Jungens fanden es oft ganz angenehm, den Kleinen helfen zu lassen.
„Er tut es ja so gern,“ entschuldigten sie sich vor sich selbst, wenn sie sahen,
wie er mit glühendem Gesicht die Beete von Unkraut und Steinen säuberte. Aber
keiner dachte daran, dem kleinen Hansi ein Stückchen, ach! nur ein winziges
Stückchen zu geben. Und er mußte noch so lange warten! Wer in die dritte Klasse
eintrat, bekam ein Gärtchen, und Hansi gehörte noch zu den
„Das ist Karl, und das Gerhard, und das Fritz."
Er konnte sich beinahe einbilden, mit im Klassenzimmer zu sein, wie ein richtiger, großer Junge. Ach, wenn doch das Frühjahr bald kommen wollte!
Aber vorerst war es Juni. Im Juli und
Nur Hansi nicht. Er wußte nicht, daß ihn eine Tante längst eingeladen, und niemand dachte daran, ihm etwas davon mitzuteilen. Da überkam ihn nach und nach eine große Traurigkeit. „Alle werden sie fortgehen, dann bin ich ganz allein,“ dachte das arme Hänschen, und in Gedanken durchwanderte er das große Haus und horchte vergeblich an den totenstillen Klassenzimmern. Wie liebte er mit einem Male die vielen wilden Buben! Er konnte es ihnen nicht sagen, nur manchmal sprachen die großen, angstvollen Augen so deutlich: „Jch hab’ dich lieb! Geh nicht fort! Weißt du denn nicht, daß ich dann ganz allein bin?“
Aber frische, lebenslustige Buben verstehen eine leise Augensprache schlecht.
Hansi mußte deutlicher reden und das tat er auch eines Tages. Der Größte der
ganzen Schar, der Hansi beinahe wie ein Herr vorkam, hatte ihm erlaubt, sein
Gärtchen zu begießen. Eifrig trippelte Hansi hin
„Komm, die Schürze hängen wir an die Mauer, da scheint noch Sonne hin, die trocknet bald.“
Er tätschelte bei diesen Worten Hansis blonden Haarschopf ~ das tat wohl bis tief ins kleine Herz hinunter. Hansi faßte plötzlich Mut.
„Ach du, Ernst, kann ich nicht mit dir in die Ferien gehen? Weißt du, ich muß sonst allein dableiben.“
Noch ehe Ernst antworten konnte, klang ein unbändiges Gelächter an Hanssis Ohr.
Da stand hinter ihm sein schlimmster Quälgeist, ein lang aufgeschossener,
sommersprossiger Junge mit schlenkrigen Gliedern. „Nun meint das Baby, es bleibe
allein zu Hause! Ha, ha, das ist ja rein zum Totlachen. Aber halt!“ — der
lustige Ton schlug plötzlich in einen ernsthaften um ~ „du hast ganz recht. Du
mußt freilich allein dableiben. Ganz allein. Die Hauseltern gehen weg, und die
Mägde
Hansi starrte den Sprechenden in ssprachlosem Schreck an, und nun geschah etwas völlig Unerwartetes. Er schrie auf, so jammervoll, daß es sogar dem dummen Buben ins Herz drang, und dann stürzte er, immer die gleichen schmerzlichen Töne ausstoßend, auf das Haus zu.
„Du Esel!“ knurrte der große Ernst, dem Sommersprossigen einen Rippensstoß versetzend, dann rannte er in großen Sprüngen der kleinen Gestalt Hansis nach. Drinnen im Haus fand er ihn. Die Hausmutter, eine rüstige Frau, mit einem freundlichen, tüchtigen Gesicht, hielt Hansi auf dem Schoß und strich ihm beruhigend über die tränennassen Bäckchen.
„Nun, weine nur nicht mehr! Hat es denn gar so weh getan? Wo bist du denn gefallen? Komm, jetzt machen wir „Heile, heile Segen! Drei Tag’ Regen, drei Tag’ Schnee — tut dem Kindchen nimmer weh..“
In ihrer Stimme lag etwas so Beruhigendes, daß Hanssis wildes Schluchzen
allmählich verstummte. Da stellte ihn die Frau wieder auf
Der große Ernst stand etwas verlegen neben dem kleinen Kameraden. „Hansi!“ sagte er, „sieh mich einmal an." Gehorsam hob Hansi das Köpfchen. „Du mußt nicht dableiben, du bist auch eingeladen. Du darfst zu deiner Tante in den Schwarzwald. Das wird fein, freu dich nur. Auf Karl brauchst du nicht zu hören, der schwatzt nur dummes Zeug.“
Hansi sagte nur das eine Wörtchen ,o“; aber dabei schaute er den großen Ernst an, mit so sonnenwarmen Augen, daß ein wunderssames Gefühl über den Jungen kam. Zärtlichkeiten waren in der Anstalt verpönt; aber nun konnte er nicht anders. Er bückte sich und küßte das glückstrahlende Gesichtchen vorssichtig und rasch.
Ende August rückte Hansi wieder in der Anstalt an. Er brachte ein
sonnenverbranntes Gesichtchen mit, und hatte frohe, blanke Augen, in denen sich
viel Liebes gespiegelt hatte. Das war
Und doch war eigentlich niemand unfreundlich mit dem Kleinen. Nur . . . es hatte niemand Zeit für ihn. Das war es. Die Hausmutter und die vier Mägde hatten alle Hände voll zu tun mit dem großen Haushalt. Der Hausvater und die Lehrer beschäftigten sich wohl auch außer den Stunden mit den Buben, aber mit Hansi wußten sie nicht viel anzufangen. Nur der Singlehrer gab sich hie und da mit ihm ab. Der hatte ihn einmal im Hof ein Lied, das ihn seine Ayah gelehrt, singen hören, und seither durfte Hansi in der Singstunde der Kleinen mitsingen. Ja, und manchmal durfte er auch noch nach der Stunde eine Weile bei dem freundlichen Herrn bleiben, der ihm auf dem Klavier allerlei vorspielte.
