Die Geschichte der Anna Waser: ELTeC Ausgabe Waser, Maria (1878-1939) ELTeC conversion Priska Rüegg 550 114532

2020-05-18

Transcription Projekt Gutenberg Hella Reuters Die Geschichte der Anna Waser. Ein Roman aus der Wende des 17. Jahrhunderts Waser, Maria Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart und Berlin 1917 Die Geschichte der Anna Waser. Ein Roman aus der Wende des 17. Jahrhunderts Waser, Maria Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart und Berlin 1913

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I Bei Josephus Werner

Es war nach einem maßleidigen Dauerregen, als eines Sonntagabends zu Mitte Mai plötzlich die Sonne herfürbrach. Ganz heimlich geschah dies, während die guten Berner im Abendgottesdienst saßen, und erst, da sie das Münster verließen – etwas griesgrämig in den schwarzen Kirchengewändern – gewahrten sie mit Staunen, wie die Pfützen auf der Plattform neben der Kirche gelbrot erglänzten und allbereits ein mächtig Stück Himmelblau zwischen den abendgoldenen Türmen hing. Die breitschwebenden Schwalben aber von der Ringmauer, die all die Zeit bäuchlings über die Aare gestreift, segelten nun ganz hoch in der sauberen Bläue und so fern, daß man ihnen kaum nachblicken konnte. Die Alten kriegten den Schlucker unter den engen Halskrausen, wann sie's taten, und die Jungen ein seltsames Drängen in der Herzgegend, das man nicht anders denn mit einem tiefen Seufzer quittieren konnte. Es war aber keine Täuschung und falsche Vorspiegelung mit dem Himmelblau und Abendgold und Hochflug der Schwälbchen; über Nacht tat sich der Himmel gewaltig auf, sog die überflüssige Nässe ein und vertrieb sie mit leichten Winden, sodaß der Montagmorgen mit allem Überschwang einer frischgewaschenen Maienpracht herauskam. So freudig glänzten die gedrängten Zinnen, und die Leute traten vergnügt unter den niedrigen Laubengängen hervor in die breiten Gassen, wo man die Sonne spürte. Aber am herrlichsten ging der neue Tag über die Gärten am morgendlichen Rande der Stadt, die sich von den hoch über der Aare gelegenen Häusern an der Junkerngasse in breiten Stufen gegen den Fluß hinabzogen. Dort machten die kleinen Vögel ein lustiges Wesen mit Jubel und Sonnenflug, und die Menschen taten es ihnen nach, öffneten allenthalben die Fenster und ließen Allongen und Haubenbänder im Frühwind flattern oder auch in einem ungesehenen Winkel sich die Sonne auf den perückenlosen Schädel brennen. Nur eines der enggeschmiegten Häuser unweit der Plattform schien nicht mitzumachen. Die Flügel am kleinen Fenster des Turmstübchens standen zwar offen und bewegten sich mit hellem Blitzen der runden Scheibchen leise hin und her, aber die ganze Fensterreihe des ersten Stockes war blind und tot; denn dort lag hinter modisch großscheibigen Fenstern Josephus Werners kleine Malschule, und der Meister hatte vorsichtig die dünnen Verhänge vorziehen lassen, auf daß kein fürwitzig Sonnengeflimmer seine Lehrjünger am emsigen Werke störe. Nur an der einen Stelle, wo die Verhänge nicht ganz schlossen, vermochte ein dünner Strahl einzudringen. Er legte eine schmale Bahn durch das wohlräumige Gemach und über die runden Köpfe der Malschüler. Der schöne Giulio, so zunächst dem Fenster sah, betrachtete angelegentlich den hellen Eindringling, der aufreizend, ein langer güldener Zeiger, nach der Tür wies, die sich eben hinter dem Meister geschlossen hatte. Dann warf er plötzlich seine Reißkohle von sich, mitten ins Zimmer hinein, daß sie bröckelnd aus dem messingenen Halter sprang.

»Commilitones,« rief er mit etwas wie Spott in der warmen verwelschten Stimme, »nehmt's ad notam: Anno Domini 1692, am Montag nach Exaudi, sah man zu Bern die Sonne. Wohl verstanden: keine weiße Trübsal hinter Wolken, eine rechte gelbe Sonne; aber in des Maestro Josephus Werner löblicher Kunstacademie saßen die Kunstjünger hinter gezogenen Verhängen und kopierten gipsene Modelle! Per Bacco, wer's aushält!«

Die andern wandten sich belustigt dem Italiener zu; aber Lukas Stark, der langaufgeschossene Primus der Klasse, flackerte ihn herrisch an aus seinem hageren Jungengesicht: »Silentium, Welsch,« rief er streng, »nun soll Stoffel reden; er ist uns die Explication schuldig, aus was Ursach das Turmstübchen heut morgen also lieblich hergerichtet wird und ob wir am End gar einen patricischen Hausgenossen gewärtigen müssen!«

Aber des Meisters Sohn schüttelte bestimmt die rote Mähne: »Ich weiß nichts, Lux, der Vater hat auch mir nichts verraten!«

»Wer's glaubt!« stichelte Stark weiter. »Und ich sage, daß du's weißt!«

Da erhob Christoph sein offenes Gesicht und sperrte die hellbraunen Augen weit auf: »Nein, sage ich,« rief er erbost, »nobis, hörst du? Nobis quant!« und preßte beteuernd die rosenrote Faust aufs Herz. Enttäuscht wandten sich die andern wieder ihrer Arbeit zu. Da war also nichts zu erfahren. Christoph sagte nie eine Unwahrheit, und wenn er gar ein Bekräftigungswort aus jener gaunerischen Geheimsprache herfürholte, so die Jungen in dem verschwiegenen Stadtviertel unten an der Aare führten, tönte es wie Eid und heiliges Schwören.

Indessen hatte Giulio ungestüm das Fenster geöffnet und sog nun mit seufzendem Atem die durchsonnte Luft ein, die leise zitternd ins Zimmer drang. Dann warf er sich in die Fensterbrüstung und bog den geschmeidigen Körper hinaus, daß sein schwarzes Samtwams mit scharfen Konturen gegen die klare Luft stand. Seine Blicke umspannten entzückt die maienbunte Welt. In wundervollem Reichtum tat sie sich vor ihm auf, herrlich gestuft von den schimmernden Zacken der Schneeberge, die ein zarter Duft weit am Himmel hinaufrückte, über Voralpen, Wälder und Hügel bis hinunter zum tiefgewühlten Aarebett. Plötzlich blieb sein Auge an einem Punkte hängen. Er beugte den Kopf weit hinaus, daß die wohlgepflegten Locken im Morgenwind wehten; dann griff er niederwärts nach einer der amethystfarbenen Blütentrauben, die aus dem knorrigen Gerank unterhalb des Fensters herausdrängten, und warf sie in schönem Schwung durch die helle Luft. Ein kleiner, erschreckter Schrei antwortete von unten.

In diesem Augenblicke kam der Meister zurück. Ein unwirscher Zug ging über sein lebhaftes Gesicht, da er das müßige Treiben seines welschen Schülers gewahrte, und als er vor dessen verlassene Staffelei trat, zogen sich seine starken Brauen dunkel zusammen, und die reichgetürmten Locken seiner braunen Allonge gaben einem mißbilligenden Kopfschütteln ein vielfaches Echo.

»Flüchtig, flüchtig, Giulio! Solchermaßen bringt Ihr niemalen einen rechten Laokoon heraus. Der fähige Geist allein tut's nicht, es sind auch Fleiß und Aufmerksamkeit vonnöten!«

Der Angeredete wandte sich leicht dem Lehrer zu und ließ ein übermütiges Feuerchen in seinen warmen Augen aufspringen: »Ach, laßt den alten Gorilla, teurer Maestro! Seht her, gebt mir dies zu malen, und Ihr sollt Euch nicht länger über meinen Unfleiß beklagen müssen!«

Mit diesen Worten zog er den halb unwilligen Herrn Werner ans Fenster und zwang dessen Blick nach dem unteren Garten, wo des Meisters junge Tochter Sibylla über den lohbelegten Weg heraufschritt. Von den leuchtenden Narzissen, die aus schmalen braunen Beetchen der Mauer entlang ihren Wohlgeruch schwadenweis ausatmeten, hielt das Mädchen einen dicken Strauß in Händen, und die Sonne legte einen vielfarbigen Lichtschein um ihren blonden Scheitel und das weiche Gesicht, darauf eine zarte Röte sich zusehends vertiefte. Es lag zu viel Lieblichkeit in diesem Anblick, als daß er nicht Herrn Werners Unmut hätte verscheuchen müssen. Ein erfreutes Lächeln, darein Vaterstolz und Malerlust sich teilten, ging durch seine klugen Augen und verschwand nicht, als Giulio einen Danteschen Vers gleich einer weichen Melodie vor sich hinsang:

»Tanto gentile, tanto onesta pare 
la donna mia ...«

Denn ein Vergleich seiner stillen Sibylla mit der himmlischen Beatrice schien ihm in diesem Augenblick nicht so uneben. Erst als der Italiener den Meister mit stürmischen Bitten bedrängte, daß er ihn die Tochter malen lasse, wandte sich dieser stirnrunzelnd und mit abwehrender Gebärde vom Fenster weg in die Stube zurück:

»So meine Sibylla gemalt werden soll, weiß ich ihr eine würdigere Hand denn die Eure, Giulio!«

Aber der andere ließ nicht nach, und während Herr Werner mit festen Schritten den Raum durchmaß, verfolgte er ihn mit flehentlichen Worten:

»Hat nicht Tiziano die holde Lavinia durch seine Schüler malen lassen? Und hatte er nicht selbst als Schüler des Palma Vecchio blondes Kind unzählige Male mit seinem güldenen Pinsel verewigt?« Als aber sein Bitten erfolglos blieb, warf er mit komischer Leidenschaft die Arme wie schmerzlich zum Himmel: »O Maestro, Maestro! Draußen wartet das gewaltige süße Leben, Ihr aber stellt uns vor Gipsleichen und tote Blätter!«

Der Meister hielt auf seiner Wanderung durch das lange, saalartige Gemach inne und kehrte sich mit brüsker Bewegung nach dem Sprechenden zurück. Ein Zorn wollte in dem dunkeln Gesicht aufsteigen; aber er verflog wie ein Wetterleich und machte einem überlegenen Lächeln Platz.

»Ehe Ihr die Schönheit meiner Kupfer und Abgüsse versteht, die nach den fürtrefflichsten Meisterwerken der Welt geschaffen sind, werdet Ihr selbst keinerlei Schönheit herfürbringen, und solange Ihr den göttlichen Laokoon einen Gorilla nennt, wird Giulio Giuliani kein Meister werden!«

Dann wandte er dem wenig reumütigen Italiener den Rücken und ging, als ob nichts geschehen wäre, ruhig prüfend von Staffelei zu Staffelei.

Erstaunt blickten sich die Schüler an. Sie hatten nach Giulios dreister Rede einen andern Ausbruch erwartet; denn die heißen Worte lagen sonst locker in Herrn Werners feuriger Seele. Heute mußte er in besonderer Stimmung sein. Mit verstohlenen Blicken betrachteten sie ihren Lehrer, und nun sahen sie erst, daß er feiertäglich angetan war und daß, halb verborgen unter dem reichgestickten Kragen, die güldene Kette hervorblitzte, die – ein Geschenk des großen Königs – nur an besonderen Ehrentagen sich zeigen durfte.

Indessen hatte der Meister seinen Rundgang durch die Klasse vollendet, hatte da und dort korrigierend eingegriffen, hatte durch lebhaftes Lob Lukas Starks tiefliegende Augen zum Leuchten gebracht und durch nüchterne Kritik das gerade Gesicht seines Sohnes in Wallung versetzt, wobei die roten Wangen mit dem gelbroten Haar einen unerfreulichen Zweiklang abgaben. Dann stellte er sich breitspurig vor die Klasse hin, mit einem verheißenden Augenblinzeln, sodaß die Schüler erwartungsvoll zu ihm aufblickten. Herr Werner aber drehte mit leisem Schmunzeln sein spitzes Schnurrbärtchen: »Nun möchtet ihr wohl Auskunft von mir haben, für wen das Turmstübchen hergerichtet wird. Ich habe das Wundern lang schon an euch gespürt und an euern gestörten Arbeiten. Aber die Patientia, meine Herren Lehrjünger, ist eine fürtreffliche Göttin, der zu dienen man nicht früh genug lernen kann. Erstmalen will ich noch euern Scharfblick und Urteilsinnigkeit auf die Probe stellen.«

Mit diesen Worten holte er aus der Kammer, die an das Atelier anschloß, ein kleines Gemälde heraus und stellte es vor der Klasse aus.

»Was denket ihr von dieser Malerei und ihrem Urheber?«

Die Schüler drängten sich um das Bild, das in heller und glücklicher Farbenmischung eine Flora zeigte, eine zartverhüllte weibliche Figur, die blumenstreuend durch eine an antikem Dekor reiche Landschaft hinschritt.

»Ich denke, Maestro,« rief Giulio lebhaft aus, »daß der Maler dieses holde Mädchen nicht nach Gips geschaffen!« Aber Christoph schnitt seine Rede ab: »Das ist ja Eure Flora, Vater! Wie kommt sie aus dem Besitz des Zürcherherrn hierher?«

Herr Werner schwieg lächelnd, während die übrigen Schüler sich in Lobesbezeugungen und Bewunderung ergingen, und betrachtete Lukas Stark, der, das scharfgeschnittene Kinn in die gestützte Rechte geschmiegt, mit aufmerksamen Blicken das Bild maß.

»Es ist das Werk eines Copisten, Meister,« sagte er in scharfem, nüchternem Ton, »das ist nicht Eure Handschrift und sind nicht Eure Farben; Ihr hättet die Gestalt lebhafter vom Hintergrund unterschieden und ließet sie nicht also unbestimmt in der blauen Luft hängen.«

Herr Werner lachte befriedigt: »Mein Lukas hat wieder einmal richtig getroffen; es ist eine Copie meiner Flora. Was aber denkt ihr von dem Copisten?«

Christoph, dem abermals eine rote Welle ins Gesicht gestiegen war, suchte sein Ungeschick gutzumachen: »Ich denke, daß er ein großer Maler ist, da er Euer Werk also trefflich nachzuschaffen wußte.« Und Giulio ergänzte: »Ich denke, daß er eine sehr feine Seele hat, so im Werke des andern zu lesen, ja, durch dieses hindurch zur Natur zu dringen weiß. Seine Augen haben nicht nur die Blumen Eurer Flora, Maestro, gesehen, sondern auch ihre lebendigen Vorbilder und deren Schönheit hundertmal genossen – und ich denke, daß er eine sehr zarte Hand hat.« »Eine Hand,« warf Lukas mit spöttischem Lächeln ein, »der nichts fehlt denn die Meisterschaft.«

Herr Werner aber fuhr munter fort: »Fürwahr, auch Ihr, Giulio, habt recht; es ist in der Tat eine zarte Hand, die dies geschaffen; denn sie gehört einer noch zarten Jungfrau, einem Mägdlein, ebendemselben, das heute noch als euer Mitschüler und Hausgenosse in das Turmstübchen einziehen wird.«

Das schlug ein wie Hagel und Blitz. Einen Augenblick blieb alles still. Dann aber brachen die Fragen von allen Seiten los und umdrängten den lachenden Meister wie ein zudringlicher Bienenschwarm. Nur Lukas schwieg. Sein Gesicht verdüsterte sich, und die Zähne nagten an den trockenen Lippen des kleinen Mundes; dann grollte er:

»So sind denn also unsere guten Zeiten vorüber, und wir könnten Staffelei und Malgeräte füglich einpacken: wo das Frauenzimmer hinkommt, da hört alle ernsthafte Arbeit von selber auf; niemalen wird eins dieser flüchtigen, schnellfertigen Geschöpfe, die zu keinem anhaltenden Geschäfte taugen, den Ernst zur hohen Kunst finden.« Aber Giulio lachte laut auf:

»Oh, ihr heiligen Bären von Bern, wann kommt die Zeit, wo ihr euer Brummen zum Wohlklang menschlicher Stimme erhebt und wo ihr eure Augen von den eigenen schwertrottenden Tatzen weg und zur Sonne wendet!«

Herr Werner zog die Brauen hoch:

»Ich hoffe, Lukas, daß du deine Meinung ändern wirst. Ich habe auch erstlich dem Ansinnen des hochmögenden Herrn alt Amtmann Waser widerstanden, als er mir seine Tochter hierher in die Lehre geben wollte, ungeachtet der rühmenden Worte, die ihr ein trefflicher Künstler, mein guter Freund Felix Meyer in Zürich, gewidmet, eben in Erwägung jener Eigenschaften, die das andere Geschlecht nicht zur Ernsthaftigkeit der Kunst geeignet zu machen scheinen. Aber nun mir das Mägdlein vor etwelcher Zeit dies Gesellenstück geliefert konnt' ich nicht länger widerstehen. Und in Anbetracht ihrer vorzüglichen Eigenschaften und großer Fleißes will ich nicht dagegen sein, daß dies Zürcherkind in die Reihe der trefflichen und großen Künstlerinnen rücke, von denen die Welt unterschiedene gekannt hat. Vielmehr will ich mein Möglichstes tun, aus daß man einstmalen die Anna Waser neben einer Maria Robusti, Sophonisse Angusciola und Anna Rosa auf dem Parnasso erblicken soll – und neben einer Sibylla Merian.«

Den letzten Namen sprach er etwas leise, wie zögernd, was bei den Schülern ein schnelles Augenzwinkern hervorrief; denn der Umstand, daß des Meisters Tochter nicht den traulichen Namen der Frau Werner trug, wohl aber den fremden der berühmten Malerin, mit der zusammen Herr Werner in jungen Jahren zu Frankfurt in des alten Merian Schule gearbeitet, hatte zu allerlei Vermutung und unterhaltsamen Flüstereien Anlaß gegeben; aber Herr Werner tat, als ob er nichts bemerkte von dem Gemunkel. Auch jetzt fuhr er unbeirrt fort, wenn auch in etwas strengerem Ton:

»So hoff' ich denn, meine Herren Buben, daß ihr mich in meinem Vorhaben unterstützen und die Jungfrau weder durch Unfreundlichkeit, schlecht angebrachte Neckerei, noch gar Eifersucht kränket. Ihr sollt in ihr nichts sehen denn eine Miteifernde und Kameradin, der um so mehr Schonung und Freundlichkeit vonnöten, als sie in ausnehmender Stellung und mit ihren kaum vierzehn Jahren den meisten unter euch an Alter nachsteht. Ich erwarte, daß ihr auch in diesen Stücken die gute Reputation meiner Academie mehren werdet, sodaß ein Vertrauen, solches mir der Herr Amtmann Waser durch Überlassen seiner Tochter beweist, auch gerechtfertiget ist.«

Nach dieser umständlichen Rede, die aus dem lebhaften Mund des Meisters etwas ungewöhnlich klang und deshalb ihren Eindruck nicht verfehlte, trug Herr Werner das Bild in die Kammer und kehrte dann wieder unter die verdutzte, völlig aufgelöste Schar zurück. Da fiel sein Blick auf Giulio, der mit erfreutem Gesicht die Neuigkeit besprach. Herr Werner schritt auf den Italiener zu, faßte ihn unterm Arm und ging mit ihm ein weniges von den andern weg:

»Euch, Giulio, habe ich noch ganz besonders ans Herz zu legen: Laßt mir der Jungfrau gegenüber die leichten welschen Manieren, deren Ihr gern pflegt. Die Waserin ist ein ernstes und wohldenkendes Mädchen, das wohl Ehrerbietung verdient, das sich aber durch leichtfertige Höfelei und Liebesscharwenzen gekränkt fühlen würde.«

Der Jüngling warf den Kopf in den Nacken: »Ihr wißt, Signor Maestro, ich stamme aus der Stadt der Novella d'Andreae und Properzia de' Rossi!«

»Aber leider ist es nicht das edle Bologna, das mir Euch schickt,« erwiderte Werner mit bedeutsamem Blick, »sondern das üppige und leichtfertige Florenz l«

Die Worte brachten eine Glut in des Jünglings Gesicht, und seine Augen verdunkelten sich; da klopfte der Meister ihm wohlwollend auf die Schulter: »Es ist nicht bös gemeint, Giulio, ich weiß, daß Ihr Euch als Cavalier betragen werdet auch gegen diese Jungfrau.« Dann wandte er sich wiederum mit muntern Worten der jungen Schar zu: »Und nun, meine Herren Kunstbegierigen, mäßigt euern Eifer oder vielmehr, lenkt ihn auf ein ander Feld und sorget dafür, daß der Herr Amtmann und seine Tochter heute nachmittag so diese Stube als auch euch selbst angenehm und in wohlerfreuender Ordnung finde; auch sollen die Stadtschüler sich in vollgerundeter Zahl besammeln, damit meine Academie sich in völliger Stattlichkeit präsentieren kann. And daß ihr mir vor allem meine edeln gipsenen Modelle ungekränkt lasset und eure Hüte und Barette geziemend placiert und nicht auf den ambrosischen Häuptern eines Apoll und Laokovn oder gar einer Juno und Diana!« Dann verließ Herr Werner mit gutgelaunten, klingenden Schritten das Gemach.

Des Meisters Worte waren nicht wirkungslos geblieben. Der Nachmittag fand nicht allein die Malstube sauber hergerichtet, sondern auch die Schüler, die an Händen, Haar und Kleidung die verschönernden Anstrengungen der Mittagspause durchaus nicht verleugneten. Selbst an Christophs Rothaar wurden beträchtliche Bemühungen um Bezähmung des widerspenstigen Materials offenbar, das sich so bitter schwer zu Locken drehen ließ. Und die heftige Neubegier war am Werk mit aufgeregten Reden und kurzen erwartungsvollen Pausen. Ans Arbeiten dachte keiner; nur Lukas Stark saß mit verbissenem Eifer an seiner Staffelei und schien sich um Worte und Gebaren der andern wenig zu bekümmern; aber sein Gesicht war dunkel, und die erhitzten roten Äderchen aus den vorspringenden Backenknochen zeigten, daß er nicht allein mit Händen und Augen werkte. Aus seinem Ingrimm suchte ihn Giulio herauszunecken.

»Seht her den heiligen Lukas, Santo, Santissimo,« deklamierte er, »der heiliger sein will als sein großer Schutzpatron! Denn jener malte die süße Madonna, derweil dieser hier Feuer und Flamme speit gegen eine unschuldige Jungfrau; der arme Giulio aber freut sich, daß endlich was Liebliches in diese Schulstube kommt.«

Aber Lukas lachte den andern höhnisch an: »Etwas Liebliches? Du wirst sehen, wie lieblich solch eine Creatur sein kann, so die Süßigkeit ihres Geschlechtes verleugnet und sich Kraft und Ruhm eines Mannes anmaßen will. Ich fürchte, der schöne Giulio wird diesmal nicht auf seine Rechnung kommen, dieweil ihm diese Männin weit eher Schrecken denn augenverdrehende Entzückung erwecken dürfte!«

Aber der Italiener lachte: »Wann Schönheit und Dummheit so zusammen stünden, wie du zu meinen scheinst, Lux, dann würden Augen und Ohren in diesem Lande sich gar zu oft wechselweise belügen, da jene auf Klugheit schließen müßten, wo diese Schönheit vermuteten!«

»Ich red' weder von Schönheit noch Dummheit,« fuhr Lukas gereizt auf. »Ich meine die schönsten Weibestugenden, als da sind: Güte, Demut und ein verständig liebevoll Wesen und Klugheit am rechten Platz, die sich auch im Gesicht aufs holdeste malen, derweil Ehrsucht, Hoffart und selbstische Überhebung nicht nur ein weibliches Herz, sondern auch dessen Spiegel, das Antlitz, vergiften.«

Die letzten Worte verklangen in einer plötzlichen Stille, und als Lukas sich überrascht umwandte, traf sein Blick ein helles Mädchengesicht. Zwei große, sehr kluge Augen lagen einen Moment auf ihm und gingen dann kühl weiter. Er kam sich vor wie verflüchtigt. Rasch sprang er auf und stellte sich in die Reihe seiner Kameraden, die mit tiefer Reverenz die nun eintretenden Herren begrüßten.

Die beiden boten ein gar zwiespältiges Bild. Neben dem beweglichen, eleganten Werner, der mit seiner pompösen Perücke und modischen Kleidung – beides Reminiszenzen an einen unglücklich verlaufenen Aufenthalt am Hofe des Sonnenkönigs – recht wie ein französischer Kavalier aussah, erschien der Zürcher Amtmann in seiner etwas steifen Würde sonderlich schlicht und streng. Das dunkle Reisekleid, das dem hageren Körper ziemlich knapp anlag, zeigte keinerlei Schmuck, und die altvaterisch geschnittenen Haare erreichten kaum die schmale blendend weiße Halskrause und umrahmten kümmerlich die feinen Schläfen und die hochgebaute Stirn über dem schmalen Gesicht. Eine peinliche Sauberkeit und nüchterne Strenge waren an dem Mann, die einschüchtern konnten; es war kaum zu glauben, daß je ein Lächeln diese knappen Züge verschönern und die bernsteinfarbenen, dunkel umschatteten Augen durchspielen mochte. Auch jetzt, da er sich die jungen Schüler betrachtete, die ihm Herr Werner mit sprudelnden und launigen Worten vorstellte, schienen diese blassen Augen nur strenge Kritik und nüchternste Klarheit zu kennen. Während die weiße ausgemergelte Rechte, die ein breiter Siegelring zierte, unablässig über das starke Kinn strich, gingen die Blicke forschend von einem zum andern, und als die Vorstellung zu Ende war, sprach er nach kleinem Räuspern, mit einer trockenen, etwas klirrenden Stimme und ohne den Schatten eines Lächelns um die schmalen Lippen:

»Es freut mich, in euch die künftigen Kollegen meiner Tochter zu begrüßen. Da ich weder an euern mir von Herrn Werner vorzüglich geschilderten Wandeltugenden noch an der Trefflichkeit eures Kunsteifers zweifle und ich hinwiederum den Fleiß und die Aufmerksamkeit meiner Tochter kenne, bin ich überzeugt, daß sich die Zusammenarbeit durch gegenseitige Nacheiferung aufs ersprießlichste gestalten wird.«

Dann wandte er sich mit einem kleinen, mehr erledigenden als grüßenden Kopfnicken von den Jünglingen weg Herrn Werner zu, der die beiden Gäste unter höflichen Scharringgeln ins Nebengemach führte.

»Der Antik ist nicht kommod,« kicherte einer der Schüler, »da will ich noch lieber unsern Hach!« Schulmeister.

»Ja,« meinte ein anderer und zupfte heftig an den kurzen Ärmeln seines verwachsenen Wamses, »aber sie – auf der Plattform etwan – wann sie da mit andern spazieren wollt als mit uns, das geben wir nicht zu!«

Giulio sah groß vor sich hin: »Augen hat die, Augen ... Und er schüttelte den Kopf wie über einem Rätsel.

Nur Christoph und Lux schwiegen. Jener starrte die Türe an, die sich hinter den drei geschlossen hatte, und das Staunen öffnete alles in seinem Gesicht, daß es schier entsetzt aussah. Der stolze Lukas aber war wieder an seiner Arbeit, als ob es ihn nichts anging, das Wispern und Wundern rings.

Drüben sahen sich die Zürcher Gäste überrascht in dem kleinen Gemach um, allwo Bilder, Stiche und Statuen sich reichgehäuft vorfanden.

»Ihr seht hier das Zimmer,« erklärte Herr Werner, »wo meine Schüler zu Winterszeit des Nachts bei Licht Academien halten und fürnehmlich nach alten gipsenen römischen und griechischen Modellen zu zeichnen pflegen. Der Raum hält die Wärme länger zusammen als die luftige Malstube und läßt sich durch diese Lampe meiner Invention wohl erhellen.« Dabei wies er nicht ohne Stolz aus eine sonderbar geformte, an der Decke befestigte Messinglampe, deren sinnreiche Konstruktion der Amtmann mit Bewunderung und vielem Lob für den Erfinder betrachtete. Dann aber wandte man sich den aufgestapelten Kunstschätzen zu, die Herr Waser mit wachsendem Staunen betrachtete.

»Ich wundere mich,« rief er aus, »in dem Atelier des verrühmten Miniaturmalers vorzüglich umfangreiche Bilder und Modelle für die Schüler zu finden, da ich doch glaubte, daß hier die Muse der zierlichsten Malerei allein herrsche.«

Herr Werner wiegte sein lockenbeschwertes Haupt und strich unterschiedene Male über sein zierliches Schnurrbärtchen, als ob er ein gewichtig Wort auf der Zunge formte. »Die Miniatur, hochmögender Herr,« hub er dann feierlich an, »ist kein Anfang, sondern ein Ziel, sintemal es der feinsten und bedachtlichsten Kunst benötigt, um im kleinsten Rahmen das sagen zu können, wozu andere ganzer Mauern bedürfen, solche man nur mit halsverdrehendem Staunen betrachten kann. Der Weg aber, der zu dieser Kunst führt, in der ich – mit Verlaub – recht eigentlich den Ausdruck unserer gebildeten Neuzeit erblicken möchte, deren Privilegium es ist, die Schönheit des Zierlichen und die Größe des Kleinen entdeckt zu haben, dieser Weg hebt bei den umfänglichen Flächen und großen Linien an. Der Anfänger in der edeln Malerkunst muß eben zuerst in großen Gebärden sich genugtun können, nicht anders als ein klein Kind, das auch nicht zierlich und wohlanständig zur Welt kommt, sondern sich zunächst mit übelm Geschrei und Strampeln vernehmlich macht. Aber wie eine treffliche Mutter die übeln Gewohnheiten des Kindes bald zu löblichen Tugenden und guten Sitten zu wandeln weiß, so ist es auch mein redliches Bemühen, die angeborene Neigung zu befördern und auf sichere Wege zu bringen. Meine Unterweisungsart, edler Herr, ist keine wie bisher gebräuchliche Phantasterei, man findet bei mir Richtschnuren und gründliche Lehrsätze nach den Regeln der freien Künste und nicht aus Einbildungen und Mutmaßungen. Aber erst dann, wann der Lehrjünger alle Malerkunstrichtigkeiten erfaßt hat, ist er auch würdig, sich der fürnehmsten, adeligsten Kunst zuzuwenden, als welche ich die edle Miniatur betrachtet haben möchte.«

Herr Werner hielt inne und beobachtete mit Befriedigung den Eindruck, den seine Rede aus die beiden gemacht hatte, freute sich über das beifällige Kopfnicken des Amtmanns und die andächtige Begeisterung, die sich in Annas Augen malte.

Bedachtsam nahm Herr Waser das Wort auf: » Optime dictum, Herr Werner! Auch ich möchte keine Kunst über die edle Miniatur setzen, die mir gleichsam wie eine Leibwerdung aller feinen und zarten Tugenden vorkommt, weilen – wie mir scheint – kein roher oder übelgesitteter Mensch dergleichen mit ungeschlachten Fingern hervorzubringen vermöchte. Es ist deshalb auch mein besonderes Anliegen und Herzenswunsch, daß meine Tochter einst in dieser feinsten Kunst, wenn vielleicht auch nicht excellieren, so doch ein Treffliches leisten möge.«

»Sie soll excellieren, sie soll excellieren!« rief Herr Werner mit Emphase und griff nach Annas schlanker Hand: »Wer sollte der zarten Kunst Meister werden, wenn nicht diese feinen, zierlich gespitzten Finger, die schon so früh und so glücklich nach dem Pinsel griffen? Freilich, Zeit muß man ihr lassen, Herr Amtmann, und vorerst müssen auch diese zarten Händ an Rötel und Kohle sich färben, ehe sie den Silberstift und kleinsten Pinsel führen dürfen, muß mir doch selbst Giulio, der als Maler schon etliches geleistet, mit der Zeichenkunst neu beginnen, dieweil sein fremdartiger und passionierter Pinsel einer Zügelung nicht entraten kann.»

Indes hatte Anna verlegen ihre vor Erregung feuchten Finger aus den festen Händen des Meisters befreit. Über dem unerwarteten Lob war ihr das Blut in Bewegung geraten, und eine kindliche Freude übergoß das heiße Gesicht mit einem rührenden Glanze, den Herr Werner nicht ohne Genugtuung gewahrte. Mit klugen und anschaulichen Worten stellte er dann den beiden seine Kunstschätze dar und öffnete schließlich vor den entzückten Augen des Amtmanns eine sorgfältig verschlossene Truhe, darin er seine feinsten Miniaturen aufbewahrte sowie eine Sammlung von Geschenken und Auszeichnungen, die er einst aus den Händen römischer Kardinäle und deutscher wie welscher Fürsten empfangen hatte.

Mit kostenden Kennerblicken betrachtete Herr Waser die Medaillen mit den Bildnissen des Kaisers, des pfälzischen Kurfürsten und des großen Königs und ließ wohlgefällig die künstlich gearbeiteten Goldketten durch die blassen Finger gleiten. Anna aber griff plötzlich mit einem kleinen überraschten Jubel nach einer in hellen und lieblichen Farben gehaltenen Miniatur.

»Vater, glaubt Ihr nicht, den alten Pfarrhausbrunnen von Rüti zu sehen!« rief sie mit seltsamer Bewegung in der Stimme, während sie dem Amtmann das feinste Kunstwerk unter die Augen hielt, das eine am Brunnen ausruhende Diana darstellte.

