Der glückliche Sommer : ELTeC Ausgabe Moeschlin, Felix (1882-1969) ELTeC conversion Priska Rüegg 307 68956

2020-05-18

Der glückliche Sommer Moeschlin, Felix Grethlein & Co. G. m. b. H. Leipzig und Zürich 1920

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Wenn ich an jenen Sommer zurückdenke, dann möchte ich am liebsten diesem Tun und Treiben Lebewohl sagen und in die schwedischen Wälder wandern. Zwölf Jahre sind seither vergangen und doch ist mir, als sei alles erst gestern geschehen. Vielleicht wäre es gerade jetzt mehr als je an der Zeit, wieder nach jener glücklichen Insel zu suchen. Die Buben würden sicherlich mit Freuden dabei sein, man weiß ja, wie die Kinder die fernen Inseln lieben, erst gestern habe ich ihnen einen Robinson kaufen müssen. Und auch Lore ...

Aber ich will alles der Reihe nach erzählen. Ich erinnere mich noch ganz genau an jenen Maimorgen in Berlin, mit dem die Geschichte begann, oder richtiger gesagt: mit dem die Geschichte endlich zu einem ent- scheidenden Wendepunkte kam, nachdem sie monatelang nicht vom Flecke gerückt war. Ich könnte natürlich auch mit jenem Abenteuer auf dem Wannsee beginnen oder mit der für mich so bedeutungsvollen Vorstellung des „Florian Geyer‘“ im Lesssing-Theater. Aber ich ziehe es doch vor, bei jenem Maimorgen zu bleiben.

1.

Es war ein merkwürdiger Morgen.

Mein Zimmer in der Turmstraße war so dunkel wie immer, und der Teppich war so verschlissen wie den ganzen Winter lang, und doch stand ich frisch und froh in diesem Dunkel und auf diesem Teppich, spürte eine kaum bezähmbare Lust zu jubeln und zu singen und hatte dabei gar keinen Grund, so glücklich zu sein.

Denn lag nicht eine schlimme Nacht hinter mir ? Hatte ich nicht Berlin verflucht und verdammt: diese städtische Ansammlung von zwei Millionen Menschen, dies gierige Ungeheuer, das seine Tatzen überall auf Beute schlägt, das ganz Deutschland zu verschlingen sucht und die halbe Welt dazu, dem zu Wasser und zu Land kaum genug zugeführt werden kann an Speise und Trank, und das Mühe hat, Unverdautes los zu werden, und immer wieder Gefahr läuft, in den Produkten seines Stoffwechsels zu ersticken. War mir nicht das Gefühl meines Fremdseins in der Welt wie ein mörderischer Dolch durch die Seele gegangen, und hatte nicht diese lächerliche, aussichtslose, unerwiderte Liebe, die mich den ganzen Winter lang geplagt hatte, zu allen traurigen Sprüchen und schwarzen Zukunftsaussichten bekräftigend und bestätigend ja und amen gesagt! War nicht mein Geld, diese unentbehrliche Grundlage des Daseins in so künstlichen und unnatürlichen Verhältnissen, wo die triebhafte, nährende, kleidende Fruchtbarkeit der Erde unter einem Panzer von Asphalt, Zement und Stein zum Ersticken gebracht worden war, am Schwinden und unaufhaltsamen Vertröpfeln ? Einen Monat noch Obdach und tägliches Brot ... und dann?

Und dennoch fühlte ich mich glücklich! Was hatte sich denn in den letzten Stunden verändert ? Nichts! Aber vielleicht gehört das zum Wesen des Glücks: daß man nicht weiß, warum ...

Ich stand auf der Straße und sah zum Himmel auf. Da merkte ich, daß es Frühling war. Das paßte zu meinem Glück. Meine Beine hatten es auch gemerkt und meine Füße auch. Sie wollten wandern, marschieren, frisch drauflos, ganz gleich wohin. Da gab ich ihrem Willen nach und kam so aus Moabit an die Spree.

Da lehnten sich neckische Fabrikmädchen mit verliebt eingehängten Armen ans Ufergeländer, ein ganzes Rudel, und lachten, daß die Bänder hüpften, die sie um den Hals trugen. Und andere drängten sich mit halb mutigem, halb ängstlichem Getue in einem baufälligen Boote, das hin- und herschwankte. Aber wenn es recht lebensgefährlich schief lag, dann lachten sie nur noch lauter. Und ein paar liebhabermäßig zwinkernde Burschen mit steifen Hüten und ohne Hemdkragen waren auch dabei und warfen laute Scherzworte und gesalzene Witze in die Mädchenschar und ließen Steine ins Wasser plumpsen, daß es nach allen Seiten spritzte. Und wenn ein Rock oder ein Paar Hosen recht naß wurden, dann lachten sie so laut, die Mädchen mit den Katzenbändchen und die Arbeiter mit den steifen Hüten, daß ich mitlachen mußte. Und das Lachen flog wie ein siegreicher Windstoß über die mittagsstille Brücke und in die langweiligen Straßen und in die stumpfsinnig dahinbrütenden Mietskasernen hinein, daß sich die Luft mit jubelnder Fröhlichkeit füllte. Selbst ein altes Weiblein, das auf einem Haufen Sägespänen hockte, schmutzige Sackleinwand um die Füße gewickelt, riß den Mund auf und grinste und vergaß seinen Zündhol;schachtel-, Sicherheitsnadel- und Schuhbänderhandel.

Ich schaute und staunte ; War Berlin plötzlich eine gemütliche Kleinstadt geworden ? Wo war nun die Not der Menschheit, die sich auf mich gewälzt hatte wie ein Berg ? Eingebildete Not ?

Und mit verwunderten Augen und leisem Kopfschütteln schritt ich in den Tiergarten hinein. Da hingen gelbgrüne Blättchen an den Bäumen und schlangen Flore und Schleier von Zweig zu Zweig. Aus dem Boden züngelten rote Tulpen wie Flammen. Stolze, schöne Frauen gingen edlen Ganges an mir vorüber und sahen mich so merkwürdig an. Plötzlich hoben sie die Augenlider, wie ein Schlag war’s, daß ich zusammenfuhr. Wollten sie etwas von mir ? Und Mädchen saßen auf den Bänken und lasen in schön gebundenen Büchern. Wie hell die Gewänder. Und alle Wangen rot und leicht gebräunt. Ein gesegneter Tag. Und bunte Sonnenschirme, die alle Gesichter mit Farbe übergossen. Ein Mädchen kam daher mit einem prächtigen Hut. So etwas Frohes, Hinreißendes, Frisches hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. Wie ein Segel, wie ein Schiff, bereit zum Davonfliegen. Ach ja, du Mädchen, flieg, es ist ja Frühling.

Alte Herren verweilten sich da und dort, hielten den Hut in den Händen und sonnten sich mit sichtbarer Lust. Einer mit langer Narbe über dem Schädel, vielleicht aus der Studentenzeit, vielleicht aus dem Krieg, wer weiß, ein Held! Und freut sich jetzt des warmen Wetters und fühlt sich wieder jung! Wünsch’ dir ein langes Leben, lieber Alter!

Potztausend, da schlief einer in seinem Geschäftsdreirad. Wenn das der Prinzipal wüßte! Über dem Gesicht hatte er eine Zeitung, damit ihn die Sonne nicht blende, und die Füße ließ er herunterhängen. Die vorüberradelnden Kollegen sahen ihn neidisch an, aber sie hatten keine Zeit, seinem Beispiel zu folgen, vielleicht auch keinen Mut. Denn zum Faulenzen gehörte Mut, das wußte ich nur allzu gut.

Breitspurige, große Lastwagen kamen langsam daher, Kutsche um Kutsche klapperte vorbei, Automobile pusteten zwischenhinein und alle hatten etwas Festliches an sich, man wußte nicht, worin es bestand, und dennoch sah man es und freute sich daran. Die Fahrenden streckten sich wohlig in ihren Sitzen und gaben sich wie Millionäre. Die Kutscher hatten sich aus ihren vielen Unterröcken herausgeschält und sahen wieder ganz manierlich aus in ihren roten Kragen. Selbst die Pferde glänzten lustig und spiegelten auf den fächerartig geschwungenen Schweißbahnen Himmel und Sonne wieder.

Jetzt war ich schon gar nicht mehr darüber erstaunt, daß auf dem Potsdamer Platze Fahnen und Wimpel im Winde flatterten. Man sagte mir, es sei dem Geburtstage des Kronprinzen zu Ehren. Aber ich wußte es besser: Dem glücklichen Tage zu Ehren geschah es!

Der ganze Platz war von Blumen umsäumt. Sollte ich mir einen Busch Narzissen kaufen ? Gelbe, oder weiße mit roten Krönchen ? Oder Schwertlilien? Sie waren zwar teuer, aber dafür konnte ich ja am Essen sparen. Eine dicke Verkäuferin saß am Gitter und schlief, breit und gewichtig wie eine kleine Pyramide. In den Händen, die sich auf den Schoß stützten, hielt sie einen großen Strauß Rosen. Wie ein dickes Dornröschen schlief sie, wie betäubt vom Blumendufte. Hinter ihr, an einem der runden Tischchen des Cafés, saß eine Frau mit Lippen, die noch röter waren als die Rosen. „Ich werde ihr meinen Strauß schenken,“ dachte ich, „ob sie es übelnehmen wird? Warum! Mut, Mut ...'’ Nun hielt sie die Schwertlilien in den überraschten Händen. Ich machte meine Verbeugung. Da lächelte sie dankend. Und alle die andern Gäste, die zum erstenmal die Schlagsahne im Freien aßen, lächelten mit. Auch ein Schutzmann lächelte.

2.

Ein frischer Wind blies die Leipziger Straße herunter, daß alles zappelte und hüpfte an den Frauenkleidern, die Chiffons und Bänder und Blusenfältchen. Sogar die Zylinder waren heute ganz lustig anzusehen. Sie kriegten von überallher farbige Reflexe mit. Der Herr da trug einen echten Panamahut zu Ehren des schönen Wetters, schau, schau! Und die Dame dort hatte schon einen kleinen Sonnenstich auf der Nase, so heiß war's. Das merkte auch der dicke Herr im Gehrock mit der gewaltigen Aktenmappe unter dem Arm. Drum trug er den Zylinder vernünftigerweise in der Hand. Es paßte zwar nicht recht zum feierlichen Anzug und zu seinem majestätischen Bart. Aber mochte er die schwarze Angsströhre ruhig in der Hand halten, bis die Bächlein, die über seine Stirne herabrannen, versiegt waren. Kein Mensch nahm es ihm übel. Die Wachtposten auf der rechten Straßenseite trugen schon die weißen Sommerhosen. Wie sie fleißig umherschauten, um jemand zu finden, dem sie salutieren durften. Da kam auch schon ein junger Leutnant auf sie zu. Wenn sein rechtes Bein nach vorn ausschritt, dann schlug der Säbel immer höchst possierlich nach der Seite aus. Die Soldaten präsentierten eifrig und etwas ängstlich das Gewehr. Aber der junge Offizier winkte ihnen mit der Hand freundschaftlich ab. „Machen Sie sich keine Mühe bei der Hitze,“ hieß das. Was für ein sonderbarer Tag.

In der großen Kunsthandlung zwischen der Mauer-und Wilhelmstraße hing alles voll Liebesbilder. Der balzende Auerhahn und der schwärmende Jüngling. „Lore‘’, seufzte ich unwillkürlich. Aber ich wurde wieder fröhlich, als ich die gelben Postwagen sah, die mir entgegenfuhren. Schon von weitem glänzten sie blendend, als komme die Sonne in eigener Person daher. Nein, heute konnte man nicht traurig sein!

Die Friedrichstraße schimmerte mir entgegen wie ein Strom, der in die Unendlichkeit rinnt. Die gerade Linie der Häuserflucht, die aus dem Dunsste kam und fern im Dunste verschwand, empfand ich wie einen Triumph des ordnenden Menschenwillens. Fröhlich ließ ich mich treiben, geborgen und gesichert wie der Soldat im festgefügten Bataillon, sah Bewegung, Fluten, Schimmern, Glitzern, Glänzen, Augen, aus denen Wünsche riefen wie aus aufgedeckten Abgründen, Lippen, die bebten und zuckten wie Schmetterlingsflügel über einer Blüte, wie junge Birkenblättchen, wenn der Abendwind an sie rührt, Lippen, die es offen zur Schau trugen, daß sie sich nutzlos und überflüssig vorkamen, wenn sie nicht küßten. Ich hörte leidenschaftlichen Lebenstakt, Schritte über Schritte, tausend vor mir, tausend hinter mir, mit der Begleitmusik rollender, rhythmisch lärmender Wagen, und roch seltsame, unbekannte Düfte, die ich wundersam erregt in mich einsog, Augenblicke lang an nie geschaute Länder mit phantasieberauschenden Namen denkend, an Indien, Siam, Sumatra und an die zauberischen Fieberwälder des Kongo. Und auch ein klein wenig an Männertreu auf Alpenweiden und Baldrian an Jurabächen und Thymian.

Da wäre beinahe eine junge Frau unter einen Wagen gekommen. Aber der Kutscher hatte zum Glück im letzten Augenblicke he ... he! ... gerufen. Wie sie sich freute, daß sie mit dem Leben davongekommen war. Wie sich der Kutscher freute, daß kein Unglück passiert war, denn das gab immer so viele unangenehme Scherereien, auch wenn man unschuldig war. Wie sich die Leute freuten, daß die junge Frau noch beizeiten auf die Seite gesprungen war. Ihr Tod hätte ihnen den ganzen Tag verdorben. Nur ich nahm die Rettung ganz ruhig und selbsstverständlich hin. „An einem solchen Tage stirbt man nicht so leicht“, hieß meine Überzeugung und Zuversicht.

Unter den Linden! Ein Polizeiwachtmeister saß stolz und gerade auf seinem Pferd, still wie ein Standbild. Der lärmende Strom teilte sich vor ihm wie stürmisches Wasser an einem Eisbrecher. Ein angetrunkener Kerl stand am Straßenrand und stützte sich schwer auf eine Schaufel. Er mußte wohl etwas gegen die Polizei haben, denn er schimpfte fortwährend zu dem Wachtmeister hinauf. Aber der ließ ihn reden und lächelte. Bei dem schönen Wetter wollte er niemand verhaften lassen, wenn es nicht absolut sein mußte.

Hell und grell klapperten die Hufe auf der glatten Fahrbahn, die wie Eis schimmerte, mit Possaunenstößen des jüngsten Gerichtes rollten die Automobile vorbei, mit fröhlichen Posthornklängen sauste der Kaiser dem Schlosse zu. Die schweren Autobusse jagten heran, daß die Erde bebte. Plötzlich hielten sie zitternd still, ein aufregendes, gebändigtes Dastehen, schön und furcht- bar, wie ein heftig atmendes Raubtier, bereit, auf einen loszustürzen. Die Leute drängten hinein und die schmale Treppe hinauf, als gelte es einen Platz in der ewigen Seligkeit. Dann rasselten die losgelassenen, schweren, schnellen Ungetüme wieder weiter. Hinter ihnen wirbelte der Staub. Und der war schuld daran, daß die Baumkronen unwirklich und fern wie grünliche Nebelflecken am Himmel schwammen, daß die Mauern der Paläste zu zittern und zu schwanken schienen wie leichte Tüllschleier, daß Brandenburger Tor und Königliches Schloß zu Luft wurden. Nur die nächste Nähe war noch wirklich und hatte ihre eigenen Farben: die wogende Masse der Menschen. Sie kamen in großen Wellen, in starken Stößen, ganze Fluten von Menschen. Welch berauschendes Gefühl, so viele Menschen zu spüren. Konnte es ein größeres Glück geben als das : Mensch bei Menschen zu sein, eine Welle im Meere! Ich spürte Herzschlag und Seele, den Bund und die Gemeinschaft aller, Ich werde ihnen nie nahekommen, sie werden mir ewig fremd sein, hatte ich oft ausgerufen, wenn ich diese blassen, weißen, kostbaren Frauen sah, diese brutalen, sicheren, allen Zufällen gewachsenen und in allen Lagen gewandten Männer, wenn ich tastenden Schrittes über die Straßen gegangen war, wie über dünnes Eis, innerlich verlegen, wie ein Hinterwäldler in einem Königsschlosse. Heute war das Wunder geschehen, Heimatsgefühle durchbebten mich, hier „Unter den Linden“, Bruderliebe streckte sehnsüchtige Arme aus, Freundlichkeit und Herzlichkeit chwollen mir warm und wohlig entgegen. Ich gab dem Frühling, der Sonne die Schuld ... ich sagte, ich wüßte die Ursache nicht, könne das „Warum“ nicht begreifen. Ach, nur sie war's ... Liebe besonnte die Welt. Die Mädchen, die mir im Tiergarten gefielen, hießen alle miteinander Lore und nur Lore. Und die Blumen, die ich am Potsdamer Platz einer fremden Frau gab ... ich gab sie ja Lore. Und die Augen in der Friedrichstraße, das waren ihre Augen, die Lippen ihre Lippen, die Schritte ihr Schritt ... Und die Menschheit, die auf mich einflutete, das war nur sie. Und sie war in den Tulpen, die so feuerrot aus der Erde züngelten, und auch im Zylinder des feierlichen Herrn und in der gelben Postkutsche und in der berauschenden Bewegung der Wagen und im vieltönigen Getute des kaiserlichen Automobils. Ja, das war die Offenbarung, das war die endgültige, unzweifelhafte Gewißheit ~ heute würde sich alles geben, winterlanges, unglückliches Lieben Lohn und Lösung finden. Sie wartete auf mich, sie harrte meiner mit Ungeduld. Und ihre Gedanken hatten mich getroffen, mich gestärkt und befreit aus den Anfechtungen der Nächte, mir das Weltbild verwandelt. Komm, rief sie, warum kommst du immer noch nicht ?

Ich spürte Lust, etwas Ausgelassenes zu tun. Einen Jauchzer hinausschreien, einen Schuß losknallen, eine Fahne schwingen, einen Luftsprung wagen, Geld verschwenden. Ja, das mußte Befreiung sein, die fünfzig Mark, die letzten, wegzuwerfen, für eine Rakete meinetwegen, eine riesengroße, sternenhohe Rakete, daß ganz Berlin aufguckte und meinen mußte, ein Komet falle vom Himmel. Oder die Summe in Kleingeld umwechseln zu lassen und dann unters Volk zu schmeißen: Da nehmt, ich brauch’ kein Geld ... ihr aber braucht's, denn außer dem Gelde habt ihr ja nichts. Und dann vor Lore hinzutreten: Ich hab’ nichts mehr, keinen roten Pfennig, alles hab’ ich verschenkt, verschleudert, weggeworfen. Denn was brauch’ ich noch, wenn ich dich habe, du Liebe, Gute, Stolze, Schönste, Beste! Aber ich konnte ihr auch fünfhundert Veilchensträuße kaufen. Oder zehn Meter allerfeinste japanische Seide. Oder fünf goldene Broschen in russischer Filigranarbeit, die sie so sehr liebte. Oder zwei Schmuckstücke beim Silberschmied aus Dänemark am Krurfürstendamm, den sie über alle Maßen bewunderte. Damit würde ich sie sicher gewinnen! Doch nein – sie war mir ja schon gewonnen. Und nicht mit Veilchensträußen und Seide und Schmuck. Sie schenkte mir ihre Liebe, auch wenn ich ein Bettler war. Was wäre das für eine Liebe, die sich erst gibt, wenn man mit Blumen kommt und allen Schätzen des Morgenlandes ? Als Bettler muß man einen lieben, und wahrhaftig, sie tat's. Und mit den fünfzig Mark konnten wir irgendwo aufs Land hinausfahren, in ein abgelegenes, heimeliges Gasthaus an einem waldumsäumten See. Und dann ? Pah, wer wird sich um das schicksalsschwere „Dann'“ kümmern, wenn das selige „Vorerst“ noch nicht abgetan ist.

3.

Ich rannte zehn Straßen weit, als hätte ich ein A) äußerst wichtiges Telegramm zu besorgen, und stürmte fünf Treppen hinauf, als wäre ich ein Feuerwehrmann, der einen Dachsstuhlbrand zu löschen hat. Mein Herz klopfte wie das Herz eines Soldaten bei einem Sturmangriffe, und mein Atem ging schnaubend, wie der eines Rennpferdes, das den Derbypreis gewonnen hat, als ich endlich, endlich, vor einer hohen zweiflügligen Tür stand und auf einem blinkenden Messingschild mit Mühe die Worte las: Lore Nußbaumer, kunstgewerbliches Atelier. Es hätte mich nicht gewundert, wenn ich eine Treppe zu viel oder zu wenig hinaufgerannt wäre. Sie öffnete. Das nahm ich als ein gutes Zeichen und raffte eilig ein paar schöne, bedeutungsvolle Begrüßungsworte zusammen, hatte aber leider nicht Atem genug, sie auszusprechen. Da blieb ich notgedrungen stumm, machte aber dafür mein Gesicht um so vielsagender, nickte ihr fröhlich und gewissermaßen verständnisvoll. zu und schritt ohne weiteres am Atelier vorbei ins kleine Hinterzimmer, wobei ich schmunzelnd dachte: Was tut's, daß ich vor lauter Freude und Glück und Lauferei die Sprache verloren habe. Jetzt ist's ja an ihr zu sprechen!

Sie kam langsam, mit etwas hochmütiger Miene auf mich zu und fragte sozusagen unwirsch: „Was ist denn mit Ihnen los ?"

Ich hatte dasselbe Gefühl, wie wenn man im Traume zehn Stockwerke herunterfällt. Eine ganz miserable Empfindung stieg mir vom Magen zum Herzen herauf. Was sollte das bedeuten, wußte sie es denn nicht? Oder spielte sie mit mir, verleugnete sie das Wunder, um mich noch ein bißchen zu quälen und mich dann um so verschwenderischer mit Wonne und Erfüllung zu beschenken? Aber ich konnte nicht mehr warten.

„Sagen Sie's, gestehen Sie's, schnell, schnell!“ rief ich und preßte all’ meinen wiedergefundenen Atem und meinen stürmischen Glückswillen in die paar Worte, daß es meiner Meinung nach ebensoviel Eindruck machen mußte wie eine Umarmung und ein Dutzend Küsse.

Sind Sie verrückt ?“ fragte sie ruhig.

Warum srchüttete sie Eiswasser über mich, der vor Freude glühte? War sie feig ? Wagte sie es nicht, bekennenden Mundes zur Offenbarung zu stehen ? Ich mußte ihr helfen.

„Mit dem können wir eine Woche lang aufs Land,“ sagte ich, legte meine fünfzig Mark auf den Tisch und schaute sie wieder bedeutungsvoll an.

Erst war ihr Blick verständnislos, dann wurde er belebter, etwas wie Freude und Helle floß in ihn und mit einem leichten Frohlocken, das ihr etwas Kindliches und verführerisch Mädchenhaftes gab, rief sie: „Wie schön!‘?

Schon spürte ich das Glück wie eine mächtige Welle, die mich hoch in den Himmel hob, da fuhr sie fort: „Es freut mich, daß Sie endlich angefangen haben, Geld zu verdienen !‘’ Ich fiel wieder zehn Stockwerke hinunter. Wollte oder konnte sie mich nicht begreifen ?

„Nein!, sagte ich mürrisch, „das ist alles, was ich besitze, der Rest meines Erbes.‘’ Ich schaute das Geld beinahe feindsellg an. O, wie viel Unfrieden hatte es nicht schon zwischen uns gestiftet. „Aber ich geb' es gern,“ fuhr ich fröhlicher fort und schaute sie zum drittenmal bedeutungsvoll an. Mußte sie mein Opfermut nicht rühren ? Würde sie sich jetzt nicht an mich drängen, mir feuchten Auges um den Hals fallen und flüstern: Du Einziger, der du alles hingibst, auch dein Allerletztes, aus Liebe zu mir!

Aber sie machte leider gar keine Miene, mir um den Hals zu fallen. Sie rümpfte bloß die Nase ~ niemand konnte so ausdrucksvoll die Nase rümpfen wie sie — als äußeres Zeichen herztief gehegter verachtender Gedanken, und sagte mit schulmeisterlichem Tonfall:

„Natürlich! Wieder nichts verdient, Sie ewiger Faulenzer !‘

„Fräulein Lore,“ sagte ich.

„Fräulein Nußbaumer, bitte,“ sagte sie unteroffiziersmäßig. Das nahm mir von neuem den Atem. Ich konnte kein Wort mehr hervorbringen, die Hoffnung war verflogen, das Glück war aus, die Sonne weg und alles traurig und düster wie der Winter, der hinter mir lag.

„Wenn Sie das Geld in einem richtigen Berufe ehrlich verdient hätten, dann würde ich mich freuen, aber so ...'’ und sie blies durch die Lippen, als stoße sie den Rauch einer Zigarette aus.

Richtiger Beruf, Geldverdienen! Ich kannte die Ausdrücke nur allzugut und hatte sie mehr als einmal gehört, seitdem ich gut Freund mit ihr war. Bis jetzt hatte ich von einem kleinen Erbe gelebt, das ich mit vieler Kunst und Sparsamkeit bis aufs letzte ausgenützt hatte. War das eine Sünde ? Lebte man denn, um Geld zu verdienen, oder lebte man nicht, um ... ja, warum ? Aber das Dasein mußte doch einen Sinn haben, über dem Gelde, jenseits vom Gelde, ganz unberührt vom Gelde, und diesen Sinn suchte ich. Und da kam sie und sprach gutbürgerlich und geschäftsmäßig vom Geldverdienen. War denn das eine Kunst ? Lächerlich, ich konnte ja dies und jenes tun, um dafür ein paar Mark in die Tasche stecken zu dürfen. Aber es handelte sich nicht darum, ,,dies oder jenes‘‘ zu tun, sondern darum, das Meine zu tun, das mir Eigenste, das nur ich tun konnte, das dem Leben Zweck und Fülle gab. Und bis dahin — so hieß mein Gelöbnis D bis ich das gefunden hatte, dem Teufel nicht den kleinen Finger geben, das heißt nicht das geringste tun, bloß um Geld zu verdienen. Lieber verhungern ! Aber mit reinen Händen! Sie aber, das Weib, das ökonomisch so lange unselbständige Weib, wußte nichts Höheres als ökonomische Unabhängigkeit ~ und wenn sie mit Strümpfestricken erworben werden müßte! Natürlich, für sie war's ein neues Evangelium, verlockend, betörend durch seine Jugend, die Lösung aller Welträtsel gewissermaßen. Ich aber wußte, daß dadurch noch kein Mann erlöst, höchstens eingelullt worden war. Und litt nicht alle Welt am Gelde? Nein, Hände weg. Sie war stolz auf ihre Selbständigkeit, gut, sie war mühsam genug erkämpft, ich wußte es, und mochte darum zum Stolze berechtigen. Sie genoß die Süßigkeit des Sichselberversagens. Wohl bekomm’s! Aber welch armselige Süßigkeit gegenüber der berauschenden Offenbarung, die ich vom Leben verlangte.

Sie mußte auf eine Antwort gewartet haben, auf irgendeine Reaktion, auf etwas, das nach Abwehr, Gegenangriff, Eingeständnis aussah, und zornig enttäuscht wie ein Spaziergänger, der seinen Stock ergebnislos in einen Ameisenhaufen stößt, sagte sie bissig, da ich stumm blieb:

„Und wenn Sie von Ihrem Onkel in Amerika auch hunderttausend Mark geerbt hätten, Herr Kling, so könnt’ ich mich doch nie und nimmer darüber freuen. Denn Sie sind ja nichts, Herr Kling, ein Mensch in Ihrem Alter, mit fünfundzwanzig Jahren !"

Ich brachte immer noch kein Wort hervor. Gewiß, sie hatte einigermaßen recht, es war nicht zu leugnen: Ich war nichts, amtlich gesprochen. Auf meiner Visitenkarte stand nur mein Name. Aber sie sollte mich besser kennen. Hatte ich sie nicht einen ganzen Winter lang teilnehmen lassen an allen meinen Gedanken und Ideen, Plänen, Entwürfen und Hoffnungen? Hatte ich ihr nicht alles geschenkt, was mich gefreut, ihr nicht alles gebeichtet, was mich bedrückt? Und sie nannte mich „Nichts !‘’“ Sie wußte, daß ich nicht untätig gewesen war, Daß ich keinen Erfolg aufzuweisen hatte, war das meine Schuld? Ich hatte es diesen Winter auch mit der Journalistik versucht. Was mich bedrängt, bewegt, begeistert, hatte ich aufgeschrieben und die Aufsätze und Aufsätzchen an Zeitungen verschickt. Aber die eine hatte mir geantwortet, mein Stil sei zu persönlich, eine andere hatte mir mitgeteilt, sie nehme nur Doktoren zu Mitarbeitern an, die dritte, vierte, fünfte und sechste jammerten über Platzmangel. Natürlich: Raubmorde, Diebstähle, Feuersbrünste, Schiffsuntergänge, Eisenbahnzusammensstöße, Fußballwettkämpse, südamerikanische Revolutionen, Aufstände in Hinterindien, Unruhen in Persien, Marokko- und Balkanfrage, das nahm den Platz weg. Zwei Spalten für einen Raubmörder, drei Zeilen für die Lebensarbeit eines tüchtigen Mannes. Das war der niederschmetternde, nicht zu ändernde Tatbestand. Warum also verhöhnte sie mich, statt mich zu trösten ?

„Stehen Sie nicht so unglücklich da,“ sagte sie freundlicher, „ich wollte Ihnen nicht wehe tun ~ aber Sie kennen ja meine Meinung. Sehen Sie mich nicht an wie ein leidender Heiland, der die ganze Welt zu erlösen hat, bitte nicht ... sonst werde ich auch noch sentimental ... und das will ich nicht ... wahrhaftig, das schickt sich nicht, am allerwenigsten in Berlin ... Frisch drauflos, dem nächsten zu, danach wieder zum nächsten, zugegriffen und nicht lange gefragt, so halt’ ich's ... und fahre wohl dabei !‘“

Woher nahm ssie diese Sicherheit der Lebensführung, diese Selbstverständlichkeit des Weges und des Zieles, die mir so völlig versagt war ? Diese Art Menschen finden sich im Dasein zurecht wie Hunde im Wasser. Man wirft sie hinein ~ und sie schwimmen fröhlich herum. Ich aber hatte die größte Mühe, nicht zu ertrinken. Schon ein Vierteljahrhundert saß ich in dieser Welt und war doch immer noch nicht heimisch in ihr geworden. Gar viele meiner Kameraden aber hatten sich längst gemütlich eingerichtet und fühlten sich wohl auf Erden wie in einem Hause, das man nach eigenen Plänen wunschgemäß hat bauen lassen. Ein Fluch mußte auf mir lasten! Heiland! Es war das drittemal, daß mir dieser Name zugerufen wurde. Das erstemal im Militärdienst von betrunkenen Kameraden, das zweitemal vor drei Nächten im Osten von Berlin aus dem Munde einer Dirne. Und jetzt wieder. Ich sah einen Augenblick lang in die Tiefe eines Gedankens, die mich schwindeln machte. Gesteh's, rief es mir zu, offenbare deinen tiefsten Wunsch, deine innerste Überzeugung, sag’: Ja, so ist's, ein Heiland bin ich, der die Welt erlösen möchte!

Hatte sie etwas gehört, waren meine Gedanken laut geworden ? Ich schämte mich so sehr, daß ich kaum wagte, die Augen aufzuschlagen. Aber war wirklich ein Grund vorhanden, mich zu schämen? War nicht in jedem der Trieb, die Welt zu erlösen, wurde nicht mit jedem Menschenkinde ein neuer Messias geboren ? Doch allzu schnell starben die meisten am Kreuze der Gewohnheit, der Feigheit, der Mutlosigkeit, der Bequemlichkeit dahin und immer noch wartete die aus tausend Wunden blutende Welt auf den Heilenden.

Ich schaute sie an.

„So, jetzt sehen Sie wieder etwas fröhlicher drein,“ sagte sie, „das freut mich. Das ewige Trübsalblasen hat keinen Sinn. Aber was wollten Sie mir eigentlich sagen, warum kamen Sie so aufgeregt und atemlos zu mir ? Beeilen Sie sich, ich muß wieder an meinen Webstuhl !"

Da machte ich resigniert mit der rechten Hand eine unbeholfene Gebärde, die besagen mochte: Ach, nichts, es war nicht der Rede wert, Schwamm darüber, es kommt ja doch alles aufs selbe heraus, beugte den Kopf, ging an ihr vorüber, öffnete die Türe und stieg, ohne mich aufzuhalten, die fünf Treppen hinunter. Und das machte mir wahrhaftig mehr Mühe als vorher das Hinaufstürmen.

4.

Wer weiß, wie es mir ergangen wäre, wenn ich nicht in der trübseligen Moabiter Stube meine zweireihige, mit acht Bässen versehene Handharmonika gehabt hätte, um mich zu trösten. Eine halbe Stunde lang orgelte ich drauflos, ohne zu wissen, was ich spielte. Dann war die Enttäuschung überwunden. Der treue musikalische Blasbalg, der mich nie im Stiche ließ, hatte mich mit seinem Getute wieder einmal getröstet.

Geldnot und Seelennot drängten zu einem Bücherabschluß, zu einer endgültigen Abrechnung, zwangen mich dazu, einen Zukunftsplan zu machen, einen Entschluß zu fassen. In Berlin hatte ich nichts mehr zu suchen. Je schneller ich die Stadt verließ, um so besser. Übertriebene Erwartungen hatten mich aus der Schweizerstadt am grünen Rhein nach Norden gelockt, wo der märkische Sand ein Wunder geboren haben sollte. Und diese Lore Nußbaumer, aus Regensburg an der blauen Donau, hatte mich länger festgehalten, als mir gut gewesen war. Nun war beides erledigt, Stadt und Mädchen. Ich konnte weiterreisen. Ich mußte weiterreisen. Aber wohin ?

Zurück in die Heimat? Unmöglich. Enge, spießbürgerliche Verhältnisse, eine ekelhafte Zufriedenheit, hämische Mäuler, die mich in der ersten Minute des Wiedersehens nach Beruf und Einkommen fragen würden. Ich hörte schon ihr triumphierendes: „Haben wir's nicht gesagt? Aus dem wird nie etwas, aus diesem Veränderlichen, ewig Unbesständigen !"

Aber die Welt war groß. Ich hatte Freunde, die mir gewogen waren: Ein Botaniker in Wien, mit dem ich im Universitätslaboratorium zu Zürich ein Jahr lang Seite an Seite gearbeitet hatte, ein Geologe in Sumatra, dessen Assistent ich früher gewesen war, ein Architekt in Hamburg, auf dessen Bureau ich gelegentlich gezeichnet hatte, ein Arzt in Locarno – wir hatten vor zwei Jahren in Algier eine Kolonie gründen wollen ~ ein Ingenieur in Chile – ach, wie viele Maschinen hatten wir nicht zusammen gebaut, zur Zeit, da uns noch die Probleme der Geometrie und Algebra die größten Probleme gewesen waren. – Einer dieser Freunde würde mir gewiß helfen. Wien, Sumatra, Hamburg, Locarno, Chile. Ich konnte die Namen auf fünf Papierstreifchen schreiben und dann das Los ziehen, das meine nächste Zukunft bestimmen sollte. Ich konnte schließlich auch wieder nach Schweden gehen und Deutschstunden geben, wie im Jahr vorher.

Aber war das nicht eine jämmerliche Lösung ? Hatte ich nicht dem Ruf der innern Stimme zu folgen ?

Doch die innere Stimme war verstummt. Sie jauchzte mir keine Offenbarung zu, sie rief nicht gebieterisch einen strengen Befehl. Sie flüsterte nur dann und wann: Lore Nußbaumer, Lore Nußbaumer! Leise, als ob sie sich schäme ~ und doch laut genug!

Lore Nußbaumer ...

Wenn ich Berlin verließ, dann war sie mir für immer und ewig verloren. So lange ich blieb, winkte immer noch schwache Hoffnung. Ach, das Mädchen war immer noch nicht erledigt, ich mochte mir vorsagen, was ich wollte. Die Gedanken an die stolze Kunstgewerblerin konnten sich niederkauern, sich so klein machen, daß man sie kaum mehr sah, und waren doch immer noch da und bereit, mir nichts dir nichts berghoch in die Luft zu springen. Und dazu das beständige, unausrottbare Gefühl: Sie ist's ... und keine andere, ... es gibt nur eine auf der Welt, die mir bestimmt ist ... und diese eine ist sie .. . und wenn ich sie verliere, dann habe ich für immer und ewig die Möglichkeit zum vollkommenen Leben verloren! Ein halbes Jahr hatte ich um sie gedient und gekämpft. War sie es nicht wert, jahrelang Ziel aller Mühe, Zweck alles Tuns zu sein ?

Aber Berlin quälte mich und belud mich mit einer Last, die ich nicht tragen konnte.

Ich brauchte bloß an die vergangene Nacht zu denken.

Auch ich wollte mich einmal des Lebens freuen wie die andern. Im „Moulin rouge“ stieg ich die Treppe hinauf. Es kam mir seltsam vor, daß die Blümchen- tapeten an den Wänden etwas Unschuldiges und Reines hatten wie in Mädchenzimmern. Aber im Ballsaale war nichts Mädchenhaftes mehr. O, was hätte ich nicht gerade für etwas Mädchenhaftes gegeben! Hundert Frauen spazierten herum. Es war augenscheinlich, daß sie alle bloß darauf warteten, entführt zu werden, gegen Entschädigung natürlich. Und ich hatte ja meine fünfzig Mark in der Tasche. Ich konnte zugreifen, ich hatte die Wahl, innerhalb einer gewissen Grenze selbstverständlich. Aber ich spürte keine Lust zuzugreifen. Vielleicht hätte ich zuerst tüchtig trinken müssen. Ich stand da und erschrak beinahe darüber, daß mein Herz nicht rascher schlug. Denn da gab es doch Augen genug, die jede Lust verhießen. Und offen zur Schau getragene straffe und üppige Brüste, wie man sie sich nur wünschen konnte. Aber sie waren so unnatürlich weiß und gepflegt wie in Coiffeurauslagen. Und wenn man sprach, dann hörte ich den blechernen Klang eines Phonographen. Entsetzt und gedemütigt zugleich stürzte ich davon.

Von Straße zu Straße lief ich, ich weiß nicht warum. Ich suchte wohl etwas und hatte doch gar keine Hoffnung, etwas zu finden. Schließlich fand ich morgens um zwei einen Mann, der von Haus zu Haus ging und die Schlösser nachpriifte. Vielleicht war es mir bestimmt gewesen, diesen Mann zu finden. Am Tage schlief er und des Nachts tat er bloß das, nur das, sein Lebtag. Ich spürte plötzlich unendlichen Haß gegen die Stadt. Welch geringfügige Ursache, daß ein Mann des Nachts von Haus zu Haus geht und die Schlösser nachsieht. Wer wird sich dabei aufregen! Aber mir war es wie ein Zeichen, ein Symbol, eine Aufforderung zum Revoltieren, gebiert darum die Mutter ein Kind, besorgt es, behütet es, nährt es, daß seine Augen sehen lernen, seine Ohren hören, sein Mund reden, seine Hände greifen, seine Füße gehen ~ geschah darum all das Kämpfen und tastende Suchen hunderttausendjähriger Entwicklung, hat darum Gott die Welt geschaffen und die Menschen, die Familie, die Kultur, den Staat ~ bemühen sich darum Freunde, Lehrer, Pfarrer, Erzieher aller Art um das Kind – schaffen darum Dichter ihm Bücher für die Seele und Künstler Bildwerke fürs Auge, damit schließlich der Mensch, dieses Wunder, am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts des Nachts von Tür zu Türe geht und die Schlösser nachsieht ? O, verfluchte Arbeitsteilung, seelentötender Mechanismus, sklavenhafte Abhängigkeit aller von allen. Daß man es duldet und mit ansieht, wie sich ein Mensch zum Allerniedrigsten, Unwürdigsten herabläßt, bloß um leben zu dürfen.

Und ich begriff auf einmal, warum mich das so erschütterte. Ich wußte auf einmal, woran ich litt. Ein Bild trug ich in meinem Herzen, seit Jahren schon, als Ahnung, als Gewißheit, als starken Glauben : Der Mensch ist die Offenbarung Gottes! Ach, was für eine Offenbarung. Ich brauchte nur an die Frauen im Moulin rouge zu denken. Gott war nicht zu finden. Ich stand in einer unerlösten Welt, in der ich nichts vermochte. Keinen Trost gab's für mich, nur Vergessen ...

Und dann doch dieses frohe Erwachen, diese Mittagszeit mit ihrer sonnigen Verwandlung der Stadt. Wem ssollte ich nun glauben, der Mitternacht oder dem Mittag ?

5.

Ich erhob mich, um zum zweitenmal durch die I Straßen zu gehen und nochmals zu schauen und zu prüfen. Und der Wunsch war in mir, das Sonnige möchte Wahrheit und siegreiche Übermacht sein. Ich ging mit dem halben Vorsatze, ein Auge zuzudrücken, wenn es nötig sein sollte ~ um ihretwillen.

Aber schon die Türe mit Guckloch und Sicherheitskette, die die Wohnung wie eine Festung verwahrte, mahnte mich an Mord und Diebstahl. Auf der Treppe wurde ich angebettelt, aus dem Hofe jammerte das Gedudel einer Drehorgel. An der nächsten Plakatsäule fiel mein Auge auf die Ankündigungen von beträchtlichen Belohnungen für die Ergreifung von Lustmördern und flüchtigen Kassendieben, von Vorträgen gegen die Prostitution und den Kinderhandel. Nicht weit davon stieß ich auf einen Zug ausrangierter, hinkender, humpelnder Frauen und Männer, die alle möglichen Arten von Kinderwagen vor sich herstießen, um irgendwo Gratisbriketts einzuladen. Auch die Straßenbahn konnte mich nicht retten, denn ich war empfindlich und reagierte mit Entrüstung gegen alle die Ellenbogenstöße und Fußtritte, gegen das fortwährende Berührtwerden von rechts und links. Ich fühlte mich beschmiert und beschmutzt und in meiner körperlichen Freiheit und Selbständigkeit empfindlich angetastet. Am Potsdamer Platz, wo ich ausstieg, um die Mittagsstimmung wiederzufinden, hingen die Fahnen schlapp und schmutzig herunter, die Blumen waren am Verwelken, und das fröhliche Menschengetriebe hatte sich in ein unangenehmes Gedränge verwandelt. Sichtbar und auffällig häuften sich an Mauern, Giebeln und hoch oben auf den Dächern marktschreierische Firmenschilder, Anschläge, Plakate, Warenanpreisungen und Reklamegerüste zu augenschmerzender Häßlichkeit.

Enttäuscht und ohne weitere Hoffnung ließ ich mich mit dem Mensschenstrom die Potsdamer Straße hinuntertreiben, bis ich auf einmal „Schwedische Ausstellung‘“ las und unwillkürlich stehen blieb. Ich dachte an Wälder und Seen und viel Kurzweiliges und Schönes, das ich erlebt hatte, und ging hinein. Zu meinem Erstaunen entdeckte ich ein Schweden, von dem ich noch gar nichts wußte. Denn was ich fand, war Farbe, war kurzweilige, freudeerfüllte, handgeschaffene Form, war Leinen, Wolle, Eisen, Kupfer, Messing und Holz in handwerksgerechter und arbeitsfroher Ausgestaltung, war ein Verklären der kleinsten bescheidensten Dinge und der allergewöhnlichsten Gebrauchsgegenstände des Bauernlebens durch die Liebe und die Freude an allem, was aus den eigenen Händen hervorgeht. Ein freundliches Mädchen, das schlecht deutsch sprach, führte mich von Zimmer zu Zimmer, nannte Namen von Ortschaften und Kirchspielen, alle in Dalarne gelegen, zeigte mir hier Wandbehänge in rauher Technik, grob zum Anfassen, mit heidnischer Farbenpracht, aus einer Gegend stammend, wo die Leute robust waren und starke Eindrücke liebten; dort wiederum Webereien mit feinen Mustern, mit schmalen, gedämpft leuchtenden Farbenstreifen, die aus einem Dorfe kamen, wo man mehr träumerisch dahinlebte inmitten feierlicher hundertjähriger Hängebirken. Und während ich neben ihr herging, ihren unbeholfenen Erklärungen lauschte und ihre Berichte über Bauern, die nebenbei Schreiner, Schmiede und Maler waren, über Bäuerinnen, die ihren eigenen Lein verspannen, die Wolle ihrer eigenen Schafe selber färbten, wie Evangelien in meinen Sinn aufnahm, fühlte ich mehr und mehr, gerade durch die Gegensätzlichkeit dieses so wirklich geschauten, abgeschlossenen, selbständigen, unabhängigen, freihöfischen, schwedischen Bauerntums zum Leben, das draußen vorbeirauschte, zu Berlin, dieser Stadt der weitverzweigten Verbindungen und Welthandelsabhängigkeiten, der hochgetriebenen Arbeitsteilung, in Bewegung erhalten von der unsichern Dampfkraft des Kredits: dieses Dalarne, das mir vor einer Stunde noch unbekannt gewesen, war meine Heimat, das Land meiner Sehnsucht, des vollkommenen Lebens, kurz und gut, das Paradies!

Wer plötzlich hört, daß sich alles, was er sich ahnend gewünscht, irgendwo verwirklicht findet, wird er nicht gerne die Unannehmlichkeiten einer monatelangen Reise auf sich nehmen und Hab und Gut dransetzen, um nach dem Lande seiner Wünsche zu gelangen? Und hier handelte es sich bloß um dreißig Stunden und vierzig Mark. Das mußte Lore erfahren.

Denn von der reich aufquellenden Lebensbejahung kriegte meine Liebeshoffnung den allerbesten Teil. Lore war mir sicherlich zugetan, wenn sie es schon nicht zeigte. Das hing eben mit ihrem Wesen zusammen. Und daß sie soviel vom Gelde gesprochen hatte, durfte ihr nicht übel genommen werden. Sie genoß nicht so viele Dinge, die nichts kosteten. Mir gehörte alles, was ich sah. Sie mußte kaufen, um zu besitzen. Meine Edelsteine lagen in allen Juwelierauslagen zur Schau. Sie mußte ihren Rubin von Hindostan oder ihre Perlen von der Koromandelküste zu Hause in ein Kästchen einschließen können, wenn ihre Freude vollkommen sein sollte.

Um sie zu beschenken und um ihr das schwedische Wunder deutlicher vor die Augen führen zu können, kaufte ich eine Weberei so groß wie ein Kissenüberzug. Der Preis war ziemlich hoch und verschlang den vierten Teil meiner fünfzig Mark. Aber das kümmerte mich nicht, denn nun konnte ich meinen Frack und viele andere Dinge, die zur Großsstadtausrüstung gehören wie ein Paar genagelte Schuhe zu einem Bergsteiger, getrost verkaufen. Froh, ja übermütig, nahm ich die Weberei unter den Arm, warf mich wieder in den Menschenstrom der Potsdamer Straße, ließ mich aber diesmal nicht treiben, sondern steuerte kräftig wie ein geübter Schwimmer meinen eigenen Zielen zu. Im Asschinger, wo ich so oft Freibrötchen gemaust hatte, kehrte ich ein, aß warme Würstchen mit Kraut, dazu fünf Butterstullen, eine mit Schinken, zwei mit Gänseleberpastete und zwei mit russischem Kaviar, denn jetzt brauchte ich nicht mehr zu sparen. Der Kaviar schmeckte mir zwar nicht gut, aber ich schob die Schuld auf die fehlende Gewohnheit und genoß auf alle Fälle das angenehme Gefühl, mir zur Abwechslung solche teure und berühmte Leckerbissen erlauben zu können. Mit gestärktem Selbstgefühle ging ich dann ins Café nebenan, trank eine Mélange und schmauste drei Portionen Apfelkuchen mit Schlagsahne. Gesättigt und stolz setzte ich meiner Versschwenderlust die Krone auf, indem ich in einem funkelnagelneuen Automobil, das ich für die Dauer von zehn Minuten ganz gut als mein eigenes betrachten durfte, vor jenes Haus fuhr, das ich vor nicht gar langer Zeit im Eilschritt gestürmt hatte. Nun aber, gewitzigt durch die damalige Atemnot, nahm ich den Aufzug. Denn diesmal hatte ich gar viel zu sagen.

6.

Lore saß am Webstuhl. Fräulein Sänger und Fräulein Kroll, die beiden Teilhaberinnen im kunstgewerblichen Unternehmen, waren willkommenerweise nicht zu sehen.

„Schon wieder ?“ sagte sie. Das klang nicht eben ermunternd. Aber ich ließ mich nicht einschüchtern.

Ob’s nun die Würstchen, das Kraut, der Schinken, die Gänsseleber, der russische Kaviar, die Melange, die Apfelkuchen mit Schlagsahne, das Automobil oder die schwedische Paradiesverheißung war, die mich so mutig machte, kurz und gut, ich stellte mich stramm und selbstbewußt vor sie hin und begann unverzüglich:

„Liebe Lore !"

Sie ließ vor Erstaunen ein Schiffchen mit roter Wolle fallen. Nun war's an ihr, nicht reden zu können. Das war das erstemal, daß ich sie sprachlos fand.

„Ja, liebste Lore !‘

Ich sah mit Vergnügen, daß sie vergebliche Anstrengungen machte, die Lippen zu öffnen.

„Geliebte Lore !“

Nun ließ sie auch ein Schiffchen mit grüner Wolle fallen. Und ihre Augen sagten verständlich genug: Was fällt Ihnen denn eigentlich ein ?

„Geliebteste Lore!” Ich machte eine kleine Pause, um meine Kühnheit recht auszugenießen. „Ich weiß, iwo das Paradies liegt, kommen Sie mit, ich bezahle die Reise !‘

Sie wollte mich unterbrechen, aber ich kam ihr zuvor.

„Ich liebe Sie, Fräulein Lore, Sie werden es schon wissen. Und Sie lieben mich auch. Wenn Sie es schon weder sich selber noch mir eingestehen wollen. Hätten Sie mich sonst am Weihnachtsabend geküßt ? Es war zwar unter einem Mistelzweig, zugestanden, aber warum hatten Sie ihn aufgehängt und warum standen Sie unter ihm, als ich ins Zimmer trat? Hätten Sie sich sonst von mir am 13. Januar über das Wannsee-Eis tragen lassen ? Sie hatten sich zwar den Fuß etwas verrenkt, aber man kann sich auf verschiedene Weise tragen lassen, nicht wahr ? Durfte ich nicht am zehnten Februar einen ganzen Abend lang Ihre rechte Hand halten, während Fräulein Sänger Dehmels Gedichte vorlas ? Und schmiegten Sie sich nicht deutlich und unzweifelhaft an mich, als wir am zweiten März nach derVorsstellung des „Florian Geyer" die Treppe im Lesssing-Theater hinunterstiegen? Und Ihre vielen Ermahnungen den ganzen April hindurch? Ist das nicht der beste Beweis von Anteilnahme und Mütterlichkeitsgefühl? Und liegt der Anfang der weiblichen Liebe nicht gerne und vorzugsweise auf diesem Gebiete ?"

Sie hatte einen tulpenroten Kopf. Das gab mir den Mut fortzufahren.

„Wie leben Sie hier ? Arbeit, Arbeit, Arbeit! Und zwischen hinein in ein Theater, in ein Konzert, in ein Tingeltangel, „um das Leben zu genießen !‘“’ Berlin hat Sie aus Ihrer Heimatstadt an der Donau weggelockt, wie es mich aus der Stadt am Rhein gerissen hat. Was die Heimat nicht erfüllte, erwartete man von Berlin. Wie ging es uns ? Ich will nicht von mir reden! Aber. Sie! Sie halten sich mit Mühe und Not über Wasser. Konkurrenz zur Linken, Konkurrenz zur Rechten, und zwar eine Konkurrenz, die keine Mittel scheut, um Sie unschädlich zu machen und auszuschalten. Kommen Sie mit und schlagen Sie Ihren Webstuhl dort oben in Schweden auf, in Dalarne. Dort webt jede Bäuerin. Und der Bauer bauert, schreinert, schnitzt, drechselt, schmiedet, malt. Jeder ist sein eigener Herr. Man tut die Dinge nicht um des Geldes willen. Alles was geschaffen wird, ist Formenfreude und Farbenfreude. Wir können die Glücklichsten eines glücklichen Volkes sein !"

Ich faßte ihre Hände. Sie ließ es geschehen. Ihre Augen waren groß und offen auf mich gerichtet. Die Gedanken schauten aus ihnen heraus:: Liebesgedanken ! Hätte ich doch schon früher so zu ihr gesprochen. Aber auf einmal erlosch das fröhliche Spiel in ihren Augen. Sie löste die Hände aus den meinen und lächelte wehmütig.

„Sie sind ein lieber Narr,’ sagte sie leise und ganz ohne ihre gewohnte strenge Haltung, „was haben Sie sich jetzt da wieder zusammengeträumt, Sie mit Ihrem schwedischen Paradiese! Es wird Sie ja kein Mensch verstehen. Sie können sich ebensogut in einer Taubstummenanstalt ein Zimmer mieten !"

„Ich kann ziemlich gut Schwedisch,“ sagte ich, „ich bin nämlich schon letztes Jahr in Schweden gewesen, in Südschweden allerdings ...'

„Wie sind Sie denn nach Schweden gekommen ..."

„Ach, nun so ... das heißt, um die Wahrheit zu gestehen ... ein Mädchen war dran schuld ..."

„Und darum fuhren Sie nach Schweden ?"

„Ja"

„Sie scheinen nicht zum erstenmal verliebt zu sein.“

„Nein, Gott sei Dank, denn das erstemal ist man nur ein Stümper.‘

„Sie haben sich also auch bloß meinetwegen für das Weben interessiert.“

„Wenigstens teilweise."

„Jedenfalls können Sie froh sein, daß ich keine Schneiderin bin!“

„Ja und nein!“

„Nein ?“

„Wenn Sie eine Schneiderin wären, dann hätt’ ich mich noch mehr demütigen und lächerlich machen dürfen – um Jhretwillen.“

Lore senkte den Kopf.

„Sie sind ein richtiger lieber Narr,“ sagte sie langsam und jedes Wort war eine Liebkosung, „aber ich kann doch nicht mit Ihnen reisen. Was soll denn daraus werden? Wenn wir auch Geld genug haben, um hinzukommen, was dann?"

Ach, sie hatte kein Gottvertrauen. Aber ich wußte eine Antwort. „Wir weben, wir studieren die Muster, wir exportieren nach Deutschland. Ihre beiden Teilhaberinnen übernehmen den Verkauf. Das Geschäft wird sich lohnen, denn die Webereien sind schön.“

Sie lachte: „Ach, lieber Glorian Kling, an Ihren Gesschäftssinn glaub’ ich nun schon gar nicht !“ Um meinen Worten mehr Nachdruck zu geben, entfaltete ich die Weberei, die ich in der Ausstellung gekauft hatte.

„Schön, sehr schön,“ sagte sie und bewunderte das Muster. Bald glich es einer sonnenbeschienenen Straße mit roten Geranien in den Fenstern, bald dem Figurentanze einer hellgekleideten Mädchenschar auf dem roten Boden eines Buchenwaldes im Spätherbste, bald dem fröhlichen Wirrwarr und Farbengetümmel einer Messe. Und wie die Saiten über das Griffbrett einer Laute, so spannten sich gelbe Fäden über das Ganze und hielten es zusammen, wie die Melodie die vielen Verse eines Liedes zusammenhält oder die Schnur die bunten Glasperlen eines Kinderhalsbandes.

Und darauf sah sie eine Weile träumend auf das Muster, das sie selber webte. „Nein,“ sagte sie dann, doch im Tone nicht so bestimmt wie in den Worten, „Sie müssen allein ins Paradies reisen, wenn Sie denn durchaus hinmüsssen. Sie werder mir fehlen, aber ich kann Sie nicht halten !"

„Doch, Sie können mich halten,“ sagte ich, „trotz Schweden und trotz Paradies !"

Sie wurde so rot wie das Rot in ihrer Weberei, das hin- und herzuckend durch ein Grün floß wie Blutbächlein durch eine Frühlingswiese. Und als fürchte sie, ich möchte in ihrem Antlitz etwas lesen, was sie zu verbergen wünschte, stand sie auf, trat ans Fenster, kehrte mir den Rücken und sagte langsam, ohne sich umzudrehen: „Nein, ich ... kann nicht!"

Da stieg mir heißer Zorn und giftige Wut in die Kehle.

„Ewige Feigheit und Schwäche," schrie ich ihren wohlgestalten Rücken an, dessen hohe schlanke Linie mich in Raserei brachte ~ ach Gott, was ist eine Schwertlilie gegen ein Mädchen — und ich schimpfte weiter, um so lauter, je mehr ich unter dem Anblick litt: „Jämmerlicher Geiz, erbärmliche Unfähtgkeit, schenken zu können! Krüppelwesen trotz aller Schönheit.. Sie könnten bereichern und tun es nicht, Sie könnten begeistern, erleuchten, riesenkräftig machen ~ oh, ich ahn’'s mit Schmerzen und spür’'s mit Verzweiflung ~ und tun es nicht. So weben Sie denn meinetwegen weiter in Ihrer selbständigen Abhängigkeit vom Publikum und seien Sie glücklich, wenn ein Berliner Jhre farbigen Tüchlein kauft, damit Sie vegetieren können. Mich sehen Sie nicht wieder.“

Und ich schritt wuchtig auftretend hinaus und warf die schwere Türe so heftig ins Schloß, daß vom Plafond herunter ein großes Stück Gips vor meine Füße fiel. Aber das war mir vollständig gleichgültig.

7.

Diesmal mußte ich zwei Stunden lang handorgeln, um wieder notdürftig ins Gleichgewicht zu kommen. Dann suchte ich alles zusammen, was entbehrlich war, Kleider, Hüte, Schuhe, Bücher, und verkaufte sie dem Trödler in der Kellerwohnung nach einigem hin und her für die runde Summe von hundert Mark, wobei ich sicherlich um ebensoviel betrogen wurde. Aber ich ließ mich das nicht anfechten, rollte mein leichtes Gepäck in eine wollene Decke, hing die Handharmonika über die Achsel und begab mich ohne umzuschauen nach dem Stettiner Bahnhof, wo die Stadt so unappetitlich ist, daß ich kein Abschiedsweh verspürte. Bald darauf sauste ich im Abendschnellzuge Berlin–Stockholm nordwärts und schaute mit gierigen Augen zum Fenster hinaus, so lange noch etwas zu sehen war, bloß um die Leere in meinem Herzen, das nach Lore schrie, mit etwas anderem auszufüllen.

Buchen, Föhren, Heiden, Sandflächen: o wohltuender Balsam der Dürftigkeit und Anspruchslosigkeit. Ein pflügender Bauer: wie das ergreift, pflügen! Die Horizontlinie einer Ebene und auf der Linie ein einsamer Baum: o welch Wunder ist ein Baum! Eine Landstraße mit tiefen Furchen: erinnerungsvolles Heimatsgefühl! Verlorene Wege in Wälder hinein: o Spaziergänge meiner Jugend! Auf einem Hügel eine Windmühle in langsamer Bewegung : welch schreckhafter Riese, ein Ungeheuer, das mit seinen Flügeln an die Wolken rührt! Eine Kleinstadt, ein Mann mit einer Pfeife im Munde spricht mit einem Mädchen im ersten Stock, er könnte ihr die Hand hinaufreichen, wenn er wollte: o wie groß ist der Mensch, wenn ihn die Häuser nicht erdrücken! Eine Wolke am Himmel, körperlich wie ein Luftschiff, mit der Unendlichkeit hinter sich: o Schrecken und süßer Schauer des Weltenraums, in dessen Abgrund ich mich verliere ...

In später Nacht ging ich an der Ostküste Rügens aufs Schiff und nahte frühmorgens dem gelobten Land. Zwölf Stunden darauf war ich in Stockholm. Glänzend und glitzernd, mit strömendem Wasser, mit gekräuselten Wellen, mit Möwen und frischem Wind, mit schwarzen Granitfelsen, weißen Häusern und roten Backssteinbauten lag die prächtige Stadt an Buchten und Hügeln, sauber und rein wie eine alpine Landschaft. Mit Ehrfurcht und Freude und gletsscherkühler, schneeluftiger Gotthardstimmung trat ich auf den Granit, der sich mitten aus den Straßen und Häusern heraus emporwölbte, urweltlich plump, geschliffen und rundrückig. Das war das wahrhaftige Rückgrat der Erde, nicht nur äußerste, lose Hülle, die ein Windstoß wegblasen konnte, wie der Sand der Mark Brandenburg. Berauschend war es, sich im Fluge hinabzuschwingen bis an den Anfang aller Erdendinge und wieder aufzusteigen von der Zeit, wo noch kein Leben war, bis in die frohe Gegenwart, wo der Mensch leichten, sorglosen Fußes über diese aus dem Feuerflusse erstarrte Felsenmasse ging, als sei von Ewigkeit her solche Sonne, solcher Stein und solches pulsierendes Blut und gedankenbildendes Gehirn gewesen.

Aber wer wird sich auf der Fahrt nach dem Paradiese aufhalten und wäre die Versuchung auch noch so groß ?

Weiter, nordwärts, vorbei an der Stadt Linnés und der gotischen Silberbibel, vorbei an flachliegenden Ackerlandschaften, Tannenwäldern, Seen, schwarzverrußten Eisenwerken, bis sich Hügel höher und höher hoben und sich langgestreckte Berge zur Rechten und Linken kulissenartig hintereinander legten. Der Schnee, der bis dahin nur in grauen, schmutzigen Fetzen kläglich aus den Wäldern hervorgeschimmert hatte, schloß sich zu einer glitzernden, einheitlichen Decke zusammen, und ehe ich mir's versah, war ich mitten drin im Winter und damit auch in Dalarne.

An den Stationen standen robuste Mädchen in farbigen Trachten neben solchen, die auf die traurige graue und schwarze Stadtweise gekleidet waren. Bäumige Männer in langen, gelbweißen Schafpelzen waren schön und stattlich anzusehen und ließen die europaübliche Mantelgewöhnlichkeit einiger Fabrikarbeiter noch häßlicher und armseliger erscheinen. Kaum konnte ich es erwarten, nach „ Ackerbucht‘“ zu gelangen, wo eigener Boden und eigene Arbeit des Bauern Heim, Nahrung, Kleidung und Schmuck schuf, „inmitten feierlicher, hundertjähriger Hängebirken,“ wie mir das freundliche Mädchen in der Berliner Ausstellung so poetisch und verlockend erzählt hatte.