Gleich nach Vater und Mutter und den Blumen liebte Hansi die Musik. Aber es mußte
schöne sein. Die Übungsstücke der Buben waren ihm zuwider; auch der Lehrer
spielte nicht immer schöne Musik nach Hanssis Meinung. „Schön“
Der Herbst brachte eine große Freude für den kleinen Hansi. Bei Vater und Mutter war ein Mädelchen angekommen. Mutterchen war so froh, wieder ein Kindchen zu haben, aber den Hansel habe sie deshalb nicht vergessen. Im Gegenteil, sie müsse mehr als je an ihn denken, seit das Schwesterlein da sei. Es schaue aus ebenso erstaunten Blau-Augen in die Welt, wie es Hansi als kleiner Junge getan. Ein paar Wochen später kam eine Photographie des Schwesterleins. Hansi fand, daß sie ein niedliches Dinglein sei, und die Hausmutter und der große Ernst dachten ganz dasselbe.
„Nicht wahr, Tante?“ sagte Hansi zur Hausmutter. „Einmal hat der liebe Gott gedacht: Nu will ich mal ein süßes kleines Mädchen machen, und da hat er Käthe gemacht.“
„Ja, ja, das wird wohl so sein," lächelte die Tante, und dabei setzte sie den
großen Wäschekorb,
Hansi trug das Bildchen immer bei sich in der kleinen Tasche seiner
Matrosenbluse. Wenn er sich sehr klein und verlassen vorkam, zog er es hervor
und setzte sich damit in die Nähe der Gärtchen, um den Blumen von der kleinen
Schwester zu erzählen. Sie verstanden ihn sehr gut, besonders die Dahlien, die
mit ihren dicken Köpfen so vergnügt und wohlgenährt drein sahen. Sie erinnerten
Hansi immer an einen Buben der Anstalt, der rote Pausbacken hatte und immer
zufrieden aussah. Die Blumen waren überhaupt wie die Menschen. Sie hatten ihre
eigenen Gesichter und ihr eigenes Wesen, z. B. die Pensées im Frühling. Das
waren liebe, freundliche Kinderchen; Hansi konnte sehr gut mit ihnen plaudern.
Vor den Rosen genierte er sich etwas. Sie trugen sich gar zu stolz und hatten so
wundervolle Seidenkleider, daß man sie gar nicht anzufassen wagte. Noch
schlimmer waren die Lilien, die immer steif und gerade standen, nie sich hin und
her wiegten und flüsterten und kicherten, wie es die heitern Nelken taten. Aber
am meisten liebte Hansi die Sonnenblume. Das war die Mutter
Aber nun waren die Sonnenblumenmutter und alle ihre Sonnenkinder verblüht. In den Gärten standen außer Dahlien nur noch Chrysanthemen. Der große Ernst hatte sein ganzes Stückchen Land damit bepflanzt. Da waren violette und bronzefarbene, blaßgelbe und weiße. Hansi liebte die weißen am meisten. Sie sahen aus wie Sterne, und deshalb war es ihm auch immer, als erzählten sie ihm von Weihnachten, vom Stern zu Bethlehem.
Auf Weihnachten freute sich Hansi so sehr, so sehr, daß ihm das Herz beinahe weh tat davon. Es war ja traurig, daß auch die bunten Herbstblumen verblühen mußten, und daß der weiße Schnee, der so naß und kalt war, alles zudeckte. Hansi konnte nicht verstehen, daß er die Blumen warm halte, wenn es ihm die andern auch noch so oft vorsagten. Nein, die Blumen waren alle erfroren, und konnten sich gewiß nie mehr durch den dichten Schnee hinausfinden.
Eigentlich war das schrecklich traurig. Aber
Hansi sang es oft. Wenn er allein in dem großen Kinderzimmer saß und mit dem alten Baukasten spielte, baute er einen wunderschönen Stall mit vielen Türmchen und Erkern. Dann legte er den blonden Kopf auf die Tischplatte, um durch das winzige Fensterchen in das geheimnisvolle Innere zu sehen und sang dazu mit einer lieben, feinen Stimme: „O Jesulein süß !“ Dabei gewannen seine Augen einen Ausdruck, als wachse das winzige Ställchen zu einem großen, als stehe die Türe weit offen und das Hänschen wandere hinein in den seligen Glanz, der von dem Kindlein in der Krippe ausgeht.
Nun waren nur noch wenige Tage bis zum
„Komm, Hansi,“ sagte die Tante, wir gehen nun auch.“
Gehorsam streckte Hansi sein Händchen aus,
„Gefällt dir das Bäumchen? Möchtest du es gerne?“ fragte mit einem Mal der Verkäufer. „Jch schenke es dir. Die Frau Mama haben ja eine so große Tanne gekauft, da geht das Kleine noch drein.“
Hansi konnte sein Glück kaum fassen. Er dankte mehr mit den Augen als mit dem Mund, dann schritt er neben der Tante, vorsichtig die grüne Last gegen das klopfende Herzchen gedrückt.
Es war merkwürdig. Als der Morgen des heiligen Abends dämmerte, auf den sich
Hansi wochenlang mit ganzem Herzen gefreut, war die Freude mit einem Schlag wie
weggewischt. Hansi war sich noch nie so klein und verlassen vorgekommen wie in
dem festlichen, frohen Treiben, das den ganzen Tag beherrschte. Er wurde erst
ein bißchen froher, als ihm die Tante zwei beschädigte Glaskugeln,
Um 1/2 6 sollte die Weihnachtsfeier beginnen. Vorher mußten alle die vielen Buben noch einmal gewaschen und gekämmt, gebürstet und gestriegelt werden. Da konnte es leicht passieren, daß ein so kleines Männchen wie Hansi übersehen wurde. Niemand vermißte ihn, bis es an das Ordnen des Zuges ging. Den mußte ja der Kleinste anführen. Aber wo war er nur? Nicht im Wohnzimmer, nicht in der Kinderstube, in keinem der Lehr-, in keinem der Schlafsäle. Die Buben lachten und stellten die ungeheuerlichssten Vermutungen auf. „Er hat vielleicht gemeint, die Krippe sei im Kohlenkeller,“ meinte der lange Sommersprossige. Das schien der Tante gar nicht so unmöglich. Sie ging selbst die Kellertreppe hinunter; die blonde Elise aber, die neue Magd, schickte sie auf den Boden, nach Hansi zu suchen.