»Phantastin,« lächelte dieser, »hier sehe ich eine herrliche antike Fontäne, welche die Kunst des Malers, eben unseres trefflichen Herrn Werner, mit allen Schönheiten einer arkadischen Landschaft umgeben hat; der Rütibrunnen aber war in Wahrheit nichts anderes als ein grauer und vermooster Stock unter einem hängenden Weidenbaum.«

Aber Anna schüttelte den Kopf: »Ihr habt eben den Brunnen nicht gekannt, Vater, Ihr seid nicht wie ich halbe Tag unter der Weide gesessen und habt geschaut, wie die Sonne mit dem Weidenlaub ein golden und grün Gespinst durch die Luft zog, während das Wasser sein unablässig zart und eintönig Lied sang; ansonst würdet Ihr sehen müssen, wie dieser grün verhängte Brunnen hier jenem ähnlich sieht.«

Abermals lachte der Amtmann und erwiderte, nicht ohne einen verweisenden Ton in der Stimme: »Fürwahr, dem Amtmann von Rüti fehlte die Zeit, halbe Tage unter einem Weidenbaum zu sitzen, dazu hatte ich damalen mit meinen vielen wichtigen und gefährlichen Geschäften zuviel Werg an der Kunkel; aber freilich fehlt es mir auch an der übertriebenen Einbildungskraft, um aus einen alten Brunnen ein Arkadien zu machen!«

Herr Werner machte runde Augen: »Die Einbildungskraft, Herr Waser, mag einer fürsichtigen genauen und bedachtsamen Staatsperson wenig nütze sein; aber für einen Kunstjünger ist sie eine notwendige und über die Maßen kostbare Fähigkeit, ohne die der Maler nur ein armer Copiste der Natur bleiben und niemalen dazu kommen wird, den kunstreichen Sinn auch zum Erfinden der Geschichten und Gedichten grundrichtig zu gebrauchen. Der wahre Künstler muß – wann ich mich in diesem Sinne Eurer Worte bedienen darf – wohl imstande sein, wenn auch nicht aus einem Brunnenstock, so doch aus einem Weidenbaum ein Arkadien zu erschaffen.«

Damit war Herr Werner auf einem Gebiet angelangt, wo ihm die Worte nicht leicht ausgingen und ihm die Sätze in absonderlich schöner und blumiger Rundheit quollen; denn von der Einbildungskraft ging sein lebhafter Geist zur Allegorie über und betrat damit jenen Garten, wo es weder für des Meisters Gedanken noch Pinsel jemals eine Grenze gab. So kam er denn auch mit seinen sinnreichen Ausführungen nicht eher zu Ende, als bis Frau Susanna Werner in ihrer stattlichen Gemütlichkeit erschien und die kleine Gesellschaft zu Tisch bat, mit der Bemerkung, den weitgereisten Gästen möcht ein anständiges Abendbrot wohl so willkommen sein wie die schönsten Reden, solche zwar das Gehirn zu erhitzen, nicht aber den Magen zu wärmen imstande seien.

*

Die Sonne war schon untergegangen, als die Gesellschaft sich vom Mahle erhob, das, teils der köstlich aufgetragenen Speisen, teils der lehrreichen und unterhaltsamen Reden wegen, so die beiden Herren miteinander geführt, sich länger als gewöhnlich ausgesponnen hatte. Während Frau Werner den Hausgeschäften nachging, begaben sich die andern, der Stimme einer Amsel folgend und einem verheißungsvollen rötlichen Scheine, in den dem Eßzimmer anliegenden Garten.

Ein großes Leuchten, das von der Alpenkette herüberkam und einen unirdischen Glanz über den stillen Abend legte, empfing sie draußen. Sibylla, die während des Essens mit wenig Worten und vielen Blicken um die Freundschaft der neuen Hausgenossin geworben hatte, nahm Anna bei der Hand und zog sie nach dem Mäuerchen, das den kleinen Garten, der gleichsam die erste geräumige Stufe der zum Fluß niedersteigenden Gartentreppe bildete, abschloß. Jetzt erst überblickte Anna den ganzen Wunderbau dieser Landschaft, die sich vom tiefen Aarebett in vielen reichbewegten Horizonten urmächtig bis in den leuchtenden Himmel hineintürmte. Aufatmend drückte sie die Hand des blonden Mädchens, während ihr über dem herzbedrängenden Anblick ein fast seltsames Schimmern in die Augen kam.

»Seid Ihr traurig?« fragte Sibylla besorgt und zog Anna neben sich auf die Mauer unter das Dach eines breitästigen Holunderbaumes. Aber diese schüttelte lächelnd den Kopf: »Nein, nein, es ist nur so über alles Sagen schön!«

Nun trat auch der Amtmann an die Mauer. Er stand hoch aufgerichtet mit fest verschränkten Armen; aber in dem hagern Gesicht zuckte es eigen, und die blassen Augen glänzten. »Das ist ein groß und selten Schauspiel, wie ich mich dessen kaum erinnere,« wandte er sich an Herrn Werner, der ihm gefolgt war. »Es ist nicht anders, als ob unser schönes Land in diesem Bild sein Meisterstück geschaffen hätte. Jedesmal, und auch gestern wieder, wann ich mich, aus dem freien, flachen Lande herkommend, Eurer hochgemuten Stadt nähere, muß ich mit neuem Staunen betrachten, wie sich nach und nach die Landschaften zusammenziehen und mit einem unbegreiflichen Aufwand von Kräften zu diesem wohlgefügten und ungeheuren Gemälde aufbauen.«

»Es freut mich über die Maßen,« nahm Herr Werner nicht ohne Bewegung das Wort, »von einem Bürger des edeln und herrlichen Zürich in dergleichen Worten mein liebes Bern loben zu hören. In der Tat, ich muß selber gestehen, wann etwelchem die Schuld zu geben ist, daß ich mich aus schönen kunstreichen und kunstpflegenden äußeren Orten nach meiner kargen und kunstunfreundlichen Vaterstadt zurückbegab, allwo ich nur in Bescheidenheit meine Tage vollbringen kann, so ist es dieser Anblick, über den mich selbst alle Schönheit Italiens nicht zu getrösten vermochte.«

Anna schaute immer noch mit großen Augen in das Glühen hinein, das nach und nach blasser zu werden begann. »Die Berge sind anders als bei uns,« sagte sie dann mit einer Stimme, die weither zu kommen schien. »Bei uns ist's wie ein zartes weißschimmerndes Spitzengewebe am Rande des Himmels ausgespannt; aber hier ist es, als ob sich die hohen Häupter all um jenen breiten und hochgebauten Gipfel sammelten, der mir vor allen andern herrlich und hoch zu sein scheint.«

»Ach weiß, wovon Ihr redet,« entgegnete Herr Werner mit einem Lächeln, »und Ihr werdet staunen, liebe Waserin, wann ich Euch den Namen dieses schönsten Berges nenne; denn er ist absonderlich und könnte manchen zum Nachdenken anmachen. Der Berg heißt hierzulande die Jungfrau, und zwar von alters her.«

»Es setzt dies,« erwiderte der Amtmann, »die Galanterie Eurer Vorfahren in kein schlechtes Licht. Wißt Ihr keine Explication für diese absonderliche Benennung?« Doch als Herr Werner von einer alten Sage berichten wollte, schüttelte er den Kopf: »Mir scheint, mit Verlaub, diese Erklärung unbefriedigend, da die Sage wohl aus dem Namen, nicht aber dieser aus jener abgeleitet ist. Der Name ist älter und muß irgendwo sich aus dem Anblick selbst erklären lassen, wie denn auch der Name des wilden und schier fürchterlichen Schreckhorns oder der Spitzen Nadel Alter Name des Finsteraarhorns. eines einleuchtenden Grundes nicht entbehrt.«

»Da wird uns,« meinte der andere gutgelaunt, »unsere galante Jungmannschaft am besten Erläuterung geben können!« Und er rief die drei Jünglinge herbei, die sich in der andern Ecke des Gartens damit belustigten, die ab und zu vorbeisurrenden Maikäfer einzufangen, um sie nach kurzer, nicht eben milder Haft wieder in Freiheit zu setzen. Herr Werner legte ihnen den Fall nicht ohne Schalkheit vor und freute sich im stillen dieses umgekehrten Parisurteils.

»Oh, das ist klar, Maestro,« rief Giulio begeistert; »ist sie nicht weißer und schöner als alle andern Berge und scheinen die weichgebreiteten Schneefelder nicht eben jetzt in diesem verblassenden Scheine sich lieblich zu schwellen wie der Busen einer schönen Frau?«

»Nein!« rief Christoph erregt dazwischen, während Sibylla ihr errötendes Gesicht gegen eine der noch grünen Dolden des Holunderbaumes preßte und Anna still mit zusammengezogenen Brauen in die Ferne blickte. »Nein, weil sie stolz ist und kühl und jeglichem unerreichbar, deshalb trägt sie diesen herrlichen Namen!«

»Oder vielleicht,« führte mit abwägender Zunge Lukas das Wort weiter, »weilen sie sich so trefflich ins beste Licht zu setzen und glänzend hervorzutun weiß. Seht nur, wie geschickt sie mit hochmütig gestrecktem Haupte den letzten Strahl auszusaugen und den stillen Eiger mit Schatten zu bedecken versteht!« Ein schneller lauernder Blick ging zu Anna hinüber, den sie mit überraschten und mutigen Augen auffing:

»Ihr irrt Euch, Herr Stark! Nicht deshalb, weil sie stolz und eigennützig ist – denn ich sehe nicht ein, warum unter solcher Ansehung der Berg nicht eher den Namen irgendeines Mannes oder ehrgeizigen Jünglings tragen sollte – weil sie unablässig ihr Haupt dem Himmel zuwendet und unbekümmert um Eiger und Schreckhorn in die Anschauung des Ewigen sich versenkt, trägt sie diesen Namen, in keinem andern Sinn, als ihn von je alle Priesterinnen und Himmelsbräute getragen.«

»Optime, optime!« rief Herr Werner entzückt und legte seine Hand väterlich aus Annas Schulter, während Lukas zornig einen Maikäser mit zerpflückten Flügeln nach dem untern Garten warf. »In dieser Erklärung läßt sich der schöne Name auch recht als ein Symbolum und Mahnzeichen erachten, nämlich: daß es nur einer reinen Jungfrau, solche in die Anschauung des Höchsten ihr Ziel gesetzt hat, gelingen wird, zu dieser herrlichen Höhe und Klarheit sich hinaufzuringen, wie denn auch jener andere Berg dort, der zwar in schöner Völligkeit hingebreitet scheint, sich aber, als ob er zu fest in der Erde wurzelte, nur zu geringerer und flacher Höhe hat erheben können, den Namen der Frau trägt.« Damit ließ er den gepflegten, langnagligen Zeigefinger in westlicher Richtung dem Horizont nachgleiten und führte die Blicke der andern aus den neben der dunkeln Pyramide des Niesen hingelagerten weißen Berg.

Da wuchs mit zarter Färbung das zweite Abendglühen über die Alpen herauf, das die Gesellschaft aufs neue mit Entzücken betrachtete, bis der letzte Schimmer vergangen und die ganze Kette in ein tötendes Violett versunken war. Von der Aare her zogen weißliche Flöre, mit dem Wohlgeruch der blühenden Welt erfüllt, leise über die Gartenstufen empor. Die Amsel brach plötzlich ihr Lied ab und eilte in hastigem Tiefflug nach dem Flußufer hinunter, aus dem grünlichen Himmel aber drangen da und dort langsam die ersten blassen Sternchen hervor.

Da erschien unter der Eßzimmertüre Frau Werner und rief die Gesellschaft mit freundlichen Worten herein. Es sei von dem langen Regen her noch zuviel Feuchtigkeit im Boden, als daß man ungestraft nächtlicherweise im Garten weilen dürfte. Leicht könnte eines von den schlimmen Dünsten einen Schaden davontragen. Dann aber sei es für ihr neues Töchterlein wohl auch an der Zeit, nach so vielen Eindrücken eines langen Tages sich zur Ruhe zu legen.

Man folgte der Aufforderung der Hausfrau. Anna verabschiedete sich und stieg, von Frau Werner und Sibylla begleitet, in ihr Turmstübchen; die Jünglinge verschwanden, während die beiden Herren sich im Eßzimmer niederließen.

Der Amtmann schaute sich prüfend in der schönen, schwer getäfelten Stube um, die man zu Ehren des Gastes mit einer reichlichen Kerzenbeleuchtung bedacht hatte. »Ihr habt eine schöne Behausung, Herr Werner,« sagte er, indem er sich steif in den hochlehnigen Stuhl setzte.

»Es ist die einzige Wohltat,« erwiderte dieser nicht ohne Bitterkeit, »die mein lieb Vaterland mir erwiesen, und auch sie habe ich nicht der Stadt, wohl aber dem hochedeln Commandanten Franz Emanuel von Bonstetten zu verdanken, der mir diese seine Behausung gleichsam in Erinnerung schöner, gemeinsam verlebter Tage in Versailles und wohl auch eines besonders glücklichen Contrefaits, das ich ihm zu damaliger Zeit von einer zarten Freundin vollführt, gnädig und billigst überlassen hat. Es scheint übrigens dieses Haus,« fügte er mit einem feinen Lächeln bei, »für fahrend Volk, Schulmeister und Künstler, zu welchen allen Kategorien ich mich füglich rechnen darf, prädestiniert zu sein, dieweil es im vierzehnten Jahrhundert einem Juden, im fünfzehnten einem Schulmeister, im sechzehnten aber einem Bildhauer zugehörte, nämlich dem trefflichen Erhard Küng, demselben Meister, wessen das Jüngste Gericht über der Münsterpforten, ein für damalige Zeit höchst lobenswertes Werk. Von ihm ging das Haus in die zarte Hand der edeln Eva von Bubenberg, des großen Adrian Tochter, über, was Euch beweisen mag, daß auch das fürnehme Frauenzimmer an dieser Behausung sein Gefallen finden kann. Mir ist sie sonderlich lieb geworden und hat mir über manche Bitternis hinweggeholfen, die mir mein liebes Bern kredenzet.«

»Ich wundere mich,« nahm der Amtmann mit forschendem Blick das Wort, »Euch eben jetzt und zu mehreren Malen mit schier erzürnten Worten über Eure edle Vaterstadt reden zu hören, dieweil ich vernehme, daß sie ihr Rathaus von Eurer Hand aufs schönste hat schmücken und dadurch doch wohl ihre hohe Anerkennung Eurer Kunst deutlich genug merken lassen.«

»Schöne Anerkennung!« rief Herr Werner mit bitterem Lachen. »Zum halben Preise habe ich ihnen meine beiden großen Schildereien, die Fürsichtigkeit und die Gerechtigkeit, die ich mit sonderlicher Liebe und Kunst ausgeführt, überlassen wollen und damit meiner Vaterstadt ein Geschenk zu geben vermeint. Aber was glaubt Ihr? Die mindern siebzig Dublonen, die ich verlangte, haben sie mir auf fünfzig heruntergedrückt und dadurch ein gar köstlich Beweistum ihrer hohen Schätzung meiner Kunst geliefert. Oh, schäbig, schäbig! Glaubt, daß ich das schmutzig Geld lieber in den Aarslutz oder den edeln Herren vor die Füß geworfen hätte. Aber da ich selbstwillig das Glück, das ich an äußern Orten genossen, aufgegeben und mich hier festgesetzt hatte, mußte ich mich der gestrengen Hand ducken. Es ist mir bitter genug bekommen; denn ich war von geistlichen und weltlichen Fürsten wie von Privatpersonen anderes gewohnt gewesen und hatte auch von meiner lieben Vaterstadt, in die mich eine schier kindische, übergroße Liebe nach so langem und – wohl darf ich sagen – ruhmvollem Fortsein gezogen, anderes erwartet. Ja, ja, es ist schwer, wenn man mit Lorbeeren heimkehrt und vom eigenen Vater mit der Ruten empfangen wird!«

Trübsinnig stützte Herr Werner sein dunkles Gesicht in die Rechte, während seine Augen ins Leere schauten und sich um des Amtmanns kluge und begütigende Worte wenig zu kümmern schienen.

Da ertönte plötzlich eine zarte fremde Musik, die mit feinen Saitentönen und den fast zu schmelzenden Klängen einer menschlichen Stimme unwirklich, unbegreiflich, irgendwo von draußen, irgendwo aus der freien Luft hereinzudringen schien.

Verwundert, fast erschreckt horchte der Amtmann aus, während Herr Werner mit einem plötzlich veränderten glücklichen Gesicht sich im Stuhle zurücklehnte, lächelnd, die träumenden Augen von den untern Lidern halb bedeckt, wie bei einem starken, seligen Genuß.

»Das war Giulio,« sagte Herr Werner mit einem glücklichen Seufzer, als der letzte Ton in einer langen Kadenz verklungen war, »mein guter Giulio, der aus der Gartenmauer irgendeiner Sehnsucht sein Abendständchen bringt. Das war die Jugend ... Seht, Herr Amtmann, das ist die Jugend, die mir zu so vielen Malen immer wieder das Herz froh gemacht und die Bitternis verscheucht hat. Darum hab' ich mich auch mit diesen Lehrjüngern umgeben, wenn schon sie mir eine teure Zeit mit viel Rücksichtslosigkeit wegnehmen. Erhalte ich mir doch dabei selber die Jugend und den Trutz gegen die Schäbigkeit der Welt. Die Lieder des Giulio aber sind mir fast das Liebste, dieweil sie mir eine süße und unwiderrufliche Zeit sichtbar vor Augen stellen.«

»Mir hingegen,« erwiderte der Amtmann mit bedenklichem Tone und ließ die weißen Finger erregt über den Tisch spielen, »mir scheint, mit Vergunst, diese Musik wenig gesund, sondern vielmehr aufreizend und recht dazu gemacht, gefährliche Gedanken und Empfindungen in einem jungen Gemüt heraufzuwühlen.«

»Es ist die welsche Manier,« sagte Herr Werner begütigend; »unter dem blauen Himmel und im Duft der Orangenblüten gedeiht die Musik wie die Kunst anders als unter unsern Regenwolken, und hinwiederum tönt sie anders aus einem Mund, der nur die schönsten Laute zu formen gewohnt ist, als aus unsern rauhen, von Bier und Nebel gleichermaßen verkratzten Kehlen.«

»Geschmacksache,« entgegnete der andere scharf und nagte an der feinen Lippe, »mir scheint ein Weihnachtslied aus Kindermund nicht nur reiner und frömmer, sondern auch schöner, weil mit vernehmlicherer Sicherheit und klarerer Bewegung der Töne zu klingen ... Wie,« setzte er nach kurzer Pause hinzu, »kommt Ihr übrigens zu diesem welschen Vogel?«

»Es ist ein traurig und seltsam Schicksal, das ihn hergeführt,« nahm Herr Werner nicht ohne Verlegenheit das Wort, »worüber zu sprechen mir aber nicht gestattet ist, was Euer Gestrengen mir nicht übel anschlagen wollen. Leicht kann es sein, daß diesen schönen und hochbefähigten Jüngling eine schlimme Zukunft erwartet. Er ist der einzige Sohn eines reichen Kaufherrn aus Bononien, hingegen hat ihn sein Lehrer, mein florentinischer Freund, hierher gesandt, allwo er nur wie ein Gefangener mit stetem Heimweh und forttreibendem Verlangen weilet, und ich weiß nicht, wie lange wir ihn behalten dürfen. Es könnte ein großer Künstler aus ihm werden, wenn das Schicksal es nicht anders will.«

Herr Werner schwieg, und das angedeutete Geheimnis legte eine peinliche Stille zwischen die Männer, die sich eben mit unangenehmer Kühle auszubreiten begann, als Frau Susanna heiter und wohlig unter der Tür erschien und mit fröhlichem Geplauder und einer aus dem tiefsten Keller herausgeholten Flasche edeln Burgunders bald einer traulichen Stimmung auf die Beine verhalf. Mit ihrer schönen stattlichen Gestalt und dem frischen Gesicht unter dem immer noch schweren blonden Haar, das ein kleines Häubchen nur dürftig bedeckte, war die muntere Augsburgerin immer noch eine rechte Augenweide. Sie setzte sich zu den beiden Herren, und ihre Worte flossen warm und herzlich, während die Kelche aus feinem Nürnbergerglas in anmutigem Zusammenklang sich fanden.

Sie erzählte, wie sie Anna in ihr Stübchen gebracht und wie sich Sibylla nur mühsam und unter wiederholtem Zurückkehren von der neuen Freundin hätte trennen können. »So ist nun mein Mädelchen,« sagte sie lachend, »ein recht kindisch und auswallend Blut, das sich gleich mit aller Leidenschaft an ihre neue Freundin hängt, unbekümmert, ob Eurer Tochter solch Ungestüm auch lieb ist. Ich freilich,« fügte sie herzlich hinzu, »kann mich solcher Verbindung nur freuen, dieweil Eure Anna unserer Sibylla wenn auch nicht an Jahren, so doch an Klugheit und Reife des Verstandes weit voran scheint, sodaß unser Sibyllchen nur lernen kann. Hinwiederum aber mag auch Eurem ernsten Töchterlein eine junge Freundschaft gut tun und ihr zumal über die ersten Heimwehschmerzen hinweghelfen.«

»Vom Heimweh,« gab Herr Waser nicht ohne Stolz zurück, »wird Euch meine Anna wenig zu spüren geben, weilen sie nicht gewohnt ist, ihre Empfindungen nach außen zu kehren; zudem pflegt sie sich mit solcher Lebhaftigkeit ihrer Arbeit hinzugeben, daß sie wenig Zeit zu unnützen Gedanken finden dürfte. Eher fürchte ich,« fuhr er nach einer kleinen Pause und mit bedenklicher Stirne fort, »daß ihrer Mutter die Trennung zusetzen wird, da sie von hinfälliger Leibesbeschaffenheit und einem zarten, leicht zu erschütternden Gemüte ist.« Er preßte die Handflächen gegeneinander, daß die hageren Finger in den Gelenken krachten, und während die Wirtin sich mit teilnehmenden Worten nach seiner Frau und Familie erkundigte, nahm sein Gesicht mit den gesenkten bläulichen Lidern einen bekümmerten Ausdruck an. »Frau Esther ist mit ihren kaum fünfzehn Jahren wohl zu früh in die Ehe getreten: davon ist ihr ein schier kindliches und scheu ängstliches Wesen geblieben all die Zeiten her, und Anna war der Mutter mit ihrer gesunden und lebhaften Art nicht nur eine Stütz und stetige Erfrischung, sondern auch eine rechte Hilfe, da sich die beiden Jüngsten mit großer Zärtlichkeit der Schwester anschlossen. Nun wird zur Entbehrung noch die vermehrte Sorge um die Kinder kommen.«

»Aber,« wandte Frau Susanna ein, »wie ich höre, habt Ihr doch noch mehrere Kinder daheim?«

»Gewiß,« entgegnete der Amtmann, ohne daß der bekümmerte Ausdruck ganz von seinem Gesichte schwand, »der Herr hat uns mit sechs lebenden Kindern gesegnet, wovon drei schon erwachsen sind; aber die eine Tochter sieht ihrer Hochzeit entgegen und steht nur noch mit einem flüchtigen Fuß und abgewandten Empfindungen im väterlichen Hause, derweil die andere von einer zu lang hinausgezogenen Brautschaft mehr Betrübnis denn Freude erfährt und ihr verschlossenes Wesen ganz in sich gekehrt hat. Der Sohn aber ist Student und hat sein Interesse auch aus dem Vaterhause verlegt, zudem hat er der Mutter durch leidenschaftliche Unterstützung von Annas Plänen wehgetan, da sie den Weg ihrer Tochter von Anfang an nur mit Ängsten und vielerlei Abmahnen betrachtete.«

»Darin,« nahm Frau Werner ernsthaft das Wort, »kann ich Eure Frau wohl verstehen. Wir Mütter möchten nun einmal unsern Kindern gern einen leichten Weg und ein warm Nestchen gönnen; die Bahn aber, auf der nun Euer Töchterlein steht, ist steil und steinig und ihr bestes Ziel eine kühle Höhe, der keinerlei Wärme zuströmt. Weiß Gott, ich möchte meine Sibylla auch nicht aus diesem ungewöhnlichen und harten Weg sehen, und, mit Vergunst, Herr Amtmann, ich wundere mich, daß Ihr's übers Herz bringt, Euer Kind darauf zu stellen.«

Herr Waser straffte seinen Körper: »Ich habe sie nicht darauf gestellt, werte Frau, wenn schon ich sie zuversichtlich und ohne Angst auf dem fremden Wege sehe. Anna hat ihn selber betreten, und, wenn ich mich recht besinne, gehen die Anfänge weit zurück und knüpfen sich vielleicht an ein absonderliches Ereignis aus ihrer frühen Kinderzeit.«

»Das müßt Ihr uns erzählen!« rief Herr Werner rasch dazwischen, und der Amtmann hub zu berichten an mit einer an seinem Wesen auffallenden Mitteilsamkeit, die wohl mehr den aufsteigenden Erinnerungen als dem in trockenen Schlückchen äußerst mäßig genossenen Burgunder zuzuschreiben war.

»Es geschah zur Zeit, da ich noch in Rüti amtete. Anna war damals ein klein Mädchen von was zu sieben Jahren, das für seine kindliche Einbildung und Spielfreude im alten Prämonstratenserkloster, allwo wir wohnten, in Marstall, Kornhaus und Mühle, auf den Schanzen und Rebhügeln ein gar ergiebiges Feld fand. Am liebsten aber weilte sie im Kreuzgang der alten Abtei, oder sie stöberte in der alten Siechenkapelle und im Gräberhaus derer von Toggenburg oder im Estrich der hochgewölbten Kirche nach allerlei altem und merkwürdigen Kram, wobei ihr des Pfarrers Söhnlein getreulich und mit allem kindlichen Eifer beistand. Auf einer solchen Stöberei geschah es, daß die beiden in Chor der Kirche in einer Schürfung der Tünche Farbe bemerkten und nach schonsamem Loslösen des weißen Verputzes ein Stück von einer darunter liegenden Malerei, nämlich einen zarten und lichtgefärbten Engelskopf, entdeckten. Mit Jubel holten sie ihre Väter herbei; während ich mich aber der schönen und – wie mir schien – wertvollen Entdeckung freute, machte der Pfarrer Billeter, der ein strenger und heißblütiger Herr ist, ein gar bedenklich Gesicht. Niemalen, meinte er, dürfe dieser Schatz ans Licht gebracht werden, da der alte katholische Glaube, der bei dem Volke immer noch gleich diesen Schildereien unter einer nur dünnen Tünche ruhe, in Ansehung alter und für wunderkräftig verrühmter Bilder leicht herfürbrechen und böses Unkraut in seinen Garten bringen könnte. Und ob diese Meinung mir gleich zu streng erschien und die schönen Bilder mich reuten, mußte ich doch in Vertretung meiner gestrengen Herren in Zürich dem Pfarrer recht geben und helfen, die verräterische Stelle zuzudecken.«

Hier fuhr Herr Werner, der den Worten des Zürchers mit wachsender Teilnahme, aber nicht ohne Ungeduld gefolgt war, mit einem lauten » Sacrebleu!« in die geordnete Rede und einem heißen Protest gegen jenes Vorgehen im besondern und allen bilderstürmenden Fanatismus und pfarrherrliche Engherzigkeit im allgemeinen.

Erstaunt betrachtete der Amtmann den Aufgebrachten; dann lächelte er fein: »So brauche ich mich denn, lieber Herr, nicht weiter zu wundern, daß mein Töchterchen damalen ob unserem Tun in ein wild und schier rasend Wesen verfiel, da ich nun sehe, wie der bloße Bericht einen weisen und erfahrenen Mann in Eifer zu bringen vermag.« Und als er weiter erzählte, wie Anna von jenem Ereignis nach der ersten großen Verzweiflung über das Verlorene ein verändertes und nachdenksames Wesen gezeigt, woraus sich mit dem Verlangen nach jenen verborgenen Schätzen Neigung und Gelüste zu eigenem Kunstschaffen entwickelt habe, nickte Herr Werner voller Freude:

»Recht, recht, das gefällt mir; hat Herz, das Mädchen, und Mark, und wem die Flamme niemalen über dem Kopf zusammenschlägt und wen nicht etwan ein seltsam nachdenklich Wesen ankommt, der hat nichts von dem feu sacré in sich, solches allein die wahre Kunst gebiert. Könnt's mir glauben, Herr Amtmann, da ist nichts, was mir, wie diese Geschichte, ein so sicher Beweistum gäbe, daß es sich bei Eurer Tochter nicht allein um Laune oder gar Extravagances handelt, wohl aber um inneren Beruf.«

»Ihr sagt es,« erwiderte der Amtmann ein wenig feierlich, »ein innerer Beruf.« Und dann wandte er sich an die Hausfrau: »Nach allem Gesagten, Verehrteste, werdet Ihr mir nun glauben, daß ich mein Kind nicht selbstsüchtig auf einen Weg gestellt, den Ihr einen ungewöhnlichen und harten nennt. Aus eigenem Antrieb, sozusagen naturaliter, ist sie darauf gekommen, wenn schon ich zugebe, daß ich ihr dabei in keiner Weise hinderlich gewesen, sowenig ich ihr je entgegen war, wenn sie ihr Eifer, des Bruders Studien zu teilen, antrieb. Denn es ist meine feste Meinung, daß Wissenschaft und Kunst, weit entfernt, ein Gehirn zu belasten, einen Menschen nicht nur zu Kraft und Bedeutung, sondern auch zur Selbständigkeit, id est: zu innerer Freiheit und Glück zu führen imstande sind, und ich sehe nicht ein, warum das andere Geschlecht unverschuldet solchen Glückes verlustig gehen sollte.«

»Das ist ein gutes Wort!« rief Herr Werner erfreut und leerte wie zur Bekräftigung des Ausspruches sein neu gefülltes Glas. »Wahrlich, Herr Amtmann, Eurer Tochter soll es in meinem Haus an keinerlei Unterweisung und Geistesförderung fehlen, und ich zweifle nicht daran, daß wir Euer fürtrefflich Kind nicht nur zur Selbständigst, sondern auch an die höchste Staffel des Ruhmes bringen werden, wofern sie die Kraft zu jener Einsamkeit findet, ohne die keine Kunst gedeihen und fruchtbar werden kann!«

»Ach was,« versetzte Frau Susanna mit unwilligem Kopfschütteln, »vorerst laßt mir das Kind noch ein wenig an der Wärme, ehe ihr es in eure kalte Einsamkeit hinausschickt. Verhüte Gott, daß ich eure stolzen Plan fördern helfe! Mir liegt einstweilen daran, Euer Töchterlein, Herr Amtmann, recht als mein eigen Kind ins Herz zu schließen und ihm soviel Wärme in Vorrat zu geben, daß es mir später nicht erfriert aus seiner einsamen Höhe. Und daß ihr es nur wißt, ihr gestrengen Herren, eines mag ich euch, mit Verlaub, nimmer glauben, daß ihr mit aller Kunst und Wissenschaft der Welt ein Mädelchen von dem Wege abbringen werdet, der ihm vom Himmel vorbestimmt ist und der nun einmal durch die Dornen und Rosen der Liebe hindurch und nicht daran vorbei führt.«

»So hoffe ich,« entgegnete der Amtmann mit stolzem Lächeln, »daß Ihr, vielgeehrte Frau, an meiner Anna die Ausnahme der Regel finden möget. Im übrigen spreche ich Euch auch in Frau Esthers Namen für die Gutmeinenheit und Liebe, die Ihr unserem Kinde entgegenbringt, den höflichsten Dank aus.« Damit erhob er sich unter förmlicher Verbeugung, da die vorgerückte Stunde zum Ausbruch und zur Einkehr im nahegelegenen Gasthaus mahnte, und verabschiedete sich schier herzlich von den Gastfreunden, die ihm die Aussprache dieses Abends seltsam nahegebracht hatte. Unter mancherlei liebenswürdigen Worten stellte sich Herr Werner dem Gaste zum Geleit, und Frau Susanna leuchtete ihnen durch den dunkeln, vorn sternbesäten Maienhimmel überspannten Hof, der das Hinterhaus vom vorderen trennte, und durch den schmalen Korridor, der in den Laubengang der Junkerngasse mündete. Dort blieb Frau Werner, nachdem die Herren sich verabschiedet hatten, noch einen Augenblick stehen, und während ihr Lichtlein einen flatternden Schein an den Mauern des niedrigen Gewölbes hinaufwarf, horchte sie auf den unebenen Takt der Männerschritte, die mit vielfachem Echo unter den langen Lauben hinhallten. Ihr war, als ob sie an dem ungleichen Schreiten, dem raschen und heftigen des einen und dem harten und trockenen des andern, das Wesen dieser beiden Männer erkannte, die sich so fern in ihrer Art waren und die doch heute abend in einem absonderlichen und unnatürlichen Plane einhellig sich getroffen hatten, und während sie durch das stille Haus zurückkehrte, kamen ihr auch die eigenen Worte wieder zu Sinn und stiegen ihr mit einem weichen und mütterlichen Ton aus der Seele: »Warm will ich ihm geben, dem guten, mißleiteten Kinde!«

*

Während die Alten drunten in gesatzlichen Reden und wohlbedachten Erwägungen über Annas Schicksal zu Rate gegangen, hatte sie selbst in ihrem einsamen Stübchen mit mannigfaltigen bedrängenden Empfindungen, unter Schmerzen und Glück den ersten inhaltsreichen Tag in der Fremde beschlossen. Frau Werners mütterliche Herzlichkeit und das zärtlich überschwengliche Wesen Sibyllas, die sich mit lebhaften Freundschaftsbezeugungen und heißen Küssen von ihr verabschiedet, hatte in Annas wohlbehüteter Seele eine fremde Stimme wachgerufen, die sich nun in aufwühlenden Tönen geltend machte. Die Liebe hatte ein anderes Gesicht in ihrem väterlichen Hause, wo jedes seine wärmsten Gefühle hinter einer verständigen und nüchternen Außenseite wohlverwahrt hielt und die Zärtlichkeit sich nur in wenigen und schüchternen Äußerungen hervorwagte. Sie dachte an den stillen, fast kühlen Abschied von den Ihrigen, an die vernünftigen Worte, mit denen man die wehen Regungen des Herzens verdeckt und sich gegenseitig über die schlimme Stunde hinweggeholfen hatte, und ihr war, als ob man hier mit heißen und begehrlichen Fingern nach ihrem Innersten greifen und mit unvorsichtiger Flamme die mühsam erworbene Kraft ihrer Seele schmelzen wollte. Sie preßte die Lippen zusammen und drückte die Hand fest aufs Herz, um mit aller Gewalt der weichlichen und verführerischen Heimwehstimme zu wehren, als mit den zarten Lüften des Abends vom Garten her Giulios Gesang in ihre Kammer stieg. Mit den weichen schwermütigen Schwingen der Nachtvögel schwebten die Töne zu ihr hin, legten sich an ihre Brust und spannten ein süß und schimmernd Netz um des Kindes frühreife Seele, daß sie sich in bangen Schmerzen wand und dann in einer heißen stürmischen Tränenflut alle Süße und Qual und des Herzens krampfhafte Spannung ausströmte.