Aber der erste Anblick des Kirchdorfes war eine Enttäuschung. Was sich darbot, war gerade jene protzenhafte Häßlichkeit, der ich am Stettiner Bahnhof entflohen war, bloß in vermindertem Maßstabe. Da stand ich nun im fernen Schweden und hätte ebensogut in einem billigen Außenquartier meiner Heimatstadt stehen können. Eine klägliche Belohnung so weiter Reise.

Und Kaufladen neben Kaufladen! Und Frauen und Mädchen in einer verstümmelten Tracht, mit gefälteltem Rock, bunter Schürze und weißer oder roter Haube, ja, aber mit wollenen Blusen und Jacken neuester Mode, mit Kragenschonern, himmelschreienden Tüchern und Galoschen. Und erst die Männer! Man hätte sie ohne weiteres nach Berlin verpflanzen können, ohne daß sie das geringste Aufsehen erregt hätten, so international waren sie gekleidet.

Aber da kam ein würdiger Greis in schweren Birkenrindenschuhen, weißen Srümpfen, Kniehosen und Schafpelz daher mit einer Handbrandspritze unter dem Arm. Die Brandspritze glich der Klistierspritze Molikrescher Ürzte. Das war einer von altem Schrot und Korn. Ich hätte ihm am liebsten die Hand geschüttelt.

„Wer ist das ?“ fragte ich einen Bauer.

„He? der ? das ist Linder !“

„Ein prächtiger Bauer !"

„Ja, und der Präsident der Bank und Vizepräsident der Eisenbahn !“

„So, so!“ Ich brachte kaum den Mund zu vor lauter Staunen. Die Geldwirtschaft schien also in Ackerbucht nicht unbekannt zu sein. ;

Doch schau: Hier werden einfache, gute Möbel abgeladen. Sicher Heimarbeit.

„Wer hat die gemacht ?“ fragte ich einen jungen Burschen.

"Berg."

„Ein Bauer ?"

„Nein, die Schreinerei dort unten!“

In der angegebenen Richtung sah ich ein großes fabrikähnliches Gebäude. Und als ich genauer hinhorchte, hörte ich das taktmäßige Puffen eines Petroleummotors.

Doch da lachte die Fülle und reiche Farbenpracht bunter Webereien. Endlich! Nur schade, daß es sich um einen Kaufladen handelte und nicht um eine Bauernstube.

„Also das haben Bäuerinnen gewebt ?

„Ja.“

„Warum behalten sie diese prächtigen Dinge nicht selbst ?“

„He, weil sie Geld brauchen !“

„Sie weben also nicht aus Freude am Weben, sondern um Geld zu verdienen ?"

Da sschaute mich die Verkäuferin verständnislos und wie erschrocken an. Vielleicht hatte ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt. Vielleicht war sie so erfüllt vom Evangelium der neuen Zeit, daß sie meinte, ich sei verrückt.

„Aber wer kauft denn das ? ... Die Bauern?"

Meine Frage verhalf der Verkäuferin zu einem fröhlichen Lachen.

„Bauern ? Nein, nein! Aber die Touristen!“ ... Ich stand wieder auf der Straße. Recht hoffnungslos und trübselig stand ich da. Man brauchte nicht Schwedisch zu verstehen, um zu merken, daß man hier nicht im Paradiese war.

Wie um mich zu trösten, kam ein fröhlicher Wagen auf mich zu. Ein Pferdchen mit ganz unbändig keckem Kopf und rotbemaltem, reichgeschnitttem Geschirr, ein altmodischer gelber Rokoko-Wagenkasten, der sich an breiten Lederriemen zwischen hoch aufgebogenen Federn schaukelte, ein energisch dreinschauender Alter in Pelz und buntem Halstuch ~ das sah schon eher nach Paradies und freudenreichem Leben aus. Ein Land, wo es noch solche Bauern gab ...

„Wie heißt er ?!“ fragte ich ein Mädchen.

„Das ist der Maler Martin!“

Ach so! Ein Maler! Nun hatte ich genug und suchte im freundlichen Gassthause, dessen Preise ganz unmodern billig waren, Nahrung und Obdach.

8.

Die nächsten Tage lehrten mich, daß es wirklich alte Bauern gab, die an der Hobelbank und in der Schmiede ihren Mann stellten und nichts Gekauftes am Leibe trugen. Aber sie lehrten mich auch, daß die Söhne dieser alten Bauern ganz anderer Art waren, nicht mehr taten, als sie mußten, verächtlich vom Bauern redeten und nur darauf warteten, nach Stockholm vder Amerika abzudampfen. Ich fand alte Höfe schönster Form, aber auch solche, die mit neuen Zutaten und Verbesserungen gar häßlich gelappt und geflickt waren. Ich fand einen alten prächtigen Glockenturm in schwarzem Holzwerk und am See einen Kirchhof mit Dutzenden von alten handwerksfreudig geschmiedeten Grabkreuzen. Aber was half mir das ? Ich suchte ja nicht Altes, Vergangenes, sondern Neues, Lebendiges! Nicht auf die Greise kam es an, sondern auf die jungen Männer. Deutlicher und deutlicher wurde es mir, daß das, was ich suchte, früher einmal, vielleicht vor gar nicht langer Zeit Wirklichkeit gewesen warz; jetzt aber war jene Welt dahin ~ man sah sie gewissermaßen gerade um die Ecke biegen –~ und lebte nur noch in dürftigen Resten weiter, Inseln gleich, die aus einer Überschwemmung emporragten, früher oder später aber auch überschwemmt werden würden.

Als am Sonntag das Bauernvolk in prächtigem Zug zur Kirche schritt ~ es gab nur wenige Frauen, die nicht in den weißen Pelzjacken daherkamen, und die Zahl der schwarzmanteligen, feierlichen Alten überraschte ~ war es schon zu spät, um meine enttäuschte Seele wieder gläubig zu stimmen. Wäre ich an einem Sonntagmorgen in Ackerbucht ausgestiegen und an einem Sonntagabend weggereist, so würde ich die Überzeugung mitgenommen haben, im Paradiese gewesen zu sein. Aber ich hatte allzuviele Werktage erlebt, um mich an diesem Bilde noch rechtschaffen freuen zu können. Ich war ja kein Maler. Ich wollte nicht das schöne Bild, sondern das schöne Wesen. Was nützte mir der Anblick eines Hauses, wo noch die Wucht unverhüllter, mächtiger Balken ein Fest feierte, wenn ich erfuhr, daß drinnen ein pensionierter Professor wohne, der ein Spezialist in Heuschrecken sei, und wenn der Bauer neben ihm mit Tausenden von Nägeln eine fadenscheinige, billige Bretterdürftigkeit zusammenhämmerte wie ein Arbeiter in der Nähe von Stockholm und dabei noch stolz darauf war ? Und wie um mich noch mehr davon zu überzeugen, daß ich zu einer Menschheit gekommen sei, die von der, die ich in Berlin verlassen hatte, nicht allzuverschieden war, sangen Phonographen ihr universelles Repertoire, spielte eine Blechmusik bekannte Walzer, zeigte ein Kinematograph französische Liebesdramen.

Enttäuscht und entrüstet schalt ich auf die freundliche Wegweiserin in der schwedischen Ausstellung, die wahrscheinlich Ackerbucht nie gesehen hatte. Ich war nahe daran, dieses Volk zu hassen, obwohl es mir nicht das geringste zuleide getan hatte. Bloß weil es nicht so war, wie ich es haben wollte; so sehr empfand ich den nüchternen Sachbefund als einen schmerzenden Schlag ins Gesicht und ein brutales Niedertrampeln meiner heiligsten Hoffnung.

Weit in der Ferne lag wieder das Land meiner Sehnsüchte, ein Narr war ich, ein ewiger Narr, der immer von neuem geprellt wurde.

Aber als ich mich mit gleichgültigem Willen fragte: Was nun ? wohin? und es mir mit reisemüder Verzichtleistung auf hohe Erfüllung antwortete: Bleib’ da! Ist's hier nicht ebensogut wie anderswo ?, da ließ ich ergeben die Antwort gelten und blieb vorläufig im Gasthause, wobei ich die Beantwortung der Frage, wovon ich leben sollte, wenn mein Geld ein Ende genommen hatte, auf später verschob.

In dieser mühsam angenommenen Ruhe, da mich keine neuen Eindrücke beschäftigten, die Enttäuschung einigermaßen überwunden und das Schmerzgefühl etwas eingeschläfert war, kam die Erinnerung an Lore mit verstärkter Macht über mich. Und willenlos, wie man ein heftiges Fieber über sich ergehen läßt, gab ich mich der Verzweiflung hin, legte mich ins Bett wie ein Kranker und rührte das Essen nur der Form halber an, um die wohlmeinende Wirtin nicht allzusehr zu beunruhigen oder vielleicht gar zum Arzte zu schrecken.

Am zweiten Tage jedoch, als ich sah, wie die Mittagssonne auf den vernickelten Beschlägen und perlmutterglänzenden Drückern meiner Handharmonika spielte, begann sich mein Lebenswille wieder zu regen. Ich nahm das treue Instrument, das schon so oft meine Rettung gewesen war, ins Bett, intonierte einen alten Soloturner Ländler, der mehr und mehr und wie von selber das anfänglich meiner aschgrauen Stimmung angepaßte Trauermarschähnliche verlor und seinen richtigen, fröhlich hüpfenden Tanzschritt kriegte. Die Jodelmelodie vom ,,schönen, lustigen Emmental‘? förderte die derart eingeleitete Genesung weiter, und eine sächsische Weise im stürmischen Dreivierteltakt, die ich einst einem wandernden Schneidergesellen abgelauscht hatte, führte sie glücklich zu Ende. Ich kleidete mich an und ging zur Essenszeit in den Speisesaal hinunter. Da ich aber die Tische alle besetzt fand, wollte ich mich schon mit einem „Natürlich, für dich ist nirgends Platz“ wieder entfernen, als ein hochaufgeschossener, magerer Mann voll Eifer aufsprang und mich mit Freundlichkeit und höflicher Gewalt an seinen eigenen Tisch nötigte, sich gleichzeitig vorstellte und mit einem weltmännisch sicher geführten Gespräch eine Brücke zu mir hinüberschlug. Da es mir schwer fiel, mich ohne weiteres an das laute, etwas schutzpatronenhafte Wesen meines Nachbarn, eines Schriftstellers, zu gewöhnen, hoffte ich zuerst mit einem Hinweise auf meine primitiven Kenntnisse der schwedischen Sprache weiterer unwillkommener Unterhaltung entgehen zu können, erreichte aber dadurch nur, daß der andere mit deutschen Brocken und ungelenken, verstümmelten Sätzen über mich herfiel. Da ergab ich mich denn drein, ließ die Suaden des Schriftstellers ~ der ein sehr guter Schriftsteller sein mußte, wenn er mit der Feder ebensogut arbeitete wie mit dem Munde = über mich ergehen, antwortete dann und wann, wenn es der gessellschaftliche Anstand erforderte, bestätigte, daß draußen immer noch etwas Schnee liege, der See immer noch gefroren sei und der Frühling also immer noch auf sich warten lasse, obwohl er eigentlich schon da sein müßte. Und ich nickte mit dem Kopfe, wenn der andere seiner Heimat ein Loblied sang, „,ein herrliches Land, nicht wahr, ein herrliches Volk,“ und bestätigte, „daß eine solche Gegend wie hier am See und solche uralte Kultur das Herz jedes Fremden im Sturm nehmen müsse.“ Wie üblich kamen wir auch auf Beruf und Herkunft zu sprechen, und da ich nicht unnötigerweise gestehen wollte, daß ich „,nichts‘“ sei, deutete ich an, daß ich als Journalist und Kulturhistoriker längere Zeit in „Ackerbucht‘? zu verweilen gedenke, auch die Einsamkeit zu größeren Arbeiten zu verwenden hoffe, worauf ein Nachbar des. Schriftstellers aufmerksam wurde, sich vorstellen ließ und an mich die höfliche Frage stellte, ob ich nicht vielleicht geneigt wäre, die deutsche Korresspondenz seines Geschäftes, das sich mit dem Export von Eisenwaren und Holz nach Deutschland abgebe, zu übernehmen. Unverhofft sah ich eine leichte Weise, Geld zu verdienen, vor mir und sagte ja, so daß ich auf einmal gewissermaßen hier schon zu Hause war und wohlversorgt, ehe ich mich noch entschlossen hatte, hier zu bleiben. Aber so ist es mir immer ergangen. Derart schlug mein Leben über Nacht eine ganz vernünftige Bahn ein, so daß auch der ärgste Philister eine Freude daran haben konnte. In Birkenrain, eine halbe Stunde von Ackerbucht entfernt am See, mietete ich mir für den halbjährlichen Zins von zehn Kronen ein kleines Häuschen mit Stube und Kammer. Die Hütte war etwas baufällig, verlottert und schmutzig, denn ihre frühern Besitzer waren nach Amerika ausgewandert, ohne das verlassene Nest rein zu machen. Auch regnete es in einer Stubenecke gelegentlich, besonders nach längerer Trockenheit, nicht unbeträchtlich herein, aber. da ich ganz gut ohne jene Ecke sein konnte, kümmerte mich das wenig. Nachdem ich den ärgsten Mist in die Ecken gewischt, neues Stroh ins Wandbett gelegt und eine Klafter Birkenholz gekauft hatte, war das Häuschen bewohnbar. Und da ich gleichzeitig entdeckte, daß Milch und Butter und das landesübliche, seiner Härte wegen sehr ökonomische Scheibenroggenbrot billig waren, und ich mir auch erzählen ließ, daß hier die besten und billigsten Kartoffeln Schwedens wüchsen, durfte ich erwarten, mit meinem Wochenverdienst von zehn bis fünfzehn Kronen sogar noch etwas ersparen zu können. Es lag ein gewisses Glück in dieser selbständigen Lebensweise, die mir zwar keine hohe Freude, dafür aber auch keine Qual bereitete. Und wenn es auch ein armseliges, hundsföttisches Glück war, wie ich mir mehr als einmal vorhielt, so hatte ich doch keine Kraft und keinen Willen, es zu ändern.

9.

Nicht als ob ich wie ein versonnener Einsiedler gelebt hätte. Ich mußte mich umtun, schauen, reden, zuhören, um nicht zu spüren, daß sie mir fehlte, sie. die einzige, Lore Nußbaumer! Drum studierte ich das Eis, die Steine, die Bäume, die Blätter und Blüten, die sich nach und nach hervormachten, als trüge ich mich mit der Absicht, meine naturwissenschaftlichen Studien fortzusetzen, und vertiefte mich ins Schwedische wie ein leidenschaftlicher Germanist, der das beste Examen machen will.

Mit dem Schriftsteller, der nie um Zeit verlegen zu sein schien, fuhr ich bei seinen vielen Freunden herum, diskutierte und kritisierte, ließ mir Lebensschicksale und Zukunftspläne erzählen, als interessiere ich mich für diese Großhändler, Maler, Pfarrer, Lehrer, pensionierten Militärs, Förster und Villenbesitzer wie für eigene Kinder. Dabei spielte sich alles, was geschah, wie hinter einem Schleier ab und hatte etwas fast erschreckend Schattenhaftes. Es war mir, als widerfahre dies alles einem andern, der mich nichts anging, während der wahre Glorian Kling, der nach dem Sinne des Daseins trachtete und die Lore Nußbaumer liebte, irgendwo weit weg ein mir zwar unbekanntes, aber darum doch nicht weniger wirkliches Leben führte. Doch schaute ich trotz meiner blinzelnden Gleichgültigkeit und mangelnden Anteilnahme seltsam scharf, als zeige sich alles nackt und bloß, wohl weil ich mich nicht nach Tätigkeit sehnte, keine Forderungen stellte und keine Wünsche hatte. Ich sah die Menschen so deutlich umrissen wie nie zuvor, jeder auf seine nur ihm eigentümliche Weise sich abhebend von allen andern, etwas ganz Bestimmtes, Einzigartiges darstellend, das sich in mir zu einer festen Vorstellung klärte und durch Worte fixieren ließ. Ich wußte nicht, ob ich in eine Welt gekommen war, wo jeder Mensch gewissermaßen notgedrungen und wie von selber zu etwas Originellem und Kuriosem auswuchs, oder ob ich jetzt auch dort, wo ich früher bloß eine einfarbige, gleichmäßige Menge erblickt hatte, lauter unterschiedliche, unähnlich geartete Menschen finden würde.

Wenn bei diesen lustigen und seltsamen Leuten jener Schriftsteller, der eine Stunde lang reden konnte, ohne müde zu werden, mein Vermittler war, so besorgte dies bei den Bauern die Handharmonika. Denn da ich in trüben Stunden zur Magdeburger Orgel griff, um nicht zu verzweifeln, und die Luftklappenhebel spielen ließ, bis meine Finger steif wurden, kam ich bei den Nachbarn fälschlicherweise in den Ruf eines fröhlichen Gesellen und wurde immer häufiger aufgefordert, bei Tänzen und kleinen Festen aufzuspielen, was ich denn auch tat, ohne mich lange bitten zu lassen, und jeweilen in der lauten Lust als gar seltsamer Heiliger an der Blockwand saß. Dabei tat ich Einblicke, wie ich sie ohne mein Musizieren kaum getan hätte. Denn die Bauern faßten Zutrauen zu mir, nahmen im Gespräch kein Blatt vor den Mund und erzählten mir ungefragt Dinge, die sie nicht einmal dem Pfarrer erzählten. Daß ich rentnermäßig lebte, immer sauber gekleidet war, mich nicht abschinden mußte und überhaupt nicht mehr zu tun schien als die Lilien auf dem Felde, steigerte nur das Wohlwollen, das mir so unverdienterweise entgegengebracht wurde.

Auch unter den Bauern hatte jeder seine Eigentümlichkeit und sein besonderes Schicksal.

Im Nachbarhofe wohnte der Sonnen-Lars, der nebenbei auch ein ganz tüchtiger Schreiner war, bloß etwas langsam, schwerfällig und umständlich, und auch die kleinsten Verrichtungen mit großen Monologen begleitete. „Wie gesagt, das ist nicht einfach,“ plauderte er darauf los, wenn es sich um die Befestigung eines Brettes handelte, wo mit zwei Nägeln alles getan war, „das ist gar nicht so einfach, oben muß es pasfen und unten muß es passen, und links und rechts darf es auch keine Fuge geben, und windschief darf das Brett auch nicht sein, denn hier findet ein Nagel keinen festen Halt, man müßte eine Schraube haben, dann schon eine anderthalbzöllige Schraube, ja, wie gesagt, das ist nicht so einfach ...'’ Kinder hatte er nicht, obwohl er seit vielen Jahren verheiratet war und gerne Söhne und Töchter um sich gesehen hätte. Aber Gott hatte seine Wünsche nicht erfüllt, und darum war sein Leben tatsächlich nicht so einfach, wie es andernfalls hätte sein können. Denn es lief ein Bub auf dem Hofe herum, der nicht sein eigener war. Seine Frau hatte ihn einst aus Stockholm heimgebracht, da sie noch ledig war und in den Villengärten gut bezahlte Sommerarbeit tat, ssäte und pflanzte und dabei den eigenen begehrten Leibesgarten auch nicht brach liegen ließ. Er hatte sie trotz der unerwünschten Mitgift bald darauf geheiratet, denn er hatte sie schon seit langem gern gehabt, und dabei gedacht: Ein Baum, der einmal Frucht getragen hat, wird bald wieder neue Frucht tragen und zwar von der Sorte, die mir paßt. Aber der Baum hatte seither keine Früchte mehr getragen, und weder die Hebamme mit ihrer fünfunddreißigjährigen Praxis, noch der Doktor mit seiner gemütlichen, vertröstenden Art, noch eine alte Hexe, die Medizinen verschrieb, konnten helfen. Das eheliche Einvernehmen hatte von Jahr zu Jahr mehr darunter gelitten, laute Streitigkeiten und heftig geführte Gespräche tönten oft auf die Dorfstraße hinaus. Und hie und da schaute der bald fünfzigjährige Sonnen-Lars den fremden Buben auf seine langsame, schwerfällige und umständliche Weise an, daß man vor der schlechtverhüllten Offenbarung seines Hasses erschrak.

Auch der Rosen-Jan, sein Nachbar, war trotz seinem schönen Namen nicht weich gebettet, Ein schöner, sauberer Hof, aber wie ausgestorben. Keine Pferde, keine Kühe, keine Schweine und Hühner, mit still dastehenden Arbeitsgeräten im Schopf, mit schimmliger Luft im Stall und die große pompöse Scheune so leer wie eine protestantische Kirche am Werktage. Alles peinlich geordnet, als sei die Bauernarbeit erst gestern verstummt und werde morgen wieder beginnen. Das reinste Dornröschenschloß, bloß ohne die vielen Bewohner. Denn wenn das Haus auch gastlich offen stand, die Stube behaglich warm den Besuchenden empfing, so war doch kein Mensch darin. Wenn man Bescheid wußte, gelang es einem, im alten, an die Scheune angebauten Häuschen den Besitzer zu treffen, einen gut aussehenden freundlichen, kräftigen Mann, der beständig die Pfeife rauchte. Er hatte eine tüchtige Frau, einen Sohn, zwei Töchter, ein Pferd und sechs Kühe gehabt. Aber Frau und Kinder waren in kurzen Zwischenräumen nacheinander an der Schwindsucht gestorben. Seitdem hatte er das Bauern aufgegeben, seine Äcker und Wiesen verpachtet, Kühe und Pferde verkauft und sich aufs Fischen verlegt, um sich die Zeit zu vertreiben, und zwar auf einen Fischfang doppelter Art. Denn einerseits hätte er sich allzugern ein Weiblein geangelt, um den Hof wieder mit neuem Leben zu füllen, er war ja noch kein Fünfziger. Aber der Fluch der Schwindsucht, der auf dem Hofe lastete, schreckte die alten und jungen Mädchen und Witwen ab, obwohl er alle Wände mit neuen Tapeten beklebt, alles Gemalte übermalt und alle Kleidungsstücke der Verstorbenen auf offenem Felde verbrannt hatte. Bei den Fischen hatte er mehr Glück. Mit Netz, Schleppangel und Reuse, je nach der Jahreszeit und Witterung bald da, bald dort tätig, kannte er die Gewohnheiten der Hechte, Lachse, Barschen, Aschen, Aale, Rohrkarpfen und Aalrauten besser als irgendein anderer, und selten stieg er vom See mit leeren Händen zu seinem Hause hinauf. Er war aber auch mit Andacht und Eifer dabei, und wenn er mit der Schleppangel fischte, tauchte er die Ruder so vorsichtig ins Wasser, als sei er ein Schmuggler, der sich nachts mit kostbarer Last über eine Grenze stehle. Dann saß er steif und hölzern im Boote, als könnte ihn die leiseste Bewegung verraten, wie horchend und lauschend, ernsten Antlites, ganz wie ein frommer Einsiedler in seinen heiligsten Augenblicken.

Nicht weit von ihm wohnte die verkörperte Armut, vereint mit dem unermüdlichsten Mundwerk. Wenn man das Haus von weitem sah, machte es den Eindruck neumodischer, wohlhabender Fülle. Jn der Nähe aber merkte man, wie der Geldmangel aus den Ecken und Fugen des einstöckigen Baues herausguckte, so daß es ein Einäugiger sehen mußte. Saus-Lars hatte es groß im Sinne gehabt, vor ein paar Jahren sein Blockhaus, das nur aus einem Erdgeschoß und einem Oberboden bestand, niedergerissen und etwas Höheres und Schöneres an seine Stelle setzen wollen. Aber er überbaute sich und zwar so gründlich, daß er bis zum heutigen Tage das Fachwerk des ersten Stockes ohne die Verschalung lassen mußte, so daß das Ziegeldach auf hohen Stützen über dem Erdgeschoß schwebte und mehr der Tragfläche einer sseltsamen Flugmaschine glich als einem währschaften Regen- und Schneeschutz. Aber Saus-Lars ließ sich das nicht anfechten, sondern schaute am Sonntag so stolz zum Fenster heraus, als wäre sein Haus fix und fertig und die Gardinen nicht nur mit weißer Farbe an die Scheiben gemalt. Wäre er nicht so faul gewesen, so hätte vielleicht dann und wann ein Brett seinen rechten Platz gefunden. Aber er plauderte lieber, als daß er mit Axt und Säge hantierte, und da er die Hälfte seiner wenigen Äcker und Wiesen hatte verkaufen müssen, um die Baukosten notdürftig decken zu können, nahm ihm die Landwirtschaft lange nicht alle Zeit weg. Er hatte eine fröhliche Art, seiner Armut und Schuldenmacherei ein schönes Mäntelchen umzuhängen, war höflich und zuvorkommend wie ein verarmter Edelmann und wußte Handlungen, zu denen ihn die Not trieb, immer schön zu taufen und heuchlerisch auszuschmücken und als die Äußerungen eigenen freien Willens hinzustellen. Seine Äcker hatte er losgeschlagen, damit sich seine Frau mehr Ruhe gönnen könne, die Tannen, die er in seinem Walde fällte, wo bald nur noch halbwüchsige Bäumchen standen, kaum länger als ein Besenstiel, beseitigte er, weil das Ückerlein daneben mehr Sonne brauchte, und die stattlichen Birken vor seinem Hause wurden zum Holzhändler gebracht, weil sie ihm die schöne Aussicht. verdarben. Seine Frau nahm das Leben ebenso leicht wie er und ihr einziger Kummer war, daß. sie keinen neumodischen. Hut tragen konnte, weil sie wegen der landesüblichen Haube, die man auch nachts nicht ablegte, schon längst alle Haare verloren hatte. War ein Kind krank oder irgendwie verletzt, so beachtete sie es kaum, und da ich einmal meine Gleichgültigkeit ablegte und ihr Vorwürfe machte, daß sie den kleinsten Buben, der den rechten Arm eines Sturzes wegen steif herunterhängen ließ, nicht zum Doktor schickte, antwortete sie unbekümmert: „Ich habe auch einmal den Daumen gebrochen und bin doch nicht zum Doktor gegangen!“ „Darum ist er jetzt auch steif,“ sagte ich. „Ach, pf, man braucht den Daumen nicht so viel!“ entgegnete sie überlegen.

Der Brave-Olof war ein alter, fröhlicher Steinhauer. Sein Gesicht sah aus, als sei es früher einmal mit einer Art so übel zugerichtet worden wie ein Baumklotz, auf dem man Holz spaltet, so dicht saßen Dutzende von kurzen, geradlinigen, tiefeingeschnittenen Fältchen nebeneinander oder übers Kreuz, ein Dutzend auf der Oberlippe, zwei Dutzend auf dem Kinn, drei Dutzend auf der Nasenwurzel. Nie traf man ihn anders als singend, ob's nun auf dem Wege zum Alrbeitsplatze war, irgendwo im Walde, oder auf einem großen Granitblocke sitzend, wenn er zur drehenden Bewegung des geschärften Meißeleisens mit taktmäßigem Hammer- schlag seine Psalmen sang. Übrigens verstand. er sich nicht nur auf Steine, sondern auch auf vieles andere, von dem sich die meisten nichts träumen lassen. Er sah Unglücke voraus, hatte Gesichte, konnte in der Milchstraße lesen wie. in einer Wetterkarte, wußte, wo die unterirdischen Wasser rauschten, und konnte mit Hilfe eines Weidenzweiges den Platz bestimmen, wo eine Quelle zu finden oder ein Ziehbrunnen zu graben war.

Neben diesem erlösten und befreiten Menschen lebte eine Familie, die so große Bürde zu tragen hatte, daß ihr kein Singsang aus dem Munde drang. Der Saubere -Per war der berühmteste und berüchtigtste Trinker weit und breit, ein starker und schöner Mann übrigens, freundlich und gutmütig wie ein Bernhardinerhund, wenn er nicht betrunken war, im Rausche aber ein Teufel und zwar ein zehnmannstarker. Er trank, was ihm unter die Finger kam, auch das Widerlichste, wenn nur etwas Alkohol drin war: denaturierten Sprit, Eau de Cologne, Salubrin, Heilmittel und Schuhfirnis. Es geschah, daß er mit Roß und Wagen und einem fetten Schwein auf den Markt fuhr und zu Fuß zurückkam, weil er Roß und Wagen und Schwein versoffen hatte. Er hatte die größten Wälder besessen ... jetzt mußten seine Kinder das Brennholz in fremden Wäldern zusammenlesen und alte Zäune verbrennen. Sein Vater schon hatte gern getrunken, was früher noch weniger eine Seltenheit gewesen war als jetzt, und war auch an den Folgen eines Rausches, den er sich an einer Hochzeit geholt hatte, gestorben, nicht direkt zwar, sondern mehr infolge der ärztlichen Behandlung, die ihm seine Saufbrüder angedeihen ließen. Damals nämlich bestand noch die ehrwürdige Sitte, einen Rausch aus den Betrunkenen durch tüchtige Schläge und Fußtritte herauszuprügeln. Heutzutage hätte sich wahrscheinlich die Polizei und das Thing um seine Todesursache gekümmert, in jener Zeit aber betrachtete man sein Ableben als einen schlimmen Zufall und ließ es, als man wieder nüchtern war, beim Bedauern bewenden. Die Frau des Sauberen-Per war tüchtig und tat, was sie konnte, und das älteste Mädchen kutschierte wie ein Mann. Wenn sie nur nicht immer durch den Trunkenbold um die Früchte ihrer sauren Arbeit gebracht worden wären. Man hätte ihn bevormunden sollen. Aber die Frau wagte es nicht, den Antrag zu stellen, weil er mit Mord und Brandstiftung drohte. Wenn ihn das Schaffen ankam und die Reue, dann arbeitete er wie ein Riese. Aber er war auch in der trunkenen Wut ein Riese. Dann schliefen jeweilen Frau und Kinder in der Scheune oder im Stall oder gar bei Nachbarn. Einmal kam er einer Schlägerei wegen ins Zuchthaus, wo er, der starke Mann, Gänsefederfahnen vom Kiele ablösen mußte. Hätte er wenigstens Steine sprengen dürfen. Als er wieder entlassen worden war, nahm er sich drei Wochen lang in acht, so sehr fürchtete er sich vor dem Federnschleißen, wurde dann aber wieder der gleiche wie zuvor. Wenn er nur stürbe, sagte die Frau. Sie sagte es ihm ins Gesicht. Aber er lachte nur, denn der Tod schien ihm nichts anhaben zu können. Er war schon vom Wagen heruntergefallen, vom Pferde geschleitt und einmal beinahe vom Blitz getroffen worden ~ „das Projektil ist dicht an mir vorbeigefahren,“ prahlte er ~ und trank doch immer noch fröhlich seinen Branntwein oder auch seinen Schuhfirnis, ~ wenn nichts Besseres aufzutreiben war.

Wenn der Sonnen-Lars, der Saus-Lars, der Rosen-Jan und der Saubere-Per verschiedene Arten in irdischen Nöten und Bedrängnissen befangenen Lebens darstellten, so rühmten sich der Witzige-Per und der Nagel-Johann um so mehr eines über diese erbärmliche Welt hinausgerichteten, wahrhaft göttlichen Strebens. Der Witige-Per war ein Mormone, hatte zehn Jahre am Großen Salzsee zugebracht, und war erst kürzlich auf Geheiß seiner kirchlichen Vorgesetzten ins Heimatdorf zurückgekehrt, um als Missionar zu wirken. Er wohnte beim Nagel-Johann, der der Heilsarmee angehörte, und die beiden Sektierer konnten halbe Tage damit verbringen, einander bekehren zu wollen, wobei sie Bibelstelle gegen Bibelstelle ausspielten wie geübte Jassser ihre Trümpfe. Der Mormone kam auch oft zu mir, schenkte mir unaufgefordert eine Bibel und hörte erst dann mit seinen Vesuchen auf, als ich ihm einmal eine stundenlange Predigt über die Notwendigkeit des vollständigen Untertauchens ins heilige Taufwasser mit einem stundenlangen Handharmonikaspiel vergalt. Er nahm seine Sache ernst und hatte in den Kirchenbüchern alle seine Verwandten zusammengesucht, bis aufs Jahr 1612 zurück, an die fünfhundert, für die er sich nun ebensoviele Male taufen lassen wollte, um sie im Fenseits der Gnade des rechten Glaubens teilhaftig werden zu lassen.

Der fromme Nagel-Johann war außerhalb des Heilsarmeelokales ein recht heidnischer, geiziger Mensch und schlimmer Haustyrann, der seiner Frau und seinen Kindern nicht viel Freude gönnte. Für die Reize dey irdischen Welt hatte er kein Verständnis und die Ahnung, daß ein stattlicher Kiefernwald eigentlich etwas ganz Schönes und Beschauenswertes sei, kam ihm erst, nachdem ihm ein solcher Wald im Ackerbuchter Kinematographen vorgeführt worden war. Dafür hatte er um so mehr Sinn für das Geld, was er zwar nicht eingestand, und ein sehr empfindliches Gewissen, womit er gerne großtat. „Ich hatte der Schwarzwasser-Aktien-gesellschaft Wald verkauft,“ erzählte er zum Beispiel. „Aber nachher sagte mir das Gewissen: Johann, das war zu billig! Und die Stimme des Gewissens ließ mir keine Ruh, bis daß ich hinging und drei Fuhren Baumstämme umhieb und nach Hause schaffte. Aber da verklagte man mich, und das Thing verurteilte mich zu Schadenersatz und Buße, als sei ich ein Dieb und nicht einer, der bloß der Stimme seines Gewissens gehorcht hat.“

Er war ein kleines Männchen, mit rotem Bart und Schlitzäuglein. Seine Frau aber war groß und stattlich und so sehr ans Werken und Wirken gewöhnt, daß sie einnickte, wenn sie, was selten genug geschah, eine Weile untätig auf einem Stuhle saß. Sie hatte eine offene Hand, wenn’s der Mann nicht sah, arbeitete doppelt so viel als er, doch -ohne viele Worte zu machen, mit Frohsian und aufrechtem Rücken. Die Töchter schlugen ihr nach. Es war eine Freude, sie zu sehen ~ sogar ich spürte es – neben dem kümmerlichen, gierigen, seelenkrüppligen Mannswesen und neben dem Schmutz und dem Elend des Alters. Denn es wohnten auch Johanns Eltern im Haus. Die Großmutter mit einem Rücken so krumm wie ein Pfeilbogen, mit einem Magen, der unter dem hoch hinaufgerutschten Schürzenband herausstand, als gehe sie trotz ihren achtzig Jahren immer noch guter Hoffnung, mit einer wahren Hexennase, einem Dutzend Warzen im Gesicht, einem ansehnlichen Bart und so schmutzig, so unbekümmert urweltlich, höhlenmenschenähnlich, polarforschermäßig schmutzig, daß man es ohne weiteres glaubte, daß sie nur an den großen Feiertagen ihre Füße wasche und nur einmal in ihrem Leben gebadet habe, tiämlich damals, als sie von den Baptisten in einem großen Zuber, nur mit einem Hemde bekleidet, getauft worden war. Er, etwas jünger als sie, blinzelte nur mit einem Auge ins Tageslicht, als sei er beständig am Einschlafen, und verließ seinen Winkel nur selten, denn er litt an einer schrecklichen Krankheit. Die Finger und Zehenglieder wurden schwarz, trockneten ein und fielen ab. „Tut’s nicht weh, Vater ?‘ fragte ich. Er machte einen Versuch, auch mit dem andern Auge zu blinzeln und sagte: „Ja, ja, weh tut's schon ... aber es ist so schön zu wissen, daß mit jedem Stück, das abfällt, auch ein Stück weniger weh tut."

Wenn man vom Hofe des Nagel-Johann her aufs Schulhaus zuschritt, kam man an einem Häuslein vorbei, wo die Kajsa wohnte, eine vierzigjährige, ledige, robuste Person, die früher Marketenderin gewesen war und nun von dem lebte, was ihr Vaganten, Eisenbahnarbeiter, arbeitslose Taglöhner und Diebe, die sie alle gastfreundlich beherbergte, zutrugen. Man erzählte sich im geheimen, daß sie ein Fläschchen Arsenik besitze und das ganze Dorf vergiften könne, wenn sie nur wolle. Doch hütete man sich wohl, ihr irgendwie Vorwürfe zu machen, und duldete ihren eigenmächtigen Lebenswandel, weil ein jeder ihre Rache und die Macht ihrer Sippschaft fürchtete und auf die Hilfe irgendwelcher Polizei nicht zu rechnen war.

10.

Das Schulhaus war groß und geräumig, nüchtern und kalt wie das, was in ihm gelehrt wurde, und von jener unbäurischen Art und spürbaren Heimatlosigkeit, die nun einmal allen Landschulhäusern eigentümlich zu sein scheint. Um mir die Zeit zu vertreiben, besuchte ich das Examen. An den braunen Wänden hingen Tannenkränze, auf den Tischen und Pulten prangten Gläser mit Blumen, die Mädchen hatten die fröhliche Sommertracht angezogen, und die Burschen standen unbeholfen und steif in allzu großen neuen Kleidern da und drehten in einem fort den Kopf, weil sie die hohen Kragen nicht gewohnt waren. Der Schulmeister, in feierlich schwarzer Tracht, als müsse er an eine städtische Beerdigung, ging etwas aufgeregt von einer Bank zur andern und der Ackerbuchter Pfarrer saß leutselig lächelnd unter der Landkarte von Schweden und gab sich alle Mühe, die Wichtigkeit seiner Person etwas in den Hintergrund zu rücken, damit die Schulkinder nicht allzusehr eingeschüchtert würden. Unter den wenigen männlichen Zuschauern saß natürlich der Saus-Lars, wichtig und ernst wie ein Abgesandter der Regierung, denn er brauchte sich nicht mit dem Pflügen und Säen zu sputen wie die andern Bauern. Als die Kinder das Vaterunser beteten, wurde ich seltsam ergriffen und gerührt und fühlte mich eine Weile wundersam gehoben durch die Welle der ewigen Frage und des ewigen Geheimnisses, die aus der Unendlichkeit gegen uns flutet und in diesem Gebete mit kindlichem Vertrauen so tröstend beschwichtigt und besänftigt wird. Dann begann der Religionsunterricht und hatte auch hier, wie überall, nichts mit der Religion zu tun. Die Woge der Ergriffenheit, die das Vaterunser in mein Herz gespült hatte, verrann, und ich hörte gleichgültig, wie die Einteilung des lutherischen Katechismus besprochen wurde und man des langen und breiten die Symbolik der mit Osterlämmerblut bestrichenen ägyptischen Türpfosten erörterte. Auf diesem Gebiete waren die Mädchen am besten. Sie blieben keine Antwort schuldig und wußten alles ganz genau, von den Titeln der Katechismusteile an bis zu den umständlich stipulierten Bedingungen zur Erlösung des Sünders. Beim Rechnen ging es wie ein Aufatmen durch den Schulsaal. Der Lehrer setzte eine lustige Miene auf, der Pfarrer legte das Sonntags- und Predigtgesicht für später zurück, die Buben wurden lebendig und die Zuschauer begannen ungeniert zu lachen, wenn etwas Falsches gesagt wurde. Mit einem Worte, man fühlte sich zu Hause. Und das vorsintflutliche Bruchrechnen ging brillant und stattlich vorüber, Sechstel, Neuntel, Siebentel, Fünftel und Drittel wurden flink unter einen Hut gebracht und zusammengezählt, als sei das die einfachste und alltäglichste Sache der Welt und gehöre zum Allernotwendigsten, was heutzutage ein Jüngling, der ins Leben hinaustritt, wissen müsse. Und eh' man sich's versah, war man in der Geographie und weit draußen im Weltenraum, vernahm vom Unterschied zwischen Fixsternen und Planeten, lernte, daß eine Kanonenkugel neun Jahre und ein Fußgänger sechstausend Jahre brauche ~ die Frauen sahen ganz entgeistert drein ~ um nach der Sonne zu gelangen, und erfuhr — nun wußten sich die Zuhörer kaum mehr zu fassen vor Erstaunen, während die Kinder ganz ruhig und gleichgültig ihre Antwort gaben – daß Sterne existieren, deren Licht noch nicht zu uns gekommen ist, seitdem die Erde besteht. Man bedenke! Die Bauern sanken in sich zusammen und wurden noch kleiner als ihre Kinder, die das Bewußtsein so ungeheurer Welienraumsgröße ganz unbeschwert zu tragen schienen. Aber nun begann der Lehrer von Dampf und Elektrizität zu sprechen, und da wurde die Erde wieder groß und bedeutend und der Mensch ein Wunder an Gescheitheit und Allmacht, so daß die Zuhörer sich wieder aufrichten konnten und sich jetzt nur in acht nehmen mußten, daß sie vor lauter Hochmut mit dem Kopfe nicht an die Saaldecke stießen. Denn man bedenke: Der Vater des Schullehrers war noch zu Fuß nach Stockholm gewandert und hatte sich Lederfersen in die neuen Strümpfe setzen lassen müssen, damit sie die unglaublich lange Reise aushielten. Und jetzt fuhr man in sieben Stunden in die Hauptstadt hinunter! Und Telephon hatte man und Telegraph und Dampfschiffe auf dem See, Dampfschiffe mit Propellern und Automobile auf den Landstraßen, die zwar alle Pferde scheu machten, aber dennoch angestaunt wurden wie früher einmal der feurige Wagen des Elias. Eine herrliche Zeit! Und nun war man so weit, daß der Pfarrer aufstehen konnte, um den ,,festlichen Tag'’, wie er sagte, feierlich zu schließen.

Der Pfarrer, der die Gabe der natürlichen, ergreifenden Rede von Amts wegen schon längst eingebüßt hatte, freute sich immer, wenn ihm ungesucht eine Gelegenheit zum Predigen gegeben wurde. Er brachte es fertig, auf die trockenste und lederzäheste Weise eine geschlagene Stunde lang von Gottes unerschöpflicher Gnade zu reden, daß mancher Zuhörer den Wunsch nicht unterdrücken konnte, die Gnade Gottes möchte etwas weniger unerschöpflich sein, ohne dabei zu bedenken, daß gerade durch die Tatsache, daß Gott eine solche Predigt ungestraft dahingehen ließ, seine unerschöpfliche Gnade am besten bewiesen war.

Diesmal sprach er von der Ähnlichkeit zwischen dem Examen und dem juüngsten Gericht, führte diese Symbolik auf den versschiedensten Wegen aus, die schließlich, so unglaublich es auch oft scheinen mochte, doch alle nach Rom, das heißt zu einer heilsamen Nutzanwendung führten, und schloß seine Rede etwas unvermittelt in der gewissen Hoffnung, daß die, die nun die Schule verließen, mit einem tüchtigen Schatz von nützlichen Kentnissen ausgerüstet sein möchten und diese Zeit immer in dankbarer Erinnerung bewahren würden. Darauf verlas er, mühsam buchstabierend und stotternd, die Namen der vier Buben und fünf Mädchen, die heute zum letzten Male auf der Schulbank saßen, ohne die sich schüchtern Erhebenden anzuschauen, und damit war die Feierlichkeit zu Ende. So traten denn wieder neun Menschen ins Leben hinaus und mochten sich auf gut Glück weiter helfen. Den Eltern gehorchten sie nur, wenn es ihnen paßte, mit dem Lehrer waren sie fertig und brauchten sich von nun an nicht einmal mehr um seine gutmütige Nachgiebigkeit zu kümmern, der Pfarrer stand ihnen fern, noch ferner als die Sonne. Wer würde ihnen den Weg weisen? fragte ich mich. Aber was ging mich das an ? Was kümmerte mich überhaupt ganz Birkenrain ?

Da waren die Bauern, die in meiner Nachbarschaft wohnten, da waren viele andere, die ich auch kannte, die meisten in Nöten, nur wenige in der Freude. Kein Paradies, o nein, eine recht irdisch mangelhafte Welt, eine leidende, suchende Menschheit, die ich wie ein Journalist oder Wissenschaftler beschaute. Ich stellte fest, als die gewohnten Zeichen der Zeit, daß hier wie anderswo das Gefühl der Selbstverständlichkeit bestehender Zustände verlorengegangen war, der Himmel nicht mehr als sichere Belohnung winkte, viel Glauben verschwunden, aber noch kein neuer an seine Stelle gerückt war; daß die Menschen diese innere Leere, die so plötzlich über sie gekommen war, nicht ertrugen und darum nicht mehr einsam und allein sein konnten wie früher, sondern sich bei jeder Gelegenheit zussammenscharten, als könne durch das Gefühl, viele bei vielen zu sein, diese innere Leere betäubt und das Bewußtsein der Stärke und Sicherheit wieder erworben werden, derart im kleinen wiederholend, was als unbewußter Trieb riesiger Massen die Großstädte schuf.

11.

Es gab einen Mann im Dorfe, der das Leben der Bauern mit ganz anderer Anteilnahme mitlebte als ich. Das war ein hünenhafter Hauptmann, der aus dem alten, berühmten Bauerngeschlechte der Stahl stammte. Sein Vater war der Führer der Bauernpartei und ein intimer Freund des Königs gewesen und hatte mehr als ein Jahrzehnt lang einen entscheidenden Einfluß auf den Gang und den Ausfall der Reichstagsverhandlungen ausgeübt. Von stolzer, tyrannischer Gemütsart, von Hochmut verführt, steckte er den einen Sohn dank königlicher Fürsprache ins feinste Regiment, das bis dahin bloß Adlige aufgenommen hatte, und ließ den jüngern, der am liebsten den Hof übernommen hätte, in Stockholm sich aufs Abiturientenexamen vorbereiten. Aber der Leutnant, der längste in Schweden und dazu auch der stärkste – er war ebenso stark wie der achtzigjährige Schmied von Ackerbucht, der in seiner Jugend Hufeisen zerbrach und fünfzöllige Nägel mit der bloßen Faust in altes, steinhartes Kiefernholz hineintrieb + hatte als der Tollsten einer im tollen Offiziersleben mitgetan und sich mehr zugemutet, als ihm zuträglich war, so daß die heimtückische Schwindsucht nach einem kalten, regnerischen Lagerleben leichtes Spiel hatte und nach einem Jahre ihm nur noch den äußeren Schein hünenhafter Gestalt und stolzer Haltung übrig ließ. Zur Zeit seiner plötzlichen Erkrankung war sein Bruder schon aus der Welt geschieden. Denn da er im Examen durchgefallen war, hatte er nach dem Revolver gegriffen. Weichen Gemütes , wider Willen studierend, den Zorn des Vaters fürchtend, schoß er sich eine Kugel durch den Kopf, im Augenblick, da der Hauptmann, ein Unglück ahnend, die Türe der Wohnung öffnete ...

Nun wohnte der Kranke in Birkenrain und hoffte mit dem trügerischen Optimismus des Schwindsüchtigen auf baldige Genesung und neue Kraft. „,,Jch will leben und muß leben,“ sagte er zu mir, wenn ich ihn besuchte. Und leidenschaftlich, bedrängt von Erkenntnissen und Plänen, sprach er von der Untergrabung des stolzen, selbständigen Bauernstandes. „Der Vater geht noch im alten Schurzfell an die Arbeit, die Tochter radelt und hat künstliche Zähne im Mund, der Sohn kommt daher wie ein Stockholmer und wählt sozialdemokratisch. Ja, so ist's, Herr Kling. Die Gesundheit geht flöten, die Bodenständigkeit auch. Zwanzigtausend wandern jedes Jahr aus, gut zwanzigtaussend; in Chikago leben mehr Schweden als in Stockholm. Das Geld ist dran schuld, alles muß sich lohnen. Seitdem sie vor vierzig Jahren den Aktiengesellschaften ihre Wälder verkauft haben, ist das Rechnen Mode geworden. Es wird kein Land mehr urbar gemacht, es lohnt sich ja nicht. Dieser Satz ist ihr Evangelium. Wenn die Bauern schon früher so gedacht hätten, so wäre immer noch Wald, wo jetzt Ackerland ist. Ja, Herr Kling, und „fein muß alles sein. Das Wort „schön kennt man nicht. Und dabei wird das Kirchdorf vor lauter Sehnsucht nach dem „Feinen‘ von Jahr zu Jahr häßlicher. Wissen Sie warum, Herr Kling ? Weil es sich häutet. Alles, was sich häutet, ist häßlich. Aber man darf die Hände nicht in den Schoß legen, warten Sie nur ... wenn ich wieder gesund bin ... ich werde kämpfen, kämpfen ..."

Und er sprach und predigte, bis ihn ein eigensinniger Husten für eine Weile zum Verstummen brachte. Er wollte seinen Abschied nehmen, sich ganz seiner Bauernheimat widmen und rechnete darauf, in den Reichstag gewählt zu werden. Nicht mit Unrecht! Sein Name ebnete ihm alle Wege, und seine hohe Gestalt, die stramme Haltung, das energische Gesicht, die feurige Rede konnte wohl eine Menge begeistern.

Ich beneidete ihn um seinen Eifer und seinen Zukunftswillen. Beides fehlte mir. Die Gleichgültigkeit saß in mir wie ein Gift.

12.

Der Schnee war längst verschwunden, das Eis weggeschmolzen, und der Frühling grünte und blühte ringsum, jedem zur Lust. Ich sah ihn ohne Freude, Wenn die Leute von Birkenrain beisammenstanden und die Sommeraussichten besprachen, so stand ich teilnahmslos daneben. Es gäbe viel Erbsen, sagte der eine, denn die Erlen hätten so reichlich geblüht. Es werde nochmals schneien, sagte ein anderer, das habe er in der Milchstraße gesehen. Es werde einen regnerischen Sommer absetzen, sagte ein dritter, denn der Winter sei so trocken gewesen. Ich beneidete sie darum, daß Regen und Sonnenschein für sie soviel Wichtigkeit hatten, und wäre froh gewesen, auch etwas hoffen oder fürchten zu dürfen. Aber Sonnenschein und Regen konnten mir weder etwas schenken noch etwas nehmen.

Wohl gab es Dinge und Ereignisse, die mich für eine kurze Weile ergriffen, aber. sie waren nicht stark genug, mich völlig zu erlösen.

Einmal war es ein mit Tannenreis bedeckter Schlitten, der einen Sarg trug und auf dem Sarge eine trauernde Mutter mit einem Kind im Arm. Leben und Tod seltsam rührend verschlungen.

Ein andermal eine Auerhenne, die auf ihren Eiern saß, unbeweglich, solange ich sie auch betrachtete. Bewundernswerter Sieg des mütterlichen Schützenwollens über die Furcht.

Und ein drittes Mal kam ich abends an einen kleinen Waldsee, wie es dort Hunderte gibt: Ein heller Himmel, ein dunkelblauer Berg, schwarzes Wasser mit glitzernden Streifen, ein paar steinige Wiesen und Äcker, eine Kuh, die von einem Mädchen langsam zum Stalle geführt wurde, ein Licht in einer grauen Blockhütte. Arkadien, Hirtenglück, Wiege der Menschheit, was bedurfte ich mehr ?

Schließlich trat auch der Tod mir nahe. Am Donnerstag lief Maria, eine Tochter Nagel-Gretas, noch frisch und fröhlich durchs Haus, am Montag war sie starr und kalt. Blinddarmentzündung, erst am dritten Tage erkannt, mühsame Fahrt ins weitentfernte Lazarett, Operation und fünf Stunden darauf der ewige Schlaf. Ich hatte das Mädchen gerne gesehen. Es war das einzige Mädchen, das ich gerne gesehen hatte. Und tot. Ich half dem Vater die weiße Kiste mit der Leiche, die einsam auf der Landungsbrücke stand, auf den Wagen heben. Der Nagel-Johann klagte darüber, daß das Begrabenlassen so teuer sei. Und erst neulich habe er der Seligen ein paar russische Galoschen gekauft. Das sei nun für die Katz! Die Mutter stand ohne ein Wort zu sagen dabei. Ein eigentümlicher, süßlicher Geruch stieg aus dem Sarge. Seltsame Blume, der Mensch, dachte ich, die zu duften beginnt, wenn sie am Verwesen ist ... Sonntag früh trat ich in den Hof. Vor der Scheune war die Leiche aufgebahrt. Die Nase stach seltsam spitz, fast unziemlich lebenslustig, in die Luft. Die linke Wange war rot, die rechte weiß. Aber ich schaute weg, denn es war mir, als ob ich Maria leibhaftiger vor mir habe, wenn ich die Leiche nicht ansehe. Und da geschah mir etwas Seltsames. Bis dahin hatte ich in diesem Hofe bloß Häßlichkeit gefunden, denn alles war so billig wie möglich und dürftig beschaffen und mußte seinen Dienst versehen, bis das Holz verfault, das Eisen verrostet und der Stein zermalmt war. Jetzt aber sah ich alles auf eine ganz neue Weise. Der schadhafte Wassereimer, die schief in den Angeln hängende Stalltüre, die wacklige Winde des Ziehbrunnens, alles war wie geheiligt durch den Gedanken, daß die Tote diesen Wassereimer getragen, diese Tür geöffnet, diese Winde gedreht hatte. Alles war auf einmal schön – ich konnte kein besseres Wort finden — aber schön auf eine ganz andere Weise, als ich es bis dahin gewohnt war, vielleicht darum, weil alles mit einem Menschen im Zusammenhange stand, den ich gerne gesehen hatte. Mit „Heimatkunst“ hatte das nichts zu tun, auch nicht mit „\materialecht“", „malerisch‘‘, „künstlerischer Form‘?. Das war für mich etwas ganz Neues. Ich stand ergriffen vor dem Stalle, bis daß der Baptistprädikant vom zeitlichen und ewigen Tod zu sprechen anfing und den Hof mit seiner zitternden, wehklagenden Stimme füllte. Da ging ich . .. Am andern Tage aber fand ich wieder bloß Häßlichkeit und konnte nicht mehr begreifen, was mich an der Leichenfeier so erschüttert und so nahe an die Dinge herangebracht hatte wie nie zuvor in meinem Leben ...

13.

Seit dem Tage, da man Marias Leiche nach Hause gebracht hatte, war Nagel-Greta in der Kammer gesessen, hatte geweint und keine Arbeit mehr angerührt. Am Sonntag trat sie mit Augen, die wie ausgelöscht waren vom Weinen, an die Bahre. Gebeugt die Aufrechte, wie versteinert die Fröhliche. Wer sie sah, sagte zu sich selber: Wird sie's überleben? Doch am Montag glänzten ihre Augen wieder klar, ihre Arme waren geschäftig, und groß und stattlich schritt sie wieder vom Haus zum Stall. Es mußte ein Wunder geschehen sein.

Auch ich konnte die Veränderung nicht begreifen. Sie lächelte mild, als ich ihr mein Erstaunen gestand.

„Ich will dir erzählen, wie ich den Tod überwand,“ sagte sie. „Siehst du, ich hab’ mein Lebenlang gearbeitet und hab’ nichts anderes gewußt, als daß man auf Erden ist, um zu arbeiten, so lange man es vermag, um dann schließlich einmal zu sterben, wie es Brauch ist, und mit dem Arbeiten für immer aufzuhören. Ich ging in die Küche wie die andern und sang mit, wenn die andern sangen, und las die Gebete, die im Psalmbuche stehen, und hab’ mich für recht fromm und gläubig gehalten. So war für mich das Leben am Werktag und Sonntag eine große Selbstverständlichkeit, die ich so gut wie möglich besorgte. Ich habe sieben Kinder geboren, jedes Jahr eines, und einmal zwei aufs Mal, und zwar weit weg. Wir hatten bloß eine kleine Scheune, in die wir hineinkriechen konnten. Es war im Heuet, und die Zwillinge kamen zu früh, wahrscheinlich weil ich so viele Stunden weit über Stock und Stein gelaufen war. Kinderkleider hatte ich keine, ich mußte mein Hemd zerreißen, um ein paar Fetzen zu haben, und den Unterrock ausziehen, um die Büblein in etwas Warmes wickeln zu können. Und da es immer regnete, mußte ich mir die nassen Wickellappen um den Leib binden, um ssie trocken zu kriegen. Das war eine mühselige Zeit, aber sie verging auch, und ich erzähle dir das nur, damit du siehst, daß ich immer meine Pflicht getan habe.

Und dann wurde Maria auf einmal krank, der Doktor wußte zuerst nicht, was es war, und als er es endlich wußte, da war es zu spät. Man hat mir gesagt, sie hätten im Lazarett alles getan, was man tun konnte, und ich glaub’s auch, denn wer wird nicht gern tun, was er kann, um einen Menschen zu retten, und wenn's ein alter Bettler wär’ und nicht ein junges Mädchen, an dem alle eine Freude gehabt haben. Aber dann telephonierte man dem Spezereihändler, Maria sei tot — ich konnte ja nicht bei ihr sein, denn bei uns gibt's gar viel zu schaffen – und mein Mann und ich fuhren mit dem Pritschenwagen zur Landungsbrücke, und ich konnte mir eigentlich immer noch nicht recht vorstellen, daß Maria tot sei, verstehst du, vollständig tot, ich hatte das Gefühl, sie sei auf einer Reise und werde wieder zurückkehren . .. Als wir zur Landungsbrücke kamen — wir kamen zu spät, das Schiff war schon weggefahren — da stand der weiße Sarg weit draußen am Rand wie irgendeine andere Kiste, umblasen von der Seeluft, und zitterte, wenn die Balkenpfeiler von einer großen Welle erschüttert wurden. — Aber das weißt du ja, denn du bist ja auch dort gewesen. Als ich so viel Verlassenheit und Einsamkeit sah und dran denken mußte, daß meine rotwangige Tochter zwischen diesen Brettern lag und nicht erstickte, denn sie war ja schon tot, und sich nicht davor fürchtete, ins Wasser zu fallen, da begriff ich erst, was geschehen war, und ein großes Weh kam über mich. Alles wurde so merkwürdig; nichts hatte mehr Sinn und Zweck. Es kam mir ganz unnötig vor, den Sarg auf den Wagen zu heben. Stand er nicht gut, wo er stand ? Und dann saß ich auf dem Wagen, aber ich mußte mich hüten, darüber nachzudenken, warum ich auf dem Wagen sitze, denn sonst spürte ich eine Versuchung, mich. auf die Straße zu werfen. Als ich ins Dorf kam und alle die Häuser und Ställe und Scheunen sah, verwunderte ich mich zum erstenmal, daß alles so war, wie es war und daß es war. Und daß Leute vor den Hoftoren standen, aus den Fenstern guckten, an den Wagen herantraten, mit sichern Schritten und sichern Mienen und gar nicht dran zu denken schienen, daß dies alles gar nicht so selbstverständlich war, wie sie meinten. Als wir in unsern Hof einfuhren, hätte ich beinahe gelacht, wenn ich mich nicht gleichzeitig über diese Anwandlung geschämt hätte, so lächerlich kam es mir vor, daß das unser Hof war und ich so viel Kraft und Mühe an ihn verschwendet hatte.

Man trug den weißen Sarg in die Kammer und schraubte den Deckel ab, und da lag Maria, und die linke Wange war rot und die rechte weiß, und die Nase war spitzer als eine Woche vorher, und alle sagten, es sei eine sehr hübsche Leiche, die hübscheste, die sie noch je gesehen hätien. Und ich saß da und wußte nicht, was dies Dasitzen für einen Sinn hatte, und weinte in einem fort. Und ich fragte mich, warum mich dieser Tod so erschüttere, denn vor ein paar Jahren hatten sie mir den Mann als Toten nach Hause gebracht — er hatte sich mit einer Art in den Fuß gehauen, und man glaubte, er sei verblutet – ohne daß ich derart ergriffen worden war. Er starb zwar dann doch nicht, denn er ist zäh wie eine Quecke und war damals bloß ohnmächtig. Aber es ist ja begreiflich, daß einem ein Kind näher steht als ein Mann, denn zwei Jahre lang nährt man es und kein Blutströpfchen ist in ihm, das es nicht der Mutter verdankt. Der Mann aber kommt und geht, ist bald so nah wie das Kind und bald so fern wie ein Fremder.

Die Sache war also ganz in Ordnung. Aber wie sollte ich weiterleben? Ich kam mir vor wie ein Scheintoter, der alles sieht und alles hört und alles weiß und sich doch nicht helfen kann. Was saollte aus dem Hof, was aus den Kindern werden, wenn ich nie mehr arbeiten konnte? Ich fand alles sinnlos und spürte doch die alte Anhänglichkeit und den früheren Willen noch im Herzen, stark genug, um mich mit Fragen zu quälen. Und Tag um Tag verging, ohne daß ich eine Hand rührte, und der Sonntag kam. Da stellten sie den Sarg vor der Scheune auf zwei Holzböcke und nicht weit davon wartete der Pritsschenwagen, überdeckt mit Tannenreis. Die Männer und Weiber bildeten einen großen Kreis um die Leiche und ich sah, wie sie von einem Fuß auf den andern traten, um nicht zu frieren. Und ich sah auch, wie die Weiber weinten und daß die Gesichter rot waren in der Morgenkühle, wie ausgefressen und ausgebrannt von Sorge und Mitleid, und daß die Männerköpfe wie abgeschnitten aus weißen Kragen heraushingen. Und ich ertappte mich dabei, daß ich Rosen-Lars’ Hosen betrachtete und wieder die seltsame unheimliche Lachlust spürte, weil sie so merkwürdige Falten hatten. Es hat sich wohl keiner gedacht, daß ich soviel gesehen habe in all meinem Leid. Aber es ist gerade, als ob man mehr sähe als sonst.

Und dann kam der Schulmeister im schwarzen Rock und entschuldigte sich, daß er sich verspätet habe, aber die Uhr sei stehen geblieben. Wir gingen in die Stube, der Schulmeister nahm ein Psalmbuch aus der Tasche und begann ein Lied, in das nach und nach alle einstimmten. Nachher faltete er die Hände und sprach von Gottes unergründlichem Ratschlusse, wobei er den Blick nach oben gerichtet hielt, auch einmal nach der Uhr sah und noch ein paar Worte drein gab. Dann gingen wir wieder hinaus, denn der Baptistprädikant wollte am Sarge reden, weil Maria eine Baptistin gewesen war. Und er tat es mit Tränen in den Augen und pries das Schicksal meiner Tochter, die nun zu König Davids auserwählter Schar gehöre und ewig in weißem Kleide einhergehe, mit Palmen in den Händen, wie es in der Offenbarung des Johannes zu lesen sei ... Aber warum weinen wir denn alle, fragte ich mich, wenn es im Himmel so schön sein soll? Da merkte ich, daß ich nicht fromm war, wenn ich mich schon zu den Frommen gezählt hatte, und daß ich nicht an diese Dinge glaubte, wenn ich es schon gemeint hatte. Aber an was glaubte ich denn ?