Langsam schritt das junge Mädchen die steile Stiege hinauf. Oben angekommen,
lehnte sie einen Augenblick den Kopf gegen die Wand und schluchzte laut und
schmerzlich auf. Es war zum erstenmal,
Ein, zwei Türen hatte Elise schon geöffnet und umsonst in dem Halbdunkel herumgespäht, da sah sie einen Lichtstrahl aus dem alten Rumpelkämmerchen fallen. Die Türe war nur angelehnt. Mit sachter Hand öffnete Elise ein bißchen weiter und da sah sie das verlorene Hänschen auf einer niedern Kiste sien. Vor ihm stand das wundersam geschmückte Bäumchen mit fünf brennenden Kerzen daran.
Wie arm und wehmäütig sah das drein . . . Aber das Kind saß davor mit glückstrahlenden Augen und sang:
Die blonde Elise lehnte unter der Türe. In ihre guten Kinderaugen, die doch schon so mütterlich schauen konnten, traten heiße Tränen, die langsam über ihr Gesicht rollten. Sie achtete es nicht. Hier in dem kleinen Dachkämmerchen, als sie das Kind so einsam sitzen sah, war plötzlich eine große Freude in ihr aufgestiegen. Der brauchte sie . .. Der hatte ja auch ein einsames Herz! Es tat ihm gewiß not, daß ihn jemand mit großer, warmer Liebe umfasse, und sie war so froh, wenn sie jemandem ihre Liebe schenken durfte. . .
„Hansi!“ sagte sie mit weicher Stimme, in der ihre ganze Glückseligkeit zitterte, „komm Bubele, wir haben dich gesucht, weil man jetzt zur Bescherung geht. Aber dein schönes Bäumle zünden wir morgen wieder an, gelt ?* ~ „Ach ja, nicht wahr, es ist wunderschön ?“ sagte Hansi. Dann faßte er mit seinem kalten Händchen die braune, warme Hand des Mädchens, und in ihr gutes Gesicht aufblickend, flüsterte er zärtlich: „Du bist lieb.“
Wenn man den kleinen Weg, der gerade vor der Kirche abzweigt, hinaufgeht, kommt man auf die breite Landstraße, die langsam in großen Windungen zur Paßhöhe hinaufführt. Vorbei an hügeligen Bergwiesen ~ wie tief und leuchtend sind die Farben ihrer Blumen! . .. Vorbei an blizenden Bächen, deren Wellen wie wilde Kinder zu Tale stürmen. „Ich fange dich!“ jauchzt das eine. „Jch bin noch schneller!“ das andere. Es scheint, als hätten sie die Einsamkeit der großen, weißen Berge satt. Sie können es kaum erwarten, hinunterzukommen in die farbenfrohe Ebene, in die weiche, linde Luft, in den leuchtenden Sonnenschein.
Wir gehen weiter und wundern uns über die kleinen, lebensfrohen Wellen, deren
Rauschen und Jauchzen uns noch lange verfolgt. Noch ist es früh am Tag, aber die
Sonne brennt heiß, und
Dann tritt der Weg in den Wald. Gleich einer sachten, liebevollen Umarmung empfinden wir seinen kühlenden Schatten. Und er tut uns all seine Wunder auf. Wer kann sie erzählen ... Wir finden prächtige Farnkräuter und hohen blauen Eisenhut. An einer Lichtung leuchten Erdbeeren, reif und sonnenwarm. Eine kleine Eidechse huscht aus einer Felsenritze, und lange, lange gehen wir über weichen Waldboden, auf dem hundert und hunderte der weißen Wollgräser stehen in spinnefeinen, seidenen Röckchen.
Der Wald hält uns fest bis zur Höhe. Dann läßt er uns frei mit einem Male. Und
wir stehen und schauen und sind fast geblendet von Licht und Glanz, und nur
allmählich finden wir uns zurecht und erkennen in dem zackigen Berggipfel, der
jetzt so drohend auf uns herabschaut, einen alten Freund, der uns sonst von
seiner lichten Schneeseite her bekannt war. Aber wir finden uns
Wir setzen uns auf einen Felsblock. Es gibt deren eine Menge auf der Paßhöhe. Vielleicht haben einmal zwei Riesen hier gekämpft und sich artigerweise mit den Felsstücken geworfen. Aber das muß schon lange her sein. Die Felsen sind mit Moos und Gräsern bewachsen, und auf dem einen oder andern steht gar eine bescheidene, kleine Kiefer.
Die Welt, in der wir sonst leben, die Staub und Lärm, Hasten und Erraffen heißt, versinkt. Wirruhen in einem unbeschreiblich seligen Frieden ... Die weißen Berge strahlen ihn aus, aus den blumigen Wiesen steigt er empor – die ganze klare Luft hüllt uns darein.
Unten im Tal bei der Kirche liegen Häuser und Häuschen, meist mit niedern
Dächern, was ihnen ein trauliches Aussehen gibt. Wir können nur wenige
Neubauten, deren Holz noch hell ist entdecken. Die meisten sind alt und von der
Sonne dunkelbraun gebrannt. An einzelnen vorstehenden
Die Häuschen liegen nicht nur um die Kirche gedrängt. Weit in den Wiesen drin, an den Berghängen hinauf stehen ihrer noch viele, und erst, wenn wir uns dem Walde nähern, bleiben sie zurück. Nur ein einziges hat sich tief in den Wald hinein verlaufen bis zur Paßhöhe hinauf. Da steht es etwas abseits von den großen Felsblöcken, im Schatten mächtiger Föhren und schaut auf das weiße Bergland und darüber hinaus in den Himmel hinein.