Als Anna sich ausgeweint hatte, trat sie mit verschleierten Blicken ans Fenster. Das Lied im Garten war lange verklungen, nur die Aare rauschte ihren kühlen Gesang. Die Nacht war heraufgestiegen und wehte ihr den herben Atem ins brennende Gesicht, daß die Wangen frisch wurden und die Augen klar. Sie schaute in den Himmel, der sich mondlos mit der stillen Pracht seiner Sterne ungeheuer vor ihr wölbte. Ihr wurde auf einmal ganz leicht zumute, als ob die Schmerzen und Freuden und mannigfaltigen Eindrücke der letzten Tage fern von ihr ablägen und ihr die eigene frühere Kindheit wieder nahegetreten wäre. Das war der unendlich gedehnte Himmel, wie er sich mit weiten Horizonten über ihre freie Kinderheimat gespannt hatte und von dem das Fenster in ihrem Zürcherstübchen zwischen hohen Mauern nur ein enges, betrübtes Stücklein erhaschte. Und das waren die lieben alten Sternbilder, die einst der Pfarrer von Rüti in frühen prickelnden Winternächten ihr und dem kleinen Casparli gezeigt hatte: der alte Wagen, verläßlich und unbeirrt, und der schlanke Schwan – wie er den goldenen Hals hinstreckte, so voller sehnender Sucht! – und Bootes mit dem weithin verbreiteten Sternenmantel. Ach, und das leuchtende W der Cassiopeia, das sie einst mit geheimem Stolz aus den Namen des eigenen Geschlechtes gedeutet hatte. Und die einzelnen Sterne, gemeinsam und doch keiner dem andern gleich: Wega mit gelbem Licht und die grünroten Zwillinge, Arktur mit dem blutigen Schein und die weißschimmernde Capella – alle die lieben, stillen und blinkenden Augen, die einst in den Kreuzgang von Rüti hineingeblickt und dem Kinde wunderliche Geschichten erzählt hatten. Und Anna gewahrte mit inniger Freude, daß ihre Sprache die alte geblieben und daß sie sie immer noch verstand.

Froh und leicht legte sie sich zur Ruhe und nahm die Erinnerungen der Kindheit mit in die Träume hinüber. Da stand sie wieder mit Pfarrers Casparli im schwindelnd hohen Schiff der alten Klosterkirche, an deren Wänden die steinernen Hunde der Ritter von Toggenburg strenge Grabwache hielten. Auf einmal sing es im Chor zu leben und zu leuchten an, und zwischen Erdbeer- und Rosenranken stiegen Engel auf und nieder, und der Casparli lachte: »Siehst du, Anneli, so wirst du sie malen!« Doch da war es nicht mehr der Casparli, wohl aber Meister Werner, der ernsthaft die langen Locken schüttelte und mit strengem Finger zur offenen Tür hinauszeigte: »Erst wenn du hoch und klar bist wie die Jungfrau dort, soll dir das Werk gelingen.« Vor der Kirche stund der weiße Berg, und Anna wollte zu ihm hinfliegen; aber der Flug ging tief, und die schweren Füße zogen immer wieder zur Erde. Plötzlich schwand die Last, leicht und schnell wie ein Vogel stieg sie in die Luft; aber wie sie nach dem ersehnten Ziel Ausschau hielt, da lag der weiße Gipfel schon tief, und mit den flatternden Wölkchen trieb sie im grenzenlos zerrinnenden Blau ...

Der junge Tag lag mit bleichem Schein im Fenster und wehte mit halbverschlafenen Vogelstimmen in die Kammer, als Anna hellen Auges und gelösten Herzens erwachte. Erstaunt blickte sie sich in der neuen Umgebung um; aber da grüßte sie der kleine Raum, dem das Erlebnis des ersten Abends schon die Weihe gegeben hatte, mit vertraulichen Augen wieder. Sie erhob sich rasch. Es drängte sie dem neuen Leben entgegen. Ungeduldig kämmte sie ihr langes Haar, dessen feine Strähnen sich unter den flinken Fingern immer wieder verwirrten. Dann holte sie ihr liebstes Kleid hervor, das mit dem mohnroten, nicht allzu langen Fältelrock und dem gestickten Mieder, und ihre Arme empfanden mit einem wohligen Frösteln die etwas steife Kühle der weißen Leinenärmel. Sorglich ordnete sie ihr Stübchen, daß es frisch und duftig aussah wie der Maimorgen draußen, der mit blanken Augen einem neuen Sonnentag entgegenging. Sie stieg die kleine Treppe hinunter, die ihr hochgestelltes Stübchen mit den tieferen Räumen verband, und trat auf die schmale Galerie hinaus, die den kleinen, zu Mitte des Gebäudes gelegenen Hof umschloß. Aus der hölzernen Balustrade der Laube hatte Frau Werner mit allerlei grünen und blühenden Töpfen einen kleinen Garten angelegt, der dem Hof ein liebes und festliches Aussehen gab. Von oben grüßte ein durchsichtiger Himmel herein, und Anna fühlte sich wieder an ihre Kinderheimat erinnert und an den Kreuzgang der alten Abtei zu Rüti, dem gleichermaßen ein Stück Himmel zur Decke diente. Aus dieser Erinnerung aber kam ihr auch hier schnell ein frohes und heimeliges Gefühl.

Es war die Stunde, wo man im Waserschen Hause zum Frühstück ging. Aber hier war alles noch nächtlich still, und auch von der gegenüberliegenden Seite des Hauses, wo die Schlafzimmer der andern lagen, drang kein Laut heran. Auf leisen Füßen ging Anna weiter. Da fand sie sich vor der Türe der Malstube. Sie öffnete behutsam und trat in den großen, vom Morgenlicht weißlich erhellten Raum. Entzückt sog sie die gefangenen Düfte von Öl und Firnis ein. Das war die Luft, in der sie fortan leben und schaffen sollte, in der sie tüchtig und groß zu werden hoffte. Sie reckte den schlanken Körper, und ein stolzes Gefühl durchzog sie. Dann sah sie sich in dem schönraumigen Gemach um, das sie gestern nur flüchtig und mit unfreien Blicken betrachtet hatte.

Das war anders, als was sie bis jetzt gewohnt gewesen. Hier war nicht steife Ordnung, wohl aber schöne Freiheit Meisterin, obschon jeder Gegenstand auf zweckvoll tüchtige Arbeit hinwies, und man fühlte es, ein frischer Geist wohnte hier. Anna mußte unwillkürlich an die nüchterne, schier langweilige Lehrstube ihres früheren Meisters, des Zeugherrn Sulzer von Winterthur, denken, und der Vergleich führte sie weiter und ließ sie ihres ersten Lehrers ängstlich bedenkliches Wesen neben Herrn Werners großzügig weltmännischer Art sehen, und ihr war, als ob ihr eigenes Wesen auf einmal in einen großen und freien Raum gestellt würde, auf daß es sich entwickeln sollte wie ein Baum in der Ebene.

Über den drei Türen des Zimmers waren Sprüche angebracht, die Anna mit Ehrfurcht las, als ob sie ihres neuen Meisters Worte vernähme und ihres neuen Lebens Sinn daraus verstände. Zuversichtlich, ermutigend lautete der erste:

Ob schon die Kunst und Ehr hoch auf ei'm Felsen wohnen, Kann doch ein stäter Fleiß ersteigen ihre Thronen.

Mehr tiefsinnig der andere:

Sälig sind mit Recht zu nennen. Die der Dingen Grund erkennen.

Aber der dritte, mahnend und aufpeitschend wie das hastige Ticken der Uhr:

Lange Kunst und kurzes Leben Ist dem Menschen fürgegeben.

Anna atmete tief aus; aber dann lächelte sie ein wenig: Kurzes Leben? Ja, sie stand doch noch am Anfang, und die vielen, vielen Jahre mit den vielen, vielen Tagen, von denen sie jeden ausnutzen wollte, sollte das nicht langen, damit man etwas Schönes, vielleicht das ganz Große schaffen konnte? Ein heißer Eifer ergriff sie, daß sie am liebsten Pinsel und Farbe zur Hand genommen und sich jetzt gleich ans rüstige Werk gemacht hätte.

Sie trat vor die verschiedenen Staffeleien und betrachtete die Arbeit ihrer Mitschüler. Vor derjenigen des stolzen Lukas Stark blieb sie bewundernd stehen. Die Zeichnung des Laokoonkopfes, so die andern kaum begonnen, war hier fast vollendet in klaren, abgewogenen Linien, die das leidverzerrte Gesicht mit staunenswerter Lebendigkeit wiedergaben. Das war vorzüglich, und ein nur zur Hälfte scherzhaftes Wort Herrn Werners fiel ihr ein, das er bei der Vorstellung gebraucht: »Lukas, auch Lux genannt, dieweil er Licht und Leuchte unserer Schul!«

Unter der Zeichnung war in feinster Kalligraphie ein Vers hingeschrieben. Sie bückte sich, um die kleinen Schriftzüge zu lesen. Aber da öffnete sich die Türe, und Lukas Stark stand mit überraschtem Gesicht vor ihr. Dann zog er die Lippen hoch mit einer verächtlichen Gebärde: »Ah, man fängt schon an, Controll zu üben?«

Verwirrt trat Anna von der Staffelei zurück: »Ich habe versucht, die Aufschrift zu lesen.«

»Bemüht Euch nicht umsonst,« erwiderte Lukas höhnisch; »es ist nämlich Latein!«

Anna blickte ihn verwundert an: »Das habe ich doch gesehen, es ist ein Vers aus dem herrlichen Virgil.«

»Ah, selbst lateinisch kann man!« rief jener betroffen; aber dann flackerte es wieder durch sein Gesicht: »So versteht Ihr vielleicht auch den Satz: Nihil intolerabilius quam foemina docta!« Nichts ist unerträglicher als das gelehrte Frauenzimmer. Anna fuhr auf, mit großen, überraschten Augen, und ein ander schlagfertig » intolerabilior« wollte ihr über die Lippen; aber da traf sie aus des Jünglings unruhigem Gesicht ein solch feindlicher Blick, daß sie verstummte. Haß und Feindschaft! Derlei kannte sie nicht. Sie kam sich vor wie preisgegeben und entwaffnet. Ein heißer Stich in der Herzgegend trieb ihr langsam das Blut in die Wangen; aber sie warf den Kopf stolz zurück und wandte sich scheinbar ruhig dem Ausgang zu. Unter der Türe traf sie mit Frau Werner zusammen.

»Ist's möglich! Das hätt' ich mir doch nimmer gedacht,« rief die Freundliche mit scherzhaftem Entsetzen, »daß der ehrgeizige Frühaufsteher dort in meinem Töchterlein einen Rivalen finden würd'!« Und sie nahm Anna bei beiden Händen und zog sie wieder ins Zimmer zurück, der Helle zu und betrachtete sie angelegentlich.

»Aber nett siehst heute aus!« lachte sie vergnügt. »So gefällst mir, hübsch rot die Wängelein, und die frische junge Tracht! Da sieht man doch auch ordentlich, daß noch ein Kind bist. Nur die Haube, Liebchen, die Haube mag ich nimmer. Laß du die den Ehefrauen und haarlosen Demoisellen! In meinem Hause soll das Jungvolk sein Köpfel noch der lieben Sonne zeigen dürfen!« Damit löste sie ohne weiteres die schwarzen Samtbänder unter Annas rundem Kinn und nahm der zaghaft sich Sträubenden die schwarze, Stirn und Wange knapp umschließende Kappe vom Haupt.

»Ach, das schöne Haar!« rief sie dann überrascht und strich dem Mädchen über die reichlichen Flechten, die enggeschmiegt den wohlgeformten Kopf umwanden. »Das ist eine seltene Farbe, wie so reife Kastanien, die eben aus der Schale springen.« Dann erkundigte sie sich nach dem Traum der ersten Nacht, der gar bedeutungsvoll sein sollte; als aber Anna von dem seltsamen Gesicht erzählte – etwas zaghaft, denn sie tat es nicht gern in Anwesenheit des andern – lachte sie laut und gutmütig: »Ach was, fliegen? Warum nicht gar? Auf seinen Füßen tapfer und froh durchs Leben zu stapfen, das braucht's, aber kein Flügel nicht!« Und sie legte ihre Hand um Annas Schulter und schritt mit ihr zur Türe hinaus, ohne sich weiter um Lukas zu kümmern, der mürrisch in seiner Ecke stand. Und Anna spürte die warme mütterliche Hand, und davon kam ihr ein sicheres Gefühl. Wie beschützt kam sie sich vor und bewahrt, und nur, als sie aus der Treppe Lukas hinter sich herkommen hörte und vermeinte, seine heißen und hassenden Blicke an sich zu fühlen, kam sie noch einmal ein leiser schmerzlicher Schauer an.

Eine halbe Stunde später schritt Herr Werner mit seiner jungen Schülerin unter den dunkeln Laubengängen hindurch und dann querüber nach der Gerechtigkeitsgasse, wo sonnenhalb die altbekannte Herberge »Zur goldenen Krone« stand. Unter der behaglichen Haustüre trat ihnen Herr Waser freundlich grüßend entgegen.

»Meine heutigen Amtsgeschäfte sind allbereits getan,« sagte er mit Genugtuung, indem er dem ihn begleitenden Wirt ein paar umfängliche Briefe übergab, solche dieser unter vielen Bücklingen aufs sorgfältigste zu besorgen versprach. »So kann ich mich also vor meiner Abfahrt noch ein Stündchen an der Schönheit Eurer Kunst und Vaterstadt ergötzen.«

Die beiden Herren nahmen Anna in die Mitte, und während Herr Werner sich in mancherlei Lobreden über des Amtmanns nie versiegenden Fleiß und Schaffensdrang erging, begaben sich die drei laubenauswärts nach der kurzen Kreuzgasse, die sich überraschend auf den freien, vom Rathaus beschlossenen Platz öffnete.

Schier festlich lag der schöne Bau mit dem einladenden Willkomm seiner mächtigen Doppeltreppe da; denn die helle Sonne vergoldete die Zinnen und zog allerlei Zierlichkeiten und den bunten Schmuck hervor an dem farbenreichen Wappenfries unter dem Dach, den figürten Steinen, den klaren Fenstern und der blanken neuen Uhr über dem hohen Portal. Und Taubenschwärme schillerten aus dem steilen Dach und gaben dem kleinen Glockentürmchen ob der Uhr ein lustiges Gefieder. Es war ein stattlicher und fröhlicher Anblick, der die drei rasch Ausschreitenden bewundernd stillestehen ließ, und während Herr Werner mit freundlichem Eifer berichtete, daß die neue Uhr in dem hübschen, nach neuem italienischem Stil gefertigten Gehäuse das rühmliche Werk eines Zürcher Meisters sei, betrachtete der Amtmann nachdenklich den freien Platz und dann wieder die enge Kreuzgasse, durch die sie eben hereingekommen.

»Es ist mir immer wieder eine Überraschung,« nahm er dann bedachtsam das Wort, »wann ich, aus der kleinen Gasse dort auf diesen Platz schreitend, plötzlich den schönen Bau vor mir stehen seh, und des öftern habe ich mich darüber verwundern müssen, wie ihr Berner eure schönsten und köstlichsten Dinge sonderbarlich von der großen Straße abzulegen, ja eigentlich zu verstecken wißt. Kann doch einer, der mitten durch eure Stadt und die weiträumige Hauptgasse gewandert, zwar von trutzigen Türmen und strengen Laubenhallen berichten, ohne jedoch von den feinen und wunderlichen Bauten zu wissen. Wer würde etwan hinter den dunkel sich öffnenden Türen der Junkerngasse jene hellen und frohmütigen Behausungen und die blühenden, den Hängegärten der Semiramis vergleichbaren Anlagen vermuten, deren ich gestern erfreuter Zeuge war! Mir ist der Turm eures Münsters,« fuhr er fort, indem er sich langsam dem Rathaus näherte, »immer recht als ein Wahrzeichen dieser Gesinnung erschienen, da er ohne weithin sichtbare Spitze stumpf und verschlossen wenig genug von der Pracht dieser herrlichsten Kirche verrät, derweil unser schlicht Zürchermünster mit zweien Türmen und dem weithin kündenden Glanz seiner Helme wohlvernehmlich von sich redet.«

Herr Werner nahm den Gedanken mit Lebhaftigkeit auf: »Das mag daran liegen,« ergänzte er, »daß unser Bern, von jeher mehr dem wilden Kriegshandwerk als dem freundlichen Handel und Gewerbe obliegend, sich ein streng und trutzig Aussehen zu geben trachten mußte, weshalb es denn dem Fremdling auch mit ernsten und schier wilden Mienen entgegentritt, während das helle Zürich mit seinem grünen Fluß und lachenden See dem Wanderer sich aufs lieblichste öffnet. Gibt es doch kaum einen froheren und herzlicheren Anblick, als wenn man – wie ich zu unterschiedenen Malen getan – vom breiten See durch das stolze Grendeltor hereinfahrend, plötzlich die köstliche Flucht vornehmer und anmutiger Gebäude erblickt, die, ihre Füße im hellen Fluß badend, ein ander, gemütlicher und ehrbarer Venedig vortäuschen! Während unsere wilde Aare die gedrängte Stadt von der Umwelt abschließt, ist es eben eure freundliche Limmat, die so recht Handel und Gewerb und alles Leben hereinzieht, wie sie schon durch das lustige Klappern der Mühlräder an den niedrigen Stegen deutlich zu erkennen gibt.«

Herr Waser nahm die Worte mit erfreutem Lächeln aus, und während die Herren den angezettelten Gedankenfaden mit vielen treffenden und angenehmen Reden weiterspannen, stiegen sie gemäßigten Schrittes die gedeckte Treppe empor, die das hochgestellte Portal mit dem Platz verband.

Gleich darauf standen sie im Ratssaal vor Herrn Werners großen Gemälden, unter denen der Amtmann besonders die Gerechtigkeit, welche die Missetat bestraft, bewunderte und von wegen ihrer Erfindung, Verstand und Zusammenstellung als ein unnachahmliches Meisterstück lobte. Anna hatte der Anblick des Bildes zunächst mit einem peinlichen, schamhaften Schreck erfüllt, der von den nackten, weißleuchtend in die Luft ragenden Schenkeln der gestürzten Missetat herrührte. Sie begriff zwar bald, daß das Laster schön und gemein geschildert werden müsse; aber es tat ihr doch um des herrlichen Bildes willen und der vier andern weiblichen Gestalten wegen leid, die sich als Weisheit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Dankbarkeit mit rauschenden Gewändern und edeln Gebärden kräftig vom dunkeln Hintergrund abhoben, daß die unedle Gestalt des Vordergrundes ihre Schönheit und Würde störte. Indessen schien gerade diese Figur Herrn Werner besonders lieb zu sein.

»Seht, gestrenger Herr,« wandte er sich mit boshaftem Lächeln an den Amtmann, »ich habe mit Absicht das schönschenklige Weibsbild zur Missetat erwählet. Sie ist nicht allein verlockender und blühender, sondern auch kräftiger als die andern. Gleich wird die weiße Hand das Gold der Bestechung, das ihr noch nicht völlig entglitten, wieder fassen, und die rosigen Füße werden wieder den Boden gewinnen; denn solches ist der Welt Lauf, und der Gerechtigkeit erwächst immer neue Arbeit.«

Verblüfft vernahm der andere diese Erklärung: »Dann hätten Weisheit und Wahrheit ihre Kronen füglich behalten und die Justitium unbekränzt lassen dürfen, bis dem Laster die schnöden Händ auch wirklich gefesselt wären,« sagte er tadelnden Tons. Aber Herr Werner lachte spöttisch: »Weisheit, Wahrheit und Justitia?« und er wies mit bezeichnender Gebärde auf den majestätischen Halbkreis der breitspurigen Ratsherrensessel: »Die da, wann die reden könnten, edler Herr!«

Später führte er die beiden eine Treppe tiefer, in eine kellerartige Halle, allwo große Mauerstücke in langen Reihen ausgestellt sich fanden.

»Wann ich mir mit meiner Gerechtigkeit einen kleinen Hieb erlaubt habe,« sagte Herr Werner, »so möget Ihr hier sehen, wie der große Niklaus Manuel mit seinen Herren und Obern umzuspringen sich vermaß; es sind dies die Reste der Kirchhofmauer, die vom alten Predigerkloster hier herübertransportiert worden sind.«

Mit bröckelnder Oberfläche und verblassenden Farben standen die grimmen, rührenden Bilder des seltsamsten Totentanzes in dem sonnenlosen Raum. Lag ein Modergeruch in der Luft? Anna fröstelte beim Anblick dieser fremden Totengestalten, die nicht Gerippe und nicht Menschen waren, sondern mit ihren zahnlosen Hängekiefern, den fleischig behangenen Knochen und grausigen Haarsträhnen bald halbverwesten Leichen, bald halbtierischen Wesen glichen. Und diese fürchterlichen Lemuren griffen mit scherzenden Händen nach dem Leben rings, dem welken und dem blühenden, und zogen alle ohne Unterschied in ihre wilden und spöttischen Tänze, Kaiser und Papst, Herr und Knecht, die edle Matrone und das junge Mädchen, das mit stillen Augen und gerungenen Händen die wüsten Zärtlichkeiten eines lüsternen Gerippes über sich ergehen ließ. Es war grauenvoll, und dennoch konnte Anna ihre Blicke nicht von diesen wilden und so wehen Phantasien reißen. Sie sah, wie hinter den derben und schwermütigen Gestalten heitere holde Landschaftsbilder sich hinzogen, stille Gefilde mit frisch gepflügter Erde und verblauenden Seen, feste Städtchen mit lustigen Turmspitzen, frech getürmte Berge und muntere Wölklein im stillen Blau – hinter den wirren Szenen des Vergehens das ewige blühende Leben. Und sie entzückte sich an diesen hellen ungebrochenen Farben, die sie an ein fernes Erlebnis und den geheimnisvollen Engelskopf im Chor der Kirche zu Rüti erinnerten.

Es war alles so sonderbar hier, grauenvoll und doch tief und innig, fremd und doch im letzten vertraut.

Stumm, wie unter einem starken Eindruck, schritten sie die Rathaustreppe hinunter auf den Platz. Der Amtmann ergriff zuerst das Wort:

»Es war eine rohe Zeit,« sagte er mit mißbilligendem Kopfschütteln, »die sich vermaß, das ernsteste Ereignis unter dem närrischen und unedeln Bilde wüster Tänze darzustellen.«

»Freilich,« entgegnete Herr Werner, »kann unser gebildetes Jahrhundert, das den Ernst auch des Kleinsten zu erfassen versucht, an derlei Späßen keinen Geschmack mehr finden. Dawider muß gesagt werden, daß es von jeher dem Berner gefiel, die Wahrheit mit lachendem Munde zu sagen und gar das Schmerzhafte mit einem grimmen Witz zu verzieren, derweil der Zürcher das Ernsthafte gern mit ernsthafter Gebärde unterstreicht, wie denn viel Fröhlichkeit und lustbarlich Wesen hinter unseren trutzigen Mauern wohnt, während eure lieblichen Häuser ein gar ernst arbeitend Volk bergen, das auch dem Kleinsten Wichtigkeit zu geben gewohnt ist. Haben doch bei euch sogar die Feste ein eingeteilt und ordnungsgemäßes Gesicht, derweil man hier selbst wichtige Staatsgeschäfte mit einem lustigen Aufzug zu verbinden sich nicht scheut.«

Sie gingen durch die Vordere Gasse, um auf einem Rundgang zu Herrn Werners Wohnung zurückzugelangen, wo der Amtmann sich vor seiner Reise, die ihn zunächst noch in Geschäften ein Stück weiter dem Welschland zuführte, verabschieden wollte. Mit klopfendem Herzen schritt Anna zwischen den beiden Herren durch die kräftig geschwungenen Bogengänge, in die eine warme Frühlingssonne wohlig hereinzündete. Der Abschiedsschmerz lag ihr auf der Brust und kam doch nicht ganz zurecht neben einem lebendigen Gefühl, das sie trieb, alle Erscheinungen rings mit offenen Augen aufzunehmen und in einer geheimen und beglückenden Weise zu deuten. Allenthalben war den Augen köstliche Weide: an den fröhlich bemalten, oft abenteuerlichen Figuren der hellfließenden Brunnen, am alten Zeitglockenturm mit seinen Bildern und unterhaltsamem Uhrwerk; ja selbst sein junger Bruder, der strenge Käfigturm, den man sonst nicht ohne Schrecken betrachten konnte, schien an diesem Sonnenmorgen und unter dem Schmuck eines weißen Taubenflugs fast freundlich und von gutmütiger Behäbigkeit. Vor den Arkaden durch zog sich das muntere Markttreiben und füllte die weite Gasse mit einem bunten, schier festlichen Leben. Da waren die jungen Bäuerinnen, die wohlgeborgen zwischen dem vorspringenden Gestrebe der Laubenfüße hinter ihren Ständen saßen und die so gern in einem Lachen die weißen Zähne zeigten. Und zwischen frischem Grünzeug die mächtigen Butterballen und der weithin duftende Käse mit dem saftig goldenen Anschnitt. An der Sonne dehnten sich schönfellige Karrenhunde, und Kinder wirrten zwischen den Ständen herum, und etwa stöberte ein trockener Bauernwitz ein lautes oder schlecht unterdrücktes Lachen aus, das gar vergnügt durch die Luft wirbelte. Hier und da fuhr ein rascher Windstoß durch ein Seitengäßlein herein und trieb die weißen Blachen der Verkaufsstände lustig in die Höhe und verwirrte die reichen Faltenkleider der jungen Frauen, die neben ihren Mägden mit niedlichen, hochgestellten Füßchen über die breiten Pflastersteine trippelten und mit mehr Anmut denn Ernsthaftigkeit ihre Einkäufe zu besorgen schienen. In zierlicher, mit mancherlei Französisch vermischter Sprache unterhielten sie sich leutselig mit den Marktweibern, während sie ihre schönen Augen auf koketten Wegen nach den jungen Kavalieren ausschickten, die hier und da, mit Degen und Barett aufs schönste ausstaffiert, in kleinen Gruppen durch die Lauben streiften und den Dämchen ihre versteckten und offenen Huldigungen darbrachten.

Anna betrachtete mit erstaunten Augen das ungewohnte Bild. Das war so ganz anders als daheim, wo der Markteinkauf ein wichtiges Geschäft war, das die Hausfrau, von Stand zu Stand mit den mürrischen Bäuerinnen feilschend, erledigte, im schlichten Werktagskleid, mit berechnenden Mienen und kargen Händen. Aber hier schien keiner Eile zu haben und keiner sein Geschäft allzu wichtig zu nehmen. Wie ein vergnügtes Bächlein, das in ziellosen Windungen durch breite Wiesen plätschert – denn es hat Zeit und der Ort ist ihm lieb – so schien hier das Leben zu gehen, während es daheim rasch und kräftig dahinströmte wie ein strammer Bergbach, der durch sein tiefes und gerades Bett geschäftig von einem Mühlrad zum andern eilt. Anna stand außerhalb als eine Fremde, und dennoch war ihr zumute, als ob sie eine Melodie vernähme, die zwar dem Ohre neu, aber dem Herzen vertraut klingt.

Sie hörte ihren Vater mit herben Worten das müßige Herumstehen und unwürdige Treiben der unbeschäftigten Jugend tadeln und vernahm Herrn Werners begütigende Antwort: »Es sind junge Edelleute, die vielleicht morgen schon in fremde Dienste unter ein streng Kommando gehn und die den heutigen Tag noch genießen wollen, wozu die Laubenschwärmerei nicht das übelste Mittel sein mag. Man pflegt wohl seinen Lebensplan anders einzuteilen und das süße Nichtstun wie das holde Frauenzimmer haben einen breiteren Raum darinnen, wann Abschied und Tod ein steter Faktor sind als wenn man sich in bürgerlicher Arbeit gleichsam für bleibend einrichtet und jeden emsigen Tag sich und den Nachkommen zum mehrenden Besitze fügt. Im übrigen, Herr Amtmann, find' ich es nicht uneben, wenn man Arbeit und Spiel dermaßen zu mischen pflegt, daß die Arbeit zum erfreulichen Spiel, anstatt das Spiel selbst zur mürrischen Pflicht werde, dieweil ich mein', Sonnenschein sei jeglicher Pflanze zuträglicher denn ein verhängter und ernsthafter Himmel.«

Mit diesen Worten waren sie an Herrn Werners Haustüre gelangt und traten nach mancherlei Komplimenten in den dunkeln Gang. Anna dachte, daß über ein kleines ihr Vater durch diese nämliche Türe hinausschreiten und sie drinnen zurücklassen werde, allein in der Fremde, und etwas Würgendes wie von aufsteigenden Tränen kam ihr in den Hals; aber da traten sie schon in den hellen Hof, der mit dem blauen Himmelsfleck und der blühenden Balustrade sich freundlich austat. Und da war es schon nicht mehr die Fremde, dazu hatte es ein zu warmes und liebes Gesicht, und was nun begann, das war das Leben, nach dem sie so heftig verlangte, das Leben in einer Arbeit, die ihr liebste Freude sein sollte, nicht bloß ein Spiel, o nein, was viel Köstlicheres noch. Ja, nun kam es, und da hingen die goldenen und grünen Flore, und jeden Tag konnten sie sich heben und etwas von dem Wunderbaren zeigen, das sie ahnungsvoll verbargen.

II Kameraden

An einem der freien Nachmittage, die Herr Werner ab und zu seinen Schülern gewährte, saß Anna allein in ihrer Turmkammer. Die andern waren alle ausgeflogen, zu Bekannten vor der Stadt oder irgendwo in die Wälder. Es war köstlich in der dämmerigen Einsamkeit des Stübchens, in das die halbgeschlossenen Läden gerade soviel Licht einließen, als man benötigte, um schwarze Buchstaben vom weißen Papier unterscheiden zu können. Und köstlich die große Stille rings, in die nur das kühle ferne Lied der Aare hereinklang und das leise Knistern der mächtigen Feder, die Annas Hand in schlanken Zügen über einen großen Papierbogen führte. Hier und da legte sie den Kiel behutsam auf einen Federwisch, um das eben Geschriebene nochmals zu überlesen, und dann wurde es so still, daß man meinte, das Verrieseln der letzten Rosen zu hören, die vom Garten her ihren müden Atem heraussandten, oder das zierliche Huschen der Eidechschen, so die Julisonne auf das Mäuerchen herausgelockt hatte.

Als Anna mit dem umfänglichen Schreiben zu Ende war, entnahm sie einer kleinen Schatulle einen Stoß Briefe, die mit grüner Seidenschnur kreuzweise sorgfältig zusammengebunden waren. Einen Augenblick betrachtete sie zärtlich das kleine Bündel. Es waren die Briefe, die ihr die vierzehn Monate ihrer zurückgelegten Berner Zeit eingetragen hatten. Sie kannte sie alle auswendig. Die meisten davon trugen des Vaters strenge und klare Schriftzüge, seine knappen Berichte, diskreten Ermahnungen und kargen Lobesworte, die jedoch, wie sein spärliches Lächeln, einen ins Innerste hinein erwärmten, und hier und da, meist nur als Nachschrift zu des Vaters Brief, die zarte, etwas unsichere Hand der Mutter, die kleinen, von mehr Angst denn Zuversicht getragenen Wünsche, die doch so liebevoll waren, daß man sich zusammennehmen mußte, um nicht zu weinen darüber aus lauter Liebe und Rührung und einem eigenen zitternden Gefühl, das man nicht erklären konnte und das einen zärtlich machte und still und ein wenig traurig. Einige davon aber trugen Rudolfs, des älteren Bruders, lebhafte und krause Schrift; die waren die umfänglichsten unter allen und vielleicht die liebsten, denn Anna konnte nicht ohne Herzklopfen an sie denken. Darin stand, was sie am meisten zu wissen verlangte, von der Geschwister Leben und Treiben, von ihren Wünschen und Plänen, von des kleinen Heinrich sonderbaren Einfällen, von Lisabeths stillem und sinnreichem Wirken und dann von seinen, des Bruders eigenen Schmerzen und Freuden, den vielerlei inneren Kämpfen, solche dem jungen Theologen nicht erspart blieben, und den kühnen jubelnden Hoffnungen, die er auf seine und Annas Zukunft setzte. Alles das wußte der im Leben nicht Wortreiche in seinen Briefen mit Herzlichkeit und Farbe hinzuschreiben, daß man es sehen und spüren konnte. Auch von Lisabeths seiner Hand waren ein paar Worte da, immer voller Zärtlichkeit und voll selbstlosen Glückes über der älteren Schwester Erfolge. Von Maria nur ein einziger karger Zettel mit einem Neujahrswunsch; der war seltsam steif und nüchtern, und man meinte, etwas Müdes, Ersticktes daraus zu hören.

Anna löste die Schnur und entnahm dem Bündel den obersten, zuletzt eingetroffenen Brief ihres Vaters und las ihn sorgsam durch, um sich zu überzeugen, daß sie keine seiner Fragen unbeantwortet gelassen hatte. Befriedigt legte sie ihn zurück und nahm den eigenen Brief noch einmal vor. Ja, es stimmte, keinen der wichtigen Punkte hatte sie übergangen. Da stand alles, was er zu wissen verlangte: der genaue Bericht über den Fortgang ihrer Arbeit, der Malerei wie der andern Studien, das Verzeichnis der zuletzt gelesenen Bücher, die kleine Abrechnung über die Auslagen des letzten Monats, die lückenlose Reihe von Aufträgen und Grüßen an unterschiedliche Verwandte und Bekannte und über alles hinaus die Nachricht von einem ersten wichtigen Auftrag, den der hochgelehrte Herr Andreas Morell ihr gegeben in der Form von Kopien nach antikischen Münzen und Gemmen, an deren Ausführung sie morgen schon gehen würde. Schließlich noch ein paar Mitteilungen, die dem Vater nicht gleichgültig sein mochten: daß Herr Werner sein über die Maßen schönes Gemälde, Adam und Eva im Paradeis, worin das Gesicht der Eva ihrer Freundin Sibylla nachgebildet sei, dem berühmten Chirurgo Bauernkönig abgetreten habe, daß in der Stadt viel Geschrei und Aufregung von wegen der französischen Flüchtlinge sei, weil man hoffe, etliche Hundert nach Irland oder sonstwohin verschicken zu können, ansonst eine Teurung und Hungersnot prophezeit werde, und daß man unterschiedenen Exulantinnen, die sich durch ausfallende Trachten hervorgetan, auf dem Spaziergang bei der großen Kirche, allwo man sich an schönen Abenden zu ergehen pflege, öffentlich und vor allem Volk den übertriebenen, mit großen Spitzen, Bändern und heraushangenden Fontanges geschmückten Kopfputz abgenommen habe. Wozu Anna die altkluge Bemerkung gefügt, daß es sich wenig schicke, durch übertriebene Kleiderhoffart der Ehrbarkeit Ärgernis zu geben, wenn doch man um des Glaubens willen von einer hohen Obrigkeit unterstützt werde.