Unterdessen war auch der Baptist fertig geworden, ich hörte noch, wie er mit lauter Stimme sagte, daß die Leiche lebe und wir Lebenden tot seien, weil wir der Staatskirche oder dem Missionsverein angehörten, aber du hast's ja auch gehört, dann schlug ihm der Schulmeister ein Kirchenlied vor. Aber der Prädikant sagte mit eifriger Stimme, daß er es zwar nicht leugne, daß die Lieder der Staatskirche auch gut und nützlich sein können, wenn sie mit dem richtigen Glauben gesungen werden, aber er habe hier in seinem Büchlein ein altes Lied, das ihm ausgezeichnet zu passen scheine. Und er sang dieses Lied von der Jämmerlichkeit des Lebens, zehn Strophen hatte es und einsam sang er es, denn der einzige Baptist, der außer ihm und der Großmutter im Hofe stand, tat den Mund nicht auf, wahrscheinlich hatte er das Büchlein vergessen. Wieder konnte ich das Lachen kaum unterdrücken und erschrak dabei. Weder an den Himmel noch an die Erde glaubte ich. Was sollte denn aus mir werden, was sollte ich tun ?

Man schraubte den Deckel auf den Sarg, hob den Sarg auf den Wagen, das Pferd wurde vorgespannt, Johann und ich setzten uns neben den Sarg, so fuhren wir weg. Das Fahren tat mir wohl. Am liebsten wäre ich nur immer weiter gefahren. Wenn ich nur etwas zu tun wüßte, das einen Sinn hat, sagte ich zu mir selber, denn wie sollte ich den Montag aushalten und den Dienstag und aalle andern Tage der Woche und alle Wochen des Monats und alle Monate des Jahres und alle Jahre meines Lebens, wenn ich keine Arbeit hatte ?

Am Grabe standen schon drei schwarze Särge, und der weiße, der nun hinzukam, sah neben ihnen seltsam fröhlich aus. Der Pfarrer sprach seine Gebete, und dann ließ man die vier Särge in die gemeinsame Grube hinunte.. Dabei rutschte Marias Sarg aus den Gurten heraus und keilte sich mit dem Kopfende nach unten zwischen der Erdwand und einem schwarzen Sarge ein, so daß der Totengräber hinuntersteigen mußte, um den weißen Sarg an die rechte Stelle zu rücken. Darauf warf man Bretter über die Grube, und alles ging in die Kirche. Ich aber mußte nun in einem fort dran denken, daß Maria in ihrem Sarge sicher auf der Seite liege, mit dem Gesicht vielleicht gegen die Bretter, sie, die so fein gebettet gewesen war. Das plagte mich, denn ein Kind soll schön und richtig im Sarge liegen, nicht das Unterste zu obersst. Und der Gedanke ließ mich nicht los, in der Kirche nicht und auch später nicht, als wir mit Bekannten und Verwandten in der Bäckerei Kaffee tranken und Safrankuchen aßen, und auf der Heimfahrt nicht. Der Hof ging mich immer noch nichts an und meine Kinder auch nicht, aber jenes Grab ging mich etwas an, das am nächsten Morgen mit Sand und Kies zugesschaufelt werden würde.

Nun wußte ich eine Arbeit, die einen Sinn hatte! Und in der Nacht stand ich leise auf und wanderte nach dem Kirchhof zurück. Aber die Sache war schwerer, als ich gedacht hatte, denn es war dunkel und es rauschte so merkwürdig, und als ich zitternd und bebend die Bretter wegschob und in die Grube stieg, dachte ich: Das ist das schwerste, das ein Mensch tun kann. Der weiße Sarg schimmerte aus dem Finstern, und das war gut, denn so war er leicht zu finden. Und ich griff nach den Schrauben, öffnete sie, hob den Deckel ab und tastete nach Maria. Und da war wirklich alles so, wie ich es mir vorgestellt hatte: sie lag auf der Seite und nach vorn geschoben, so daß ihr der Kopf weh getan hätte, wenn sie noch gelebt hätte. Sorgsam bettete ich sie wieder zurecht, legte ihre Hände übereinander, strich ihr vielmal über die Stirn und erhob mich befriedigt, schraubte den Deckel wieder fest und kroch aus der Grube. Nun ist die Arbeit getan, dachte ich glücklich; weh, sie ist getan, dachte ich hinterher, nun hab’ ich ja nichts mehr zu tun ... Nichts mehr zu tun? Hatte ich nicht den Hof und das Haus und die Kinder und die Kühe ? Da spürte ich mit Staunen und Freude, daß wieder alles einen Sinn hatte, daß ich wieder mitten drin stand im Leben, das mir fünf Tage lang wie verloren gewesen war. Und ich konnte es kaum erwarten, daß der Himmel hell wurde, so sehr sehnte ich mich danach, die Arme zu rühren! Vielleicht begreifst du das nicht, aber so war’s."

Doch ich begriff es. Ihr war das Wunder der Erlösung vergönnt gewesen, das mir versagt war. Gerührt und erschüttert betrachtete ich diese Frau, diese Mutter, die heil und unversehrt durch den Schmerz gegangen war. Ich bewunderte sie, ich lielte sie, und in ihr sich verkörpernd trat in diesem Augenblicke dies ganze fremde Bauernvolk mir nahe und gewann mein Herz.

Aber auch diese Stimmung verging wieder. Als einer, dem nicht zu helfen war, sank ich in meine Teilnahmslosigkeit und Gleichgültigkeit zurück. Dabei ging es mir aber, wie gesagt, ganz gut. Ich hatte keine Sorgen, bestritt mit sieben Stunden leichter Arbeit in der Woche meinen Lebensunterhalt und war also weitaus besser gestellt als die meisten Menschen. Ich war zufrieden, ganz zufrieden! Warum hätte ich auch nicht zufrieden sein sollen ?

Und doch schien ich Lore noch nicht ganz vergessen zu haben. Denn hätte mich sonst ein ganz gewöhnliches, nichtiges und alltägliches Geschehnis zu Tränen rühren können ? Der Mensch ist ein seltsames Wesen.

Da wartete ich eines Abends in Ackerbucht auf das Dampfschiff und dachte an lauter gleichgültige Dinge. Auf der Landungsbrücke trieben sich ein paar Männer herum: der Gasthausportier, der Polizist, ein Post- beamter und zwei Spezereihändler, die aus einer Art Wichtigtuerei immer dabei waren, wenn ein Schiff ankam. Sie sahen alle gelangweilt aus, fröstelten im feuchtkalten Winde und gähnten, einer nach dem andern. Auch ich gähnte. Das Schiff rauschte langsam heran. Aus einer Luke knapp über dem Wassersspiegel schaute ein frischer Mädchenkopf. Rote Wangen, kußliche Lippen, lachende Augen — potzblitz, wie das Wunder wirkte. Die Männer waren auf einmal lebendig und munter und spürten den feuchtkalten Wind nicht mehr, die Langeweile mar wie weggeblasen, Fröhlichkeit und Jugendlichkeit tummelten sich, Scherzworte flogen hin und her ... die Welt war verwandelt. Ein Mädchen hatte die Welt verwandelt, nur ein Mädchen!

Ich weiß, daß ich laut aufstöhnte und daß ich mich dessen schämte. Aber ich konnte nicht anders. Ich spürte eine Schwäche in den Knien, daß ich mich gegen einen Sack stützen mußte. Ich erinnere mich heute noch daran, daß drei schwarze Kronen auf den Sack gedruckt waren. Erst zu Hause merkte ich, daß ich ganz weiß war. Es mußte ein Mehlsack gewesen sein.

Aber vielleicht war auch eine ganz gewöhnliche Schwäche an der ganzen dummen Geschichte schuld gewesen. Was gingen mich denn schließlich die Mädchen an.

Ich pfiff auf die Mädchen!

14.

Als ich eines Abends recht trübselig in meiner Stube saß, denn nun war mir sogar meine Handharmonika untreu geworden und ich hatte alle Mühe, den undichten Filzbelag einer Luftklappe wieder in Ordnung zu bringen, klopfte. es an die Haustüre. Ich erhob mich langsam, öffnete ohne große Erwartung und Neugier und sah in der Dämmerung ein Birkenrainer Mädchen mit einer großen Reisetasche und eine ganz unbäurisch schlanke Dame in Reisekleidern.

Es war Lore.

Ich starrte sie an, ohne ein Wort zu sagen, denn ich dachte nichts anderes, als daß sie wieder verschwinde. Aber sie verschwand nicht. Da packte mich unbändige Tanz- und Schreilust, wie der Blitz lief ich in die Stube hinein, ohne ihr die Hand zu geben oder dem Bauernmädchen für sein Wegweisen Dankeschön zu sagen, warf ein Hemd und ein paar Strümpfe auf die Seite, schmiß die Handharmonika in einen Winkel, daß sie aufschrie wie ein Hund, der einen Fußtritt gekriegt hat, stellte den einzigen Stuhl an den offenen Herd und lief wieder hinaus, wo sie immer noch lächelnd vor der Türe stand, bis sie den Kopf beugte und in das Häuslein trat. Ich konnte die wilde Unruhe im Blut nicht loswerden und lief geschäftig um sie herum, ohne aber etwas Rechtes zu tun, vergaß sogar, ihr den Mantel abzunehmen, und dachte erst daran, als sie es selber getan hatte und mit den Augen suchend umherging, um einen Kleiderhaken ausfindig zu machen. Dann fiel es mir plötzlich ein, daß es viel heimeliger wäre, wenn im offenen Herde ein Feuer brennte, nicht etwa der Kälte, sondern der Freude wegen, ein heidengroßes Freudenfeuer, und ich rannte hinters Haus, wo ich in einem kleinen Verschlage meinen Holzvorrat liegen hatte, riß die Rinde von ein paar Birkenscheitern, las ein Dutzend Späne zusammen, packte beide Arme voll Klafterholz und eilte wieder in die Stube, als handle es sich darum, einen Erfrornen aufzutauen. Sie saß jetzt auf dem Stuhl und sah mich immer noch lächelnd an. Ich lächelte auch und nickte ihr zu, schichtete Birkenrinde, Späne und Klafterholz im Herde auf, mußte danach dreimal zwischen Stube und Kammer hin- und hersschießen, bis ich die Zündhölzer fand, die ich in der Tasche trug. Endlich zuckten und züngelten die ersten Flämmchen auf, wurden zu Flammen und lohten brausend und lärmend wie ein Wasserfall in den Schornstein hinauf. Da hatte ich etwas Ruhe.

„Guten Abend, Herr Kling !“ sagte sie schelmisch und reichte mir die Hand. Ich faßte sie, drückte sie und spürte erst jetzt so recht, was für ein Glück mir widerfahren war. „Nun sehe ich Sie doch wieder,'“ fuhr sie fort, „merken Sie nun, wie nichtig alle Gelöbnisse und Schwüre sind ?‘

„Ach, möchten auch die heiligsten Schwüre auf so schöne Weise gebrochen werden,“ sagte ich.

„Sie sind immer noch der gleiche,“ sagte sie, „nd wie verhält es sich nun mit dem Land, ist's wirklich ein Paradies ?‘

„Ja,!“ sagte ich.

„Wahrhaftig ?“ fragte sie zweifelnd.

„Ja, jetzt!“ rief ich bedeutungsvoll.

Da begriff sie mich und wurde rot. Aber vielleicht war auch die Hitze des Feuers dran schuld, daß sie rot wurde, denn sie rückte vom offenen Herde weg.

Und wie um meine Freude einzudämmen und meine Hoffnungsranken, die so üppig in die Höhe schossen gleich Hopfenstauden, etwas zu beschneiden, erzählte sie, daß es ihr plötzlich eingefallen sei, ganz plötzlich, ein paar Wochen Ferien zu machen und eine kleine Reise zu tun. Denn im Geschäft sei jetzt eine flaue Zeit und die geringe Arbeit könnten Fräulein Kroll und Fräulein Sänger vollauf besorgen. Und warum nicht nach Schweden reisen, wo schließlich so viel zu lernen sei, was ihrer Weberei zugute kommen werde? Und jetzt sei sie da und rechne offen gestanden auf meine Gastfreundschaft – ich habe ja zwei kleine Zimmer, wie sie sehe – denn sie sei in ihren Geldmitteln etwas beschränkt, ja, das sei sie.

Ich saß zu ihren Füßen, streichelte ihren Rocksaum und verstand ganz gut, was sie sagte, und verstand doch etwas ganz anderes und hörte glücklich auf ihre klingende Stimme und die liebliche Musik, die sie machte. Sie hätte mir die unangenehmsten Dinge sagen können, ich hätte sie ganz einfach nicht geglaubt. Denn was bedeuten alle Worte der Welt, wenn man tief innen schon alles weiß und das Reden nur verdunkelt und verschleiert, was das Herz ohne Worte laut und offen sagt ? Durch die Tatsache ihres Hierseins, mehr als tausend Kilometer von Berlin, war ich so zuversichtlich gestimmt, daß ich mühelos auf ihren Ton eingehen konnte und ihr versicherte, daß sie hier sehr viel Anregung finden und gewiß mit einer reichen Beute von Mustern nach Berlin zurückkehren werde. Aber auf einmal fiel es mir ein, daß sie vielleicht noch nichts gegessen hatte und wahrscheinlich sehnsüchtig darauf wartete, daß ich meine Gastfreundschaft wirksam betätige. Dabei. hatte ich gerade die letzten Kartoffeln aufgegessen, Milch war auch keine mehr übrig und das Brot war mir leider schon mittags ausgegangen. Ich stotterte eine Entschuldigung und schlug ihr vor, nach dem Gasthaus zu gehen. Aber sie versicherte mir, daß sie bereits im Gasthausse gewesen sei, denn sie habe vorausgesehen, daß ich als Junggeselle und Bedürfnisloser wohl nicht in der Lage sein werde, ohne weitere Vorbereitungen ein Abendessen aufzutischen. O, wie vorsorglich und vernünftig die Mädchen sind, dachte ich, auch noch in der tiefsten Verliebtheit vergessen sie das Nachtessen nicht!

„Wie haben Sie mich denn gefunden ?“ fragte ich und erwartete halb und halb etwas wie „Stimme des Gefühls,“ „Zug des Herzens,“ „sichere Ahnung.“

Aber wieder erhielt ich bloß Vernunft zur Antwort.

,Ich habe im Gasthause nachgefragt,“ antwortete sie.

„Aber Sie können ja nicht Schwedisch ?“ sagte ich.

„Warum soll ich in fünf Wochen nicht auch Schwedisch lernen können ?“ antwortete sie. Und ohne weiteres fuhr sie fort: „Jch habe drei Brüder und zwei Schwestern! Hast du die Bleistifte meines Vaters gefunden? Ja, ich habe eine Birne und eine Kirsche. Hast du die Messer des Arztes gesehen? Die Vögel unseres Freundes haben Läuse. Die Zähne des Portugiesen sind häßlich.“

„Sie behaupten doch immer, Sie hätten keine Schwestern,“ sagte ich erstaunt, „und was ist denn das für ein ekelhafter Portugiese mit häßlichen Zähnen ?“

„Ach, Sie Dummer, das sind ja bloß Übungssätze aus meiner Grammatik, ciner sehr guten und gründlichen Grammatik,“ antwortete sie eifrig.

„Aber wie stimmen denn Ihre fünfwöchentlichen Übungen in der schönen schwedischen Sprache mit der Erklärung überein, es sei Ihnen plötzlich eingefallen, nach dem Norden zu reisen ?“

„Sie ewiger Pedant und ausgeklügelter Haarspalter,“ zürnte sie. Da nahm ich mir fest vor, in Zukunft solche tröstende und beglückende Offenbarungen, die ihr ungewollt entschlüpften, für mich zu behalten.

Das Feuer war auf die behagliche Birkenholzweise heruntergebrannt und lag nun, mit bläulichen Lichtern und von gelb zu rot wechselnd, wie atmend, als großer Gluthaufen da.

„Ich habe gar nicht mehr gewußt, daß Feuer so was Schönes ist,“ sagte sie unvermittelt. Das bedeutete mir in der Sprache des Herzens: o, wie glücklich bin ich!

Die Lust zum Singen und Jauchzen fuhr wieder in mich. Ich mußte aufspringen und wenigstens reden.

„O, warum sind Sie nicht schon früher gekommen,“ rief ich.

„Glauben Sie denn, daß das Kommen eine so einfache Sache ist ?“ sagte sie ernst.

Wieder wollte ich mit der Verkündigung herausplatzen, daß ich sie auf einem Widerspruch ertappt habe. Aber ich besann mich noch zur Zeit.

Und ich ging im Geiste die Zeit zurück, um ihr zu schildern, wie grau und sonnenlos alles gewesen. Aber da ich ihr die trüben Tage aufzählen wollte, fand ich sie nicht mehr. Denn nun zeigte sich, was hinter mir lag, wie eine Reihe froher Entdeckungen und glücklicher Stunden. Einen herrlichen Frühling hatte ich erlebt. Nie würde ich ihn genug preisen können! Und keinen bessern Dank gab’s für ihr Kommen und keine schönere Art, ihr meine Liebe zu gestehen, als wenn ich ihr von diesem Frühling erzählte.

15.

Ach warum sind Sie nicht früher gekommen,“ begann ich von neuem, aber diesmal dachte ich nicht an das, was ihre Ankunft mir erspart hätte, sondern an die vielen Freuden, deren sie nicht hatte teilhaftig werden können. ,„Tulpen, Lilien und grüne Blätter im Sinn kam ich nach Ackerbucht. Und fand Schnee und Eis. Ich fror, ich schauderte, fühlte mich. beklemmt und beängstigt. Aber der Schnee wurde Firn, der Firn Gletschereis, er schmolz, verrann und verdunstete. Die Birkenstämme schimmerten wieder als das Allerweißeste. Tausend Bäche rauschten aufs Mal. Wie Schlangen, hin und her zuckend, schossen sie mit unzähligen Wasserfällen und Katarakten die Hügel hinunter. Der Himmel verwandelte sich. Er war wieder weich und weit weg, duftig und verfließend, nicht mehr ein starres Glasgewölbe, das wie eine allzukarg bemessene Taucherglocke über der Erde liegt und uns kaum atmen läßt. Die Erde war wieder Erde, nicht Eisen und Stein, locker und weich, wie's ihr gebührt, weich wie ein Teig. Bald wird ihn die Sonne backen! Die Steine saßen im Boden wie losgesprengt. Auf den Wiesen lag das gelbbraune Gras wie ein nasser Pelz. Und die Erde, das Gras, das Moos, die Bäume, alles duftete. Man wußte, daß man bei einer Tanne stand, auch wenn man die Augen schloß. Und mit dem Duft erwachte auch der Vogelgesang. Pfeifen, Trillern, Gurren war auf einmal im Wald, hämmerndes, flötenblasendes, spöttisch gelles Wesen. Doch alles übertönte der Paukenschlag und das Donnerrollen im zugefrornen See. Tag und Nacht sang und lärmte das Eis, bald hoch, bald tief. Bald klang es wie das langgezogene Brüllen von Raubtieren hinter Käfiggittern, bald wie Pistolenschüsse, bald war's, als schlage man an hohle Fässer in tiefen Kellergewölben, dann wieder glaubte man die schweren Wagen durch eine gepflasterte Berliner Straße rasseln zu hören. Und manchmal krachte es, als sei ein Schlitten mit Roß und Last durch die heimtückische Decke gebrochen.

Noch nie hatte ich mich so nach dem offenen Wasser gesehnt. Man spürte, daß alle großen und kleinen Knospen sich danach sehnten auszuschlagen. Man spürte, daß man selber aufblühen wollte. Aber das war unmöglich, solange der See gebändigt und gefesselt lag.

Ich stand am Ufer, machte Löcher ins Eis und maß: So dick wie ein Emmentaler Käse, so dick wie ein Ziegelstein, so dick wie eine Zündholzschachtel! Hurra, bloß so dick wie eine Zündholzschachtel! Aber die dünne Decke war zäh. Da kam ein Sturm von Süden her. Gesegneter Sturm!

Die Tannen schlugen wütend um sich wie Betrunkene. Die rotzweigigen Birken neigten sich langsam und vornehm. Das Eis zerriß, Kanäle taten sich auf. Und auf einmal donnerte von rechts her, hochwogig, mit weißen Schaumkämmen, das offene Wasser. Wie Raubtiere mit geifernden Mäulern warfen sich die Wellen über das Eis. Es knirschte unter ihren Bissen. Das Eis wehrte sich und mußte doch vergehen. Es leistete starren Widerstand, bis es einsah: Das ist ja Erlösung aus Gebundenheit, Erlösung zum Wandern und Fließen, zur Riesenfülle des Meeres und Unendlichkeit des Himmels. Und bis die Eisschollen sich hingaben und mit dem Angreifer sich vereinten und tätig mitkämpften gegen die andern, die sich immer noch wehrten, wie auch oft der kurzsichtige Mensch sich wehrt gegen etwas, das sein Heil ist.“

„Glorian!“ rief sie leise.

Aber so sehr war ich in meiner lauten Frühlingslobrede drin, daß mir der Ruf nicht halt gebieten konnte.

„Freiheit, Freiheit, jubelte die Natur. Der See tanzte und hüpfte. Kann ich noch Wellen werfen, dachte er ... und sieh, es geht ... Kann ich noch in allen Farben spielen ? Ja, schwarz, blau, golden, rot, er hat seine Kunst nicht verlernt. Kann ich noch immer Himmel und Erde widerspiegeln, daß den Menschen mit einem Mal alles doppelt zu eigen ist ? Er probierte es mit einer Wolke und probierte es mit einem Tannenwald und war ganz zufrieden, es war ja das erstemal. Bald wird er die Welt noch schöner wiedergeben, als sie schon ist. Kann ich noch Boote und Dampfschiffe tragen ? Heisßja, da kamen sie schon, die schwarzen, vorn und hinten spitZihörnig aufgebogenen Boote mit Gebraus und Gerausch und die neu gestrichenen, weißen Propellerschiffe mit festlich überflüssigem Dampf wie ein Vulkan, stolz und pomphaft wie eine Kriegsflotte, die nach einem glorreichen Siege in den vaterländischen Hafen fährt. Leben denn meine Freunde noch, die Enten, und meine Gespielen, die flinken Böen? Ja, sie lebten noch. Mit pendelndem Halse schwammen die Enten daher, daß ihre Bahn wie ein Kometenschweif im Wasser schimmerte; rudelweise schossen die Böen über die Fläche wie eine Wettläuferschar, zuerst dichtgedrängt, dann sich verzettelnd.

Nun müssen wir uns sputen, sagten die Leberblümchen, Huflattiche und Windröschen, wenn alles grünt und blüht, sieht uns kein Mensch mehr an. Da öffneten sich die Leberblumenblüten geschwind, sie wollten die ersten sein. So eilig hatten es die blauen Sterne, die mit tausend Pünktchen glänzten, daß sie nicht einmal Zeit hatten, die Unterseite blau zu färben. Mag sie weiß bleiben, dachten sie, es sieht's ja doch niemand, weder Mensch noch Vogel. Aber die Huflattiche waren den Leberblümchen doch noch zuvor gekommen. Die hatten keine Zeit damit verloren, unter silberglänzenden, rotangelaufenen Hüllblättern Blattknospen zu bilden. Wer. wird sich jetzt um Blätter kümmern! Mutig mit dem Stengel zum Boden hinaus, triumphierend die Blüte geöffnet, das ist ihre Art. Mitten im Schmutze sprossen sie auf, um desto erstaunter betrachtet und bewundert zu werden. Krautig und braunschuppig, gewöhnlich und gemein ist der Stengel. Man merkt, daß es ihm Mühe macht, die schwarze, sumpfige Erde zu vergessen. Aber im Sönnchen, das er der Sonne entgegenhält, ist der Schmutz in Gold gewandelt. Lose angeheftet und gebunden, gleich Feuerzungen, werfen sich die Randblüten dem Unendlichen entgegen, ein Symbol unserer selbst, die wir auf Erden stehen wie ein Strahl. Als spitzbogige Tempel häufen sich die Scheivenblüten und schlagen ihre Kuppeldächer auf, wenn die Zeit der Reife gekommen ist. Das ist der waghalsige Huflattich, der kecke Bursche + doch kokett und vorsichtig schwingt sich das Windröschen auf. Das Haupt beschämt unter Blättern abwärts gebeugt, kommt es aus dem Boden wie ein Mädchen aus dem Bade. Langsam hebt es die Blüte und langsam findet es den Mut, das Rotbraune grün, das Grüne weiß zu färben und sich endlich frei zu geben, in der schlanken Biegung des Stengels und der lockenden Unschuldfarbe des sschneeweißen Sterns. D, die unsschuldigen Blumen, die sich nach nichts anderem sehnen, als Frucht zu werden.“

„Glorian,“ rief sie wieder. Und diesmal war Heftigkeit in ihrer Stimme. Ich erschrak. War sie mir böse, hatte ich sie verletzt, hatte ich etwas Ungeziemendes gesagt ? Sie sollte es vergessen. Und stürmisch fuhr ich fort:

„Wunder über Wunder! Was man nicht alles entdeckt! Da ein Pilz wie ein Pokal für den Mittagstisch der sieben Zwerge, dort ein stecknadelgroßes Moos, ein Tannenzweig im kleinen mit einer roten Tulpe am Ende. Man findet Rosenknospen an Erlenzweigen und Silberknöpfe an Vogelbeerbäumen. Und auf einmal zeigen sich die Blättchen. Es ist wie eine Explosion. Vorgestern noch standen die Birken wie weiße Flammen, die in die Luft züngeln, die feinen Zweige wie Rauch über ihnenz gestern öffneten sich tausend Knospen wie die schnappenden Mäulchen hungriger Karpfen, und heute tropft das Grün von den Bäumen. Die Erlenknospen zerbrechen wie ein Ei und lassen plötzlich ein Engelchen sehen, das seine Flügel ausbreitet. Die Vogelbeerbaumknospen schrauben sich auf; mit den wolligen Rippenrücken nach außen halten sich die gefältelten jungen Blättchen umarmt und drehen sich auf, wahrhaftig, Lore, immer zu dreien treten sie ins Leben. Die Traubenkirschenbläitchen aber fahren wie Indianerkanus in die abenteuerliche Welt. Der Frauenmantel breitet sich aus wie ein Mädchenfächer nach einem heißen Tanz. Das Veilchen öffnet seine doppelt tütenförmig aufgewundenen Blätter wie ein Japaner sein Kakemono. Die Farrenkräuter wollen etwas ganz Besonderes haben und rollen sich spiralig ab wie eine Uhrfeder, die sich streckt. Und die Tannen werden vor lauter üppigem Blühen zu Kirschbäumen mit roten Beeren, zu Weihnachtsbäumen mit roten Wachskerzen.

Ach, der Frühling wird übermächtig. Anfänglich konnte man das Grünende und Blühende in einer Hand nach Hause tragen, und wenn man auch den ganzen Tag herumspaziert war. Dann in einem Arm, in zwei Armen. Und auf einmal tritt man bloß vors Haus und wird seiner schon nicht mehr mächtig. O, du unermüdliche freigebige Erde; immer nach oben schickst du deine Hoffnung ans Licht, als Gras, Blume, Strauch, Baum, fußhoch, mensschenhoch, turmhoch. Alles Zeichen deines Triebes, aus dir heraus, aus Dunkel und Gebundenheit in den Himmel zu streben. Und immer wieder mißlingt dein Ansturm, in sich selbst sinkt er zurück und nie erfüllt sich deine Hoffnung ... Doch jedes Jahr versuchst du es mit neuer Saat, du Unermüdliche, mit der Ausdauer einer Liebenden, die immer wieder für den Geliebten die Lampe anzündet.“

16.

Ich schwieg und lauschte. Nun mußte Lore ein .. liebes Wort sagen. Aber sie blieb still. Warum blieb sie still? Hatte ich ihre Gedanken allzuweit weggelockt von diesem Leben, dieser Wirklichkeit, dieser Stube ? Aber ich überwand meine Unsicherheit und Beklommenheit und schloß: „Und in den Häusern verstummt der eintönige, taktmäßige Doppelschlag der Weblade. Die Bauern wagen es, die Fenster wieder einen Fingerbreit aufzumachen. Auf der Südseite der Blockwände sind die frischgeteerten Schlittenkufen zum Trocknen aufgestellt. Die Häuser und Ställe, die in der Kälte so prahlerisch dastanden, machen sich klein und unscheinbar. Sie wissen, daß man jetzt auch ohne sie leben kann. Die Ackerschollen aber tun wichtig und glänzen wie mit tausend Glasscherben und sehen so vielverheißend aus, als müsse dies Jahr etwas ganz Ungeahntes, Niegeschautes aus ihnen hervorbrechen. Und ich spaziere in der Sonne herum und spüre mit Freuden, daß ich schwitze und durstig bin. Und ich schaue mein Häuslein an und lache. Und schaue meinen Schafpelz an und lache. Und schaue den offenen Herd an und lache. Was für überflüssige Dinge. Der Sommer ist ja da !“

„Sie müssen einen sehr schönen Frühling erlebt haben,“ sagte sie gereizt.

Ihr Ton ließ mich zusammenfahren. Du lieber Gott, was hatte ich angestellt. Einen schönen Frühling ?

„Nie habe ich einen schlimmern Frühling erlebt, ich schwöre es,“! rief ich.

„Papperlapapp! Und dabei erzählen Sie mir stundenlang von Ihrem glücklichen Frühling !“

„Ach, Lore, dieser Frühling ... erst jetzt, nachdem Sie gekommen sind ... Begreifen Sie denn nicht. Ich bin gewissermaßen durchs Dunkle gegangen, und auf einmal fällt ein Licht auf die Welt. Ich schaue zurück und sehe, daß es eine schöne Welt war ... Das Licht sind Sie!“

„Das kann jeder sagen,“ trumpfte sie mich ab. „Sie sollen überhaupt ein sehr lustiges Leben geführt haben. Handharmonikaspielen, Tanzen, Bauernmädchen in Hülle und Fülle. Ja, ja, Herr Kling, das Kind, das mich hergeführt hat, erzählte mir allerlei. Ich habe zwar nur den zehnten Teil verstanden, aber das war genug !“

Was sollte ich sagen? Ich fürchtete plötzlich, sie sei aus jenem gefährlichen Glas, das schon zerspringt, wenn nur ein falscher Ton erklingt.

„Ich spielte,“ stieß ich mühsam und unsicher hervor, „um meine Schmerzen zu betäuben.“

„Fein ausgerechnet, aber leider nicht glaublich, Herr Kling! Warum nicht einfach gestehen, daß Sie sich trösteten, so gut Sie konnten? Es fällt mir nicht ein, Fhnen daraus einen Strick zu drehen. Sie hatten ja mir gegenüber keine Verpflichtung !“ sagte sie.

Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich hätte am liebsten ihre Hände ergriffen und sie an mich gerissen, auf daß sie die Wahrheit spüre. Aber ich wagte es nicht, so sehr fürchtete ich, das verdorbene Spiel noch mehr zu verderben.

„Soll ich ein Licht anzünden ?“ fragte ich.

„Ganz wie Sie wollen,“ antwortete sie.

Was hieß das nun wieder ? Ich zauderte.

„So zünden Sie doch ein Licht an, wenn es Ihnen zu finster ist!“ rief sie fast zornig.

Als es hell in der Stube war, suchte ich ihre Augen. Aber ihre Blicke gingen an mir vorbei.

„Ich bin müde,“ sagte Lore.

Da kam erlösende Geschäftigkeit über mich. Sie hätte ja sagen können: Begleiten Sie mich nach dem Gasthause! Fetzt nur vorsichtig, dachte ich, nichts Tolpatschiges, nichts Plumpes, das sie verletzen könnte.

„Ich werde auf dem Kammerboden schlafen,“ sagte ich eifrig.

„Aber werden Sie sich nicht erkälten?“ fragte sie.

„Nein, nein,“ beteuerte ich.

„Aber wie verhält sich's mit Ihrem Bett? Kann man darin schlafen ?!“

„Gewiß, gewiß !“ Und ich sang meinem altmodischen Wandbett ein lautes Loblied.

Sie musterte es.

„Keine Laken ?“ fragte sie verwundert. „Bloß eine Decke ?“

„Ja,“! gab ich kleinlaut zu.

„Sie haben eine Frau nötig,“ dozierte sie.

„Das glaub’ ich auch,“ entgegnete ich.

Da lachte sie. Ich atmete auf.

„Und bloß Stroh ?!“

„Aber neues Stroh! Und ich kann es frisch aufschütten. Dann ist's weich, weich genug sogar für die Prinzessin, die eine Erbse durch sieben Matratzen hindurch spürte.“

„Gut denn, ich will Ihnen glauben. Und für heute kommt’s ja aufs gleiche heraus. Ich bin so müde, daß ich auf einem Stein schlafen könnte. Aber Sie haben wohl keine Mäuse ?“

„Nein, nein,“ schwur ich und log dabei, denn es gab Mäuse, aber ich gelobte mir, die ganze Nacht zu wachen, damit sie kein Rascheln und Krabbeln höre.

Das Bett wurde in Ordnung gebracht, und da sie reichlich mit Kleidern versehen war, brauchte sie nicht unter dem Lakenmangel zu leiden.

Mit einem freundlichen „Gut Nacht'‘ gaben wir uns die Hand.

„Sie können die Türe schließen,“ sagie ich und zeigte ihr ein altes handfestes Schloß, aus dem ein großer Schlüssel vertrauenerweckend und Sicherheit einflößend heraussschaute.

„So ? Ja, gut, um so besser !“

Wir trennten uns, und bald darauf hörte ich, wie sich der Schlüssel knarrend und ächzend drehte. Ich wachte noch eine Zeitlang, um die Mäuse zu verscheuchen. Aus ihrer Stube drang kein Laut. Da vergaß ich die Mäuse und mein Glück und schlief ein.

17.

Als ich am frühen Morgen erwachte, konnte ich mich zuerst nicht zurechtfinden. Schließlich merkte ich, daß ich auf dem Kammerboden lag, den Mantel über mir. Und auf einmal leuchtete in der Finsternis meiner schlaftrunkenen Sinne ein Feuerwerk auf mit Geblitz und Gefunkel, himmelhohen Raketen und sonnengroßen Leuchtkugeln. Glück, Glück, rief es aus allen Winkeln, und ich sprang auf und wußte wieder mit allen Gedanken, allem Blut, allem Wesen, was am Abend zuvor geschehen war. Da stand ich und schaute die Türe an, und es hätte Silber schneien und Diamanten regnen können, ich wäre nicht auf die Straße hinaus, und wenn das ganze Dorf, die ganze Welt johlend und jubelnd vorbeigeeilt wäre, um den wunderbaren Fang zu fassen, mit Schüsseln, Eimern, Zubern, Fässern und Säcken und Schnappkarren und Pritschenwagen. Wenn die Erzengel mit schmetternden Posaunen das tausendjährige Reich verkündet hätten, es wäre mir ganz gleichgültig gewesen. Und das Dach meiner Hütte hätte sich abheben und alle Herrlichkeit des Himmels offenbaren können, ich würde nicht mit einem Auge geblinzelt haben. Denn drinnen in meiner Stube, in meinem Bette, auf meinem Stroh lag Lore.

Ich stand an der Türe und lauschte. Alles war still. Aber ich redete mir ein, daß ich ihren Atem höre. Gewiß hörte ich ihn! Und das war ein Klang, wie wenn die Luft durch die Saiten einer Laute streicht, wie ein ganz, ganz fernes Lispeln und Wispern und Zirpen in schmalblattigem Gras.

Wieder lauschte ich an ihrer Türe und spürte eine solche Sehnsucht nach ihrer Stimme, daß mich die Lust packte zu lärmen und zu poltern, bloß um ihre Stimme zu hören. Aber ich bezwang mich, biß die Zähne zusammen, steckte die lärmsüchtigen Fäuste in die Tasche und suchte ein Ding, das ihr gehörte. Gottlob fand ich nahe an der Schwelle, zwischen zwei Brettern eingeklemmt und halb versteckt, eine Haarnadel. Ich pries mein Glück und hob die heilige Reliquie sorgfältig auf. Beneidenswerte Haarnadel, Tag um Tag hatte sie in ihren Haaren sitzen dürfen. Und ich wäre zufrieden gewesen, wenn ich sie nur mit einem Finger hätte berühren dürfen.

Aber jetzt war sie nur durch eine Türe von mir getrennt! Und auf einmal fuhr der Gedanke durch mich: Wer weiß, vielleicht steht sie dir offen ? Aber du hast ja gehört, wie sich der Schüssel ächzend und knarrend gedreht hat, sagte die Vernunft. Kann sie den Schlüsssel nicht zurückgedreht haben, da ich schlief? sagte die Hoffnung. Vielleicht war sie wach und wartete auf mich.

Ich rief mir den Abend ins Gedächtnis zurück, und je länger ich in ihrem Gehaben und Gespräch nach Anhaltspunkten zur Deutung ihres Wesens suchte, desto mehr verheißungsvolle und zuversichtlich stimmende Umstände offenbarten sich.

Sie hatte die Türe sicher nicht geschlossen. Sicher nicht ? O, du eingebildeter Glorian! Wer glaubt nicht gern an das, was er wünscht; wer findet nicht Beweise für das, was er glaubt? Und der Zweifel und die Kleinmütigkeit suchten geschäftig nach Gründen, um mich davon zu überzeugen, daß die Türe sicher nicht offen sei.

Langsam und vorsichtig drückte ich die Klinke nieder und bebte im voraus vor jedem Laut. Meine Knie zitterten, und an meiner bis zur Unerträglichkeit gespannten Erregung konnte ich ermessen, was ein Dieb beim ersten Einbruche ausstehen muß. Von nun an würde ich die Diebe nachsichtiger beurteilen. Und die Türe öffnete sich wahrhaftig, stricknadelbreit, fingerbreit, handbreit, achselbreit. Sie war barmherzig genug, nicht zu knarren. Ich schlich mich in die Stube wie ein Mörder und bebte dabei, als werde im nächsten Augenblicke die Welt untergehen oder mindestens das Dach zussammenstürzen. Denn es war ein altes Dach.

Sie schlief.

Langsam, mit Füßen wie Blei, mit denArmen mühsam das Gleichgewicht haltend, schwankend wie ein schlechter Seiltänzer tappte ich die unendlich lange Strecke bis zum Bett. Es war mir, als ob ich nie dorthin gelangen würde.

Sie schlief immer noch, da ich endlich nach einer ganzen Ewigkeit dicht vor ihr stand und erst scheu und dann entschlossener auf sie hinuntersah. Unschuldig und zuversichtlich schlief sie, das liebe Haupt, von Locken umkräuselt und beschattet, auf den lose verschränkten Armen.

Wie oft war mir nicht aufreizend und wild, von Gier entkleidet und wollüstig entblößt im Bilde erschienen, was nun als leibhaftige, leise atmende Wirklichkeit vor mir lag. Nun aber, da mir so langersehnte, so betörende Nähe vergönnt war, erfuhr ich, vom frechen unbekümmerten Mute ganz verlassen, daß die Liebe demütig und scheu und kindlich ist, wenn sie strömen darf. Im Gefühle meiner Macht über sie wußte ich dennoch : Wenn sie sagt „geh',“ so gehe ich! Und es lag eine Süßigkeit darin, das zu wissen.

Doch unter meinen Blicken öffnete Lore verwunderte, schlaftrunkene Augen. Die Überraschung mischte sich mit Schrecken, der Schrecken mit einem schmerzlichen Lächeln. Dann senkte sie langsam die Augenlider und ihre Hände zitterten. Da küßte ich ihre Hände und sie wehrte sich nicht. Und im Jubel küßte ich ihren Mund.

Sie wehrte sich immer noch nicht.

18.

Als ich ihr später ein Loblied sang und jauchzte: „Wie gut, daß du die Türe offen ließest,“ sagte sie lanessam und müde und etwas eintönig : „O, du Schlauer! Willst du die Verantwortung feige von dir abwälzen ? Ich habe ja den Schlüssel umgedreht !‘ Und nach einer Weile, leise, in sich versunken, als lausche sie auf etwas Neues, das in ihr laut werde: „Aber es ist ja gut sol’ Und während ich noch vor Erstaunen über ihr Leugnen nichts zu sagen wußte, fuhr sie langsam und lächelnd fort: „Du hast es mir sehr schwer gemacht, Glorian! Warum hast du immer so viel geredet, gefragt, gefleht, geseufzt und sehnsüchtig geschaut ? Ein Mädchen darf ja nicht einmal zum Tanz auffordern ... und du verlangtest ... Ach, du hast gar viel verlangt ... Fürwahr, du hast es mir sehr schwer gemacht, licher Glorian ... Du gefielst mir schon, als du mir im Herbst am Lattsee den Weg nach Straußberg zeigtest. Aber wie sehr ich dich liebte, wußt’ ich doch erst, als du im Zorne von mir gingst ... Warum hast du mich damals nicht geschlagen, statt bloß die Türe zuzuwerfen? ... Ach, hättest du bloß noch einmal ins Zimmer geschaut, dann wärst du nicht nach Schweden gereist ... Nein, ich glaub's nicht ... Aber es mußte wohl so sein, auf daß ich dich noch mehr liebe. Je mehr ich dran dachte, daß du nach dem Paradiese fuhrst, desto kindlicher, rührender und ungewöhnlicher erschienst du mir im berechnenden Berlin, wo das Ziel aller nur das Geld ist und nicht das Paradies. Und wenn ich dran dachte, daß ich dich nie wiedersehen würde, überkam mich die Lust zu sterben. So sehr hast du mir auf einmal das Leben bedeutet ... Da ... machte ich Ferien und wagte die Reise, obwohl das Geschäft nicht gerade sehr gut stand und nicht viel Geld in der Kasse war. Aber als ich hier aus dem Schiffe stieg, faßte mich noch einmal die Furcht. Alle Anstrengungen meines Lebens hatten bis dahin der Erkämpfung meiner Selbständigkeit gegolten. Sollte ich nun auf einmal alles wegwerfen, Ungewissem zuliebe ? Den ruhigen, sichern, zielbewußten Plan zerstören? Was würde an seine Stelle treten? Zwei Stunden lang habe ich mich besonnen. Vorwärts oder zurück, fragte ich mich. Noch hatte ich ja die Wahl. Bis ich endlich einsah, daß ich längst keine Wahl mehr hatte, und vorwärts ging. Und da saß ich nun bei dir. Und du erzähltest mir vom Frühling und ich freute mich, nicht am Frühling, verstehst du, sondern an dir. Und zweimal habe ich dir gerufen. Aber schließlich wurd’ ich zornig auf deinen ewigen Frühling. Und dann fragtest du mich, ob du ein Licht anzünden solltest ... Ach, Glorian, du hast es mir wirklich furchtbar schwer gemacht. Und dann diese Türe. Natürlich mußt’ ich den Schlüssel umdrehen, nachdem du ihn mir gewissermaßen in die Hand gedrückt hattest. Aber warum ssprachst du davon, hatt’ ich dich denn gefragt ? Sei froh, daß du die Türe aufgebrochen hast, sonst wär ich dir heut davongelaufen. Daß du dies getan hast, hat mich dir gewonnen. Denn einen kühnen, mutigen Geliebten will ich!l“ Und sie küßte mich, als hätt’ ich sie von einem bösen Drachen befreit.

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, und ließ mir vorläufig die angenehme Rolle eines Helden gefallen. Als ich aber dann verstohlen Schloß und Schlüsssel untersuchte, entdeckte ich, daß der Schlüssenbart abgebrochen war und das imponierende, vertrauenerweckende Uchzen und Knarren nur vom vielen Roste hergerührt hatte. Da lachten wir beide und priesen die Mangelhaftigkeit des Schlosses als die willkommene und bedeutungsvolle Fügung eines guten Gottes, den wir nicht mit der geringschätzzgen Benennung Zufall beleidigen, sondern lieber als mächtiges und segnendes Schicksal über uns setzen wollten.

Bei mir kam das Heldenmäßige hinterdrein. Hätte ich gerade eine verwezene Tat gewußt, ich hätte sie auf der Stelle getan. Es wäre mir eine Lust und eine Freude gewesen, Lore aus einem reißenden Strom oder flammenden Feuer zu retten, und ich war etwas betrübt darüber, daß nichts Derartiges in Frage kam ~ was von ihr nicht gesagt werden kann. Wenn ich mich reckte und streckte, hatte ich Angst, das Dach einzustoßen, so groß und in die Höhe geschossen kam ich mir vor. Als ich draußen mit einem stumpfen Beil, das von einem Bauer nur noch zum Pflockeinschlagen benützt worden wäre, Holz spaltete, flogen die Scheiter mit solcher Wucht und Geschwindigkeit um mich herum, als hätte ich die Absicht, in einem Zirkus als Holzhauervirtuose aufzutreten. Und als ich zwei volle Eimer vom einen Steinwurf weit entfernten Ziehbrunnen nach der Hütte zu schaffen hatte, lief ich so schnell und wie tanzend, als ob ich ein Körbchen mit Veilchen in der Hand trüge. Einem Bauern, der auf seinem Acker stand, winkte ich dabei ganz ohne Grund zu, bloß weil ich so glücklich war, daß dieser seine magern Steckenbeine in Bewegung setzte und nur mit Mühe und eifrigem Zuruf wieder dazu gebracht werden konnte, seinen Anmarsch auf die Hütte, wo er ganz und gar überflüssig war, einzustellen und verwundert, brummig und mürrisch wieder rechtsum kehrt zu machen.

In Lore erwachte der Hausfrauengeist. Jm hellen Tageslicht und erlösten Herzens fand sie gar viel zu tun. Die Stube sei sicher noch nie rein gemacht worden, sehe aus wie eine Räuberhöhle und habe es bitter nötig, daß Besen und Scheuerlappen unters Bett, unter den Tisch, in die Ecken und über den Boden fahren und zwar energisch. Ich mußte ihr recht geben. In den Winkeln lagen Häuflein gar mannigfaltigen Inhalts, als habe ein Trödler alte Lumpenwaren feil. Und ein kundiger und mit den Lebensgewohnheiten des Landes vertrauter Mann hätte daraus sicher die interessantesten kulturhistorischen Schlüsse über die früheren Bewohner der Hütte ziehen können. In der Abendbeleuchtung und im Feuersschein hatte alles romantisch und malerisch ausgesehen: der rote, lustig aufgemauerte und abenteuerlich verfallene offene Herd, die braune Decke mit den rauchgeschwärzten Brettern und Balken, die unglaublich breiten Dielen, der breitbeinige, massive Tisch, der ein tanzendes Pferd hätte tragen können, ohne zu wanken, das gemütliche Kastenbett mit seinen reizvoll gemusterten und harmonisch verblichenen Vorhängen. Im Tageslichte aber zeigte sich vor allem der Schmutz, der Boden rief nach der Fegbürste, der offene Herd nach dem Maurer, der Tisch nach Seife und Wasser, die Vorhänge nach der Wäscherin und die schwarzen Spinngewebe unter der Decke nach einem mit feuchten Lappen umwickelten Besen. Lore griff die Arbeit energisch an und gab auch mir genug zu tun, wenn’s auch keine Heldentaten waren. Aber ich verrichtete das Befohlene so gern wie irgend etwas anderes, weil sie's befahl, und trug die Lumpen, Fetzen und all das Gerümpel so stolz hinaus, als tue ich die schwersten und glorreichsten Herkulesarbeiten und müsse damit den Himmel, der mir schon zugefallen war, erst noch verdienen. Bis jetzt hatten mir zwar diese Dinge nicht weh getan, weder in den Augen noch sonstwie, aber nun fand ich es auch auf einmal ganz wichtig, daß alles verschwinde und das Häuslein so rein werde wie eine Küche am Samstagabend, wenn zwei Dutzend Scheuerfrauen befriedigt die Türe hinter sich zugemacht haben. Denn nun erst war das Häuslein mein Häuslein. geworden, meine Festung gegen die Welt, meine Schatzkammer, mein Tabernakel. Vorher hatte ich gedankenlos darin gewohnt, wie der Vogel im weiten Flug gelegentlich in einem zufällig entdeckten Astloch nächtigt, so gedankenlos wie die meisten Menschen auf Erden wohnen und erst merken, wo sie gewesen sind, wenn sie im Sterben liegen und weg müssen, keiner weiß wohin. Nun sagte ich das Wort Haus mit einer ganz anderen Betonung und einem ganz anderen Sinn. Es war mir der Inbegriff der Welt = aller tausend Sonnen und Millionen Sterne nicht geachtet + als habe sich hier alle Herrlichkeit der Erde vereinigt und wohne nun zwischen diesen vier braunen Balkenwänden unter dem grünmoossigen Dach. Ich wunderte mich bloß darüber, daß es noch aussah wie gestern und nicht ein Schein oder ein Leuchten von ihm ausstrahlte oder wenigstens ein blendendweißes Wölkchen über ihm stand, damit jedermann wußte, daß es ein gesegnetes Haus sei.

Doch der Hunger meldete sich, längst war mit klapperndem Lärm die Milchkanne vor die Türe gestellt worden, und ich konnte nun Lore meine einfache Kost empfehlen. Aber darauf ließ sie sich nicht ein. „Du bist nicht umsonst so mager geworden,“ sagte sie, „es ist gut, daß ich ins Haus gekommen bin, sonst wärst du am Ende noch verhungert oder mit den Flügeln der Schwindsucht zum Himmel aufgefahren.‘ Und als ich die Magerkeit meiner unglücklichen Liebe und Sehnsucht nach ihr zuschrieb, ließ sie das nur teilweise gelten und schickte mich in den Kaufladen. „Denn ich habe gestern abend nichts gegessen,“ fügte sie lächelnd hinzu. „Aber du sagtest mir doch, daß du im Gasthause ...'’ entgegnete ich. „Sagte ich, aber tat ich nicht, mein Lieber,“ unterbrach sie mich, „woher hätte ich auch den Hunger nehmen sollen! Hast du Geld ?" „Einen ganzen Haufen,“ rief ich. „Gut, so gehe,“ sagte sie. „Komm mit,“ bat ich. „Keine Zeit und keine Lust,'“ sagte sie, „eil dich.“ Es fiel mir sehr schwer, mich von ihr zu trennen, und langsam und zögernd ging ich von der Hütte weg. „Lauf,“ rief sie lachend, „dann bist du bald zurück.“’ Das leuchtete mir ein und schenkte mir eilige Beine. Schnell kam ich hin, aber leider nicht so schnell wieder weg. Denn im Kaufladen mußten zuerst drei kleine Mädchen bedient werden, von denen jedes für zwei Öre Zuckerplätzchenabfälle kaufte, dann eine alte Frau, die sich ein Tabakspfeiflein erstand, hierauf ein gewaltiger Bursche, der sich nach langem Zögern eine Glückwunschkarte mit zwei schnäbelnden Täubchen auswählte, dann eine Bauerndirne, die sich ein „Parfum Oriental“ empfehlen ließ. Überdies hörte der Kaufmann nur auf einem Ohre und hatte kürzlich wegen eines Schlaganfalls die Substantive verloren. Demgemäß mußte man jede Bestellung auf die umständlichste Weise umschreiben und die Substantive in Zeit- und Eigenschaftswörter verwandeln, Zucker zum Beispiel in „das, was süß ist und weiß ist,“ mußte jeden Auftrag, von seinem ewigen „Wäh, wäh ?“ unterbrochen, ein paarmal wiederholen und war dann erst noch nicht recht sicher, das Rechte zu bekommen. Aber da seine Waren einen guten Ruf hatten und ich keine Lust verspürte, nach Ackerbucht hineinzulaufen, so hielt ich standhaft aus, obwohl ich vor Ungeduld fast verzappelte, bis ein ganzer Berg von Paketen, Tüten und Papiersäcken auf dem Ladentische vor mir lag und mich den größten Teil dessen kostete, was ich mit meiner deutschen Korrespondenz verdient hatte. Da war gewürfelter und gepulverter Zucker und geräucherter Schinken aus Schonen, Eier aus Sonnenanger, Butter aus Ackerbucht, Anschovis aus Christiania, Dessertheringe in Gabelstücken von der schwedischen Wesstküste, Käse aus der Schweiz, Tomatenrsquce aus der Provence, Reis aus Karolina, Pflaumen aus Kalifornien, Zitronen von Sizilien, roter Lachs aus Nordland, Brot von Gotenburg, Keks aus England, Weizenmehl von Stockholm. Ich hatte alle Taschen und beide Arme voll, als ich mich endlich auf den Heimweg machte und hätte ganz gut einen Schiebkarren brauchen können. Als ich mein Häuslein zu Gesichte bekam, entdeckte ich mit Freuden, daß aus dem Schornstein ein leichter Rauch fröhlich und kerzengerade in den Himmel stieg wie von Abels Gott wohlgefälligem Opfer, was mich so andächtig stimmte, daß ich stehen blieb. Aber heimtückisch fiel der Reis aus Karolina auf den Boden und benützte die Gelegenheit, um auch etwas von Schweden zu sehen und aus dem zerplatzten Papiersacke wie himmlische Manna nach allen Seiten zu rieseln. Als ich mich niederbeugte, hüpften auch die Zitronen aus Sizilien unter dem Arme hervor, gefolgt von den Pflaumen aus Kalifornien und dem roten Lachs aus Nordland. Da mußte ich wieder alles zusammenlesen und hatte damit so viel zu tun, daß ich darüber von meinen metaphysischen Gedankengängen erlöst wurde. Vom Karolina-Reis aber blieb ein ansehnliches Bächlein liegen und schimmerte weiß auf der gelbbraunen Landstraße und bezeichnete noch stundenlang den Platz meiner Ergriffenheit, bis es von den Vöglein aufgefressen wurde. Ich selber aber ging mit langsamen Schritten weiter wie einer, der weiß, daß ihm das Glück nicht entgehen kann, ganz wie der Wanderer aus der Fremde auch nicht ohne weiteres vom letzten Hügel in die Heimatstadt hinunterstürmt, sondern mit stiller Freude und süßem Gefühl stehen bleibt und alles gemächlich von oben beschaut, was ihm lieb und teuer ist, ehe er sich ihm ganz und nahe ans freudig schlagende Herz gibt.

19.

Als ich in die Hütte trat, spürte ich mit Behagen, daß sie bewohnt war. Warm und wohlig war die Luft, freundliche Geister nickten aus jedem Winkel, die Wände streckten sich mir entgegen wie Mutterarme, mich zu umfangen, der Tisch schien darum zu bitten, daß ich ihm doch etwas zu tragen geben möchte. Mit Entsetzen und Grauen dachte ich an die einsamen Abende, wo ein kalter Hauch, eine feindliche Luft mich empfangen hatte und nur langsam, widerwillig, ruckweise meinem warmen Atem gewichen war. Ich stieß die Stubentüre, die nicht verschlossen werden konnte, mit einem dankbaren Blicke sperrangelweit auf und freute mich zum voraus auf Lores lachendes und riesenhungriges Antlitz. Die Freude aber hatte ich mir zu früh gegönnt, denn Lore saß am Tisch, hatte den Kopf über die Arme geworfen und weinte. Da stand ich nun mit meinen Eßwarenherrlichkeiten aus heißen und kalten Zonen, groß genug, um eine Nordpolexpedition zu füttern, wußte nicht, was das bedeuten sollte, und fürchtete auf einmal, daß hier der feinste geräucherte Lachs nicht helfen könne und auch der fetteste Emmentaler Käse nicht. Sie hob das liebe Haupt und konnte beim Anblicke meiner Packeselausstaffierung ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken. Das machte mich wieder froh, ich legte die Pakete und Tüten fein säuberlich auf die Sitztruhe vor dem Bette und hoffte von so vieler ausgebreiteter Magen- und Gaumenfreude eine gute Wirkung. Als ich sie aber anschaute, hatte sie den Trauervorhang wieder heruntergelassen, bloß daß sie jetzt Haltung bewahrte und nicht mehr weinte.

„Glorian,“ seufzte sie, „warum hast du mich so lange allein gelassen ?‘

„Was ist geschehen ?“ rief ich erschrocken.

„Nichts, aber ich habe nachgedacht.“

„Das ist doch nichts Schlimmes.“

„Ich habe zu lange nachgedacht !‘“ Und sie machte wieder Miene, das Augenwasser rinnen zu lassen.

„Liebe Lore, verzeihe mir.“ Und ich erzählte ihr von den vielen Ursachen meiner Verzögerung, in der Hoffnung sie aufheitern zu können. Aber die Schilderung des Käufers und der Käuferinnen machte gar keinen Eindruck auf sie, und der alte Mann mit dem verlorenen Substantiv, lustig genug, um eine ganze Posse auf die Füße zu stellen und reichlich zu ernähren, glitt an ihr vorbei wie ein Schatten.

„Ich muß mit dir reden!“ sagte sie.

„Willst du nicht zuerst etwas essen?“ gab ich zurück und erhoffte von einem tüchtigen belegten Butterbrote ein tröstendes Wunder. Aber sie schüttelte energisch den Kopf.

„Es ist nicht das erstemal, daß ich liebe,“ sagte sie unvermittelt.

Der Satz traf mich wie ein Stoß vor die Brust. Ich mußte unwillkürlich etwas hinunterschlucken, faßte mich aber bald und sagte ruhig : „Was tut's ?!“

„Es quält mich,“ fuhr sie fort.

Ich spürte eine großmütige Anwandlung wie ein neugekrönter König, der für Vergehen, die vor seinem Regierungsantritt begangen worden sind, eine allgemeine Amnestie erläßt, und sagte mit erzwungener Erhabenheit: „Das ist vorbei. Glaubst du, ich werde dir aus Vergangenem einen Vorwurf machen ?“

„Du verstehst mich nicht recht,“ sagte sie ernst, „micht darum gräm’ ich mich. Sondern darum, weil ich mir sage: so gut wie frühere Liebe vergangen ist, von der ich glaubte, sie werde nie vergehen, so wird auch diese Liebe ein Ende nehmen. Es gibt keine Beständigkeit. Und ich möchte so gern Beständigkeit !“

Da verstand ich sie, und ihr Ernst ging auf mich über. „Jene früheren,“ sagte ich mühsam und mußte wieder ein paarmal schlucken, als säßen Brosamen im Hals, auch war mir auf einmal der Kragen zu eng, „jene früheren ... warst du ihnen und waren sie dir das, was ich dir bin und du mir bist ?“

„Nein,“ entgegnete sie bestimmt.

„O, wie kannst du dann deine jetzige Liebe mit früherer vergleichen,“ rief ich jubelnd. Sie glänzte auf. Aber das war nur wie ein Leuchtturmsdrehfeuer in der Nacht, denn bald war wieder dieselbe ernste Dunkelheit auf ihrem Antlitz.

„Kannst du mir geloben, mich ewig zu lieben ?“ fragte sie.

„Nein, das kann ich nicht,“ antwortete ich langsam.

„Warum nicht ?“ fragte sie heftig.

„Weil ich schon einmal erfahren, was das heißt, etwas zu geloben, was man nicht halten kann.“

„Ich wußt’ es ... Du hast eine andere verlassen, wie du mich verlassen wirst. Ach, es gibt keine Beständigkeit. Die innigste Gemeinschaft kann nicht helfen !“

Ich suchte nach einem guten Wort und konnte es nicht finden. Ich hatte die feste Überzeugung, daß es irgendein Wort geben müsse, das sie zu trösten vermöge. Aber ich verwarf dies und jenes, weil es immer noch nicht das beste Wort war.

Da drang durch die geschlossenen Fenster ein leiser Singsang hoher Kinderstimmen. Ich horchte auf und konnte ein Lächeln nicht verbergen, je verständlicher das Liedlein klang, das irgendwo draußen gesungen wurde. Sie sah mich beleidigt und verletzt an: „Warum lächelst du ?“ „Komm,“ sagte ich, faßte sie am Arm und führte sie vors Haus. Verwundert und willenlos ließ sie es geschehen.

„Verstehst du den Reigentext ?“ fragte ich sie und wies auf ein Dutzend kleiner Buben und Mädchen, die sich an den Händen gefaßt hielten und jenseits des Ziehbrunnens gravitätisch und feierlich im Kreise herumgingen und dabei auf die eintönige und maschinenmäßige Kirchenliedweise ein Verslein. sangen, dessen arme Melodie sich zwischen zwei Tönen taktmäßig auf und ab bewegte und mit einer langgezogenen, wichtigtuerischen Fermate schloß.

Sie lauschte aufmerksam, durch den fröhlichen Anblick der gelben Röckchen, der roten Hauben und lustigen Knabenmützen ihrer trüben Gedanken schon halb enthoben und unter einen sonnigen blauen Gefühlshimmel gestellt. Aber sie konnte die kindlich und dialektisch gefärbten Worte, die sie mit ungewohnten Ohren im Fluge auffing, nicht voll und rein zu einem klaren Sinn zusammenfassen. Da half ich ihr:

„Jag är din, och du är min, saa länge kärleken varar!

Verstehst du's nun ?“

Und langsam übersetzte sie, wobei ihr Gesicht, das im Schatten lag, sich aufhellte, als werde es von der Sonne beschienen:

„Ich bin dein und du bist mein, So lange die Liebe währet!

Ist's so ?“

„Ja, so ist's,“ sagte ich fest, „kann man mehr gegeloben, mehr geben ?“

Da zog sie mich wieder ins Häuslein hinein, um mich ungestört küssen und umarmen zu können, so sehr war sie auf einmal getröstet durch den Ringelreihen der kleinen Kinder, denen ja die Weisheit gegeben ist und das sichere Anrecht auf das Himmelreich. Und es war, als hätte sie während meiner Kaufladenreise in eines der vielen Bücher geguckt, die je und je und immer wieder über die Kunst des Liebens geschrieben worden sind: im uralten Sanskrit, im Griechischen uad: Lateinischen, später auch im Italienischen und Französischen und schließlich noch im Deutschen – so verführerisch war sie, so süß.

Wir gingen nicht mehr aus an jenem Tage, sondern blieben in unserm Häuschen, als fließe das tiefe, weite Meer um die Mauern und wir säßen in der Arche Noah als die einzigen Menschen. Bloß am Abend wurden wir an das Dorf und die Welt erinnert, als zwei Bauern auf der Landstraße still standen und lange horchten und lauschten, bis der eine sagte: „Man ist an sein Dudeln und Orgeln gewöhnt wie an das Glockengebimmel am Sonntag, so daß man sich verwundert, wenn man's nicht hört,“ und der andere hinzufügte: „Er muß etwas Trauriges erlebt haben, daß er den ganzen Tag nicht gespielt hat.“

Da konnte ich das Lachen kaum verbeißen und sagte leise zu Lore, während meine Finger in ihrem Haar spielten: „Was soll mir eine Handharmonika, wenn ich dich habe ?‘

20.