Das war die Heimat der kleinen Sophie.
In diese Einsamkeit herein kam sie in einer warmen Sommernacht, als ihre Eltern
fast ein Jahr lang in dem stillen Häuschen gewohnt hatten. Zwei Jahre später
gesellte sich ein kleiner Toneli dazu und wieder ein Jahr darauf das Lisi. Aber
das Lisi hatte kein sonnenbraunes, gesundes Körperchen wie seine Geschwister. Es
lernte zwar gehen, aber wie bald war es müde! Wenn die kleine Sophie und der
Toneli auf den Felsblöcken herumkletterten, lag es ganz still im Gras und
schaute blinzelnd nach den weißen Bergen. Oder es ging mit unsichern Schritten
auf der Matte umher und pflückte die starkduftenden, braunroten Männertren und
die tiefblauen Enzianen, um sie der Mutter ins Häuschen zu bringen. Die nahm die
Blümchen und freute sich darüber und nahm auch wohl das bleiche
Mensschenblümchen auf den Arm und trug es ein paar mal in der Sonne auf und ab.
Das war das Schönste in Lisis kleinem Leben. Die Mutter schien ihm groß und
stark, und sie hielt das kleine Lisi so fest und sicher, daß eine tiefe
Beruhigung über sein zitterndes Seelchen kam. Sonst, wenn es auf den eigenen
schwachen Beinchen stand, mußte es sich oft und viel fürchten.
Die zwei Kinder hatten im Wald ein Versteck, von dem außer der Mutter niemand
etwas wußte.
Einmal, nur einmal verirrte sich ein fremder Wanderer in die Nähe der Felssenhöhle, aber er ging, ehe die kleinen Schwestern ihn gehört. Er ging und konnte lange Jahre das Bild, das er im Waldesdunkel gefunden, das lichthaarige Kind mit dem unberührten Gessichtchen, nicht vergessen. Der da ging, war ein Maler. Er hatte schon viele Bilder geschaffen, die gelobt und anerkannt worden waren, aber nicht alle waren schöne Bilder gewesen. Es waren solche darunter, von denen sich seine alte Mutter betrübt abgewandt hatte.
Und dann schickte er ihr einmal ein Bild, das war wie ein lichter Sonnenblick:
ein dunkler Hintergrund, ein Mädchengesichtchen mit blauen,
Der Maler hatte vielleicht schon schönere Kinderköpfe gemalt, aber keinen, von dem ein solcher Zauber ausgegangen wäre. „Man könnte es Unschuld oder Angela nennen, in meinen Gedanken heißt es das stille Kind,“ schrieb er damals an seine Mutter.
Als die kleine Sophie sechs Jahre alt war, wurde das Lisi krank. Erst lag es in der Schlafstube in seinem Bettchen neben der Mutter Bett. Dann, als es schlimmer mit ihm wurde und es gar keinen Lärm ertragen konnte, bettete die Mutter das Kind und sich in die anstoßende Kammer. Sophieli und Toneli durften nicht mehr hinein, aber sie schickten ihre Grüße: Blumen und Steinchen. Einmal sammelte der Toneli einen mächtigen Strauß Wollgräser. Den wollte das Lisi immer auf der Bettdecke haben, weil er so wunderschön weich war.
Und dann starb das Lisi.
Nun gingen keine unsichern Schrittchen mehr um das Haus, kein ängstliches
Stimmchen rief : „Sophieli,
„Siehst du, Sophieli, dort im Himmel ist nun das Liseli!“ sagte die Mutter und
deutete mit der Hand über die weißen Berge. „So weit!“ fragte das Kind
erschrocken und ungläubig. Wie hatte nur das Lisi über die hohen, hohen Berge
und durch den kalten, tiefen Schnee wandern können! Darüber mußte die Kleine
immer wieder nachsinnen, und dann mit einem Male wußte sie, wie alles
zugegangen. Wie dumm war sie doch gewesen! Das Lisi war natürlich über den Berg
geflogen mit schönen, glänzenden Flüglein. Wenn ein Kindchen sterben wollte,
schenkte ihm der liebe Gott zwei Flügel. Das hatte die Mutter einmal erzählt,
und Sophieli wußte noch gut, wie sich
Drei Tage später sollte die kleine Leiche ins Dorf hinuntergebracht werden. Die Kinder schickte man in aller Frühe mit dem Knecht zur Sennhütte hinauf. Diese lag nahe an der Spitze eines hohen, runden Berges, mitten in einer Wiese drin, die, mit gelben Arnika bedeckt, wie lauter Gold leuchtete. „Wie wird sich das Lisi freuen!“ dachte Sophieli eifrig pflückend, dann ward sie plötzlich dunkelrot, warf den ganzen leuchtenden Strauß weg und setzte sich in eine Ecke der Sennhütte. Sie schaute dem Knecht zu, wie er mit starken Armen in einem Riesenkessel rührte, der von der Decke an einem eisernen Haken herabhing. Das mächtige Feuer war immer Sophielis Freude. Wie die roten Zungen hoch an dem rußigen Kessel hinaufleckten! „Nun wollen sie auch etwas von dem schönen Käse, aber sie kriegen doch nichts, der gehört uns !“ dachte sie mit einem vergnügten kleinen Schmunzeln. „Das muß ich dem Lisi erzählen, es wird ~"
Sophieli stand auf und ging wieder in den Sonnenschein hinaus. Die schöne, runde
Bergkuppel
Endlich waren sie alle zur Abfahrt bereit. Die Mutter trug ein schwarzes Kleid
und einen schwarzen Hut. Sie sah so ernst und fremd darin aus, und noch
fremdartiger schaute der Vater drein. Um Tonelis Jackenärmel war ein schwarzes
Band geschlungen, und statt der bunten Sonntagskrawatte, auf die er so mächtig
stolz war, hatte er einen schwarzen Florstreiken umgebunden. Sophieli stak in
einer dunkeln Armelschürze, die das rote Kleidchen gänzlich verbarg. Von dem
hellen Strohhut waren die grünen Bänder weggetrennt
Die Kinder waren vor der Beerdigung zu einer Verwandten gebracht worden. Nachher kamen die Eltern auch dahin. Die Base schenkte Kaffee ein und nötigte die Mutter, von dem knusperigen Kuchen zu essen. Aber sie konnte nicht. Sie schaute trübe vor sich hin, und einmal sagte sie: „Es bangt mir vor dem Nachhausekommen. Es ist mir immer so lieb entgegengesprungen.“ Sophieli schaute auf; sie wollte etwas Tröstliches sagen, aber sie fand keine Worte. Sie mußte nur immerzu denken: „Nun habe ich das kleine Lisi nicht mehr, das kleine, liebe Lisi."