Ja, es war alles da, und doch stimmte es nicht ganz. Anna sah den Bruder mit neugierigen Augen den Brief durchforschen und ihn enttäuscht wieder weglegen. Es führte durch dieses wohlerwogene Schreiben kein Weg zum Herzen der Geschwister, vielmehr war er wie eine Mauer, die sich glatt und kalt zwischen sie hineinstellte. Das durfte nicht sein. Anna griff nach einem zweiten Bogen und ließ die Feder weniger bedachtsam als vorher darüber hinspringen. In einem Zuge überschrieb sie die großen Seiten, und als sie zu Ende war und den Brief überlas, da nahm er sich neben dem andern aus wie eine lustige Wildnis neben einem wohlgepflegten Garten, so bunt und fröhlich kollerte es durcheinander von Fragen und Erzählungen und kleinen Neckereien und Herzlichkeiten. Erfreut legte sie die engbeschriebenen Blätter zusammen, vierfach, sodaß sie sich in den andern Brief leicht hineinschieben ließen, und adressierte mit fester Hand: »An meine lieben Geschwister Maria, Rudolf, Elisabeth und Heinrich der Waseren«; denn sie dachte sich, der verheirateten Schwester werde der elterliche Brief wohl genügen. Dann faltete sie auch diesen sorgfältig, gab ihm seine lange und umständliche Adresse und setzte endlich zwei große dunkelblaue Siegel darauf.

Wohlgefällig betrachtete sie den Stempel, der sich scharf dem weichen Wachs einprägte. Sie hatte dieses Wappen immer geliebt wie etwas Persönliches, und kein anderes war ihr je so vielsagend und schön vorgekommen. Man konnte lange darüber nachdenken, und man fand die ganze Welt darin. Vor allem war da der schöne blaue Grund mit dem goldenen Ruder und Stachel; da mußte man an den lieben blauen See daheim denken, wie er weithin in die dunstigen Berge verrinnt, und an das lustige Treiben der Seebuben, wann die Segelschiffe mit gelben und weißen Flügeln dahinschieden und die Nauen mit purpurnen Verdecken mitten in einer güldenen Sonnenbahn unter dem Grendeltor hervortreiben und flinke Ruder kleine glänzende Wellen aufplätschern lassen. Und da waren die vier klaren Sterne so leuchtend im Blau, daß man an eine Sommernacht denken mußte, wann der Himmel tief ist und durchsichtig und die Sterne ganz still und ohne Gefunkel darin stehen und man meint, durch ebensoviele Fensterlein in den ewigen Glanz hineinzublicken. Aber wann sie die beiden Hirschgeweihe betrachtete, die der Besitz der Herrschaft Lufingen dem Waserwappen eingetragen, dann mußte sie immer an den tiefen Wald von Rüti denken, wann sie den Vater aus seinen Forstgängen begleitete, oft bis ins ängstliche Dickicht hinein, wo es nach Moos und toten Blättern roch. Dann geschah es wohl, daß ihre leisen Schritte plötzlich ein Tier aufjagten, sodaß es mit fliegenden Schenkeln durch die Büsche brach und man hier und da einen schlanken Leib oder köstlich Geweih zwischen den Stämmen aufleuchten sah. Das kleine Kleeblatt zu unterst am Wappen endlich erinnerte an das weite herrliche Feld, das sich smaragden über den Talgrund ausbreitete, dort, wo der Mühlbach in die Jona fließt. Im Mai war es immer übersät mit den lustigen Kugelchen seiner weißen und roten Blüten, und der süße Honigduft rief von weither die Hummeln, daß die ganze Luft von vergnügtem Summen erfüllt war. Dort hatte sie auch den Vierklee finden gelernt, den sie seither auf allen Wegen entdeckte, wo nur ein Kleestäudelein hingelangte, und die einen prophezeiten ihr ein glückhaftes Leben davon, die andern aber einen frühen Tod.

Anna strich mit liebkosender Hand über das blaue Siegel. Mit welchen Gefühlen sie es wohl erbrachen daheim? Ob sie sich darüber freuten und ob die Geschwister lachen konnten, so recht von Herzen lachen über ihren bunten Brief? Ach, den andern Freude zu machen und sie zum Lachen zu bringen, das gehörte ja vielleicht zum Schönsten im Leben. Das hatte sie früher nicht so recht gewußt. Das hatte sie erst hier gelernt, in diesem Haus, das so froh an der Sonne stand und das den ganzen Tag von Sibyllas trillernder Stimme erklang, von Frau Werners herzlichem Lachen, von Giulios Neckereien und des Meisters gutgelaunten Witzen, in diesem Haus, wo die Tage von frischer Arbeit und die Abende von fröhlichem Gespräch und Musik erfüllt waren.

Daheim war das so anders. Vielleicht kam es von des Vaters strenger und knapper Art, vielleicht von der Mutter ängstlichem und schwarzseherischem Wesen, vielleicht auch von dem Hause mit den steilen dunkeln Treppen und den großen ernsthaften Stuben, wo die schwarzgrundigen Bildnisse ihrer Voreltern hingen – Zwingli mit dem scharfen überbeißenden Kiefer und seine Tochter, ernst und streng, wie aus Holz geschnitzt, Josias Simmler mit den dringlichen Forscheraugen und dann der Waseren Reihe: Bürgermeister, Professor, Antistes und Amtmann, alle mit den erstaunten, ungleich geschwungenen Augenbrauen und feierlichen Bärten – diese Stuben, die so wenig Sonne tranken und die mit ihrem dunkeln geschnitzten Hausrat fast andächtig gewesen wären, wann nicht ein immerwährender Lärm von der stark belebten engen Gasse her jegliche Stille zerrissen hätte. In Rüti war es doch noch anders gewesen, frohmütiger und heller als in dem Stadthaus, das wohl nicht umsonst den fröstelnden Namen »zum grauen Mann« trug.

Aber vielleicht lag es auch an ihnen selbst, vielleicht hatten sie eine Art, die nicht so recht zum Frohsinn taugte. Sie dachte an Marias seltsames, wie von einer verhaltenen Glut durchströmtes Wesen. An des Bruders tiefsinnige Art, die immer besondern Geheimnissen nachzuhängen schien, an Lisabeths weißes, wie von innen erleuchtetes Antlitz mit den großen blauen, ein wenig bangen Augen der Mutter. Und an Heinrichs zartes Kindergesicht mit den blaudurchäderten Schläfen, dem ernsthaften, dunkel unterstrichenen Blick und dem blassen rötlichen Haar, das sich anfühlte wie Seide und nach reifem Korn duftete. Hatten sie nicht alle etwas an sich von jenen zartfarbigen Nachtfaltern mit den weichen Flügeln und großen Augen, solche die Sonne scheuten und sich nur abends hervorwagten, wann die Linden über der Limmat der Nacht entgegendufteten? Nur Esther war anders; die hatte ein kräftiges und taghelles Wesen und hatte sich damit frühzeitig in eine glückliche Ehe gesetzt, wo sie der Sonne nicht ermangelte.

Von diesem Wesen hatte auch sie ein Teil; das fühlte sie erst, seitdem sie in diesem jungen und fröhlichen Hause lebte. Oh, sie wollte es groß ziehen und soviel Sonne in sich aufsaugen, daß sie dereinst auch ihren Geschwistern das Leben fröhlicher und heller machen konnte!

Anna sprang auf, reckte die Arme, daß die feinen Gelenke krachten, und stieß den Fensterladen zurück, daß ihr ein breiter Lichtstrahl in die geblendeten Augen fiel, und ein paar Fliegen, die bisher verschlafen an der Wand gehangen, durchirrten mit überraschtem Gesumm die plötzlich erhellte Kammer.

Die Tür flog auf. Im festlich hellblauen Kleide mit frischen Wangen und glücklichen Augen stand Sibylla im Zimmer. Hinter ihr tönte Giulios Lachen und erschien Christophs heißes, von der Sonne gerötetes Gesicht.

»Anna, Nonne, Jungfer Tugendreich,« rief Sibylla übermütig, »was denkst, wann wir dich zu einer weltlichen Lust versuchen wollen? Schnell, schnell, komm herunter und nimm dein Hütchen mit; gleich nach dem Essen gehen wir all auf den Spaziergang zur Plattform hinüber. Und mit mußt du!«

»Gewiß, ich komme!« antwortete Anna fröhlich. Nach der herrlichen Stille dieses Nachmittags freute sie sich auf den bunten Spaziergang. Sie ordnete rasch ihre Kleider, nahm ihren Hut und folgte den andern, die laut die Treppen hinabstoben gleich ausgelassenen Kindern.

*

»Nehmt Euch in acht, Anna, Anna Patricia Tigurina, daß die heilige Obrigkeit nicht Euern Kopfputz wegen ärgerniserregender Exagerationen confisciret!« Giulio rief diese Worte mit halb unterdrücktem Lachen, während er neben Sibylla und Christoph hinter Herrn Werner und Anna die Junkerngasse hinausschritt.

»Es würde mir leid tun um das kostbare Stück,« erwiderte Anna mit verstelltem Ernst. Sie wußte, wie sehr ihr schwarzes Zürcher Hütchen seiner Einfachheit wegen den verwöhnten Italiener zum Spott reizte.

»Es steht Euch übrigens fürtrefflich, das steife Monstrümchen,« fuhr er fort, »und gibt Eurem Haar und Euern Augen einen solchen Vorsprung, daß ich fürchte, die Hochedeln werden sich am Ende an solchen als an der gefährlichsten Waffe des dulce animal venenosum vergreifen.«

»Das ist abscheulich!« rief Anna und pflanzte sich mit scherzhaftem Zorn vor Giulio hin. »Das dulce sowohl wie das venenosum!«

»So laßt mir,« erwiderte dieser lachend, »das dulce und gebt das andere den Obrigkeitlichen!« Und indem er ein feierliches Gesicht schnitt und die weißen Hände gleich einer beengenden Ratsherrnkrause um den schlanken Hals legte, deklamierte er mit ehrfurchtsdumpfer Stimme und fließendem Accelerando: »Den hochgeachten, wohledlen, gestrengen, frommen, festen, fürsichtigen, wysen, gnedigen, hochehrenden –« Aber Herr Werner schnitt ihm mit einem »Schindluder!« sotto voce das Wort ab und mit einem raschen Blick nach der andern Laube hinüber, durch die eben zwei Ratsherren in lebhaftem Gespräch schritten. Giulio verstummte, und die kleine Gesellschaft schritt in der alten Ordnung und mit einem versteckten Lachen, das auch Herrn Werner vernehmlich um die Nasenflügel tanzte, der Münsterterrasse zu, von wo ihnen ein großes und lebhaftes Summen menschlicher Stimmen entgegendrang.

Der westliche Himmel rüstete sich eben mit scharf gelbem Glanze zum Sonnenuntergang, und ein lockeres Abendwindchen brachte von den sechzigjährigen Linden, die in zwei stattlichen Reihen die Plattform durchzogen, einen süßen und träumerischen Duft mit sich.

»Ah,« rief Herr Werner erfreut beim Anblick der festlichen Menge, die zwischen den Baumreihen hin- und herwogte, »da sieht man ja wieder einmal tout Berne zusammen!« Und er grüßte mit Kavaliersallüren nach links und rechts; dann aber eilte er fröhlichen Schrittes auf einen langen Herrn zu, der ihm freundschaftlich die Hände entgegenstreckte.

»Voyons, voyons« rief dieser entzückt, »die ganze liebe Malergilde!« Er drückte Werner die Hand, verbeugte sich mit einem Anflug von Galanterie, die den schlanken Vierziger wohl kleidete, vor Anna und nickte dann vertraulich zu den drei andern hinüber, eine intimere Begrüßung seinem jungen Sohne überlassend, der sich auch alsobald linkisch und strahlend an Sibyllas Seite drängte. Dieser hatte des Vaters lange Statur, aber dabei etwas Weiches und Weißliches, wie so ein Wurm, der aus einer Birne kommt. Während nun das Jungvolk, von allen Seiten angesprochen, nach dem Mittelgang zwischen den Linden strebte, wo vornehmlich die elegante Jugend sich vergnügte, wurde Anna von den beiden Herren in den ersten Weg neben dem Münster mitgenommen, allwo zumeist die ernsten und vornehmen Leute, Geistliche und Staatspersonen, sich mit viel Würde ergingen.

Etwas verwirrt sah sie sich in der ungewohnten Umgebung um. Sie kam sich wie verpflanzt vor zwischen diesen dunkeln behäbigen Gestalten mit den mächtigen Mühlsteinkragen, die bisweilen die Köpfe vom Körper loszutrennen und wie aus einem großen Teller darzubieten schienen, zwischen den blitzenden Degen und würdevollen Gebärden rings, und ihre leichten Füße fügten sich ungern dem strengen Takt der feierlich gehobenen Schnallenschuhe, und wann hier und da vom Spaziergang der Jungen ein fröhliches Lachen herübersickerte, gab es ihr zuerst allemal einen kleinen Stich, und ihre Augen gingen unwillkürlich dorthin, wo die Linden ihren stärksten Duft zusammendrängten und wo die Abendsonne die hellsten Farben aufleuchten ließ. Dann aber nahmen die lebhaften Gespräche der beiden Herren ihre Gedanken gewaltsam mit sich fort, und besonders war es ihr Begleiter zur Linken, Andreas Morell, der ihre Vorstellungen aufs köstlichste zu leiten wußte. Er erzählte von seinen antiken Münzschätzen, die er anderntags Anna zu eröffnen gedachte, und dabei kam ein solcher Zauber in seine Worte und ein solcher Glanz verbreitete sich auf dem frischen Gesicht, das der gestreckte Hals aus dem reichgestickten Kragen wie einen langstieligen Sommerapfel heraushob, daß man sich unter griechischen Münzen etwas ganz Wundervolles und unvergleichlich Herrliches vorstellen mußte.

Anna lauschte mit gehaltenem Atem, und wie immer, wann sie eine neue Pforte ihrer Erkenntnis sich öffnen sah, bemächtigte sich ihrer eine heiße herzklopfende Freude. Sie war deshalb fast verstimmt, als Giulio unter dem Vorwand, die Jugend verlange ihr Recht und man könne es nicht länger mitansehen, wie das feine Meislein im Rabennest gefangen gehalten werde, sie mit der lachenden Erlaubnis der beiden Herren zu den andern hinüberholte.

Eine bunte Welle nahm sie dort auf und deckte ihre lebhaften Phantasien mit leichten und prickelnden Bildern zu, die ihr immer wieder, wie oft sie sie auch gesehen, neu und fremdartig erschienen. Das waren nicht die sittigen und ein wenig steifvergnügten Spaziergänge, wie man sie daheim in Zürich an solchen warmen Sommerabenden unter dem breiten Blätterdach des Lindenhofes oder in dem lieblichen Winkel zwischen Limmat und Sihl pflegte, wo das Rauschen der beiden ungleichen Flüsse einen so angenehmen kühlen Ton gab. Nein, es war, als ob hier etwas Besonderes in der Luft läge, etwas Schimmerndes und Schillerndes, etwas Verborgenes und Verführerisches, daß man unwillkürlich zu den blühenden Ästen hinaufblickte, ob dort nicht die kleinen Liebeskinder, die Herr Werner so gern auf seinen Gemälden anbrachte, mit Pfeil und Bogen ein gefährliches Spiel trieben. Kam es von den duftenden Gewändern des jungen Frauenzimmers her, das es so gut verstand, die strengsten Kleidermandate mit der vorteilhaftesten Tracht zu verbinden? Oder von den leuchtenden Augen, die so kokette Blicke zu werfen wußten, oder von den anmutigen, französisch verwirkten Reden, die so lustig über die roten Lippen plätscherten, oder waren die Kavaliere schuld daran, die wie Schmetterlinge über einem Blumenbeet durch den farbigen Flor flatterten und es darauf anlegten, den Dämchen mit artigen Reden das Blut in die leicht gepuderten Wangen zu treiben?

Schweigsam ging Anna neben Giulio durch den bunten Schwarm, von einigen begrüßt, von vielen neugierig und unter vielsagendem Geflüster betrachtet. Am oberen Ende der Allee gewahrte sie Sibylla und Christoph, die sich mitten in einem Kreis junger Leute an einem modischen Ballspiele beteiligten, das jüngst einer der Kavaliere von Paris mitgebracht hatte. Eben flog der Ball Sibylla zu, die hochaufgerichtet dastand und ungeachtet des jungen, lebhaft um sie bemühten Morell mit suchenden Augen um sich blickte. Da entdeckte sie die beiden Herankommenden, und mit leuchtendem Blick warf sie Giulio den Ball zu: »Wie kommt Amor geflogen? Clef d'u!«

»Ungerufen!« entgegnete dieser mit ernstem Gesicht, während die geschmeidige Hand den Ball in den Kreis zurückschickte.

Der junge Morell fing ihn auf und warf ihn mit demütigem und vielsagendem Blick seiner Dame zu: »Unerkannt!« Aber der Ball verfehlte sein Ziel. Sibylla, die mit großen enttäuschten Augen nach Giulio hinüber starrte, hatte weder die Worte ihres Partners noch den Ball wahrgenommen, der nun herrenlos über den Boden hinrollte. Ein allgemeines Gelächter erhob sich über Sibyllas Ungeschicklichkeit, und unter mancherlei Neckerei bestürmte man sie um ein Pfand.

Giulio benutzte die kleine Verwirrung, um mit Anna wiederum im Gedränge unterzutauchen. »Kommt, Sorellina, ich mag nicht mitmachen da.«

Anna sah ihn prüfend an: »Ist Euch nicht wohl, Giulio? Sonst seid Ihr stets einer der ersten bei solchem Tun und einer der lebhaftesten!«

»Sonst – vielleicht – aber heute nicht.« Er sah düster vor sich hin, und zwei scharfe Linien zeichneten sich zwischen die Brauen: »Heute ist das alles so dumm, so unsinnig! Nur mit Euch mag ich sein, Anna. Ach, wann ich meine Sorellina nicht hätte, meine kluge, stille Sorellina! Ihr seid doch wohl das Beste an allem – vielleicht das einzige Gute.« Mit einer raschen Bewegung ergriff er Annas Hand und zog die ruhig Folgende aus dem Mittelgang nach dem vordersten Spazierweg zwischen den Linden und der festen Mauer am Rande der Plattform. Hier war das Gedränge kleiner, aber die Bewegung ungeordneter. Kleine Gruppen von Männern, die in leisen und hitzigen Reden sich ergingen, standen herum, und zwischen ihnen bewegte sich allerlei einfaches Volk, auch die Kammerjungfern und Diener der schönen Welt von drüben, die hier dem Spiel ihrer Herrschaften ein gröberes und unverblümtes Echo gaben.

Anna sah Giulio ernsthaft in die Augen: »Ihr habt keinen Brief von Donna Ersilia erhalten, nicht wahr?«

»Seit zwei Monden nicht,« erwiderte er gepreßt, »und auch von dem Freunde weiß ich nichts mehr, auch Giacomino ist wie verschollen.«

»Und deshalb muß nun die ganze Welt schlecht sein? Und der armen Sibylle werft Ihr so unfreundliche Blicke und unhöfliche Worte zu, bloß weil eine Epistel ihren Weg nicht gefunden und irgendwo verloren gegangen ist aus der weiten Reis'?«

»Verloren? Wer's glaubt! Und ich will auch nicht daran glauben!« rief Giulio voll Ungestüm, » Dio santo, zu denken, daß irgendwo auf der Welt solch ein herrlicher Brief liegt, von Donna Ersilias weißen Händen geschrieben, mit Donna Ersilias süßen und holden Worten. Ach, und Giulio kann ihn nicht finden, und ein anderer liest ihn und faßt die Küsse auf, die von Donna Ersilias roten Lippen zu Giulio hinüberwandern sollten... O Sorellina, zum Wahnsinnigwerden wäre das! Nein, nein, der Brief ist nicht verloren, darf nicht verloren sein, hört Ihr, Sorellina, er darf nicht verloren sein!«

»Dann bloß verspätet,« gab Anna lächelnd zurück. »Der Bote hat ein Bein gebrochen irgendwo auf dem unwirtlichen Wege, und nun müssen Donna Ersilias Küsse so lange liegen bleiben, bis die alten Knochen zusammengewachsen sind. Natürlich, so ist's gegangen; aber nun ist er doch wieder gesund, und morgen wird er kommen, ich spür' es, gewiß, morgen werdet Ihr einen Brief von Donna Ersilias weißen Händen halten, aber die Küsse – ich fürchte, die werden derweil um ein kleines trocken geworden sein.«

Nun lachte auch Giulio. »Morgen, glaubt Ihr wirklich? Ach, dann will auch ich es glauben. Ihr habt ja immer recht, und oft schon habt Ihr Dinge vorausgewußt; so was gibt es doch bei feinen jungen Heiligen, wie Ihr seid, nicht wahr? Ja, nun glaube ich es ganz gewiß, morgen!« Voll plötzlichen Übermuts warf er sich über die breite Mauer zurück, sodaß seine Locken ins Leere hingen.

»Wenn Ihr das tut, Giulio, dann lauf' ich gleich zu den andern hinüber,« rief Anna, der bei dem Anblick schwindlig wurde.

Rasch sprang der andere auf: »Hat die Sorellina ein wenig Angst gehabt um mich?«

»Das war nicht das Benehmen eines Cavaliers,« antwortete Anna zürnend, »das war einfach kindisch; schaut einmal da hinunter!«

Nun beugten sich beide über die gewaltige Mauer, die sich jäh und grauenhaft in die Tiefe verlor, und blickten nach dem Stadtteil hinunter, der dort spielzeughaft winzig mit vielgestaltigen Dächern und abenteuerlichen Gäßchen zwischen der breiten Aare und dem unermeßlichen Gestrebe der Riesenmauer eingeklemmt lag.

»Nun, wenn auch,« entgegnete Giulio leichtfertig und mit einem heimlichen Blick nach Anna, »was wär weiter dabei, wenn ich da hinuntergeflogen?«

»O doch,« gab diese mit absichtlicher Trockenheit zurück; denn sie fühlte, daß Giulio ein liebes Wort von ihr wollte, und darauf ließ sie sich nicht ein, »o doch; denn wer weiß, was Ihr mit Eures Körpers Last dort unten angerichtet hättet, am End gar so ein armes Kätzlein erschlagen, das eben unschuldig aus einem der Dächer seinen Abendspaziergang machte!«

Mit einer entschiedenen Bewegung, die dem Gespräch ein Ende machte, richtete sie sich auf und blickte nach den Alpen hinüber. Wie das heute wieder strahlte und leuchtete, beinahe wie an jenem ersten Abend, wo ihr das Herz fast weh getan ob der ungekannten Pracht. Nun war ihr das alles schon vertraut und doch immer noch so neu. An das ganz Schöne gewöhnte man sich nie, es war immer wieder ein neues Wunder.

So etwas sagte sie Giulio, der langsam ihren Blicken gefolgt war. Aber er schüttelte leise den Kopf, und nun war auch wieder das Traurige in seinen Augen. »Ich weiß eine ganz andere Schönheit, Sorellina. Ach, unsere Berge daheim, so weich in ihren Linien wie ein wehmütiges Lied, das in den Abend verklingt, am blauen Himmel hingehaucht. Und dann wieder stolz, so stolz mit den weißen Marmorstädten auf den feingeschwungenen Höhen und so vornehm und so sehnsüchtig. Immer muß der Blick mit ihnen wandern, weit, weit ab und nirgends ein Ziel. Aber hier diese rauhen Wände, starr und schroff und kalt, Mauern, nichts als Mauern sind es, die sich hinstellen und die armen Blicke abgraben: Wo ist nun dein Italien? Ja, als ich sie zum ersten Mal sah, da habe ich auch anders darüber gedacht. In meiner Heimat, in Bologna, von dem Berg aus, der das Bild der Jungfrau von des heiligen Lukas Hand trägt, hab' ich sie zuerst geschaut. Es war ein wundervoller Tag, sodaß man ganz Lombardien überblicken konnte. Zu Füßen mein Bologna, rosenrot mit den unwahrscheinlichen Türmen, und dann weithin die Ebene, ah, so groß, so unendlich wie die Welt, und ganz zu äußerst, am Himmelsrand etwas Hohes, Schimmerndes, Unfaßliches, als ob der Thron Gottes dort mit güldenen Füßen die Erde berührte. Sie sagten mir, es seien die Alpen. Und hab' ich mir was anderes vorgestellt denn diese schroffen kalten Wände, die einem so schmerzlich die Welt verriegeln.«

Giulio sprach Italienisch, wie immer, wenn er mit Anna allein war und wenn er von seiner Heimat redete. Erst mit raschen und leidenschaftlichen Worten, die dann immer weicher und wehmütiger wurden und zuletzt schmerzlich verklangen wie ein schwermütiges Lied. Es waren mehr Selbstgespräche, die keine Antworten und keine Zustimmung erwarteten. Anna wußte es. Ganz still lehnte sie sich an den kühlen Pfeiler des kleinen Eckpavillons, der aus dieser Seite die Mauer flankierte, und hörte ihn: zu. Sie liebte es so sehr, dieser sonderbaren Musik zu lauschen, die ihr die herrlichsten Bilder herausführte. Italien war ihr schon lange kein bloßes Traumland mehr; fast wie eine zweite Heimat erschien es ihr, die sie irgendwann, in ganz fernen Feiten geschaut und geliebt hatte. So oft hatte Giulio davon erzählt, und so lebendig, und wie sie sich darnach sehnte, wie man sich nur nach einer so früh gekannten und geliebten Heimat sehnen konnte. Aber heute war noch etwas Besonderes in seiner Stimme, so etwas Verhaltenes, ein seltsames Zittern. Wie da alle Farben einen Schmelz bekämest und alle Fernen einen Duft! Es war, als ob Giulios Reden einen Zauberkreis um sie zögen. Alles Nahe wurde fern gerückt. Die Pracht der roten Berge und das frohe Treiben um sie, wo war es hin? Und die fernen Bilder kamen heran, greifbar und wundersam ergreifend, und nur der Duft der Linden mischte sich damit süß und bedrängend ...

»Wer könnte glücklich sein, der jene Stätten nicht gesehen, und wer, der sie nicht mehr sehen kann? Und was Schönheit ist, wer wüßte es? Die kristallenen Berge in der klaren, klaren Luft und Marmorgötter unter dunkeln Lorbeerhecken, und die tönenden Nächte, wenn tausend rubinrote Rosen blühen und der Duft der Orangen schwer über die feuchte Erde zieht und die Oliven im Mondschein zittern, so weiß – so weiß ... Und dann die Städte: die rosengoldene Stadt der Madonna, stolz und weh in ihrer abendlichen Schönheit, und das blühende Florenz, so hell und glänzend mit dem Duft des paradiesischen Flors. Und das tote Ravenna, selbst wie der Tod dort unten – still, wehmütig und verschämt und doch über alles Sagen schön. Ach, und die gleißende, unergründlich süße Königin des Meeres mit ihrem Zauberkleid aus Gold und Spitzen und der dunkeln, feuchten, lockenden Stimme – und all die andern – so hoch – so stolz und schön – schön ...«

Anna lauschte mit gehaltenem Atem, und Giulio erzählte weiter von der Kunst: »Herr Werner, gewiß, er ist ein tüchtiger Mann und ehrenwerter Künstler. Aber so das ganz Große, das Bezaubernde? Ach, Sorellina, Miniaturen, Silberpinselchen und Elfenbeintäfelchen, wo wollen da die großen Gedanken Platz haben und die Gefühle, für die eine Welt zu eng? Den Tizian solltet Ihr sehen und seine Glut und Kraft, und Michelangelos wütende Herrlichkeit ... Ach, Sorellina, Miniaturen, so brav, so glatt, so aufgeputzt! Und den großen Correggio! Was sind Herrn Werners Copien mit den schweren und dünnen Farben, die er aus Frankfurt und Paris mitgebracht? Den Correggio solltet Ihr sehen. Seine Danae, grün und golden wie ein Marmorberg im letzten Abendlicht, kühl und doch voll Glut. Euer Bildnis möchte ich wohl in solche Töne bringen. Wann es mir nur gelingt! Ihr habt so etwas Goldenes an Euch, aber nicht Tizians heißes schwüles Gold, sondern des Correggio kühle Glut. So möchte ich Euch malen, so wie jetzt, wo der erste zage Mond über Euer schwer Goldhaar geht. Ach, Sorellina, wie jetzt, mit der Glut in den dunkeln Augen, und der Mund schmal und kühl und doch rot – so rot! Schöne, kalte, glühende Sorellina ...«

Anna raffte sich aus, wie erwacht aus einem Traum. Nun sprach er von ihr. Nun war er nicht mehr der Zauberer mit dem güldenen Wunderstab; nun war er wieder der Kavalier, nicht besser als die dort drüben. Immer die gleiche kleine Enttäuschung am Schluß. Sie blickte um sich. Wie hatte sich alles verändert! Die Reihen der Menschen waren wohl dünner geworden, aber die tiefen Schatten ballten alles zu dunkeln Massen zusammen. Nur wo der Mond hinzündete, noch etwas zart, sah man immer noch dasselbe bewegte Leben, aber blasser, geheimer und flüsternder. Und die Lindenblüten ganz hell und so duftend ...

Aus dem Pavillon neben Anna wurde Geflüster vernehmbar im merkwürdigen Zweitakt einer schier ängstlichen Frauenstimme und eines gutmütigen Brummbasses. Plötzlich wurde es still – und dann ein kleiner Schrei, ganz hoch und halb unterdrückt – und dann ein doppelstimmiges Gekicher ...

Anna fuhr zusammen. »Wir müssen heim, Giulio,« sagte sie streng und unter einem Schauder.

Aber der andere lachte: »So klug ist die Sorellina, so reif, weit über alle andern hinaus und in manchem noch solch ein Kind! Glaubt Ihr, daß dies hier viel verschieden von dem, was die Fräulein dort drüben tun? Bälle werfen sie sich zu und meinen doch etwas anderes. Die hier sind doch ehrlich.«

»Pfui, Giulio, wann Ihr so redet, dann mögt Ihr mich nicht länger Sorellina nennen. Wie könnt Ihr, wann Ihr wißt, daß Sibylla dabei?«

Er lächelte ein wenig spöttisch, daß die weißen Zähne unangenehm zwischen den Lippen hervorglänzten: »Sibylla – eine kleine rosenrote Nelke, die ihren Duft allzu stark und allzu schnell hergibt!«

Anna ballte die schmalen Hände vor Entrüstung; aber sie mußte ihre Verteidigung unterdrücken, denn eben traten aus dem Lindenschatten Sibylla und Christoph zu ihnen herüber.

»Wir haben euch lange gesucht,« sagte das Mädchen hastig und mit einem merkwürdigen Flackern in den großen Augen. »Drüben haben sie uns nicht weggelassen, und nun wart ihr nicht zu finden!«

»Wir wollten eben heimgehen,« entgegnete Anna, die bei Sibyllas Anblick im Gedanken an Giulios unfreundliche Worte leicht errötet war.

»O ja, natürlich, jetzt, wo wir kommen; wir stören euch wohl!«

Betroffen blickte Anna zu ihrer Freundin auf. Was war das für ein seltsamer Ton in Sibyllas sonst so sanfter Stimme? Bitter, fast feindlich. »Nein, Sibylla,« antwortete sie ernst, »ich finde bloß, daß die Stunde vorbei, wo anständige Jungfrauen sich auf diesem Platze ergehen können.«

»Ach, du bist so wohlanständig,« seufzte diese, und während sie mit Anna hinter den voranschreitenden Jünglingen nachging, tönte es fast wie ein unterdrücktes Weinen, als sie leise fortfuhr: »Wann du wüßtest, wie ich euch beneidet habe! Drüben kam ich nicht weg von dem dummen Spiel und den dummen Menschen, und dann zu wissen, daß ihr nun irgendwo zusammen wäret und mit euerm Italienisch eine Mauer um euch zogt, daß ihr ganz allein wart, ganz allein ...« Nun war es wirklich, als ob sie leise vor sich hin weinte. Anna schwieg. Das war ihr alles so peinlich, so unverständlich.

Am Ausgang der Plattform wurden sie durch ein Gedränge aufgehalten. Allerlei Volk hatte sich da um ein zankendes Pärchen versammelt. Es war viel Gekreisch und Gelächter, und nur mit Mühe konnten sich die jungen Leute durch die rasch anwachsende Menge hindurcharbeiten. Aber der Lärm drang ihnen bis zur Haustüre nach und die derben Spässe der Umstehenden.

»Oh, wie gemein das war, da gehe ich nie mehr hin, niemals mehr!« sagte Anna entrüstet, als sie die Haustüre hinter sich schlossen.

Auf dem Flur begegnete ihnen Lukas Stark. Er kam vom Garten her und trug einen großen Strauß weißer Rapunzeln in der Hand, die im fahlen Licht mit ihren gezackten und fasrigen Köpfchen merkwürdig aussahen, wie kleine gespenstige Waldgeister. Und wie sie nach dem Wald rochen, so frisch, so herb! »Ich war im Dählhölzli,« sagte Stark kurz; »Thüring hat mich noch über die Aare gesetzt. Ja,« fügte er spöttisch hinzu, »die Plattformschwärmer können sich das wohl nicht denken, wie es aussieht im Wald, wann die Nacht kommt.« Er schwenkte seinen Strauß wie ein Siegesbanner und ging dann rasch über den Hof nach seinem Zimmer.