O, gesegneter Tag! Wir nannten ihn später den E Tag der Verwandlung und Offenbarung, merkten uns sein Datum und besschlossen, seine Wiederkehr zu feiern, wie man einen Geburtstag feiert. Denn es war uns, als seien wir erst jetzt zu dieser Welt und diesem Leben wahrhaft geboren worden.

Ich dankte ihr, sie dankte mir. „Welch Wunder,!“ riefen wir, „wir gaben, und uns wurde gegeben. Gesegnete Umkehr der Dinge, daß wir durch Geben reicher werden !“

„Denn bin ich nicht wie verraten und verkauft, wenn du nur aus der Stube gehst,“ sagte Lore, „und merke ich nicht, wie du nach mir tasstest im Finstern und dich nach mir umschaust in der Helle ?“

„Ach, wenn ich nur ein Wort fände, dich zu preisen,“ rief ich und staunte sie an und freute mich an ihr, mehr als an allen Flüssen, Steinen, Blumen, Bäumen, Bildern und Bauwerken zusammen, vor denen ich schon bewundernd stillgestanden war. „Wenn ich nur ein Wort fände!“

Da fiel mein Blick auf die Bibel, die mir der Mormone ins Haus gebracht hatte, um mich zum rechten Glauben zu bekehren. Und das „Hohe Lied“ kam mir in den Sinn und die Psalmen. Begierig schlug ich das heilige Buch auf, blätterte und blätterte bis ich hinter dem „es ist alles ganz eitel“ sprechenden Prediger das Liebesduett fand. Aber das rechte Lobeswort fand ich doch nicht.

Denn schöner reckte sich ihr Wuchs als der eines Palmbaums, und ihre Brüste waren mit Rehzwillingen und Weintrauben gar nicht zu vergleichen. Verächtlich und schmählich war es, ihre Lippen eine scharlachfarbene Schnur zu nennen, ihren Hals einen Turm Davids und ihren Leib einen Weizenhaufen, umsteckt mit Rosen. Und ihre Lenden zwei Spangen gleichzusetzen und ihren Schoß einem runden Becher, hieß das Allerschönste und Allerheiligste so schlecht wiedergeben wie ein alter, blinder Spiegel.

Enttäuscht blätterte ich weiter und las da und dort in den Psalmen. Und wenn ich auch nicht fand, was ich suchte und wohl nirgends zu finden ist, so fand ich doch einen Spruch, der meiner Andachtsstimmung Mund und Ausdruck gab.

„O Gott, ich danke dir darüber, daß ich so wunderbarlich gemacht bin,“ sang ich mit dem Dichter des hundertneununddreißigsten Psalms.

Das gefiel ihr als Morgengebet zweier Glücklichen und feierlich sprach sie es nach.

Und danach traten wir vor die Türe und staunten die Sonne an, als hätten wir so viel strahlenden Glanz noch nie gesehen. Wir schauten den Wolken nach und waren von Unbegreiflichem erschüttert. Wir blickten in den hohen Himmel hinein und spürten übermächtige Unendlichkeit. Wir lauschten einem Bächlein und waren nicht weniger ergriffen. Wir beobachteten einen Schmetterling und konnten uns nicht fassen vor Verwunderunz. Wir betrachteten eine Knospe, mußten sie streicheln und liebkosen und konnten uns kaum von ihr trennen, so schön war sie in ihrer ausdrucksvollen Modellierung des Verheißenden, Treibenden, Sprießenden. Und selbst zu den Steinen mußten wir uns niederbeugen und sie streicheln, die festen, wuchtigen, unverrückbaren und die kleinen, buntfarbigen, rundschimmernden, edelsteinglänzenden, die so weit gerollt worden waren von Bächen und Flüssen und so lose dalagen, als seien sie jederzeit wieder zum Weiterrollen bereit.

Wir gingen still und ruhig einen einsamen Weg, der durch Wiese, Hain und Tannenwald führte. Der Frieden, die Ruhe und das Vertrauen waren in uns. Wir ließen dem morgigen Tage seine Sorge und lebten in der Ewigkeit, wo es keine Zeitbegriffe gibt. Und bisweilen trat es scharf und deutlich vor uns hin als etwas Unfaßbares, fast Unglaubliches, daß gerade um dieselbe Stunde, gerade jetzt, die Straßenbahnwagen in endloser Kette durch die Potsdamer Straße lärmten, die Automobile stürmten, die Autobusse erdbebten, die Hoch- und Untergrundbahn dahinschoß, bald in die Erde hinein wie eine erschreckte Maus, bald in die Luft hinaus wie ein aufgescheuchter Vogel, die Ringbahn unermüdlich um die Stadt kreiste wie besessen, Riesenhäuser unvermittelt in die Ebene hinausstießen wie Passsagierdampfer ins Meer und tausend und abertausend Gehirne Mittel und Wege ausdachten, um diesen Wirbeltanz zu noch rasenderem Tempo aufzupeitschen.

Und wir kehrten in unser Häuslein zurück und taten uns Liebes in kleiner Hilfeleistung und einträchtigem Wirken, und wir wären unglücklich gewesen, wenn wir uns bei irgendeiner Beschäftigung hätten trennen müssen. Denn wenn ich Holz spaltete, so las Lore die Scheiter auf, und wenn sie am Herde mit glücklicher Hand gar gute Dinge schuf, stand ich fleißig dabei mit Anteilnahme und Bewunderung, als befinde ich mich in einem Laboratorium, trug herbei und stellte weg, wie sie's befahl, und war ihr fast im Wege vor lauter Zuneigung und zärtlichem Willen. Und wie setzten uns andächtig an den Tisch, den sie mit Blumen und Zweigen und sauberem Tuch festlich geschmückt hatte, tranken das Wasser, wie ein Dürstender in der Wüste trinken mag, aßen das liebe Brot, als begingen wir eine sakramentale Handlung und ließen uns jede Speise munden, als gebe es nichts Besseres auf Erden.

Als ich ihr nach dem festlichen Mahle den Vorschlag machte, mich ins Dorf zu begleiten, wehrte sie sich und wollte nichts davon wissen. „Was werden die Leute sagen, wenn sie mich sehen?’ fragte sie, „heute ertrag’ ich kein anzügliches Wort, nicht mal eine spöttische Miene!“

„Nichts werden sie sagen,“ antwortete ich, „denn auch bei den Bauern sind die Heiligen nicht dicht gesät und die Sünde keine Seltenheit, bloß daß man nicht so viel Aufhebens von einem Fehltritt macht. Kinder wachsen auch an Bäumen, die noch kein kirchliches Recht zum Früchtetragen haben, und wenn ein Bursche kein Mäochen hat, so ist er ein Trottel oder mit irgendeinem Fehler behaftet. Ich werde ihnen jetzt viel weniger merkwürdig vorkommen als bis dahin, wo ich gleichsam nur mit meiner Handharmonika verheiratet war. Komm mit, du hast noch nie so prächtige Menschen gesehen!“ Ich hielt inne, so erstaunt war ich über den letzten Satz. Prächtige Menschen ? Waren sie mir nicht gleichgültig gewesen, und hatte ich sie nicht beinahe gehaßt vor lauter Enttäuschung ?

„Sagte ich wirklich: prächtige Menschen ?“ fragte ich Lore.

„Ja, das sagtest du,“ bestätigte sie.

Ich schüttelte den Kopf und suchte ein passenderes Adjektiv. Aber wieder zeigte sich das Wort: prächtige! Es mußte ein Wunder geschehen sein. Denn sie standen auf einmal meinem Herzen nahe, ich spürte es. Da war ich nun fünf Wochen lang herumgefahren und in den Höfen gesessen und hatte geschaut, gefragt und zugehört, aber mit der geringen Anteilnahme eines Regierungsbeamten oder eines Staatspfarrers, der sich auch mit jedermann unterhält und zwar auf die leutseligste Weise, aber nicht aus Zuneigung und Interesse, sondern weil es eben Sitte und Zwang ist. Nun wurden die Worte Fleisch und Blut und die Schauspieler gleichgültiger Schicksale zu Menschen, zu nahestehenden Verwandten. Jetzt schimpfte ich nicht mehr darüber, daß sie so viel Altes, Schönes weggeworfen und so sehr die neuen Götter und Götzen anbeteten. Nun pries ich ihre Lust am Neuen, fand sie verzeihlich und begreiflich, mehr als das, ewig menschlich, ein Zeichen des vorwärts drängenden Triebes nach Höherem, Besserem, ohne den wir noch heute in Höhlen- und Pfahlbautendörfern wohnten. Ich beschrieb sie als von den neuen Zuständen Überwältigte, von Maschinen und Industrieprodukten Bezauberte, die nichts Besseres wüßten, die jungen wenigstens, als sich dem Neuen vertrauend und hoffend hinzugeben und sich eher um ein Automobil staunend zu scharen als um die wunderschönste alte Roßdecke oder um einen fröhlichen, blumig bemalten Kasten vom Ende des achtzehnten Fahrhunderts. „Und die Namen,“ rief ich, „da gibt's einen Sonnen-Lars und einen Saus-Lars, einen Rosen-Jan, einen Patzigen-Olof und einen Braven-Olof, einen Saubern-Per und einen Witzigen-Per, eine Hühner-Karin, Schalk-Britta, Blechuhr-Maria, Nagel-Greta, Gockel-Johanna, und alle haben ihre Eigentümlichkeiten und ihre besonderen Schicksale.“

Da ging sie mit, belustigt von den seltsamen Namen, die ihr seltsame Menschen verhießen.

21.

So war ich noch nie durchs Dorf gewandert. Ich erlitt die Not des Sonnen-Lars, als sei es meine eigene Not. Der Saus-Lars wurde mir zum Weltweisen, der sich nach einem vergeblichen Versuche, den Turm von Babel zu bauen, vom Gelde auf seine eigene lustige Weise erlöst hatte. Die Verlassenheit des Rosen-Jan, der Dornröschenhof, schrie mich um Hilfe an. Der Brave-Olof wuchs ins Mystische, Heidnische, Märchenhafte, in jene Region, wo alle Dinge reden und der Mensch auch die Sprache der Steine und Gewässer versteht. Im Hofe des Sauberen-Per wollten mir die Tränen aufsteigen über den jämmerlichen Untergang eines Menschen, dem niemand helfen konnte. Die Frau des Nagel-Johann stand schöner da als je in ihrer aufrechten Weiblichkeit, die es zwanzig Jahre neben ihrem geizigen, tyrannischen Manne ausgehalten hatte, ohne gehässig, kleinlich, hinterlistig oder roh zu werden. Als wir an der Hütte der Kajsa vorüberkamen, spürte ich schlimme Ahnung und Unglücksverheißung. Das war wohl das Gift oder ein schlimmer Plan, der durch die Balkenwände hindurchwirkte. Der Anblick der Schule erschütterte mich. Die Kinder standen vor mir, die Väter und Mütter, losgelöst aus alten Vorstellungen, die Verhältnisse gelockert, sich selber überlassen, ohne das alte Pflichtgefühl und ohne neuen Villen. Was würde aus diesen Kindern werden, die weder den Eltern, noch dem Lehrer, noch dem Pfarrer etwas nachfragten? Und meine Gedanken gingen zum Hauptmann Stahl und seinem tragischen Schicksal: Zu wollen, da es zu spät war! Die Kraft vergeudet zu haben für Vergängliches und Sinnloses und jetzt nicht so viel übrig zu haben, um das tun zu können, was ihm der Sinn seines Lebens bedeutete.

Lore wurde von neugierigen und freundlichen Mienen empfangen, wohin sie kam, und brauchte sich nicht zu beklagen. Und sie hatte genug zu schauen, Kinderköpfe zu streicheln, alte, verachtete Decken, die in den Winkeln lagen, wieder ans Licht zu ziehen und zu loben und mit allzu kühnen Sprechversuchen dann und wann auf lustige Weise auf die Nase zu fallen. Und hübsch war es zwischenhinein, immer. wieder zu wissen, daß wir einsam waren mitten in einer zwölfköpfigen Familie drin, in Bauernstuben zu stehen und vor weit aufgesperrten Ohren sich auf eine gleichgültige Wetterdiskussionsweise zuzurufen: „O, du mein einziger, allerliebster, herzinnigster Schatz!“ und zu sehen, wie die andern dumme Gesichter machen und nicht wissen, ist das nun Russsisch oder Englisch, was sie hören, und sich darüber verwundern, daß man sich auch auf andere Weise verständigen könne als nur auf Schwedisch.

Unser Häuslein war neugefegt und duftete nach feuchtem Kiefernholz, als wir zurückkamen. Nagel-Gretas Tochter hatte tüchtig gewirtschaftet und Wasser und Seife nicht gespart, so daß man auf dem Boden hätte Brotteig kneten können, so sauber war er. Ein Brief, den sie beim Scheuern gefunden hatte, lag auf dem Tisch, vielleicht sei's ein wichtiger.

Es waren vier Seiten mit Reisevorsschriften einer nach Kanada Ausgewanderten an ihre Geschwister oder Verwandten. Sie riet ihnen, das Geld in einer kleinen, auf der Innenseite des Hemdes eingenähten Tasche zu tragen, den Handkoffer nie unverschlossen herumstehen zu lassen, warnte sie vor dem großen Liverpool, wo man sich so leicht verirre und jeder Unbekannte ein Schwindler und Betrüger sei, machte sie mit den Verhältnissen in Quebec bekannt, sprach auch von Montreal und Winnipeg und schloß mit den Worten: „Man könnte noch vieles schreiben, aber ich glaube, das Wichtigste erwähnt zu haben. Ich wollte zuerst meinen Mann bitten, euch zu schreiben, aber dann bat ich ihn doch nicht, denn ein Mann kann sich nie so in die Verhältnisse hineindenken, wie es eine Frau tut. Wenn ihr auf dem Dampfer hört, daß Leute aus der Bibel vorlesen oder von Gott sprechen oder Kirchenlieder singen, so schließt euch ihnen an, denn sie werden euch sicher helfen, wenn es nötig ist. Wenn ihr Langeweile habt, dann müßt ihr euch heißes Wasser verschaffen, dann kocht euch Hilda Kaffee, und ihr eßt Zwieback dazu, dann werdet ihr für einige Zeit getröstet werden. Wenn eins von euch traurig wird und denkt, es wäre lieber zu Hause geblieben bei Vater und Mutter, so sollen die andern sagen: Wir werden viel Geld verdienen und Vater und Mutter nachkommen lassen."

Ich hatte den Brief laut vorgelesen und meine Ergriffenheit nicht verbergen können.

„Du mußt das nicht so tragisch nehmen,“ sagte Lore und faßte meine Hand.

„Es erschüttert mich,“ sagte ich, „alles erschüttert mich heute. Diese Leute haben hier gelebt, arm, elend, immer am Hunger entlang, und sind dann der Hoffnung nach in ein gelobtes Land. Und ihre Hoffnung hat Brot geheißen, bloß Brot, Brot! Ich kenn sie, ich seh sie vor mir: Hilda, die Kaffee kochen soll, und den, der gern zu Hause geblieben wäre bei Vater und Mutter. Und ich seh nicht nur sie, ich sehe alle die schwedischen Auswanderer vor mir, die den steinigen Uckern davonlaufen, mit Kaffee und Bibel im Reisesack und ein bißchen Geld auf der Brust und mit der festen Zuversicht, viel, viel Geld zu verdienen.“

„Aber es sind ja wildfremde Menschen!“

„Ja, es sind wildfremde Menschen,“ sagte ich, „matürlich sind sie das, wenn man so will. Jch komme ia aus der Schweiz, ich könnte ebensogut vom Monde kommen, was gehen mich die Schweden an? Man hat zwar aus dem Schullesebuch erfahren, daß früher einmal gar große Hungersnot geherrscht habe im Lande gen Mitternacht und daß damals jeder zehnte Mann ausgewandert und bis ins Haslital gekommen sei. Und von Gustav Adolf hat man auch gehört, und daß im dreißigjährigen Kriege plündernde und mordende Schweden durch meine Heimat gezogen sind. Aber das wäre ja noch kein Grund, sich bei Bekannten und Verwandten zu fühlen. Wildfremde Menschen sind's, du hast recht, aber doch Menschen, Menschen! Und darf man sagen, daß Menschen einem wildfremd sind? Siehst du, ich reiste nach dem Paradies und bin statt dessen ganz einfach ins Leben hineingekommen. Heute habe ich zum erstenmal die Menschen angeschaut, ohne etwas zu fordern. Heut hab’ ich die Schönheit des Menschen gesehen. Es ist gut, daß du bei mir bist und ich dir erzählen kann, sonst würd’ es mich zersprengen. Alle diese Bauern hab’ ich im Sinn. Wie besessen bin ich von ihnen.“

Ich ging ein paarmal auf und ab. Ihre Augen schauten mich groß und leuchtend an und ließen mich nicht los.

22.

Siehst du,“ begann ich wieder, „dieser Rosen-Jan will eine Frau haben. Begreiflich. Wer will nicht gern eine Frau haben? Es ist ja so genußreich, eine Frau zu haben,'’ und ich warf ihr einen neckischen Blick hinüber, den sie mir flugs zurückgab, wie ein geübter Spieler einen Ball. „Man darf gar nicht laut sagen, wie genußreich das ist, ihre Augen zu sehen und ihren Mund und ihre Arme und vieles andere und ihre Lippen zu spüren und ihre Haare und vieles andere. Gewichtige Gründe gibt's zum Heiraten, von denen man tagelang reden könnte, wenn man nur dürfte, und schöne, selige, berauschende Dinge könnte man erzählen. Aber man läßt’s bleiben, weil man denkt: die Verheirateten erleben’'s, und die Unverheirateten müsssen eben warten. Aber vielleicht erleben's doch nicht alle Verheirateten. Nun gut, der Rosen-Jan weiß, wie das Eheleben schmeckt, und möchte wieder eine Frau haben. Einen schönen Namen hat er, also her mit einer schönen Frau! Er schlägt im Dorf auf die Büsche. Ach ja, der Hof ist schon gut. Das Haus ist außen bemalt, innen neu tapeziert, steht auf einem Sockel aus behauenem Granit, nicht etwa gewöhnlichen runden Feldsteinen, wie es die armen Leute haben, und trägt ein Ziegeldach, kein Schindeldach. Gegen das Haus ist nichts einzuwenden. Und der Stall ist aus Backsteinen aufgemauert, hat einen Zementboden und eine Wasserleitung. Das vermag nicht jeder. Eine Waschküche ist auch da. Und die Scheune ist so groß wie eine Kirche. Es ist alles gut im Stande. Und auf der Bank in Ackerbucht liegt auch noch etwas! Ja, ja, tej, tej, wenn nur die Schwindsucht nicht wäre; aber die Schwindsucht, puh ... Nein, lieber einen heiraten, der kein anderes Dach über dem Kopfe hat als seinen Hut, und wenn ihm auch der nur geliehen worden ist! Lieber einen heiraten, der auch im Sommer in einem Schafpelz herumläuft, weil er keine andern Kleider hat und ein solcher Pelz seine hundert Jahre aushält. Lieber einen heiraten, der kein Psserd zum Pflügen braucht, weil er sein Äckerlein an einem Tag mit dem Spaten umzugraben vermag. Denn die Schwindsucht ist schlimmer als Krieg und Hungersnot. Bald sterben ja alle Menschen an der Schwindsucht. Nirgends ist man sicher vor ihr.

Er fragt in den andern Dörfern nach. Die Mädchen lassen sich tätscheln, küssen und beschenken. Denn er ist ein schmucker, sauberer Mann, und knauserig ist er nicht. Aber wenn sie seinen Namen erfahren, dann laufen sie davon und verstecken sich und waschen den Mund mit warmem Wasser und veroörennen die Geschenke. Denn sein Name und sein Schicksal sind weit und breit bekannt. Niemand kann sich's recht erklären, daß alle seine Geschichte wissen, aber es ist Tatsache. Man hat sich's wohl erzählt, bei der Pferdeprämierung, beim Missionsfest, auf dem Tanzboden, nach der Kirche, auf dem Heilsarmeeseemanöver, auf der Baptistenversammlung, am Guttemplerbasar. Drum ist die Kunde von seinem Unglücke bis nach Spielsand, Lichttal, Quellenrain, Köhlerhütten, Lehmbach, Steinacker, Kuhberg und Hammerdorf gedrungen.

Da denkt er, Schweden ist groß und weitläufig, wozu hat man die Zeitungen? Man rückt eine Anzeige ein, wenn man ein Haus kaufen oder verkaufen will, wenn man eine Dienstmagd sucht oder einen Knecht. Warum soll man den Weg und die Unkosten scheuen, wenn man eine Frau sucht, andere tun’'s ja auch. Und er setzt eine Beschreibung auf, aber sie wird ihm zu lang und zu umständlich. Da geht er zum Schulmeister und läßt sich helfen. Und befriedigt liest er: FFünfundvierzigjähriger, rüstiger Landwirt und so weiter .... Der Schulmeister verspricht ihm, das Geheimnis für sich zu behalten.

Nun hat der Rosen-Jan auf einmal alle Hände voll zu tun. Kaum hat er mehr Zeit zum Fischen, so viel Briefe muß er enträtseln und so viele Photographien muß er beschauen und miteinander vergleichen. Er kommt sich vor wie der König Ahasveros in der Bibel, dem junge schöne Jungfrauen aus allen Landen seines Königreiches vorgeführt wurden zur geneigten Wahl und der endlich Esther in Gnaden aufnahm. Bloß daß er Mühe hat, seine Esther zu finden. Denn je länger er die Bilder anschaut, desto weniger kann er sich entschließen. Eine richtige Lotterie, denkt er. Dem Ahasveros wäre die Wahl sicher auch schwer gefallen, wenn er es bloß mit Photographien zu tun gehabt hätte. Am besten ist's, sich auf gut Glück zu entscheiden. So sollte es denn die sein, die am weitesten wegwohnt. Gut, abgemacht. Er prüft nach und siehe, es trifft eine fünfunddreißigjährige Witwe mit etwas Vermögen an der Westküste. Das paßt ja gar nicht übel.

Sie heiraten und siehe da: Er ist mit ihr zufrieden und sie mit ihm. Ganz leise und ohne viel Wesens von sich zu machen, wächst aus jeder Umarmung ein bißchen Liebe. Und nach ein paar Wochen entdecken sie plötzlich, daß sie ganz vernarrt sind ineinander. Da lachen sie und preisen die Zeitung. Und der Rosen-Jan schickt dem Blatte ein Spanferkel: „Aus Dankbarkeit !‘

Wenn nur die Dörfler nicht wären. Aber die können den Mund nicht halten. Es will ihnen nicht recht passen, daß eine wildfremde Person von der Westküste auf dem schönen Hofe lebt und scheinbar vergnügt und glücklich ist. Dazu noch eine, die ihren Mann in der Zeitung gesucht hat. Denn der Schulmeister konnte das Geheimnis nicht für sich behalten.

Man läßt sie wissen, daß sie in einem Schwindsuchtshofe lebt und in einer Stube schläft, wenn nicht gar in einem Bett, wo schon vier Menschen gestorben sind. Ein Schaudern kommt sie an. Der Hof wird ihr zum Kirchhof, mit Mühe nur tritt sie ins Haus, mit Entsctzen in die Stube, mit Grauen ans Bett. „Warum hast du mir das nicht gesagt? stößt sie hervor und stellt einen Stuhl zwischen sich und ihren Mann, da er sich ihr nähern will.

Er erzählt ihr, daß er sich von einem Doktor habe untersuchen lassen, und der Doktor habe nichts gefunden. Und daß er alle Kleider verbrannt, alle Stuben desinfiziert, alle Tapeten ersetzt, das Gemalte übermalt habe. Aber das alles kann ihr nicht helfen. Sie wird die Angst nicht los. Hüstelt sie nicht schon ? Doch, sie hat gemeint, sie hab sich erkältet. Aber nun weiß sie, warum sie hustet. Sie muß fort, sie will nicht sterben.

Er merkt, daß er die Angst nicht besiegen kann und schickt sich drein. Stumpfsinnig geht er umher und sieht auf einmal alt aus. Wär ich doch auch an der Schwindsucht gestorben, denkt er.

Sie packt ihr Eigentum zusammen. Er sieht nicht nach, ob sie etwas von dem Seinen mitlaufen läßt. Mag sie alles mitnehmen, denkt er, es kommt aufs gleiche heraus. Ich saufe mich ja doch nur zu Tode.

Sie hat ein paar Tage zu tun. Denn sie will alles sauber und in guter Ordnung zurücklassen. Und je länger sie bleibt, desto schwerer fällt ihr der Abschied. Wenn sie ihn anschaut, so tut ihr das Herz weh. Aber wer will gerne sterben ?

Jetzt hat sie das ganze Haus in Ordnung gebracht. Sie kann mit dem besten Willen nichts mehr finden, das gewaschen, gebügelt, gemangelt, geflickt, genäht, gestopft, gescheuert oder abgestaubt werden müßte. Aber sie zaudert immer noch.

Sein Blick sagt: Warum gehst du nicht, ich begreif ja, daß du nicht bleiben kannst.

Ihr Blick antwortet: Ja, ich weiß, daß ich nicht bleiben kann, aber ich möchte doch so gern.

Nun ist der Tag der Abreise bestimmt ... Aber da merkt sie, daß sie nicht mehr allein ist, und wenn sie in die einsamste Einsamkeit ginge. Sie hat ein Kind zu erwarten. Nun kann sie nicht mehr reisen. Nun muß es gewagt werden.

Und sie sagt zu ihm: „Das Kind war dran schuld, daß ich so ängstlich und feige war, ohne daß ich es wußte. Denn man ist ein anderer Mensch in den ersten Monaten. Nun aber weiß ich, wie's mit mir steht, und nun werde ich der Gefahr nicht mehr davonlaufen, sondern sie bekämpfen.'

Da wird er wieder jung und tut von nun an, was er ihr an den Augen absehen kann.

Und weil sie sich hüten vor Schmutz und Unreinlichkeit und der guten Tannenwaldluft die Fenster iveit aufmachen, so erleben sie's, daß die schlimme Krankheit bei denen einkehrt, die ihnen Unglück prophezeit haben und in ihren Stuben nach der dummen hermetisch verschlossenen Konservenbüchsen-Weise dahinleben. Sie selbst aber bleiben verschont ...'

23.

Mögs wahr werden,“ sagte Lore und küßte mich. Ich aber war immer noch geplagt von Bildern und Gesichten, löste mich aus ihren Armen, daß sie mich betrübt ansah und sagte: „Bist du meiner Küsse schon überdrüssig ?’ und ich den Kopf schüttelte und wieder auf und ab ging und sagte: „Ich muß erzählen! Denn der Sonnen-Lars, ja, der Sonnen-Lars, auch der ist nicht glücklich, auch der hat einen Wunsch. Eine Frau hat er, aber keinen Sohn. Das heißt, einen Sohn hat er, aber er ist nicht seiner. Einen eigenen rechtmäßigen Sohn möcht er haben. Denn ein Bauer heiratet nicht nur um des Weibes willen, sondern ebensosehr um des Sohnes willen, um der Kinder willen."

„Und du?’ unterbrach mich Lore.

„Ich will dich,“ gab ich zurück.

„Nicht mehr ?"

„Nein !‘ beteuerte ich. Wir waren ja nicht verheiratet, waren keine Bauern. Der Sonnen-Lars aber war verheiratet und war ein Bauer. Darum quälte ihn die Sehnsucht nach einem Kinde.

„Denn ein Bauer muß Kinder haben,“ fuhr ich fort, „sonst muß er den Hof verkaufen. Knechte und Mägde sind zu teuer. Und noch gibt's nicht Maschinen für alles. Und wenn dies auch der Fall wäre, so sind sie doch zu teuer! Nein, Kinder müssen her. Am liebsten zehn, fünf Söhne und fünf Töchter. Aber der Sonnen-Lars wäre mit einem zufrieden. Und wenn's nur ein Bub wär mit einem Auge oder vier Fingern statt fünf. Aber es scheint nicht Gottes Wille zu sein, wie die Bauern sagen. Wohl läuft ein Bube herum, aber er ist nicht seiner. Irgendein Stockholmer Herr ist schuld an ihm. Er hat schmale Handgelenke, kleine Füße und ist nicht verlegen und scheu und mundtot wie seine Kameraden. Und der soll den Hof erben ? Nein, der soll ihn nicht erben!

Er glaubt, daß ihn die andern auslachen, weil er für einen Bastard arbeitet. Das macht ihn wütend, obwohl’'s ganz ohne Grund geschieht, denn niemand lacht ihn aus. Die Bauern sind vom Hagel, Blitzschlag und Frost her allzusehr daran gewöhnt, alles zu nehmen, wie's eben kommt. Sein Haß muß sich Luft machen. Er beginnt, den fremden Buben zu plagen und zu quälen. Das ist eine Zeitlang eine tröstende Woblltat.

Aber dann wird er des Unfriedens, des Scheltens, des Keifens müde, und auch die kleinen Sticheleien, die am schlimmsten sind, hält er nicht mehr aus. Er ist ja kein böser Mensch. Er ist bloß ein unglücklicher Mensch. Und wie eine Offenbarung kommt ihm der Gedanke: „Ich bin nicht sein Vater, aber wie wär's, wenn ich versuchte, sein Vater zu sein? Müßte er dann nicht mein Sohn werden? Er ist stark und gesund, und keinen schlimmen Fehler hab ich an ihm entdeckt. Ich will ihm Liebe schenken statt Haß und ihn erziehen. Gott hat mir die eine Kraft versagt, er wird mir die andere nicht versagen!‘ Und er versucht's mit freundlichen Augen und freundlichen Worten. Aber Mutter und Sohn sind argwöhnisch und mißtrauisch und wittern hinter seinem veränderten Wesen eine neue Hinterlist. Sie lassen sich seine Freundlichkeit gefallen, ohne sie zu erwidern. Wenn er ihnen einen guten Bissen auf den Tisch stellt, so essen sie ihn, aber sie danken ihm nicht dafür. Wenn der Bube ein neues Kleid kriegt, so zieht er es an, aber er verändert keine Miene dabei.

„Sie haben ganz recht,, denkt der Sonnen-Lars. Ich hab's verdient. Eine Gedankensünde ist auch eine Sünde. Und wollte ich nicht einmal einen Balken auf ihn herunterfallen lassen, als ich den neuen Dachstuhl aufrichtete und er zu mir heraufschaute ? D, ich sündiger Menschl‘ Und er läßt nicht nach und wird immer freundlicher. Aber da sie sich keine Ursache denken können, werden sie nur um so mißtrauischer. Er will ihnen erklären, was er wünscht und möchte. Aber er ist langsam und schwerfällig, sobald’s zu Worten kommt, und so umständlich, daß er nie ein Ende findet. Er braucht zehn Worte, wo andere bloß eins brauchen. Und dann noch ist das rechte, auf das alles ankommt, nicht darunter. Wenn er eine Viertelstunde gesprochen hat, so hat er immer noch nicht den hundertsten Teil von dem gesagt, was er sagen möchte.

„Wenn ich ihm das Leben retten könnte, denkt er, ,dann würden Mutter und Sohn an die Aufrichtigkeit meines Willens glauben.“ Und er läßt den Buben nie aus den Augen. Aber das Haus brennt nicht, es kommt kein wütender Stier, kein durchgegangenes Pferd, nichts geschieht, das ihm Gelegenheit bieten könnte, seine Gesinnung zu beweisen. Da kniet er eines Tages in der Scheune nieder und betet laut: „O, Gott, schick ihn in eine Not, daß ich ihn retten darf und sie mir glauben. O, tue ein Wunder!‘ Seine Frau aber steht unter der Türe mit einem großen Korb, und der Bube steht neben ihr. Sie wollte Heu holen.

Und sie nimmt den Buben am Arm und zieht ihn still weg. Und draußen beginnt sie zu weinen. Der Mann kommt in die Stube. Die Stube ist so hell, denkt er, man glaubt, es sei Mittag und nicht Abend. Und sie schauen ihn an mit glänzenden Augen. Ist darum die Stube so hell, denkt er? Sie müsssen etwas Schönes erlebt haben, ich aber erlebe nie was Schönes? Und er setzt sich langsam nieder und ißt. Und er merkt, daß die beiden andern beinahe nichts in den Mund stecken, Kartoffeln schälen und sie dann gedankenlos auf die Seite legen, am Hering herumstochern, als sei er verfault, und das Düntibier schlürfen, als sei es abgestandenes Wasser. „Seid ihr krank ?‘ fragt er. „Nein, wir sind nicht krank,‘ antworten sie leise. Er schüttelt den Kopf und ißt weiter. Dann sagt die Mutter: „Bube, sag dem Vater (Gut’ Nacht‘ und dank ihm für das Essen.‘ Und der Sonnen-Lars spürt auf einmal, daß ihm der Bub um den Hals fällt, und hört ein zitterndes „Gut’ Nacht, lieber Vater, vielen Dank!‘ Das „lieber Vater‘ zittert noch lange in seinem Ohr nach, und er kommt sich vor wie erlöst und kann's doch nicht begreifen. Und da er im Bette liegt, umfängt ihn seine Frau mit unbeholfenen Liebkossungen – es ist schon gar lange her, daß sie es tat, ganz aus der Übung gekommen ist sie — und flüstert ihm zu: „O, was betest du, daß dir Gott eine Gelegenheit geben möge, dem Buben das Leben zu retten. Es ist nicht mehr nötig, du hast es ihm schon gerettet. Nun glauben wir dir!‘ Und es vergeht eine geraume Zeit, bis der umständliche, langsame Mann begreift, wie alles zusammenhängt, dann aber ist er um so froher. Denn von dem Tage an hat er einen Sohn!“ ...

24.

Erzählst du mir deine Geschichten, auf daß ich dich noch mehr liebe ?“ sagte Lore. „Gibst du dir Mühe, mich zu verführen? Ich bin ja schon verführt, warum hast du mir nicht in Berlin eine solche Geschichte erzählt. Ach, einen ganzen Winter haben wir verloren.“

„Wie hätt’ ich dir eine solche Geschichte erzählen können, ehe ich erlöst war ?“ sagte ich.

„Ich sehe dich an und freue mich dran,“ sagte Lore, „und höre es mit Freuden, wenn du mir Liebesworte sagst. Aber wenn du erzählst, dann sehe und höre ich Tieferes. Dann schaue ich in dich hinein und spüre deinen Glauben, daß alles überwunden werden kann. Denn diese Kraft ist in dir, das weiß ich nun, und darum legst du sie in die Menschen.‘ „Warum soll sie nur in mir sein und nicht in andern?“ rief ich. „Warum nicht auch im Saubern-Per, wenn die rechte Stunde kommt ? Ja, sogar in ihm.’

Und der große kräftige Mann stand vor mir und begann zu leben.

„Sein Name klingt wie die Erfindung eines Spaßvogels,“ sagte ich, „sein Hof aber ...“

„Erzähle nicht mehr, sitze bei mir,’ bat sie, „du hast mich so verliebt gemacht, nun möcht ich dich für mich allein haben !“

„Ich muß erzählen !“

„Du gehst von mir, wenn du an andere denkst. Nun sollst du nur an mich denken.“

„Dann gehe ich eben von dir.“

„So hart, Glorian, am zweiten Tag ?“

„D du, Lore, kannst du es denn nicht begreifen, daß du der Wind bist, der meinem Schiffe in die Segel bläst ? Muß ich nicht davonsausen ? Kann das der Wind übelnehmen ?“

„So erzähle denn, ich will versuchen, nicht schlechter zu sein als der Wind,“ sagte sie leise.

„Der Saubere-Per muß saufen,“ rief ich laut, „denn Saufen ist Leben. Säuft er nicht, so ist es ihm, als liege er im Schlaf, als wohne er in einem Keller, als fehle ihm die Luft. Trinkt er, dann ist er wach, herrlich ist die Welt und er der Stärkste, der Unüberwindliche, der keine Banden spürt und tut, was er will. Wenn es ihn gelüstet, den Hof anzuzünden, hopp, angezündet; wenn es ihn treibt, alles zu verkaufen, hopp, verkauft. Wenn er Lust verspürt, seine Frau totzuschlagen, hopp, totgeschlagen! Ein Betrunkener darf alles. Ein Betrunkener ist ein freier Mann. Ein Nüchterner darf nur tun, was erlaubt ist, pfui, das hält er nicht aus. Darum trinkt er. Denn dann ist die Welt groß und weit und himmelhoch. Einen andern Rausch als den Branntweinrausch kennt er nicht.

Die Frau hätte nichts dagegen, wenn er ermordet würde. Sie sammelt, und er zerstreut. Sie baut auf, und er reißt nieder. Sie gibt, er nimmt. Wenn Wünsche wirkten wie Kugeln und Messer, so wäre er schon lange tot. Wenn sie ein Mittel wüßte, ein Mittel, das kein Mensch entdecken könnte, vielleicht wagte sie's. Ja, sie würde sich nicht scheuen, oft sagt sie sich das, den Mann auf die allergewöhnlichste und offenbarste Weise totzuschlagen, wenn sie einen Sohn hätte und wüßte, daß der Hof auch ohne sie leben und wachsen könnte. Aber das ist unmöglich. Nur mit Mühe und Not können sie und die Töchter den Bau, der aus Rand und Band gehen will, zusammenhalten.

Sie beschaut den Koloß, den Herkules, der die Kräfte hätte, um das Schwerste und Mühseligste und Gefährlichste auszuführen, und der nicht mal so viel tut wie ein kleines Kind. Nein, nicht mal soviel, denn ein kleines Kind erfreut das Mutterherz, wenn es nur lächelt, und kann mit seinem Gelall und Geplapper die schlimmsten Sorgen verjagen. Er aber bringt die Sorgen, wenn er lallt, und wenn er plappert, so geschieht sicher ein Unglück. Wenn sie dann und wann aufatmet und die Augen aufschlägt wie andere Menschen, dann braucht sie nur den dicken, schreienden, grobhändigen Mann zu sehen, um die Last des Lebens zu spüren wie einen zentrigen Steinklotz.

Und eines Tages denkt sie an Kajsa. Sagt man nicht, daß Kajsa in irgendeinem Schränkchen ein Fläschchen mii Arsenik versteckt habe ? Ist das nicht etwas, dessen Geruch schon tötet? Liest man nicht oft in den Zeitungen, daß der und jener krank geworden ist, bloß weil in den Tapeten etwas von diesem Arsenik gewesen ist, so daß sich in einem feuchten Zimmer die Luft in Gift verwandelt ? Wenn sie nur ein paar Brosamen Arsenik hätte, nur ein paar Krümchen, vielleicht würden ein paar Stäubchen genügen. Die würde sie ihm unters Bett legen, auf den Kasten streuen, ins Kissen schmuggeln, in die Balkenfugen stopfen.

Sie geht zur Kajsa und spricht eine halbe Stunde lang vom Wetter. Und eine weitere halbe Stunde von Kühen, die nicht kalben, von Ziegen, die einen Kropf haben, von Hühnern, die keine Eier legen wollen.

Kajsa schaut sie streng und forschend an und sagt: „Ich kann mir nicht denken, daß du zu mir gekommen bist, um bloß vom Wetter, von Kühen, Ziegen und Hühnern zu reden. Wärst du ein Mann, so wüßt’ ich, was du von mir wolltest, denn das ist nicht schwer zu wissen. Alle Männer wollen dasselbe, und wenn sie auch vom König reden oder von den Pferdeprämierungen oder den Reichstagswahlen. Aber eine Frau will gar vielerlei. So sag denn, was du willst.!‘

Die „Saubere-Britta‘ sieht ein, daß sie deutlicher werden muß.

„Ich hab’ gehört, daß es ein gutes Gift gibt, um die Mäuse zu töten,’ sagt sie.

„Ja, das habe ich auch gehört,‘ sagt Kajsa, „hast du denn so viele Mäuse ?‘

„Ich weiß mir gar nicht zu helfen vor Mäusen, sagt Britta unsicher, denn sie kann nicht gut lügen, das hat man ihr schon oft vorgeworfen.

„Aber du hast ja drei Katzen,‘ sagt Kajsa lächelnd.

„Sie sind faul und verwöhnt, am Tag schlafen sie und des Nachts rammeln sie,“ sagt Britta.

„Höre Britta,“ sagt Kajsa leise und tritt nahe an sie heran, qmeinst du nicht eine große Maus, eine mannesgroße ? Eine Maus, für die man Bären haben müßte, um sie totzubeißen, und nicht Katzen ?‘

Britta bringt den Mund nicht auf. Es geht über ihre Kräfte. Und ich will morden, denkt Jie, ich, die nicht einmal davon reden kann ?

Kajsa lächelt verächtlich. „Arsenik ist ein gutes Gift,‘ sagt sie, für kleine und große Mäuse.‘

„Ja, Arsenik,‘ sagt Britta und ist froh, daß ihr die andere das Wort vorgesprochen hat. Ja, wenn man Arsenik hätte.‘ Und sie guckt Kajsa verstohlen an.

Kajsa schaut gleichgültig drein. Man kann an ihrem. Gesicht nichts ablesen. Wie ein hölzernes Gesicht ist's auf einmal.

„Der eine hat Geld und der andere hat Arsenik,' sagt Kajsa.

„Wird wohl so sein,’ sagt Britta und merkt, daß der Handel endlich die rechte Form kriegt.

„Hast du hundert Kronen?‘ fragt Kajsa barsch.

Nein, die hab ich nicht,“ stottert Britta. Soviel Geld hat sie schon seit Jahren nicht mehr beisammen gesehen. Und sie hat die Hoffnung aufgegeben, jemals wieder eine solche Summe beisammen zu haben.

Kajsa zeigt ihr den Rücken und sagt: „Dann habe ich auch kein Arsenik !‘

Britta wird böse, denn sie ist eine ehrliche Frau, die ihrer Lebtag gearbeitet hat. Sie spuckt aus, wirft die Türe hinter sich ins Schloß, hört noch wie Kajsa höhnisch auflacht, und stapft dann wieder heim ins alte Elend.

Und alles geht seinen gewohnten schlimmen Weg. Der Frühling ist wie der Sommer, der Herbst wie der Winter. Sie arbeitet wie ein Roß und wundert sich, ob sie das noch lange aushalten wird.

Aber eines Abends steht der Mann mit triefenden Augen in der Küche und jammert. Er hat das trunkene Elend.

„O, was für ein Leben, o, was bin ich für ein Schwein, ein Fötzel,’ stöhnt er, zund ich kann nichts dagegen tun!‘

„Häng’ dich auf,‘ sagt sie grob und ungerührt.

„Meinst du ?! fragt er.

„Ja, häng’ dich auf, dann ist's dir und mir wohler !'

Er schaut sie lange an wie ein kranker Hund und geht dann schwankend hinaus. Sie sieht, daß er nach der Scheune taumelt. Sie will ihm nach. Aber sie denkt an den Hof und an die Tochter und zwingt sich gewaltsam zum Stehenbleiben. Sie hält sich an der Tür, damit ihr die Füße nicht davonlaufen.

So steht sie zwei Stunden lang, dann fällt sie ohnmächtig nieder. Die Tochter findet sie und bringt sie nur mit Mühe zum Leben zurück.

„Ich muß in die Scheune,‘ sagt sie, „,ich muß in die Scheune.‘ Aber sie kann nicht, sie ist zu schwach. Und das junge Mädchen wagt sie nicht zu schicken, solche Angst hat sie.

Da kommt einer, der Kartoffeln kaufen will. Den schickt sie in die Scheune.

Mit bleichem Gesicht kehrt er zurück.

„Oj, oj, oj,’ jammert er.

„Ist er tot? fragt Britta.

„Ja.'

An einem Strick ?“

,Ja.'

„Gut,’ sagt sie, „jetzt wird's schon gehen !“

Und sie umarmt ihre Tochter und fürchtet nichts mehr."

25.

Ja, das ist die Geschichte vom Sauberen-Per,'“ sagte ich.

„Eine traurige Geschichte,“ stieß Lore hervor, „,ich wußte gar nicht, daß du so hart bist. Nun weiß ich, daß ich dich noch gar nicht kenne. Das schreckt mich, du und deine Geschichte! Setz’ dich neben mich und leg’ deinen Arm um mich. Ich fürcht’ mich sonst. Ich glaub’, ich kann heut’ nacht nicht schlafen, immer muß ich an seinen schlimmen Tod denken.

„Er muß sterben,“ sagte ich. „Ich weiß es."

„Kann nicht ein bißchen Glück in seinem Sterben sein ?" sagte sie langsam und schaute mich flehend: an. Unter ihren Blicken trat das Schicksal des Säufers in ein anderes Licht. Das Sterben blieb, aber es war die Gnade des Sterbens.

„Er kommt in die Küche,“ begann ich von neuem, „ber nicht am Abend, sondern am Morgen.

Er fühlt sich schwach und wie zerschlagen, er ist reumütig gestimmt und bejammert sein Leben.

„Verzeihe mir,‘ sagt er zu Britta, „verzeihe mir!“

„Ich hab dir schon hundertmal verziehen,“ sagt sie, ,und immer wieder hast du getrunken, was nützt da das Verzeihen? Dir und mir ist nicht zu helfen !“

„Ich bin ein Lump, ein verdammter Lump, stottert er und stiert trübe auf die Frau und dann in die Sonne, ohne zu blinzeln, wie andere in den Mond schauen.

„Wenn ich das früher gewußt hätte,’ stöhnt er und beginnt zu weinen.

Sie weint auch. Heute begreift sie, daß sie ihn früher einmal geliebt hat. Es ist lange her, seitdem sie das begriff. Sie zieht den weinenden Mann auf eine Bank nieder und setzt sich neben ihn.

„Weißt du, daß der Hof zerfallen ist?‘ fragt sie.

„Ja, ich weiß.

Weißt du, daß ich aussehe wie eine Sechzigjährige und bin doch erst eine Vierzigerin ?“

„Ja, ich weiß.‘

„Weißt du, daß unsere Tochter arbeitet wie ein Mann mit ihren siebzehn Jahren, und sollte doch nähen und weben und tanzen und fröhlich sein, statt mit einem Pferde umzugehen.“

„Ja, ich weiß. Aber ich kann nichts dagegen tun.‘ Und er läßt die Arme hängen, als wären die Hände so schwer wie Bleigewichte. „Der Schnaps ist stärker als ich. Jch bin zu nichts mehr nütze. Wenn ich nur etwas wüßte, was ich dir und ihr und dem Hofe zuliebe tun könnte, ich tät's mit Freuden. Aber wenn ich auch etwas fände, zu Ende brächt’ ich's ja doch nicht, das weiß ich !‘

Da schaut sie ihn lange an. Und sie mustert ihn, wie eine alte Mutter ihren Sohn mustert, der in den Krieg zieht. Sie schaut ihn an wie eine Braut ihren Bräutigam, der ihr einen Mord gestanden hat und den sie nun zum Richter schickt, damit seine Seele gerettet werde. Sie schaut ihn an mit einem Blick jenes großen, übermenschlichen Erbarmens, das seinen Maßstab an Dingen nimmt, die wir nicht kennen.

„Du kannst etwas tun, sagte sie langsam und wägt jedes Wort, „etwas Großes.‘

„Kann ich etwas Großes tun?‘ fragt er ungläubig und leuchtet auf.

An diesem Leuchten kennt sie den Geliebten wieder. So waren seine Augen vor zwanzig Jahren. Und sie bereut ihre schlimmen Gedanken. Aber dann bezwingt sie die weichherzige Anwandlung. Abends wird er wieder saufen und am nächsten Tage auch. Er kann ja dem Branntwein nicht widerstehen.

„Ja, du kannst etwas Großes tun,‘ sagt sie zum zweitenmal und muß eine Pause machen, weil ihr das, was sie ihm zurufen will, so viel Mühe macht, daß sie Angst hat, sie bringe den Satz nicht zu Ende, „wenn du für immer von uns gingst!‘

Jetzt war's heraus!

Er begreift sie. Er steht auf. Was für ein großer, starker, bäumiger Mann ist er, denkt sie.

„Ich geh’, sagt er.

„Nein, gehe nicht,‘ schreit sie. Nun weiß sie, daß sie ihn immer noch liebt. O, was tut's, wenn er säuft. Wenn sie nur dann und wann den richtigen Per sieht. „Gehe nicht.'

„Doch, ich geh’, sagte er, „ich will auch einmal etwas Großes tun.‘ Und er beugt sich zu ihr hinab und küßt sie. Und da sie aufspringen will, um ihn zu halten, drückt er sie nieder. O, wie stark er ist, denkt sie, und spürt die süße Schwäche wieder, die sie vor zwanzig Jahren gespürt hat, als er sie zum erstenmal in die Arme nahm.

Und da sitzt sie nun und will aufstehen und kann nicht. Denn die Beine versagen ihr den Dienst. Er aber geht zur Türe. Sie schaut ihm nach und kann sich immer noch nicht erheben. Auf der Schwelle wendet er sich noch einmal um. Er lächelt und winkt mit der Hand ,Lebwohl.‘ Dann ist die Türe zu.

Der Kopf will ihr zerspringen. Sie betet, um nicht verrückt zu werden.

Am andern Tage zieht man ihn aus dem See. Er lächelt immer noch. Die Leute wissen erst nicht, wer er ist, so jung sieht er aus. Aber sie erkennt ihn wieder.

Und sie arbeitet und arbeitet. Langsam wächst der Hof. Ein paar gute Sommer helfen ihr.

Immer größer wird der Tote in ihren Gedanken. Sie denkt nicht mehr daran, daß er getrunken hat. Sie denkt nur daran, wie er gestorben ist.

Und sie erlebt's, daß ein tüchtiger Mann auf dem Hofe wirtschaftet. Das ist der Mann ihrer Tochter.

Da braucht sie nicht mehr an den Hof zu denken. Da darf sie in jeder wachen Stunde an ihn denken. Und sie wird alt und gebrechlich und hat den Himmel immer mehr und mehr im Sinn und weiß, daß sie dort oben mit ihm zusammentreffen wird. Denn ist Gott nicht die allergrößte Liebe und die unbegreiflichste Barmherzigkeit und Gnade ?“ ...

Ich hatte das letzte leise gesprochen und war erschöpft wie nach einem Fieber.

26.

Er paar Augenblicke lang schien es mir, als hätte ich grausam und rücksichtslos das Schicksal eines Menschen vorausbestimmt, und als müsse es sich nun erfüllen, wie ich es vorausgesagt. Ein Schrecken faßte mich. Aber dann lächelte ich und der Schrecken verschwand. Wie einen Traum schüttelte ich alles ab und zog Lore an mich. Ihre Augen schimmerten feucht.

„Weinst du ?“ fragte ich verwundert.

„O, Glorian,“ sagte sie und faßte wie bittend meine Hände, ,,du bist ja ..."

„Was bin ich denn?“’ fragte ich. „Nichts !"

„Erinnere mich nicht an Berlin,“’ bat sie, „nein, du bist ...'

„Ein Schwadroneur !“

„Nein.“

„Was denn ?“

Sie schaute mich lange an und schüttelte dann den Kopf.

„Ich sag's noch nicht. Es gibt in den Märchen Türen zu Schatzkammern, die unversehens ins Schloß fallen und sich nie mehr öffnen, wenn man vorzeitig den Mund auftut. Ich will an diese Türen denken!“

Und sie stand auf und ging herum, ordnete dies und jenes wie ein fleißiges Hausmütterchen und sagte kein Wort mehr, das mir das Rätsel hätte lösen können.

Vor dem Einschlafen aber flüsterte sie auf einmal: „So ist's denn wirklich wahr, daß wir Frauen inspirieren, begeistern, Helden machen können, warum zaudern wir so lange ?“ Und nach einer Weile: „Ich will für dich weben, wenn das Geld zu Ende ist, damit du nicht hungern mußt.“

Da dünkte es mich, daß nun alles in Ordnung sei und daß ich ruhig sterben könnte, wenn’s sein müßte, ohne etwas Wichtiges zu verlieren. Und glücklich schlief ich ein.

27.

Es gefiel uns nicht mehr im Birkenrainer Häuschen. Wir hatten viele Gründe dafür, jedes die seinen, wenn es auch einen gemeinsamen Hauptgrund gab, der alle andern übertraf: wir wollten einsam sein. Nachtbuben ssschreckten uns aus dem Schlaf, Wagen rasselten uns durch die schönsten Gedanken, das Gegröhl eines Betrunkenen konnte uns einen Kuß verderben. Wozu brauchten wir Menschen? Waren wir uns nicht selber genug?

Schön war’s, an Gutwettersonntagen den sommerbunten Kirchgang der Bauern zu sehen, gewiß, aber ich schaute die weiß und rot und schwarz daherkommenden Mädchen nicht mehr an, und Lore war nicht in der Stimmung, Farbenstudien zu machen und trachtenhistorische Reflexionen anzustellen. Sie genoß wohl das erstemal den bunten Anblick wie eine Erinnerung an die Zeit, wo die ganze Welt farbig gewesen war, erkannte in der Haube einen Nachkommen der Haube der Renaissance, im Mieder alte Hoftracht, in der Schürze ein Kleidungsstück, das früher auch Prinzessinnen als etwas Wertvolles und Schönes gegolten hatte. Sie sah lustige Muster und fröhliche, reizvolle, überraschende Farbenzusammenstellungen. Aber sie wollte ja jetzt nicht weben, sondern lieben!

Einsamkeit und Liebe! Aber wo war die JInsel, die uns aufnehmen wollte?

„Wieviel Geld hast du ?“ fragte sie.

„Fünfundfünfzig Kronen,“? sagte ich.

„Und ich zweihundert,“ sagte sie. „Gut, laß deine deutsche Korrespondenz fahren! Wir wollen glücklich sein, solange mein Geld reicht !“

„Und dann ?"

„Dann reise ich mit deinem Geld wieder nach Berlin zurück !“

„Und ich:...“

„Du übernimmst wieder deine Korrespondenz ...“

„Ist's dir Ernst ?“

„Ach nein, aber was sollen wir denn andres tun ? Denke nicht dran.“

„Ich denke nicht dran. Ich glaube bloß, daß alles gut werden wird.“

„Wie denn ?“

„Ja, wer das wüßte! Vorläufig kümmere ich mich nicht um meine Geschäftsbriefe. Aber wohin mit deinen zweihundert Kronen? Ich weiß bloß das eine: lange müssen sie reichen, lange.“

,„Ja, lange, ein paar Monate !“

„Ein paar Jahre.“

„Woll gar eine Ewigkeit,“ lachte sie.

„Warum nicht,“ sagte ich ernsthaft, „das Geld ist viel wert, wenn man den richtigen Ort findet.“

Der richtige Ort! Wer ihn wüßte!

Wir standen auf dem Hügel hinter dem Dorf und schauten in die Berge und Wälder hinein, die sich nach Westen zu ineinander schoben und hintereinander emporhoben. Da war der Alte Berg, wie ein Panzerschiff, dem die Kanonentürme und Schornsteine weggeschosssen worden sind; der Sommerberg, kahl wie ein Fell, das die Haare gelassen hat; der Böse Berg, wie ein Eckzahn zwischen abgeschliffenen Stockzähnen, der Sonnenberg, wie ein Hüttendach, der Silberberg, wie ein Kamelrücken. Was bargen diese Wälder? Was hüteten diese Berge ? Versteckten sich dort hinten nicht Hunderte von kleinen Seen ? Vielleicht auch Häuser, Hütten, glückliche Einsamkeit ?

Wir fragten den Saus-Lars. Der schickte uns zur Hinkenden Britta. „Die kennt sich aus,“ sagte er, „das ist die einzige, die noch in die Sennhütten zieht !“

Ich vernahm zum erstenmal, daß es hier oben Sennhütten gab. Das Wort heimelte mich an, Heimaterinnerungen tauchten auf und versprachen ein freies, einfaches, ursprüngliches Leben.

Die Hinkende Britta wohnte drei Höfe hinter dem Schulhause. Alt und schrumpflig war sie, und ihr Rücken glich einem Baum, der sich bei einem Sturm so tief gebogen hat, daß er sich nicht mehr gerade strecken kann. Aber die Äuglein glänzten aus all den Runzeln heraus wie zwei Quellen zwischen dürren Asthaufen und sprudelten so viel Fröhlichkeit und Güte hervor, daß die Hälfte davon genügt hätte, das Dorf in ein Paradies zu verwandeln, wenn sie gleichmäßig verteilt gewesen wäre.

Britta nickte, lächelte und schmunzelte, sobald sie nur das Wort Sennhütten hörte, und ihre Rede begann zu fließen wie der Wein aus einem vollen Faß, das angestochen worden ist.

„In zwei Tagen fahr’ ich nach den Lichtsennhütten, sagte sie, „fünf Stunden weit, vor dem Bösen Berg.“ Sie zeigte nach Westen, obwohl wir in der Stube standen und im Westen nichts anderes zu sehen war als die aufgekleisterten Titelblätter einer illustrierten Zeitung. „Wie ich mich freue! Für mich ist der Winter nur ein langes Warten auf den Sommer. Ich möchte am liebsten drüber wegschlafen !‘ Sie lächelte und wies ein gelbes, tiefentblößtes, prächtiges Gebiß. „Aber die Kinder sorgen schon dafür, daß ich nicht schlafe.“ Und sie zeigte auf eine ganze Schar neugieriger Blondköpfe, die den Tisch garnierten, wie Kasperlefiguren aus den Wandbetten sahen, um die Türpfosten guckten wie Schelme und Geheimpolizisten und sogar von draußen her durch die Fenster glotzten, wobei ssie die Nasen an die Scheiben quetschten, daß man erschrak, wenn man sie sah. „Es sind nicht meine Kinder,“ fuhr Britta fort, „aber das kommt aufs gleiche heraus. Sie gehören meinem Bruder. Und zwei kommen mit in die Sennhütten, der da und die da.’ Sie tupfte auf ein Büblein, das noch im gelben Rock herumlief und eine allzugroße Mütze mit zackig zerfetzttem Schirm trug, die nur darum nicht bis auf den Hals heruntersank, weil sie an den wagrecht abstehenden Ohren hängen blieb; und auf ein Mädchen, das ohne weiteres im Märchen von Rotkäppchen als Hauptperson hätte auftreten können, wenn man ihm noch den Kuchen und den Wein zu tragen gegeben und seine Unsauberkeit dem langen Beerensuchen zugeschrieben hätte. „Und fünf Kühe nehm ich mit,“? Britta sah noch glücklicher aus als bei der Erwähnung der Kinder, „Blume, Krone, Mairose, Süßnase und Fräulein. Wie die sich erst freuen!“

Ich ließ mir die Bedeutung, Lage und Einrichtung der Sennhütten erklären.

„He, das sind die Weideplätze. Früher hatte man nicht soviel Gras wie jetzt. Da konnte man ohne die Sennhütten nicht leben. Und die Sennhütten sind gröfer und größer geworden, je größer das Dorf wurde, zu dem sie gehören. Und oft sind sie zu richtigen Dörfern geworden, wenn im Heimatdorfe nicht mehr genug Platz war für die Jungen. Das war, bevor man nach Amerika reiste, dort haben ja jetzt alle Platz,“? sagte sie seufzend. „Mit den Sennhütten war's wie mit den Erdbeeren. Die schießen auch ihre Ausläufer nach allen Seiten, und die Pflänzchen werden zu Pflanzen und treiben wieder Ausläufer. So war's bei uns mit den Dörfern, die Sennhütten gründeten, und mit den Sennhütten, die zu Dörfern wurden. Aber das hat jetzt aufgehört. Vor zwanzig Jahren waren wir in den Lichtsennhütten zwölf Sennerinnen und hundert Kühe. Was für ein Leben! Jeden Sonnabend kam ein Jungknab vom Dorf herauf mit einem Pferd. Dann wurden die Butterfässser und Käse auf den hölzernen Saumssattel geschnallt. Habt ihr schon einen gesehen ? Und das Pferd trug alles vorsichtig den steilen, holprigen Weg hinunter, und wir schauten ihm nach und dem Jungknaben, der gewöhnlich so eifrig hinter sich blickte, als sei ihm der Kopf verkehrt aufgesetzt, denn er war nicht nur wegen Butter und Käse so weit gelaufen! Und noch lange schauten wir ins Tal hinunter, bis die Hufschläge verklungen waren, und oft noch länger, und dachten an die, die jetzt daheim im Dorf arbeiteten und mit der Ernte soviel Mühe hatten. Und wir freuten uns, daß wir es so schön und friedlich hatten, hoch oben, wo man soviele Berge und Wälder und Seen sieht und dahinter immer wieder andere Berge und Wälder und Seen. Und ich kam jeden Sommer, und meine Genossinnen wechselten, denn immer wieder gab es eine, die von nun an im Tale blieb, weil sie sich an Mann und Hof gebunden hatte. Und jetzt bin ich die einzige !“

„Fürchtest du dich nicht ?“ fragte ich.

„Fürchten ?“ antwortete sie. „Warum ? vor wem? Hier im Dorf hat man Grund, sich zu fürchten. Man kann einem angetrunkenen Landstreicher begegnen. Das hat schon manchem Mann einen Messerstich verschafft und einem Mädchen noch Schlimmeres. Und was soll eine Frau machen, wenn der Mann auf dem Felde ist und sieben Zigeuner kommen ins Haus ? Hier im Dorfe kann es brennen. Wenn ein Haus brennt, dann brennt das ganze Dorf. Und wenn einer krank wird, so wird das ganze Dorf krank. Aber dort droben kann einem nichts geschehen. Und doch wollen die jungen Mädchen nicht mehr in die Sennhütten. Jetzt wollen sie im Dorfe bleiben und tanzen, die Jugend genießen, wie sie sagen. Als ob wir damals unsere Jugend nicht genossen hätten, die dummen Hühner. Und die Männer sagen: an den Sennhütten verdient man nichts. Sie kosten zuviel Zeit. Und Zeit ist Geld. Früher war die Zeit kein Geld, sondern ein Glück, an dem man nie Mangel litt. Jetzt hat einer um so weniger Zeit, je mehr Geld er hat. Aber das ist nun mal so. Und darum behält man jetzt im Sommer die Kühe im Stall, und auf den Wiesen und Äckern dort oben, die man mit vieler Mühe urbar gemacht hat, wächst der Wald. Die Jungen aber fahren nach Amerika und sagen: in Schweden ist kein Platz !“

Britta verschnaufte.

„Fünfzig Sommer bin ich dort oben gewesen, und nur einen Sommer hab ich verfehlt. Denn da habe ich das rechte Bein gebrochen, so daß ich jetzt noch hinken muß. Und als ich im Bett lag, da habe ich einen Vers gemacht. Ich weiß nicht, wie's mir gegangen wäre, wenn ich nicht diesen Vers gehabt hätte. Den hab ich gesungen, und das hat mich getröstet. Aber seitdem hab ich keinen Vers mehr gemacht. Es ist auch nicht nötig gewesen.“

„Was war das für ein Vers ?“ fragte ich.