Langsam und sachte schob sie sich zur Mutter hin. Die Base bemerkte es und lachte: „Du willst wohl ganz in die Mutter hineinkriechen, du kleines Ding du! Das ist nicht gut. Man muß auch allein hinstehen können.“ Das konnte die Base allerdings. Jeder ihrer gewichtigen Schritte schien es zu sagen, und ihre fünf Buben, die, wie Sophieli mit Erleichterung festgestellt hatte, alle zur Sennhütte gegangen waren, konnten es auch. Sie fürchteten sich vor niemandem und nichts, und wo es Händel gab, waren sie immer im dichtesten Knäuel.
„Nein, das ist nicht gut!“ wiederholte die Base in eindringlichem Ton, zur Mutter gewandt. „Du mußt dir das Kind nicht immer an der Schürze hängen lassen, nicht immer nach ihm ausschauen. Sonst wird es immer stiller und dösiger.“
Der Mutter war bei diesen Worten eine helle Röte in die Wangen gestiegen. Sie war
keine energische, tatkräftige Frau wie die Base, sie hatte in der Schule immer
ein bißchen Mühe gehabt mit dem Lernen, sie war immer eine „Stille“ gewesen. Und
seit sie in der Einsamkeit, um die sie
„Kann ich es hüten, kann ich es schützen?“ . . .
Sechs Jahre lang hatte sie es versucht, und sie war allmählich ruhiger und
zuversichtlicher geworden. Nicht, weil ein stärkeres Kraftgefühl über sie
gekommen wäre. Im Gegenteil, das Gefühl der Unfähigkeit, des Nicht-wert-seins
war mit den Jahren nur gewachsen, aber gewachsen auch die
So auch beim Nachhausefahren. Es war ihr gelungen – ihr Mann ließ ihr in derlei
Dingen freie Hand ~ ihren Kindern das Grause, Unnatürliche des Todes
fernzuhalten. Sie wußte, was für ein Entsetzen ihr einst der Anblick eines toten
Nachbarkindes eingejagt hatte. Davor wollte sie ihre Kinder bewahren, so lange
es ging. Aber in ihrer Fürsorge, die Kinder möglichst vom Hause fernzuhalten,
hatte sie sie auch von sich getrennt. Das fiel ihr mit einem Male schwer aufs
Herz, als sie in Sophielis Augen den dunkeln Jammer las. Es war nicht das Leid,
das sie in den ersten Stunden darin gesehen. Ein banges, ach nein, viel
schlimmer, ein verwundetes Seelchen schaute daraus. Der Mutter Herz faßte eine
eisige Angst. Hatte das Kind trotz aller Vorsicht gehört, was es nicht hören
sollte? Sie hob die Kleine auf ihren Schoß; sie beugte sich tief zu dem ernsten
Gesichtchen herab und flüsterte so leise und doch
Da kam es heraus, das große Leid, das seit drei Tagen Sophielis Herz bedrückt hatte. Stockend, schluchzend . . . es gehörte ein feines Ohr dazu, aus dem Geflüster klug zu werden. Aber sie, die Mutter, verstand alles, und ein beinahe frohes Lächeln spielte dabei über ihr Gesicht. Dann sprach sie davon, daß das Lisi nicht weggeflogen sei von sich aus, aus freiem, eigenem Entschluß, wie das dumme, dumme Sophieli gemeint. Der liebe Gott — und das wissen wir doch, daß er es immer gut mit uns meint — der liebe Gott hatte ihm gerufen. Und da mußte doch das Liseli folgen, das war doch ganz klar. Freilich war es schwer, ach, ganz furchtbar schwer, daß man nun kein Lisi mehr hatte, aber das mußte man tragen lernen mit einem tapfern, geduldigen Herzen, und weil man sich das nicht selbst geben kann, muß man alle Tage den lieben Gott darum bitten.
Sophieli lehnte sich zurück, um besser in der Mutter Gesicht sehen zu können, und
diese erzählte weiter, wie gut es nun das Liseli im Himmel habe. „Nicht wahr,
Kindli, wir wollen es nicht
Kinder vergessen rasch, auch die mit weichen, [iebewarmen Herzen. Das anfängliche Vermissen geht über in ein schmerzloses Erinnern, das vielleicht hie und da ein feines, seltsam-sehnsüchtiges Gefühl wachruft; aber dann genügt der Ruf eines Spielkameraden, ein Vogelschrei, eim Wagenrasseln, und das Kind steht wieder mitten in der Gegenwart.
Sophieli jagte sich mit Toneli, bis ihre langen, sitssamen Zöpfe ganz zerzaust
waren. Sie wetteiferten im Klettern und Rennen, und einmal machten sie sich
daran, die Ouelle des wilden Baches,
Ja, oben in der Sonne! . . . Aber, wo war nur die Höhe? Sie mußte in unendlicher
Ferne liegen. Immer neue Felsblöcke starrten empor; immer neue Wellen sprangen
an den Kindern vorbei. Manchmal spritzte der weiße Schaum hoch an ihnen hinauf.