Plattformschwärmer. Das Wort hatte Anna getroffen. Hatte er nicht recht, der Spötter? Oh, sie mißgönnte ihm den kühlen reinen Wald; ihr war, als ob er jetzt nicht nur glücklicher wäre als sie, sondern auch besser. Das war ein unerträgliches Gefühl.

Sibylla faßte sie bei der Hand: »Ich komme noch ein wenig zu dir in deine Kammer, Anna, ich muß noch mit dir sein heut abend.«

Als die Mädchen von der dunkeln Treppe her das Turmzimmer betraten, drängte sich ihnen eine große Helle entgegen. Als weiße Lache lag der Mondschein auf dem frischgescheuerten Boden, und die runden Scheibchen des offenen Fensters schimmerten wie große milchige Edelsteine. Mondschein lag über dem braunen Tisch und malte auf Annas weiße Bettdecke den Schatten einer Stabellenlehne mit großem ausgeschnittenem Herz. Der Abendwind hatte von der nahen Plattform den starken Lindenduft herübergeweht, sodaß er nun mit fast bedrückender Süße den kleinen Raum erfüllte.

Sibylla warf sich auf die hölzerne Bank an der Wand: »Ach, Anna, Lindenblust auch hier! Es sollte nicht so riechen dürfen, so heiß und sündhaft, daß man das Fieber davon bekommt. Fühlst du das nicht auch?«

Anna schüttelte den Kopf. Sie saß auf der Fensterbrüstung und blickte nach dem Dählhölzli hinüber, dessen freie Wipfel ein kleiner Wind leise hin- und herschaukelte. »Ich verstehe dich nicht, Sibylla. Lindengeruch, das scheint mir etwas so Kühles und Liebes, wie ein frischer Trank, den der Sommer in den Staub und die Glut des Tages schüttet. Da muß ich immer an Rüti denken, wann wir abends heimkamen vom Feld mit den großen, großen Wagen voll gelber Garben. Wir hatten Kornblumenkränze im Haar und die jungen Äpfel in der Tasche, die ganz frühen, weißen. Dann setzten wir uns vor dem Schlafengehen noch unter die große Linde und sangen den Abendpsalm mit der Mutter. Und von der Klosterkirche läutete das letzte Glöcklein, das mit dem ganz dünnen Ton, wie ein Armseelenstimmchen so zart. Ja, und dann rochen die Linden so stark, und die alte Sarah meinte: »Nehmt's in acht, Kinder, das ist ein gesunder Geruch. Füllt die Nasen noch recht vor dem Schlafengehen, dann habt ihr einen schönen Traum.« Und wir zogen ihn tief ein und träumten nachher die allerschönsten Dinge. Ach nein, Sibylla, so ein frischer, lieber, fast möcht' ich sagen ein frommer Duft ist das!«

»Und der Mondschein,« forschte jene weiter, »findest du auch den fromm und erfrischend?«

»Gewiß,« erwiderte Anna ruhig. »Wann wir den ganzen Tag auf dem Feld gewesen und das Haar heiß war von der Sonne und die Augen brannten von all dem Glast und wann dann der rote Abend vorüber war und plötzlich hinter dem Berg das rundweiß Gesicht herfürkam mit den großen Augen, oh, wie kühl es dann wurde und wie still! Und man fühlte, daß der Mond zu einem gehört und daß er alles sieht, und man wurde so andächtig wie in der Kirche. Oft liefen wir auch nach der Kapelle hinüber, wann der Mond aufging, dieweil es hieß, daß im Mondschein der steinerne Toggenburger Ritter lebendig würde. Das hätte ich gar zu gern gesehen; er dauerte mich so, daß er immer daliegen mußte, ganz steif. Einmal sah ich denn auch, daß er die Augen öffnete, und da bin ich schier erschrocken; sie schauten mich grad an. Der Vater sagte zwar nachher, das sei eine Täuschung gewesen; aber ich kann es nimmer vergessen, wie er mich ansah mit den großen traurigen Augen und dazu so starr dalag.« Sie blickte in den Vollmond hinein, daß ihr Antlitz schimmerte. »So ein wohlgemut lieb Gesicht und so mild, so rein!«

Sibylla sprang auf. »Ach ja, so bist du, fromm, rein und kühl! Und deshalb siehst auch die Welt so kühl und so fromm. Ah, wann ich so klug wär' wie du, dann hätte ich vielleicht auch so ein Herz wie dieses dort« – sie wies nach dem Bett hinüber, wo im schwarzen Schatten das weiße Mondscheinherz der Stabelle lag – »so weiß, so rein, so unberührt. Nun aber ist mein Kopf schwach, und alles, was ich habe, hat sich in mein arm Herz geflüchtet, und so ist es voll und heiß und will zerspringen. Ach, Anna, was soll ich tun mit meinem armen siechen Herzen!«

Sie warf sich mit Ungestüm der jüngeren Freundin an den Hals, die vom Fenster weg zu ihr hingetreten war, und brach in leidenschaftliches Schluchzen aus.

Steif und unbeholfen stand Anna da. Kein liebes Wort und keine zärtliche Liebkosung fiel ihr ein. Ihr war bang zumute und schamhaft, als ob sie in ein Geheimnis hineinschauen sollte, das nicht für sie war und das Schlimmes barg.

Sibylla ließ sich wieder auf die Bank nieder, enttäuscht und leise zitternd. »Verstehst du mich denn gar nicht, Anna, gar nicht?« Und als diese wiederum den Kopf schüttelte: »O doch, du verstehst mich, du willst nur nicht, du bist zu klug dazu und zu edel; aber ich sah es doch, wie du ihn heute anschautest, fast teilnahmsvoll, als er mir mit schnödem Wort den Rücken wandte, und wie du mit ihm gingst, Hand in Hand, und andächtig seiner Rede lauschtest... O ja, jetzt weiß ich es ganz genau, auch du liebst Giulio, trotz deiner Kunst und allem!«

Anna fuhr auf: »Schäm dich, Sibylla! Ja, ich habe Giulio gern, weil er mir leid tut, und wann ich nicht Rudolf hätte, ich würde vielleicht sagen, gern wie einen Bruder: aber so ist es doch nicht. Wann du aber etwas anderes meinst – für mich oder dich – Sibylla, das wäre ja abscheulich, eine Sünde wär's! Du weißt doch, er hat eine Liebste; für sie hat er das unglückliche Duell getan, um ihretwillen ist er geflohen und ist er gar so unglücklich hier. Das alles weißt du, dieweil du mir's ja erzählt, und nun kannst solches sagen?«

Sie stand aufrecht mitten im Mondlicht, und ihre Augen waren schwarz. Sibylla hatte die Freundin niemals so gesehen. Sie erschrak, und eine große Angst kam sie an. Ach, die büßende Magdalena, da sie dem Herrn die Füße wusch mit ihren Tränen, konnte nicht elender sein in ihrer Zerknirschung. Sie legte den blonden Kopf auf die nackten Arme und stöhnte. Und dann kam eine Lust über sie, die Erniedrigung voll zu machen, grad vor diesen schwarzen strafenden Augen. »O ja, Anna, ich weiß, ich bin schlecht, aber kann ich dafür? Sieh, ich liebe ihn so: ich möchte mich vor ihm hinlegen und sagen: Geh über mich weg, zertritt mich, tu mir weh, es wird mir wohltun, deinen Fuß zu spüren und deines Körpers Last; denn deiner Füße Spur ist mir Heiltum.«

»Sibylla!« Anna ergriff das Mädchen an beiden Schultern und schüttelte sie heftig. »Um Gottes willen, Sibylla, sprich nicht so, sonst kann ich dich nimmer liebhaben. Oh, wie kannst dich so wegwerfen, einen lieben, der einer andern gehört, und gar so lieben – und einen, dem du gleichgültig bist!«

Sibylla fuhr zurück, und als Anna jetzt in ihr Gesicht blickte, bereute sie schier ihre Heftigkeit, so erbarmenswert sah es aus, so blaß mit den weit aufgerissenen erschreckten Augen.

Sie zwang sich, gut mit ihr zu sein und ihr in ruhigen und verständigen Worten zu zeigen, wie sündhaft solche Gefühle seien, und vor allem, wie erniedrigend und beschämend solch unerwiderte Liebe.

Aber Sibylla schüttelte nur leise den Kopf. »Alles, alles ist mir gleich, er soll es nur wissen, daß ich ihn liebe, ja, ich möchte, daß er wüßte, wie ich ihn liebe, mehr denn alle andern auf der Welt, mehr auch als diese Italienerin, die ihn so allein in die Fremde ziehen ließ und ihm so selten berichtet. Ach, wann er es wüßte, dann würde er wohl einen freundlicheren Blick für mich haben, so wie früher, oder liebe Worte, und dann später einmal würde er daran denken: Keine hat mich so sehr geliebt wie sie, und würd' sich vielleicht gar einmal darnach sehnen nach meiner großen, großen Liebe. Mehr will ich nicht, ach, ich bin ja mit so wenig zufrieden!«

Anna antwortete nicht mehr. Sie wandte sich wieder zum Fenster, und während Sibylla mit offenen Augen leise vor sich hin weinte wie ein krankes Kind, blickte sie in die Nacht hinaus. Schwarz und weiß lag die Welt vor ihr; die durchsichtigen Frühlingsschatten waren verschwunden, und unter der Bäume undurchdringlichem Laubdach brütete die schwarze Dunkelheit schwer und beängstigend. Ihr war, als ob auch aus ihr Leben solch dicker Schatten sich gelegt hätte. Etwas Reines lag jetzt beschmutzt. War dieses Mädchen mit den wilden, fremden Gefühlen ihre Sibylla, die frohe, seine Sibylla, die sie so geliebt? Und Giulio, sollte der recht behalten mit dem schlimmen Wort? Sie hätte schreien mögen und toben wie damals, da sie mit häßlichem Mörtel ein Engelsantlitz überschmierten; aber sie blieb ganz still, wie gelähmt. Wo war die furchtbare Macht, die Menschen also verändern und herunterziehen konnte? Liebe, das war ein viel zu schönes Wort dafür. Liebe, die hatte doch ein klares, tiefes Gesicht und eine weiche gütige Hand – aber das hier, das, was Giulio zum Mörder gemacht und Sibyllas reines Herz vergiftete, was war das? Und ein Grauen erfaßte sie vor dem Unbekannten, Schrecklichen.

Da vernahm sie drunten ein leises Knarren, wie von einer Türe. Sie erschrak. Das war Giulio, der sein Zimmer verließ und in den Garten trat. Wann er nur heute nicht singen wollte. Nur heute nicht! Sie spähte hinab. Da sah sie seine dunkle Gestalt auf der kleinen Mauer. Der Mond floß über ihn. Ja, er hielt die Laute im Arm. Sie beugte sich weit hinaus, um sich bemerkbar zu machen und ihn am Spielen zu hindern; aber da sah sie, daß er abgewendet stand, das Gesicht nach der Ferne gerichtet. Und nun klangen schon die ersten zagen Saitentöne zu ihr herauf. Und nun die Stimme, weicher und erschütternder denn je und so traurig, so grenzenlos traurig.

Anna preßte den Kopf an die Fensterbrüstung und schloß die Augen. Sie wagte nicht zu Sibylla hinüberzublicken. Und Giulio sang, leise schleppende Kadenzen, die dann plötzlich am Ende der Strophen mit einem dumpfen Ton abbrachen. Es war wie ein Weinen, wie ein Weinen.

»Wann ich einst tot bin, Deckt Staub mich Armen, Führt dich wohl zu mir hin Ein still Erbarmen? Sieh, wie der Mond so weiß Über mein Grab geht, Denk, wie verlangend heiß Um dich mein Herz fleht, Daß ich im kalten Grab Nach dir mich sehne – Dringt wohl zu mir herab Leis eine Träne? Bringt wo ein weicher Wind Den Duft von Rosen, Fühlst du im Nacken lind Ein heimlich Kosen? Spürt dann dein Seidenhaar Zitternde Küsse, Weiß, daß es immerdar Mir gehören müsse ... Und weil ich tot bin, Im Grab gefangen, Zieht dich wohl zu mir hin Ein heiß Verlangen?«

Als Anna sich nach der Kammer zurückwandte, mit heißen trockenen Augen, war die Bank leer, Sibylla hatte das Gemach verlassen.

*

Ein helläugiger Sommermorgen war eben daran, mit zarten Dünsten und viel Sonne die taubefrischte Welt in Blau und Gold zu kleiden, als Anna andern Tags mit raschen Schritten über die Untertorbrücke und am Blutturm vorbei dem Stalden zu ging. Sie trug ein elfenbeinernes Rohr und Kästchen in der Hand, worin sie Pinsel und Farben verwahrte, und nahm mit tiefen Atemzügen und offenen Augen die Frische und Freudigkeit des jungen Tages in sich aus. Ach, sie wollte das Schwere von gestern abend abschütteln, wie das helle Land die nächtlichen Schatten weggewischt hatte. Wäre da nur nicht das Stechende in der Brust, jedesmal, wenn sie an Sibylla dachte! Aber sie wollte jetzt nicht daran denken, wollte nicht.

Der Weg war steil und sonnig, und nur hier und da zeichnete sich der schmale Schatten einer Pappel oder der runde eines Obstbaumes auf den glänzenden Matten oder fiel kühlend über ihren Pfad. Aber dann traten plötzlich die Schatten dichter zusammen und schlossen sich um ein sonderbares Haus, das mit abenteuerlicher Fassade und den Spuren allerlei halbverwaschener Malereien aus einem dunkeln, friedlich gefügten Obstwald hervorschaute. Anna öffnete das Gartentürchen und schritt etwas zögernd über den schmalen Weg, der von hüben und drüben mit hellroten Röslein überhangen war. Bevor sie das Haus erreicht hatte, ging die Türe auf, und Herr Andreas Morell eilte ihr mit frohem Gruß entgegen.

Trotz der ländlichen Umgebung war er auch heute aufs akkurateste gekleidet, mit sorgsam frisierter Allonge und feingesticktem Kragen, und die winzigen Schnallen seiner Schuhe blitzten, wie er über den sonnigen Weg herunterkam. Mit einer allerzierlichsten Reverenz trat er vor Anna hin, ergriff dann aber mit Herzlichkeit ihre freie Hand.

»Liebste Waserin, scharmant, scharmant, daß Ihr zu so früher Stunde schon erscheint! Und wie gefällt Euch nun meine Sommerresidenz?«

Er zog Annas Hand galant durch seinen Arm und ging mit ihr rund um das Haus herum, wo in kleinen Beetchen allerlei bunter und duftender Sommerflor stand und der Blick zwischen Obstbäumen durch nach allen Seiten in die Ferne ging.

»Ach, wie schön, wie herrlich!« rief Anna entzückt. »Und diese Luft!«

»Ja, die Luft besonders,« stimmte Herr Morell bei; »so etwas weiß man zu schätzen, wenn man monatelang den Geruch der Bastille genossen hat. Seither tendiere ich immer ins Freie und habe deshalb die Einladung eines Freundes, die kurzen Sommerwochen in seiner leeren Wohnung hier zuzubringen, umso lieber angenommen, als einem so nah an der Stadtmauer auch die städtischen Bekömmlichkeiten nicht mangeln. Ja, es ist schön heraußen, schön genug, um alle Trübsale zu vergessen.«

Anna sah voller Bewunderung zu dem Manne auf, der die Gunst und ungerechte Verfolgung des großen Königs erfahren, der höchsten Ruhm, schwere Gefangenschaft und bitterste Verluste durchgemacht hatte und der nun da mit frischem Gesicht und jungen Augen neben ihr ging, als ob sein ganzes Leben diesem schönen Sommermorgen geglichen. Und wer hätte dem liebenswürdigen Herrn mit dem fast kindlichen Zug um den Mund seine große Gelehrsame angesehen!

Lächelnd fing Herr Morell Annas bewundernde Blicke auf: »Ja, das kann nun wohl so ein kleines Fräulein nicht eben begreifen, daß einer aus dem Gefängnis kommen und doch noch so leichtfertig sein kann. Aber seht,« fügte er mit seltsamem Leuchten in den Augen bei, »wer in die Welt der Alten hineingeblickt hat, dem können so ein paar Mauern und ein paar Injustices noch lang nicht die Sonne verleiden. Vielleicht lernt meine Schülerin das auch noch begreifen.«

Sie hatten ihren Rundgang vollendet und wollten eben das Haus betreten, als ihnen unter der Türe lang und blaß der junge Morell entgegenkam, sich aber nach einer scheuen und linkischen Begrüßung wieder schleunigst zurückzog.

»Da habt Ihr meinen Herrn Sohn,« lachte Herr Morell, »das rechte Gegenstück zu seinem Vater: vor schönen klugen Jungfrauen und alten Münzen nimmt der Reißaus. Dafür hat die Gottesgelehrtheit es ihm angetan. In Gottes Namen, chacun à son goût. Seinen Schrecken vor den Münzen aber hat er wohl von der Mutter, die hatte auch solchen Widerwillen gegen alles Antikische.«

Drinnen öffnete Herr Morell mit viel Umständlichkeit eine Truhe und entnahm ihr eine Reihe kleiner Kästchen, deren Inhalt er mit spitzen, zarten Fingern und sichtbarer Wonne vor Anna ausbreitete: kleine, unregelmäßig runde, grünschwarze Metallstücke, zwei glänzend gelbe und eine Unmasse weißer Abgüßchen in Gips, sorgfältig zu zweien geordnet. Ziemlich ratlos stand Anna vor dem fragwürdigen Schatze; da fiel ihr eine der Münzen auf mit einem feingezeichneten wilden und schönen Männerkopf. Sie nahm sie in die Hand und entdeckte auf ihrer Rückseite ein allerzartestes Bild, eine nackte sitzende Jünglingsgestalt mit Bogen und Pfeil, und so wundervoll die geschmeidigen Linien des elastischen Körpers.

»Schau einer das feine Näschen!« rief Herr Morell entzückt. »Gerade die feinste habt Ihr herausgegriffen auf den ersten Blick, meine wundervolle Syrierin, meinen Stolz! Und natürlich findet die kleine Muse gleich einen Apoll!« Und dann erzählte er mit bewegten Worten von dieser Münze, vom großen Antiochos, dessen Bild sie trug, der so groß und grausam lebte und so grausam und elend starb, und vom Apoll, der auf dem Mittelpunkt der Erde thront und mit Bogen und Leier, durch Kraft und Schönheit die Erde beherrscht.

Das war der Anfang, und dann ging es weiter von Münze zu Münze. Anna lernte die zarten Dinger mit feinfühligen Fingern anfassen und mit noch feinfühligeren Augen abtasten, lernte die mannigfaltige Sprache dieser Bilder begreifen, und unter Herrn Morells klaren und begeisterten Worten öffnete sich vor ihren Blicken mählich eine neue Welt, unendlich in ihrem Reichtum, schier unbegreiflich in ihrer vieldeutigen Schönheit. Ja, wer es verstand, wie Herr Morell, in diesen unscheinbaren Zeugen zu lesen, das Schicksal großer Könige und ganzer Völker entrollte sich vor ihm und die tiefsten Gedanken großer toter Zeiten, ihre Kunst und ihre Religion.

»Seht,« sagte Herr Morell nicht ohne Rührung, »die berühmten Bildwerke, von denen ein Plinius und Pausanias erzählen, sind lange tot, aber diese kleinsten Werklein einer unbekannten Hand sind zu uns gekommen und sagen uns mehr von den großen Zeiten denn alles andere. So kommt gar oft das Kleine zu Bedeutung, derweil das Große vergeht, und es ist recht, daß in der Kunst nun auch die Miniatur zu ihrem Ruhme gelangt, solche bescheidentlich und ohne prahlende Gebärden, aber fein und aufs köstlichste sich erzeigt.«

Als die resolute Magd zum Essen rief, erschienen Meister und Schülerin mit geröteten Köpfen und leuchtenden Augen, und der junge Sohn, der mit am Tische saß, hatte es nicht schwer, seine Einsilbigkeit zu bewahren, so lebhaft gingen die Reden, Herrn Morells Erzählungen und Annas Fragen über seinen unbeachteten Kopf hinweg.

Aber am Nachmittag holte Anna ihr Elfenbeinrohr herbei. »Jetzo, Herr Morell, möcht' ich etwan versuchen, eine Münze nachzuzeichnen. Gebt mir Eure Syrierin, die mir zuerst in die Augen stach, und etwas Zeit; aber laßt mich derweil allein und kommt – mit Verlaub – nicht eher, als ich Euch rufe, mit nachsichtigem Gemüt und nicht allzu kritisch zurück.« Und während sie zeichnete. mit fiebrigen Händen und doch sicher den feinen Silberstift führend, setzte sich Herr Morell mit einem Buch in den Garten, nicht ohne Ungeduld und nicht ohne ab und zu neugierig durch das niedrige Fenster ins Zimmer zu spähen.

Endlich wurde er hereingerufen. Er betrachtete ernsthaft die feine Zeichnung; dann drückte er Anna die Hand: »Liebste Waserin, das ist ja fürtrefflich! Nicht allein habt Ihr nichts verschwiegen von dem, was dasteht, Ihr habt auch das herausgefunden, was nicht mehr da ist und was die Zeit und greifende Händ weggewischt. So hat mir noch keiner die Münzen begriffen, auch der geschickte Stettler nicht. Er hat zwar treulich wiedergegeben; aber Ihr tut mehr, Ihr schafft neu, was einst gewesen. Seht den Apoll aus dem Omphalos: bei Stettler würde er nun halt so dasitzen; aber Euer Apoll, der wird aufspringen im nächsten Augenblick und den Pfeil loslassen, und so auch ist es gemeint. Wenn Götter ruhn, so tun sie es nicht anders denn im Spannen neuer Kräfte ... Warum bloß,« fügte er bei, »habt Ihr die Schrift weggelassen?«

»Ich mag nicht copieren, was ich nicht verstehe; ich kenne die griechischen Buchstaben nicht und sollte sie erst lernen,« erwiderte Anna kleinlaut.

»Da habt Ihr recht, nichts Unverstandenes; aber bloß die Buchstaben?« Herr Morell schüttelte den Kopf. »Das genügt nicht. Buchstaben sind nichts, Ihr sollt sie auch tönen hören. Seht, so!«

Er öffnete das Buch in seinen Händen und las mit einer zarten und gleitenden Stimme, die Anna sonst nicht an ihm kannte. Wie seltsam das klang, so fremd, so fremd! Nicht ein Laut, der ihr als etwas Vertrautes ins Ohr drang. Und doch war es herrlich, wie eine große ewige Melodie. Sie mußte an Waldesrauschen denken und an die grünen schaumspritzenden Wellen der Aare. Aber auch an wundervolle Stoffe, Purpur mit Gold durchwirkt, wie sie es einst an einer französischen Edeldame gesehen, und an blaue Luft und Seide, an etwas sehr Wunderbares, sehr Herrliches, sodaß ihr die Tränen in die Augen kamen.

Herr Morell klappte das Buch zu und blickte Anna an: »Kind, Kind, so gerühret und doch bloß die Töne!« Nun sprang auch ihm etwas in die Augen. Er eilte auf Anna zu, schloß sie in seine Arme und küßte sie auf die Stirne, inbrünstig und bewegt. »Wahrlich, Ihr sollt sie verstehen lernen, diese Töne! Wer sonst verdiente diese göttliche Sprache, wenn nicht Ihr, da allein die bloßen sinnlosen Laute Euch schon dermaßen bewegen?«

Voll Staunen und Verwirrung sah Anna ihn an: »Wie wäre das möglich, Meister?«

»Wie? Das wollen wir eben sehen.« Er zog Anna neben sich auf die Fensterbank und umschloß ihre Rechte mit seinen erregten Händen. »Ja, Ihr sollt lesen lernen in diesem Buch, das so wenige kennen, weil wenige es verdienen. Ach seht, alle Kämpfe, alle Weisheit und Kunst dieses kampfvollsten, weisesten Jahrhunderts zusammen sind nur ein Brösemlein Leben und Welt gegen dieses Buch. Denn alles ist darin, nicht die Erde allein, auch der Himmel – die ganze Welt; fürwahr, wenn die Heilige Schrift nicht wär', ich würde es das fürnehmste aller menschlichen Werke zu nennen nicht anstehen, ja, ich nenne es so, dieweil wir ja jene als göttlichen Ursprungs erkennen!«

Herr Morell legte den Kopf zurück und schloß die Lider, derweil seine Worte über glänzende Höhen gingen und eine Welt von unbegrenzter Schönheit, göttlich groß und doch menschlich rührend, vor Annas entzückten Augen ausbauten. Das war anders, als wenn Giulio erzählte, leidenschaftlich und heiß, von seiner schönen Heimat; leise, fast flüsternd ging Herrn Morells Rede und tastend scheu, als ob sie sich nur zögernd an die ewigen Namen und herrlichsten Geschichten wagte, wie man an etwas über die Maßen Köstliches nur mit zarten und zagen Fingern zu rühren vermag.

Die Welt Homers: fremd und doch urvertraut, hell und geheimnisvoll, strahlend und furchtbar, grausam und rührend und klar und ewig, ewig wie die Natur. Die Glut der Sonne über Gefilden voll lachendem Blust, und unter nächtlichem Himmel das schwarze, schweratmende Meer und fruchtschwere Scheunen und des Kampfes wütendes Toben und der Ewigen Ewigkeit und, ach, des armen Herzens unendliche Leiden und Lust und Heimweh und Liebe und Schmerz der Vergänglichkeit – alles, alles in dem einen Namen begriffen.

Anna war, als ob sich langsam, langsam ein Allerheiligstes vor ihr auftäte, unfaßbar und doch zu ahnen, und als ob sie von weiser Hand über jene Schwelle geführt würde, die alles Kleine und Vergängliche von einem Höchsten und Ewigen trennt.

Lange saßen sie so zusammen, Hand in Hand, leise redend, lauschend und träumend, zwei zeitlos selige Menschen, und ihr Traumschifflein war noch lange nicht gelandet, als die Türe sich ungestüm öffnete. Sibylla und Christoph stürmten herein und fielen mit der aufgeregten Frage nach Giulio, der seit dem Morgen verschwunden, recht wie ein ungefüger Stein in den klaren Spiegel des Sees, in ihre andächtige Zwiesprache hinein.

Herr Morell faßte sich zuerst und suchte mit leiser Neckerei Sibyllas Erregung zu beschwichtigen: da soll sich einer die liebende Ängstlichkeit ansehen, und ob denn da schon Grund zum Fürchten sei, wann so ein Jungknab einmal den lieben Sommertag in Gottes freier Welt erhasche? Aber Anna fand sich nur langsam zurück. Sie war so weit weg gewesen, und nun stand plötzlich die Gegenwart vor ihr, Sibylla – sie zwang sich, dem Mädchen in die aufgeregten Züge zu sehen; aber da war ihr, als ob dies schon wieder eine andere Gegenwart, als ob durch das Erlebnis dieses Nachmittags die quälenden Erinnerungen schon weit abgerückt wären. Sie hatte mit dem großen Dichter die Welt aus andern Gesichten angeschaut; nun schien ihr wohl manches unwichtiger, manches verständlicher. Ja, sie fühlte auf einmal ein großes Erbarmen mit Sibylla: wie arm jene war und sie so reich und immer reicher! Sie bot der Freundin mit einem Lächeln die Hand, die diese lebhaft und mit dankbaren Blicken ergriff: »Giulio ist gewiß in den Wald gegangen, und wann wir nun über das Kirchenfeld zurückgehen und zur Aare hinab, werden wir ihn sicherlich wo auftauchen sehen, beim Dählhölzli oder am Schwellenmätteli unten.«

»Glaubst du?« Ein Glanz ging durch Sibyllas Augen – ach, wie gern ließ ihre Hoffnung sich speisen!

Und nun schritten die drei jungen Leute, nach einem herzlichen Abschied von Herrn Morell, der es nicht unterließ, mit Anna allerlei ersprießliche Verabredungen für den andern Tag zu treffen, über die abendlich sonnige Höhe.

Sibylla hängte sich Anna an den Arm: »Weißt, heute morgen hat er einen Brief bekommen, und dann war er ganz bleich, und auf einmal sah ihn niemand mehr. Sei mir nicht böse, aber ich habe so Angst um ihn!«

Anna blieb völlig ruhig. Sie dachte an die Schmerzen des großen göttlichen Dulders und wie er wunderbar immer wieder aus Not und Qual befreit worden – wie unwichtig schien daneben Giulios kleines Verschwinden! So etwas sagte sie zu Sibylla und daß sie zuversichtlich sein solle, und dann erzählte sie von ihrem eigenen Glück: »Denkt, Herr Morell will mich Griechisch lehren, und morgen beginnen wir!«

»Und darüber freust du dich?« Sibylla sah sie ungläubig an.

»Ach, nichts Schöneres kann ich mir denken!«

»Wie bist du so seltsam und – glücklich!« Und Christoph fügte mit traurigem Gesicht bei: »Ihr steigt immer höher, Anna, und wir andern bleiben zurück.« Aber dann lachte er: »Lux, wann er das vernimmt, krank wird der vor Ärgernis!«

Anna schüttelte den Kopf. »Da schätzt Ihr den stolzen Lukas zu tief ein.«

»Wann Ihr wüßtet, wie ehrgeizig er ist und wie eifersüchtig! Den Giulio könnte er umbringen, bloß weil er Euer Contrafet malen darf.«

Anna horchte erstaunt aus: »Mein Bildnis? Lux? Das wär' ihm doch die Strafe!«

»Glaubt Ihr, glaubt Ihr das wirklich?« Christoph strich mit der rosenroten Hand sein widerspenstiges Haar aus der Stirne, als ob er etwas verscheuchen wollte. Dann pfiff er leise vor sich hin, während die Mädchen schweigsam und ihren Gedanken nachhängend weiterschritten.

Plötzlich flammte es rot vor ihren Augen. »Seht die Feuerblumen!« Anna lief jubelnd auf das mächtige Mohnfeld zu, das sich lodernd in ihren Weg stellte. »Hier bleiben wir ein wenig; wann Giulio vom Dählhölzli kommt, sehen wir ihn zuerst.«

Sie setzten sich alle drei auf eine kleine grüne Insel inmitten der roten Herrlichkeit.

Anna legte sich auf den Rücken, sodaß die roten Blumen über ihren Augen in der Luft hingen: »So sollt' man sie beschauen, wann der Blauhimmel durch die rote Seide der Blätter scheint und die Kelche dunkel durchschimmern; dann erst sieht man, wie wundervoll sie sind. Ach, es ist mir doch die liebst unter allen Blumen!«

Sibylla nickte: »O ja, so rot, so glühend – und nie wird sie alt; sie stirbt, ehe sie welkt.«

»Das macht mich eben traurig daran,« sagte Christoph nachdenklich, »dieses frühe Sterben. Die zerknitterten Blättchen, wie sie so nackt und armselig aus den grünen Hülsen kommen und kaum, daß sie entfaltet sind und ihre Glätte fängt an zu glänzen, dann fallen sie auch schon ab. Und dabei der Geruch, unangenehm, ohn Freudigkeit und bang – wie etwas Totes. Ich muß an die Verse denken von dem deutschen Dichter – Lux trägt immer ein Bändchen seiner Lieder mit sich Herum – die auch so traurig sind. Er legte den Kopf in die Hand und fing leise zu rezitieren an:

»Meine Tage sind hinweg, Weg sind meine Stunden, Meiner Not und Schmerzen Zweck Hat sich schon gefunden. Wie ein Schaum auf wilder Flut, Die die Wind erheben, Wie der Rauch von einer Glut, So vergeht mein Leben.«

»Wie ist das traurig!« Sibylla kamen die Tränen in die Augen. Aber Anna richtete sich straff auf. »Nein, so sterben meine Feuerblumen nicht; die sind nicht bloß Rauch, den ein Wind verweht, die sind Glut und Flamme selbst, und wann sie sterben, dann sind sie auch vollendet. Ja, das ist traurig, wann eines gehen muß, bevor es am Ziel ist. Der Turm dort,« sie wies mit der Hand nach dem jenseitigen Aareufer, wo im Abendleuchten die große Kirche stand, mächtig aufstrebend über den ungeheuern Mauern der Plattform, »das ist traurig. Weinen möcht' ich, wann ich ihn sehe, so groß begonnen, breit und mächtig und kunstvoll mit all dem Zierat, und dann auf einmal das stumpfe, traurige Ende. Ach, der ist zu früh gestorben, wann er schon ewig dauern soll; aber die Blumen hier, ob sie auch nur einen Tag leben, wann sie am Abend die glatten glänzenden Blätter ablegen, dann sind sie auch vollendet, und ihr Tod kommt nicht zu früh; denn Gott ist gut, er läßt seine Geschöpfe nicht eher sterben, als ihre Zeit erfüllet ist. Nur Menschenwerk bleibt unfertig.«

»Glaubt Ihr?« Christoph sah Anna erstaunt an. »Und all die Menschen, so mitten aus Arbeit und Glück weg müssen?«

»Auch dann.« Anna faltete die Hände über den Knien und sah mit fernen Augen in den westlichen Himmel, der einen warmen Schein auf ihr stilles Gesicht warf. »Als mein kleines Schwesterchen starb, nur wenig Wochen alt war es, und es im Sarge lag, wie ein Engelein still und zufrieden, da sagte der Onkel Fähndrich zu meiner Mutter: ›Was hast du da für ein köstlich Kindlein zur Welt gebracht, daß es Gott nach so kurzem Wallen schon als reif ersehen für die ewige Seligkeit, um die unsereiner an die siebzig Jahr dienen muß!‹ Das Wort habe ich nie vergessen. Ich glaube,« fügte sie nach einer Pause nachdenklich bei, »Gott hat einem jeden die Zeit bestimmt, die er braucht, um sein zeitliches Ziel zu erreichen. Seht, Tizian ist hundert Jahr alt geworden, aber als Raffael so jung starb, da hatte er doch sein Bestes gegeben; denn was hätte er Köstlicheres noch fürder zu schaffen vermocht!«

So sannen sie lange. Es redet sich leicht vom Tode, wann man jung ist und noch so weit und voller glänzender Hoffnungen das Zeitliche vor einem liegt wie ein Ewiges. Und dann kamen sie wieder auf Giulio. Er war nirgends erschienen, und nun sank der Tag, und man mußte aufbrechen. Die ernsten Gespräche hatten alle ernst gestimmt, und auch Anna wurde auf eins bang.