Britta stellte sich in Positur und begann, ohne zu zögern, mit einer dünnen, klaren, etwas sschleppenden Stimme:

„Wenn ich so nach den Bergen blau von ferne so hinüberschau, dann kommen mir vom vielen Sehnen, tief aus dem Herzen tausend Tränen.“

Das Lied hatte etwas Heiliges, trotz der einfachen Melodie, die von Zeile zu Zeile kaum wechselte und sich anhörte wie ein Vogelruf, der auch immer der gleiche ist, und dem ergriffen zu lauschen man doch nicht müde wird.

„Wir kommen mit, Britta!‘“ sagte ich. Die Alte schaute uns zweifelnd an. „Ihr? Wars wollt ihr dort oben machen ?“‘ fragte sie.

„Die Berge anschauen,“ sagte ich.

„Ihr werdet’s nicht lange aushalten,“ sagte Britta.

„Wer weiß,“ sagte ich und kniff Lore verliebt in den Arm, daß ihre Wangen feuerrot wurden.

„Habt ihr denn Zeit ?“ fragte Britta.

„In Hülle und Fülle,“ sagte ich.

„Ihr seid merkwürdige Leute,“ sagte Britta und schaute uns freundlich an. „Es ist schon lange her, daß ich junge Menschen angetroffen habe, die Zeit hatten und in die Einsamkeit wollten. Aber ihr seid ja auch keine Schweden. Vielleicht sind bei euch daheim alle so wie ihr.'“

„Vielleicht,“ sagte ich, „möglich,“ sagte Lore, und wir lachten beide.

28.

Lebewohl Birkenrain, lebwohl Ackerbucht. Die Wohlgerüche der Ebereschendolden und des wilden Rosmarins liegen in der Luft, groß und prächtig prangen die palmenschönen Farnkräuter. Üppig ist das Laub, verschwenderisch blinkt und blitzt und glitzert das Sonnenlicht, Tag und Nacht. Wo bist du, Mond, wo gingt ihr hin, Sterne ?

Der Sommer ist da mit Summen, Brummen, Sausen, Brausen, Rauschen, Rasscheln und Prassseln. Tausend Käfer im Gras und auf den Wegen: goldene, schwarze, grüne, rote, ungeheuerliche, abenteuerliche und leine, feine, unglaubliche und altbekannte, kriechend, wimmelnd, beißend, kratzend, kitzelnd, stechend. Tausend Bienen, Hummeln, Wespen, Fliegen, Mücken in der Luft. Hundert Vögel auf den Bäumen. Kuckucksruf, bald im Osten, bald im Westen. Sengende Sonne, kühlendes Wasser. Und aus dem See springen die Hechte! Ja, das ist Sommer. Man hört’s, man sieht’s, man riecht's, man spürt's, man erlebt's mit Wohlbehagen vom Kopf bis zu den Füßen und tief bis ins innerste Herz hinein. Donner und Doria, das ist ein Leben!

Die Welt ist nicht mehr durchsichtig, jede Wiese wird eine Welt für sich, jeder Busch ein Versteck, heißa, für Liebespaare! Trostlos offen starrt im Winter die Erde zum Himmel auf, fliegt ihre Sehnsucht haltlos ins Weite. Beschattet, behütet, beschirmt, unter Dach lebt sie jetzt für sich, braucht nicht Gott, nicht Himmel, nicht Hilfe, ist sich selber genug. Beschaulich sein will der Mensch, festwachsen will er. Ruhig dastehen wie ein Baum, der seine Zweige nach allen Seiten und gen Himmel sendet und glücklich ist. Hinsitzen möchte man, wo das Gras am höchsten ist, und fröhlich mitwachsen! Nicht wahr, Lore ? Ja, Glorian!

Drum die Türe geschlossen, den Schlüssel unter einen Stein, Kochgeschirre, Eßwaren, Decken in Brittas roten, zweirädrigen Karren.

„Und die Handharmonika, Glorian ?‘

„Die kann hier bleiben, ich brauch sie nicht mehr !“

„Wenn du eine Guitarre hättest, Glorian, ich habe die Guitarren so lieb. Dann und wann ein bißchen darauf klimpern, das tät ich über die Maßen gern. Denk dir, sechs Saiten, von denen die unterste wie ein Bär brummt und die oberste wie ein Vogel singt."

„So kaufen wir eine Guitarre!“

„Sie wird wohl an die zehn Kronen kosten, das ist viel.“

„Ich kaufe dir eine Guitarre in Ackerbucht.

„Wie lustig wird sich ihr heller Bauch und schwarzer Hals im roten Karren ausnehmen, Glorian !“

„Bei jedem Stoß wird sie klingen, und wenn ein Wind über sie wegstreicht, tönt sie von selbst.“

„Wir brauchen sie auf der Alm bloß an einen Baum zu hängen, so haben wir genug Mussik.“

„Im Walde werd’ ich sie an einem Bande tragen wie ein Troubadour, und wenn ich eine Tanne streife, dann wird sie klingen.“

„Und wenn du mich heimlich küssen willst, dann klingt sie auch !“

„Abgemacht, Lore, in einer Stunde kannst du die Guitarre ans Herz drücken — nein, nicht ans Herz, das gehört mir ~ kannst sie in deine Arme nehmen, nein, auch die gehören mir ~ ach, Lore, ich glaub nicht, daß ich dir eine Guitarre kaufen kann. Du sollst nur mich lieb haben ... Ich will dir zwanzig lustige Schweizerliedchen singen und ein sschwermütiges dazu, das noch schöner ist als alle lustigen zusammen. Ich will pfeifen wie ein Vogel, wenn’s keine Vögel gibt, und brummen wie ein Bär, wenn du ohne Bärengebrumm nicht leben kannst ... Ich will deine Guitarre sein, Lore.“

Oh, Glorian, lieber Narr, guter Narr, recht hast du .... Wie konnt’ ich nur so dumm sein und nach anderer Musik verlangen als der Musik deiner Stimme ? Verzeih mir!!“

„Schon verziehen, schon vergessen. Und die Handharmonika versschenk ich !“

Die hinkende Britta tritt fir und fertig aus dem Haus. Das Roß wird vor den Wagen gespannt. Der Bub mit der großen Mütze und das Rotkäppchen sitzen schon auf dem hochrädrigen Fuhrwerk und schauen verächtlich auf die Geschwister herab, die zu Hause bleiben müssen und nun hochmütig zu ihnen hinaufschauen, weil sie zu Hause bleiben dürfen. Langsam und etwas mürrisch schwanken die Kühe aus dem Stall. Sie sind im Winter bequem geworden. Hoppla, Blume, du alte, die du so verdrießlich aussiehst wie ein Beamter, der bei der letzten Beförderung übergangen worden ist. Und du, Krone, mit dem sehnsüchtig gestreckten Kopf und den versschleierten träumerischen Augen. Und du, Mairose, mit einem Rückgrat so zackig wie eine Alpenkette und einem Hinterteil so kantig und mager, als habe man deine Haut über die bloßen Knochen gehängt wie ein Tuch über einen Stuhl. Und ihr, Süßnase und Fräulein, beide noch jung und rund und mit Rücken, die einem nicht weh tun, wenn man mit der Hand drüber fährt. Rappelt euch auf, seid fröhlich. Seht die Geißen, denen braucht man's nicht zuzurufen. Die schmalmäuligen, eisbärpelzigen Tiere mit den weggescheuerten verhornten Kniescheiben und dem lustigsten Kopf, den man sich denken kann, hüpfen wie außer sich in den Hof. Trotzköpfig und eigensinnig, rauflustig und wild sind sie, als seien sie erst vorgestern von einem Jäger eingefangen und gestern notdürftig gezähmt worden.

Jetzt kesselt der Karren aus dem Hof. Brittas Bruder hat das Leitseil in der Hand. Hinterdrein die Kühe, die Alte mit den Ziegen und zu hinterst Glorian und Lore.

„Wieviel Geld hast du bei dir ?“ fragt Lore.

„Zwanzig Kronen,“ antworte ich, „aber in Kupferstücken – denn wer soll einem in. den Sennhütten Geld wechseln ~ ich meine, ich sei ein Millionär !“

„Und das übrige ?“

„Auf der Bank in Ackerbucht.“

„Aber wenn die Bank Konkurs macht ?“

„Dann werd’ ich ein Holzhauer !“ schwör ich.

„Und ich eine Sennerin!“ lacht sie.

Die Pferdehufe klingen, die Räder lärmen wie Artschläge, die Kuhschellen läuten tief, die Geißenglöcklein hoch und hell, Britta ist bald hinten, bald vorn mit ihrem Singsang: „Komm denn, Kühlein, komm, komm denn, oho os, oho ~r ro,“ und ich jodle: „Hodi riaduiai riaho ...“

Das ganze. Dorf steht vor den Häusern oder schaut zu den Fenstern heraus. „Auszug der Germanen,“ denk ich, „Völkerwanderung, Suche nach neuen Weideplätzen.“ Und es ist mir, als fange die Kultur schon an, von mir abzufallen wie ein zerrissenes Kleid. Ich komme mir vor wie ein Hirte vor tausend Jahren oder noch früher und spür: Nun geben wir uns jenem Leben in die Hände, dem sich der Mensch schon zur Zeit der Assyrer und Wikinger in die Hände gegeben hat, dem Leben der einfachen Zusammenhänge, der Naturnähe, wo keine andere Hilfe ist als die der eigenen Kraft, und wo das Geld nicht mehr zu geben vermag, als die Natur umsonst gibt. – – –

„Heute ist unsere Hütte noch erfüllt von unsern Küssen,“ sagt Lore, „,,vielleicht auch morgen noch. Aber übermorgen riecht sie nach Gras und Birken und Brettern und Balken und später nach Heu und Apfelblüten und so immer wechselnd, der eine Wohlgeruch des Sommers nach dem andern, als seien wir nie dagewesen. So ist's auch, wenn man stirbt ... ein Duft ein paar Tage lang, das sind die Worte, die man gesprochen, die Erinnerung an die Liebe, die man ausgegossen ... und dann vorbei ... Das ist schrecklich !‘

„Ich kann nicht an den Tod denken,“ antworte ich, „der Tod hat jetzt keine Wirklichkeit für mich. Und glaubst du nicht, daß es leichter ist zu sterben, wenn man wahrhaft gelebt hat ? Und scheiden wir uns nicht heute von den Menschen, auf daß wir, Seite an Seite, noch tiefer in dieses Leben hineindringen, das uns nun einmal gegeben ist und von dem wir noch so wenig wissen? Schau um dich, wir sind im Walde. Bist du schon in einem solchen Walde gewesen ?“

Ein Märchenwald!

Wunderliche schwarze Felsen mit grünem Moos. Man glaubt, Kobolde zu erblicken und viele, viele seltsame Tiere. Hohe Tannen lassen lange Bärte herunter hängen. Man sieht den Himmel nicht. Man vergißt ganz, daß es einen Himmel gibt. Man vergißt, daß es Wiesen und Dörfer gibt. Die ganze Welt ist auf einmal nur moosgrüner Wald. Man wagt kaum stehen zu bleiben, weil man Angst hat, auch ein Stein oder eine Tanne zu werden. Man greift sich ins Haar, um sich zu vergewissern, daß es noch nicht in Moos verwandelt worden ist. Was für ein seltsamer Wald! Welch gewaltiger Totengräber ist das Moos!

Es überwuchert alles, das umgefallen ist. Alles deckt es zu wie grüner Schnee. Aber Schnee taut auf. Moos taut nie auf. Und wo das Moos ist, da wächst kein Bäumchen, keine Heidelbeere, keine Preiselbeere. Heimtückisch ist es und friedlich zugleich. Meterhohe Steine bringt es zum Verschwinden, mannsdicke Stämme zeigen sich nur noch durch eine kaum sichtbare Rundung. Der Wald ist voll Grabhügel. Wenn man hier stürbe und nicht aufgefunden würde, wäre man nach Jahr und Tag verschwunden so gut wie Stein und Stamm. Wenn das Moos allmächtig würde, so wäre die Welt nach hundert Jahren eine grüne Decke. Hütten, Häuser, Bahnhöfe, Paläste, Warenhäuser, Bierbrauereien, Fabriken, Museen, Parlamentsgebäude, Kasernen, Kirchen, Kinos, Flugmaschinenschuppen, alles wäre unter dem Moos. Vielleicht ist das die Sehnsucht des Mooses, wie es die Sehnsucht des Wassers ist, alles zu ertränken, die Sehnsucht des Feuers, alles zu verbrennen, die Sehnsucht der Erdkugel, in Millionen Stücke zu zerfliegen ... Aber in der Hitze trocknet das Moos und wird dürr wie Heu. Nun ist es tot, jubeln die Tannen. Doch es regnet, und da füllt sich das Moos wieder, und schwillt auf wie ein Schwamm, den man ins Wasser legt. Mögen sich die Tannen vor dem Umfallen hüten! Das Moos hat kein Erbarmen. So ist die Natur: lieblich und schrecklich. So ist das Moos. Und ist nicht auch der Mensch so ?

„Kannst du schrecklich sein, Lore ?“ frage ich.

„Ich weiß es nicht,“ antwortet sie und zittert.

Ein kleiner See zur Linken, umschlossen von Tannen. Vir bleiben stehen. Das ist die Einsamkeit selber. Man wartet nur noch darauf, daß ein geheimnisvolles, furchtbares Tier aus der dichten Nadelholzmauer hervorbreche. Man kann sich nicht denken, daß ein Mensch in diesem Schrecken leben könnte. Es müßte ein schrecklicher Mensch sein, ein Blinder, ein Einäugiger, ein Mörder.

Lieblichkeit umfängt uns wieder. Ein Wasserfall rauscht. Wiesen lächeln uns an. Das Rauschen wird stärker und mischt sich mit einem dröhnenden Hämmern. ,Das ist die Sensenschmiede,“’ ruft Britta.

Tapp, tapp, tapp sagt der Hammer ohne Unterlaß. Ein schweres Wasserrad dreht sich langsam, Achsen ächzen und knarren. Gespritz, Gerausch, Getropf. Schön ist die grüne, sonnige Welt, schön ist die schwarze, dunkle Schmiede.

Der Hammer gleicht der plumpen Faust eines Betrunkenen, die steif und unbeholfen in einem fort auf einen Tisch hämmert, immer drauflos, immer drauflos. Der Sensenschmied, der nicht aufschaut, ist jung und stark. Hell und hoch steigt die Stirne aus dem rußigen Gesicht. Das blonde Haar lockt sich und zittert wie kleine Flämmchen. Ein Gehilfe reicht ihm in bestimmten Zwischenräumen die glühenden Eisenhalbmonde, die zu Sensen gehärtet werden sollen. Der Hammer ist stark. Das Eisen schwindet und dehnt sich wie Wachs unter einem Fingerdruck. Es klingt bald hoch, bald tief.

„Ein König ist er auf seinem schwarzen Dreibeinstuhl,“/ ruf ich laut, denn das taktmäßige Lärmen macht das Flüstern unnötig. „Eisen, Feuer, Wasser, drei mächtige, uralte Dinge beherrscht er. Gebunden ist er durch den klotzigen, grobschlächtigen, verbissen dreinschlagenden Hammer. Aber er hat sich selber gebunden. Denn er hat das Wasser in einer Holzrinne gefaßt und auf die Schaufeln geleitet, und es braucht bloß einen Zug an jener Stange, dann steht das Rad still, und der Hammer kann sich nicht mehr rühren. Fürwahr, ein Schmied möcht ich wohl sein, denn Wasser und Feuer sind seine Diener, und das Eisen macht er zu dem, was er will.“

„Ich bin froh, daß du kein Schmied bist,“ sagt Lore und weist auf eine junge Frau, die an der Sonne sitzt, „sie kann ihn nicht den ganzen Tag küssen wie ich dich.

„Sie hat auch anderes zu tun,“ lächle ich und zeig auf ein kleines Kind, das nicht weit von der Mutter in der Wiege liegt und mit halbgeschlossenen Äuglein an seinem Daumen lutscht. „Wenn du so weit bist, hast du auch nicht Zeit, mich den ganzen Tag zu küssen !“

„Glorian!“ sagt sie heftig.

„Verzeih, Lore, ich scherzte ja nur,“ antworte ich begütigend.

Wir ziehen am Schwarzen See vorbei, wo Binsen, Schilf und meterhohe Schachtelhalme so scharflinig und graziös am Ufer stehen, daß man an Japan denken muß, und kommen zu den Mittagskatzsennhütten, einer dorfähnlichen Sammlung von grauen Häusern, Ställen und Scheunen und einem richtigen Menschengetümmel, wenigstens kommt es uns so vor.

Hier ist der Karrenweg zu Ende. Brittas Bruder spannt das Pferd aus, legt ihm einen hölzernen Tragsattel auf den Rücken, bepackt ihn mit zwei Birkenrindentaschen, Kupferkaffeekesseln, Decken und setzt den kleinen Buben obendrauf. So geht's weiter in den Wald hinein.

„Hörst du Menschen, siehst du Menschen, Lore ?“

„Nein, nur Wald, Wald und See und See. Die Menschen sind hinter uns, vor uns gibt's keine Menschen mehr. Britta und ihr Bruder sind freundliche Waldgeister, die Kinder sind Zwerge. Schau, wieder ein See. Und hier wieder ein Sumpf. Denk, wenn wir ertränken !“

„Dann ertränken wir zusammen !“

Wir schreiten vorsichtig über halbverfaulte Baumstämme, über Steine, hüpfen über Wasssserlachen. Teutoburger Wald, denke ich, Varus, Hermann!

„Ich bin froh, daß ich nicht allein bin,“ sagt Lore, „sonst würden mir die Krüppelkiefern links und rechts Angst machen.“

Mit laut klatschenden, lärmenden Flügelschlägen schießt ein Riesenvogel in flach ansteigendem Fluge unter einer Tanne hervor.

„Was ist das, Glorian ?“

„Ein Auerhahn !“

„Ah, der Berühmte ?"“ Sie schaut ihm andächtig nach. „Glaubst du, daß wir auch einen Elch antreffen werden ?!!

„Ja, das glaub ich.“

„Oh, wie lustig wär das !“

Ein wahrer Urwald nimmt uns auf. Lore faßt meine Hand. Umgefallene Bäume liegen im Wege wie Verhaue einer Feldbefestigung. Da glaubt man die Rippen eines Schiffes zu sehen. Und da einen Schlagbaum aus der guten alten Zeit des Wegzolls. Eine Kiefer streckt sich spitz, astlos und leicht gebogen in die Luft wie ein riesiger Elefantenzahn, wie das Pfostengötzenbild eines Südsseeinsulaners. Es winden sich Stämme und Äste wie Marmorssäulen an Barockaltären. Auf dünnen Stämmen schimtmern seltsame Runen und Hieroglyphen. Dort liegt ein Mann am Boden und hebt flehend die Arme gen Himmel. Nein, es ist nur ein Baum. Wenn er aufrecht stünde, dann würde er aussehen wie die Bäume, an denen in den Bärenzwingern die jungen Bären emporklettern. Hirschgeweihe tauchen hinter Steinen auf. Nein, es sind nur Äste. Skelette stehen schreckhaft bleich im Dunkel: wieder nur Äste. Ein schwarzer Teich mit fratzenhaften Steinen und siechen blattlosen Erlen, die sich auf ihre Uste stützen wie auf Krücken, versperren uns den Weg. Alles ist still. Nirgends zwitschert ein Vögelein. Nur eine lose, vom Wind bewegte Borkenschindel klappert unheimlich hoch oben am Stamme einer Föhre.

„Ich fürchte mich,“ sagt Lore.

„Nach der Hölle kommt das Paradies,“ tröste ich sie.

Der Weg steigt bergwärts. Der Urwald bleibt zurück, wie das Wasser zurückbleibt, wenn man sich auf eine Insel rettet. Hinter öden Kahlhauen tun sich weite Fernsichten auf. Unten schimmert freundlich ein See wie in einem Park. Der Weg wird steiler. Der Bube schaukelt auf dem Pferde wie auf einem sturmbewegten Schifflein. Der Silberberg gerade gegenüber hebt sich höher und höher. Jetzt gleicht er nicht mehr einem Kamelrücken, sondern einer stacheligen Kuppel. Tannen sind die Stacheln.

„Ja, wenn man all das Gold hätte, das dort begraben liegt,“ sagt Brittas Bruder und deutet auf den Silberberg. „Und all das andere Erz. Kupfer, Nickel, Silber. Schon mancher hat sein Glück versucht. Aber es wollte sich nicht lohnen. Es hat eben noch keiner die richtige Stelle gefunden. Dumm, daß der Brave-Olof nur Wasser schmeckt und nicht auch Gold! Tej, tej!“

„Möchtest du Gold, Lore ?!“

„Was soll mir Gold, Glorian ?“

Glitschige, nasse Wege. Die Bächlein meinen, die Wege seien für sie da. Man muß Seiltänzer und Stangenspringer sein, um über all das Wasser hinwegzukommen. Die einsamen Bäume haben die Neigung, einander gleich zu werden. Vogelbeerbäume, Eschen, Birken und Erlen kann man kaum unterscheiden. Die Birken sind nicht mehr weiß, sondern grau, mit Moos bewachsen, mit Flechten behängt. Der Granit hebt sich aus Schutt und Kies, glänzend und glatt. In breiten Windungen wogt er den Weg hinunter wie ein Fluß.

„Auf Treppen aus Granit gehst du, meine Geliebte!” Sie nickt und lächelt und hebt die Füße leicht trotzdem sie schon fünf Stunden lang geht.

Da halt ich sie zurück und raun ihr zu:

„Ein großes Glück war's, als ich dich das erstemal in den Armen hielt. Aber nun ist's mir, als erleb ich noch größeres Glück, da du neben mir gehst, frisch, fröhlich, unermüdlich, so weit wie ich !‘

„So weit wie du !“

29.

Auf einer grünen Wiese, von der Sonne beschienen, liegen große, graue, bemooste und silbern schim- mernde Granitblöcke. Nein, das sind keine Steine, das ist der Sennhütten friedliche Welt.

Friedlich ? Der Frieden hat einen Haken.

„Es wundert mich, ob sie wieder die Fenster eingeschlagen haben,“ sagt Britta, indem sie gegen ihr Häuslein hinaufssteigt, das höher liegt als alle andern.

„Wer ?“ frag ich.

„Die Jäger ... im Winter ...'

„Aber diesmal haben sie wenigstens die Türe zur Milchkammer nicht aufbrechen können, ich hab sie ja über und über mit dickem Eisenblech beschlagen,“ sagt Brittas Bruder befriedigt. „Sie werden das Mehl, das im letzten Herbst übrig blieb, wohl in Ruhe gelassen haben.“

Sie treten in die Stube, die eine Feuerecke, eine Schlafecke, eine Kastenecke und eine Tischecke hat wie alle Bauernstuben.

„Die Fenster sind ganz,“ sagt Britta fröhlich.

„Und die Milchkammertüre auch!‘“ triumphiert ihr Bruder.

Sie treten in die Milchkammer nebenan.

„O, die verdammten Vögel,“’ ruft Brittas Bruder, „sie haben ein Loch ins Dach gemacht, die Halunken, weil das Fensterchen für einen Burschen zu klein ist! Und das Mehl ist weg! Hätten sie doch Gift im Ranzen, die Schufte, statt Mehl !“

„Auch Jäger ?“ frag ich.

„Natürlich !“

„Bauernsöhne ?“

„Ja, Bauernsöhne !“

„Gibt's solche Bauernsöhne ?“

„Und ob ... Sie tun noch Schlimmeres. Guck in die andern Hütten. Da wirst du sehen, wie sie Bänke und Tische in Brennholz verwandelt haben. Sie sind zu faul, um einen Stallbalken zu spalten, wenn sie im Winter übernachten. Nein, das Nächstbeste muß ins Feuer, die Betten, die Tische !“

„Pfui,“ sag ich.

„Ja, so ist's,“ sagt Brittas Bruder und zuckt die Achseln. Er nimmt das Loch im Dache hin, wie er ein Gewitter hinnimmt. Ich schimpfe. Draußen aber ruft Lore: „O, Glorian, man kann sich nicht satt sehen!‘’ Da vergeß. ich das Loch im Dach und die Jägerhalunken und eil aus der Stube.

Mir sitzen am Rain, Hand in Hand, und schauen. Wieviel blaue Berge, wieviel Wälder, wieviel Seen. Lore will die Seen zählen. Eins, zwei, drei, zehn, nein, sie gibt's auf. Das schimmert und blinkt, dunkelt schwarz und unergründlich, leuchtet golden und rot, überall, überall.

„Ebensogut könnt’ man versuchen, die Sterne zu zählen,“ sagt Lore.

„Und unser Reich ist alles,“ sag ich, „denn dem ist's, der es schaut.“

Kühle Luft streicht durch die dämmernde Helle. Die Sonne geht im Norden unter, kaum kann man es ein Untergehen nennen.

„Das ist mein,“ sagt Lore und weist nach links, „and das ist dein,“ sagt sie und weist nach rechts.

„Das ist unser,“ sag ich und beschreibe mit der Hand einen Kreisbogen.

„Ich schenke dir den Silberberg,“ sagt sie.

„Ich schenke dir den Sonnenberg,“? sag ich.

„Ich schenke dir alle Wälder,“ sagt sie.

„Und. ich dir alle Seen!‘ sag ich.

„Britta! Britta !‘“’ ruft sie. „Wie heißen die Seen ? Glorian hat mir die Seen geschenkt, nun muß ich die Namen wissen!“

Die Hinkende Britta kommt langsam. Sie hat die Kühe und Geißen besorgt. Nun hat auch sie Zeit zum Schauen. Und sie nennt uns die Seen. In jeden Namen legt sie einen besonderen Klang, als dächte sie jedesmal etwas Besonderes, Freudvolles oder Leidvolles, wie eine Mutter verschiedenen Tonfall hat, wenn sie die Namen ihrer Kinder ruft, bei dem von Hoffnung durchbebt, bei jenem von Angst, beim dritten von Zuversicht, beim vierten von Zorn.

„Der Tiefe See, der Große See, der Silbersee, der Bärenteich, der Dreiquellensee, der Geigenteich, der Burschenteich, der Wacholderbeerenteich und der Kuhteich. Die andern kenn ich nicht, denn die liegen zu weit weg und haben vielleicht gar keine Namen !“

„Dann werden wir ihnen Namen geben,“ sag ich, und Lore nickt dazu. Es ist uns, als seien wir nun gut Freund mit den Allernächsten, die schon getauft sind. Und ich kann nicht mehr an mich halten vor Glück und steh auf und rufe, daß es über die Berge und Wälder weg schallt: „Ich bin der Glorian Kling vom Rhein, daß ihr 's wißt.’ Und Lore stellt sich neben mich und singt: „Und ich bin die Lore Nußbaumer von der Donau!“

Da lächelten die Seen, die Berge schmunzelten und die Wälder murmelten vergnügt, wahrhaftig, und die Hinkende Britta lachte übers ganze Gesicht, und ihre Äuglein glänzten heller und klarer als alle Seen zusammen. Denn fünfzig Jahre lang hatten die Seen den Himmel und Brittas Augen die Seen wiedergespiegelt. Und weil im Spiegel alles schöner wird, so konnten Brittas Augen nicht anders sein.

Aber die Müdigkeit kam und die Schlafsucht. Hell genug wär's zum Wachen, zum Arbeiten, zum Tanzen. Die Dämmerung ist wie festgenagelt. Der Himmel schillert in blassen Perlmutterfarben. Man möchte nichts anderes tun als ihn anschauen. Aber hinterrücks fallen einem die Augen zu.

„Führ uns in eine Hütte,“ sagte ich.

„Zum Schlafen ist eine Scheune besser,“ sagte Britta.

„Warum ?‘

„Ja, ich weiß nicht,“ und sie wollte nicht mit der Sprache heraus, aber man merkte, daß sie ein Geheimnis auf dem Herzen hatte.

„Wir wollen die Hütten anschauen,“? sagte ich.

„Es gibt so viele Wanzen,“ sagte sie endlich verlegen.

„Da vben, wo schon seit langem keine Menschen mehr wohnen und es im Winter vierzig Grad kalt wird ?

„Ja. Die Menschen sind weg, aber das Ungeziefer ist geblieben! Bloß meine Hütte ist sicher. Aber da schlafen mein Bruder und ich und die Kinder. Vielleicht sind euch das zu viel Leute ...“

„Nein, nein,“’ rief Lore, „sind wir nicht Freunde ?

Wir traten in die Hütte. Brittas Bruder schnarchte, der Bube schnaufte wie eine Luftpumpe, und das Mädchen pfiff leise, leise durch die Nase wie ein. Mäuschen.

Britta zeigte uns das Obergeschoß ihres zweistöckigen Wandbettes, das nicht größer ist als eine sparsam bemessene Schiffskoje.

„Da oben haben schon viele geschlafen,“ sagte sie, „und viele, die sich liebten. Man kann die Namen immer noch lesen.“

Sie zündete einen Kienspan an, und ich entzifferte an der hellbraunen Holzdecke. „Hier lag ich mit Maria am 27. und 28. Juni 1889. O liebliche und herrliche Liebe, blühe ewig.“

„Die haben dann einander doch nicht geheiratet,“ sagte Britta leise, „ein Kind hat sie gekriegt, er aber hat sich frei geschworen und ist nach Amerika. Da hat die schöne Schrift nichts genützt.“

„Still, Britta,’ sagte Lore bittend.

„Hier lag ich mit Johanna am 1. August 1878.

O herrliche und liebliche Liebe, blühe ...'

„Ja, ja,“ murmelte Britta.

„Was ?“’ fragte ich.

„Das war der Rosen-Jan !“

Hier lag ich mit Kerstin den 15., 16. und 17.

Juli 1900, o herrliche, ewige Liebe.“

„Oj, oj, oj . . .'’ seufzte Britta.

„Wer war das ?’ fragte ich.

„Nein, sag nichts, Britta, es ist alles so traurig,“ rief Lore.

„Wie ging’s den beiden ?“ fragte ich.

„Sie liegen im gleichen Grab !“

Wir standen still da. Anfang und Ende vernahmen wir und spürten berauscht und entflammt, daß wir nichts damit zu tun hatten. Was ging uns der Tod an? Die Liebe ist ewig, das Leben ist ewig, alles ist ewig!

Wir werden in der Scheune auf dem Heu schlafen. Sonst müssen wir die ganze Nacht an andere denken. Und jetzt wollen wir nicht an andere denken.

„Soll ich auch auf einen Balken kritzeln,“ sagte ich am Morgen, „hier lag ich mit Lore am . .. Was ist denn heute für ein Tag ?“

Wir dachten nach, aber wir konnten das Datum nicht finden.

Da freuten wir uns, daß wir alle üblichen Zahlen vergessen hatten.

30.

Frühmorgens sattelte Brittas Bruder das Pferd und führte es talabwärts. Die Hufschläge klangen leiser und leiser. Nun waren wir allein. Denn Britta und die Kühe rechneten nicht mit. Die gehörten zu den Sennhütten wie die Tannen und die Birken.

Um acht Uhr schritt Britta mit hellem Singsang den Kühen voraus auf die eingezäunten Weiden.

„Wir wollen sie die Fliegende Britta heißen,“ sagte ich, „nicht die Hinkende. Siehe, wie sie bei jedem Schritt mit dem rechten Bein vorwärts schießt und mit dem leichten Körper, der nicht viel wiegt, hinterdrein fliegt ?“

Britta blies auf dem Kuhhorn eine melancholische Melodie, daß man meinte, die ureigene Stimme der Natur zu hören.

Aus der Tiefe der unsichtbaren Wiesen stieg das spröde, ruckweise Aufklingen der Kuhschellen. Das machte die Stille noch stiller.

Unbeweglich, in sich selber versunken, standen die Berge und Wälder ringsum. Nur die Schatten wanderten langsam über ihre Rücken und Flanken. Und die Farben der Seen änderten sich von Stunde zu Stunde.

Wir taten, was die Wälder und Berge taten: Wir schauten. Wir hatten gar kein Bedürfnis, etwas anderes zu tun. Je mehr wir die Augen im Kreise gehen ließen, desto mehr hatten wir zu schauen.

Weit in der Ferne flatterte der Rauch einer Lokomotive. Da lachten wir. Wir konnten das Wort Lokomotive nicht mehr aussprechen, ohne zu lachen. Wir hätten ebensogut sagen können: Nilpferd, Känguruh oder Mammut. So fremd war uns das Wort geworden, so grotesk, so unwirklich.

Am Abend sahen wir deutlich, daß das Gras mindestens einen halben Zoll gewachsen war. Und wir selber waren auch gewachsen, aber vielmehr als einen halben Zoll. Ordentlich in die Höhe geschossen waren wir. Die Brust hatte sich geweitet. Wir fühlten uns leicht und unbeschwert. Wir konnten fliegen und schweben, wenn wir wollten. Aber wozu ? Hier war's ja am schönsten!

Wieder saßen wir in der weißen Nacht und konnten uns kaum von ihr trennen. Wieder schliefen wir im Heu, das in seinem Dufte alle Blumen und Gräser des vergangenen Jahres auferstehen ließ. „Aber der Duft deiner Haare ist stärker und süßer als alle Wohlgerüche des Sommers,“ sagte ich, „und zwischen deinen Brüsten berge ich mich als im liebsten aller heimatlich rufenden Täler !“

So gingen zwei Tage, und wir hatten keinen Wunsch. Am dritten Tage aber vernahmen wir den Ruf : Weiter, weiter! Wir verwunderten uns, daß wir ihn beide zur gleichen Zeit hörten. Aber schlug nicht unser Herz im gleichen Takt ? Ging nicht unser Atem im gleichen Rhythmus ? Lächelte Lore nicht unwillkürlich und ohne den Grund zu wissen, wenn ich an etwas Frohes dachte, und runzelte ich nicht plötzlich die Stirne, ohne zu sehen, daß sie finster blickte ?

„Schön ist's bei dir, Fliegende Britta,“ sagte ich, „aber es lockt uns noch tiefere Einsamkeit.“

„Merkwürdige Leut’,“ sagte Britta, „in Birkenrain will keiner einsam sein. Wer's kann, der baut an die Landstraße, und wer's nicht kann, der wohnt wenigstens so, daß er die Landstraße sieht. Und je mehr Menschen vorübergehen, um so besser! Wandert noch weiter, so werdet ihr keinen Menschen mehr antreffen. Vielleicht einen Köhler, ja, höchstens einen Köhler, der das Holz haut, das im nächsten Winter gekohlt werden soll. Oder einen Förster, der einen Wald ausmessen muß. Aber ich weiß von keinem Köhler und keinem Förster. Nein, ich weiß von keinem. Aber verirrt euch nicht. Merkt euch den Liederberg südlich vom Dreiquellensee und den Schönen Berg nördlich vom Dreiquellensee. Ich bin nie so weit gewesen. Aber es soll Sennhütten geben, in denen kein Mensch mehr wohnt. Am Liederberg sollen die Tanzmattenhütten liegen und am Großen See die Glückshütten. Aber vielleicht sind die Häuser schon zerfallen und verfault. Und zwischen dem Tiefen See und dem Dreiquellensee liegt eine Mühle und eine Sägerei. Dort haben früher die Leute von den Glückshütten, den Tanzmattenhütten, den Rotznasensennhütten und den Milchsuppenbergsennhütten im Herbst das Korn gemahlen und im Frühjahr die Baumstämme zersägt. Mein Bruder ist mal dort gewesen. Das war ein Leben! Alle Ställe besetzt, und während man wartete, drechselte man Schalen und Schüsseln. Aber jetzt sind ja die Äcker wieder zu Weiden geworden, die Weiden zu Wäldern, und hölzerne Schalen braucht man nicht mehr. Und in der Mühle wohnen die bösen Geister.“

„Glückshütten,“ rief ich, „der Name gefällt mir.“

„Und mir gefallen die Tanzmattenhütten,“ rief Lore.

„Auf denn, nach den Tanzmattenhütten.“

Die Fliegende Britta lieh uns einen großen ledernen Rucksack, der ganz einfach aus einem braunen Kalbfell besteht, dessen Beine paarweise zusammengebunden sind. Wir rüsteten uns aus, daß wir eine Woche lang nicht verhungern mußten. Und auch zwei Angelschnüre nahmen wir mit.

Afrika lag vor uns. Es ist zwar nur der Wald und die Welt hinter dem Tiefen See. Aber es ist doch das Afrika unserer Jugendträume. Bloß ohne Menschenfresser und vergiftete Pfeile.

Wir tauchen wieder in den Wald hinunter. Die Baumwipfel schlagen über uns zusammen wie Wellen.

„Wald, Wald,'“ ruft Lore, „zehn Stunden nach Osten, zehn Stunden nach Westen, zehn Stunden nach Süden, zehn Stunden nach Norden. Unser Wald!“

„Ich kann dich küssen, kein Mensch sieht’s,“ juble ich.

„Ich kann ausrufen: Ich liebe dich,’ jubelt Lore, „und niemand lacht mich aus. Ich kann deine Augen loben, deine Stimme loben, ich kann deinen ganzen Leib loben, niemand hört's. Ich kann einen jauchzenden Schrei ausstoßen, daß die Vögel und Schlangen und Elche und Auerhähne unruhig werden.“

„Und die Fische im Wasser.“

„Und die Fliegende Britta aufhorcht und lächelt.“

„Aber in den Mittagskatzsennhütten wissen sie nicht mehr, was das zu bedeuten hat. Für sie ist’'s nur noch einer von den vielen sommerlichen Tönen, die in den Lüften fliegen, kein Mensch weiß woher. Das ist die Stimme des Waldes, sagen die Greise und nicken gescheit und abergläubisch mit den Köpfen. Ach, sie wissen nicht mehr, was das für ein Schrei ist. Vielleicht haben sie's nie gewußt. O Lore!“

„O Glorian!“

31.

Wir sind die einzigen Menschen auf der Welt. Unsertwegen scheint die Sonne, unsertwegen murmeln die Bäche, stehen die Birken und Erlen da und die Hutzeltannen und die Krüppelkiefern in den Sümpfen.

„Wie lange sind wir gegangen ?“ fragt Lore.

„Eine Stunde.“

„Und mir ist's, als seien wir einen ganzen Tag gegangen !“

„Mir auch.“

Wir hören ein Rauschen.

„Das sind keine Tannen, keine Birken,“ sag ich, „sieh, kein Lüftchen regt sich. Das muß ein Wasserfall sein. Und wo ein Wasserfall ist, steht wohl auch die einsame Mühle.“

Laut und lauter wogt das Rauschen, rhythmisch anschwellend und schwächer werdend, und ruft uns zu sich wie eine Mutter, die ihr Kind lockt, das sich im Walde verirrt hat.

Das Volksliedergemüt müßte tot sein in uns, wenn wir dem Rufe nicht gerne folgten. Und wir kommen zur Mühle, und eine richtige romantische Mühle ist's, wie man sie nicht besser wünschen kann: Mit einem malerischen, märchenhaft großen übermoosten Wasserrad, dem keine Schaufel fehlt, einem richtigen Mahlkasten in grauweiß überstaubter Blockhausstube, der nur auf das Mehl zu warten scheint, und einer imponierenden, schweigenden Versammlung von ausgedienten Mühlsteinen, die der Wand entlang laufen wie altgermanische Wagenräder. Auch die Drehbank, an der früher so viele Schalen und Schüsseln gedrechselt worden sind, steht noch da, und vom Fenster aus sieht man auf die Säge, die halbzerfallen über dem lärmenden Wasser hängt, von tropfnassen, schwarzen Balken nur noch notdürftig gestützt, das Dach zur Seite geneigt, mit verlotterten Ketten, Laufschienen, Stangen und einem über und über verrosteten Sägeblatt. Üppige Vegetation umschlingt und überwuchert Stein und Holz, wächst in die ruinenartigen Ställe hinein und drängt unter der Schwelle durch in das schindelbedeckte Häuschen, wo früher übernachtet worden ist und eine Pritsche, ein kleines Fenster, ein paar Schäfte und ein offener Herd immer noch das bieten, was eine einfache Gastfreundschaft bieten kann.

Lachend und singend nehmen wir „unsere Mühle“ in Besitz. Nun sind wir gut aufgehoben.

„Ja, ein Müller möcht ich wohl sein,“ juble ich begeistert, „nur mit reinen, glücklichen Dingen haben seine Hände zu tun: Mit honiggelbem Wasser, das ewig vorüberbraust, frisch und fröhlich – ein leichtes Spiel ist es ihm, das Schaufelrad zu treiben; mit goldenem Korn ~ o du fruchtgewordene Erde, Sommerwind, Sommerregen, Sommersonne, sehnsüchtig grünend, hoffnungsvoll tragend, freudig reifend; mit weißem Mehl du bescheidener, demütiger Staub, ein Lüftchen kann dich verwehen, und doch bist du Stärke und Kraft und die Erfüllung des Wunsches aller derer, die Morgen für Morgen Gott um ihr tägliches Brot bitten. Ja, ein Müller möcht ich sein! Heilig sind seine Hände wie die eines Priesters, die Musik des Wassers tönt in seinen Nächten, und gesegnete Arbeit ist die Freude seiner Tage.“

„Ein Schmied wolltest du sein. Nun möchtest du ein Müller sein, alles lobst du,“ sagt Lore.

„Weil ich nichts bin,“ sag ich lachend.

„Nein, weil du alles bist,“ sagt sie, „jetzt begreif' ich es."

„Aber ich begreif! es nicht,“ sag ich verwundert.

„So warte. Doch jetzt wollen wir den See suchen.“

Und sie nimmt mich bei der Hand und führt mich den Bach entlang. Und wir kommen an einen Damm und ein Wehr und an einen See, wohl den Silbersee, in dem tausend Fische schwimmen, große und kleine.

Und wir schneiden uns Angelruten und heben am sumpfigen Ufer die flachen, runden Steine auf und suchen die Würmer hervor. Und dann stehen wir bis zu den Knien im bernsteinfarbenen Wasser und angeln. Rleine Fischchen streichen kitzelnd um unsere Füße und kneifen uns in die Zehen. Bald liegen sechs Barsche auf dem Land. Ach, wenn nur das Töten nicht so schwer wäre!

Ein Feuer prasselt, bald glimmt die Glut. Die Barsche werden mit Salz bestreut und gebraten. Brot und Wasser dazu, bessere Mahlzeit kann man sich nicht wünschen.

„Ein Fischer möcht ich sein,“ ruf ich und stimme einen neuen Lobgesang an.

„Hab ich's nicht gesagt,“ lacht sie und schaut glücklich drein, „alles lobst du !“

„Ja, seltsam,“ sag ich nachdenklich.

„Gar nicht seltsam,“ sagt sie übermütig.

„Nein,“ sag ich wie erleuchtet, ,ich hab ja dich.“

„Ach, was könnte ich helfen, wenn nicht ... Aber schön, schön ist’s hier,“ sagt sie ablenkend, „und in der Hütte sollen ja die bösen Geister wohnen.“

„Die vertreiben wir.“

Zwei Nächte schlafen wir in der alten Mühle, und nur gute Geister sind um uns. Aber am dritten Tage tönt’s wieder: Weiter, weiter.

Denn die Luft ist drückend. Die Sägewerkruine stimmt auf die Länge traurig. Die nassen Balken sind so melancholisch schwarz. Man vermißt den freien Ausblick. Man erstickt fast im üppigen Wachstum, das von allen Seiten herandrängt. Und man wohnt ja am Wege. Vorgestern ist kein Mensch vorbeigekommen, gestern auch nicht und heute nicht. Aber kann nicht morgen einer vorbeikommen? Und die Berge ringsum werden höher und höher, je länger man sie anschaut. Bald sitzt man wie in einem Sodbrunnen. Nein, das läßt sich nicht aushalten, trotz freigebigem See und gastfreundlichem Dach.

Auf einem schmalen Pfad, der immer wieder Miene macht, ins Wasser zu stürzen, wandern wir den See entlang. Eine halbe Stunde weit bergauf und bergab, immer in dürftigem Walde drin, vhne zu wissen, wo wir sind. Nur einmal sticht eine rötliche, zerklüftete Felsenspitze über die Tannen und verschwindet wieder. Auch ein See blinkt zur Linken. Ob das der Barschenteich sein mag ?

Dann steigen wir bergauf, in eine lichte Felsenlandschaft hinein. Hier müssen die Aktiengesellschaften gehaust haben wie die Räuber. Nun schimmert auch zur Rechten ein See. Der Dreiquellensee ? Und der See wird größer und größer, und hinter ihm steigen die Berge auf, bis sie ganz ansehnlich und bedeutend dastehen, der eine mit kahler Flanke, als sei eine Lawine niedergegangen ~ es sind aber bloß die bezahlten Knechte der Holzhändler gewesen ~ der andere mit einem schadhaften Pelz von Tannenwald, der da und dort die Haare verloren hat. Einer von beiden muß der Schöne Berg sein. Unversehens stapfen wir in eine durchsichtige Moorlandschaft hinein mit giftiggrünem Moos und braunen Wasserlachen. Aber wir fürchten die Moore nicht mehr. Wir wissen jetzt, wo sie bodenlos sind und wo nicht. Von Sumpfheidelbeerpolster zu Sumpfheidelbeerpolster hüpfen wir, dann zu einem Strunk, über einen halbverfaulten Baumstamm hinweg, zu einem sicheren Grasbüschel, einer schwarzen Zwergbirke, zu einer Weide und schauen so eifrig nach einem Halt für unsere Füße aus, daß wir plötzlich überrascht vor einem stillen Dorfe stehen. Das müssen die Tanzmattenhütten sein. Denn drüben, jetzt sieht man's deutlich, liegt der Schöne Berg, vor ihnen zur Linken der Liederberg und hinter ihnen schimmern fern, doch freundlich und vertraut, die Lichtsennhütten.

32.

Die silbergrauen Blockhäuser stehen in hohem Graswuchs, der uns bis an die Brust reicht. Kein Kuhglockenklang, kein fröhlicher Singsang, kein menschenkündender Rauch, Die Türen sind weit offen, die Fenster zersplittert und zerschlagen, die Schornsteine burgruinenähnlich. Ein Haus neigt sich auf die Seite wie ein gestrandetes Schiff, ein anderes starrt mit offenem Rachen zum Himmel. Da wächst eine Kiefer auf dem Schutthaufen eines offenen Herdes, dort s chießen Himbeerstauden durch die Spalten der Dielen, in den Ställen strecken sich Tännchen bis unters Dach. Jn einem Bett häuft sich grünes Moos, aber das Moos ist festgewachsen. Auf einer Vortreppe liegt die Losung der Elche. Die Eingänge der gewölbten Keller sind zusammengestürzt.

Der Mensch ist geflohen, der Wald ist gekommen.

Nur ein Haus ist verschlossen. Aber das Fenster kann ausgehängt werden. Vorsichtig klettern wir hinein. Leise gehen wir umher, wie in einer Gespenssterstube. Alles ist sauber und geordnet. Aber die Moderluft nimmt einem fast den Atem, auch hier ragen bleiche Gewächse vom Boden auf. Man ist froh, wieder draußen an der Sonne zu stehen.

Jahrelange Mühe tut sich noch schmerzlich kund. Man kann das Viereck eines Kartoffelackers unterscheiden. Zerfallene Zäune zeigen die Sennhüttenstraße, auf der früher die Kühe zur Weide getrieben wurden, ein algendurchwachsener, schmutziger Tümpel weist einen verschütteten Brunnen. In den Milchkammern liegen Butterfässser, Eimer, Schüsseln, Näpfe, zigarrenkistchengroße, mit Schnitzereien geschmückte Käseformen herum. Eiserne, durchlöcherte Dreibeinkessel, s chimmliges Sattelzeug, aus Elchhorn geschnittene und mit runden Schlagfiguren verzierte Teile eines Pferdegeschirrs, ein hölzerner Spaten mit Eisenbeschlag, ein schönes, schmiedeeisernes Schloß, ein lustiger Stuhl von 1756, Balken mit den Initialen längst Verstorbener in gotischen Schriftzügen, sorgfältig eingeschnittene Hauszeichen in Kreuz-, Dreiecks- und Vierecksform von 1790, 1804, 1812 zeugen vom Leben, das erstorben ist.

„In fünfzig Jahren stehen Föhren und Fichten da,“ sage ich ergriffen, „mit verfaulten Hütten und Ställen zu ihren Füßen. Kein Mensch singt mehr. Nur der Wald rauscht!‘“’ Und der Wald erscheint mir auf einmal als etwas Böses, Feindliches. Jetzt rächt er, was die Bauern vor ein paar Jahrzehnten an ihm gesündigt haben. Für Geld haben sie ihn den Aktiengesellschaften in die gierigen Hände gegeben. Aus Geldrücksichten lassen sie jetzt das verfallen, was ihre Väter geschaffen haben. Kein Wunder, daß der Wald die Gelegenheit benutzt und sich über die Sennhütten hermacht. Wenn das der Hauptmann Stahl sähe!

„Aber wir singen !“ ruft Lore in meine Gedanken.

„Willst du hier bleiben ?“

Sie sieht sich um und schaudert zusammen. „Nein,“ sagt sie. „Ich würd’s nicht aushalten. Ja, wenn's nur ein Häuslein wäre. Aber es sind so viele. Jch müßt immer denken, in den andern Hütten wohnen auch Menschen. Und würd’ immer wieder über die Totenstille erschrecken.“

„Und der See ist so weit,“ sag ich. „Jn Schweden aber muß man an einem See wohnen. Denn wozu hätt’ das Land sonst so viele Seen. Am See möcht ich einschlafen und die Augen auftun. Und wenn ich des Nachts erwache, so will ich das Wasser rauschen hören, das Blut der Erde, den Atem der Welt.“

„Vielleicht können wir am See eine Hütte bauen. Hier liegt ja so viel Bauholz unnütz herum. Ja, Glorian, das tun wir. An der Morgensonnenseite.“

Ich aber bin für die Abendsonnenseite. Das gibt einen kleinen Streit. Wer soll den Streit schlichten ? Sie wirft mir männlichen Herrscherwillen vor, ich spreche von weiblichem Eigensinn.

Aber vielleicht können wir gar nicht bauen, wo wir wollen. Vielleicht ist an der Morgensonnenseite ein Sumpf und an der Abendsonnenseite ein so dichter Wald, daß er den Durchgang verwehrt wie ein Fallgitter. Vielleicht auch ist der See so weit weg, daß wir das Bauholz nicht hinunterschleppen können. Wir schließen Waffenstillstand.

Durch Heidekraut und Sumpfmoos arbeiten wir uns gegen den See vorwärts. Es ist so mühselig, als müßten wir durch tiefen Schnee stampfen. Aber der See lockt mit einem blitzenden Schein, der sich verbreitert und verlängert.

Auf einmal bleibt Lore stehen und achtet es gar nicht, daß sie mit dem rechten Fuße in braunem Sumpfwasser steht.

„Glorian,“ jubelt sie, ,sieh, sieh ...“

„Was ist denn los ?“ ruf ich.

„Eine Insel,“ ruft sie überlaut.

„Eine Insel!‘“ wiederhol ich andächtig und schau eifrig durch die Stämme. Wahrhaftig, dort draußen schwimmt sie. Sie gleicht einem grünen Schild mit einem dunkeln und einem hellen Rand aus Steinen, bestanden mit vereinzelten Föhren und Hängebirken. D, du erträumte, einsame Insel, groß genug für zwei, du in dir selbst abgeschlossene, gesicherte und befestigte Einsamkeit. Wie eine Burg bist du, wie ein Tempel. Höchstes und Letztes des Weltideals : ein Flecken freundliche, grünende Erde und darum herum das trennende, scheidende, verschwiegene, verteidigende, nährende, in allen Farben spielende, freudenreiche Wasser.

„Und wenn wir auf der Insel wohnen, so sehen wir Morgensonne und Abendsonne,’ sagt Lore.

„Ich hätte aber schließlich doch nachgegeben,“ fährt sie fort, „ich wollte bloß noch ein bißchen warten."

„Ich auch,“ sag ich. Aber wir sind doch froh, daß die Insel den Zwist so glücklich beendigt hat.

Wir stürmen an den See. Ein Birkhuhn läuft durchs Gras. Zwei Auerhähne schießen auf wie Raketen. Wir kümmern uns nicht drum. Und wenn ein Elch davongeprasselt wäre, wir hätten uns nicht umgeschaut. Ich trete vor Eifer in eine verräterische Spalte und breche beinahe das Bein. Lore fällt über eine Baumwurzel, weil sie immer nur nach der Insel schaut.

Das ersehnte Ziel kommt näher und näher. Lieblich ist die Insel und etwas schwermütig, wie alle schwedischen Inseln, deren es so viele gibt, für jedes Liebespaar eine, tausend an der Westküste, tausend in den Schären und tausend in den Seen landauf, landab.

Wir stehen am Ufer zwischen rotbraunen Steinen, goldfarbenem Sand und weißgewaschenen Baumskelettten wie Riesenfischgerippen und fürchten auf einmal, daß die Insel nicht bewohnbar sein könnte. Vielleicht ist sie voller Tümpel, vielleicht trägt sie bloß spitze Steine hinter dem grünen Rand.

Den Rucksack von den Schultern, die Kleider vom Leib.

„Fürchtest du dich nicht, Lore, so weit zu schwimmen ?“

„Fürchten? Ich freu’ mich drauf.“

„Und wieder zurück ?“

„Wird schlimmer sein, denn am liebsten blieb ich wohl drüben.“

Da werfen wir uns voll Entdeckungseifer ins Wasser. Kolumbus kann nicht erwartungsvoller Ausschau gehalten haben als wir.

„Ich sehe zwei Hängebirken und drei lustige Föhren,“ sag ich.

„Ich seh eine kleine Wiese,“ sagt sie, „was willst du mehr.“

Glücklich treten wir auf die Insel, unser Paradies. Und alles ist so, als ob das Eiland bloß auf uns gewartet habe und von Ewigkeit her für uns bestimmt gewesen sei. Da ist eine kurzgrasige Wiese zum Lustwandeln. Da ist Heidekraut, damit man an Blüten keinen Mangel leide. Da sind Preiselbeeren, die reichliche Herbstfrucht versprechen. Da sind Hängebirken, damit man sich an ihren flatternden Girlanden erfreue, und rotstämmige Föhren, damit man hinter ihnen den Himmel noch blauer sehe. Da liegt zwischen prächtigen Blöcken der beste Feuerherd, und tausend Kiesel leuchten in den Farben aller Edelsteine. Und viele, viele kleine hellblaue Schmetterlinge fliegen umher, und an der Südseite der Insel, unter dürren Ästen und Gestrüpp nisten drei Enten.

Aber nach der ersten großen Freude kommt die Angst über uns. Darf man hier wohnen, ein Häuslein bauen ? Wer ist der Besitzer, wird er es erlauben ? Oder soll uns die Insel, kaum gewonnen, schon wieder verloren gehen ?

Je mehr wir schauen, um so schöner wird die Insel. Wir können die Ungewißheit nicht mehr ertragen. Wir müssen schnell ans Land zurückschwimmen, wieder durch Sumpf und Wald und Heide wandern, zu den Lichtsennhütten hinaufsteigen und Britta fragen. Wir dürfen nicht länger verweilen, sonst wächst uns die Insel, die vielleicht verbotenes Gebiet ist, allzusehr ans Herz.

Weiter nach Westen zu liegen zwar noch zwei Inseln. Aber die eine sieht aus wie ein kahles Häuptlingsgrab aus der Heidenzeit, und die andere ähnelt einem aufgetauchten Unterseeboot. Das sind keine Inseln für Liebende.

33.

Britta hatte uns ausgelacht, als wir mit der ängstlichen, eifrigen Frage zu ihr gekommen waren, ob wir wohl auf der Insel wohnen dürften! Du lieber Gott, warum denn nicht? Sie wußte zwar auch nicht, wem die Insel gehörte, aber sie vermutete, daß irgendein Bauer von Steinacker der Besitzer sei. Vielleicht war's auch eine Aktiengesellschaft. Aber das kam aufs gleiche heraus. Niemand würde sich drum kümmern, ob wir auf einer Insel wohnten oder nicht. In Schweden war ja genug Platz. Und wenn wir einen Baum fällen wollten, so sollten wir es ganz unbekümmert tun. Auf einen mehr oder weniger kam’s nicht an. Keiner rechnete sie. Und um die vielen umgefallenen Stämme, die langsam verfaulten, kümmerte sich überhaupt niemand.

Wir standen wieder am Seeufer. Aber jetzt galt’s nicht bloß, hinüber zu schwimmen wie das erstemal, sondern tätig und umsichtig die Arme und Hände zu rühren, auf daß drüben auf der Insel etwas Hausartiges aufwachse, in dem man wohnen konnte, geschützt gegen Hitze, Kälte und Regen. Britta hatte mir eine Köhlerhütte gezeizt. Aber die war allzu erdlochartig. Doch hatte ich einiges gelernt und mir die Bedeutung der Birkenrinde und des Rasens als Bedachung gemerkt. Ich dachte mir eine Art Zelt aus Stangen und Stämmen mit einem offenen Herd aus übereinandergeschichteten Steinen und einem Bett aus Tannenreis. Ausgerüstet war ich mit einer alten Axt, an der nicht mehr viel Stahl übrig war, einer Säge, die in der Mitte vom vielen Feilen so schmal wie ein Federmesser geworden war, und einem Seil. Dies alles hatte ich in den Lichtsennhütten zusammengeliehen.

Steine gab es genug auf der Insel, aber keine Stangen und Stämme. Denn es wäre mir als ein Verbrechen vorgekommen, einen der lebenden Bäume mit der Axt zu berühren. Hier am Seeufer aber lag genug Holz herum. Ich hieb die Zweige und Äste herunter, dann schleppten wir gemeinsam die Stämme auf eine flache Stelle des Strandes und banden sie mit dem Seil und Wacholder- und Tannenzweigen zu zwei Flößen zusammen, das eine Boot, das andere Bauholz. Eine Stange war Mast, eine andere Ruder. Und da gerade ein leichter Wind von den Tanzmattenhütten her gegen die Insel blies, spannten wir zwei wollene Decken als Segel auf, stießen ab und fuhren stolz und frohgemut in den See hinaus. Und wenn unser altmodisches Schiff auch nur langsam dahintrieb, so machte uns das gar nichts aus, denn um so mehr Zeit hatten wir, „unsern“ See, „zunsere“ Insel und „uinsere‘" Wälder und Berge zu betrachten. Drüben angekommen, verstauten wir das Bauholz und zogen das Floß so weit aufs Land, daß es uns nicht davonschwimmen konnte. Dann untersuchten wir die Insel gründlich, studierten jeden Baum und jeden Busch, guckten hinter jeden Stein und legten uns endlich, nachdem wir den „Bauplatz‘“ bestimmt hatten, in unsere Decken und Mäntel gehüllt nieder, konnten aber lange nicht einschlafen, so aufregend durchpulste uns das Gefühl unseres Glücks und so neu waren jeder Ton und jedes Geräusch, ja selbst die Luft und auch der Himmel und Farbe und Form der Berge. Immer wieder mußten wir uns aufrichten und lauschen und schauen, denn die Nacht war heller als eine Nacht zuvor und glich einem müden, blassen Tag. Nur im Südwesten schimmerte mit schwachglimmendem Lichtschein ein verlorener Stern, um dessen Einsamkeit es einem leid sein konnte. Seltsame fremde Schreie drangen aus unbekannter Ferne zu uns herüber, bald pfeifendes Flageolett, bald tiefe Flöte, bald wie das Kläffen eines kleinen Hundes. Und jeder Schrei machte die Nacht noch tiefer und geheimnisvoller.

Wir erwachten früh zum Bewußtsein und Anblick eines vollkommenen Morgens, der keinen Wunsch und keine Sehnsucht laut werden ließ. Jeder Stein und jeder Baum stand da als das Allerschönste, das denkbar war, die Granite und Föhrenstämme geeint in der Edelrostfarbe tausend Jahre alter Bronzegeräte. Unter einem milchigen Himmel blaute der See ohne Woge und Welle, blutrot zog sich der Steinsaum des Landes das Wasser entlang, und in den bräunlichen Wäldern gegenüber zeichneten sich die Fichten, rundkörperlich und scharf umrissen, wie aufrechte, riesige Tannenzapfen gegeneinander ab. Düstere Schwermut war im Osten, two ein Berg wie ein Sarg vor dem leuchtenden Himmel lag. Im Süden aber lachte Lieblichkeit, denn helles, siegreiches Birkengrün zog den Liederberg hinauf wie fröhliche Kinderzüge durch eine dunkle Menschenmenge. Die Freude triumphierte gen Westen, und im Norden schwang sich der Schöne Berg altarmäßig und feierlich aus Sumpf, Gestrüpp und Steinwüste auf, Erhebung schenkend und süße, lustvolle Andacht. So überwältigend war die Vollkommenheit und Stille aller Dinge ringsum, daß wir es nicht über uns brachten, an die Arbeit zu gehen und mit gemeinem Lärme diesen Frieden zu brechen. Und war es nicht überflüssig, bei so gastfreundlicher Welt eine Hütte zu bauen, da doch der Himmel ein schirmendes Dach über uns hielt und die Erde ein warmes Bett bot ?

Aber das Wasser begann zu spielen. Wie Mücken glänzten Lichter im schwarzen Bergspiegel. Unversehens huschten flinke, sschnellfüßige Böen über den See wie Wolkenschatten. Wellenberge hoben sich, Wellentäler senkten sich. Mit tausend Blasen und Bläschen flossen die flachen Wogen auf die Insel. Wie Seifenschaum, wie feine Glasglocken standen sie eine Weile auf dem Strande, ehe sie zerplatzten. Schnell verblassend zog das Himmelsblau über den genäßten Sand, der nach jeder Wasserflut zu einem vergänglichen Spiegel wurde, ehe er wieder eindunkelte und nur sich selbst darstellte. Enten plätscherten. Vogelgesang kam vom Walde her. Mit gellen Schreckschreien kreiste hoch über uns ein Habicht. Der Zauber war gebrochen. Mit Lärm und lauter Lust tummelte sich allüberall erwachtes Leben. Da griffen auch wir fröhlich unsere Arbeit an und schritten an den See.

Bald flammte das Feuer, duftete die Grütze, tänzelte der Rauch, klang die Axt, geigte die Säge und hoben sich Pfosten um Pfosten in die Luft, lehnten sich gegeneinander und ließen sich zusammenschnüren, bis am Abend die Hütte im Rohbau dastand, bloß ohne Türe und ohne Herd, so hoch, daß man in der Mitte mit gestrecktem Arm gerade bis unter die Spitze reichte, und so geräumig, daß der Halbmesser ihres kreisrunden Grundrisses ebensolang war wie ich.