Wie eisig kalt war das! Überhaupt, der Bach war wohl nicht zufrieden, daß man in
seinem Bett herumkletterte. Je höher Sophieli und Toneli stiegen, desto zorniger
klang sein Rauschen. Und dann kam das Allersschrecklichste. Mit einemmal waren
auf ihrer Seite keine Steine mehr, nur eine glatte Felswand stieg stolz und
kerzengerade in die Höhe. Nirgends ein Vorsprung oder eine
Sophieli und Toneli standen dicht zusammengedrängt mit vor Entsetzen weit
aufgerissenen Augen. Dann, wie aus Verabredung, brachen sie in ein Jammergeheul
aus, das seltsam in das Rauschen des Baches hineinklang und beinahe darin
unterging. Aber irgend ein Ton verirrte sich doch zu der Sennhütte hinüber. In
mächtigen Sätzen kam der große Hund über die Wiese gerannt, etwas gemächlicher
folgte der Vater. Als er die beiden Kinder erblickte, brach er in ein dröhnendes
Lachen aus. Das klang so beruhigend und erfrischend in das zornige
Wasserrauschen hinein, daß Sophieli und Toneli ihr Schreien aufsteckten und mit
einem halben Lächeln dem Vater entgegenschauten. Er holte erst den Buben, der
Der Vater sah die ganze Sache als einen lustigen Scherz an. Anders die Mutter. Als sie am Abend die Geschichte erfuhr, ward sie blaß und in ihre Augen trat ein erschrockenes Leuchten. Sie sagte kein tadelndes Wort zu den Kindern, und doch überkam Sophieli mit einemmal ein schweres Gefühl der Schuld. Als sie der Mutter angstvolle Augen gesehen, war ihr das Liseli in den Sinn gekommen. Das feine Liseli . . . Wäre sie, Sophieli, auch mit dem Schwesterlein an der Hand den Bach hinaufgeklommen? Ach nein, gewiß nicht. Das Liseli hätte sich ja gefürchtet. Sie wären beide hübsch auf der Wiese geblieben, hätten Blumen gepflückt oder aus sicherer Entfernung die grasenden Kühe betrachtet . .. War die Mutter ein bißchen ein Lisell? Mußte man auch darauf achten, nichts zu tun, das sie ängsten könnte? . ..
Als Sophieli abends im Bettchen lag und die Mutter sich zum Gutenachtkuß darüber
beugte,
„Das freut mich“, sagte die Mutter innig. Sie legte die Decke weich und sorglich um das Mäùdelchen, glättete sie ein paarmal und ging dann nach einem letzten warmen Blick hinaus. Sophieli lag still und muckste sich nicht. Eigentlich war die Decke schwer und drückend, aber sie hätte sie um die Welt nicht zurückgestrichen.
Sie verstanden sich ohne Worte, diese zwei. Jede Bewegung der Mutter hatte zu Sophieli gesprochen. „Ach, wie froh, wie dankbar bin ich, daß du da liegst in deinem eigenen kleinen Bett, daß du mir nicht in den kalten Bach, auf die harten Steine gefallen bist! Und ach, wie froh bin ich über das, was du mir eben gesagt hast!“
Im Herbst die Berge hatten über ihr altes Schneekleid ein neues, hellglänzendes
gezogen, dessen Saum schwer und tief auf den Hängen lag und
Sophieli machte große Augen, als sie von der Reise hörte. Sie war noch nie weiter
als bis zum nächstliegenden Dorf gekommen, sie war noch nie in der Eisenbahn
gefahren. Und was für Herrlichkeiten warteten ihrer wohl in der fernen, großen
Stadt? Die Mutter kannte ihr stilles Kind kaum mehr. Es plapperte unaufhörlich,
stellte hunderttausend Fragen und erzählte dem Toneli die abenteuerlichsten
Geschichten. Der Mutter ward beinahe bange. Wenn die Stadt das Kind schon jetzt
so gefangen nahm, wie würde es später werden ? Fast bereute sie, eine zusagende
Antwort gegeben zu haben. Konnte sie ihr Kind in der großen, lauten Stadt so
behüten wie sie es bisher getan? . .. Aber immer konnte es ja nicht unter ihren
Augen bleiben. Vom nächsten Frühling an mußte es in die Schule wandern, und im
Winter mußte sie es wohl ganz ins Dorf hinunter geben.
Die andern Frauen, die so gemütlich im Dorf beieinander saßen, brauchten sich nicht von ihren Kindern zu trennen. Nur sie, weil sie hier oben in der großen Einsamkeit wohnte.
Sophieli war in der Stadt. In den ersten Tagen konnte man sie kaum auf die Straße
bringen. Sie fürchtete sich vor den vielen schwatzenden, hastenden Menschen, vor
den klingelnden Straßenbahnen, noch mehr vor den Wagen, die ohne Pferde
unglaublich schnell dahersausten und merkwürdige Töne ausstießen. Es gab nur
einen Platz in dieser schrecklichen Stadt, den Sophieli liebte. Der lag hinter
der alten Kirche mit ihrem merkwürdig schillernden Dach, hoch über dem Rhein.
Über die Mauer hinweg sah man in eine Pracht goldener und roter Blätter hinein.
Und durch die Bäume hindurch und darüber hinaus leuchtete das Wasser, das nicht
blau und ruhig war wie das eines Bergsees,
Allmählich gewöhnte sich das Kind an den Straßenlärm, und es fing an, Gefallen zu
finden an den Schaufenstern, die so herrliche Dinge bargen: Bilder, Puppen,
Kleider, Hüte. Das einfache Kind, das mit Steinen und Blumen und Tannenzapfen
gespielt, das nur eine steife Puppe mit blödem Gesichtsausdruck sein eigen
nannte, lernte nur langsam
O, die böse Stadt . .. Am liebsten hätte die Mutter ihr kleines Mädchen genommen
und wäre mit ihr in die große Einsamkeit geflüchtet. Es war so bitter, in den
klaren, lieben Augen das unruhige, unzufriedene Leuchten zu sehen. Es tat weh,
die zärtliche Kinderstimme, die wie keine andere zum Lachen und Singen
geschaffen war, schmollende Worte sagen zu hören. An das Lisi dachte Sophieli in
diesen Tagen nicht. Sie schob die Erinnerung ängstlich weg, und einmal, als die
Mutter mit der leisen Absicht, das Kind zu rühren, von dem
Und sie lernte weiter. Es war vielleicht gut, ach, es mußte ja am Ende gut sein, daß Sophieli diesen Weg ging. Sie lernte dabei ihr eigenes Herz ein wenig kennen.