Sie schritten über einen schmalen Wiesenpfad und dann durch den struppigen Staudenrain zur Aare hinunter. Sibylla trug einen großen flammenden Mohnstrauß in der Hand, während Anna für sich nur die Knospen gepflückt hatte, die fast abenteuerlich aussahen mit den gewundenen Stengelchen und den roten Zünglein zwischen den rauhhaarigen, graugrünen Schalen. Aber nun rieselte langsam ein roter Blütenregen über Sibyllas weiße Finger, und als sie unten ankamen und der alte Thüring sie in seinem schwerfälligen Kahn schräg über die Aare führte, der Schifflände zu, hielt sie nur mehr ein Bündel leerer Stiele. Traurig ließ sie den wertlosen Strauß ins Wasser gleiten.

»So geht es mir, das Schönste möchte ich fassen, aber es zerrinnt mir in der Hand.« Und mit einem düstern Blick auf Anna: »Du bist klüger, du baust vor, und morgen glüht dein Zimmer von den roten Blumen.«

»Nimm sie, Sibylla,« sagte Anna einfach und bot ihr den Strauß; aber die andere weigerte sich.

»Nein, du hast es ja verdient, ich nicht – und dann, ich will es nicht aus zweiter Hand.«

Anna nickte ernsthaft und sah ihre Freundin bedeutsam an. »Du hast recht, nicht aus zweiter Hand.«

Als sie im Hause ankamen, fanden sie Herrn Werner in großer Aufregung: »Bringt ihr ihn nicht, den Schlingel, ventre-saint-gris, wo mag er stecken! Überall hab' ich nach ihm geschaut, man weiß nichts von ihm. Wann er mir nur nicht gar entwischt ist! Aber seine Kammer sieht nicht nach Flucht aus.«

Wie zum Beweis öffnete er die Türe nach Giulios Stube, die auf den Garten ging und dem Eßzimmer anlag. Alles war in gewohnter Ordnung: die Laute an der Wand, der Malerkittel über den Stuhl geworfen und auf dem Tisch ein aufgeschlagenes Skizzenbuch.

Sibylla erblaßte: »Donna Ersilias Bild fehlt.« In der Tat, die Stelle über dem Lager, wo das seltsame Bildnis mit den schweren Augen und dem zu roten, verachtungsvollen Mund gehangen, das Anna einstmals mit Bewunderung und leisem Grauen betrachtet hatte, war leer. Nun suchte man weiter. Frau Werner durchstöberte die Truhe, und da stellte es sich heraus, daß auch die Reisekleider fehlten, der Mantel und die festen Stiefel. Auch Degen und Pistol waren nimmer vorhanden, und die kleine feste Schatulle, darin Giulio das Wertvolle verschloß, war leer.

Nach dem Essen ging Herr Werner noch einmal auf die Suche. Erst spät, als der Nachtwächter die dritte Runde sang, kam er zurück, mit erregtem, fahlem Gesicht. Er hatte keine Kunde von Giulio. »Ich fürcht', ein Unglück ist geschehen.« Mit bangen Gedanken legte man sich zur Ruhe. Anna konnte lange nicht einschlafen. Giulios Lied klang ihr in den Ohren, das er zuletzt gesungen: »Wann ich einst tot bin ...«, und die Tränen kamen ihr. Sie dachte an Sibylla. Ach, wo war nun ihre Entrüstung über das Mädchen? Wie ganz anders die Welt aussah, wenn die Furcht ihre dunkeln Schatten darüberwarf.

Auch die Stunden bei Herrn Morell vergingen nicht so reich und federleicht wie am Vortag. Anna hatte am Morgen das Haus ohne Nachricht von Giulio verlassen, und nun waren es allerlei düstere Bilder, die sich zwischen die hellen und hehren mischten, die Herr Morell vor ihr aufrollte, und ihren Glanz trübten. Aber der erste Grund zu ihrem Griechischstudium wurde doch an diesem Tage gelegt.

»Man muß es lernen, die inneren Schmerzen und häusliche Not von seiner geistigen Welt zu trennen,« sagte Herr Morell ernst, »ansonst kommt man zu keinem gedeihlichen End. Freilich,« fügte er gedankenvoll bei, »für Jungvolk ist das schwer; man muß einen starken Willen haben, um solches zuwege zu bringen, oder dann muß man vieles durchgemacht haben – sehr viel; dann lernt man's, auch wenn man nicht absonderlich stark ist in seinem Willen.« Die Worte gingen Anna tief ein – wie oft sollte sie später daran denken und wie lang war der Weg bis zu deren völligem Erfassen! Und nun nahm sie sich zusammen und arbeitete, daß Herr Morell staunte ob ihrer Charakterstärke. Aber als sie gegen Abend den Obstgarten verließ, war sie müde wie nach einem aufreibenden Kampf, und sie fühlte wenig Freudigkeit in sich. Einmal konnte man es wohl, sich zusammennehmen, aber nicht für lange. Nun strömten die Sorgen um Giulio mit doppelter Wucht über ihr zusammen und trieben ihre Füße.

Eilends erreichte sie die Untertorbrücke. Da trat ihr aus dem Schatten des Blutturms ein kleiner Junge entgegen. Sie kannte ihn; es war Fischer Thürings Enkel, und oft hatte er sie und Giulio auf gemeinsamen Wanderungen begleitet, wann sie der Aare nach ein malerisches Plätzchen aufsuchten. Giulio liebte die Kinder, und sie hingen ihm herzlich an. Der Kleine streckte ihr schon von weitem einen Brief entgegen. Hastig öffnete sie. Eine fremde Schrift. Italienisch, das mußte mit Giulio zusammenhängen. Sie las:

»Was zögerst zu lange? Dem Mutigen gehört Welt und Weib. Willst Du durchaus, daß ein anderer in Deinem Garten weidet? Deine Sache steht ja gut. Also komm, und zwar gleich; aber in aller Heimlichkeit, man hat dort Auftrag, Deine Flucht zu hintertreiben. Bei Sor Paolo fuori – Du weißt, wo wir den letzten Chianti zusammen tranken – halte Dich zunächst verborgen. Dort werde ich Dich finden.

Giacomino.«

Das stand in Tinte geschrieben, klar und groß, aber die übrigen Seiten des Briefes waren mit hastigem Reißbleigekritzel gefüllt, ebenfalls italienisch. Anna erkannte Giulios Hand. Sie mußte sich auf die Steinbank unter dem Turm setzen, die Knie zitterten ihr.

»Sorellina, das ist Giacominos Brief, von dem jedes Wort mir auf der Seele brennt. Ihr sollt ihn lesen, auch der Meister, dann wißt Ihr alles, und daß ich zur Stunde, da er in Eure Hand fällt, schon weit, weit weg, viel weiter als Herrn Werners Spürsinn reicht und rasche Pferde ihn tragen können. Seit dem Morgen ist alles bereit zur Reise, deren erstes Stück die Nacht verdecken soll. Hinter dem Wald harrt der Bursche mit den Pferden, und ich will hier den Abend erwarten. Ich konnte nicht mehr zurück ins Haus, ich fürchtete, irgendwie aufgehalten zu werden. Den ganzen Tag hielt ich mich im Wald versteckt. Ich hatte Zeit, nachzudenken. Sorellina, vielleicht wartet mir nun der Tod, und das Leben ist noch so jung und schön. Könnt Ihr mit Euren klaren Augen ermessen, was es heißt, jung und heiß und sterben? Vielleicht auch Gefangenschaft. Glaubt Ihr, daß Gefangenschaft für Giulio etwas anderes bedeutet als Tod! Und vielleicht – schlimmer als alles – Doch nein: der Freund ruft. Ich werde siegen, ich werde leben und Glück und Liebe zurückerobern. Der Weg, den ich gehen muß, liegt klar vor mir. Aber etwas hält meinen flüchtigen Fuß noch auf. Sorellina, Euch möchte ich lebewohl sagen und, Gott gebe es, auf Wiedersehen! Heute abend gingt Ihr an mir vorüber. Ich sah Euch ganz nahe aus meinem Versteck, Christoph, Sibylla und Dich. Nun sitze ich hier an der Stelle, wo Du lagst zwischen den roten Blumen, und der Abendschein ging über Dich. Einmal hast Du gelacht, Dein seltsam Lachen, nicht hell und aufreizend, sondern tief und weich wie eine schwere Glocke, aber doch so erfreuend. Das hat mir gut getan. Ach, wann Du wirklich mein Schwesterlein wärest, dann würdest Du nun mit mir gehen, wie würde alles schön und klar werden unter Deinen klaren Augen! Und wärest Du mein Schwesterlein von Anbeginn, anders wäre mein Leben geworden. Ich glaube, ich hätte ein guter Mensch sein können und ein großer Künstler ... Vielleicht ist das nun alles dahin ...

»Dein Bildnis, Sorellina, sollst Du zu Dir nehmen, und daß keine Hand es jemals vollende, wenn nicht die meine. Ich glaube, es hätte ein großes Kunstwerk gegeben. Auch das ist nun dahin.

»Ich habe viel über dieses Land gespottet. Nun, da ich gehe, fühle ich, daß es eine Stärke an sich hatte, die mir gut tat. Aber drüben ruft die Schönheit.

»Grüß auch Sibylla. Meine Laute soll ihr gehören. Sie soll sie spielen und an die Stunden denken, da ich ihre schmalen Finger über die Saiten führte. Es waren schöne Zeiten. Nun kann sie es allein.

»Grüß den Maestro, und er soll die Mühe sich sparen, mir nachzujagen. Meine Wege sind nicht offenbar, und wer möchte Giulio einholen, wann Angst und Liebe sein Pferd beflügeln?

»Auch Frau Werner grüße; sie hatte eine weiche Hand und gute Augen, und Christoph und Lux.

»Ach, alle waren sie gut; Du aber warst das Beste, das Allerbeste – vielleicht an meinem ganzen Leben. Nun möchte ich noch einmal Deine Augen sehen und Deine Hand fassen können, das tapfere kunstreiche Händchen, und Deine weiße Stirne küssen, die Stirne einer kleinen Heiligen mit den reinen und edeln Gedanken – ah, dann wäre mir gut und mein Vertrauen stark; denn alle Glut beschwichtigst Du, daß man kühl und rein wird in Deiner Nähe und klargerichtet. Wie not täte das Deinem armen, verwirrten und in Angst und Leidenschaft aufgepeitschten Bruder! Aber es muß auch so gehen.

»Und vielleicht sehen wir uns wieder.«

Als Anna aufblickte, stand der Junge immer noch vor ihr. Sie sah ihn wie durch einen feinen zittrigen Flor.

»Kommt der liebe Herr nun nimmer zurück?« fragte der Kleine betrübt. »Eine ganze Dublone hat er mir gegeben, als er ging, und dann hatte er auch das Augenwasser, grad wie Ihr jetzt.«

Anna stand auf. »Ja, er war ein guter Herr, Köbeli, vergiß ihn nicht, und er kommt nun wohl nie mehr.« Sie wandte sich rasch nach der Brücke, und wie sie die Junkerngasse hinaufschritt, klangen ihr die eigenen Worte im Ohr. Und nun fühlte sie auch ihre Bedeutung, daß es ihr das Herz zusammenschnürte: Giulio fort, der Abend ohne Lieder und der Garten still und verlassen, in der Malerwerkstätte kein Feuer und keine Fröhlichkeit mehr, bloß Fleiß und Arbeit, und ach, die lieben italienischen Laute tot und tot die Bilder voll Glut und Farbenherrlichkeit, die ihr Herz berückten!

Herr Werner nahm sich Giulios Rat nicht zu Herzen. Sobald er den Brief gelesen hatte, den Anna ihm unverzüglich überbracht, rüstete er sich unter heißen Verwünschungen Giacominos mit lauter und überstürzter Eile zur Reise, und noch am selben Abend jagten er und Christoph mit der Gnädigen Herren Erlaubnis auf schnellen Pferden dem Flüchtling nach. Zwei Tage später kamen sie wieder zurück, abgehetzt, wegmüde und traurig. Dreimal hatten sie Giulios Spur gefunden; aber sie eilte mit solcher Schnelligkeit voran, daß an ein Einholen nicht mehr zu denken war. Wie ein Rasender mußte er geritten sein, Tag und Nacht.

Herr Werner war tief niedergeschlagen, düster und wie gealtert: »Ich fürcht', da ist etwas ganz Abscheuliches im Spiel,« sagte er zu Frau Werner und Anna, die den beiden Reisemüden ein rasches Mahl auftischten; denn Sibylla war bei ihrem Anblick und als sie hörte, daß Giulio nicht mehr zu erreichen gewesen, in ihr Zimmer geflohen. »Noch vor wenig Wochen schrieb mir mein edler Freund aus Florenz, daß zwar das väterliche Gold wacker arbeite, sodaß Hoffnung sei, Giulios Sache werde sich zum guten Ende fügen, sofern der Jüngling noch etwas Zeit wegbliebe. Eine voreilige Rückkehr aber könnt' alles verderben. Und nun Giacominos Brief – sacrebleu – ein sauberer Freund scheint das!«

Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Becher klirrten, und sein Gesicht wurde braun vor Zorn. »Ich glaub', der Giulio war ihm im Weg, dem Schurken!«

Aber Anna schüttelte den Kopf: »Ihr irrt Euch, Meister, Giacomino war Giulios bester Freund; er hat ihm immer Nachricht gegeben über Donna Ersilia, öfter denn sie selbst, und er schützte und tröstete die Verlassene.«

»Er schützte und tröstete die Verlassene! Optime! Optime!« Herr Werner brach in ein grimmes Gelächter aus; als er aber Annas erschreckte Augen sah, ward er plötzlich ernst: »Seht, Kind, das versteht Ihr nun nicht, Ihr mit der Heiligenstirne, und es ist recht so. Aber meinen Giulio habe ich nun wohl verloren. So oder so. Auch wann die Gerichte ihn freisprechen, und das sollte nicht unmöglich sein, weilen seine rasche Tat zur Verteidigung einer Dame geschah, und in derlei Dingen denken sie anders, die dort unten mit dem heißen Blut, und der Vater ist reich und weiß, wie man mit Dublonen ficht; aber auch dann, auch wenn er frei wird, für die Kunst ist er nun wohl verloren. Schade, schade; als ein Wegversprengter kam er zu mir, zerflattert und untüchtig. Seit Ihr da seid, Anna, ist er anders geworden, Ihr habt alles Gute an ihm herausgekehrt, nun hätte er wohl ein großer Künstler werden können. Euer Bildnis – parbleu – ich wär' stolz darauf, wenn ich's gemalt hätte – Und nun alles dahin...«

Anna suchte neuerdings zu widersprechen: »Das kam nicht von mir, Meister; wie hätt' ich ihm Gutes tun können, weilen ich doch selbst nichts davon weiß? Giulio ist reifer geworden, auch in Florenz wird er nun anders sein.« Aber Herr Werner lächelte. Er nahm Annas Hand und streichelte sie schier zart. »Denkt Ihr noch an den ersten Abend, liebe Waserin, und was ich Euch sagte, da wir über den Namen des schönsten Berges diskurierten? Eine reine Jungfrau mit dem Willen nach oben, die kann wohl die höchste Höhe erreichen, heut aber sag' ich: sie kann noch mehr, sie kann auch andere heraufziehen. Und wenn Ihr das nicht versteht, tut's nichts, wenn Ihr nur so fortfahrt. Übrigens, wo habt Ihr Giulios Brief?«

Anna, die verwirrt und errötend dagestanden, errötete noch tiefer: »Ich habe ihn Sibylla gegeben, sie bat mich darum; sie versteht ihn nicht ganz, nur die Stelle, die von ihr spricht, hab' ich ihr übersetzt, es hat sie gefreut.«

Herr Werner runzelte die Stirn: »Ob das klug war?« Aber seine Frau wiegte wehmütig den Kopf: »Wohl war es gut, ein Honigtropfen in all die Bitternis. Es leidet nun arg, das arm Kind; aber ich kenn' mein Sibyllchen, man muß es machen lassen; wann's erst die ganze Süßigkeit des jungen Grams durchgekostet hat, wird's auch wieder froh werden. So was gehört nun mal zum Leben und Reifwerden. Du, Anna,« fuhr sie fort und strich dem Mädchen über das goldbraune Haar, »wirst freilich helfen müssen. Du bist mir ein großer Trost. Sieh, die Mutter – das ist in solchen Dingen nicht das Wahre – wann sie sich bei dir ausweinen kann, dann geht's noch einmal so schnell vorüber.«

Anna reichte Frau Werner die Hand: »Ich will das Mögliche tun, daß Ihr Eure Sibylla wieder fröhlich habt. Nun gehe ich hinauf und bringe ihr Giulios Laute, das wird sie freuen.«

Frau Werner sah ihr kopfschüttelnd nach: »Da hab' ich gemeint, ich müss' dem Mädchen Wärme geben und Freudigkeit, und nun ist sie es, die mit ihren kühlen Fingern meines Kindes sehres Herzchen wieder heilt ... Aber wenn die mal die Kühle verläßt, so leicht wird man sie nicht zurechtbringen.«

»Red mir nicht davon,« warf Herr Werner ärgerlich ein, »die Waserin ist nun mal aus anderem Holz; ihr Frauen könnt das eben nicht begreifen.«

Da gab Frau Werner ihrem Eheherrn einen leichten Klaps auf die Wange: »Lehr du mich die Mädel kennen, du Heißsporn, du ewig Allzujunger!«

Als Anna ihre Freundin verließ, war ihr etwas tröstlicher zumute, hatte doch unter Sibyllas reichlichen Tränen schon wieder ein erstes zages Lächeln aufgeblitzt bei Annas Versprechen, ihr Giulios Bild zu malen in feinster Miniatur, nach einer früheren Skizze. Unterwegs holte sie von Giulios Staffelei ihr unvollendetes Bildnis und trug es in ihr Stübchen. Als sie aber die Kammertüre öffnete, zeigte sich ihr ein sonderbarer Anblick; sie hatte seit dem frühen Morgen das Gemach nicht mehr betreten, nun war der aufgeblühte Mohn über Tag verblättert und hatte Tisch und Boden rot überflutet; das sah fast seltsam aus, wie Blut, das in großen heißen Tropfen niedergefallen war und zuletzt in einer Lache zusammengeflossen. Es war der Mohn, den sie noch unter Giulios verborgenen Augen gepflückt hatte; damalen waren es kleine graue Knospen, und nun schon verblutet ... Wie schnell es ging ... Und Giulios Schicksal, wann würde es sich entscheiden?

Sie suchte ihr Bildnis irgendwo aufzuhängen. An einem Nagel über der Bank hielt es fest. Sie stellte sich davor und betrachtete es: wie herrlich es gemalt war im grüngoldenen Schimmer der schmelzenden Töne und wie nahe der Vollendung! Nur die Augen und der Mund waren noch im Unbestimmten.

»Eure Augen,« hatte er gesagt, »muß ich an einem schönen frischen Tag malen, wann ich ein ganz reiner und guter Mensch bin, und Euren Mund, wann die Sorellina eine fröhliche Stunde hat und der Übermut um ein weniges in ihre Heiligkeit fährt, damit die Oberlippe nicht gar zu schmal und herb erscheint.« Ja, und nun war es vorbei, zu Ende gegangen.

Ob das Bild wohl immer so bleiben mußte, so trostlos unvollendet? Die Augen verschleiert, bleich, fast schreckhaft, wie etwas Totes in dem lebendigen Gesicht mit den hellen, rosig überspielten Wangen und der plastisch gefügten Stirn unter dem flockigen Haar mit den sprühenden Lichtern, und der Mund so blaß, so unsicher, wie vom Weinen verzogen.

Es war entsetzlich.

Anna graute vor diesem Bilde, das sie aus ihren eigenen Zügen so grenzenlos traurig ansah, wie ein Leben, das man abgebrochen mitten auf der Bahn und ehe es noch zum vollen Leben erwacht ist.

Hastig riß sie es vom Nagel herunter und stellte es gegen die Wand in die dunkelste Ecke ihrer Kammer. Wenn er doch kommen wollte, es zu vollenden! Ihr war, als ob durch dieses Bild auf geheimnisvolle Weise ihr Schicksal mit Giulios Leben verbunden wäre. Würde es sein Ziel erreichen oder abgebrochen bleiben, sinnlos und gewaltsam? Aber ihre eigenen Worte fielen ihr ein: »Gott ist gut, er läßt seine Geschöpfe nicht eher sterben, denn ihre Zeit erfüllet ist.«

Dann bückte sie sich und las die roten Blätter zusammen, sorgfältig, eines nach dem andern, ohne sie zu quetschen, daß kein Fleckchen an der weißen Diele und ihren weißen Fingern haften blieb, bis Boden und Tisch wieder blank waren, und dann beseitigte sie den toten Strauß.

*

Am letzten Tag des Jahres traf von dem Florentiner Meister ein umfangreicher Brief ein. Seit dem erschreckten kurzen Bericht, daß Giulio vor der Porta di Prato im Hause eines gewissen, unter dem Namen Sor Paolo bekannten Umbriers aufgefunden und sogleich dem Gerichte überliefert worden sei, war es die erste Nachricht. Sie lautete günstig: Die Anstrengungen von Giulios Vater waren nicht erfolglos geblieben; ein Zeuge hatte sich gefunden, dem es gelang, Giulios Tat als Ehrenrettung und Notwehr so weit vom Morde zu entfernen, daß die Freisprechung nur eine Frage der Zeit war und angesichts der bereits erlittenen Gefangenschaft nicht mehr lange zögern konnte. Auch die Nachrichten über Giulio selbst waren erfreulicher Art. Der Meister hatte ihn im Gefängnis aufgesucht. »Ach, welche Überraschung,« schrieb er entzückt, »ich meinte einen verzweifelten, gegen seine Bande wütenden Knaben zu finden, und ich traf einen reifen, geklärten jungen Mann, der mit ruhigen und zuversichtlichen Worten von seiner Lage redete. ›Wann Ihr Herrn Werner schreibt‹ sprach er mit einem Lächeln, ›so sagt ihm, daß ich mich nach nichts so sehr sehne wie nach Pinsel und Farben, das wird ihn freuen‹ und dann erzählte er von einem Bildnis, das er bei Euch angefangen und nach dessen Vollendung sein Herz brennt. ›Ein Meisterwerk sollte es werden‹ sagte er mit leuchtenden Augen, ›eine zweite Beatrice Cenci, nur kühler, kühler, mit den grüngoldenen Tönen eines Correggio – oh, ich sehe es vor mir, und ich werde nicht froh sein, bis ich es vollendet!‹«

»Er ist ein anderer geworden,« hieß es weiter, »das Gefängnis und die Ruhe des Nachdenkens haben seine Seele geläutert; aber der Grund zu seiner Wandlung – so scheint mir – wurde in Eurem edeln Hause gelegt, und ich glaube, daß er seine neueroberte Seelenkraft zu brauchen Gelegenheit haben wird, wann er zur Freiheit kommt; denn,« schloß er bedenklich, »von Donna Ersilia ist mir seltsame Kunde geworden und auch von dem Freund. Fast fürcht' ich, daß unserem Giulio die größte Prüfung noch bevorsteht.«

Der Florentiner Brief erweckte im Wernerschen Hause großen Jubel. »Susanna, Frau, das wird gefeiert!« rief Herr Werner voll Übermut. »Wozu den Neujahrskram auf morgen versparen? Wann heut die Freude zu Gast kommt, muß man sie gebührlich empfangen, ansonst sie uns zum Saker wieder davonläuft!«

Und Frau Werner brachte unverzüglich das noch warm duftende Gebäck herbei, die buttrigweichen Schenkelchen und lustig figürten Bretzelein, die sie mit den beiden Mädchen gefertigt und allbereits zur Seite geschafft hatte, und brachte drei staubige Flaschen vom Keller heraus. Etwas zögernd stellte sie diese auf den Tisch: »Es sind die letzten von den Bonstettschen, Joseph.«

»Ei, grad die wollt' ich,« sagte Herr Werner lachend; »die besondere Ehre gönn' ich ihnen, ein fröhlich Herz zu begießen. Mag das neue Jahr einen neuen Tropfen bringen, heut ist mir grad das Beste gut genug. Und nun holt mir meine Lehrjünger herbei; sie sollen auch ihre Freude haben!«

Rasch versammelte sich die kleine Gesellschaft, allen voran der flinke junge Waadtländer, der seit wenigen Wochen im Wernerschen Hause wohnte und seinem Meister mit flüchtigen Händen und mutwilligen Worten viel offenen Ärger und verstecktes Vergnügen bereitete; dann der lahme Adam Mörikofer, der seit dem Herbst Giulios Zimmer und Staffelei einnahm, und Christoph und ganz zuletzt auch Lukas Stark.

Dieser nahm die frohe Botschaft merkwürdig unbewegt, fast düster auf, sodaß Herr Werner ihn ärgerlich anfuhr: »Seh einer den Sauergrauer! Nicht mal freuen kann er sich; kein Wunder, daß der lieber mit Ätznadel und Säure ficht denn mit den trauten Farben, sodaß er bald Finger hat wie ein alt Waschweib, so runzlig und zerfressen von all der Pröbelei.«

Lukas rieb die breiten Hände mit der von den Ätzwassern zusammengezogenen weißen Haut aneinander, bis sie mählich warm und rot wurden. »Wenn der Giulio frei ist und heil, will ich mich freuen, jetzo scheint's mir noch um etwas verfrüht.«

»A bah, Unglücksvogel, was kommst mit deinem Gekrächz in unsere Fröhlichkeit!« Herr Werner wandte sich unwillig ab und griff nach einem der Becher, die Frau Susanna inzwischen gefüllt hatte: »Auf den Giulio, den Herzbuben!« Es gab ein lustiges Zusammentönen, und schnell war eine warme und laute Fröhlichkeit im Gang.

Anna zog sich in die kleine Ecke neben dem gestuften türkisfarbenen Kachelofen zurück. Sie fröstelte ein wenig, und die letzte verstrahlende Wärme des blauen Kolosses tat ihr wohl. Von ihrem stillen Plätzchen aus betrachtete sie die fröhliche Gesellschaft. Herr Werner hatte alle Feierlichkeit von sich abgelegt. Wie ein Junger sah er aus, übermütig und sprühend von lustigen Worten und absonderlichen Einfällen, die jedesmal ein überlautes Lachen entfesselten und wohl auch ein vergnügliches Kopfschütteln bei Frau Susanne, die, ungeachtet aller Festlichkeit, ihr Spinnrad schnurren ließ. Und Sibylla, leuchtend und aufgeregt mit einem Glanz in den Augen, wie man ihn lange nicht mehr an ihr gesehen hatte, und schier glühend das Rot der Wangen, unnatürlich, wie fiebrig; sie sah reizend aus, und der Waadtländer sagte es ihr mit Worten und Blicken, die sie lachend aufnahm, ein wenig kokett, daß Anna sie verwundert betrachtete. Auch Christoph sonnte sich an der Fröhlichkeit seines Vaters, und der lahme Adam saß mit flackernden Augen da. Seine Fröhlichkeit hatte eine besondere Prägung: langsam zog ein helles Rot über das sonst fahle Gesicht, wie Widerschein und Wirkung des Weines, der schnell in seinem Becher sank. Er sprach wenig; aber hie und da ging ein rascher, unsicherer Blick zu Anna und blieb einen Moment an ihr hängen. Sie vermeinte dann jedesmal, etwas von sich abwischen zu müssen, etwas Unangenehmes, das nicht ganz sauber war. Dieser arme Adam! Sie hatte ja solches Mitleid mit ihm, hinkend und unsicher, wie er war, und ohne Offenheit des Blickes und der Seele, was konnte da das Leben ihm reichen? Aber es war kein warmes und herzliches Mitleid; sie mußte sich immer zusammennehmen, wann sie freundlich mit ihm sein wollte. Das war schon dazumal so gewesen, als sie noch nebeneinander arbeiteten in Meister Sulzers Werkstätte; schon damals war ihr der lahme Thurgauer mit dem krausen schwarzen Haar über der niedern Stirn und den unsteten Augen, die sie niemals offen anblickten und doch immer nach ihr zu suchen schienen, zuwider gewesen. Und nun war er ihr auch hierhergefolgt, und heute noch gab es ihr jedesmal einen Stich, wenn sie ihn an Giulios Staffelei hantieren sah.

Aber nun kam er ja vielleicht zurück, Giulio. All die Fröhlichkeit galt ja ihm; warum saß sie eigentlich hier, stumm in der dunkeln Ecke! Sie verstand sich selber nicht; es war, als ob sich eine Wand zwischen sie und die andern geschoben hätte, daß sie nicht mitmachen konnte. Vielleicht waren Lukas' Worte schuld daran, die hatten ihr gleich alle Freude erstickt. Oder hatte seine Bemerkung einem Gefühl in ihr die Hand gereicht? War es vielleicht eine Ahnung, die sie von den Fröhlichen dort ausschloß?

Aber freilich, im Grunde war sie ja immer so: wenn es draußen lustig wurde und laut, dann fühlte sie jeweilen dieses Sonderbare in sich aufwachsen, wie wenn plötzlich Glockenschläge in ein lustiges Lied klingen, dumpf und wie mahnend, daß sie erschauernd nach innen lauschen mußte. Und heut war es ja ein sonderlicher Tag: der Leichgang des alten Jahres; die laute Lustigkeit wollte nicht dazu passen. Sie mußte Heimdenken. Dort kamen sie nun wohl vom Abendgottesdienst im großen Münster her. Wie deutlich sie das sah: Vater und Mutter, wie sie unter dem schöngerundeten Portal herfürtraten, und vor ihnen lag der Friedhof gebreitet, still, still unter der Last des Schnees und so weiß; denn über dem Antistitium stand der Mond, und die ganze Luft war weiß wie ein fallender Schleier, in den die Schatten der kleinen Kreuze und der langsam Dahinwandelnden schwarze Löcher rissen. So ernst schritten Vater und Mutter mit den gefalteten Händen über den Gebetbüchern und hinter ihnen Maria und Rudolf, groß und schlank und schweigsam. Und nun waren wohl auch die beiden Jüngsten dabei, ach, sie konnte sich kein Bild von ihnen machen, denn nun waren sie ja ganz anders, als wie sie sie zuletzt gesehen. Daß man so aufwachsen mußte, ohne beisammen zu sein, und sich selbst entwachsen – es war doch recht traurig!

Und nun sah sie die Eltern wieder; sie standen gerade unter der Pforte zwischen dem Kirchhof und der Münstergasse, die sich unheimlich und starr ins Dunkle schob. Jetzt wandte sich der Vater und wies mit der bleichen Hand zurück: »Seht euch noch einmal um, Kinder; das ist das würdigste Bild, das ihr hinübernehmen möget ins neue Jahr: Kirche und Totenhof, Gott und das Ende – Bedenket es wohl.« Und nun verloren sie sich in der schwarzen Gasse, wie ein Leichenzug so ernst und so stumm, aber mit einer großen Feierlichkeit in den Herzen.

»Nun seufzt Ihr gar, Waserin?« Anna sah überrascht auf, und da gewahrte sie erst, daß Lukas am Ofen gelehnt nahe neben ihr stand und sie mit forschenden Augen betrachtete. Sie schnellte auf, um ihren Winkel zu verlassen; aber er hielt sie zurück: »Ich will Euch nicht stören; kann's wohl begreifen, wann eins nicht immer lustig sein mag.«

Das war einfach, ohne allen Spott gesprochen. Anna sah ihm verwundert in die Augen. Die hatten immer noch denselben forschenden Blick, während er weiter sprach: »Ihr habt einen Abschied vor, das wird Euch zu Herzen gehn?«

»Ihr meint Herrn Morell? Ja, es tut mir leid,« entgegnete Anna leise. »Etwas sehr Schönes hört nun auf und hört zu früh auf. Ich hätt' so vieles noch lernen mögen, und nun ist es zu Ende.«

»Ja, so ist's wohl,« fuhr Lukas im gleichen leisen Tone fort: aber nun kam wieder das harte und bittere Lächeln um den kleinen Mund: »Das Schöne geht, und was uns widerstrebt – das bleibt!«

Anna wollte etwas entgegnen, als Herr Werner mit einem lauten » Ventre-saint-gris!« dazwischenfuhr und die beiden Sonderbündler an den hellen Tisch zog, wo mit einem allgemeinen Pfänderspiel, an dem auch Frau Susanne teilnahm, die Lustigkeit in eine neue Phase gedieh. Doch auch jetzt fand sie bei Anna keinen Nachklang. Sie wunderte sich darüber, war doch selbst Lux, der an ihrer Seite saß, aufgetaut; aber ihr war immerfort, als ob sie irgendwo, fernab, das Zufallen einer Türe vernähme und sie darauf hören müßte.

Die Freude kam erst am andern Morgen zu ihr, als der Neujahrstag mit bitterkaltem Schneegeflimmer aufstand und es sie plötzlich etwas Schönes und Erwartungsvolles dünkte, einem neuen Jahr die Hand zu reichen. Es lag soviel Freudigkeit in der Luft, als ob die ganze Welt hoffnungsvoll aufatmete. Im Haus und auf der Straße das lustige Treiben der Gratulanten, die ihre seit vielen Tagen ausgedachten, wohlgerundeten Sprüchlein mit vieler Zierlichkeit darboten. Und im Münster farbige Sonnenlichter zwischen den hohen, hohen Säulen, die sich ganz zu oberst, wo die himmelstürmenden Bogen sie vereinen, in lauter Licht und Duft aufzulösen schienen, und die Rede des greisen Pfarrherrn mit den rosig glänzenden Wangen, so frisch und zuversichtlich, und die Orgel, mächtig und hell wie die kristallflimmernde Luft draußen und das Himmelblau zwischen weißverhängten Ästen. Ja selbst die Bären in ihrem Graben droben beim Käfigturm schienen an diesem Morgen fröhlicher als sonst; denn der Segen an gelben Rübchen und roten Äpfeln, die aus festtäglichen Händen in den Graben hinunterflogen, war so reich, daß sich die Beschenkten recht als die Stadtheiligen vorkamen und mit lustigen Sprüngen und würdigem Rumoren auch als solche sich gebärdeten.