Als die Nacht kam, waren wir froh, daß wir in unsere Kate fliehen konnten. Denn das Wasser war so klar, daß sein Anblick schwindeln machte, und alle Bäume starr. Die Steine, ihrer Körperlichkeit ganz entbunden, schienen hoch über dem See zu schweben, und der See selber war wie Luft, wie ein Abgrund, über dem das Land hing wie ein Riesenvogel. Man sehnte sich nach einem Windstoß, auf daß das Wasser wieder Wasser werde und ein Baum zu einem Baum. Wie Tod war diese unveränderliche Stille und leichenhaste Starre, denn man ist daran gewöhnt, daß das Blatt zittert, das Licht wechselt, der Schatten wandelt und das Wesen aller lebenden Natur die Bewegung, die siete Veränderung ist. Jetzt aber war alles fest wie versteinert, und die Sonne stand still. Da retteten wir uns in die. Hütte, hängten eine Decke vor die Türöffr nung. und wenn auch der Himmel noch durch die Ritzen zwischen den Stämmen und Stämmchen blickte, so waren wir doch nun vom Schrecken erlöst und hörten, von seltsamen Einsamkeitsschauern befreit, das leise Geräu:sch unserer Atemzüge und schliefen ein, beruhigt vom Gefühl, in einer selbstgebauten Welt für uns zu sein.

„Es wird bald regnen,“ sagte ich, als ich am nächsten Morgen vor die Hütte trat und den Himmel wie mit einer grobschuppigen Krokodilshaut überzogen fand, die nur sparsam von Türkisblau durchbrochen ivar, „darrm ist der Abend so drohend still gewesen. Nun miùüssen wir dafür sorgen, daß das Wasser nicht zwischen den Stämmen auf uns heruntertropft.“

„Wie können wir uns gegen den Regen schützen ?!“ fragte Lore.

„Mit Birkenrinde! Man zieht den Birken ganz einfach die weiße Haut ab und spannt sie über unser Holzgestell, nachdem wir die Ritzen und klaffenden Spalten mit Moos verstopft haben."

„Über du hast ja keine Nägel, die Birkenrinde wird davonfliegen !“

„Die Birkenrinde halten wir mit Stangen fest. Dann is die Hütte wasserdicht.“

Gesagt, getan. Nach fleißigem Tagwerk lag am Abend wärmendes Moos zwischen den Stämmen und ein großer Haufen Birkenrinde war bereit. Wenn der Regen nur noch einen Tag wartete, dann saßen wir unter sicherm Dach. Draußen stürmte es. Der Himmel war dunkel und schwarz der See. Man dachte, ohne zu wollen, an Mord und Totschlag und unheimliche Geschichten. Weltuntergangsstimmung schwebte über den Bergen. Nur im Westen schimmerte Hoffnung und Trost, eine Aufhellung, ein Versprechen für morgen, eine Ritze im Gefängnis, ein Spalt, auf daß man nicht ersticke. Dort lag ein goldenes Band über einem ungemein köstlichen edelsteinwerten Blau, entrückt und doch noch irdisch, als träume dort in ewigem Sonnenschein ein heiliges Land, das den Regen nicht dulde.

Am vierten Tage rauschten die Wellen feierlich und besänftigt mit langer Schleppe vorüber. Die Wolken standen fern. Zur Mittagszeit rückten sie näher, ballten sich zusammen und schoben sich über die Insel wie weiße, überhängende, lawinenverheißende Schneegipfel. Am Abend schwebten sie wieder tief wie dunkle, altmodische, schmutzige Theaterdraperien und lehnten sich rings um den See an die Berge. Aber nun fürchteten wir uns nicht mehr vor dem Regen. Denn unter Stangen und Ästen lagen die Birkenrindenblätter wie Schindeln übereinander, und unter solchem Dache konnte man sogar einen Wolkenbruch von seiner schönen Seite her ansehen.

Feucht und warm war die Luft, als wir aufstanden. Der Regen war im Schlafe über uns hinweggegangen. Getränkt und gesättigt dampfte die Erde, in strotzender Fülle taten die Flechten und Moose groß, vertieft waren alle Farben. Und sanft sich aus Wasserdunst und Wolkenschleiern lösend, trat der See, trat das Land, trat die Welt hervor, bis der Himmel wieder in voller Lieblichkeit über uns hing und die Berge freundlich und klar dastanden bis in die violettbläuliche Ferne hinein mit aller Schönheit des eben Geschaffenwordenseins, wie reingewaschen von Schmutz und Staub, wie einem Jungbrunnen entstiegen.

Heute bauten wir den offenen Herd. Ein flacher Granit als Feuerplatte, ein paar glatte, geschliffene Porphyre als Seitenwände, darauf wieder ein mächtiger Granit, dahinter ein säulenähnlicher Schornsteinaufbau aus geschichteten Blöcken, und schließlich noch alle Löcher und Ritzen und Fugen mit Kieseln und Erde und Moos verstopft, dann konnten wir mit großem Hallo das erste Feuer anzünden. Jetzt fehlte nur noch die Türe.

Als wir am andern Morgen nach dem Land hinüberfuhren, um nach den Tanzmattenhütten hinaufzusteigen, blies ein starker Westwind, so daß wir weit nach Osten abtrieben. Auf der andern Seite angekommen, hatten wir keine andere Wahl, als mühsam den Strand entlangzuwaten und das Floß am Seil hinter uns herzuziehen.

„Es wäre schön, ein Boot zu haben,“ sagte ich. „Aber vielleicht könnte man einen ausgehöhlten und ausgefaulten, astlosen Baum in ein Boot verwandeln.“ Und ich tat mir etwas auf den Einfall zugut.

„Glaubst du nicht, daß die Bewohner der Tanzmattenhütten früher ein Boot gehabt haben? Und daß das Boot noch irgendwo am Ufer liegt ?!“ sagte Lore vernünftig. Da ließ ich meinen steinzeitlichen Traum verfliegen und beschloß auf der Stelle, die nächsten Stunden der Bootsuche zu widmen. Und das Glück war uns günstig. Wir verwunderten uns nicht einmal darüber, so sehr waren wir es schon gewohnt, daß sich uns ein Wunsch, kaum geäußert, auch schon erfüllte. Wir fanden ein altes, vorn und hinten spitzhornig aufgebogenes, schwarzes Boot. Zwar klafften die Fugen da und dort, ein Ruder fehlte, die Rudergabeli waren gebrochen, das Sitzbrett war verfault und die ganze Geschichte sehr baufällig und wacklig. Aber es war doch ein Boot und konnte sicher wieder notdürftig instand gesetzt werden. Wir zogen es in den See und schleppten es bis zur Stelle, wo wir unser Floß verankert hatten. Dann machten wir uns auf den Weg nach den Sennhütten. Die Sonne diente uns als Kompaß.

Ein paar Meter hinter dem steilen Ufer trafen wir auf ein klares Bächlein.

„Das kommt aus einer Quelle,“ rief Lore, „nicht aus einem Sumpf, sonst hätt's eine braune Farbe.“ O, wie gut schmeckte der kühle Trank! Das Seewasser war zwar auch nicht schlecht, aber verglichen mit solcher Reinheit und Klarheit begann es plötzlich eine erbärmliche Rolle zu spielen. Wir folgten dem Bächlein als sicherem Wegweiser und kamen bald zur Quelle, die, umschlossen von einem Kreis üppiger Birken und Erlen, ein badewannengroßes Becken füllte und nach dem Herzschlagtakte der Erde in schwachen Stößen überflutete, da niemand ihres Segens zu bedürfen schien.

Eine Freude mehr im Herzen, strebten wir wieder den Sennhütten zu, beluden uns dort mit Eimern, Näpfen, Schüsseln und Schalen und derlei nützlichen Dingen, trugen alles zum Strand hinunter und wiederholten den profitablen Raubzug noch zweimal, wobei sogar ein Kästchen gotischer Art, die Holzsschaufel mit dem Eisenschuh, ein breites Brett für die Türe und ein lustiger Stuhl mitwandern mußten. Reich beladen, wie siegreiche Piraten, steuerten wir abends, vom Landwind begünstigt, inselwärts, das schwarze Boot, das immer tiefer sank, doch glücklicherweise nicht ganz verschwand, im sorgfältig bewachten Schlepptau.

34.

Als der siebente Tag unseres Insellebens in froher Selbstverständlichkeit ewigen Sonnenscheins vor uns lag, begrüßten wir ihn mit Feiertagsgefühlen und ließen die Hände ruhen. Wir wußten zwar nicht, ob das glückliche Heute auch für andere ein Sonntag war, denn wir hatten die Tage schon längst nicht mehr voneinander getrennt.

„Seltsam !“ lachte Lore. „Wie kommt es, daß wir uns so reich fühlen ?“

Ich hatte schon ein ganzes Evangelium auf den Lippen und stieg nun auf die Kanzel, um für meine Liebste zu predigen, umrauscht vom See, umblasen von würzigem Wind, umglänzt und umwogt von Licht und Wärme. Da konnte ja die Stimme Gottes und die Offenbarung der Wahrheit nicht fehlen.

„Wir sind so reich, so ganz unendlich, unbegreiflich, übermäßig reich, weil wir allen Dingen unermeßlichen Wert geben,“ begann ich, „denn wir haben den Mut und die Kraft und das Vermögen, den Dingen einen neuen Wert zu geben: den Wert, den sie für uns haben und der nichts mit dem Kaufwert und Marktwert, der ein Lügenwert ist, zu tun hat. So besiegen wir die Herrschaft des Geldes! Wenn mir mein schwarzes Boot, das wie ein getreues Haustier am Strande schlummert, ebensoviel Freude gibt und ebensoviel nützt wie ein Mahagonimotorboot einem andern, so ist es ebensoviel wert. Wenn ich mich an einem bunten Porphyr freue, wie eine Berliner Halbweltdame an einem Diamant sich freut, so ist eben mein Kiesel ebensoviel wert wie jener teure Edelstein.

„Was für ein einfaches Rezept, um glücklich zu werden. Was für eine leichte Lösung der sozialen Frage. Der wahre Stein der Weisen. Aber glaube nicht, daß wir damit etwas Besonderes tun. Nein, wir tun bloß bewußt, was die Kinder unbewußt tun. Jhnen wie uns ist ein schöner Felsblock soviel wie andern der höchste Berg, eine kleine Bucht zwischen Steinen ist Capri. Die Kinder besitzen die Dinge ohne die Namen, die Erwachsenen die N1men ohne die Dinge. Sie meinen, wenn sie die Bezeichnung eines Dinges wüßten, dann wüßten sie auch das Ding. Drum bleiben sie zeitlebens arm. Denn von Namen wird man nicht reich. Wir aber freuen uns so stark an den Dingen, daß wir sie in uns aufnehmen und zwar auf eine viel tiefere und intimere Weise als durch den Kauf. Was wir sehen, wird unser. Wir haben jene Torheit überwunden, die da meint, man müsse kaufen, um zu besitzen. Wir rauben nicht mit den Händen, sondern mit den Sinnen. Die schönsten Bilder der Berliner Galerien sind mein, weil ich sie so lange angeschaut habe, bis sie mein geworden sind. Ich hab sie in mir. Ich besitze die herrliche Marchesa di Spinola, deren Antlitz aus der Dunkelheit kommt wie ein Licht. Vermeer, dem Seide und Samt ebensoviel wert sind wie ein Antlitz, nein mehr. Patinirs Landschaft, wo die Welt so reich ist an fliegendem und kreuchendem Leben, an Grünendem und auch an Totem und Starrem, und die Erde nicht eine Kugeloberfläche ist, sondern eine mit allen Herrlichkeiten gefüllte Schale. Und den stillen Johannes des Geertgen tot Sint Jans, der manchen so stark ergreift, daß er am liebsten auf der Stelle hinausginge in den Grunewald und auch so ein sinnender Einsiedler würde, wenn es die Polizei erlaubte. Und Gerard Davids Maria mit dem Kinde, wo man unwillkürlich an die denkt, die man liebt, und ihr auch ein Jesuskindlein an die Brust wünscht."

Lore zuckte zusammen, aber ich dachte, es sei einer Mücke wegen, und fuhr fort:

„Und Cranachs Flucht auf der Reise nach Ägypten, wo man sich sagt: wer möchte nicht auch gerne auf der Flucht sein, verfolgt und in Not, um so liebe Ruhe zu pflegen mit Frau und Kind, mit Engeln und Quellen, bärtigen Tannen und schlanken Birken wie hier. Und so wie jene Bilder besitz ich jetzt auch diesen See und diese Steine und diesen Wald und werde sie mit jedem Tage mehr besitzen. Irgendein Bauer aber besitt den Wald schwarz auf weiß, das heißt: er besitzt ihn nicht. Wenn ich ihn frage: „Darf ich ein Tännchen umhauen ?‘, so lacht er mich aus. Warum lacht er mich aus ? Weil er kein Verhältnis zum Tännchen hat. „Hau’s um,’ sagt er, „es ist keine zwanzig Oere wert l‘ Der arme Kerl! Mir ist das Tännchen so viel wert, daß ich es erst dann umhauen würde, wenn mein Leben davon abhinge.“

„Fürwahr, so ist's," rief Lore.

„Was wir tun, auch das Geringste, das tun wir von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte, weil wir ein Verhältnis zu allen Dingen haben. Ich glaube, viel Unglück der Welt kommt daher, daß die Menschen kein Verhältnis mehr haben zu dem, was sie umgibt, nährt, kleidet, wärmt. Sie kochen mit Gas, ohne eine Miene zu verziehen, ohne an die Bergleute in den Kohlengruben und an die Arbeiter der Gasfabriken zu denken, ohne sich bewußt zu werden, wie viel Schweiß, Blut, Gefluch und gezwungenes Tun das schafft, was ihnen so selbstverständlich wie die Luft aus einer Röhre quillt und leuchtet und wärmt. Denn wenn die Menschen dran dächten, dann würden Sie sich als Gemeinschaft fühlen und danach handeln, und den Leuten in den Bergwerken und Gasfabriken wäre schon längst ein würdigeres Dasein beschert. Aber die Entfernung zwischen dem Orte, wo etwas entsteht, und dem Orte, wo es in Gebrauch genommen wird, ist so groß, daß nur die wenigsten sie überbrücken. Wenn wir aber ein Feuer anzünden, dann denken wir an den Wald, wo wir das Holz zusammenlasen, an die fröhliche Seefahrt, die es auf die Insel brachte. Und in der Flamme brennt uns nicht irgendein gleichgültiges Scheit, wie's einem andern wohl scheinen möchte, sondern in ihm leuchtet uns die Sonne jenes Tages wieder, die Freude des Sammelns und Findens lebt wieder auf, und es wärmt uns das Bewußtsein der verschwenderischen Geberkraft, an der kein sklavenmäßig vergossenes Blut klebt und kein unter Verwünsschungen ausgebrochener Schweiß. Dämmert da nicht eine Erlösung der Welt ? Wenn jeder sein Leben auf eine einfache, natürliche Grundlage stellt ~ und Platz genug hat auch der Kontinent, wenn man das bewußt erstrebt ~ und diejenige Arbeit tut, die ihm Freude macht, wird dann nicht die allgemeine unheilbare Unzufriedenheit verschwinden und der ewige Schrei nach Lohnerhöhung verklingen, weil die Arbeitsfreude schon Lohn ist und weil jeder weiß, daß er ohne seine Arbeit — seine, nicht irgendeine ~ nicht leben kann? O Lore, eine Welt, wo der Schreiner wieder singend seinen Hobel zieht, der Bauer glücklich seine Furche pflügt, der Maurer stolz Stein auf Stein legt, der Schmied gewaltig seinen Hammer schwingt und dabei denkt: [Wer hat es schöner als ich.“ O Lore, was für ein mächtiger Traum! Und ist nicht alles möglich, was wir uns denken? Der Mensch wollte fliegen: er fliegt. Und wenn ich noch höhere Sehnsucht hege, wird nicht auch sie sich erfüllen? Nur Geduld, Geduld! Und Zuversicht!“ Ich hatte die letzten Worte siegesgewiß hinausgerufen. Und von weither kam das Echo wie eine Bestätigung und Ermunterung.

„Ja, Geduld und Zuversicht,“ sagte sie, die mein tiefstes Echo war, und küßte mich, „wir haben ja Zeit! Und die Liebe !“

Und wir gaben uns wieder unserm Glücke hin, wie ein Schwimmer sich dem Strome gibt, und am Abend riefen wir beide: „Das ist der schönste Sonntag unseres Lebens.“

35.

Es war aber ein Freitag gewesen.

Das erfuhren wir, als wir zwei Tage darauf mit dem ausgebesserten Boote über den See fuhren, um die Fliegende Britta zu besuchen. Wenn auch Lore die ganze Zeit über mit einer flachen Schale das Wasser ausschöpfen mußte, so waren wir doch ungemein stolz auf unser Fahrzeug, das dem Flosse so unendlich überlegen war, auf das mühsam zurecht geschnitzte, etwas unförmliche Ruder und die Schlingen aus Wacholderbeerzweigen statt der zerbrochenen Rudergabeln."

Britta saß im besten Staat auf der Treppe und las in der Bibel.

„Ist heute Sonntag ?“ fragte Lore verwundert. „Wir haben schon vorgestern Sonntag gefeiert."

„Tut nichts, wir können ja nochmals Sonntag feiern,“ sagte ich.

„Ist bei euch nicht jeder Tag Sonntag ?“ kicherte die Alte.

Aber Lore erzählte eifrig und etwas überhebend om Hüttenbau, daß Brittas Auglein ganz unnatürich groß wurden.

„Und ich meinte schon, ihr hättet genug bekommen,“ agte sie, „aber nun sieht's ja aus, als ob ihr für immer; dort bleiben möchtet.“

„Wer weiß,“! scherzte Lore. Aber dann begann sie eine vernünftige, hausfrauenmäßige Unterhaltung, bestellte Milch, Butter, Käse und Molkenkäse, die wir nun regelmäßig abholen würden, und notierte auf einem Zettel ein paar Dinge, die Brittas Bruder bei der nächsten Sennhüttenfahrt mitbringen solle.

„Habt ihr denn einen Keller?“

„Nein, aber eine Quelle," sagte Lore, „ganz nah. Und wenn ich einen Eimer ins Bächlein stelle und einen Deckel darauf, so hab ich den besten Kühlschrank, den man sich denken kann.“

Da mußte selbst Britta zugeben, daß wir uns gut eingerichtet hätten.

„Aber was tut ihr jetzt ?“ fragte sie beim Abschiede. „Die Hütte ist ja gebaut, und das Fischen und Holzsammeln und Beerensuchen wird wohl nicht alle Zeit wegnehmen. Und Kühe habt ihr ja auch keine !“

„Ach, wir haben so viel zu tun!‘ versicherte Lore mit wichtiger Miene.

„Wieso ?“

„Wir freuen uns !“

„An was ?“

„An allem!“

Die Fliegende Britta schüttelte ungläubig den Kopf. Aber Lore hatte nicht gelogen. Wir hatten genug zu tun, wenn wir jedem schönen Ding nur einen Blick schenken wollten.

Denn wir freuten uns am Morgen, dem dämmerigen, wo alles bleiches Licht ist ohne Schatten und die Gedanken bis in die tiefsten Tiefen gehen und in die weitesten Fernen und wo in einem stillen Dahinträumen mehr Gewißheit, Offenbarung und Verheißung liegt als in einem großen Buche, wo mit einem Seufzer, einem Blick das Unaussprechliche gesagt wird.

Wir freuten uns am Mittag, wo alles so körperlich und greifbar ist: die Wolken am Himmel und alle Dinge auf Erden. Wo das Leben sich so einfach gibt, ohne Rätsel, ohne Hinterhalt, und alles Sinnen Freude ist und ein Biß, ein Griff die Offenbarung besser schenkt als das unermüdlichste Denken. Wo ein panthergefleckter Baumstamm im dunkelblauen Wasser, die Sonne auf dem Waldboden, ein nackter Arm gegen den Himmel sie zum Entzücken bringt, wo man Steine heben und stundenweit schwimmen muß, um zu spüren, wie stark man ist; wo man sich als Flieger fühlt, in der Stärke, im Mut, in der Verwegenheit. Wo man die Flechten der Steine liebkost und die Bäume, weil man nicht anders kann. Wo man schreit und jauchzt, daß das Himmelsgewölbe zittert und die Wolken schwanken wie führerlose Luftschiffe. Wo man die tiefste Tiefe des Wassers sucht und ohne Grausen hinunterschaut wo man die Lieblichkeit flieht und den Schrecken liebt. Wo man Feuer und Brand herbeiwünscht und Vereisung und Sintflut, bloß um sich mutig erweisen zu dürfen. Wo man sich in den Arm beißt, um Blut zu sehen. Wo man im Leben gleichsam badet.

Wir freuten uns am Abend, wenn sich die Wolken zurückziehen und verblassen, das Wasser davonsinkt, die Berge sich gewaltig und abweisend in den Himmel heben. Wo zwei Menschen zeigen können, daß sie sich selbst genug sind und vereint nichts fürchten!

Wir freuten uns an der Nacht, draußen an einen Stein gelehnt oder drinnen im Schutze unseres Daches, ivenn wir von Liebe flüsterten, nur von Liebe, und nicht mehr wußten, lebten wir guf Erden oder auf einem glücklichen Stern.

Wir freuten uns – ach, alles wurde uns zur Freude. enn der Pfarrer von Ackerbucht ein Notizbuch in die and genommen Hätts und einen Bleistift und bei seinen auern herumgegangen wäre und ssie gefragt hätte: „An was freut ihr euch ?“ so würden die Antworten aum eine Viertelseite ausgefüllt haben, vielleicht nicht inmal eine Zeile. Wenn er aber die Mühe des langen Weges nicht gescheut bätte und zu uns gekommen wäre und uns gefragt hätte, dann hätte sein Büchlein nicht ausgereicht und wenn’s auch so groß gewesen wäre wie die Bibel. Und die Finger würden ihm steif geworden sein vom vielen Schreiben!

Denn wir freuten uns an der Sonne, nicht nur einmal, sondern jeden Tag, und nicht nur einmal an jedem Tage, sondern hundertmal. „Gegrüßt seist du, frohe, liebe, gnädige Frau Sonne,“ riefen wir am Morgen und sangen ihr ein Lied. Schade, daß die Bauern, die vor hundert Jahren gelebt und immer den Hut abgezogen, wenn sie einen Sonnenaufgang sahen, das nicht mehr hörten!

Wir freuten uns am Regen. Warum soll man sich nicht am Regen freuen ? Er macht ja, daß die Föhrenstämme leuchten wie Bronze und die Flechten wie Grünspan, und daß alle Dinge ihr eigenes Licht ausstrahlten. In der Stadt ist er bloß Ablaufwasser, mit keinem andern Zweck als dem des Besschmutzens. Hier aber ist er Wohltat und Rettung, wenn die Wolken daherkommen mit segnenden Schleppen, und die durstigen Wälder ihre hängenden Euter melken.

Wir freuten uns am See. Und diese Freude war ohne Anfang und ohne Ende. Keinen Stein warfen wir unnütz ins Wasser. denn ist nicht Gottes Auge darin ? O See, du Spielerischer, du Offenbarer des Tiefsten und Schenker des Höchsten, du Fenster, du Spiegel. Du Veränderlicher und doch Wesensbeständiger. Du läßt den Schwachen ertrinken und trägst den Starken. Du Schlepper vieler Lasten und doch Ungebeugter. Du, voller Eindrücke und jeden Eindruck wieder ausgleichend, du Freund des Kindes und aller Lebensalter; du Ruhe und Aufregung, du größter Frieden und heftigsster Sturm. Du Schlummernder und du Gepeitschter. Du rauschest vorüber wie ein reißender Strom und liegst da wie ein Bild ewiger Ruhe. Du fliegst dahin wie ein Vogel und wälzest dich einher wie ein Fels, wie ein Block aus Erz. Du Offenbarer und du Versschließer. u offener Mund und verriegelte Schatzkkemmer. Du Freund des Mathematikers, des Malers, des Musikers, du Freund aller Menschen, Linie, Form, Farbe, Ton. Du Wagrechter, Ausgleichender, Gleichwägender. Du läßt jeden Wind mit dir spielen, aber keiner verma, deine Natur zu ändern. Nie bist du dir gleich und doc immer der gleiche. Du bist wie alles: griechisch, assyrisch, botticellisch, watteauisch und was sonst schon gewesen ist und wie alles, was sein wird, man muß es sehen. Du bist spießbürgerlich und sauber, vernünftig wie die Schraffur auf dem Reißbrette eines Bauzeichners und romantisch aufgeregt wie die burlesken inien des waghalsigsten Barocks. Man will dir einen Namen geben, der dich genau bezeichnet, und ehe man ihn efunden hat, bist du schon wieder ein anderer. Du, verschwindest, daß man. bloß gespiegeltes Land sieht und am Rand der Welt zu stehen glaubt, und dehnst dich aus, daß man sich fragt: wird er alles überschwemnen, ist es wieder ay der Zeit, eine Arche zu bauen ? Du bist ruhig und willig und spiegelst alles wider wie in Gemüt, das freudig die ganze Welt in sich aufnimmt, dann aber wellst und wogst du wieder, wie es dir gefällt. Du alles und doch immer du selbst. So wie du möchten wir sein.

Aber sollte man die Steine nicht lieben, weil man den See liebt ? O nein!

Denn wir freuten uns an den geschärften, wie Achate geschliffenen Sandsteinen, an den langen Blöcken, die wie Schiffe durch den Sumpf segeln, eine dünne Tanne als Mast. An den fest und ruhig daliegenden Kolossen mit den Kamelhaardecken, diesen schlafenden Barbarossas, die nie mehr erwachen. An den rührenden, gewaltigen Einsiedlern im Walde, die ein kleines Moosgärtlein auf dem Rücken tragen wie Christophorus das Jesuskindlein. An den gemütlichen, frommen Bernhardinerhundähnlichen, die so gute Nachbarschaft halten mit Baumstrünken und verfaulten Stämmen, überklettert von Moospolsstern wie von jungen Hunden und Katzen. An den zersprungenen Blöcken am Fuße des Schönen Bergs, die das Maul aufreißen wie breitköpfige Kobolde. An den Steinen am Ostufer, auf denen die Flechten liegen wie Spitzenüberzüge, und an jenen, auf denen man Igel zu sehen glaubt, so hoch und rund wölbt sich das Renntiermoos. An den Felsen beim Habichtshorst, auf denen die Flechten sitzen wie Kugelspuren, wie Lebenstropfen, die vom Himmel heruntergefallen sind und um ssich fressend, wie Säure auf Kalkstein, Bläschen bildend, in konzentrischen Kreisen bis zur Größe von Schützenscheiben auswachsen. Und an jenem bunten Kiesel, den wir in einem Steinhaufen gefunden hatten und der so schön war wie ein aus dem Wüstensand gegrabenes phönizisches Glasväschen.

Wir freuten uns am Ausblick auf den Ackerbuchter. See und auf die bewohnte Menschenwelt mit ihren Acker- und Wiesenwürfelmustern, wie man ihn am besten hinter den Lichtsennhütten genoß, wo auf einem Kahlhau, der ich statt in Wald in Heideland umwandelte, in seltssam| ezierter, koketter Landschaft einsame Birken standen mt ichtendunkeln Stämmen und ein paar flatternden, zerrissenen Blattwimpeln, ein paar grünen Zweigfetzen, nicht mehr.

Wir freuten uns an einem Vogelbeerbaum, drobe in den Tanzmattenhütten. Von seinem Stamm war nur noch eine angefaulte Schale übrig. Aber mitten aus dem toten Holz heraus wuchs auf der Südseite ein kleines grünes Zweiglein wie nimmermüde Hoffnung aus einem Grabe. „Glaubst du nicht,“? fragte Lore, „,da das Zweiglein besser wüchse, wenn wir den Baum, dann und wann mit Wasser begössen ?’ Und von da an stiegen wir bei trockenem heißem Wetter zu diesem Vogelbeerbaum hinauf und schöpften Wasser aus dem algendurchwachsenen Brunnenloche und gaben dem Zweiglein zu trinken.

Wir freuten uns an einem großen, fetten, grauweißen Hasen, den wir bei der Quelle überraschten. Er sprang ein paar Sätze weit, blieb dann halb umgewendet mit aufmerksamen, weißgerandeten Löffeln neugierig stehen und ließ sich von Lore eine allerliebste Rede halten, die ihn zu überzeugen suchte, daß ihm eine Gefahr drohe. Dann aber begann er sich doch zu fürchten und entfloh. Wir trafen ihn noch oft, und schließlich ward er so zutraulich, daß er sitzen blieb, wenn wir bei ihm vorbeigingen. Nur durfte man ihn keine Reden halten. Vor denen hatte er einen Heidenrespekt.

Wir freuten uns auch an einer umgestürzten Föhre, die mit ihren Wurzelfängen immer noch die Steine umkrallt hielt wie ein toter Raubvogel seine Beute. An einem ausgehöhlten Strunk, aus dem Moos und Blumen herausguckten wie aus einer Vase. An einem Blick vom Liederberg in die allerblaueste Ferne. Ach, es brauchte nicht mehr als einen ganz bescheidenen Granitblock im Heidekraute, das nicht einmal blühte, mit einer kleinen Birke dahinter, um uns ergriffen stehen bleiben zu lassen. So offen war unser Gemüt.

Und jeden Abend erzählte ich ihr eine Geschichte.

„Woher hast du die vielen Geschichten ?“ fragt Lore. Sie hätte auch gerne einmal eine Geschichte erzählen mögen und wenn es nur eine ganz kleine gewesen wäre.

„Ach, die liegen ja überall herum,“ lache ich, „man muß sie nur aufheben. Jeder Stein, jeder Baum, jedes Bächlein hat seine Stimme. Wie könnte ein Ding sein, das keine Stimme hätte? Man muß sie nur hören können. Und die Wolken am Himmel und alle Sterne sind voll Geschichten. O, was das für ein Geschrei wäre, wenn jedes Ding seine Geschichte auf unsere Weise hinausrufen würde. Nicht zum Aushalten wär's auf Erden.“

„O du Plappermaul,“ sagt sie, „was flunkerst du! Die Geschichten sind in dir.“

Wir fahren über den See, wir gehen durch den Wald. Und ich meine, sie denke an Barsche und Hechte oder an Erdbeeren und Heidelbeeren und nichts anderes. Aber plötzlich sagt sie ein tiefes, schönes Wort, ein Wort wie ein geschliffener Edelstein, ein Wort zum Staunen zum Andächtigwerden. „Woher hast du das Wort ? frage ich leise. „Es ist mir zugeflogen,“ antwortet sie lächelnd, „hier fliegen einem ja die schönen Worte in den Mund wie die gebratenen Tauben im Schlaraffenand. Sie fallen vom Himmel herunter, tausend aufs Mal, reichlich, überreichlich, wie Regentropfen. Man, raucht sie bloß aufzufangen.“

„Ach du,’ sage ich fast zornig, „warum verleugnests du deine Seele ?“ Da schaut sie mich an und lächelt nicht mehr. Und ich sehe ihre Seele und weiß auf, einmal, daß sie mir noch viele schöne Worte sagen wird, jedes zu seiner Zeit.

So erlebten wir den Leib, die Seele, so Blume und Duft, so Flamme und Licht. Jubel durchbebte uns. Jetzt wußten wir, was der Mensch ist. Und das zu wissen, ist das Leben wert, wiegt die Schmerzen der Mutter, die Mühe des Vaters und die Qual so vieler eigener Tage tausendfach auf.

,Das ist der Triumph,“ jauchzte ich über See und Wald und alle Berge, „Adam sein und Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts. Dich an mich zu reißen, wie schon der Jäger vor fünftausend Jahren sein Weib an sich gerissen hat, aber auch mit dir zu sein im feinen mitschwingenden Gedanken. Den Stein aus der Erde zu brechen, wie es der kräftige Arm von jeher getan hat, aber den Stein anzuschauen und seine Gechichte zu wissen, wie es nur ein Gegenwärtiger kann. Der Allerälteste und der Allerjüngsste zu sein, das ist Reichtum. Dann haben die Menschen, die vor uns über die Erde gingen, nicht umsonst gelebt. Wir sind der Sinn ihrer Anstrengungen. Der glückliche Mensch ist der Sinn der Welt. Er ist die höchste Offenbarung Gottes.“

„Gibt es einen Gott ?’ fragte Lore vermessen.“

„Es muß einen Gott geben,“ sagte ich „wem sollten wir sonst danken ?“

Da faßten wir uns an den Händen und riefen in jubelndem Duett: „O Gott, wir danken dir, daß du uns so wunderbarlich gemacht hast !“

36.

Hatte sich die Welt verändert? War ich selbst ein anderer geworden? O Scham und Schmerz: tes großen Glücks, des hohen Flugs, des gläubigen Sto:zes beraubt, vergingen meine Tage.

Vielleicht war es bloß irgendeine geringfügige Ursache, die mich im geheimen quälte, eine Verstimmung, eine Reaktion. Wer weiß, ob ich tiese Veränderung überhaupt gemerkt hätte, wenn ich nicht im Inselleben so empfindlich geworden wäre, daß ich die leisesten Regungen wahrnahm. Mein Ich war gleichsam isoliert, abgeschnitten von all dem, was in der Stadt betäubt und überlärmt, auf Glasfüße gestellt, ein Messer der schwächsten elektrischen Ströme, den kleinsten Ausschlag mit Hebelübertragung riesig vergrößert registrierend.

War der Lebenswille geringer in mir ? Nein. Ich freute mich an meiner braunen, glänzenden Haut, an meinen Händen, die frisch und würzig dufteten. Und noch besserer Beweis wurde mir gegeben: Eines Morens, beim Holzhauen, spürte ich im rechten Auge einen heftigen Schmerz. Ein Splitter hatte mich getroffen. So unerhört war der Schmerz, daß ich mich niedersetzen mußte. Das Auge triefte. „Seh ich nicht?“ durchuhr es mich. Und aus Angst und Furcht und Entsetzen löste sich die Offenbarung: „Und wenn ich auch einäugig bin, so freu ich mich doch am Leben. Ja, wenn ich auch blind wäre, so würd ich mich doch noch des Lebens freuen und wünschen, steinalt zu werden.“ Ich nahm die Hand vom Auge und öffnete die Lider. Weiße Flecken tanzten schnell vorüber. Aber ich sah. Das war ein Glück. Aber noch größer das Glück, erfahren zu haben, wie stark und tief ich an diesem Leben hing.

War unsere Liebe über Nacht alt geworden ? Nein ein. Immer noch waren alle Früchte ohne Süßigkeit das Wasser ein schaler Trank, verglichen mit der Liebe.

Ich sagte: Die kleine Birke am Ufer lächelt, wenn sie sieht, wie wir uns küssen. O, wie wird sie erst lächeln in zehn Jahren, wenn sie so groß ist wie die Tanne neben ihr!

Spricht so eine welke Liebe ?

„Auf der Innenseite unseres Schranktürchens wollen wir jeden über alle Maßen verliebten Tag aufschreiben,“ hatte ich gesagt. „Ich will ein Kreuz hineinmalen, eine Blume, einen Stern,“ hatte Lore gesagt.

Wir hatten aufhören müssen, denn das Türchen war viel zu klein. Es hätte so groß sein müssen wie ein Scheunentor, wie eine Domtüre, wie ein Stadttor. Ach, auch dann noch wäre es zu klein gewesen, viel zu klein.

Nein, die Liebe war nicht schuld an meiner Verstimmung, dieser Trübung, dieser Unzufriedenheit, die jetzt als ein nie schweigender Unterton in aller Freude mitschwang.

War die Insel, der See, die Landschaft dran schuld ? Nein, immer noch kam jeder neue Tag wie ein Wunder über uns. Frisch und glänzend sprangen alle Stunden aus der Schöpferhand.

Neue Blüten, neue Düfte, neue Früchte! Man denkt, die Welt könne nicht mehr reicher und schöner werden, aber am Morgen darauf ist sie doch noch reicher und schöner.

Da ist zum Beispiel ein Sandstrand, nur Sand, nur Sand. Und plötzlich heben sich auf spinnfadendünnen Stengeln gelbe Blüten aus diesem unfruchtbaren Wüsstenboden. Es ist nicht zu glauben. Ein Wunder ist diese Blume, die fast nur Blüte ist. Ein Vorbild für die Seele: Sich auch mit so wenig Irdischem zu begnügen und auch vor allem Blüte zu sein.

Da ist das See-Ende nicht breiter als ein tüchtiger Fluß. Grobschlächtige Wildheit steht neben lieblicher Anmut. Der Tannenwald zur Linken ist so dicht und finster, daß man nicht hineinssehen mag. Zur Rechten schimmert das Wasser in wollüstiger Weichheit, in schläfrigem, sommerlichem Hindämmern mit eleganten Birken und vielstämmigen grauen Erlen am Ufer. Es gibt nichts Schöneres als diesen Gegensatz von Schäferidyll und Köhlerwald, von Liebesschloßweiher und Tannenschrecken, sagt man. Aber da tauchen auf einmal die gelben und weißen Teichrosen aus dem Wasser. Wie Luftballons an langen Schnüren steigen sie aus dem dunklen übelriechenden Moraste an die Sonne. Die gelben sind so voller Sehnsucht, daß sie sich schon im Wasser öffnen, gierig den schwachen Lichtschein trinkend. Und ihr Blütenpokale schenken dem Sommer neue Wohlgerüche, Ananas, Zitronen, Äpfel, Birnen, alles durcheinander wie bei einem italienischen Fruchthändler. Die weißen sind vorsichtig und klug und öffnen sich erst, wenn die Knospe über Wasser und alles gesichert ist, dann aber um so blendender und prächtiger. Was sind Tannen, Erlen, Birken und sommerliche Wellen gegen diese Lotoslumen des Geheimnisses, sagt man jetzt.

Da ist eine Lichtung im Walde, eine ganz gewöhnliche Lichtung. „Komm, Glorian,“? sagt Lore, die einen einsamen Spaziergang gemacht hat, „du mu die Lichtung sehen !“ Was wird zu sehen sein, denk ich, aber ich folge ihr. Ich würde ihr auch folgen, wen sie mich in die Wüste führte. Aber sie führt mich nicht in die Wüste, sondern in die unverhoffte Pracht rosaroter, mannshoher Weidenröschen. Palmenwedel mit hundert Blüten obendrein, das sind die Weidenröschen. nd tröstend und verheißend hängen über den vieler Blüten ebensoviele Knospen, als habe die Pflanze im inne, ewig zu blühen. Hundert Straßen mit je tausend Schweizerfahnen im schönsten Sonnenschein sind nicht o fröhlich und farbenprächtig wie diese Blumen. Sie wachsen dort, wo sonst nichts wächst. Wenn der Wald höher wird, fliehen sie, diese Sonnenblumen. War die ganze Welt so rot, ehe der Wald kam? O, dann möchte ich damals gelebt haben. „Man muß ihnen einen andern Namen geben,“ sag ich. „Weidenröschen, was ist das! Eine Weide mit Röschen, ja, stimmt schon, aber wo bleibt das Siegreiche, das Triumphierende, das Außerordentliche, das so ganz Ungewöhnliche dieser Blume ? Epilobien, das tönt besser, weil ein Geheimnis mitklingt, etwas Unverstandenes, man kann sich etwas Ungewöhnliches und sehr Köstliches denken. Wie wollen wir sie heißen, Lore ?’ Und wir denken nach und kriegen Kopfweh vor lauter Sinnen und Suchen. „Ich hab’s,“ ruf ich, „wir wollen sie Lobgottesblume nennen!“ Ja, Lobgottesblumen, das ist ein Name, der etwas sagt und Größe und Pracht ahnen läßt. Später erfahr ich, daß die Bauern von Himmelreichsgras sprechen, wenn ie die Weidenröschen meinen. Ich gäbe viel dafür, jenen Bauern, der den Namen erfunden hat, kennen lernen zu dürfen.

Schönere Blumen kann’s nicht geben, denk ich. Aber da finde ich weiße Epilobien, ebenso hohe, ebenso vielblütige, märchenhafte, orchideengleiche, und muß die Hände über dem Kopf zussammenschlagen.

Die Mannigfaltigkeit der Erde hat kein Ende. Unerschöpflich ist sie.

Man sagt: Ein Baum ist grün. Aber was heißt das : grün. Tausend Arten von Grün gibt’s. Die Birke, die Erle, die Espe, die Eberesche, jede hat ihr ganz besonderes Grün, das eine ganz besondere Freude gibt, wenn man es anschaut.

Man sagt: eine Fichte. Aber es gibt hunderterlei ichten. Man hätte sein Leben lang genug damit zu tun, alle Fichtensorten kennen zu lernen.

„Und Heidelbeeren! Es gibt längliche, runde, blaue, schwarze, kurzstielige, langstielige, wohlschmeckende, süße, säuerliche Heidelbeeren.

„Man kann die Welt, und wäre sie noch so klein, so ein wie unsere Insel, nie zu Ende schauen; je mehr man sieht, desto mehr bleibt einem zum. Sehen übrig. die Endlichkeit ist unendlich. Hinter jeder Entdeckung dauert eine neue Entdeckung. Jede Offenbarung führt zur Türe eines neuen Rätsels.

Wahrhaftig, die Natur war schuldlos an der unerklärlichen Bitterkeit, die fremd und unheimlich in meiner Seele nistete und sich nicht vertreiben ließ.

Geldsorgen ? Warum nicht gar. Mit zwanzig Kroen bestritten wir einen ganzen Monat. Und die Gastreundschaft der Erde nahm ja von Tag zu Tag zu. Niemand brauchte zu verhungerü, die Eichhörnchen nicht und die Menschen nicht. Für die Eichhörnchen gab's eine Unmenge von Tannenzapfen; für uns die großen, berneingelben, wie Birnen und Honig schmeckenden Sumpfrombeeren, einen Überfluß von Heidelbeeren, daß es war, als wate man durch Blut, wenn man durch den bald ging, und Himbeeren, daß man sich an einem trauche sattessen konnte. Und für die Vögel gab's die klaren, glasperlenglänzenden Jungfraubeeren und die schwarzen Ebenholzkugeln der Rauschbeeren.

Angst vor Menschen ? Auch das nicht. Die Fliegende Britta haite uns zwar von einem seltsamen Kumpan erzählt, der sie besucht hatte. Sie kannte ihn schon seit Jahren als den Verrückten von Quellenrain. Er war ein Stockholmer, augenscheinlich aus guter Familie, der nun von der Gutmütigkeit der Bauern lebte, dann und wann beim Holzhauen oder Ernten etwas mithalf, die Mädchen sehr gerne sah, alle Ausgaben, die er seinen jeweiligen Gastfreunden verursachte, sauber in ein Büchlein eintrug und versprach, sie zurückzuzahlen, wenn er einmal reich sein werde. Dieser Mann, der dann und wann aufzuwachen schien und verwundert fragte: „Warum bin ich eigentlich hier ?“ war auf den Lichtsennhütten gewesen, hatte Britta einen Liebesantrag gemacht und war von ihr mit einem tüchtigen Holzscheit aus der Stube gejagt worden. Wenn dieser Verrückte von der Insel gehört hatte und uns eines Tages überraschte ? Aber Britta hatte gesehen, daß er nach dem Tiefensee hinunter gewandert war und also wohl den Weg nach Birkenrain eingeschlagen hatte.

Erdrückte mich die Übermacht der Natur ? Es gab Sonnenuntergänge, die schrecklich waren, aber ich hielt ihnen stand. Ein Gewitter ging über den Dreiquellensee, Blitz auf Blitz, Schlag auf Schlag, daß die Insel zitterte. Aber ich jubelte nur.

Lockte die Welt ? Die Rufe, die uns an Menschen mahnten, fehlten nicht. Hilfeschreie, Posaunenstöße : das waren Brittas Kühe. Ein säuerlicher herber Gärungsgeruch: die Bauern am Ackerbuchter See hatten geheuet. Ein Klingen: das waren die Glocken von Ackerbucht. Und einmal etwas wie eine Melodie, vom Ostwind getragen: das war sicher die Weise einer Handarmonika. Aber dies alles ergriff mich nicht, weckte einen Wunsch und keine Sehnsucht. Und als ich einmal ine Zeitung las, die Brittas Bruder auf die Sennhütten ebracht hatte und vernahm, wie draußen, weit weg uf dem Kontinente eine überhängende Kriegsgefahr Ile Gemüter gefangen hielt, die Börsen zum Schwanken| und Beben brachte und alle Sicherheit der Zustände,, erknüpfungen und Beziehungen aufhob, da lächelte i überlegen. Der Schrecken, der draußen Handel und andel lähmte, hatte über mich keine Macht. Ich stand uf einem Grunde, der schlechthin nur durch den Tod pder durch den Untergang der Welt erschüttert werden konnte.

Aber was trübte denn mein Glück? Ich hatte ein schlechtes Gewissen und wußte nicht warum.

37.

Eines Abends gingen mir plötzlich die Augen auf. Ich saß am See und hörte ein fröhliches Schwadern und Plätschern. Mit dem Halse vor- und „rückwärts pendelnd, dann und wann untertauchend, kam eine Ente um die Inselecke geschwommen, majestätisch wie ein Flaggschiff, hinter ihr, in gehörigem Abstand, sieben Entlein, bald dicht beisammen, bald hintereinander, die manierlichsten und possierlichsten Manöver ausführend.

Da spürte ich Gebot und Gesetz, gegen das ich sündigte. Gering war die Ursache, beinahe lächerlich der Anlaß, aber tief und gewaltig die Erschüiterung.

Unaufhaltsam wuchs ringsum die Welt der Fruchtbarkeit des Herbstes zu. Wo waren die tausend Frühlingsblüten ? Sie waren tausend Früchte.

O Menschenliebe, die du dich so hoch dünkst, schämst du dich nicht vor den Siebensternen, den Schattenblumen, die so bescheiden blühten, während du die Schale des Sees zwischen den Wäldern und Bergen mit stolzem Jubelgeschrei fülltest? Sie taten, was ihr Wesen war, und schufen die Frucht, gewaltigem Willen gehorchend und sich nicht fürchtend. Du aber ...

Ich spürte den ewigen Trieb, dem alles Lebende untersteht. Kein Glück mehr, wenn du ihm nicht gehorchst, rief es mir zu.

Und wenn du auch arm bist und keine Zukunftssicherheit bieten kannst, ist sie nicht mutig und stark genug, dein Weib zu sein, dein wahres Weib, ohne etwas von dir zu fordern ?

Da ging ich langsam zu Lore, die am See im Sande lag und ein Lied trällerte.

„Lore,“ sagte ich, „ist auch dir begegnet, was mir begegnet ist ?“

„Was denn ?“

„Die Drohung der Glücksvernichtung und die Verheißung größern Glücks ?“

„Was willst du damit sagen ?“

„Daß, wer so tief in der Natur ist wie wir, der Natur gehorchen muß.“

„Inwiefern ?“

„Verstehst du mich nicht ?“

„Nein!“

„Oder willst du mich nicht verstehen ?“

„Ich weiß wirklich nicht ...“

Merkst du nicht, von was ich spreche ?“

„Nein !“

„Ich spreche vom Kinde.

„Darüber haben wir ja schon längst zu Ende gesprochen.“

„Nein, nicht zu Ende.“

„Was sind das run wieder für Einfälle ?“ Und sie küßte mich lachend.

„Nicht so, Lore!“

„Liebst du mich nicht mehr ?“

„Mehr als je ... darum ...“

Aber das geht ja nicht ... wir können ja nicht heiraten . . .“

„Heiraten! Du ssprichst wie irgendein Mädchen.“

„Verlangst du wirklich, daß ich ...“

„Ja, Lore !“

„Du verlangst viel !“

„Weil ich viel von dir halte.“

„Aber bedenke doch, Glorian . . . meine Stelllung...“

“O, ich glaubte, du seist so mutig, so tapfer, so groß ... “

„Bin ich dir nicht in die Einsamkeit gefolgt ?“

„Was hast du mir dabei geopfert ? Nichts !“

„Du bist hart ...“

„Verzeih ... ich will dir nicht weh tun . . . Aber, ist's nicht so ? Was hast du mir geopfert ?“

Nun bekam auch ihre Stimme kälteren, strengeren Klang.

„Willst du, daß ich abrechne, Opfer gegen Opfer setze? Soll sich unsere Liebe in ein Feilschen und Markten verwandeln ? Hab ich jemals damit geprahlt, daß ich etwas geopfert habe ? Bin ich dir je in den Ohren gelegen mit dem Rufe: Sieh, was ich nicht deinetwegen gewagt und getan habe, bete mich an! ?“

„Nein.“

„Und doch war ein Wagnis dabei, und es war eine tüchtige Tat, dir zu folgen; das zu schenken, was man bewahrt als sein Heiligstes; Sicherheit gegen Unsicherheit umzutauschen. Und jetzt sag ich dir auch das, was ich dich bis jetzt nicht habe wissen lassen: In Berlin hab ich nichts mehr zu tun. Die Gesschäftsverbindung mit meinen beiden Teilhaberinnen ist aufgelöst. Wenn ich je zurückkehre, dann muß ich von neuem beginnen.“

„Meinetwegen !“ stieß ich hervor.

„Ja, deinetwegen. Fünf Jahre Arbeit sind dahin. Aber ich hielt es nicht aus ohne dich. Die andern zwei verspotteten mich. Sie hatten ja schon gemerkt, wie es mit mir stand. Sie nannten mich einen Fahnenflüchtigen, einen Verräter an der Sache der selbständigen Frauen. Sie dachten so, wie ich früher gedacht hatte. Da trennte ich mich von ihnen. Ich dachte nur daran, wieder in deine Nähe zu kommen. Ich würde wohl auch in Schweden weben können, sagte ich mir. Was hast du gegen dieses Opfer zu setzen ?“

„Nichts,“ stotterte ich überwältigt. „Verzeih,“ bat ich.

„Und noch eins, Glorian,“ fuhr sie leise fort „was ich ahnte und fürchtete, ist eingetroffen: i ann nicht mehr weben. Seitdem ich bei dir bin, hab ich keine Lust mehr zu meiner Arbeit. Du bist allzusehr in mir. Es ist kein Platz mehr für einen andern Geanken. Wenn unser Geld zu Ende ist, ich glaub, ich muß sterben. Laß uns glücklich sein bis dahin, Glorian. Ich habe alles auf dich gesetzt, verlaß mich nicht !“

Ich schalt mich einen unverschämten, maßlosen Forderer, einen undankbaren Ungenügsamen und nahm sie in meine Arme.

„Kein Wort mehr davon,“ sagte ich, „und zu sterben brauchst du nicht, wir können von meiner Geschäftsorrespondenz leben.“

„Glaubst du, ich denke nie an das Kind ?“ sagte sie, „aber es geht ja nicht. Wir Frauen sind wohl schon Mütter im voraus, ihr Männer aber keine Väter. Jeder Vogel baut sein Nest, und jede Mutter will, daß ihr; Kind ein Heim hat und Sicherheit. Aber wir können uns ja troßdem lieben, nicht ?“

Ich schwieg.

„Aber vielleicht,“ sagte sie tröstend, „vielleicht kommt mir eines Tages der Mut und die Kraft, die du ersehnst, und der Wille, der in dir ist. Denn ich war stolz und stark, das weiß ich, und hab es mehr als einmal bewiesen. Warum soll ich es nicht wieder sein? Aber jetzt bin ich nur dein Mädchen, deine Geliebte und hab keinen andern Gedanken als nur Liebe und keinen anderen Willen, als dich zu liebkosen, und eine andere Sehnsucht, als eins mit dir zu sein. Bist nicht du mein Kind ? Und sind nicht deine Gedanken deine Kinder ?“

Sie war schön und verführerisch in ihrer Hingebung. Mütterlichkeit lag im Ausdrucke ihrer Augen und in der Wärme und Kraft ihrer umfangenden Arme. Fürwahr, was brauchte ich sie zu plagen. Mochten die Bauern Kinder gebären, jeder ein Dutzend. Das war ihrem Wesen gemäß. Uns aber gebührte die Vergeistigung und Beseelung.

Solches sagte ich mir, solches zwang ich mich zu glauben. Denn sie durfte nicht leiden. Es war meine Aufgabe, ein glückliches Gesicht zu zeigen, auch wenn ich nicht glücklich war.

„Erzähl eine Geschichte.“ sagte Lore. Ich verstand sie. Sie wollte, daß ich das Gespräch vergessen sollte.

„Gewiß, Lore,“ sagte ich eifrig, „was für eine Geschichte soll es denn sein: Von einem Auerhahn oder einem Porphyr oder einem hundertjährigen Hecht ?!“

„Von einem Porphyr,“ sagte sie.

„Gut denn,“ sagte ich, „nur eine kleine Weile, dann werde ich dir eine schöne Geschichte von einem runden Porphyr erzählen.“

Ich dachte nach, aber es wollte mir nichts einfallen. Das war das erstemal in diesem Sommer, daß mir keine Geschichte in den Sinn kam. Krampfhaft suchte ich, aber umsonst.

Plötzlich ahnte ich, warum mir die Dinge nichts mehr sagten: die Unschuld des Lebens war nicht mehr in mir. Wie sollten Geschichten aufblühen können, wenn man heuchelte ?

„Nun denn,“? sagte Lore ungeduldig.

„Ich weiß keine Geschichten mehr,“? sagte ich schroff.

„Nicht ?" sagte sie enttäuscht und schaute mich verwirrt an.

Sie ist häßlich geworden, dachte ich und prüfte unbarmherzig ihre Züge. Ich vergaß, daß sie mein Spiegel war.

„Warum weißt du keine Geschichten mehr ?‘ fragte sie ängstlich.

„Deinetwegen !“

„Glorian, kannst du dir denn diese Gedanken nicht aus dem Kopf schlagen ?“

„Seltsam, daß du nicht die gleichen Gedanken hegst ...“

„ Glorian. ... was weißt du. von meinen Gedanken ... es gibt Augenblicke, wo ich zusammenschaudere, wenn meine Hand zufällig über meine Brust fährt. Zu einem rinnenden Nährquell sollen die Brüste einer Liebenden werden ... Aber es geht ja nicht ... es ist unmöglich !“

Ich wußte, daß sie recht hatte, aber dennoch sagte ich, wie gezwungen, als sei es eine Lust sie zu quälen: „Du hast keinen Mut!“

„Du bist ungerecht,“ sagte sie heftig, „du bist mitleidslos ... undankbar ...“

„Es handelt sich hier nicht um Gerechtigkeit und Mitleid und Dankbarkeit, sondern um die Erfüllung des Gesetzes,“ sagte ich unerbittlich.

„Sind wir nicht denkende Menschen, stehen wir nicht über den Gesetzen ?“

„Nein, man kann sich bloß taub stellen, sich darüber hinwegtäuschen, solange es geht, das ist alles !“ verkündete ich.

Die Tränen schossen ihr in die Augen. Da fiel ich ihr zu Füßen.

„Verzeih mir, Lore ... Ich begreife nicht, daß ich es über mich bringe, so mit dir zu reden. Du könntest mich mit Vorwürfen beschämen. Du könntest sagen: Geh hin, tu deine Arbeit, schaff Geld, bau mir ein Haus, du Faulenzer, statt zu predigen, dann will ich dir ein Kind schenken. Aber du schweigst, du bist viel besser als ich."

Wir versöhnten uns, wir umarmten uns, wir küßten uns.

O nein, jubelte mein Herz, da ist nichts von Überdrüssigsein.

Nur die Geschichten blieben mir fern. Sie werden wiederkommen, dachte ich.

Aber eines ließ sich dennoch nicht wegräumen, eines war anders geworden: Bis dahin war Lore die Größte gewesen. Ich hatte mir keine Größere vorstellen können. Nun aber träumte ich dann und wann von einer noch Größeren, von einer Unbekannten. Ich spürte Gewissensbisse, wenn ich solches träumte. Und am Morgen gab ich mir alle Mühe zu vergessen, was ich geträumt hatte.

Eines Nachts kam die Versuchung zu mir.

„Sei rücksichtslos, du Allzurücksichtsvoller. Was fragst du nach ihrem Willen! Gewalttätig will das Weib den Mann!“

Aber ich bäumte mich auf gegen diesen Spruch.

„Nein,“ rief ich, „jubelnden Willen will ich, nicht stillschweigendes Dulden! Neu ist die Zeit, neu das Gewissen, anders der Mann, anders das Weib !“

Da, entwich die Versuchung mit höhnischem Gelächter.

Ich aber erwog mit festgefaßtem Entschluß:

„Die Mutigste, Größte, an Liebe Reichste soll die Mutter meines Kindes sein. Drum muß ich auf ihren Willen warten. Wie sollte ich sonst wissen, ob Lore diese Mutter ist ?“

38.

Zwischen den Mittagskatzsennhütten und dem Sonnensee brannte der Wald. In einem Häuflein von guern und Köhlern, die sich aus meilenweiten Enternungen zusammengefunden hatten, halfen wir beim Löschen mit, wenn auch nicht viel zu helfen war, bi der Ostwind den Brand gegen den Sonnensee trieb und ihn ertränkte.

Als wir schmutzig, rußig und angesengt auf die ichtsennhütten kamen und mit großen Worten Gesehenes und Erlebtes berichteten, erzählte Britta, daß vor ald zehn Jahren hinter dem Schönen Berg ein Riesenbrand gewütet habe, gegen den der Brand am Sonnenerg bloß ein kleines Feuerlein sei, und daß nun dort eine seltsame und schreckliche Welt, die Tier und Mensch eide, einsam und still daliege. Da machten wir uns schon am nächsten Tage auf den Weg nach dieser verwunschenen Gegend.

Als Lore den toten Wald erblickte, wäre sie am liebsten auf der Stelle umgekehrt.

Die Steine lagen nackt da, weiß und rot, ohne Moos, ohne Flechten, reingebrannt, reingewaschen, das entblöste Fleisch der Erde. Glitzernd, blendend, wie mit Pech überlaufen, schuppig standen die zu Brettern verbrannten Stämme zwischen ihnen. Dürre Tannen streckten sich wie riesige Schachtelhalme in den Himmel, die Zweige, die beim Antasten klingend abbrachen, in wunderlichen Arabesken nach unten und gegen den Stamm zu gebogen. Weiße, hohe, geköpfte, laublose Birken schimmerten wie unheimliche Säulen. Reichbelaubte niedere Sträucher, die vereinzelt und üppig aus dem aschengedüngten Boden emporschossen, machten das Leblose noch lebloser. Ein Heidengottesacker, eine Totenstadt, ein Schlachtfeld, ein Weltbild aus der Kohlenzeit. Alles predigte Vernichtung und Verderben.

„Ich muss noch weiter hinein,“ sagte ich „so lockt es mich.“

„Ich kann nicht,“ gestand sie, „ich muß an Mörder denken, was weiß ich, ja, an Mord, so finster, so unheimlich ist dies alles, an grausame wilde Tiere; ich fühle einen Schrecken wie man ihn als Mädchen fühlt, wenn man unversehens in eine enge, schmutzige, finstere Straße kommt und ein Mann stellt sich einem in den Weg und macht eine unverschämte Gebärde, daß man wie gejagt davonläuft. So etwas spür ich, wenn auch anders. Es ist mir, als sei die Welt am Untergehen, als sei sie schon untergegangen, verbrannt. Komm, ich muß wieder in den Wald, wo die Zweige wachsen und der oden grünt, sonst steht mir bald das Herz still.“

„So geh,“ sagte ich, „und warte auf mich. Ich hab noch nicht alles gesehen, was zu sehen ist. Jn einer Stunde komm ich zurück.“

„Du bist rücksichtslos,“ sagte sie.

„Bist du denn ein kleines Kind ?“ fragte ich ungeduldig.

„Gut denn,“ sagte sie, kehrte sich um und ging gegen den Schönen Berg zurück.

„Warte auf mich,“ rief ich ihr nach. Sie gab keine Antwort. O, sie wird schon auf mich warten, tröstete ich mich und schritt tiefer in den verbrannten Wald hinein.

Das war eine Lust. Die Gedanken sprangen wieder in mir auf, Bilder durchzuckten mich. Es war, als ob die ganze Sommerwelt auf eine ganz neue Weise lebendig würde, da ich nun mitten drin im Tode stand. Auf der Insel hatte ich mich in die Steinzeit zurückversetzt gefühlt. Hier war ich in der Urzeit. Ich erlebte die Schöpfung der Erde. Da lag der nackte Stein ohne Leben. Da stand man zwischen den Farnbäumen, Calamiten und Sigillarien der Kohlenformation, drüben war die Jetztzeit, hinter den Bergen die Menschheit.

Ich erlebte den Brand. Was für eine Schuld für den, der aus Versehen oder Absicht den Wald angezündet hatte. Wer mochte es getan haben, warum wohl ...?

Ich schaute und dachte und lauschte. Da wurde die Geschichte des toten Waldes in mir lebendig.

Ich war wieder der Alte. Hätte mir sonst der tote Wald seine Geschichte erzählt ?

Mit raschen Füßen strebte ich dem Schönen Berge zu. Ich konnte es kaum erwarten, Lore zu treffen. Ich sprang von Stein zu Stein, überstieg Barrikaden von verkohlten Stämmen, schritt wie ein Seiltänzer über schmale gefährliche Brücken aus Stämmen, die sich beim Stürzen über eine Tiefe gelegt batten, kletterte Felswände hinauf und lief im Sturm Abhänge hinunter.

Aber niemand wartete auf mich am Schönen Berg. Ich rief und jauchzte. Keine Antwort. Vielleicht war sie vorausgegangen.

Ich schritt in den Wald hinein, glaubte sie bei jeder Biegung des Weges zu sehen, kam auf die Höhe, traf sie immer noch nicht, stieg gegen den See hinunter, immer noch allein, und kam endlich ans Ufer, um zu entdecken, daß sie mit dem Boot schon weggefahren war.

War sie mir böse? Wollte sie mich strafen? Sie mußte drüben auf der Insel sein. Ich sah sie. Ich rief. Sie gab keine Antwort.

Erst nach einer halben Stunde kam das schwarze. Boot auf mich zu.

„Lebwohl,' sagte sie statt aller Begrüßung, „wenn du allein bist, brauchst du keine Rücksichten mehr zu nehmen ... Ich fahre nach Berlin zurück.“

Nun muß ich wieder von vorn anfangen, dachte ich. Ich muß sie zu gewinnen suchen, als sei sie nie die Meine gewesen.

Ich faßte ihre Hände.

„Lore,“ sagte ich, „es ist keine halbe Stunde her, da bin ich so glücklich gewesen wie in unserer besten Zeit ...“

„Wohl weil ich nicht dabei war ...'“ Sie machte sich frei.