Es war bis jetzt sso leicht gewesen für das Kind, froh und zufrieden zu sein! Hatte sie, die Mutter, es ihm am Ende zu leicht gemacht? Nein, das nicht. Sie war nicht blind gewesen gegen die Fehler des Kindes, und darin, daß sie es ganz eingehüllt hatte in ihre große, warme Liebe, lag keine Schuld.
Aber die Gedanken, die sich mit der Zukunft, mit dem Fortgehen des Kindes beschäftigt hatten, die waren nicht recht gewesen. Und nun wußte sie mit einemmal, daß es heilsam war so, für sie und das Kind.
Als die Mutter in ihren Gedanken so weit
In den letzten Tagen vor der Abreise erlebte Sophieli etwas Neues und
Wunderbares. Die Messe hatte ihren Anfang genommen. Vierzehn Tage lang erfüllte
sie die Stadt mit ihrem Lärm und Getriebe. Auf dem Andreasplatz standen lange
Reihen Buden. Da konnte man warme Schuhe und Kappen, Kleider und Stoffe kaufen.
Daneben hatte ein Juwelier seine glitzernde Ware ausgebreitet: alles echt Gold
und spottbillig. Sehr hübsch nahmen sich die aufgestellten Geschirrwaren aus:
neben die tiefen und kräftigen Farben der Milchtöpfe traten die zarteren der
Tassen, Vasen und Kännchen. Die Süßigkeitskrämer waren überreichlich vertreten;
sie priesen mit schreiender
Auf den schmalen Wegen zwischen den Buden drängten sich neben den Einheimischen auch Landleute, die in großen Scharen die Messe besuchen kamen. Hie und da tauchte neben dem wippenden Federhut der Städterin die große, schwarzseidene „Haube“ einer schmucken Wiesentälerin auf , der das feine, seidene Umschlagtuch zierlich auf den Schultern lag. Beinahe an jeder Ecke stand ein Drehorgelmann, der eine an Krücken, der andere einarmig, der dritte blind. Die vielen Melodien griffen seltsam ineinander. Ein Choral wurde von dem neuesten Gassenhauer und dieser wieder von einer Opernmelodie verschlungen.
Auf dem Johanniterplatz war das Gedränge womöglich noch größer. Da waren
Karusselle, ein Panorama, Schießbuden, ein Wachsfigurenkabinett u. a. mehr.
liber alles weg ragte das große, grauweiße Zelt des Zirkus „Sarussi.“ Der
Eingang war immer dicht umlagert von Kindersscharen, die mit sehnsüchtigen Augen
die Glücklichen betrachteten, die den dunkelroten Vorhang zur Seite
Sophieli schaute und staunte, und auch die Mutter, die noch nie etwas ähnliches gesehen, freute sich an der farbigen Pracht und besonders auch an der Musik, die alle Vorstellungen zart und unaufdringlich begleitete.
Während der großen Pause wurde in halber
Das Sicherheitsnetz wurde wieder aufgerollt. Sophieli reckte sich erleichtert und freute sich mit lebhaften Worten auf die nächste Nummer, die das Auftreten von vier japanischen Künstlern ankündigte. Die Mutter freute sich nicht mehr. Sie saß da, und in ihrem Herzen stritten Jammer und Scham.
Die vier Japaner, ein Mann, eine Frau und zwei kleine Mädchen, traten in
scharlachroten Gewändern auf. Sie legten die buntgestickten Oberkleider und
Schuhe ab, verneigten sich anmutig, und nun begannen ihre Vorführungen. Sophieli
mußte lachen, als die kleinen Mädchen — sie waren höchstens vier- und fünfjährig
~ wie Bälle durch die Luft geschleudert wurden, oder wie sie gleich flinken
kleinen Affchen an schwankenden Seilen turnten und kletterten. Zum Schluß legte
sich der Mann eine Stange über die Schulter. An jedem Ende hing ein rotes,
breites Band, in das die kleinen Mädchen hineingehoben wurden. Und nun begann
sich der Mann mit der Stange zu drehen, erst langsam, dann immer schneller . . .
immer toller. Die sich jagenden roten Punkte waren kaum mehr zu erkennen, es sah
aus als
Der Kreisel drehte sich langsamer; die Musik, die eine wirre Tanzmelodie gespielt, ging in eine weiche, süße Weise über. Die kleinen Mädchen standen wieder auf der Erde. Sie rückten sich die leuchtendroten Schleifen im schwarzen Haar zurecht und, während noch der Beifall tobte, streiften sie die kleinen Schuhe und buntgestickten Obergewänder über und verschwanden.
Wie leid tat das Sophieli! Die Kunststücke der Erwachsenen ließen sie gleichgültig. „Wollen wir nicht gehen, Mutter!“ bettelte sie, und diese gab nur zu gerne nach.
Draußen vor dem Zelt war das Gedränge so groß, daß Mutter und Kind nur langsam vorwärts kamen. Die Mutter trug mehrere Pakete im Arm, es war ihr fast nicht möglich, auch noch des Kindes Hand zu halten. überdies kamen sie wohl schneller vom Fleck, wenn das Kind hinter ihr ging. „Halte dich fest an meinem Rock, Sophieli! Ich will sehen, daß wir möglichst rasch heraus kommen.“
Sophieli hielt Mutters Kleid fest mit beiden Händen und ließ sich vorwärts ziehen. Da plötzlich schnupperte ein großer Hund an ihr hinauf. Das Kind erschrak. Um das Tier abzuwehren, ließ sie das Kleid der Mutter los, und als sie wieder danach greifen wollte, war es verschwunden. Wie eine drohende Mauer erhob sich vor ihr der breite Rücken eines Mannes. Es vergingen ein paar Minuten, bis sie sich an ihm durchdrücken konnte, und als es geschehen, war wieder ein fremdes Gesicht vor ihr, und nirgends, wohin sie auch blickte, war ein Stückchen von Mutter zu sehen.