Am Nachmittag kam Herr Morell ins Wernersche Haus, wo er die Frauen allein traf. In wenigen Tagen mußte er verreisen an den Hof eines deutschen Fürsten, der die Weisheit des großen Mannes besser zu schätzen wußte als dessen karge Vaterstadt. Während Frau Susanna und Sibylla für den Gast und die zurückerwarteten Herren einen Imbiß rüsteten, trat er mit Anna in den verschneiten Garten, und hier, angesichts des weiten glänzenden Landes, aus dessen weißer Unendlichkeit die Aare mit einem seltenen, schier schmerzhaft grellen Blau herausleuchtete, nahm er Abschied von ihr. Er überreichte ihr ein abgegriffenes weißes Buch mit verblaßter Goldprägung. »Dies, liebes Kind, mag Euch die Stunden dort drüben im Obstgarten zu einem χτήμα είς άεί Besitz für alle Zeit.gestalten.«

Mit zitternden Händen griff Anna darnach; das war ja das Buch, über dem sie mit Herrn Morell unzählige Male gesessen in Stunden, die so reich waren, daß ihr in diesem Augenblick daneben das ganze andere Leben arm und unbedeutend vorkam. Und nun sollte es ihr gehören, für immer! Sie preßte den Schatz fest an ihre Brust, aber kein Wort des Dankes kam ihr aus der seligen Überraschung. Herr Morell lächelte mit einem feuchten Glanz in den Augen, als er des Mädchens Bewegung sah: »Freut's Euch? Dann ist's recht; zu danken braucht Ihr nicht, maßen ich Euch niemalen wiedergeben kann, was Ihr mir getan. Jetzo begreift Ihr das vielleicht noch nicht; aber wenn Ihr einmal alt werdet und das Leben mit Einsamkeiten herauskommt, und fällt Euch dann so ein Stück Jugend mit heißem Herzchen und hellen Augen ins Altersstübchen, dann denkt an mich; Ihr werdet dannzumal vielleicht auch begreifen, daß mir der heutige Abschied nicht leicht fällt.«

Dann zog er Anna an sich und küßte sie hastig auf die Stirne, und ehe sie noch ein Wort des Dankes oder ein Lebewohl gefunden, war er auch schon weg, und Frau Susanna hatte gut, dem Davoneilenden, den sie von der Küche aus über den Hof stapfen sah, nachlaufen; als sie die Haustür erreichte, vernahm sie nur mehr das letzte Verhallen der raschen langen Schritte.

Am Abend, als sie sich in ihrer Kammer allein wußte und ungestört, öffnete Anna beim matten Schein des Öllämpchens ihr Buch. Es war zwar grimmig kalt im hochgelegenen Stübchen, aber sie wußte nichts davon. Sie las aus den vertrauten Seiten mit halblauter Stimme, und ihr Herz wurde warm.

Wie es rauschte, Worte voll Schönheit und Kraft, leuchtend wie Edelsteine und mit seidenem Schimmer und tiefklar und hell, hell wie das Tagesgestirn selbst, wann die Luft schimmert und der ewige Glanz das Blau des Himmels trinkt. Und wie die Bilder sich reihten, machtvoll, überwältigend und lieblich, und so vertraut – Nausikaa, wie sie auszieht mit ihren Gespielinnen, so voll süßer Ahnung das Herz, und der tauklare Morgen drunten am Meer, sieht man es nicht glänzen, weithin, unendlich! Und Bälle fliegen durch die blaue Luft, hell und glänzend wie das Lachen der Mädchen ... Ach, so spielen zu können mit leichten Kleidern und leichten Herzen unter Lorbeer und blühenden Myrten am weiten Meer, das immerzu rauscht, kühl und geheimnisvoll ... Aber alles vergeht, der sorglose Morgen und Übermut und Lachen vor den schmerzvollen Augen des hohen Fremdlings, und alles schweigt, wann das große Heimwehlied anhebt, furchtbar und erschütternd... Oder war da ein leises schmerzliches Klingen wie vom Riß einer Saite? Nausikaa... Vielleicht – aber wer vernähme sie noch, die kleinen geheimen Schmerzen, vor den unendlichen des göttlichen Dulders.

Anna las mit heißen Augen. Bisher waren es alles vertraute Worte, die ihr Herrn Morells Stimme und klärender Sinn in die Seele gebrannt hatte; dann aber kam neues Gebiet. Mutig wagte sie den Schritt, aber ach, war es nicht, als ob ihr Fuß plötzlich in wirres Gestrüpp geraten wäre? Wohl vernahm sie die Worte, herrlich wie zuvor, und ein Bild und Gedanke blitzten hie und da auf; aber zum Ganzen wollte es sich nimmer fügen. Sie suchte, sie rang mit Worten und Sätzen; aber nur tiefer verstrickte sie sich in der Wirrnis, sinnlos vom Wege verirrt. Ach, ihr Wissen reichte noch nicht so weit, und nun sie den weisen Führer verloren, schwand ihr der Pfad unter den Füßen. Eine große Verzagtheit kam über sie. Unvollständig, zu früh abgebrochen auch hier. Sie mußte an ihr Bildnis denken mit den toten Augen und dem unfertigen Munde. Und plötzlich liefen ihr Tränen über die Wangen, heiß, in einem unaufhaltsamen Strom. Sie wußte nicht, worüber sie weinte, ob über Herrn Morell, über Giulio oder über sich selbst; ihr war, als ob sie vor abgebrochenen Pfaden stünde, trostlos. Und war da nicht wieder das Zufallen der Tür, fern, fern, aber doch deutlich und grausam?

Später freilich, als die Unglücksbotschaft aus Florenz eintraf, dachte sie, daß es eine Ahnung gewesen, und als die Nachricht die andern niederschmetterte, blieb sie aufrecht. Sie hatte den Schmerz zum voraus gekostet und fand nun keine Tränen mehr, es war ihr wie Bestätigung eines lange Gewußten. Aber daß es so furchtbar sein mußte, so abscheulich! Erst der Freispruch, und dann mitten in das Glück der Freiheit hinein die grauenvolle, unaufgeklärte Tat. Giulio mit verzerrtem weißem Gesicht und blutgetränktem Haar irgendwo in der furchtbaren florentinischen Nacht drunten am Arno, der an Donna Ersilias Haus, allwo nun der falsche Freund Meister war, vorüberfloß ... Das war das Bild, das den ganzen Frühling, der zart und sehnsüchtig aufging und sich sehnsüchtig und strahlend in den Sommer ergoß, verschattete und jeglichen Glanz auslöschte. Es war nicht Giulios Tod allein; die Tatsache, daß ein Leben dort abgebrochen war, wo es eben erst zur Blüte sich entfalten wollte, das war das Entsetzliche, daß man so mitten im Leben stehen konnte und das Herz voller Pläne, die alle gut und von Gott eingegeben schienen, und dann auf einmal fertig, abgeschnitten ...

Anna mußte an alle die denken, die ein gleiches Geschick getroffen hatte. Alles, was sie von Martern und Hinrichtungen je vernommen, kam ihr nun in den Sinn, und zum ersten Mal gingen ihr die Augen darüber auf. Was hatte man nicht für furchtbare Dinge gehört von Exulanten, von jungen, zu Tode gequälten Menschen! All die Elenden, die aus Galeeren und in französischen Kerkern um des Glaubens willen zugrunde gingen, wiederholte sich an ihnen nicht hundertfach Giulios Schicksal, nur grauenvoller noch? Hatten sie nicht alle, wie er, mit frohen und sehnsüchtigen Augen in die Welt geschaut! Ach, Giulio lag nicht allein mit blutigem Haar; überall rauchte es von zerstörten Leben aus Kerkern und von Scheiterhaufen, und da sollte man weiterleben und arbeiten und schöne Künste treiben, als ob darin der Sinn des Lebens läge.

Es gab Zeiten, da Anna auch ihre Arbeit seelenlos und ohne Teilnahme betrieb, wo sie mitten von der Malerei weglief und droben in ihrer Kammer in dem schwarzen Buche suchte nach einem Sinn und Trost. In all der Trübsal und Not, wo war Gott? Und Gottes Güte, wo?

Erst nach und nach wurde sie wieder stiller in sich und klarer. Wie eine beschwichtigende Hand ging ihr das Evangelium der Liebe über die brennende Wunde, und eines Tages fiel ihr ein homerisches Wort in die Augen, das ihr seltsam ins Herz leuchtete: »... und leiden die großen, vom Schicksal nicht gewollten Schmerzen durch eigene Schuld.«

Durch eigene Schuld! Nicht Schicksalsmacht sondern Menschenschuld!

War es nicht Menschenhand, die das Furchtbare rings vollbrachte, die Giulio gemordet, die Kerker baute und Scheiterhaufen errichtete?

Gott hatte das nicht gewollt, und Gott konnte an den Opfern gut machen, was frevelnde Hand verübt, dort, wo Menschenmacht ein Ende hat. Und Gott wollte auch, daß die Menschen anders würden; denn gab er ihnen nicht Wegweiser allenthalben nach guten und glückbringenden Landen? Nicht allein das Evangelium, das mit klaren, unvergänglichen Worten es aussprach, daß die Liebe, die Liebe allein Menschenpflicht und Menschenglück bedeute und Ziel und Sinn alles Endlichen, wie der Unendlichkeit sei. Da war auch die Natur. Ach, wenn man sie recht betrachtete, eine Sommerwiese etwa, wann die Sonne darüber ging und in tausend betauten Gräschen Glanz und Flimmern entfachte und die ganze Welt duftete, so süß, daß man es fühlte bis in die wohlig durchschauerte Haut, und Grillen und Wachteln einander antworteten, so sein – wie konnte man das alles ansehen, die Helligkeit und das Leben, die ganze gebreitete Güte und noch einem einzigen schlimmen und vernichtenden Gedanken Raum geben? Und hatte Gott nicht selbst den Heiden große Menschen erweckt, daß sie ihnen den wahren Weg zeigten? Und hatte er ihnen nicht die Kunst gegeben?

Ja, die Kunst.

Anna sah sie auf einmal mit andern Augen. Sie mußte an Worte von Herrn Morell denken, und sie glaubte deren Sinn erst jetzt zu erfassen. War nicht auch die Kunst ein Wegweiser zur Schönheit und Güte, dem Menschen von Gott verliehen? War nicht auch sie eine Waffe gegen alles, was sich häßlich und trüb vor die Wahrheit stellte, und nicht sie es, die eben jetzt am Ende eines furchtbaren, von Krieg und Haß zerrissenen Jahrhunderts aufging wie ein mildes Licht und Versöhnung und Güte strahlte?

Wie eine Befreiung und Erleuchtung war diese Erkenntnis über Anna gekommen. Ihr eigenes Leben sah sie jetzt in anderem Licht, und sie kam sich selbst bedeutsamer vor und voller Verantwortung, und wenn sie sich nun neuerdings mit heißem Eifer ihrer Arbeit zuwandte, so war es nicht bloß Freude an der Sache und das Bestreben, Lehrer und Eltern zu erfreuen, wohl aber eine tiefe innere Glut, die beglückende Überzeugung, mitzuhelfen an einem großen Werke, dessen Ziel weit über die engen sichtbaren Grenzen hinaus im Unermeßlichen lag, und damit verband sich die glückliche Zuversicht aller tüchtigen Jugend, einer besonderen, wichtigen Zeit anzugehören und mit ihr neuen, unerhörten Zielen entgegenzugehen.

Ein Ereignis fiel ihr ein aus ihrer frühen Kindheit. Daheim in der großen Stube, alle versammelt, sie Kinder furchtsam zusammengeduckt; denn es war schier dunkel im Zimmer, weil der Vater die Laden zugezogen hatte, damit man nicht auf die Gasse sehe, von wannen ein wildes Laufen und aufgeregtes Geschrei herausdrang, maßen ein schlimmes Weib vom Leben zum Tod gerichtet werden sollte, und nun lief alles, um die Hex zu sehen auf ihrem Todesgang. Und als der Lärm immer größer wurde und einzelne Worte Hereinflogen, wüste Verwünschungen und böses Gelächter: »Kniet nieder,« gebot der Vater, »und betet für die arme Seele!« Aber wie sie ihm mit bebenden Lippen die ernsten Worte nachsprachen, flog plötzlich die Türe auf, und der Onkel Fähndrich stand vor der Schwärze des Ganges: »Für die heilige Obrigkeit solltet ihr beten und die hohe Geistlichkeit,« rief er und riß grimmig an seinem langen Schnauzbart, »daß ihnen das nicht zu schlimm angerechnet wird! Habt ihr das arme Weiblein gesehn? Lützel und armselig zum Umblasen; mit einer Hand wollt' ich's lüpfen, und mit Augen wie ein Spyri, wann's zu Boden fällt und die Flügel nimmer gebrauchen kann, und nun die ganze Bande hinterher – saker Hagel, diese Sauerei!« Und er spuckte weit aus auf den blanken Boden, daß die Mutter entsetzt zurückfuhr und ihn der Vater mit ernsten Worten zurechtwies von wegen der unbotmäßigen Worte in Anwesenheit der Kinder. Aber der Fähndrich lachte: »Grad die sollen's hören, Bruder, die gehören einer andern Zeit an und sollen eine andere machen helfen.« Und dann hatte er sie auf den Arm genommen: »Anneli, Meiti, die klaren Äuglein da sollen bessere Zeiten sehen, will's Gott!« Und hatte sie geküßt, und obwohl sein grober Schnurrbart sie in die Backen stach und ein scharfer Tabakgeruch ihr den Atem benahm, war ihr doch ganz feierlich zumute dabei.

Daran mußte sie nun denken; ja, ihre Augen wollten andere Zeiten sehen.

Anna stürzte sich mit einem fiebrigen Eifer in ihre Arbeit, und fast jeder Tag brachte neue Fortschritte, neue Erkenntnis und neues Können, sodaß Herr Werner sie verwundert betrachtete: »Was ist für ein Feuer über Euch gekommen, Waserin! Wann Ihr so zufährt, hat Joseph Werner seiner Jüngerin bald nicht mehr viel zu sagen.« Und Anna fühlte mit heimlichem Entzücken, daß sie mehr und mehr selbständig wurde und weniger des Meisters Hilfe denn seinen Rat und seine Auskunft bedurfte. Und das war gut. Herr Werner hatte mit sich viel zu tun und konnte sich nicht mehr wie früher seinen Lehrjüngern widmen. Giulios Tod war ihn hart angekommen, besonders, da er sein eigenes Leid in Sibyllas Schmerz mit hundertfacher Spiegelung wiederfand. Mit der ganzen Leidenschaft ihrer aufwallenden Natur hatte das Mädchen, das sich so plötzlich aus trügerischen Hoffnungen geworfen sah, sich der verzweifelten Trauer hingegeben; ihre Gesundheit hatte darunter gelitten, sodaß man sie vom Schauplatz ihrer Hoffnung und Schmerzen etwas entfernen zu müssen vermeinte und sie für längere Zeit zu Verwandten nach Lausanne schickte, allwo sie sich nach und nach von ihrer Siechheit zu erholen schien. Bald nach Sibylla war auch der junge Waadtländer verreist, der seine Lust für die edle Kunst alsobald verlor, da es im Wernerschen Hause traurig und einsam wurde, und auch Adam Mörikofer hatte eines Tages in einer verwirrten, überstürzten und völlig unerklärten Abreise Bern verlassen, sodaß nun neben Christoph und ein paar unregelmäßigen Tagesschülern nur mehr Anna und Lukas da waren. Dieser weniger mehr als Schüler denn als Mitarbeiter des Meisters, dem er sich hauptsächlich durch Radierungen wertvoll machte, die Herrn Werners Gemälde weithin verbreiten sollten. Und Herr Werner trachtete nicht darnach, dem zusammengeschmolzenen Bestand seiner Kunstakademie neue Kräfte zuzuführen, da sich Fragen ganz anderer Art in den Vordergrund drängten. Aus Herrn Andreas Morells Verwenden hin, der die Mißachtung, die Werners Kunst in seiner Vaterstadt erfuhr, nicht ohne Schmerz mit ansehen konnte, war ihm von des brandenburgischen Kurfürsten allmächtigem Minister Dankelmann die Stelle des ersten Hofmalers und Direktors an der kurfürstlichen Kunstakademie zu Berlin in Aussicht gestellt worden. Das Angebot war verlockend und warf Herrn Werner in einen heißen Widerstreit der Gefühle, verdarb ihm jegliche Freude an der Gegenwart und Heimat, ohne ihn doch zu einem frohen und zuversichtlichen Entschluß kommen zu lassen. Zu zäh hing sein Herz an der vielgeschmähten und über alles geliebten Vaterstadt, zu lieb war ihm das freie, selbstherrliche Leben, das er hier, unabhängig von den Launen eines Gebietenden, führte. So gingen die Erwägungen hin und her, und die Korrespondenzen mit Andreas Morell und Berlin erlahmten nie, brachten viel Aufregung mit sich und zerschnitten jedes gedeihliche Werk, und da auch Christoph in Mitleidenschaft gezogen wurde, waren Anna und Lukas Stark die einzigen, die noch mit unveränderter Kraft den alten Arbeitsgeist der Wernerschen Schule aufrecht erhielten. Oft waren sie ganze Tage allein an der Arbeit, und der Eifer des einen ging auf das andere über und machte aus ihrer Arbeit einen Wettbewerb, der indes mit der Zeit immer weniger einem Kampf glich als einem frohen Zusammenwirken.

III Die grüne Grotte

Eines Morgens legte Anna mit einem Seufzer den Pinsel aus der Hand: »Lukas, Lux, könnt Ihr mir raten; ich weiß mir nimmer zu helfen!« Sie lehnte sich im Stuhl zurück und schaute betrübt auf ihr begonnenes Werk. Es war der Entwurf für ihre erste größere Komposition nach einem Thema, das Herr Werner ihr gestellt hatte: Numa Pompilius in der Grotte der Nymphe Egeria. Bereits standen die beiden Gestalten auf dem Papier, klar und sauber, in feinen Umrißlinien, Numa recht in der Art und Kleidung der römischen Könige, wie Anna sie von Herrn Morells Münzen her kannte, die Nymphe in langem Haar und leichten Gewändern in der Manier des Guido, einer Wernerschen Diana ähnlich. Aber die Grotte, ach, das wollte nicht herauskommen.

Lux erhob sich von seinem Radiertisch und stellte sich vor das Bildchen. »So jedenfalls sieht eine Grotte nicht aus,« sagte er bedenklich; »die Steine sind aus Pappe.«

»Nicht wahr!« Anna seufzte noch einmal und legte die Hände entmutigt in den Schoß. »Aber was kann ich tun? Ich weiß überhaupt nicht, wie eine Grotte aussieht.«

»Halt eine anschauen, eine gemalte oder eine rechte.«

»Unter des Meisters Blättern hab' ich nichts gefunden.«

»Und wenn ich Euch eine zeigte, eine richtige?« Ein spitzbübisches Lächeln ging durch sein Gesicht.

Anna sah ihn ungläubig an: »Ihr? Eine richtige Grotte? Und wo in aller Welt?«

»Ein wenig weit schon, über den Gurten müßten wir.«

»Und Ihr wolltet mitkommen, von der Arbeit weg?«

»Ich sollt' schon lang eine Ahornetüde machen. Ahorn gibt's dorten auch, da komm ich schon auf meine Rechnung.«

Eine halbe Stunde später machten sie sich auf den Weg.

»Das ist recht, daß Ihr mal an die Luft geht!« hatte Herr Werner ausgerufen, als die beiden mit dem ungewöhnlichen Plan herausrückten. »Ihr, Anna, habt ungefähr zu glänzige Augen, Ihr macht sie Euch noch krank, und der Sommer ist bald vorbei, und habt vor lauter Eifer ihn nicht gesehen.« Er bedauerte, daß er nicht selbst mitkommen könne, da wieder so ein Brief aus Berlin eingetroffen sei, der baldige und reichlich erwogene Antwort erheische.

Mit leichtem Malgerät und einer kleinen Provision Mittagsbrot, das alles Lux sich auf den Rücken schnallte, zogen sie aus.

Jenseits der Aare führte sie ein schmaler Pfad zwischen Stoppelfeldern aufwärts dem Walde zu. Die Luft wogte von Sonne und feinem Summen, und aus den nackten strohgelben Feldern rings stiegen warme Wellen und ein zartes Zirpen auf. Wie ganz anders atmete es sich hier, in der großen freien Weite, als unten zwischen den festen Türmen und engen Mauern der Stadt, die, vom weißen Dunst ihres übeln Atems umschleiert, sich immer tiefer zu den Füßen der tapfer Aufwärtsschreitenden duckte.

Im Walde empfing sie noch morgendlich feuchte Kühle. Anna pflückte ein Taumantelblatt, das bis zum Rande mit silbernen Tropfen gefüllt am Wege stand, und hob es an den Mund. »Glück und Kraft zur Wanderschaft!« Rasch tat es ihr Lukas nach, und während jedes sein Tröpflein nippte, sahen sie sich über den fein gezackten silbernen Saum des Blattes weg lachend in die Augen.

»So taten wir als Kinder jeweilen,« sagte Anna im Weiterschreiten.

»Auch wir wollen heut Kinder sein, dann ist die Welt erst recht schön. Wollt Ihr?«

»Gut, Ihr nicht der spöttische und saure Lux.«

»Und Ihr nicht die stolze, abweisende Anna.«

»Früher wart Ihr doch recht unerträglich, Lux.«

»Und jetzt?«

»Etwas weniger!«

»Wann ich Euch früher so hätte lachen sehen wie jetzt, Anna; aber Ihr wart so klug, so unjung, so – ehrgeizig.«

»Und Ihr?«

»Ich nicht minder; aber eben deshalb!«

Sie kamen in eine Waldlichtung. Mit tiefem Summen lag das Waldweben über tausend blaßroten Blüten der Weidenröschen, und Samenflämmchen flogen silbern durch die Luft. Der Boden war warm, und es roch nach Harz und sonnengekochten Heidelbeeren. Anna blieb stehen. Starke Erinnerungen ergriffen sie bei diesem Duft und Anblick, und sie fing an, Lukas von ihrer Kinderheimat in Rüti zu erzählen, und dabei wurde sie froh und lebendig wie ein wirkliches Kind. Und Lukas ging darauf ein und erzählte seinerseits von seiner Heimat, dem Städtchen am Eingang des Oberlandes mit seinem alten Schloß und herrlichen See, und von den Bergen, die er so sehr liebte, und von Alpenrosenfeldern, die sich breiteten wie diese Waldlichtung hier, nur herrlicher, mit glühendem Not und einem solchen kühlen, würzigen Duft. Anna lauschte voll Staunen. Niemals hatte sie den kargen Lux so reden gehört. Es tönte anders als bei Giulio, gewiß; nicht in vollen und blühenden Worten, die einen umfingen wie Musik und berauschten und entrückten. Die Sätze formten sich knapp in Lukas' festem kleinem Mund und folgten sich fast zögernd; aber immer fand er den träfen Ausdruck, und aus seiner abgewogenen Rede flossen die Bilder nicht minder farbig und reich denn aus Giulios süßen, zündenden Tiraden. Anna betrachtete den Erzähler verstohlen von der Seite. Er ging mit leise vorgebeugtem Kopf, die grünen Augen niederwärts mit einem merkwürdigen heißen und doch klaren Blick, als ob er nach innen schaute, und seine Stimme hatte einen eigenen Ton, spröde, ein wenig klirrend. Anna mußte beim Klang dieser Stimme an Gletscherbäche denken, die spärlich fließen und Eis mit sich führen und feines schieferndes Geröll. Und dann erinnerte er sie wieder an jene knorrigen Bergtannen, die einsam stehen, irgendwo auf einem steilen Felsen, wo die Luft kalt ist und rauh und der Boden karg, und die solch zähen Willen haben und wetterhart sind und stolz. Und hatte er nicht auch etwas von den Gemsen an sich, von denen er eben erzählte, mit den geschickten Füßen, den kleinen festen Köpfen und den großen Augen, die so klar waren und so scharf?

So scharf!

Auch heut noch, da sie doch als gute Freunde nebeneinander gingen, waren ihr diese Augen oft fast unheimlich, und wann ein schmaler Pfad sie zwang, hintereinander zu gehen, war ihr immer, als ob sie die Blicke des Nachfolgenden auf sich fühlte, wie etwas Heißes, schier Lähmendes. Deshalb trat sie, als nun der Weg wiederum in üppigem Unterholz sich verlor, rasch hinter ihn: »Diesmal geht Ihr voran.«

Er gehorchte mit einem eigentümlichen Lächeln. Die Zweige schlugen immer enger über ihnen zusammen, sodaß sie sich förmlich durcharbeiten mußten. Lukas faßte jeweils die vorwitzigsten und gab sie Anna in die Hand, damit sie nicht zurückschnellen konnten. Einmal berührten sich ihre Finger.

»Was habt Ihr kalte Hände, Anna!«

»Und die Euern sind warm wie Öfelein,« gab sie lachend zurück.

»Wohlan, Ofen sind da, um zu wärmen!« Schnell haschte er ihre Rechte und zog dann auch die Linke nach. Anna wehrte sich: »Ich habe nicht kalt!« Aber er preßte die beiden weißen Hände mit solcher Gewalt zwischen seine festen Finger, daß an ein Entrinnen nicht zu denken war.

»Oh, habt Ihr gewaltsame Tatzen und heiß!« Anna lachte, dann aber fühlte sie, wie eine starte, seltsame Wärme über ihre Finger schlug und langsam nach der Handwurzel kroch. Und nun ging es plötzlich wie in einer glühenden Welle über den ganzen Körper und zog ihr das Herz in einem schmerzhaften Krampf zusammen, daß ihr der Atem verging.

In diesem Augenblick ließ Lukas ihre Hände los, jäh, als ob er sich daran gebrannt hätte. Anna sah ihn erschreckt an. Sein Gesicht war verändert, blaß, mit verschatteten Augen.

»Wie kann man auch, kalte Hände bei der Hitze,« sagte er rauh, schier zürnend; »das kommt von Euerm unsinnigen Leben, taugt eben doch nicht für das Frauenzimmer!« Langsam wandte er sich und schritt schwerfällig voran und bohrte den gesenkten Kopf durch das Buschgewirr, ohne die Hände zu gebrauchen, sodaß ihm die Zweige von links und rechts ins Gesicht schlugen, und ohne sich nach Anna umzusehen, die sich tapfer durchs Dickicht arbeitete.

So war es lange ein stummes Wandern, auch dann noch, als das Gestrüpp sie entließ und ein ernstgeschlossener Tannenwald mit feuchtem Moosgeruch und kühlen dunkelgrünen Lichtern sie aufnahm; denn hier konnte man erst recht nicht sprechen, in dieser feierlichen Ruhe, die sich erhaben und süß und mit einer wohltuenden Frische um die heißen Schläfen legte.

Wie köstlich es sich wanderte über den weichen Grund hin mit kühl gebetteten Füßen und mit dem würzigen Tannenduft in der Brust. Ach, und irgendwo sang ein Pirol, weich und klar und mit dem gleichen goldenen Schmelz in der Stimme, den die verlorenen Sonnenlichter über die dunkeln Mooskissen warfen. Wie man es da auf einmal fühlte, mit einem holden, freudigen Schreck, was es heißt, jung sein und das Leben noch vor sich haben mit seinen dunkelgrünen Geheimnissen und güldenen Verheißungen, und was es heißt, selbander jung sein und den Widerschein der eigenen Gefühle im Auge des andern lesen!

Sie gingen wieder nebeneinander. Bald auf gemeinsamem Pfade, nahegerückt, daß ihre Arme sich berührten, bald auf verzweigten Weglein, die zwischen den schlanken schuppigen Stämmen sich grüßten und suchten wie Menschen, die ein Wille demselben Ziele zutreibt.

Als der Tann sich schloß und ein alter Buchenstand mit heller Kuppel frohmütig sich auftat, blieben sie beide unwillkürlich stehen und blickten aufatmend noch einmal die verschatteten Pfade zurück, als ob diese etwas Wundersames umschlössen, irgendein süßes Geheimnis, von dem man nicht reden konnte und das doch die Brust füllte.

Der Buchenwald lehnte an eine nicht sehr hohe Felswand. Eine tiefe Spalte lief senkrecht durch das Gestein und öffnete sich unten zu einer weiten grottenähnlichen Höhle, in die von oben mit silbernen Schleiern ein kleiner Staubbach hereinfiel, der sich am Grund in einem klaren grünumwucherten Wässerlein sammelte.

Anna blieb überrascht stehen: »Da kann ich mir die Nymphe Egeria nicht vorstellen.«

»Ich denke auch nicht,« erwiderte Lukas mit verschmitztem Lächeln, »daß ihre Grotte so ausgesehen habe.«

»Aber warum führt Ihr mich alsdann her?« Anna blickte ihren Gefährten halb entrüstet an, aber er lachte weiter:

»Ist das etwa nicht schön und malenswert, Anna? Muß es denn jedenfalls das langweilige römische Frauenzimmer sein? Und gar der schwächliche König, der nicht auskommen kann ohne Weibesrat, was braucht Ihr den? Lohnt sich's nicht, diesen lieblichen Ort zu malen und um seinetwillen irgendein holdes Wesen zu erfinden, etwan eine jagdmüde Diana, die des kühlen Quells sich freut, oder eine blumenstreuende Flora oder gar Venus mit ihren Liebeskindern? Denkt, wie diese sich an der grünen Herrlichkeit aufs anmutigste delectiren würden!«

Es war wohl nichts dagegen zu sagen. Da war man nun, und die Gelegenheit war schön, das ließ sich nicht bestreiten. Das rötliche, feuchtglänzende Gestein und die seinen Wasserschleier vor der dunkelgrünen Höhle, in denen sich die Sonnenstrahlen siebenfarbig brachen, und gar die zarten, hellgrünen Zweiglein, die vom Felsen niederhingen – und dann die Farne rings und die großen dunkelblauen und weißen Glockenblumen, alles übersprüht von den glitzernden Wasserperlen und von zahllosen Schmetterlingen umspielt – ja, es war schön! Anna vergaß darüber die erste Enttäuschung. Rasch packte sie ihre Geräte aus, Papier und Reißblei und die kleinen Farben, und machte sich auf einem bequemen Steinblock zurecht. Und dann arbeitete sie, und alles um sie versank, was nicht zu dieser Arbeit gehörte. Auch Lux war nicht mehr da für sie. Was kümmerte es sie, daß er seine eigene Zeichnung bald aufgab, daß er unruhig hin- und wiederging, sich zuletzt neben sie aus den Boden warf und sie unverwandt betrachtete? Sie sah nichts mehr als diese herben, feucht übertauten Felsen, diese Blätter und Blumen in ihrer verwirrenden Fülle und Formenpracht und ihr armes weißes Papier, auf dem sie all das festhalten wollte, irgend in einer Weise, daß der Abglanz von jener Schönheit dort bleiben konnte.

Nur ungern ließ sie sich stören, als Lukas das kleine Mittagsbrot hervorbrachte, und erst als die Schatten länger wurden und mählich ein violetter Schimmer in die Bläue des Himmels drang, legte sie mit einem Seufzer die Sachen zusammen. Sie war noch lange nicht fertig; aber Lux lachte sie aus: als ob das möglich wäre in so kurzer Zeit! Er bewunderte ihre Arbeit, gegen die er als ganzen Erfolg der vielen Stunden nur ein kleines Bildchen zu halten hatte, einen Profilriß, in dem Anna unschwer sich selbst erkannte.

»Wir müssen eben wiederkommen, morgen oder übermorgen!« Und er schaute Anna mit fröhlichen Augen an. In einem nahen Bauernhaus, das am Bächlein zwischen mächtigem Huflattich am Waldrand unfern der Höhle lag, gaben sie ihre Geräte ab, um sie fürs nächste Mal nicht hin- und wiederschleppen zu müssen; dann zogen sie auf einem kleinen Umweg, der sie um Tannenwald und Dickicht herumführte, der Waldlichtung zu, von wo der Pfad steil und gerade durch das erste Waldstück stadtwärts lief.

Am Waldausgang blieben sie einen Augenblick stehen und blickten nach der Stadt hinunter, deren spitze Zinnen rot aufleuchteten. Lukas wies auf den Taumantel zu ihren Füßen, der nun leer mit trockenen müden Blättern dastand. »Und nun hat er uns Glück gebracht oder nicht?«

Anna sah ihn froh an: »Es war ein schöner Tag Lux, ich dank' Euch dafür!« Dann reichten sie sich die Hände, die warm und kräftig ineinander griffen und liefen wie zwei frohe Kinder Hand in Hand über die abendlichen Felder hinunter der Stadt zu: »Morgen gehen wir wieder!« Und der rot dampfende Abendhimmel warf einen leuchtenden Schein in ihre jungen Gesichter.

Aber über Nacht verdichtete sich der rote Abenddunst zu einer schwerhängenden Wolkendecke, die auf lange hinaus so reichlichen Regen spendete, daß an ein Aufsuchen der Grotte nicht mehr zu denken war.

Und dann kam Sibylla zurück. Sie brachte ein schönes welsches Bäschen mit sich, das sie wie ein höheres Wesen anbetete; alles andere und auch die Schmerzen der Vergangenheit schienen vor dieser Schwärmerei in den Hintergrund zu treten. Anna kam sich recht abgesetzt vor in ihrer Freundschaft, was sie indes nicht sonderlich betrübte. Im Gegenteil, das frohe und laute Wesen der hübschen Französin, die unter einem herrlichen, schier frechen Goldhaar ein feines mutwilliges Gesichtlein und allerlei fröhliche und ausgelassene Einfälle trug, zog so ganz alle Aufmerksamkeit und alles Leben an sich, daß Anna umso ruhiger sich und ihren innersten Gefühlen leben konnte, und dazu hatte sie gerade in dieser Zeit ein niegekanntes Verlangen.