Ich wußte nicht weiter. Jhre kühle, sichere Art machte mich stumm.

„Verzeih mir,“ stammelte ich endlich, ,„daß ich dich so lange allein ließ.“

„Gewiß. Ich begreife, daß dich kein Gefühl mehr an mich band, drum verzeih ich dir. Aber es wäre besser, wenn mir das Verzeihen nicht so leicht fiele.“

„Ich kann nicht ohne dich leben, sagte ich. Das war die ungeschminkte Wahrheit.

Aber sie klang lächerlich.

„Und mit mir, scheint's, auch nicht,“ sagte sie ungerührt.

„Probier es nochmals mit mir,“ bat ich, „der Sommer ist noch so lang. Hab ein bißchen Geduld !“

„Hör auf mit deinem Bitten,“ rief sie zornig, „du siehst so jämmerlich aus. Ich möchte dich trotz allem doch etwas schöner_ in der Erinnerung haben. Und wenn ich auch von dir gehe, so sei wenigstens ein Mann. Sonst reut's mich schließlich noch, daß ich je gekommen bin !“

„O, ich kann auch anders aussehen,“ sagte ich gereizt. Der Zorn packte mich. Ich wollte ihr zeigen, daß ich ein Mann war. Vielleicht wollte sie bloß meine Stärke spüren. Hatte sie nicht in Birkenrain gesagt : Warum hast du mich damals in Berlin nicht geschlagen? Gut denn!

Ich packte ihre Handgelenke, daß sie aufschrie, und zwang sie zu Boden.

„Bist du nun zufrieden ?“ fragte ich.

„Roher Mensch !“ fauchte sie und blickte mich haßerfüllt an.

Da sah ich ein, daß ich mich geirrt hatte. Die Gewalttätigkeit hatte uns noch weiter auseinander gebracht. Ich konnte sie nicht mehr halten. Sie trieb von mir wie ein Schifflein auf einem reißenden Strom. Ein paar Augenblicke noch, und es war für immer entsschwunden.

Nun mußte ich zeitlebens meine Hände hassen, weil sie ihr weh getan hatten.

„Nimm die Axt und hau mir die Hände ab,“ sagte ich zu ihr. Sie sah mich erschrocken an.

„Ja,"! sagte ich, „ich hasse meine Hände, die dir weh getan haben."

Ihre Augen wechselten den Ausdruck. Der Schrecken wich dem Staunen, das Staunen der Rührung.

Sie nahm meine Hände und streichelte sie.

„Wie gut, daß du das gesagt hast, sonst wären wir beide unglücklich geworden,“ stieß sie hervor. „Ich habe auf ein rettendes Wort gewartet wie auf ein Wunder. Ich war fest entsschlossen wegzureisen. Und doch dachte ich: Möcht er doch etwas sagen, auf daß ich bliebe. Aber du fandest kein Wort. Ich wurde zornig, weil du kein Wort fandest, denn auf diese Weise war ich ja gezwungen, von dir zu gehen. Und dann wurdest du brutal. Da gab ich alle Hoffnung auf und haßte dich, wie ich noch niemand gehaßt habe, weil du mich nicht erlöst hattest. Man sehnt sich nach Gewalt, dann nd wann, aber diesmal traf sie mich wie die Faust eines Betrunkenen. Denn siehst du, ich war zornig daß du mich einsam gelassen hattest, ich war beleidigt, das du mich so rücksichtslos behandelt hattest, aber ich liebte dich immer noch, bloß daß ich es nicht mehr zeigen konnte. Denn der Zorn umhüllte die Liebe wie eine Schale den Kern. Und diese Schale mußtest du zerbrechen. Nun ist sie zerbrochen, Glorian. O, wie nah steht man oft dem Abgrunde. Komm, küß mich, und hab Geduld mit mir, wenn ich dich je wieder quälen sollte, und wenn ich wieder vom Abreisen spreche, so mach mich getrost aus, denn es ist sicherlich nur irgendein kleines Teufelchen, das aus mir spricht, und sperr mich kurzerhand in die Hütte ein — vorausgesetzt, da du mich nicht loswerden willst.“

Ich setzte mich neben sie nieder und drückte sie fest an mich. „Wir wollen uns verzeihen. Und auch das nächstemal wollen wir uns verzeihen. Mir ahnt, daß wir uns noch oft zu verzeihen haben werden. Denn das Lieben ist schwer. Und je mehr man sich liebt, um o schwerer ist es !“

„Glorian,“ sagte sie, „Glorian ...“

„Lore ?“

„Wenn du ein Kind willst, ich meine, wenn du mich sonst nicht lieben kannst, so soll dein Wille unser Wille sein.“

„Und dein Wille ?“

„Der wagt es immer noch nicht,“ sagte sie offen, „aber er muß sich eben beugen.“

„Nein, er soll sich nicht beugen,“ sagte ich. Gerade jetzt dünkte es mich so leicht zu warten, denn die Geschichte vom toten Walde füllte meine Seele.

Sie sah mich zweifelnd an.

„Ist es dir Ernst ?“ fragte sie. „Quält es dich nicht ? Bist du glücklich auch ohne das ?“

Wie konnte ich ihr besser beweisen, daß ich glücklich war, als indem ich ihr die Geschichte erzählte ?

„Paß auf, Lore, ich will dir sagen, wie es beim Waldbrande zugegangen ist.“

„Kannst du wieder Geschichten erzählen,“ jubelte sie, „dann ist alles gut. Dann bist du wieder mein Glorian Kling. Ja, fang an."

39.

Es war also vor zehn Jahren,“ begann ich, „aber aufrichtig gesagt, so weiß ich nicht, ob es vor zehn Fahren war. Ich weiß überhaupt nicht, ob es je gewesen ist, verstehst du. Es ist eben eine Geschichte, die mir im abgebrannten Walde zugeflogen ist.“

„Zugeflogen, hm,“ lächelte sie.

„Aber ich weiß wahrlich nicht, ob es die Geschichte jenes Waldbrandes hinter dem Schönen Berg ist. Aber jedenfalls handelt es sich um einen Waldbrand. Es war also vor zehn Jahren im Juli, ja, im Juli.

Seit sieben Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Noch nie hatte man eine solche unermüdliche Hitze erlebt. Die Morgenluft ist wie abgestandenes Wasser. Tagsüber liegt so viel Glänzen und Glitzern in der Luft, daß man die Augen kaum öffnen kann. Vor der Aussicht hängt ein düsterer, bläulicher Schleier, der Sonnenrauch. Die Quellen versiegen, eine nach der andern; das Gras verdorrt. Die Matten sind so glatt wie ein Tanzboden. Das Wasser in den Seen ist lauwarm. Die gefangene Luft der Talkessel ist so drückend wie in einer Badestube. Das Moos ist dürr. Unter den Flüßen prasselt und knistert es wie Herbstlaub. Die lechten auf den Steinen sind schwarz und morsch. Die Erdbeeren, Himbeeren und Heidelbeeren verdorren. Die Sümpfe trocknen aus.

„Wenn es nur keinen Waldbrand gibt,‘ sagen die Leute in den Sennhütten. Alles was ja sonst grün und saftig dasteht, ist heuer zu Zunder geworden. Wenn nur ein Funken hineinfliegt. Ist's nicht gerade so, als ob die Welt aufs Anzünden warte ? Und sie schauen besorgt auf die baufälligen Kamine und auf die alten Schindeldächer und horchen ängstlich auf, wenn der Südwind im Schornstein lärmt, als fahre draußen ein Lastwagen im. Galopp vorbei.

Es muß ein Wald in Brand geraten, es kann gar nicht anders sein. Man wartet darauf wie auf etwas Unvermeidliches. Man spricht von nichts anderem mehr. man wundert sich bloß, wo's losgehen wird. Am schwarzen See, am Sonnensee, am Großen See ? Oder am Sommerberg, am Liederberg, am Bösen Berg ? Wer kann's wissen! Aber irgendwo muß es brennen bei dieser ewigen Hitze, da oder dort, heute oder morgen! und wer vermag dann den Brand zu löschen ? Er kann wie ein feuriger Besen mit Sturmeseile vom Ackerbuchter See weg über Berge und Täler fegen. Wer soll ihn aufhalten in seinem Lauf ?

Die Leute denken nicht daran, wie gefährlich es ist, von schlimmen Möglichkeiten zu reden, sonst würden sie es bleiben lassen. Denn das Sprechen gebiert gar viele Dinge. Es kann Absichten und Pläne wecken, die im Stillschweigen nie wach geworden wären.

Um so schlimmer, wenn solches Gerede das Ohr eines Narren trifft. Und an Narren ist kein Mangel. Jedes Dorf hat seinen Verrückten, der frei herumläuft, solang er niemand totschlägt. Wenn er aber jemand totgeschlagen hat, dann wird er versorgt.

In Quellenrain ist’s der Schnupf-Alfred, der nicht recht bei Verstand ist. Er pflegt in den Höfen zu stehen und Lieder zu singen, geistliche und weltliche und oft sogar recht unanständige, besonders wenn ein Mädchen vorbeigeht. Aber man kennt ihn und läßt ihn machen, denn er hct noch niemand was zuleide getan, wenigstens bis dahin nicht.

In Steinacker haben sie den Großen-Gustav. Der ist verrückt, solange man weiß. Gewöhnlich arbeitet er wie irgendein anderer. Plötzlich aber kann es ihm einfallen, schreiend und jammernd davonzulaufen; dann verbirgt er sich tagelang, wochenlang im Walde. Was hat er, wovon lebt er? Niemand weiß es. Und eines Abends kommt er wieder ins Dorf, mager, abgezehrt, nur Haut und Knochen, und sucht Arbeit. Wenn man ihn fragt, wo er gewesen sei und was er getrieben habe, so schaut er bloß erstaunt drein und schüttelt den Kopf. Da läßt man ihn in Ruh. Und der Große-Gustav tut wie ein ausgehungerter Schiffbrüchiger, schläft fünfzehn is zwanzig Stunden in einem Streich und arbeitet dann wie ein anderer — bis, es. ihn wieder in den Wald reibt, kein Mensch weiß warum.

In Hammerdorf wohnt auch einer, von dem viel Merkwürdiges erzählt wird: der Uhren-Johann. Er hat eine Hütte und hinter der Hütte einen kleinen Acker Aber dieser Acker trägt gar seltsame Früchte : Backsteine altes Eisen, Schindeln, Galoschen, Regenschirme, zerrissene Lederriemen, durchgelaufene Schuhe, zerschlagene Flaschen, zersprungenes Geschirr und Gott weiß was für altes Gerümpel. Und in der Hütte drin ist kaum mehr Platz zum Stehen und Gehen, so voll ist die niedere Stube von zerbrochenen Spinnrädern, baufälligen Bandwebstühlen, halbverfaulten Schränkchen, wackligen Stühlen. Denn was er nur bekommen kann, schafft er na Hause. Wenn die Leute von Hammerdorf ihr Gerümpe loswerden wollen, so stellen sie es bloß auf die Straße. Der Uhren-Johann sorgt schon dafür, daß es verschwindet.

In Kuhberg führt die Gottesmunds-Karin ein gar elendes Leben. Sie wohnt im Stall, in einem besondern Verschlag, und hat bloß alte Fetzen am Leib, denn sie ist so unsauber, daß man sie nicht im Zimmer haben kann, neue Kleider zerreißt sie, und die Speise ißt sie mit den Fingern. Jahrelang zeigt sie sich nicht. Viele wissen gar nichts von ihr. Aber andere haben sie nackt an der Landstraße stehen sehen. Man sagt, sie hätte einen, der ihr untreu wurde, gar grenzenlos lieb gehabt.

Einen Narren aber gibt's, der wohnt überall und nirgends, kehrt bald bei diesem Bauern ein, bald bei jenem. Er sagt, er sei von Stockholm und habe eine Million zu erwarten. Aber vorläufig müsse er sich vor seinen Feinden in acht nehmen. Die wollten ihn enterben und in eine Irrenanstalt bringen. Aber er sei nicht wahnsinnig und drum geflohen.

Er hilft den Bauern, wenn es ihm gerade Spaß macht, und wenn es ihm keinen Spaß macht, so erzählt er ihnen von seinen Reisen, und das ist den Bauern noch lieber als seine Hilfe. Ganz gescheit und lustig erzählt er. Wahrhaftig, der kann nicht verrückt sein, sagen die Bauern. Das mit seinen Feinden und der Million wird schon seine Richtigkeit haben.

Wenn er eine Zeitlang auf einem Hofe gewohnt und gegessen hat, so fragt er beim Abschied, was er schuldig sei. Denn sobald er seine Million habe, werde er alles reichlich bezahlen, den Zins nicht zu vergessen. Der Bauer lächelt und nennt dann eine geringe Summe, die der fremde Mann aus Stockholm sorgfältig in sein Notizbuch einschreibt."

„Ganz wie jener, der die Fliegende Britta. besucht hat," unterbrach mich Lore.

„Ja, ganz wie jener, vielleicht ist's jener,“ lächelte ich und fuhr fort: „Die Verrückten von Quellenrain, Steinacker, Hammerdorf und Kuhberg hören es nicht, daß man einen Waldbrand befürchtet. Der Narr von Stockholm aber steigt durch die Wälder mit dem dürren Moos und durch die Sümpfe ohne Wasser zu den Sennhütten hinauf, und da spricht man, wie gesagt, von nichts anderem.

In den Sennhütten fühlt er sich am wohlsten. Denn die Frauen und Mädchen lassen ihn machen, so lange er ihnen nicht zu nahe kommt. Und je nachdem haben sie auch nichts gegen das Zunahekommen. Denn er ist kaum etwas über die Dreißig und nicht häßlich. Aber Diesmal hat er kein Glück. Das erste Mädchen, das er auf die Wange tätschelt, sagt Usch‘ und stößt ihn weg. Nimm dich in acht,’ sagt er drohend. Aber sie hält ihm einen starken Arm vors Gesicht und lacht ihn aus. Da wendet er sich ab und geht weiter, denn es gibt ja mehr als ein Mädchen in den Sennhütten. Aber er muß immer an diesen Arm denken, der zum Anbeißen lecker gewesen ist. Und er dreht sich wieder um und folgt dem Mädchen in die Stube, wo eine alte Tante herumhantiert und seinen Eintritt nicht beachtet.

Der Narr setzt sich auf die Sitztruhe vor dem Wandette. Die Weiber tun, als sei er nicht da.

Sie sprechen von der Hitze. Zum hundertsten Male verwundern sie sich, daß es immer noch nicht gebrannt habe, und fragen sich, wo es denn schließlich brennen werde.

Der Narr horcht auf.

„Wenn ich die Funken übers Dach fliegen seh, dann denk ich immer, wenn nur keiner den Wald anzündet,' sagt die Tante.

Der Narr lächelt zuversichtlich und siegesgewiß. Es ist ihm etwas eingefallen.

Die Tante gießt. die Abendmilchsuppe in drei Holznäpfe. „Kannst auch mithalten,‘ sagt sie zu ihm, der auf der Sitztruhe vor sich hindöselt. Der Narr läßt es sich nicht zweimal sagen, denn er ist hungrig wie ein Wolf.

Stillschweigend löffeln sie die Suppe in sich hinein. Die Weiber denken an dies und jenes. Der Narr aber denkt nur an eines. Und er schielt bisweilen von unten herauf nach dem Mädchen hinüber und netzt sich die Lippen, als wolle er ihr im nächsten Augenblick einen Kuß geben.

Die Alte und die Junge stehen auf. „Gutnacht,' sagt die Tante zum Tischgast, ,wenn du willst, so kannst du in der Scheune schlafen.‘

„Fällt mir nicht ein, sagt der Narr. – „Wo willst du denn liegen ? fragt die Tante. – „Natürlich bei ihr,' sagt der Narr und deutet auf das Mädchen. – , Warum nicht gar,‘ sagt die Tante lachend, ,sie hat schon einen !' — „Dann zünd ich den Wald an,‘ sagt der Narr drohend. Die Weiber erschrecken. Die Tante faßt sich zuerst. „Du Lump du, ist das der Dank,‘ schreit sie, untersteh dich, dann schlagen dich die Bauern tot!‘ – „Ich zünd den Wald an,’ sagt er verbissen und stiert nur immer auf das Mädchen. – ,Das will ich dir austreiben,' ruft die Tante zornig und schlägt ihn ins Gesicht. Er taumelt ein paar Schritte zurück. Nun fallen beide Weiber mit Scheitern und Holzlöffeln über ihn her, drängen ihn zur Tür hinaus und riegeln aufatmend hinter ihm zu.

Der Narr steht zitternd auf dem steinigen holprigen Weg, der zwischen hohen Lattenzäunen quer durch das Häuflein der grauen niedern Blockhäuser und Ställe führt. Er schaut auf die kleinen Fenster mit den blinden Glasscheiben, hinter denen er das Mädchen und die Tante weiß. „Das zahl ich euch tausendfältig heim," sagt er und marschiert mit hochrotem Kopf in ein Moor hinein und dann in den Wald.

Jetzt erst merkt er so recht, wie dürr der Boden ist. Er lächelt befriedigt, wenn er hört, wie das Moos knirscht und prasselt, wie das Heidekraut unter seinen Tritten zerbricht. Und er lächelt no mehr, da er merkt, daß man durch die Sümpfe gehen kann, ohne die Schuhe zu nässen. Das wird brennen! denkt er. In einem weiten Bogen geht er um die Sennhütten herum, bis er den lauwarmen Nachtwind im Rücken hat. Wenn er jetzt ein Feuer anzündet, dann werden die Flammen gegen die Häuser zueilen. Und die Häuser werden verrennen, vielleicht auch die Menschen. Ja, hoffentlich!

Da merkt er, daß er keine Zündhölzer in der Tasche hat. Die Aussicht auf Rache fällt dahin. Blöde staunt er in den Wald, blöde schaut er zum Himmel auf.

Wenn ein Stern vom Himmel fiele, denkt er, und die Welt anzündete. Aber es, ist kein Stern am Himmel, so hell ist die Sommernacht.

Schließlich stapft er weiter, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Er ist müde und möchte schlafen. Er hat die größte Lust, sich auf dem weichen Moosboden, der die Tageswärme ausatmet, hinzulegen. Aber er merkt, daß seine Füße einen schmalen Pfad gefunden haben. Willenlos läßt er sich von ihm führen. Vielleicht kommt er zu einem Haus, oder einer Scheune. Wahrhaftig er kommt zu einer Köhlerhütte. Da wird er auf einmal wach und lebendig. Denn drinnen unter den Herdsteinen liegen sicher Zündhölzer. Er reißt die schmale Türe auf, zwängt sich hinein und beginnt zu suchen. Er fingert an den Steinen herum: verdammt, nichts. Mit beiden Händen fährt er über den Schaft unter dem Dach: auch nichts. Er beugt sich nieder, kniet auf den feuchten Boden und greift unter die Pritsche: Endlich. Das sind Zündhölzer. Wenn sie nur brennen. Ja, sie brennen! Und noch etwas anderes hat er gefunden: einen kleinen Blecheimer, ein Fäßchen mit einem Kork. Gluck, gluck macht das Tönnchen, wenn er es schüttelt. Es ist nicht leer, denkt er, Wasser wird drin sein, vielleicht auch Branntwein. Er riecht am Korke: ah, Branntwein. Das ist nicht übel. Denn durstig ist er. Nun wird er einen tüchtigen Schluck trinken und dann den Wald anzünden und dann irgendwo an einem sichern Ort tüchtig ausschlafen. Und er nimmt einen herzhaften Schluck und wieder einen und wieder einen. Auch das ist Feuer, auch das ist Brand. Wozu braucht man auf einen fallenden Stern zu warten, wozu braucht man Zündhölzer, wenn man selber brennt ? Er trinkt und trinkt. Jetzt ist er eine Flamme, eine lodernde Flamme. Er braucht bloß in den Wald hinein zu laufen, dann brennen die Bäume lichterloh. Hurra, hallo, der Wald brennt. Und jetzt brennen die Sennhütten. Und die Tante brennt. Und das Mädchen brennt. Die Kleider fallen ihm vom Leibe. Was für ein rassiges Mädchen. Aber schon ist’s bloß ein Aschenhäufchen, schade um das Mädchen. Aber warum hat’s ihn zur Stube hinausgejagt. Recht ist ihm geschehen! Weiter läuft er, über Wiesen und Felder. Das Gras flammt auf. Wieder durch Wald, die Tannen lodern zum Himmel. Durch Seen: das Wasser dampft und zischt. Weiter, weiter. Aus Ackerbucht wird ein großes Freudenfeuer. Und jetzt Stockholm zu! Hinter ihm ist nur Feuer, nur Feuer. Bald brennt die ganze Welt. Seine Feinde, die ihn ins Irrenhaus führen wollten, sollen sich in acht nehmen ... Wenn’s nur nicht so heiß wäre, aber natürlich, wenn man Flamme ist ... Er sehnt sich nach Kühle, nach dem Meer, das Meer wird ihn wohl auslöschen. Aber wo ist denn das Meer, kommt es denn immer noch nicht? Die Hitze, die Hitze, Hilfe. O, hätt er doch die Welt nicht angezündet, denn nun muß er selber verbrennen. Er spürt’s, will sich wehren und kann nicht.

Aber was ist denn das ? Es ist ja keine Flamme. Das muß ein Traum gewesen sein. Aber die Hitze, diese unerträgliche, schreckliche Hitze? Und dies Brausen und Dröhnen! Ein Wasserfall? Mit so hellem Schein? Nein, das ist Feuer. Er steht in einer Köhlerhütte mitten im Walde, und der Wald brennt. Es ist kein Zweifel, möglich. Wenn er nicht flieht, so ist er verloren. Das Feuer, das er angezündet hat, droht ihn zu verschlingen. Hals über Kopf stürzt er davon. Er läuft um sein Leben.

Jetzt ist er gerettet. Atemlos, mit heftig hämmerndem Pulsschlag steht er auf einer Felsenkuppe, wo auf allen Seiten schwarzangewitterte Granitplatten, die nichts anderes tragen als grauweiße und schmutzigrüne kuchenförmige Polster aus Moos und Flechten, wie flache, breitstufige Treppen nach dem Walde hinunterführen. Zur Linken ruht eine stille, klare, in helleres und dunkleres Blau getönte Landschaft im Morgenfrieden. Dunkle Forste, die im gelblichen Frühschein etwas Liebliches über sich haben wie Buchenwälder, grüßen freundlich herüber. Zur Rechten wütet der Brand. Heller Rauch steigt kerzengerade in den Himmel und schwebt über den Bergen wie eine Sommerwolke. Flammen ducken sich und springen auf, lodern und rauschen und braussen und dröhnen, krachen und prasseln.

Der Narr starrt und staunt hinab. Zwei große Schrecken sind in ihm.

Feuer heißt der eine Schrecken. Feuer, dessen Urheber er sein muß. Denn er wollte ja den Wald in Brand stecken, das weiß er. In eine Köhlerhütte ist er gekommen, hat Zündhölzer gesucht und gefunden, Branntwein dazu. Hat sich berauscht und im Rausche den Wald angezündet und vergessen, sich zu flüchten, bis ihn die Hitze zur Besinnung gebracht hat.

Ja, zur Besinnung ! Das ist der andere Schrecken. Er kann nicht begreifen, was er in diesen Wäldern tut. Ist er nicht ein Stockholmer Bankbeamter in guter, angesehener Stellung ? Er sieht seine zerrissenen Kleider an. So geht ein Vagabund einher. Was soll das bedeuten? Um Himmels willen, wie ist das zu erklären ? Er sinnt und sinnt. Und nun taucht etwas anderes in seinem Gedächtnisse auf. Dreißigtausend Kronen ? Was war mit diesen dreißigtausend los? Halt, er hat's: Sie fehlen in der Kasse, in seiner Kasse. Es muß schon lange her sein. Aber nun spürt er den Schrecken und das Entsetzen bei der Entdeckung, als sei es erst gestern gewesen. Verdächtigung, Beschuldigung, Anklage! Das ist zum Wahnsinnigwerden. Er begreift nicht, wo das Geld hingekommen ist. Dreißigtausend Kronen unterschlagen! Nein, nicht unterschlagen. Sie müssen gestohlen worden sein. Er ist ganz außer sich. Der Schein spricht gegen ihn. Er weiß sich nicht zu helfen. Gericht, Polizei! Und er ist unschuldig ... Und dann? Die Erinnerung wird undeutlich. Hände, die ihn zu halten suchen, Flucht. Hat er sich geflüchtet, um nicht ins Zuchthaus zu kommen?

Er denkt angestrengt nach. Nein, er hat sich nicht in diese Berge geflüchtet, um der Polizei zu entgehen. Man hatte ja den wahren Dieb entdeckt. Aber jemand hat ihn verfolgt, hat hn einsperren wollen. ber nicht im Zuchthaus. Wo denn ?

Sein Gedächtnis läßt ihn im Stich. Aber an den gestrigen Tag erinnert er sich. Er denkt an seine unverchämte Rede. Pfui! Spricht man so zu einem Mädchen. Nie hat er früher so zu einem Mädchen gesprochen. Man ist doch kein Pferdeknecht. Wie er sich schämt. Und daß er den Wald angezündet hat. O Gott, er begreift sich nicht. Es ist ihm, als sei der, der rachedürstend in den Wald gelaufen war, ein anderer gewesen, nicht er. Einer, der jetzt tot ist.

Aber der Wald brennt. Das lässt sich nicht ungeschehen machen. Männerstimmen tönen zu ihm herauf. Er muss sich flüchten. Die Tante und das Mößchen haben wohl schon überall von seiner Drohung erzählt. Man sucht ihn. Und er stürzt davon, vom Feuer hinweg.

Der Wald brennt. Niemand vermag ihm zu helfen. Bis die Bauern aus den fernen Dörfern anrücken, ist es zu spät. Die Frauen und Mädchen in den Sennhütten können bloß zuschauen und zu Gott beten, daß das Feuer sich nicht gegen sie wende. Auch die Kühe merken die Gefahr. Sie schreien wie Menschen.

Der Wald brennt. Alle Blumen, alle Kräuter, alle Sträucher, alle Bäume müssen sterben. Der Bärlapp, der sich in hellgrünen spitzbogigen Ornamenten über die blaugrauen Steine schlingt. Das isländische Moos, das einer erstarrten, an einem Stein aufgesprungenen, zerflatterten, in Gischt aufgelösten Welle gleicht. Die Renntierflechte, die einen an ein blattloses Lindenbäumchen erinnert. Das Moos, das aussieht wie ein Tannenwald im Kleinen, und jenes, das aussieht wie ein Kornfeld für Wichtelmännchen, und jenes, bei dem man an Edelweiß denkt. Alle müssen sterben. Und die Schachtelhalme und die Farnkräuter. Und die Bärte an den Ästen und Zweigen, manchmal nur so groß wie ein Ziegenbärtchen, dann wieder so groß wie der Bart eines Hundertjährigen, der ihn sein Leben lang hat wachsen lassen, oder auch wie lange Haare, daß man meint, ein Mädchen schlummere auf dem Ast und lasse seine aufgelösten Zöpfe herunterhängen. Und die Himbeeren und Sumpfbrombeeren. Und die Heidelbeeren, die Preiselbeeren und die Sumpfheidelbeeren. Und die Rauschbeeren, die Moosbeeren und die Bärentrauben. Und die Zittergräser und Glitzergräser, die in den Lichtungen stehen, so fein, so schlank, daß man sich denken kann, es sei der unerfüllte Traum eines Goldschmiedes geblieben, etwas so Schönes zu schaffen wie diese Gräser. Auch sie müssen dahin wie ein niedliches Feuerwerk mit Raketen und Funken über Funken. Und die feinstenglige, mandelduftende Linnäa muß fallen, nachdem die paar weißen Blüten eine kurze Weile geleuchtet haben wie Papierlaternchen. Nicht einmal mit den herrlichen Lobottesblumen hat das Feuer Erbarmen. Die Wacholdersträucher lodern prasselnd auf, sie explodieren wie Pulver. Da ist ein Baumstrunk, der wieder ausgefchlägen hat, erst gestern ist's ihm geglückt – und nun kommt der Brand. Die Espen, die immer so unruhig sind, wei das Kreuz Christi aus ihrem Holz geschnitzt worden ist, sind heute noch unruhiger. Jhr Laub klappert und lärmt, als falle ein heftiger Regen auf ein Blechdach. Aber die Hitze bringt sie zum Schweigen. Die Äste und Zweige der Fichten biegen und krümmen sich wie Arme, die sich usammenkrampfen vor Schmerzen, eh sie vergehen. nd die harzreichen Föhren flackern wie riesige Pechfackeln.

Der Wald brennt. Die Tiere flüchten. Man sieht den geraden schweren Flug der Enten. Man hört das Pfeifende der Wildtauben, das Motorlärmende der Kraniche, das Ruderschlagende der Auerhühner. Die Düfte sterben. Der balsamische Geruch der Spierstauden und die süße Betäubung des wilden Rosmarins weichen dem bittern Brandgeruch. Die Musik des Windes in den Bäumen verstummt. Nur das Feuer lärmt und prasselt. Gestern noch tropfte der Sonnenschein wie, Gold durch die Zweige. Man konnte hinstehen und es mit der Hand auffangen. Heute verdeckt Rauch den Himmel, und die Zweige und Bäume sind Asche geworden.

Der Wald brennt. Jetzt ist das Bauholz zu hundert Häusern dahin. Jetzt das Bauholz zu zweihundert Häusern. Jetzt könnte man mit dem, was in Flammen aufgeht, eine ganze Stadt einen ganzen Winter lang heizen.

Eine unüberwindbare Neugier treibt den Stockholmer zum Feuer zurück. Er fürchtet sich vor Verfolgung und naht doch wieder dem brennenden Walde. So kommt er auf eine Wiese mit einer kleinen, halbverkohlten Scheune. Auch da hat das Feuer gewütet. ,Wie soll ich so viel Schuld ertragen können?‘ denkt er.

Von den rauchenden Balkentrümmern kommen zwei Menschen. Ein rüstiger Mann und eine junge Frau. Die Frau tröstet den Mann. Er jammert in einem fort. Der Stockholmer tritt näher. Es ist ihm ein übermächtiges Bedürfnis, mit Menschen zu reden. Nun verstekt er die Worte, die das Jammern ausmachen. „Daß ich dran schuld sein muß,‘ stöhnt der Mann. Woran mag er wohl schuld sein? denkt der Zuhörer. Und er ahnt einen Kameraden, einen Bruder in der Verzweiflung. Furchtlos geht er auf die zwei zu und grüßt. Sie schauen auf. Die Augen der Frau spiegeln Schrecken und ängstliches Fragen. Die Augen des Mannes sind ohne Ausdruck. „Ach, der Narr,‘ sagt die Frau und atmet auf. ,Warum jammerst du? fragt jener den Mann. Aber er kriegt keine Antwort. Sein Wald muß ihm verbrannt sein, denkt der Fragende, darum ist er so verzweifelt. Sicherlich hat er sich viel Mühe gegeben, das Feuer zu löschen. Seine Hände sind schwarz. Seine Kleider sind schwarz. Sein Antlitz ist schwarz. Sein Bart ist auf der linken Seite weggesengt. „Ist das dein Wald ?‘ fragt der Stockholmer und deutet auf die verkohlten Baumstämme und die glimmenden Glut- und Asschenhaufen. „Nein,“ antwortet der Mann. ~ „Warum jammerst du denn? Weil ich dran schuld binl — „,Schweig,‘ sagt die Frau. ~ „Nein, ich kann nicht schweigen,“ sagt der, Mann, „ich hab den Wald angezündet. .So viel Glück, denkt der Stockholmer, und muß sich setzen. Er lügt,‘ sagt die Frau, „er ist nicht recht bei Trost.‘ „Nein, nein, ich lüge nicht,‘ schreit der Mann, „ach wär ich nicht recht bei Trost. Aber der Wald brennt in eine fort, und ich bin schuld daran.‘

Nun begreift der Stockholmer, daß er den Wald nicht angezündet hat. Er hat bloß geträumt. Gott sei Dank, er ist kein Brandstifter. Dem Manne aber ist's, als werde es ihm leichter ums Herz, wenn er alles erzähle. „Wir sind vorgestern über den See gekommen um zu heuen,‘ sagt er. „Wir haben gemäht, die Frau und ich, und alles ging gut. Aber gestern abend, nicht wahr, Frau, da hatten wir dort drüben ein Feuer gemacht. Und ich habe das Feuer gelöscht. Wenigsten hab ich gemeint, ich hätt’ es gelöscht. Aber zwei Stunden darauf, wir waren eben am Einschlafen, kommt ein Windstoß und rüttelt an der Scheune. Und da seh ich auf einmal, daß das Gras brennt und daß auch das Moos zu brennen anfängt und daß das Feuer die Föhrenstämme hinaufläuft wie Eichhörnchen. Wir taten, was wir konnten, aber es war schon zu spät.“ - „Ihr müßt sehr leichtsinnig gefeuert haben!‘ ~ „Nein, das nicht, aber siehst du, ich hätte das Feuer nicht allein lassen sollen,‘ sagt der Mann. ~ „Habt ihr das Feuer allein gelassen ?? ~ „Ja.‘ ~ „Aber warum denn?‘ ~ Der Bauer schaut seine junge Frau an. Sie wird rot und sagt leise: „So schweig doch. Und der Bauer sagt: „Ja, siehst du, mit dem Mähen waren wir fertig und wir saßen im Gras, und da vergaßen wir das Feuer, du lieber Gott, wir sind ja erst drei Wochen verheiratetl Sie schweigen alle drei. Das Ehepaar schaut auf den Boden, der Stockholmer guckt in den Himmel.

„Und jetzt wird man mich dem Gericht übergeben, sagt der Bauer, „sie werden mich für den Schaden verantwortlich machen.. ~ „Du brauchst ja nichts zu sagen,‘ flüstert die Frau. ~ „Doch, ich muß es sagen. Das ist das einzige, was mir helfen kann. Denk an all den Wald, der verbrannt ist. So viel hohe, gerade gewachsene Stämme. So viel Bauholz.‘

Sein Jammern tut dem frühern Bankbeamten weh. Aber gleichzeitig möcht er jubeln, weil ihm dieses Jammern beweist, daß er den Wald nicht angezündet hat.

Weit in der Ferne lärmt und kracht und braust und prasselt es immer noch. In der Nähe aber ist's still. Weiße Asche deckt den Boden wie Reif. Auf den Strünken brennen da und dort kleine Feuer wie auf Opferaltären. Der Qualm schwebt über der Verwüstung wie ein Herbstnebel. Friedliche Rauchsäulchen steigen auf wie nach ausgelöschten Lagerfeuern.

Die drei haben mit ihren Gedanken zu tun. Der Bauer und seine Frau kommen nicht weiter. Der erlöste Narr aber ist damit beschäftigt, die Mauer niederzureissen, die ihn noch von seinem eigenen Selbst trennt. Du,‘ sagt er zum Bauer, „weißt du, wer ich eigentlich bin ? — „Natürlich,“ sagt der andere gleichgültig, „der Narr!l‘ ~ „Der Narr ?‘ wiederholt der Fragende und erschrickkt. „Warum soll ich ein Narr sein? – „He, wenn einer immer von einer Million spricht und kriegt sie nicht,“ sagt der Bauer, und von Feinden, die man nie sieht, und alle Schulden in ein Büchlein. schreibt, und sie doch nicht bezahlt, dann muß er schon ein Narr sein. — „Hab ich das getan?“ ~~ „Natürlich, du wirst ja dein Büchlein wohl in der Tasche haben. ~ Wahrhaftig, sagt der Stockholmer und schaut das Heftchen mit den kleinen und großen Beträgen an, „ich muß ein Narr gewesen sein. Aber nun bin ich kein Narr mehr und begreife, wie alles zusammenhängt.' Die beiden andern schauen ihn mißtrauisch an. „Das hast du immer behauptet . . . daß du nämlich kein Narr seist/ murmelt der Bauer. ~ „Aber jetzt bin ich wahrhaftig keiner mehr,‘ beteuert der Stockholmer, „ich war Bankbeamter. Dreißigtausend Kronen fehlten in meiner Kasse. Man verdächtigte mich. Das hat mich verrückt gemacht.“ — „Dreißigtausend Kronen ? stammelt der Bauer, ,das kann einen schon verrückt machen. Ich glaube, mich würde der Anblick von so viel Geld schon verrückt machen.: – „Aber der Waldbrand, der plötzliche Schrecken hat mir die Vernunft zurückgegeben. Nun wird alles wieder gut werden. Ich hab Bekannte und Verwandte, die mir helfen. Ich bin wieder ein Mensch. Das hab ich dir zu verdanken. Wenn du den Wald nicht angezündet hättest, dann wär ich wahrscheinlich immer noch ein Narr!‘ —~ „Und ich komme ins Zuchthaus,‘ sagt der Bauer, ,es ist schade für den Hof, und es ist schade für dich.“ Er schaut seine Frau an. Sie weint. ~ „Ich werde euch helfen, sobald ich Geld habe,‘ sagt der Stockholmer. Dann legt er sich nieder und schläft ein, so müde ist er. Der Bauer und seine Frau sitzen still da. Sie warten, aber sie wissen nicht, auf was sie warten. Schließlich steht der Mann auf und beginnt, den kalbledernen Rucksack zu packen. Der Stockholmer, der wieder erwacht ist, schaut ihm zu. Plötzlich fährt er zusammen, tritt an den Bauer heran und flüstert: Aber verrat mich nicht. Dann belohn ich dich, sobald ich meine Million kriege.‘ — „Schwefelst du wieder?? Der Stockholmer erschrickt und versucht zu lächeln. Du hast recht,‘ sagt er, „ich hab ja keine Million und keine Feinde.‘ „Doch, du hast Feinde,‘ sagt eine innere Stimme. „Nein, ich hab keine Feinde.. „Doch.“ Er sieht sich verzweifelt um. Aber die andern sind mit ihren Siebensachen beschäftigt. Kommt die Verrücktheit wieder über ihn ? „Helft mir,“ ruft er. ~ „Wie sollen wir dir helfen ?‘ sagt der Bauer erstaunt. ~ „Ich will nicht wieder verrückt werden.‘ ~ Der Mann zuckt die Achseln. „Ich will nicht,“ schreit der Stockholmer, „ich habe ja keine Feinde.“ „Doch,“ sagt die innere Stimme beharrlich. „Nicht wahr, ich habe keine Feinde ? fragt er den Bauer. — „Weiß nicht,“ antwortet der phlegmatisch.

Es kommt wieder über mich, denkt der Stockholmer. Und wie vom Blitze erhellt, sieht er ein elendes Leben or sich, das Leben eines Narren.

Er schaut den Bauer an und versucht sich an dieser Wirklichkeit festzuhalten, wie ein Matrose im Sturme sich am Maste festhält. Aber er wird von unbekannten Mächten mitgerissen. In zwei Menschen ist er geteilt. größer und stärker wächst die Kraft des Wahns. Seine Gegenwehr wird schwächer, sie ist am Erlöschen. Aber immer noch brennt das Licht der Erkenntnis in einer Seele. Er hat sich noch nicht ganz ergeben. Er lämpft, wie man gegen eine Ohnmacht kämpft, die in immer stärkeren Wellenschlägen gegen den Kopf steigt ...

Rußige Männer kommen aus dem toten Walde.

„Da ist der verfluchte Narr, der den Wald angezündet hat,‘ schreit einer.

Und sie fallen über ihn her, werfen ihn zu Boden, binden ihn, mißhandeln ihn.

Der Bauer weiß nicht, was das bedeuten soll. Ich bin’s ja, der den Wald angezündet hat, denkt er. aber er bringt den Mund nicht auf.

„Die Messer-Maria, du kennst sie ja, hat ihn zum Haus hinausgeworfen, als er frech wurde,‘ erklärt man ihm, ,da sagte er, er werde den Wald anzünden, und tat’s auch, der Schuft.'

Der Bauer schweigt immer noch. Der Stockholmer liegt da wie erstarrt. Nun ist der Wahn mit aller Macht über ihm. Seine Feinde, seine Feinde! Verängstigt gleitet sein Blick von einem zum andern.

Aber nochmals hebt sich das Dunkel. Seine Seele wird wieder lebendig. Er sieht von neuem, wer er ist. Er hört die Beschuldigung, weiß, wer der wahre Schuldige ist ... Und schweigt.

Denn er denkt auf einmal daran, daß der andere ein Mann in den besten Jahren ist. Mit einem Hof. Mit einem jungen Weib, bald mit einem Kind. Was aber ist sein eigenes Leben wert ?

Er nimmt die Schuld auf sich. „Ja, ich hab den Wald angezündet,‘ sagt er laut und schnell, denn er muß sich beeilen, so lange er noch bei Verstand ist. Und da er dies gesagt hat, ist er glücklich.

Der Bauer will beichten. Aber seine Frau faßt ihn am Arm. Da ergibt er sich in die gute Wendung der Dinge. Der Narr kann den Wald auch angezündet haben, denkt er.

Die Männer nehmen den Stockholmer zwischen sich und führen ihn fort. Am See steigen sie in ein schwarzes Boot und rudern auf das stille Wassser hinaus. Sie schimpfen immer noch, daß sie ihre Arbeit verlassen mußten, um gegen den Waldbrand zu kämpfen.

Stumpfsinnig und teilnahmslos kauert der Stockholmer auf einer Bank. Er hat mit dem letzten Willen sich selbst zum Opfer gebracht. Nun mag kommen, was will. Er wehrt sich nicht mehr gegen die Gedanken, die auf ihn einstürmen. Er denkt an seine Feinde, die ihn ins Irrenhaus stecken wollen, er denkt an die Million. Bald wird man ihn mit Ketten belasten und in ein stilles Haus führen. Aber trotzdem ist ein großes Glück in ihm. Er weiß nicht mehr, warum. Es tönt in ihm wie das Nachhallen einer verklungenen Musik. Er hat keinen andern Wunsch, als daß dieser glückliche Zustand nie ein Ende nehmen möge. Und plötzlich, wie erleuchtet springt er auf und läßt sich, ehe ihn jemand hindern kann, in den See gleiten ...

Die Ruder rauschen heftig im Wasser, das Boot steht still. Dann kommt es langsam zurück. ,Da war's,“ sagt einer. „Nein, da,‘ ein anderer. Erschrockene, neugierige Augen starren ins Wasser. Aber sie sehen nichts als dunkle Tiefe. Eine geraume Zeit halten sie das Boot am gleichen Fleck und warten. Aber das Wasser behält den Narren für sich.

„Der wird keinen Wald mehr anzünden, sagt schließlich eine grobe Stimme. Da atmen sie auf, wischen den Schrecken und die Bestürzung aus dem Gesicht und aus dem Sinn, denken wieder an die Erntearbeit und rudern in schnellem Takte weiter, als sei das Schifflein auf einmal leichter geworden ...

Man hat den Narren vergesssen. Nur einer denkt noch an ihn. Das ist der Bauer, dem er das Leben gerettet hat.

Jedesmal, wenn er auf seiner Wiese steht, um zu heuen, und den toten Wald sieht, der sein Gottesacker, hätte werden können, betet er für den Narren. Und es schmerzt ihn, daß er ihm nicht danken konnte. Denn immer mehr ist es ihm Ahnung, dann Bewußtsein geworden, daß sich jener für ihn aufgeopfert hat. Seither sieht er das Leben anders an als seine Nachbarn und Bekannten. Er nimmt das Schwere nicht so schwer und das Leichte nicht so leicht. Und das empfindet er oft und tief als eine ganz besondere Gnade, die nicht jedem zuteil wird ...“

„Und damit ist meine Geschichte zu Ende, Lore !“

„Nein, deine Geschichte ist noch nicht zu Ende,'“ rief sie und sprang auf. „Komm, laß uns nach der Insel rudern,“ befahl sie.

Auf dem See sagte sie kein Wort. Ich konnte ihr Gebaren nicht begreifen. Aber ich schwieg und ruderte stumm und fleißig drauflos.

„Schneller, schneller,“ rief sie.

Ich strengte alle meine Kräfte an. Da gab sie sich zufrieden.

Als wir das Boot auf den Strand gezogen hatten, in der Hütte saßen, die Türe geschlossen war, kamen ihre Worte wie eine Flut, die einen Damm zerbricht.

„Glorian, dir wird Erlebnis zur Geschichte, mir Geschichte zum Erlebnis, nein, nicht die Geschichte, sondern du selbst und also doch die Geschichte, denn beides ist nicht zu trennen. Du bist groß, und ich will sein wie du! Und wenn du mir auch nicht ewig treu sein kannst, und wenn du mir auch nicht helfen kannst, was tut's, ich kann mein Kind selber versorgen. Nun ist dein Wille auch mein Wille !"

Ich wollte sagen: Was sprichst du von Größe ? Aber sie verschloß mir den Mund mit Küssen.

49.

Langsam lustwandeln wir über unsere kleine Wiese an den Hängebirken und Föhren vorbei und dann über die Kiesel am Ufer. Schon eine ganze Stunde lang gehen wir, Arm in Arm, glücklich nebeneinander her, ohne ein Wort zu sagen. In meinem Innern aber singt's: Lüfte seid warm; fächle sie, Wind; Stein seid weich und lind; Himmel und Erde behütet Mutter und Kind ... Und ich stütze sie, als sei sie eine schwache Kranke, wenn wir zu einem Stein kommen, der etwa größer ist als die andern, oder an eine Baumwurzel die sich heimtückisch wie eine dicke Schlange aus dem Grase krümmt. Da lächelt sie jedesmal.

Und jetzt stehen wir bei der Hängebirke auf der Südseite, deren Stamm sich nach dem Boden in zwei Stämme gabelt, die sich voneinander wegrunden und dann nach oben streben, so daß man an eine Leier denkt. Die dünnen, sparsam beblätterten Zweige sind die Saiten. Es ist immer wieder eine Freude, diese Hängebirke zu sehen.

„Wenn einmal unser Bub da dhinaufklettert,“ sag ich.

„Inser Bub ? Und da hinauf ? Denkst du schon so weit ?!‘ lächelt sie. „Aber es ist ja nicht gesagt, daß e ein Bub wird ...“

„Dann eben ein Mädchen, nur nichts zwischendrin !“

„Wie soll er denn heißen, Glorian ?“

„Ja, das muß bedacht sein ... Aber wir haben ja noch Zeit ...“

„Es schadet nichts, wenn man beizeiten dran denkt Ich hab eine Familie gekannt, die ein ganzes Jahr mit der Taufe warten mußte, weil sie keinen Namen finde konnte. Und weil Vater und Mutter derweil immer vom Bub‘ sprachen, so hieß er eben so und heißt auch jetzt noch nicht anders.“

„Was sagst du zu Hermann ?“

„Nicht übel, aber ist Georg nicht besser ?“

„Ja, Georg ... Georg Kling ... meinetwegen ... obwohl es einen Namen gibt, der doch noch schöner und bedeutungsvoller ist."

„Wirklich ?“

„Ja ... Lux ... Licht! ... ist nicht jedes Kind ein neues Licht? ... Ein Licht für das Dunkle, das wir nicht aufzuhellen vermögen ?“

„Lux Kling ...,“ sagt sie prüfend, „Glorian Kling ... ach, weißt du, es geht doch nichts über Glorian ... Gibt's viele bei euch in der Schweiz, die so heißen ?“

„Ich glaub’'s nicht ... mein Vater hat den Namen erfunden. Denn als meine Mutter kurz nach der Geburt fragte: Wie soll er denn heißen ? da antwortete mein Vater, noch ganz in der Freude der überwundenen Gefahr und des willkommenen Geschenkes drin: Gloria in excelsis deo ... Ehre sei Gott in der Höhe ... Er hatte früher gar oft die Messe gesungen ... und als sie den Namen etwas allzulang fand, sagte er frisch und fröhlich: „Glorian‘, wobei ihn wohl Florian inspirierte."

„Wenn’s mit „Ehre sei Gott in der Höhe‘ zusammenläuft, dann soll auch unser Büblein Glorian heißen !“

„Aber wie soll ich dann wissen, ob du mich meinst oder ihn ?“

„O, du Dummer! Begreifst du nicht, daß ein ganz anderer Ton in meiner Stimme sein wird, wenn mein Ruf dir gilt ?“

„Gut ... und wenn ein Mädchen kommt, dann nennen wir's Lore ... du kennst ja das Studentenlied ... , Von allen den Mädchen so blink und so blank gefällt mir am besten die Lore ...' Du stammst ja überaupt aus einem liederfreudigen Land ... wenn man von Berlin nach Regensburg fährt, kann man ja bei jeder Station aussteigen und etwas Passendes singen ... An der Saale hellem Strande ...‘, Zum heil’gen Veit von Staffelstein ...‘, „Als wir jüngst in Regensburg waren ...‘. Drum bist du wohl so froh !“

Das läßt sie gelten, und wir lustwandeln wieder über die Wiese. Auf einmal muß ich laut auflachen.

„Warum lachst du ?“ fragt Lore.

„Ach, es ist so lustig, was der Prinzessin passiert ist...“

„Was für einer Prinzesssin ? Erzähl’s, wenn's Fröhliches ist, schnell, sonst fall’ ich dir um den Hals !“

41.

Es war einmal eine wunderbare Prinzessin. Es gab Leute, die reisten monatelang, um sie zu sehen. iner kam zu Fuß von so weither, daß er keine Absätze zb; an den Schuhen hatte, als er endlich vor dem chlosse stand. Aber das machte ihm gar nichts. a, das war eine Prinzessin! Wenn's in jedem Land eine solche gäbe, dann wäre die Welt besser.. Alle acht und Pracht des reinen_Mädchentums wgr ihr igen. Furchtlos und aufrecht ging sie ins Leben : enn ein Mörder am Schandpfahle stand, sagte sie zu ihm: Wie konntest du vergessen, daß man nicht töten darf ?' und weinte dabei. Und da begann wahrhaftig auch der Mörder zu weinen und bereute seine Tat, daß der Stadtpfarrer, der mit allem Predigen nichts ausgerichtet hatte, ganz verwundert war. Wenn ein Dieb ins Gefängnis geführt werden sollte, so bat sie den König, daß man ihn freilasse. „Denn nicht wahr, du wirst nicht mehr stehlen!‘ Und fürwahr, der Dieb ließ von nun an das Stehlen bleiben und verhungerte lieber, als daß er sich an fremdem Eigentum vergriff. Es ging ein alter Wüstling durch die Straßen. Alle Menschen machten einen großen Bogen um ihn, obwohl er reich war, denn man erzählte sich, daß er an einer widerwärtigen Krankheit leide und in seinem Hause ganz allein lebe, weil niemand bei ihm wohnen wolle. Den besuchte sie und kochte ihm eine gute Suppe, ohne daß jemand davon wußte, weil ihr seine Einsamkeit leid tat. Kurz darauf schenkte der Reiche sein Gut den Armen und ging ins Kloster. Ein solches Mädchen war sie und dabei immer fröhlich, daß der griesgrämigste Greis lächeln mußte, wenn er ihr begegnete. Ja, man sagte weit und breit, daß in diesem Königreiche die Doktoren nicht fett würden, weil ein Kranker bloß die Prinzessin anzuschauen brauche, um wieder gesund zu werden.

Aber eines Tages kam die Prinzessin zum Flusse, der unter dem Schlosse vorbeirauschte, als rohe Knechte gerade ein schöngekleidetes Fräulein aus dem Wasser zogen. Das Fräulein war tot. Die Knechte grinsten : „Das war die höchste Zeit, sie hätte ihre Schande nicht mehr lange verheimlichen können.. ~ „Was für eine Schande fragte die Prinzessin. –~ „He, ein Kind, sagten die Knechte, die die Prinzessin nicht erkannten weil sie fo betrübt und erschrocken dastand. Von da a die Prinzessin nur noch halb viel wie vorher.

„Eine Woche darauf herrschte festliches Treiben in allen Straßen und Gassen und Gäßchen. ,Was ist los ?' fragte die Prinzessin, wird eine große Hochzeit gefeiert, oder soll auf dem Marktplatze ein Turnier stattfinden ?' Aber niemand wollte ihr Antwort geben. Da fragte sie ihren Vater. Und der König erzählte ihr widerwillig, daß man einem jungen Mädchen den Kopf abschlagen werde, weil es sein Kindlein getötet habe. „Warum hat sie es getötet ?‘ fragte die Prinzessin. Aber, König sagte, er wisse es nicht. Da hatte die Prinzessin nur noch den dritten Teil von ihrem frühern Sachen übrig.

Und wieder eine Woche darauf, als die Prinzessin einsam im Walde spazierte, hörte sie ein lautes Schreien und als sie dem Schreien nachlief, fand sie eine Frau die sich am Boden wand. „Helft mir,‘ rief die Kranke denn sie erkannte die Prinzessin nicht, weil sie halb Uu war vor Schmerzen. Da erlebte das junge Mädchen wie die Frau mit Not und Qual ein Kindlein auf die Welt brachte. Da war von ihrem Lachen gar nichts mehr übrig.

Nun hättest du das Königreich sehen sollen, Lore! Zehn Jahre vorher hatte der Fluß die halbe Stadt überschwemmt und viel Acker- und Wiesenland dazu, fünf Jahre vorher hakte eine Feuersbrunst zwanzig alt Häuser, zwei alte Weiber und drei Kühe gefressen, drei Jahre vorher hatte eine Kriegsgefahr monatelang vor dem Stadttore gelauert wie ein böser Drache ~ aber das alles hatte man sich viel weniger zu Herzen genommen als die schlimme Veränderung der Prinzessin.

Auf einmal begannen die Doktoren fett zu werden, daß ihnen alle Kleider zu eng wurden.

Der König aber ließ – wie es in solchen Fällen üblich ist ~ weit und breit verkünden, daß der, der die Prinzessin wieder lachen mache, reich belohnt werden solle.

Tausende kamen, Abertausende probierten ihr Glück. Es waren solche dabei, die konnten Witze erzählen, daß sich gewöhnliche Menschen schon zu Tode lachen mußten, wenn sie nur das erste Wort hörten, und solche, die so lustige Gesichter schneiden und so drollige Gliederverrenkungen zustande bringen konnten, daß selbst der Oberkonsistorialrat, dem doch erst kürzlich seine Frau gestorben war, ganz lebensgefährlich lachen mußte. Aber die Prinzessin schaute nicht einmal auf, und wenn sie aufschaute, dann wurde es den wetteifernden Spaßmachern so seltsam zumute, daß sie auf der Stelle aussahen wie Leichenbitter und betrübt davonschlichen wie arme Sünder, denen der Galgen winkt.

Bald lachte überhaupt kein Mensch mehr, außer den Wickelkindern in der Wiege, die noch nichts von der Prinzessin wußten, und den Doktoren, die alle Hände voll zu tun hatten.

Da kam eine alte Frau ins Schloß und versprach, der Prinzessin zu helfen, wenn man sie mit ihr allein lasse. So geschah's. Die Alte aber sagte: „Ich weiß warum du nicht mehr lachst. Du hast erfahren, wass dem Weibe bestimmt ist, und du fürchtest dich vor Schande, Schmach, Gefahr und Schmerzen. Es ist aber auch ein großes Glück dabei und eine ganz unbeschreibliche Seligkeit, doch das wirst du mir nicht glauben.‘

"Die Prinzessin sah sie mit verängstigten Augen an. Ja, so ist's, sagten diese Augen, aber was nützt das? Du kannst mir ja doch nicht helfen.

„Doch, ich kann dir helfen,‘ sagte die Alte und hob sorgfältig ein Fläschchen aus der Tasche: „Solange du jeden Tag ein Tröpfchen von diesem Wasser trinkst – es ist aber ein ganz besonderes Wasser – wirst du von Kindern verschont bleiben, und wenn du auch heiratest. Und wenn das Fläschchen leer ist, so komm zu mir, und sie beschrieb genau, wo der Wald lag, in dem sie wohnte.

Die Prinzessin atmete auf und griff gierig nach dem Fläschchen. Und als sie es in den Händen hielt schwand die Angst und der Schrecken von ihr, denn nun wußte sie, daß ihr weder Schande, noch Tod, noch Schmerzen drohten.

Als die Alte, die alle Geschenke ausgeschlagen hatte Abschied nahm, flüsterte sie dem Mädchen zu: „Ich habe dir das Fläschchen gegeben, weil ich dich liebe und weil mich dein Leid gerührt hat. Aber sprich mit niemand, davon. Denn sieh, dann würde in kurzem die ganze Welt aussterben, weil niemand mehr Kinder haben wollte. Jetzt werden die Kinder geboren, weil die Menschen nicht anderes wissen, als daß es so sein müsse. Wenn man aber dies Wasser entdeckte, dann würde kein Mensch mehr geboren werden! Ich darf gar nicht daran denken! Versprich mir, zu schweigen !‘

Die Prinzessin versprach es natürlich und war von dem Tage an wieder ganz wie früher, so daß das ganze Land aufatmete, wie erlöst, und die Lustbarkeitssteuer auf einmal so viel einbrachte, daß alle Pfarrerbesoldungen davon bestritten werden konnten, und das war nicht wenig ...

Nur die Alte an ihrer Quelle war nicht fröhlich. Wenn die Kunde von Mund zu Mund tief ? Wenn die ganze Welt herbeieille und aus ihrem Brunnen trank ? Ach, sie hätte gerne ihr Geschenk wieder zurückgenommen, wenn es möglich gewesen wäre. Hätte sie nicht schon schneeweißes Haar gehabt, so hätte sie es jetzt sicher gekriegt!

In Angst und Bangen vergingen ein paar Jahre. Schließlich ertrug sie die Unsicherheit nicht mehr und ging zum Königsschlosse, um die Prinzessin feierlich schwören zu lassen, daß sie das Geheimnis nicht verrate.

Dort saß im sonnigen Garten eine junge Frau, umgeben von drei spielenden Kindern. Wo die Prinzessin sei, fragte die Alte. Das sei sie selber, lachte die junge Frau, aber nun heiße sie Königin, denn ihr Vater habe abgedankt, weil er sich noch etwas ausruhen wolle, ehe er sterbe, und auf dem Throne sitze nun ihr Mann.

,Sind das deine Kinder, Königin ?‘ fragte die Alte und traute ihren Augen nicht.

„Ja, alle drei.

Und ich glaube, du hast sogar noch ein viertes zu erwarten!'

,Ja, Gott sei gedankt !‘

Die Alte glaubte ihren Ohren nicht.

Kennst du mich nicht ?‘ fragte sie dann.

„Nein, ich sehe so viele Leute, sagte die Königin entschuldigend, ,und übrigens hab ich so viel mit meinen Kindern zu tun!

„Ich bin jene Alte, die dir das Fläschchen mit wundertätigem Wasser geschenkt hat...'

,Ach ... du bist’s ...' Und die Königin lachte.

„Damals lachtest du nicht ..., sagte die Alte etwas beleidigt.

„Damals war ich ja noch so dumm und jung ...' Und sie lachte noch lauter. Und da gerade der König vorbeiging rief sie: „Komm, Balthasar, siehst du, das ist die Frau, die mir das Fläschchen geschenkt hatte, du weißt, jenes Fläschchen.'

Da kam der König herbei und lachte auch.

Die Alte wußte nicht, wie das zu deuten war.

Hatest du das Fläschchen verloren ?‘ fragte sie die Königin. „Hattest du aus Versehen das Wasser verschüttet und vergessen, wo ich wohne?'

,Ach nein,‘ sagte die Königin, „das volle Fläschchen steht immer noch irgendwo in einem geheimen Schrank glaub ich, aber siehst du‘ — und sie schmiegte sich an ihren Mann – wir liebten uns ja ... und da will man Kinder.“

„Du glaubst also nicht, daß die Welt ausstürbe, wenn man meine Quelle entdeckte ?‘ fragte die Alte.

Nein, nein,‘ lachte die Königin, und der König schüttelte den Kopf, ,dann kriegen höchstens die keine Kinder, die keine wünschen, und das ist ja ganz in Ordnung, denn das müssen armselige und jämmerliche Menschen sein, die keine Kinder haben wollen.‘

Da war die Alte aus tausend Ängsten erlöst und kümmerte sich von nun an nicht mehr um die gefährliche Quelle, die sie so lange bewacht hatte .. .'

42.

Hübsch sagte Lore, „aber du hast’s gar zu eilig gehabt. Den wichtigsten Teil der Geschichte hast du ja übersprungen oder dir wenigstens gar zu leicht gemacht."

Ich schaute sie verwundert an.

„Ja, ja,“ fuhr sie fort, „aber ich kann dir erzählen, was du mit so wenig Worten abgetan hast, denn ich weiß, wie's zuging."

„So erzähl denn,“ sagte ich erwartungsvoll.

„Als die Prinzessin das Fläschchen erhalten hatte, war sie sehr froh,“ begann Lore. „Sie schloß es in einem geheimen Schranke ein, und jeden Morgen trank sie ein Tröpfchen von dem wundertätigen Wasser. Und da kam nun einmal ein junger Prinz an den Hof, und das war ein sehr schöner und gescheiter Prinz, aber leider hatte er kein Königreich. „Das wäre eine sehr gute Partie für die Prinzessin,“ sagten alle Hofdamen, „aber solange er kein Königreich hat, kann wahrlich nichts daraus werden.‘ Doch die Prinzessin verliebte sich trotz alledem in den jungen Prinzen und zwar so, daß es der ganze Hof merkte. Und da wurde der König ängstlich und wies den Prinzen aus dem Lande, und die Prinzessin schloß er in ein einsames Zimmer ein und drehte den großen, wuchtigen Schlüssel dreimal um. Der Schlüssel aber war abgebrochen. Doch das wuste der König nicht, und die Prinzessin wußte es auch nicht, und darum war der König beruhigt und die Prinzessin verzweifelt. Der, Prinz aber dachte: Warum soll ich die Prinzessin nicht lieben dürfen, wenn ich auch kein Königreich habe ? Und er verkleidete sich und kam zurück und machte ihr Zimer ausfindig und schlich sich in Dienertracht durch die Gänge, bis er vor ihrer Türe stand. Doch als er den großen eisernen Schlüssel sah, erschrak er. Welche Freude, als er merkte, daß die Türe dennoch aufging, welche Freude für die Prinzessin, ihren Liebsten endlich umarmen zu dürfen, wie sie es schon lange mit. Furcht und Bangen und scheuem Willen ersehnt ...“

„Liebe Lore,“ sagte ich.