Sophieli war ein schüchternes, aber kein feiges Kind. Sie versuchte tapfer
vorwärts zu kommen. Sie hatte eine unbestimmte Idee von dem Weg, den sie gehen
sollte, aber der Menschenstrom kam ihr entgegen, und so wurde das Kind immer
wieder zurückgeschoben. Sie gab schließlich nach, wandte sich, und in kurzer
Zeit fand sie sich wieder vor dem großen Zelt des Zirkus Sarussi. Die
Nachmittagsvorstellung mußte ihr Ende erreicht haben, denn von der nahen Kirche
herüber hatte es fünf Uhr geschlagen. Um sieben fing die große Abendvorstellung
an, die ungleich prächtiger werden sollte.
Sophieli stand lange in der Nähe der Eingangstüre, so lange bis die Lampen angezündet wurden und der Kassier sie bemerkte. „Was stehst du immer da herum, mach daß du nach Hause kommst!“ herrschte er die Kleine an.
Nach Hause . . . wie gerne wäre Sophieli nach Hause gegangen. Aber wer konnte ihr den Weg weisen? So viele, viele Menschen waren um sie, und doch war sie ganz allein. Vor Sophielis Augen tauchte das ferne Bergdorf auf. Dort war sie nie einsam gewesen.
Mit zögernden Schritten ging das Kind an der Zeltwand weiter. Sie wollte nicht weinen, sie wollte tapfer sein. Mutter würde gewiß bald kommen und sie holen. Aber eine Minute nach der andern versstrich, und die Dunkelheit senkte sich tiefer.
Sophieli fand sich mit einem Male unter den Wagen, die den Zirkusleuten zur
Wohnung dienten. Einige sahen einladend genug aus mit grünen Fensterladen und
weißen Vorhängen an
Da legte sich ganz sachte ein kleiner Arm um ihren Hals, und eine feine,
fremdklingende Stimme sagte dicht an ihrem Ohr: „Kodomo! Nein, nein!“ Sophieli
schaute erstaunt auf. An ihrer Seite kauerte die kleine Japanerin, die sie vor
kurzem im Zirkus bewundert. Statt des scharlachfarbenen Kleides trug sie nun ein
dunkles, aber Sophieli erkannte deutlich das schwarze Haar, in dem noch die
brennend rote Schleife steckte, und das kleine gelbe Gesicht mit den schmalen,
schwarzen Augen. Die Kleine lächelte, als Sophieli sich ihr zuwandte. „Nein,
nein!“ sagte sie noch einmal und ahmte dabei die Gebärde des Weinens nach. Da
mußte Sophieli lachen, und die kleine Fremde stimmte fröhlich ein. Sie schien
große Lust zum Plaudern zu haben, obwohl sie nur wenige deutsche Worte wußte.
Aber es ging trotzdem, denn das Fehlende ersezte das bewegliche Persönchen durch
ein lebhaftes Gebärdenspiel. Sie sprach von ihrer „Ningio“ und Sophieli
verstand, daß sie ihre Puppe meine;
Nein, das Lisi war nicht gekommen; aber vielleicht war sie es, die die kleine
Suzu geschickt. Sophieli schaute das gelbe Gesichtchen mit neuem Interesse an,
und dann war ihr mit einem Male,
So fand sie die Mutter. Für sie waren die verflossenen Stunden wohl noch herber gewesen als für das Kind. Aber alles war vergessen im Augenblick des Wiederssehens. Sophieli hielt die Mutter umfaßt, als wollte sie sie nie mehr gehen lassen. „Mutter, ich will lieb sein, ich will immer lieb sein!“ sagte sie einmal übers andere. Und die Mutter verstand.
Dann mußte die kleine Suzu begrüßt werden. Die Mutter setzte sich auf das Treppchen und nahm beide Kinder auf den Schoß. Das blonde und das dunkle Köpfchen an sich gepreßt, lauschte sie ein paar Augenblicke auf den festlichen Trubel, der von allen Seiten hereindrang. Ein großes Dankgefühl bewegte ihr Herz und daneben ein warmes Mitleid für das kleine, fremde Mädelchen in ihrem Arm. Nun ging sie mit ihrem Kind nach Hause, und morgen nahm sie es zurück in den reinen Frieden ihrer Berge, und dieses hier . ..
In dem Wagenhäuschen wurden Schritte
Am nächsten Morgen standen die Mutter und Sophieli reisefertig am Bahnhof. In der großen Halle, in der die Billette gelöst wurden, hingen riesige Photographien, alles Aufnahmen aus den Alpen. Sophielis Augen lachten. Bald, bald würde sie sie selbst wiedersehen. Und die Mutter dachte ganz ähnlich.
„Nicht wahr, Sophieli, so gut und schön wie wir hat es doch niemand?“ sagte sie, als sie miteinander – die lange Eisenbahnfahrt lag glücklich hinter ihnen - die breite Landstraße emporstiegen. Da wandte ihr das Kind sein liebes Gesichtchen zu, und die sonnigen Augen jubelten frohe Antwort.
Am Abend, als Sophieli ihr Nachtgebet sprach, nannte sie nach dem Toneli die
kleine Suzu. Die stand derweil in ihren roten Höschen vor der
Der Mutter Gedanken waren noch mit der kleinen Fremden beschäftigt, als sie von ihrer Kinder Betten weg vor das Häuschen trat. Die Bäume rauschten träumerisch . . . Die Berge standen im Mondlicht weich und friedlich in ihre schimmernden Mäntel gehüllt.
Da kam es über die Mutter als tiefe, beseligende Gewißheit, daß Gottes Liebesmantel warm und weit genug sei, um alle frierenden kleinen Mädchen, um auch die kleine Suzu darein zu hüllen.