„Pst!‘’ sagte sie und fuhr fort:

„Glücklicherweise hatte die Prinzessin das Fläschchen der Alten mit ins Gefängnis genommen. Wochen vergingen, der Prinz kam oft, immer mehr liebten sich die beiden, und die Prinzessin wurde mutiger und mutiger ... und eines Morgens schaute sie zum Fenster hinaus und ... da sah sie, daß der Marktplatz gerade unter ihr lag. s wimmelte von Menschen. Und sie schaute die Menschen aufmerksam an und hörte auf das, was sie sprachen. Und da dachte sie: „Keinen seh ich, der ihm gleicht, keinen hör ich, der reden kann wie er. Wo sind Augen, ist ein Mund, der so schöne Worte weiß wie seiner ? Wo ist ein Mund, der so schöne Worte weiß, wie seiner ? Wo ist so ragende Gestalt und kühnes Haupt ? Nirgends, nirgends. Ich seh nur Kranke und Krüppel und Sieche und Müde und Ängstliche und Verzagte und Häßliche und Halbblinde und hör nur Dumme und Eingebildete und Gewöhnliche! O, wenn alle ihm glichen. Welch ein Volk wäre das, welche Freude, solches Volk zu beschauen ...! Und nach einer Weile dachte sie: „Aber sind nicht die Kinder die Auferstehung der Eltern ? Die Kinder dieser Leute werden auch häßlich und ängstlich und feige und dumm sein ... Unsere Kinder aber ...' Wie ein Blitz durchfuhr es sie. Und der Eingebung gehorchend, nahm sie das Fläschchen und warf es auf den Markt hinunter, daß es auf dem Pflaster zerbrach, und ohne Reue sah sie, wie das Wasser nach allen Seiten floß und versickerte und verdunstete, ohne daß sich ein Mensch darum gekümmert hätte. Und als der Prinz am Abend zu ihr kam, sagte sie: „Heute mußt du mich so lieben, wie du mich noch nie geliebt hast, denn ich habe das Fläschchen der Alten weggeworfen.“

Lore schwieg.

„Und dann?’ fragte ich glücklich.

„Ja, die Prinzessin wurde natürlich aus dem Lande gejagt, aber das machte ihr nichts, so stark fühlte sie sich, und wenn sie auch geringe Arbeit tat, so dachte sie doch immer an den Grund und die Ursache ihres Tuns, und da wurde auch das Geringste groß! Und auf einmal bekam der Prinz ein Königreich, das sein eigen gewesen war, ohne daß er es gewußt hatte, denn er hatte immer nur gemeint, es liege in einem ganz anderen Lande, und da war alles gut. Er machte sie zur Königin und setzte sie neben sich auf den Thron !“

„Ach ja, der Prinz hatte es gut,“ sagte ich, „hätt doch auch ich mein Königreich . .. Die Wirklichkeit ist nie so schön wie die Märchen ...“

,Doch, Glorian. Bin ich nicht schöner ?“ fragte sie siegesgewiß ...

„Tausendmal schöner ...

„Und ich weiß, wo dein Königreich liegt ...

Das wundert mich nicht, ihr Frauen wißt alles ihr steht so hoch ...“

„Nein, tief stehen wir, ihr Männer wißt alles ihr steht so hoch, daß ihr die Erde nicht mehr seht wenn man euch nicht herunterhilft.“

„Spaß beiseite, Lore, weißt du ...?“

„Ja, ich weiß ...“

„Mein Königreich wär ... ?“

„Geschichten erzählen !“

„Pah, puh !“ rief ich und brach in ein geringschätziges Gelächter aus. „Wie nütlich, wie notwendig, wie männlich!“

Sie ließ sich nicht beirren.

„Bist du ein Jude geworden, daß du von der Nützlichkeit sprichst? Sagtest du nicht, daß wir allen Dingen ihren Wert geben ? Sagtest du nicht, daß wir alles aus Freude tun sollen? Hast du nicht Freude an deinen Gechichten ?“

„Aber Lore, begreifst du denn nicht, was ich meine ? Ich könnte ein Ingenieur sein und wundertätige Maschinen erfinden oder tollkühne Brücken spannen. Ich könnte als Geologe die Schätze der Erde aufdecken oder als Botaniker um das Mysterium des Zellenlebens kämpfen. Ich könnte als Architekt mit Mauern und Dach dem Menschen ein Heim und ein Kunstwerk geben oder als Arzt gegen den Tod kämpfen. Und nun verlangst du, daß ich ein Schreiber werde.“

„Du sagst: du könntest ... aber, daß du weder das eine noch das andere bist, beweist, daß du es nicht sein kannst. Du hast’s probiert, nicht wahr, aber es ging nicht. Aber wenn nun auch das Geschichtenschreiben etwas Unnützes, Überflüsssiges, Unbedeutendes wäre ~ könnte es nicht trotzdem dein Beruf und deine Berufung sein ? Du sagtest früher einmal, wenn du eines Tages wüßtest, daß du zum Schuhmacher bestimmt wärst, so würdest du eben ein Schuhmacher werden und dadurch dein Glück finden.“

„Man kann ohne die Erzähler leben,“ sagte ich, „aber nicht ohne die Schuhmacher."

„Ich glaub es zwar nicht,‘ sagte sie lächelnd, „und du glaubst es wohl auch nicht, und ich wenigstens möchte eher die Schuhmacher entbehren. Aber darauf kommt es ja jetzt nicht an, sondern bloß darauf, daß diese Tätigkeit, die du so gering schätzest, eben deine Tätigkeit ist !"

„... Denk an den magern Schriftsteller in Ackerbucht. Willst du, daß ich werde wie er ?

„Fürcht dich nicht. Der eine glaubt, er sei's und ist's nicht, der andere glaubt’s nicht und ist's !"

Aber ich schüttelte immer noch den Kopf.

„So schreib die Geschichte vom toten Wald um nseres Kindes willen auf. Ich kenn einen Redakteur in Berlin. Wer weiß, der schickt uns Geld dafür !"

„Nein! Ich werde für das Kind arbeiten, aber auf andere Weise. Ich habe einen Plan, einen großen Plan ... er ist noch nicht ganz reif ..."

„So schreib die Geschichte meinetwegen auf. Schenke sie mir, du kannst ja nebenbei immer noch an deinen Plan denken, Glorian. Dann bist du immer bei mir, auch wenn du drüben im Walde Holz aufliest oder auf em See die Angel wirfst."

Ich gab nach. Eine Woche darauf brachte Brittas Brudec Papier, Feder und Tinte.

43.

Da saß ich nun ganz unverhofft auf einem Holzktlotz vor einer großen Granitplatte und schrieb die Waldgeschichte nieder. Erst dünkte es mich unnatürich und lächerlich, angesichts so blauen Himmels, so schillernden Sees, so fröhlicher Bäume das schöne, weiße Papier vollzukritzeln. Aber bald verlor sich dieses Gefühl des Unbehagens, ich kam tiefer und tiefer in das Wesen meiner Geschichte hinein.

Und wenn ich von meiner Arbeit aufschaute, dann sah die Weit mit andern Augen, verjüngt und frisch and alles da, als komme ich von einer weiten Reise zurück, und unter der milden Gnade des Sommerhimmels nickten mir die Bäume und Felsen lächelnd zu. Ganz langsam begann ich Lore recht zu geben und konnte das in sich selbst geschlossene und ruhig kreisende Glücksgefühl meines jetzigen Zustandes nicht anders denn als Bestätigung ihrer Behauptungen deuten.

Lore aber schien sich nicht auf mein Geschenk zu freuen. Sie saß oft traurig da, konnte ohne sichtbare Ursache plötzlich auflachen oder tat mit unlustigen Bewegungen irgendeine Arbeit.

„Was ist denn mit dir ?“ fragte ich.

„Ich bin unglücklich,“ sagte sie, „aber warum hab ich dich zum Schreiben aufgefordert? Nun muß ich mich eben daran gewöhnen, daß dein Blick auf dem Papier ruht und deine Gedanken beim verbrannten Walde sind.“

„Soll ich aufhören ?“

„Nein, wenn du nicht schreibst, dann bin ich auch nicht zufrieden.“

„Was soll ich denn tun ?“

„Dich nicht um mich kümmern,“ sagte sie.

„Das ist das Schwerste, was du verlangen kannst.“

„Ach, Glorian, noch nie ist's mir so seltsam zumute gewesen. Ich will alles mögliche und weiß doch nicht, was ich will. Ich glaub, wenn ich bloß wüßte, daß du mich wirklich liebst, dann würd ich ruhig!“

Ich schaute sie erschrocken an. Wie sollte ich ihr denn beweisen können, daß ich sie liebte, wenn sie mir immer noch nicht glaubte, trotz allem, was geschehen war ?

„Verzeih mir,“ sagte sie weinend, „mit hundert kleinen Dingen hast du mir ja gezeigt, daß du mich liebst. Und mit hundert großen Dingen. Und dennoch Wenn’s doch nur einen allwissenden Gott gäbe, den man fragen könnte. Wenn ich doch in dich hineinschauen könnte. Wenn doch irgendwo eine Wahrsagerin lebte. Kannst du mir nicht helfen, Glorian ?‘! Und sie hängt sich an meinen Hals und weinte wie ein kleines Kind das Vater und Mutter verloren hat. Fassungslos hielt ich ihre starke, stolze Gestalt in den Armen. „Spür du meinen Herzschlag nicht ? Sein Takt ist Liebe, Liebe, Liebe. Fließt nicht das Vertrauen aus meinen Händen in die deinen ? Beiß mich und trinke mein Blut!“

Sie riß sich los.

„Du bist verrückt,“ lachte sie, „o, wir sind beide verrückt. Bald bin ich ein Tränenkrüglein, bald kann ich mich nicht halten vor Lachen. Und du willst mir dein Blut zum Trinken geben? Ja, das ist die Liebe. Wer konnte sich denken, daß die Liebe so wahnsinnig ist !“

„Vielleicht ist das Kind an allem schuld,“ sagt sie dann nachdenklich. „Dann muß ich es wohl ertragen. Denk nicht an mich Glorian, schreib.“

Über ich konnte nicht mehr an den Waldbrand denken. Wie hätte ich schreiben können, wenn sie an meiner Seite litt?

Als sie sah, daß ich meine Geschichte liegen ließ wurde sie unglücklich.

„Ich wollte dich riesenstark machen,“ sagte sie betrübt, „und nun nehm ich dir deine Kräfte. Es wäre besser gewesen, ich hätte dich nie getroffen.“

Da setzte ich mich wieder hin und schrieb, um sie zu trösten.

Als Lore nach einer Stunde über meine Schulter schaute, wollte ich das Blatt schnell zudecken. Aber sie nahm meine Hand weg und las: „Ich liebe dich.“ Eine ganze Seite voll: „Ich liebe dich.“

„Ich konnte nichts anderes schreiben,“ sagte ich entschuldigend.

„Schenk mir das Blatt,“ sagte sie.

Und Frieden war wieder auf der Insel. Aber ich spürte, daß immer noch eine leise Angst, eine zitternde Unruhe, eine bange Frage hinter ihren ruhigen Blicken lauerte. Und oft dachte ich, wenn ich allein war : Wie kann ich ihr helfen? Wenn sie mich doch um etwas Großes bäte, auf daß ich es ihr geben könnte!

Es stand ein beerenreicher Wacholderstrauch neben unserer Hütte. Der tat ihr schon lange leid, weil er so allein war. Niemand sollte allein sein.

„Die Wacholderfrau soll einen Mann kriegen,“ sagte Lore und deutete auf den einsamen Strauch.

Ich lächelte und begriff, was sie meinte, grub mit vieler Mühe unterhalb der Habichtsklippe eine kleine Wacholderpyramide aus, pflanzte sie neben der Hütte sorgsam in die steinige Erde ein und erfüllte so ihren Wunsch.

Lore freute sich, als die beiden nebeneinander standen.

„Sie sollen mir ein Zeichen sein,“ sagte sie und schaute mich fest an, „o, mögen sie mir Beständigkeit bedeuten.“

Ich erschrak. Sie war also immer noch eine Unläubige, eine Zweifelnde, die nun ihr Glück vom Gedeihen oder Nichtgedeihen eines Wachholders abhängig nachte. Denn Der „Sommer war ja "nicht die passende, Zeit zum Verpflanzen!

„Er wächst,“ frohlockte sie jeden Tag.

Ich sah schärfer als sie. Und am fünften Morgen, da sie noch schlief, erhob ich mich, ruderte zum Lande hinüber, holte einen neuen Wacholderbusch gottlob gleicht einer dem andern wie ein Ei dem andern - grub ihn leise und vorsichtig ein und warf den ersten, der chon gelb zu werden begann, auf die Seite.

„Sieh, wie grün er ist,“ sagte Lore, als sie dem Strauch wie gewohnt den ersten Blick schenkte, „und findest du nicht, daß er gewachsen ist ?“

„Fast möcht ich dir zürnen, daß du einem Wacholder mehr glaubst als mir,“ sagte ich.

„Ja, ich weiß, es ist eine Dummheit. Aber laß mir die Dummheit. Siehst du, der Wacholder ist mir die Stimme Gottes. Ich weiß nicht, warum, aber so ist's."

Und auch dieser Strauch begann zu verdorren. Sie sah es nicht, denn sie schaute nicht mehr so genau hin. Sie wußte ja jetzt, daß er wachse. Und wieder ging ich in den Wald und tauschte den Absterbenden gegen einen Lebenden um.

O, wie wird unsere Liebe beständig sein,“ juelte sie.

Ich machte mir Vorwürfe, daß ich sie betrog. Aber f nicht der Wille zur Beständigkeit in mir ? Ich ließ die „Stimme Gottes‘“ bloß die Wahrheit verkünden! Zum drittenmal mußte ich verstohlen in den Wald. Die zähen Wurzeln, die zähen Zweige gaben mir viel zu tun.

Als ich zurückkehrte, trat sie aus der Hütte.

Sie sah die leere Stelle, sah meine Last, und an ihrem Blicke merkte ich, daß sie den Betrug durchschaute.

Ich zitterte wie ein überführter Verbrecher. Wird sie nicht sagen: „Wenn du hier lügsst, so lügst du auch dort, wie soll ich dir je wieder glauben können ?“

„Der wievielte ?“. fragte sie ernst.

„Der vierte,“. gestand ich, „aber ..."

„Still,“ sagte sie, „du hast mich betrogen. Ich danke dir !"

Ich starrte sie verständnislos an. Sie aber nahm den Wacholderstrauch aus meinen Armen, warf ihn mit starkem Schwung weit in den See und rief jubelnd:

„O, wie mußt du mich lieb haben. Drei Morgen bist du aufgestanden und hast dich abgemüht. Die Sträucher sind verdorrt, doch mein Glaube grünt.“

Und von da an war sie wieder die Starke, die Mutige, die Siegessichere, die Frohe, und ich verspürte ihren jubelnden Lebenswillen wie eine segnende, aneifernde Kraft, in deren Wirkungskreis es gar leicht zu arbeiten war.

44.

A ich ihr die Geschichte geschenkt hatte, sprach sie plötzlich davon, daß sie nach Birkenrain müsse.

„Warum?“ fragte ich.

„Das ist mein Geheimnis,“ antwortete sie schelmisch.

„Hast du Geheimnisse ?“

„Warum soll ich keine Geheimnisse haben ?"

„Nein, du sollst keine Geheimnisse haben. Sind wir nicht eins ?"

„Doch, und deshalb sollst du mich nicht fragen. Was ich will, das willst auch du – auch wenn du’s nicht weißt. Oder hast du kein Vertrauen ? Brauchst du einen Wacholderstrauch ?"

„Da fragte ich nicht mehr und tat, was sie wünschte, wartete oberhalb Birkenrain, bis sie aus dem Dorfe zurückkehrte, trug das gewichtige Paket, das sie mir auflud, durch die Wälder und über die Sümpfe bis an unsern See und ruderte das Geheimnis auf unsere Insel hinüber. Und da entpuppte es sich als eine drängende, quellende Fülle von wollenem Garn in allen Farben.

„Was soll das bedeuten ?“ fragte ich.

„Das soll bedeuten, daß ich unserm Kinde eine Decke weben will."

Eigentlich hätte ich mich nun rechtschaffen ‘freuen sollen, daß ihre Arbeitslust wieder erwacht war. Ich freute mich auch ~ aber in meiner Freude war ein Stachel, ein sehr empfindlicher Stachel. Denn dieses Webenwollen bewies, daß die Liebe nicht mehr einzig und allein in ihren Gedanken war, und daß das Kind bereits eine wichtige Rolle zu spielen begann. Aber ich hatte das Kind gewollt. Es galt, sich zu bezwingen.

„Und der Webstuhl ?“ fragte mit einem Interesse, das nicht ganz aufrichtig war.

„Ein sehr primitiver,“ sagte sie lachend, „du mußt mir helfen ... Ich denk mir einen stehenden Rahmen, eine von oben nach unten eingespannte Kette und dann ein Einflechten der Wollenfäden mit einfachen Handspulen, die du mir schnitzen mußt. Es handelt sich also eigentlich um ein Wirken und nicht um ein Weben, und das paßt ganz gut zu unserer Insel und unserer Hütte, denn Ähnliches ist schon in den Pfahlbauerzeiten entstanden, ist aber dann später zu einer feinen und prächtigen Kunst geworden und hat die vielen berühmten Gobelins erzeugt."

Ich schnitzte ihr die Spulen. Es war mir, als schnitze ich mir eben so viele Pfeile, die mein Herz trafen, das nichts anderes wünschte, als daß alle ihre Gedanken mir gehören möchten.

Ich stellte den Rahmen auf. Es war mir, als errichte ich den Galgen, an dem unsere Liebe gehenkt werden solle.

Aber als sie vor diesem klotzigen Webstuhl saß und in bunten Farben etwas schuf, das auf den ersten Blick aussah wie Natur, wie Blätter, Wellen und Vögel, das aber, je länger man es anschaute, um so mehr von der Natur sich entfernte, die von links und von rechts auf ihre Arbeit blickte, und sich als die verklärte Schöpfung dessen offenbarte, was in ihrer Seele war, da fielen Furcht, Mißtrauen, Zorn, Eifersucht von meiner Seele ab. Denn nun sah ich Lore wieder so, wie ich sie das erstemal gesehen hatte, die wahre Lore Nußbaumer, deren Anblick mich betört und verführt und zu einem geduldig Liebenden gemacht hatte; damals, als ich sie nach der Begegnung am Lattsee zum erstenmal in ihrem Atelier aufgesucht hatte und betroffen und wie erleuchtet stehen geblieben war, als ich sie in fröhlicher Tätigkeit an ihrem Webstuhl erblickte und eine Stimme in mir rief : Sie ist's und keine andere, sie, die Selbständige, Schaffende. Und ich gelobte mir, meine Hände und Worte und Blicke und Wünsche wohl zu hüten und in Zucht zu nehmen, auf daß ich nichts zerstöre an diesem schönen Menschen – aus Liebe! - sondern ihm helfe, noch schöner und reicher zu werden. Und es war mir, als wisse ich erst jetzt, was die Liebe sei.

Ihr freudiges Schaffen eiferte auch mich zu tätiger Arbeit an. Und da es schon lange meine Absicht gewesen war, auf einer großen Wanderung den See zu umkreisen und die verlassenen Glückshütten, vielleich auch noch andere Sennereien zu studieren, so beschloß ich, diese Reise jetzt auszuführen und zwar allein. Denn ich erhoffte von der Einsamkeit schärfere Eindrücke und ein größeres Beobachtungsmaterial und wollte meiner Liebsten ihres Zustandes wegen die Anstrengungen und utberechenbaren Zufälle mühseliger, unbekannter Wege und Stege ersparen. Doch hinter diesen Gründen stand als mächtigster der Willen, meine Selbständigkeit und Unabhängigkeit wieder einmal recht zu spüren, obwohl ich mir das nicht eingestehen wollte, sondern mir und ihr gegenüber diesen einsamen Ausflug als die logische Folge rein praktischer, vernünftiger Überlegung hinftellte.

„Eine Woche ist lang," sagte Lore.

„Du hast ja die Weberei,“ sagte ich, „und bist du nicht meine mutige Geliebte ?"

„Gut denn,“ sagte sie nach einer nachdenklichen Pause, „geh, du bist nicht an mich gebunden.“

Ich schaute sie bewundernd an. Ja, das war meine Lore. Eine Geliebte, wert, ewig geliebt zu werden. Sie gab mir volle Freiheit, sie forderte nichts.

Fröhlich und unternehmungslustig nahm ich Abschied, schickte aus dem Walde noch einen Jauchzer zur langsam Zurückkehrenden zurück und marschierte dann mit wachen Augen und offenem Sinn nach meinem ersten Ziel, wo ich bald Herd und Bett und Obdach fand.

Die Glückshütten glichen den Tanzmattenhütten in der Verlassenheit und Verwahrlosung, nur daß die Anzahl der Häuser bedeutend größer war. Sie standen dicht beisammen auf einem flachen Bergrücken, der sich kirchturmsh och am Großen See aufwöldbte, mit so viel Schönheit, Wildem und Anmutigem, im Nahen und Fernen, daß ich ihren stolzen Namen wohl begriff, weniger aber die Tatsache, daß es die Menschen über sich gebracht hatten, ss freudenreichen Erdenfleck wieder in die Macht des Waldes zu geben.

Der Abend war Glück. Ich schaute über die Seen und Waldberge und auch über die weiten, kahlen Flächen, die rossenrot schimmerten. „O, wenn dies alles, diese Schönheit und dieser Reichtum des Holzes und der Erze, ja aller Reichtum der Welt mir gehörte – aber ich wäre der einzige auf Erden ~ es wäre nicht zu ertragen, ich wäre der Ärmste, ich müßte mich töten. Aber mit einem Menschen kann ich leben, mit ihr allein au einsamem Stern besäß ich das Glück !"

Mächtige Sehnsucht kam über mich. Es war Schmerz und Qual in ihr, aber auch Lust. Es war süß, die Sehnsucht zu spüren. Sie nahte sich mir wie ein lieber, vertrauter Freund, der Begleiter meiner Jüngingsjahre, der mir nun schon einen Sommer lang ferneblieben war.

Nun konnte ich meine Liebe ermessen. Ein Glück daß ich von ihr gegangen war. Denn wüßte ich sonst wie sehr ich sie liebte ?

Den andern Tag verbrachte ich wie ein fleißiger thnograph. Ich schrieb die Häuser- und Stubenmaße uf, zeichnete Türschlösser und Angeln ab, untersuchte die Butterfässer und Käseformen, die Näpfe, Eimer und Schüsseln, die Holzlöffel und Quirle, ja selbst die alten Schuhe, Saumsättel und Teile von Pferdegeschirren, machte eine kurzweilige Sammlung von Jahreszahltypen [und Haus- und Hofzeichen und freute mich königlich, als ich zwei bauchige Kupferkessel edelster Form entdeckte. Aber am Abend plagte mich das Heimweh, nicht das Heimweh nach meiner Vaterstadt und den Dörfern, Tälern, Flüssen und Bergen meines Jugendlandes sondern das Heimweh nach der Insel, nach ihr. Denn sie war nicht nur meine Geliebte, sie war mein Alles, meine Heimat, meine Welt.

Ich schlief unruhig und erwachte früh. Ein Voge ang irgendwo in regelmäßigen Zwischenräumen t intönigem, armseligem, kläglichem Pieplaut, als ginge eine Türe leise kreischend auf und zu. Je länger ich lauschte, desto mehr wurde mir die Kehle des Vogels zum Munde der Einsamkeit und schreckte mich. Um mich aus dem Banne dieser Stimme zu lösen, trat ich vor die Hütte. Aber da lagen die Seen drohend da in unheimlicher Schwärze, die Wälder starrten finster zu mir auf, und der Himmel hing über mir wie eine schwere, drükkende, erstickende Decke. Noch nie hatte ich die Welt so abweisend und feindlich gesehen. Selbst das kleine Getier der Mücken, Fliegen, Bremsen und Wespen, das ich bis dahin kaum beachtet hatte, tat sich als eine unangenehme Macht kund und vermehrte den Eindruck der Ungastlichkeit und Unfreundlichkeit.

Wie leicht war es auf der Insel zu leben gewesen. Hatte nicht die Sonne bloß wohlige Wärme geschenkt, nie stechende Qual? Gingen nicht die Gewitter vorsorglich um den See, ohne uns wehzutun? Kam nicht der Regen bloß als willkommenes Geriesel, und standen nicht die finsteren Wolken still hinter den Bergen und zogen erst als weiße Lämmchen über unsere Häupter hinweg ?

Immer stärker und mächtiger wälzte sich die Einsamkeit über mich. Und noch Schlimmeres : ein Gefühl des Verlassenseins, des Fremdseins. Es gab keine kräftigende, füllende Verbindung mehr zwischen mir und allen Dingen, die Ader mit dem nährenden Blut der Erde war unterbunden. Es war mir, als hätt’ ich ein Wort gewußt und hätt’ es nun vergessen, um die bösen Geister zu bannen, denn die Welt drang auf mich ein gleich einem wilden Tier.

Da rief ich in meiner Not:

„Ich bin einsam ohne dich, mein Weib, heimatlos, losgelöst von der Erde, unnütz, überflüssig, mein Blick chaut ins Leere. Mit dir ist der Kreis geschlossen Ruhe und Sicherheit ist in mir.

„Ohne dich schreckt mich die Welt, quält mich Unerärliches, stürmt Finsternis gegen mich. Mit dir wird jedes Ding zum Freund, grüßt mich, dient mir alles. „Wie sollte ich die begreifen, die in die Einsamkeit gingen, um Gott zu finden? Ich verliere Gott, wenn, du nicht bei mir bist.

„Ohne dich gähnt ringsum der Abgrund, die Sinnlosigkeit, das Fremdsein, die ungelöste Frage. Mit dir in ich ein Erlöster. O du, warum ging ich von dir ich Tor."

Ich hatte sie allein gelassen, drei Tage lang. Wenn sie krank lag, wenn ihr etwas zugestoßen war, den... war ihre Einsamkeit vollkommen sicher gestelli? Gab es nicht Wege, war es nicht möglich, daß Männer ... ie hatte ich sie allein lassen können! Der Verrückte, in Köhler ... ein Mann, der wochenlang allein im alde gelebt hat, in einer Erdhütte, wie ein Höhlenensch, zerlumpt, zerfetzt, schwarz. Und der kommt nun urch den Wald ... warum nicht? Hatte nicht Britta esagt, es sei möglich, daß irgendwo ein Köhler Holz, haue ... und hatte ich selbst nicht vor ein paar Tagen geglaubt, Axtschläge zu hören? Ich. hatte es wieder vergessen, es war vielleicht auch nur ein Specht gewesen, pielleicht, vielleicht! Es konnte ein Köhler gewesen sein ... Und nun kam er durch den Wald, um nach Birkenrain zurückzukehren, oder um auf den Lichtsennhütten Milch zu holen, um wieder einmal mit einem Menschen zu reden ... und er steht am Ufer ihres Sees ... und hört eine Stimme, die singt ... die Stimme eines Weibes ... er hat schon wochenlang kein Weib mehr in den Armen gehabt ... er schwimmt hinüber, er fällt über sie her ... und sie ... ist allein, ruft, niemand kommt ... nein, nicht dran zu denken, Glorian. Ruhe, Beherrschung, Vernunft! Es ist kein Mensch weit und breit, kein Mensch, außer dir und ihr!

Aber nicht nur Köhler drohten. Es konnte auch ein Bauer daherkommen, um sein Waldstück zu beschauen. Oder ein paar Kerle, die einem Förster beim Landmessen halfen ... Oder Jäger ... Und dann ... ich hatte in Birkenrain von sechs betrunkenen Flußtaler Burschen gehört, die auf einsamer Landstraße ein Bauernmädchen auf schändliche Weise um Ehre und Leben gebracht hatten ... O Hölle meiner Gedanken!

Ich lief und lief, bis endlich die Wirklichkeit meine furchtbaren Visionen in die Flucht schlug. Denn auf dem See sah ich unser schwarzes, vorn und hinten spitzhornig aufgibogen:s Boot und Lore, die aufrecht dasiand und angelte, o heiliges Bild! Ich jauchzte ihr zu, aber es klang wie ein Notschrei.

„Du kommt schnell zurück,“ sagte sie glücklich, als wir wieder beisammen auf der Insel saßen.

Da ich mich meiner Ängste schämte, sagte ich: „Ich habe zwei prächtige Kupfereimer gefunden, drum bin ich schon wieder da. Hast du dich nach mir gesehnt ?“

„O ja,“ machte sie leichthin, „aber wo hast du die Kupferkesssel? Warum nahmst du sie nicht mit?“

“Sie waren so schwer. Aber sag: war die Einsameit nicht unerträglich?“

„Nun ja, etwas unangenehm war sie, aber ich hatte ja meine Weberei. Waren denn die Kupferdinger wirkich so schwer, daß du sie nicht tragen konntest ? Du bist och nicht so schwach."

„Ich hatte es eilig, verstehst du."

„Warum eilig ?“

„Weil ich dir mit der Mitteilung, daß ich zwei Kupfergefäße gefunden hatte, eine Freude machen wollte.“

„Seltsam.“

„Seltsam ? Das ist doch ganz natürlich,“ sagte ich und ging, um meine Verlegenheit zu verbergen, au ihren Webstuhl zu. Ich konnte doch, nicht beichten, wa ich ausgestanden hatte, wenn sie allem Anscheine na n ihrer Einsamkeit gar nicht gelitten hatte.

„Bleib hier,“ rief sie.

„Ich will deine Weberei ansehen.“

„Ach, die läuft dir nicht davon. Erzähl mir lieber von deinen Kupfergefäßen. Sind es eigentlich Kessel oder Eimer?“

Aber ich ließ mich nicht zurückhalten und stellte mich vor die Weberei.

„Du hast ja gar nichts gewebt,“ sagte ich verwundert.

„Bist du blind ?“

„Nein, du hast nichts gewebt,“ sagte ich bestimmt. Da kam sie langsam hinter mir drein und trat an meine Seite.

„Nein, ich habe nichts gewebt,“ gestand sie.

„Warum nicht ?...“

„Ich konnte nicht ..."

„Warum nicht? ...“

„Weil du nicht bei mir warst.“ Da umarmte und küßte ich sie.

„Und wie ist's mit deinen Kupfereimern ?“ fragte sie dann.

„Ach die,“ lachte ich und erzählte ihr die Erlebnisse der drei Tage und schloß meine Beichte mit den Worten: „Freie Liebe ~ Geschwätz! Es gibt keine freie Liebe. Liebe ist Gebundenheit, und je größer die Liebe, um so größer die Gebundenheit. Wenn du willst, können wir uns morgen schon trauen lassen. Es kommt ganz aufs gleiche heraus. So sehr bin ich an dich gebunden !“

„Und ich an dich,“ sagte sie.

46.

Die rote Jubelfarbe der Epilobien war vergangen, die violette Wolke der Glockenblumen dahingeschwunden. Sparsamer leuchtete das Sonnenlicht, die Abende glühten, und von goldenen Hintergründen hob sich die verklärte Welt.

Die Berge rückten nah, jeder Wipfel, jeder Grashalm zeigte sich scharf umrissen, die Fläche wurde Relief, die Silhouette Körper. Die Gehänge der Birken glichen Stalaktiten und die Tannen waren wie aus Erz gegossen.

Pflanzen, Sträucher und Bäume hatten alles getan, was für die Früchte getan werden konnte, nun durften sie an das Schmücken der Blätter denken. Plötzlich stand alles wieder in Blüte. Ganze Wälder blühten, Birken sbereschen und Espen, feuergelb, kupferrot und karmin. Eine Freudenflamme war die Welt an hellen Tagen, und bei verhülltem Himmel und in der Dämmerung ging ein mildes Leuchten von ihr aus, als sei jedes Blättchen zu einem kleinen Sönnchen geworden.

Aus dem Nebel, der am Morgen in tausend Räuchlein über den See tanzte und in rosig angehauchten Schwaden vor dem Südwind floh, stiegen die Tage schöner als je, glashell, kristallklar, edelssteinfunkelnd. Im Sommer hatte man beim Anblick des Waldes und der Berge an Schleier und Seidentücher denken können jetzt war alles wie metallisch: die Rinde am Stamm,, die Nadel am Zweig, jedes Stückchen blauer Himmel. Und wir schauten und schauten und konnten uns nich satt sehen.

„Als die Nächte Finsternis waren und der Nordwind die Kälte über uns brachte, freuten wir uns am Licht und an der Wärme des Feuers. Wieder hatte ich übergenug zu preisen.

Lore lächelte mich an.

„Alles lobst du,“ sagte sie, „den Frühling, den Sommer, den Herbst, die helle Nacht, die dunkle Nacht, die mächtige Sonne und, den bescheidenen Kienspan, Ich glaube, du wirst auch den Winter loben.“

„Ich glaube es auch,“ sagte ich, „bin ich nicht Adam und sehe alles zum erstenmal ?“

„Wenn du jetzt nach Berlin kämst, wer weiß ..."

„Schon möglich, aber lieber bleib ich doch hier. Mir haben Holz genug, und Britta kann uns Decken leihen, wenn's nötig ist.“

„Bald wird sie nach Birkenrain zurückkehren.“ „Dann behelfen wir uns ohne sie. Die Preiselbeeren sind reif, und die vielen guten Pilze wollen gegessen sein, Eierschwamm, Steinpilz und Parasolschwamm und viele andere dazu. Hier kann man nicht verhungern. Erst der Schnee soll uns ins Dorf zurücktreiben.“

„Ja, erst der Schnee !“

Aber eines Morgens, als die klare Luft den kleinsten Laut meilenweit leitete, daß selbst das Geräusch eines fallendes Blattes drüben im Walde auf der Insel hörbar war, slog jäh Kindergeschrei über den See und mit ihm Angst, Entsetzen und inbrünstige Bitte um Hilfe.

Wir sprangen ins Boot und ruderten dem Lande zu und sahen bald die Kinder aus den Lichtsennhütten am Ufer stehen, verweint, verängstigt, notdürftig gekleidet.

„Sie ist tot,“ stotterte das Mädchen, als Lore mit tröstenden Worten sich zu ihm niederbeugte.

„Britta tot ?" Nun war das Stottern an mir. „Ja, ja, ja." Und das Mädchen erzählte: „Sie lag heute im Bett und sagte nichts. Und als ich rief : Tante, Tante! sagte sie auch nichts. Und als ich sie schüttelte, um sie aufzuwecken, ließ sie sich schütteln und wachte doch nicht auf. Und als ich sie anrührte, da war sie kalt wie ein Stein. Da liefen wir davon. Und gestern abend hat sie uns noch die Milchsuppe gekocht...“

Lore faßte das schluchzende Mädchen an der Hand, ich lud das Büblein auf den Rücken, und ernst und stumm stiegen wir zu den Sennhütten hinauf, ließen droben die Kinder auf dem Wiesenplan vor Brittas Häuslein sich niedersetzen und traten Hand in Hand und feierlichen Herzens in die niedere Stube. Und wir fanden die Fliegende Britta, wie das Mädchen berichtet, tot im Bette, einer Schlafenden gleich, mit dem Gesichtsausdrucke einer müden Wanderin, die sich freut, endlich so recht ausgiebig ruhen zu dürfen. Ergriffenheit und Andacht schwebte über ihrem Lager, zu dessen grobhölzigem Ernst und Stroharmseligkeit die Fröhlichkeit der mit Schafpelz gefütterten bunten Decke und der mit großen und kleinen Fensterchen farbenreich leuchtenden Vorhänge in fast übermütig lebenslustigem Gegensatze stand. Mit ehrfürchtigen Blicken und Flüsterworten standen wir vor der heiligen Lampe des menschlichen Leibes, in der die freundlich wärmende und heiter strahlende Flamme so reinen, zuversichtlichen Lebens erloschen war.

„Bis dahin hab ich den Tod gefürchtet,“ sagte Lore langsam und leise, „nun seh ich seine Güte und Schönheit. Hier steh ich und trage unter dem Herzen, im Dunkel, im Unbewußten noch, einen neuen Menschen; selber steh ich in der Helle und im gefühlten, geschauten, mit tausend Wünschen und Kräften erfaßten Leben, vor ihr, die wieder ins Dunkle und Unbewußte gegangen ist. Und ich weiß nicht, warum und ob das alles einen Sinn hat. Aber die Frage quält mich nicht mehr und dünkt mich unwichtig und nebensächlich, weil ich spüre, daß im geduldigen, freudigen Erfüllen dessen, was uns auferlegt ist, die Erlösung liegt, auch wenn wir nicht mit dem Versstande und großen Worten dem Rätsel beikommen können!“

Ich streichelte ihre Hände und sagte: „Für mich ist sie nicht nur eine liebe Alte, die gestorben ist, sondern ein ganzes Volk, das dahinging. Sie war die letzte. Nun wird man auch die Lichtsennhütten verlassen, die Häuser, Ställe, Scheunen werden verfallen, so gut wie die Tanzmattenhütten und die Glückshütten. Vagabunden und Jäger werden zerstören, was Schnee und Regen verschont. Untergang, Untergang! Und der Wald wird darüber wegwachsen. Denk an die Mühle am Silbersee, an die Dämme, an die Wehre. Auch der Wasserstand des Dreiquellensees konnte früher geregelt werden. Haben wir nicht erst vor ein paar Wochen das halbzerfallene Stauwerk entdeckt mit den angefaulten Schützen zwischen wackligen Pfosten und den verrosteten eisernen Aufzugstangen, ein Menschenwerk mittendrin in lappländischer Wildnis! Das muß zu neuem Leben erweckt werden. Und wenn die Bauern die Sennhütten verlassen, so müssen eben andere von ihnen Besitz ergreifen. Die andern sind wir!“

„Wir ?“

„Ja, wir. Es gibt Schweden, die darüber jammern, daß ein paar Blumen, ein paar Schmetterlinge am Ausserben sind. Hier verschwindet eine ganze Welt. Die Bauern sagen: Es lohnt sich nicht! Gewiß, so wie sie es treiben - schlechte Butter, schlechter Käse ~ lohnt es sich nicht! Mein Plan ist ein anderer: Man muß alle diese Häuslein, Ställe und Scheunen zusammenkaufen und sie in Sommerwohnungen verwandeln. Für in paar Kronen kann man alles haben! Und dann gründen wir Kinderkolonien und Erholungsstätten Für BGenesende, die nicht allzu hohe Ansprüche stellen. Heißa, wird das ein Leben sein! Die Kinder baden, spielen, angeln und suchen Beeren. Hier verkommen Beeren im Wert von vielen Tausenden, kein Mensch kümmert sich darum. Wer weiß, vielleicht können wir mit dem Erlös der gesammelten Beeren die Kosten der Kinderolonien bestreiten. Die Genesenden aber beschäftigen sich je nach ihrer Kraft mit Bauen, Gärtnern und Fischen. Wir setzen Kartoffeln und pflanzen Gemüse und treiber Fischzucht. Dies Land hat ja unbegrenzte Möglichkeiten, das reinste Amerika. Ich bin sicher, daß hier auch Apfeläume gedeihen würden. So wären wir eine große Gemeinde, eine neue Welt an Stelle einer untergegangenen. Was sagst du dazu? Nicht übel, he? In den Wäldern und an den Seen vernimmt man wieder den frohen lang der Menschenstimmen, die Saumpferde gehen wieder über die Knüppelwege und Balkenbrücken, in jeder Kolonie sorgt ein Bauer für Milch und Butter. Gras gibt's ja vorläufig noch in Hülle und Fülle. In den Tanzmattenhütten wächst's fast über die Dächer! Die Dämme und Wehre werden ausgebessert, das Mühlrad rauscht wieder, treibt die Drehbank, vielleicht auch noch andere Maschinen. Und die Geister der Toten, die das alles gebaut haben, lächeln uns erlöst zu, denn nun wissen sie, daß sie ihre Arbeit nicht umsonst getan haben: daß sie nicht Bäume gefällt haben, damit wieder Bäume wüchsen, nicht Steine zu Dämmer aufeinander sschichteten, damit der Damm wieder auseinander fiele, nicht Balken in verkämmtem Blockverbande übereinander legten, damit sie verfaulten, nicht Schornsteine aufmauerten, damit man an Burgruinen denke, wenn man sie anschaut ..."

Lore lachte plötzlich laut auf.

„Lachst du mich aus ?“ fragte ich erregt.

„Nein, nein,“ rief sie eifrig, „ich dachte bloß daran, daß du der Kultur entflohen bist, die unberührte Natur gepriesen hast und daß du nun drauf und dran bist und mit was für einer Freude + die Natur, die eben eine alte Kultur zu Falle bringt, energisch kultivieren zu wollen."

„Du hast recht,“ gestand ich, „das ist wohl Menschenart ~ nun erfahr ich es am eigenen Leibe. Mit unfehlbarer Sicherheit werden wir zur Kultur genötigt ~ das ist ein Naturgesetz so gut wie ein anderes. Und wenn wir als Wilde in die tiefsten, fernsten Wälder gingen, so würden wir bald daran arbeiten, die heutige Kultur neu zu erfinden."

Wir sprachen noch eine Weile von Fernem und Zukünftigem, dann machte sich die Gegenwart geltend und zwang uns, das Nächstbeste zu tun. Da die Kühe schon nach Hause gelaufen waren, brauchten wir nur die Kinder ins Dorf zu führen.

47.

Auf den Birkenrainer Feldern standen die Garben auf, tangen gespießt, auf den Äckern polterten tie artoffeln_ in die Karren, und irgendwo in einem Hofe ummte die Dreschmasschine wie eine Riesenhummel. aran merkten wir am besten, wieviel Zeit vergangen ar, seitdem wir weggewandert zygren. Vom Tode Brittgs machten die Bauern nicht viel Aufhebens. Sie war ja alt gewesen und schmerzlos verschieden, Grund genug, alles ganz in Ordnung zu finden. „Mit Brittas Bruder und drei Pferden zogen wir ieder zu den Sennhütten hinauf. Zwei Saumsättel wurden mit Habseligkeiten bepackt ~ auf den dritten wurde Britta festgebunden. So zogen wir zu Tal. Vorichtig führte ich das Pferd mit der Toten, mied sorgfältig die großen Steine und steilen Abstiege, als ob sie noch etwas davon spüren könnte, und freute mich, daß ich ihr diesen letzten Dienst erweisen durfte. ê Als es sich darum handelte, eine Inschrift auf ihr einfaches Holzkreuz zu malen, schlug ich jenen Vers vor den sie damals gedichtet hatte:

Wenn ich so nach den Bergen blau Von ferne so hinüberschau, Dann kommen mir vom vielen Sehnen Tief aus dem Herzen tausend Tränen.“

Obgleich der Pfarrer verwundert den Kopf schüttelte und dieser und jener meinte, die Worte hätten ja gar nichts mit dem Himmelreich oder mit der Bibel zu tun und sprächen nur von recht irdischer, an diesen Orte unangebrachter Sehnsucht, so blieb ich doch standhaft und setzte meinen Willen durch. So war denn bald auf dem Friedhofe von Ackerbucht, der am See lag wie ein prächtiger Lustgarten, jene Strophe zu lesen, in der größere Wahrheit steckte als in manchen andern scheinheillgen und ergebenen Sprüchen, weil sie das Wesen der Verstorbenen rein und ganz ausdrückte. Da es ja übrigens jedem freigegeben war, die blauen Berge als das Land der ewigen Sehnsucht zu deuten, so schickten sich schließlich auch die Buchstabenfrommen in die Inschrift. Selbst der Nagel-Johann las sie mit Rührung, seitdem er wußte, daß die blauen Berge, an deren schöne Wirklichkeit er noch keinen Blick verschwendet hatte, symbolisch zu nehmen waren.

Wenn ich aber gehofft hatte, mit der Wiederherstellung und Neubelebung der Sennhütten der Verstorbenen das schönste Denkmal zu setzen, so mußte ich bald einsehen lernen, daß es mit diesem Plane gehen werde wie mit vielen andern früheren Plänen. Lore hatte wohl recht, wenn sie sagte, nur der Traum sei mir vergönnt, nicht die Verwirklichung.

Aber es geschah auch allzuviel, als daß ich noch an die Sennhütten hätte denken können.

48.

Drei Wochen vorher hatte sich der Saubere-Per erhängt. „Ich wußte es,“ dachte ich erschüttert. Muttis. ws wuchs, als ich erfuhr, wie er gestorben war.

Ich spürte ein Herzklopfen und eine Unruhe, wie man sie einem schlechten Gewissen zuschreibt, als ich um Hof des Toten schritt. Hatte ich das Recht, eine aum vernarbte Wunde aufzureißen ? Aber ich konnte nicht anders. Der Hof sah sauber und Hoffnungsvol drein, die Witwe zeigke Haltung und freundlichen Frieen, so daß ich mich mit meiner Frage hervorwagte und etwas weitschweifig und unbeholfen andeutete, daß ich gerne erfahren hätte, unter was für Umständen ihr Mann aus dem Leben geschieden sei. Die Frau öffnete ohne Scham und Scheu den Mund und sagte: „Er machte Schluß, weil er sich nicht ändern konnte und weil er doch auch nicht den Hof verderben wollte. Er starb als ein guter Mann!“

Man wird begreifen, Daß ich mit einem verwirrenden und heftig hin- und herzuckenden Gefühl, in dem Glück und Entsetzen zugleich war, heimwärts wanderte. Ich hatte Mühe, gerade und sicher zu gehen. War die geheimnisvolle und schreckliche Macht in mir, ein Schickal vorauszusagen ?

Und es kam die zweite Erschütterung.

Kajsa war überführt und geständig, zwei einsame aIte Leutchen in Kuhberg mit Arsenik vergiftet zu haben, um in den Besitz von fünfzig Kronen zu gelangen.

Jetzt trat sie in den Schulsaal von Ackerbucht mit Ketten an den Füßen. Im Saale war das Thing zum Gerichtsspruch versammelt. Und viele, viele Männer und Frauen und Burschen und Tuch MädJen, die mit hölzernen Gesichtern und hervorquellenden Augen auf, die Verbrecherin starrten, die im weißen Oberhemd, im roten Mieder, in der roten Mädchenhaube, in der fröhlich gemusterten, gestreiften Schürze, im schwarzen, faltigen Rock gar unschuldig und ehrbar aussah.

Das Urteil wurde verkündet: es war das Todesurteil. Kajsa änderte keine Miene. Durch den Saal aber ging es wie ein Aufatmen, wie ein Frohlocken. „Recht geschieht's ihr, recht, recht, recht!“ nickten die Köpfe.

Aber auf einmal duckten sich die vielen Zuschauer. Sie spürten den Tod. Sie sahen das Henkerbeil blinken, sahen Blut fließen ... wegen fünfzig Kronen! Da stand sie noch, die Mörderin ... und auf einmal ... Kopf ab ... tot!

Was ist Tod ? Was ist Leben ?

Die Bauern, die Weiber, die Burschen, die Mädchen zitterten, einen Augenblick lang schwankte der Boden ...

„Wir sind alle arme Sünder ... Gott sei uns armen Sündern gnädig !‘’ bebte es durch die Seelen. „Bing sie nicht auch einmal als Kind mit Blumen in den Händen unschuldig durchs Dorf ? Wohin haben wir sie gehen lassen! Gottlob sind wir nicht ihre Eltern ... nicht der Lehrer ... nicht der Pfarrer ... die müssen heute ein schlechtes Gewissen haben! Aber ist darum unsere Schuld geringer? Weh, weh uns! Verurteilen wir nicht auch uns zum Tode, wenn wir sie zum Tode verurteilen ?“

Und die Männer dachten: „Mitschuldige sind wir ... Wer schlich ihr nicht nach ? Wer stellte ihr nicht nach ? Vor dreißig Jahren! Sechzehn war sie oder siebzehn .... Hätten wir sie in Ruh gelassen! Aber wir ließen sie nicht in Ruh ...“

Und die alten Frauen dachten: ,„Mitschuldige sind wir! Sahen wir nicht untätig zu, als sie die Mutter auslachte und den kranken Vater verspottete, da sie noch ein Kind war ? Zuckten wir nicht gleichgültig die w als sie nach dem Tode des Vaters die Mutter grob behandelte und tat, was sie wollte ? Ließen wir es nicht bei einem verächtlichen Wort bewenden, wenn in den Samstagnächten die Burschen johlend und gröhlend um ihr Haus spektakelten und in die Stube drangen ? Stellten wir uns_nicht taub und blind, als ein junger Vagabund bei ihr in der Kammer hauste und die Mutter in ohnmächtigem, kraftlosem Zorne in der Stube saß und weinte?“

Und die jungen Frauen dachten: “Mitsschuldige sind wir ... Waren wir nicht feige und ließen sie gewähren, weil wir ihre Sippschaft fürchteten ?“

Ein Schrei wollte laut werden: „Thing, Thing straf auch uns, die wir einen Menschen in unserer Mitt an Leib und Seele zugrunde gehen ließen, ohne ihm z helfen.“ Aber der Schrei drang nicht über die Lippen. Diese Menschen hatten nicht Atemluft genug für solche Schreie. Sie konnten reden, aber nicht von dem, was aus dem Innersten heraus sich nach Rede sehnte. Und) die Wallung verging, Alltagssicherheit füllte den Saal [Kajsa war abgeführt worden. Die Bauern und Bäue rinnen hatten ihre Gewissensqual vergessen und sagte wieder: „Recht ist's ihr geschehen, wenn's nur alle Mördern so erginge !“

Ich aber, der auch im Saale stand, hatte die Gedanken erlauscht und den Schrei gehört. Nun wußte ich, daß viele Schreie in die Welt wollten, aber es fehlte ihnen die Kraft.

Da waren die Seen, die runden Blöcke am Ufer, die steinigen Äcker, das Moos im Walde, die Sennhütten, und alles schrie nach dem Wort.

Da waren die tiefen Sodbrunnen, die honiggelben Bäche in den Sümpfen, Granitblöcke wie Häuser und Steinwälle wie Ringmauern, Tannen hunderterlei Art, Flechten, Blumen, Birken, Ebereschen, Erlen, Espen.

Da waren die Leute von Ackerbucht und Birkenrain: Bauern, die sich selber nicht mehr kannten und nicht die Welt, in der sie lebten, Pfarrer, die nichts wußten von der Not der Menschen, Kinder, die ohne Ziel und Führung ins Leben tappten.

Aber die Fülle der Erscheinungen, Willensäußerungen, Taten verwirrte und überwältigte mich. Wie konnte ich diese Welt in meiner Faust zusammenballen, daß jeder sah, was geschah und was geschehen würde ?

Alles mußte in diesem Buche sein: Uralte Begierden, Mittelalter, Roheit, Branntweinrausch, Gewalttat, Freiheit der Unkultur. Die letzte Hungersnot, die bloß vierzig Jahre zurücklag, mit Tod und Tannenrindenbrot. Die Maschinen, die Geldwirtschaft, die verlorene Bodenständigkeit, das Amerikafieber, die gelockerten Familienverbände, die Großstadtlockungen, das eingebüßte Pflichtgefühl, die ruhlose Seele, die Lebensunsicherheit. Und Sonnen-Lars, der sich nach einem Sohne sehnte, und Saus-Lars, der glückliche Faulenzer, Rosen-Jan, der eine Frau suchte, und der Saubere-Per, der sich durch den Tod aus der Schmach rettete. Und der geizige agel-Johann mit dem empfindlichen Gewissen, sein ater, der langsam verfaulte, seine Mutter, die schmutzige exe, und Nagel-Greta, die Prächtige, Starke, Unebeugte. Und der Brave-Olof, der ruhige Pssalmenänger und Steinhauer und Wasserschmecker, und die erbrecherische, mächtige Kajsa. Und der Handelsmann, er die Substantive verloren hatte, und die Hinkende ritta, die im Lande ihrer geliebten blauen Berge zum immel aufgeflogen war, und die. Auswanderer, die ein Häuslein verlassen hatten, um nach Kanada zu fahren. Und der sagenhafte Silberberg mit all seinen Schätzen und der Wald, der verstümmelte, rachsüchtige Wald. Ja, vor allem der Wald!

49.

In mein Bemühen, diesem Leben Form zu geben, kam die Botschaft, daß Hauptmann Stahl, der ecke, der Riese, der Goliath, im Sterben liege.

Als ich mit einem freundlichen Gruß, der sich, so gut es ging, mit Fröhlichkeit maskierte, an sein Bett trat, erkannte ich ihn kaum wieder.

„Ja, ja," sagte der Kranke, der seltsam klare und urchdringende Augen zu mir aufschlug, ,„schauen Sie icht so verwundert drein, das ist der Hauptmann Stahl, enn schon nicht viel mehr von ihm übrig ist als das Skelett. Das Fleisch fürchtet sich vor den Würmern ind macht sich lieber beizeiten aus dem Staub, vom Arm – er zog einen Kinderarm unter der Bettdecke hervor, „wollen Sie auch ein Bein sehen? Aber der Arm genügt wohl ... ja, ja ... fünfundvierzig Kilo wäg ich ... die Knochen nämlich, das andere ist ja nicht der Rede wert ... meine andern fünfundvierzig sind verdunstet, verstehen Sie, bald wird alles verdunstet sein, Flagge auf Halbmast, Punktum, Schluß.!“

Ich sprach ihm tröstend zu. Das Krankheitsbild der Schwindsucht zeige große Schwankungen, im Handumdrehen könne die Lebenskurve wieder steigende Tendenz zeigen ... man habe es schon erlebt, daß ...

„Gut gemeint, gut gemeint, Herr Kling, ja, ja, steigende Tendenz,“ er zeigte gegen den Himmel, ,,dort hinauf, natürlich bildlich gesprochen, wo keine Schwankungen mehr sind ... he he ... Ich weiß es, kein Widerspruch, nichts zu machen! Ich .hab mich daran gewöhnt, obwohl’s nicht leicht war ... nein, verflucht schwer ... Denn mein Gehirn wiegt nicht viel weniger als vorher ... aber was nützt's, daß der Kapitän gesund ist, wenn das Schiff untergeht ? Um so schlimmer für den Kapitän, nicht wahr? Hätt’ man die Tuberkulose gerade auch noch im Gehirn, dann wär's leichter ... Aber bedauern Sie mich beileibe nicht, es geschieht mir ganz recht, ganz recht.. .. Das Rad hat sich folgerichtig gedreht, Zahn umZahn, und zurückdrehen kann’s niemand... Wenn Sie wüßten, was für ein prächtiger Kerl ich gewesen bin, Sie würden weinen ... und jetzt so abzudampfen, Herrgott ... nur fünf gesunde Jahre, ich wäre zufrieden gewesen, nur vier, nur drei!‘’ Er drehte den Kopf gegen das Fenster.

„Denn die Bauern ... ein Wendepunkt ... wer wird ihnen helfen ... Der Tausend, daß die Wahrhei kommt, wenn's zu spät ist ... Aber still ... Achtung steht! Ich bin Offizier, Herr Kling, ich weiß, was sich geziemt ... aber, aber, aber ... wenn ich nur noch einmal mit den Bauern reden könnte .... Nur einmal an einen Sonntag ... nach hem Gottesdienst _.... wie Bustas Wasa ... das war ein König ... zum Krieg gegen die Dänen hat er aufgefordert ... . Jetzt ist viel Schlimmeres im Lande ... Wieder ist’s nötig, daß man zu de Bauern spricht ...“

Seine Stimme wurde heiser und unverständlich. Aber immer noch schaute er in die Herbstlandschaft hinaus und sprach und sprach. Er glaubte wohl zu schreie — und flüsterte!

Auf einmal sah er mich steif an.

„Verstanden Sie, was ich sagte ?“ fragte er langs am und deutlich.

Ich stotterte eine unbestimmte Antwort.

„Man versteht mich nicht mehr,“ stöhnte er, legte ich erschöpft in die Kissen zurück und drehte den Kopf gegen die Wand.

Ich saß eine Weile schweigend da, erhob mich dann leise und sagte: „Adieu !“

„Nein, warten Sie,“ sagte der Kranke und wandte sich langsam um, „frei heraus : Haben Sie mich verstanden?“

„Nein.“

„Man würde mich also nicht verstehen, wenn ich vor der Kirche redete ?“

„Lieber Herr Hauptmann ...“

„Gut, gut ... ich bin also schon tot! Adieu ... Kommen Sie wieder! Übrigens: Sie sollen verheiratet sein ?“

„Noch nicht, aber bald.“

„Recht so, Kinder muß man haben ... Ich habe keine ... höchstens irgendwo ein paar ungewünschte Zufallsgeschöpfe. .. . Sie sehen, so hab ich mit meinem Leben gewirtschaftet ... Und hielt mich doch immer für einen gescheiten Kerl ... Gehen Sie hin und tun Sie nicht desgleichen . .. Auf Wiedersehen !“

Wir drückten uns die Hand und schieden. In mir kämpfte Schmerz mit Jubel. Denn mitten im Mitleid drin war mir offenbar geworden, wie das Chaos des Gesschauten und Erlebten zu bändigen war. Doch im Triumphe war ein eisiger Schrecken gewesen, und ich hatte mich einen rücksichtslosen, grausamen Unmenschen gescholten, weil ich mich nicht schämte, mit kaltem Blut die Leiden dieses Sterbenden als willkommene Tinte in meine trockene Feder rinnen zu lassen. Kaum hatte ich es gewagt, den Hauptmann anzusehen! Mußte jener nicht meine Gedanken von der Stirne lesen ?

Aber im Freien faßte mich der Rausch des Findens und Wissens von neuem.

Ich sah den Vater, den stolzen, berühmten Reichs- tagsmann, den Freund des Königs, den Bauern, in dem die neuen Anschauungen Fleisch wurden, den Bauern, der die Bauernsache verriet, als er den einen Sohn in ein Regiment steckte und den andern zwang, sich aufs Studium vorzubereiten. Ich sah den hünenhaften Leutnant, den Vergeuder von Kraft und Leben, und den weichherzigen Schüler, der über Büchern saß und ssich nach der Scholle sehnte, bis daß ihm nach dem Mißerfolge im Eramen Scham und Furcht und Verzweiflun den Revolver in die Hand drückten. Untergang, Totennz, Wirklichkeit und Symbol zugleich. Der Verfall eines mächtigen Geschlechts in einer Generation.

Und tat ich, wenn ich dies schilderte, nicht einen Teil dessen, was der Sterbende hatte tun wollen ?

Noch einmal besuchte ich den Schwerkranken. Mit festem Entschlusse beichtete ich ihm meinen Plan. Wir er mich verfluchen oder segnen ? dachte ich mit Beben.

Da lächelte der Hauptmann.

„Ich bin also nicht tot? ... Ist's wahr? ... sagte er ... „ein Fremder kommt ... und sieh da .. . in ihm ist mein Blick, meine Art zu sehen ... mein Wollen ... Und Sie sind jung und stark ... nein du ... warum sollt ich zu dir nicht du sagen ? ... Ja, schreib ... Ich schenke dir meine Tagebücher, meine Entwürfe zu Reden, die ich nie gehalten habe ... die Briefe meines Bruders an mich, überhaupt alle Briefe ... von meinem Yater ... seine Reden ... alles ... und ...'’ Er zog an einem Glockenzug. Eine ale, freundliche, behäbige Haushälerin trat ein. „Das ist Maria, meine gute Hilfe, die ich schon als Kind behütet und nun auch als Sterbenden pflegt ...'’ Maria begann zu weinen. ,„Wisch die ränen aus den Augen, Maria,“’ sagte der Hauptmann,, „ich werd nicht mehr lange reden können, ... Dann sollt du reden ... Erzähl diesem Herrn alles, was du weißt ... er schreibt ein Buch und muß die Wahrheit wissen ... sei freundlich gegen ihn, so freundlich, wie du gegen mich gewesen bist ... denn wahrhaftig, Maria, in ihm lebe ich noch weiter, wenn ich schon im Grabe liege ... “

So wurde die Arbeit auf meine Schulter gelegt als geliebte Last, und ich hatte keinen andern Wunsch, als meine Kraft dieser Arbeit widmen zu dürfen.

50.

Aber noch waren nicht alle Schwierigkeiten überwunden.

Mit dem Geldverdienen hatte ich diesmal kein Glück.

Der Großhändler hatte Konkurs gemacht, und ein anderer Geschäftsmann, der deutsche Korrespondenz brauchte, wollte sich nicht finden, obwohl in den Zeitungen täglich zu lesen war, daß der Export nach Deutschland in einem erfreulichen Aufschwung begriffen sei.

Der Mißerfolg bedrückte mich, denn ich hatte auf diesen sicheren Verdienst gerechnet.

„Du siehst so finster aus,“ sagte Lore neckisch, „hast du schon Familiensorgen ?“

„Wir haben ja kein Geld,‘? antwortete ich bekümmert.

„Und wenn auch,“ sagte sie ganz leichthin.

„Das ist keine Kleinigkeit," beharrte ich finster.

„Wo ist denn dein Gottvertrauen?" fragte sie lächelnd.

Da wußte ich nichts Rechtes zu antworten.

„Erinnerst du dich nicht, daß du sagtest, man solle sich nicht für den morgigen Tag sorgen ?“

„Nun ja, das mag ich früher einmal gesagt haben . . .“

Sie streichelte und küßte mich.

„Dabei wollen wir bleiben,“ sagte sie.

„Woher hast du soviel Glauben ?“ fragte ich geröstet.

„Nun gebe ich dir die Kraft zurück, die du mir gegeben hast,“ sagte sie.

Am andern Tage brachte sie mir gar hundert Mark und die Nachricht, daß meine Waldgeschichte abgedruckt worden sei.

„Kannst du zaubern ?“ fragte ich.

„Nein, es ist alles mit ganz natürlichen Dingen augegangen,“ lachte sie. „Die Geschichte hatte ich an. einen Berliner Redakteur geschickt. Und der Redakteur hat sie natürlich angenommen. Hier ist das Honorar.

Wie gesagt, es ist gut, daß du eine Frau hast !“

Das bestätigte ich aus vollem Herzen.

„Aber nun sollst du auch so schnell wie möglich meine richtige Frau werden,“ sagte ich. „Heute noch schicke ich die nötigen Briefe an das Konsulat in Stockholm.“

„Wirst du es nie bereuen, daß nun deine Freiheit zu Ende ist ?“ fragte Lore.

„Sie ist nicht zu Ende. Freiheit ist ja nichts anderes, ls das tun dürfen, zu dem man sich gezwungen fühlt. reiheit ist jene Gebundenheit, die man sich selber gibt.“

„Und was hältst du nun von dem Kindervers : Ich in dein und du bist mein, solange die Liebe währet ..."

„Wer weiß,“! sagte ich lächelnd, „ob man ihn nicht ein bißchen ändern könnte ...“

„Wie denn ?“ fragte sie eifrig und hielt den Atem an.

„Vielleicht so: Ich bin dein und du bist mein, solange das Leben währet ...“

„Ach ja, Glorian,“ rief sie und fiel mir um den Hals, „warum sollte das nicht möglich sein ?“