*

Bereits waren die ersten mattglänzenden Septembertage erschienen, und ein leiser wehmütiger Hauch lag in der Luft, wie von Welken und Abschiednehmen, als Anna und Lukas endlich ihr unterbrochenes Werk bei der grünen Grotte wieder aufnehmen konnten. Diesmal waren sie nicht allein. Christoph und die beiden Mädchen waren auch von der Partie, und im letzten Augenblick hatte sich noch der junge Morell ihnen angeschlossen, der, seiner Studien wegen in Bern verblieben, seit Sibyllas Rückkehr ein steter Gast im Wernerschen Hause war. So kam es, daß der Wald diesmal von fröhlichem Geplauder und manchem übermütigen Lachen widerhallte. Nach und nach blieben Anna und Lukas zurück, und als sie durchs Dickicht gedrungen waren, fanden sie sich durch den ganzen tiefen Tann von den andern getrennt, die in neckischem Spiel über die dunkeln Wege davongejagt waren und nun allbereits den hellen Buchenwald erreicht hatten. Einen Augenblick blieben die beiden stehen; dann griff Lukas verstohlen nach Annas Hand:

»Du Liebes, du, wie schade, daß wir nicht allein sein können!«

Aber Anna lächelte: »Es ist auch so schön, Lux, wir sehen uns ja und kennen eins des andern Gedanken, und die Erinnerungen, die nun reden ... Weißt, hier hat es eigentlich angefangen!«

Lukas preßte ihre Hand: »Für dich vielleicht, für mich viel früher.« Sie sah ihn mit glücklichen Augen an, und während sie stumm weiterschritten und ihre Hände in leisem Druck und Gegendruck redeten, dachte sie immer und immer wieder über das Wunderbare nach und wie es hatte kommen können, daß dieser Jüngling da ihr nun auf einmal so lieb geworden – wie ein Bruder und anders noch, vielleicht noch mehr, und daß diese Liebe etwas so Schönes und Helles war, wie der klare Himmel, von dessen Widerschein die ganze Welt leuchtet und das tiefste Wasser erstrahlt.

Vom Buchenwald her, dem sie sich langsam näherten, tönte der Französin reizendes Lachen. Lukas fuhr zusammen. »Daß die mitmußten mit ihrer lauten Fröhlichkeit und dem exagerierten Tun! Ah, ich möcht' mit dir allein sein!«

Aber Anna schüttelte den Kopf: »Ich bin so vergnügt, daß Sibylle wieder froh ist – und dann – es ist schön neben der lauten Lustbarkeit unsere stille Freude, von der keiner weiß.«

Lukas sah ihr ganz nahe in die Augen: »Möchtest du nicht allein sein mit mir, ganz allein auf einer menschenleeren Alp oder auf einer Insel im weiten Meer?« Sie schaute ihn erstaunt an; es war etwas Heißes in seinem Blick, das ihr langsam das Blut in die Wangen trieb. Rasch löste sie ihre Finger aus seiner Hand: »Unsere Freundschaft ist schön und klar wie der Tag und darf sich dem hellen Tag und allen zeigen.« Und leichtfüßig durchschritt sie die letzten Tannenreihen, die sie vom Buchenwald trennten.

Vor der Grotte erwartete sie ein seltsames Schauspiel. Da der von herbstlichen Nebeln feuchte Waldboden den Mädchen keinen günstigen Sitz bot, hatte die Französin kurzweg angeordnet, daß die Kavaliere ihre Mäntelchen auf den Boden spreiteten als Teppich für die Demoisellen, und hatte ihnen als Entgelt dafür gestattet, sich dermaßen zu lagern, daß sie ihre Häupter im Schoß der Schönen betten konnten, und während der junge Morell sein blasses Gesicht selig und errötend in Sibyllas himmelblaues Kleid drückte, zog die rasche Französin Christophs widerstrebenden Flammenkopf in die Falten ihres blaßfarbenen Gewandes, ihm zugleich für seinen Mangel an Galanterie einen leisen Nasenstüber verabfolgend, so daß er sich lachend fügte.

Der Anblick war Anna peinlich, und als sie nun von allen Seiten aufgefordert wurde, dem Beispiel der andern zu folgen, und Lukas sie fragend und dringlich anblickte, warf sie hochmütig den Kopf zurück: »Ihr habt vergessen, daß wir gekommen sind um zu arbeiten.« Dann holte sie mit Lukas vom Bauernhaus herüber ihr Gerät, das unversehrt war, aber einen starken Geruch von Kuhstall und Käse an sich trug; den Anna nicht ohne Rührung wahrnahm, schlug ihr doch mit diesem Duft ein ganzer Schwall lieber Erinnerungen aus ihren Rüti-Kindertagen entgegen. Sie machte sich ans Werk, und mit Staunen betrachtete sie ihre frühere Skizze. Sie war besser, als sie geglaubt hatte, und ach, wie lieb sie das Blatt ansah! Ob wohl einer fühlte, was alles darin stand für sie?

Lukas sah ihr über die Schulter: »Es ist schön,« sagte er leise, und da wußte sie, daß es auch zu ihm dasselbe sprach. Wie köstlich war das, dieses Verstehen ohne Worte! Es wurde ihr jubelnd leicht ums Herz, während sie nun aufmerksam und voll Eifer ihre Arbeit fortsetzte und ergänzte, und wiederum versank die Welt davor, sodaß sie all das übermütige Treiben um sich nicht mehr gewahrte. Nur dieses Gefühl blieb ihr wie eine leise innige Melodie und führte ihre Hand, daß sie sicher und kühn wie in einer Bezauberung den Stift führte. Einmal trat die Französin vor die Grotte und suchte in einem Becherchen den niederfallenden Wasserstrahl aufzufassen. Zuerst war Anna unwillig aufgefahren, als ihr das Mädchen so plötzlich in den Blick trat; dann aber sah sie überrascht hin: Wie wundervoll das Gold des Haares vor der dunkeln Höhle stand und wie lebhaft die herbstlich geröteten Blätter der niederfallenden Ahornzweige ihm antworteten, und überhaupt die ganze reizende Gestalt im blassen Kleid zwischen den halberloschenen Glockenblumen! Das war schön – schön! Schöner konnte die Nymphe Egeria nicht sein. Anna durchzuckte es: Ja, das war das Bild, das sie malen mußte. Eine Reihe von Schäferstücken schwebte ihr vor, die sie bei Herrn Werner gesehen; so etwas sollte es werden. Sie rief dem Mädchen zu, daß es sich eine Zeit lang ruhig verhielte, und dann zog sie ein neues Blatt hervor und ließ mit flinken Fingern das Blei darüber gleiten.

Noch nie hatte sie so gezeichnet! Jeder Strich saß, und mit fast wunderbarer Schnelligkeit und Kraft wuchs die Skizze unter ihren Händen hervor, die das entzückende Bild dort festhielt.

»Du zauberst, Anna!« Lukas beugte sich über sie, während sie mit dem Farbstift die nötigen Töne aussetzte.

»Das macht wohl das Glück,« antwortete sie leise und ohne aufzublicken. »Alles geht nun so leicht, ich meine, alles muß mir gelingen, das Glück macht hellsehend.«

»Mich nicht,« antwortete Lukas dumpf. »Ich sehe nur eines mehr, und davor vergeht mir die ganze Welt. Schließlich werde ich noch ein rechter Stümper.« Er lachte kurz und zerriß jäh das Skizzenblatt, auf das er ein paar mühsame Formen hingezeichnet hatte, in hundert Fetzen.

Früher als voriges Mal verließen sie den Ort. Die beiden Mädchen, denen das lange Verweilen an derselben Stelle langweilig wurde, drängten zum Aufbruch. Der Abstieg gestaltete sich wiederum zu einem fröhlichen Spiel, in das nun auch Anna und Lux hineingezogen wurden. Auf einer kleinen eichenumbuschten Kanzel über dem Wald rastete die Gesellschaft noch einmal. Der Blick über das Aaretal tat sich vor ihnen auf und zeigte das weite Land von den Alpen bis zum fernhin verklingenden Jura silbernübergossen vom matten Glanz des sinkenden Septembertages. Und ernst, mit tiefen Schatten zwischen blitzenden Zinnen lag die gedrängte, fest umschlossene Stadt in dem stillen Glänzen da, mächtig und kraftvoll wie die Alpen drüben in ihrer gesammelten Größe.

Anna lehnte sich an den Stamm einer Eiche, die etwas erhöht über dem Känzelein stand, und blickte in das herrliche Bild. So vertraut alles und doch neu, als ob sie es heute mit andern Augen sähe. Oder war es, weil sie die Kraft, die diese Landschaft ausströmte, wie keine andere, in den eigenen jungen Gliedern fühlte, daß ihr heute alles so anders vorkam? Sie suchte die geliebten Orte, das Gärtchen an der Junkerngasse, wo Giulio seine Lieder gesungen, und den Obstgarten, wo sie mit Herrn Morell die reichen Stunden verlebt hatte. Soviel Schönes schon vorüber, und doch konnte sie ohne Schmerz daran denken, heute schien ihr ja alles nur wie Vorspiel. Sie sah nach der Jungfrau hinüber, die mit bläulichen Schatten fast schemenhaft dastand, aber hoch, übermächtig hoch. Herrn Werners Wort fiel ihr ein. Ja, wie war es nun, war sie vielleicht kleiner geworden, weil dieses Große über sie gekommen? Sie lächelte. Nein, nein, stärker bloß und freier; es war wie bei einer Pflanze, die man an die Sonne gestellt: auf einmal werden die Blätter dunkelgrün und glänzend und groß, und die Knospen brechen auf. Ja, so war ihr, als ob sie höher wüchse über alles hinaus, und sie grüßte still zu der schimmernden weißen Riesin hinüber, als ob sie sich schwesterlich verstünden.

Die andern jagten in einem improvisierten Fangspiel durch den steilen Hohlweg hinunter, der rasch im Walde versank. Sie sah ihnen nach, als ob sie das nichts anginge, immer noch betrachtete sie das herrliche Bild.

Da tauchte in der Öffnung des Hohlweges Lukas wieder auf: »Den Weg hinunter tollen sie, schon weit. Wir sind allein, Anna.« Er stand dicht vor ihr, sein Gesicht war erregt, die Augen fieberten. »Die andern fangen sich und halten sich mit Armen; Anna, sei lieb, nur ein einziges Mal küsse mich!« Er umfaßte mit heißen Händen ihre kühlen Arme und suchte sie an sich zu ziehen; aber Anna befreite sich mit einer raschen Bewegung und eilte nach der andern Seite der Kanzel, wo sie mit abwehrenden Händen stehen blieb:

»Wann du das noch einmal tust, Lukas, dann ist alles fertig!« Sie zitterte, und ihre Augen standen dunkel in dem weißen Gesicht. Lukas, der ihr zuerst nachgeeilt war, blieb stehen; dann stampfte er zornig den Boden: »Oh, du bist kalt, kalt wie keine andere, du hast kein Herz, du weißt nicht, was Liebe ist!«

»Liebe?« Anna sah ihn innig an. »Liebe, oh, etwas so Schönes, etwas so Großes, viel zu herrlich, als daß das andere daran rührt, das Gemeine, das alles herunterzieht!«

»Gemein?« Lukas sah düster vor sich hin mit dem alten bösen Spottlächeln. »Und doch hat sich eine gewisse Jungfer an einem Neujahrstag von einem gewissen Herrn Morell küssen lassen.«

»Schäm dich, Lux!« Anna richtete sich zornig hoch auf. »Herr Morell ist mir wie ein Vater; aber das hier, wann's geschehen wär' – häßlich, häßlich! Verachten müßt' ich dich!«

»So?« Lukas lachte hart heraus. »Verachten? Willst mir's am Ende machen wie dem Adam?«

»Was weißt du von Mörikofer?« Aus entsetzten Augen blickte sie den andern an. Der schien sich an ihrem Schreck zu weiden mit einer Art grausamer Freude. Dann lehnte er den Kopf an die Eiche und sah weit vor sich hin nach der Ferne und hub zu berichten an, mit einer gleichgültigen Stimme, als ob er ein Märlein erzählte:

»Dies weiß ich: Es war eine schwüle Maiennacht, der Föhn ging, und im Garten roch der Flieder. Da machte die Amsel, die im Holderbaum nistete, grad über der Mauer, auf einmal einen großen Lärm. Solches vernahm das Mägdlein droben in der Turmkammer, und weilen es so ein weich Herz hat, daß es keines Vögleins Angstruf hören kann, ohne ihm alsbald zur Hilf zu eilen, sprang es mitten in der Nacht die Treppen hinunter, bloß lützel angetan, mit kurzem Röcklein und offenen Haaren, daß sie hinter ihm her wehten gleich einem dunkeln Seidentuch. Und mit nackten Füßchen stieg's auf die Mauer – die standen zweien weißen Täubchen vergleichbar auf dem dunkeln Rand – und suchte nach der bösen Katz. Erst beim Nestchen im Holderbaum, und dann überall durch den Garten hin; da es aber nirgends was entdecken könnt' und die Amsel mit der Zeit sich auch heimfand und beruhigte, schlich es endlich wieder zurück ... Derweil aber hatte sich im Gartensaal einer versteckt, den der Föhn nimmer schlafen ließ; der lauerte dem Täubchen auf, und da es nun arglos an ihm vorbeihuschte, überfiel er es und griff nach ihm und wollt' es küssen. Aber sieh, da ward aus dem Täubchen ein wilder Falk, und der Räuber flog mitten in die Stube heraus, grad über sein lahm Bein, daß er kläglich am Boden lag. Und da wurd' das Mägdlein ganz groß: ›Morgen ist Freitag,‹ sagte es mit harter Stimme; ›wann Ihr am Sonntag noch da seid, vernimmt es der Meister!‹ Am Samstag ist dann der Adam verreist, und es hieß, sein Oheim hätt' ihn plötzlich zurückgerufen.«

Anna schlug die Hände vors Gesicht: »Oh, häßlich, häßlich!« Und dann besann sie sich: »Heiliger Himmel, woher weißt du das, Lux?«

Immer noch stand er mit abgewandten Augen da, sodaß sein scharfes Danteprofil mit harten Linien in die Luft stach; dann fuhr er fort im selben Tone: »Der Räuber, so die Amsel erschreckt, war keine Katz, war ein mutwilliger Junge, den es gelüstete, ein gewisses stolzes Fräulein aus dem Schlaf zu wecken; aber« – er zögerte und wandte sich dann plötzlich Anna zu, und etwas leuchtete in seinen Augen, und etwas bebte in der Stimme – »aber als du kamst, kein stolz Fräulein, ein lieb Dirnlein bloß, das die Barmherzigkeit trieb, dem armen Vogel zu helfen – ach, da gingen mir die Augen aus, daß ich dich sah, wie du bist, ein lieb schön Geschöpf wie andere Mägdlein auch, nur viel besser noch, und daß das nichts war mit dem fürnehmen und überheblichen Frauenzimmer. Schau, ganz nah warst mir, ich saß auf der Mauer im Efeu – und du grad neben mir ganz nah – die weißen Füßchen – und das Haar, schier mir ins Gesicht trug's der Wind – und das war der Föhn, ja, und mein Herz war auf einmal aufgesprungen wie der Fliederblust über Nacht – Und der Adam, getötet hätt' ich ihn, wann du dich nicht selbst so tapfer gewehrt!«

Ganz still war Anna dagestanden, mit gesenktem Kopf, und die Arme hingen ihr hernieder.

»Oh, wie ich mich schäme,« sagte sie leise wie unter einem Zittern, »das hättest du nicht sehen dürfen, du nicht!« Aber dann hob sie langsam das Gesicht: »Lux,« und es klang dringend, schier angstvoll, »das vorhin, weißt du nun, warum ich es nicht will, und daß dann alles, alles dahin sein müßte und zerstört? Oh, nichts Gemeines, nichts Häßliches nicht, ganz klar soll es sein, ganz hell!«

Lukas wollte ihr widersprechen; aber da er in ihr weißes Gesicht blickte mit den großen verschatteten Augen und schier schmerzhaft der rote Mund, erschien sie ihm auf einmal seltsam fremd, wie etwas Hohes und Unberührbares, dem man sich nur mit ehrerbietigen Gedanken und andächtigen Gefühlen nahen darf. »Ich will dir gehorsamen,« sagte er leise. Und dann reichten sie sich die Hände, stumm, wie zu einem Gelöbnis, und wortlos stiegen sie selbander den Hohlweg hinunter.

Ganz klar, ganz hell – ja, so war es nun allenthalben. Wie im Morgenduft die ganze Welt mit zarten leuchtenden Fernen. Und im Himmel ein Singen – oder war es in der eigenen Brust? – so leicht und schwingend wie Schwalbengezwitscher. Und wie ein Frühlingstag das Leben, wann die Luft blau ist und voll vom Harzgeruch der springenden Knospen und einem die Augen groß werden und die Hände frei, daß man tun möchte wie die schaffende Erde, die ihren Segen spendet unermeßlich. So schöpferisch, so gebend war auch Anna zumute. Niemals zuvor hatte sie so gearbeitet wie jetzt. War es nicht, als ob die Hände den Pinsel anders führten, sicher und leicht, und flossen ihr nicht die Bilder von selber zu? Und dieser neue Farbenauftrag, den Herr Werner eine staunenswerte Erfindung nannte, hatte sie ihn nicht an jenem Morgen zuerst angewandt, als sie Lukas' erstes Gedicht unter dem Elfenbeinplättchen ihrer Farbenschachtel gefunden? Da war es ihr auf einmal gekommen, daß sie die Farben ganz hell nehmen mußte, mit so feinen Übergängen, weich, weich, und da war auch plötzlich das Schmelzende drin gewesen, das ihre neuesten Bildchen wie mit einem fremden und eigenen Hauch überzog, der sie selbst entzückte. Ah, die Entdeckung, daß Lukas ein Dichter war, wie sie das berauschte und ihre eigene Liebe in ein höheres Licht setzte! Ihr selbst war diese Welt verschlossen. Alles wurde ihr zu Farben und Formen; umso mächtiger ergriffen sie die Töne, die von andern auf sie zuflossen. Und Lukas' Gedichte, das war kein wortreich Geschwätz, wie man solches nun allenthalben vernahm – die klangen wirklich, sie hatten Töne: oft metallisch und kurz, wie vom Hammer der Schmiede, wann die Funken sprühen, oder weich und leise wie ein Abendwind oder kühl wie das Plätschern des Kahnes, der mit langhinrauschenden Rudern durchs Wasser zieht. Oft waren sie herb und bitter wie Meister Erobs kühn geschleuderte Verse, oft süß und still wie die Lieder des Simon Dach. Und irgendwie sah ihr aus jedem ihr eigenes Bild entgegen, nur zart und fern wie unter einem Schleier, oder wie verklärt durch die Liebe des andern. Und da es nun immer von solchen Liedern in ihr klang wie von einer süßen, ewigen Melodie, war es zu verwundern, daß ihr die Arbeit glückte und daß die Farben weich wurden und schmelzend? Schon dem Bilde mit der Nymphe Egeria hatte Herr Werner ungeschmälertes Lob gespendet, und mit heißer Freude hatte sie es Herrn Morell zugeeignet. Aber das andere, das Schäferbildchen, war doch noch etwas anderes geworden. Der ganze Waldzauber und das Glück ihrer jungen Liebe war da hineingegangen, sie wußte selber nicht wie, und sah sie nun mit feuchtschimmernden Augen daraus an. Halb im geheimen und ohne Wissen des Meisters hatte sie neben der respektabeln Egeria das Werklein geschaffen, mit Hilfe ihrer Skizzen und der zierlichen Französin, die ihr gerne den Prunk ihres Haares und die Linien des schlanken, leicht geschürzten Figürchens preisgab. Als Herr Werner das Bild sah, hatte er zuerst eine ganze Weile geschwiegen, und dann war er losgebrochen: » Ventre-saint-gris, was ist das, seid Ihr bei einem leichtfüßigen modischen Franzosen in die Lehr gegangen, daß Ihr so unwernerisch malt!« Aber dann hatte er doch geschmunzelt: »Verdammt nobel ist er, der Helgen, zum Donner, und gefallen wird er,« und hatte nachdenklich beigefügt: »Wunderlich, wunderlich, es ist, als ob gewisse Sachen in der Luft hingen und die Jugend darnach schnappen müßt ... Gut, daß Ihr bei Wernern ein tüchtig Fundament gelegt mit Zeichnen und ernsthaften Wissenschaften, Waserin, ansonst Euch solche Sprung gefährlich werden könnten!« Anna aber liebte dies Bildchen wie ihre Liebe, und neue Eingebungen gingen ihr davon aus und füllten ihre Phantasie mit Blumen und Sommerjubel, derweil draußen sachte der Winter niederging und die kurzgedrängten Tage sie zu doppeltem Fleiß anspornten.

Mit Lux war sie selten mehr allein. Christoph arbeitete ebenfalls unermüdlich und war die kurzen Tage und langen Abende im Atelier und in der lampenerhellten Zeichenkammer ihr steter Gefährte, bis man selbander in die Stube hinunterstieg, wo Anna sich neben Frau Werner und Sibylla ans Spinnrad setzte und man unter allgemeinem Geplauder die Schlafenszeit erwartete. Und Anna begehrte es nicht anders: hatte sie nicht Lukas' Gedichte, und konnten sie sich nicht mit Augen sagen, was für Christophs Ohren nicht bestimmt war? Daß man sich sah und verstand und sich eins dem andern nahe fühlte, was brauchte es mehr? Aber Lux schien anders zu denken. Eine merkwürdige Wildheit war oft an ihm, eine Spannung und Aufregung, die er nicht selten an Christoph ausließ. Was aber Anna am meisten auffiel und sie fast erschreckte – er arbeitete ungleich, zerstörte oft das eben Geschaffene oder gab ein angefangenes Werk mit leichtsinnigen oder düstern Worten wieder aus. Und als sie ihn einmal voller Besorgnis zur Rede gestellt, hatte er ihre beiden Hände genommen und sie gedrückt, so fest, daß sie hätte schreien mögen, und dann hatte er seltsam gelacht mit gequälten Augen: »Zeig einem Verdürstenden den Quell: Sieh, da sprudelt er, ganz nah und so hell und kühl, schad' nur, daß ein Abgrund dich davon trennt! Und dann wundre dich, wann die Qual ihn zu Boden wirft! Verstehst nicht, daß ich's nicht aushalten kann so?«

Aber bald darauf konnt' er wieder froh sein und etwas ganz Liebes sagen, das so schlimme und rätselhafte Worte auslöschte.

Einmal jedoch fiel auch Herrn Werner sein Gebaren auf: »Was ist mit dir, Stark, willst auf deine alten Tage ein Schindluder werden und Vaurien?« Da hatte Lux sich hoch aufgerichtet, und sein schmaler Dantekopf hatte einen fremden und harten Ausdruck angenommen:

»Weil ich keinen Atem mehr hab' und mir die Händ gebunden sind, Meister, kann ich nimmer schaffen; es ist mir zu eng hier!«

Und Herr Werner hatte ihn fast besorgt angeschaut: »'s ist wahr, lang bist nun dagewesen, ein wenig hinaus solltest, dann werden dir nachher die vier Wänd wieder besser behagen!« Und es fiel ihm ein, daß er einen Auftrag hätte an den ehrenwerten Herrn Lukas Hofmann, Goldschmied und Kunstliebenden zu Basel, den sollte ihm Lux ausrichten, daß er ein wenig an die Luft käme und unter Menschen. Mit Lebhaftigkeit ging dieser auf den Vorschlag ein, und so verreiste er denn kurz vor Weihnachten, Basel zu, um dem bekannten Kunsthändler ein paar neue Miniaturen Herrn Werners, Annas Schäferbildchen und seine eigene Radiererkunst anzubieten.

Kurz war der Abschied von Anna. Als sie am Morgen seiner Abreise ihr Stübchen verließ, stand er unten aus der kleinen Treppe: »Leb wohl, du, und denk an mich, ich komm' bald wieder!« Und dann nahm er plötzlich ihre Hand an den Mund und küßte sie ganz heiß, daß es beinahe war wie ein Biß, und dann stürzte er fort, und sie blieb in der dunkeln Ecke zurück, und das Herz war ihr schier stillgestanden vor Schreck, die Hand aber zitterte und brannte wie Feuer.

Da war es wohl, um dieses Feuer zu löschen, daß sie die Hand leise heraufnahm und ihre Lippen darauf drückte, bang und hastig, gerade dorthin, wo es so brannte. Aber das Brennen wollte lange nicht weichen und ging ihr lähmend über die Finger, daß sie oft mitten in der Arbeit den Pinsel weglegen und diese weiße Hand betrachten mußte, ob denn nicht ein Mal darauf stand, feuerrot und heiß.

Es war still geworden im Wernerschen Hause. Auch die Französin war ausgeflogen eines Morgens und hatte das fröhliche Lachen mit sich genommen, und den jungen Morell sah man nie mehr. »Er hat einmal auf Giulios Laute gespielt,« erzählte Sibylla; »da hab' ich gewußt, daß ich ihn nie lieben könnt', und hab' ihn weggeschickt.«

Die beiden Mädchen schlossen sich wieder enger zusammen. Sibylla redete von Giulio mehr denn je, und anders als früher, stiller und weichmütig, und Anna hörte ihr willig zu. Manches verstand sie nun besser, und oft meinte sie, daß jene von Lukas und ihrer Liebe redete, aber niemals sprach sie von sich. Wie eine Entheiligung wäre es ihr vorgekommen; nur wohl tat es ihr, aus Sibyllas Mund Dinge zu hören, die auch ihr Herz erfüllten; denn auch ihr Glück hatte durch die Abwesenheit des Geliebten etwas Wehmütiges bekommen. So gingen die Feiertage vorbei, still und ohne Klang, und dann, Ende Januar kam ein Brief aus Zürich, der Anna plötzlich aus ihren Geleisen sprengte.

Ein Unglück hatte ins Wasersche Haus eingeschlagen: Marias Bräutigam war gestorben, plötzlich und furchtbar. Anna wußte nicht wie, aber sie fühlte, daß etwas Grauenvolles hinter diesem Tod stand. Und nun fürchtete man für Maria, und auch die Mutter war krank: »woraus du wohl begreifen magst,« schrieb der Vater, »daß deine Anwesenheit hier vonnöten, weilen ein frischer Geist und hilfreiche Händ in unserem betrübten Haus, solches der Herr also geschlagen, wohl zu brauchen und andererseits deine Lehrzeit, die du also gut ausgenützet, nun füglich ihr Ende erreicht hat.« Und er nannte Fahrgelegenheit und Stunde der Abreise – sie lag drei Tage über die Ankunft des Briefes hinaus.

Anna war niedergeschmettert. So vieles sollte sie auf einmal fassen, wovon sie nicht eines begreifen konnte. Jacob Cramer tot, ausgelöscht, und nie mehr würde sie diesen merkwürdigen Mann mit den warmen gütigen Augen und dem bitteren Lächeln wiedersehen, der seit ihrer Kindheit der Gast des Hauses gewesen. Im Frühjahr noch hatte er sie hier besucht mit Rudolf zusammen. Wie sie alles wieder vor sich sah: Auf der Plattform standen sie zusammen und schauten nach den Alpen hinüber. Ihr war das Herz sehr von Giulios Tod und von allerlei Zweifeln, die in ihr schafften. Davon sagte sie etwas zu den beiden. Da sah sie ihr Schwager mit einem großen Blick an: »Tod, oh, das ist noch lang nicht das Schlimmste, selbst wenn er tausend Martern in sich trüge; aber leben, leben mit toten Kräften, im Sarg liegen mit steifen Gliedern und über sich das Himmelsblau sehen und das Herzblut fühlen und nicht herauskönnen – das ist Märtyrertum; was zählen daneben ein paar Stunden am Kreuz mit der Aussicht auf himmlischen Lohn?« Und als sie sich entsetzte ob solch unverständlicher und frevelhafter Rede, da lachte er plötzlich, bitter und hart, daß es ihr heute noch in den Ohren klang.

»Das begreift ihr wohl nicht, ihr beiden; du, Rudolf, trägst ja allbereits dein Pfarramt halb in der Tasche, und das Anneli ist heut schon ein verrühmt Maljüngferlein, und wäret doch noch zwei dumme Kindlein, da ich schon, ein fertiger Mann, tatenhungrig und mit der Braut an der Hand dem Leben entgegenzog! Und nun kann ich mich immer noch mit des Herrn Landvogts von Baden Schlingeln herumplagen, ein Präzeptorlein ohn Stand und Geld, und kann zusehen, wie meine Maria einsam vergeht, gleich einer müden Rose, so ihre Blätter niederlegt, eins ums andere, dem roten Abend zu Füßen ... Habt ihr nie vernommen, wie sie seufzen, solche Rosen, ganz leise, und jeder Seufzer heißt: Dahin, dahin, und der meinen Duft hätt' trinken sollen, war fern ... Und all das Elend warum? Weilen ich dem hochlöblichen Herrn Antony Klingler, euerm edeln Vetter und der Stadt ehrwürdigem Antistes einstmalen eine Wahrheit gesagt über seine dunkle und schwächliche Lehr, darinnen der Teufel und schwarzer Aberglauben mehr Macht haben denn Christus und sein helles Reich. Dafür müssen wir nun büßen, Maria und ich, vielleicht unser Leben lang.«

Wie peinlich waren Anna damals diese Worte gewesen. Aber heut ging ihr langsam ein Verständnis aus. Sie sah Maria vor sich, die stille, rätselhafte Maria mit dem müden weißen Gesicht und den roten, roten Lippen und den Augen, die so dunkel waren wie ihr Haar und in denen immer etwas Verhaltenes lag, ein Schmerz, eine Klage – oder eine Anklage? Man wußte es nicht, aber sie taten einem weh, und man wich ihnen aus.

Und dann war das andere, daß sie nun heim sollte, plötzlich, mitten aus der Arbeit heraus, und – Lukas war noch nicht zurück! Wie ein Alb drückte es ihr die Brust, und doch schämte sie sich dieser Regung. Hatte sie nicht einst davon geträumt, ein wenig Sonne und Frohmut heimzutragen in ihr ernstes Vaterhaus, und war das nun nicht die beste Gelegenheit dazu? Ungesäumt schrieb sie ihrem Vater, daß sie kommen werde, wie er es gewünscht, in dreien Tagen, und sie schrieb auch an Maria. Nur wenige Worte, aber aus dem Verstehen ihrer eigenen zarten Liebe heraus, so, daß sie ihr wohltun konnten.

Auch die andern nahmen die Nachricht mit Bestürzung auf. Herr Werner murrte dagegen, daß man ihm seine Lehrjüngerin so plötzlich entreißen wollte; aber Frau Susanna begütigte ihn: »Daß es uns leid tut, unser lieb Töchterlein wegzugeben, das, Alter, darf nun nichts heißen. Jetzo gehört Anna heim, und all ihre Kunst müßt' ich verachten, wann sie ihre Kindespflicht darob vergessen wollte,« und sie küßte Anna unter Tränen. Auch Sibylla weinte heiß und unaufhörlich, während sie Anna beim Packen half, die mit wehem Herzen all die Zeugen dieser schönen und reichen Berner Zeit in nüchterne Bündel zusammenlegte, und als Giulios Bild an die Reihe kam, da quoll es auch ihr heiß aus den Augen: War am Ende nicht auch diese Berner Zeit unfertig und abgerissen, mußte vielleicht alles in ihrem Leben so sein, so ohne vollendende Spitze, abgebrochen und schmerzhaft?

Herr Werner aber tröstete sie: »Eure Zeit habt Ihr ausgenutzt wie kein anderes, und viel hätt' ich Euch nimmer zu sagen gehabt. Füglich könnt Ihr nun auf eigenen Füßen stehen, und Ihr habt Euch Eurer Kunst vor keinem zu schämen. Freilich, fertig ist der wahre Künstler nie und bleibet vielmehr immer ein Lehrjünger vor der Natur sowohl als vor der großen Kunst. Und eines bedürfet Ihr noch zuvörderst: Paris oder Italien – das sollt Ihr niemalen vergessen. Denn wenn ich Euch auch manches geben konnte und wohl, ohne überheblich Sprechen, mehr denn irgendeiner, die Welt konntet Ihr in Werners Malstube nicht sehen, und ohne sie kommt kein ganzer Künstler zustande.« Und noch eines hatte er ihr ans Herz zu legen: »Vergesset niemalen, daß die Kunst ein ganzes Herz will; wenn aber das Frauenzimmer einem Mannsbild darin Platz gibt, dann zieht sie alsobald aus, maßen ein Weibesherz zu eng, um beides zu fassen.« Anna erschrak zuerst über diese Worte; aber während er ihr von den Schicksalen so mancher Künstlerin erzählte, die in einer unglücklichen Leidenschaft oder einer glücklichen Ehe ihre Kraft verloren, von der unseligen Anna Rosa, die an der Eifersucht des Gatten kläglich zugrunde gegangen, von Properzia de' Rossi, die in ihrer Blüte am Liebesgram starb, und von Sibylla Merian, die erst nach der Auflösung der Ehe ihre künstlerische Kraft zurückgefunden, dachte sie an Lukas und wie unter ihrer Liebe auch ihre Kunst aufgeblüht war, und da schienen ihr Herrn Werners Worte wenig glaubhaft. Sollte es nicht Ausnahmen geben? Sollte sie nicht beides vereinen können, die große Liebe und die große Kunst? Oh, sie fühlte sich ja so stark, nichts war ihr mißlungen bis heute, warum sollte ihr nicht auch dieses Schwerste möglich sein?

Am Tag vor ihrer Abreise traf Lukas ein. Er kam frisch und aufgeräumt aus Basel zurück und voller Pläne. Herr Hofmann hatte ihn mitsamt seinen Anliegen aufs beste empfangen, hatte nicht allein Herrn Werners Miniaturen mit Jubel aufgenommen, sondern auch Annas Schäferbildchen mit großem Staunen und Bewunderung betrachtet, einen stattlichen Erlös dafür versprochen und mit viel Vergnügen sich den Namen der jungen Malerin gemerkt. Aber auch Lukas war nicht leer ausgegangen; vielmehr versprach sich Herr Hofmann von seinem neuen Ätzverfahren besten Erfolg und hatte sich deshalb des jungen Erfinders gleich versichert. Den sehr günstigen unterschriebenen Vertrag, der Lukas aus längere Zeit hinaus in Herrn Hofmanns Dienst stellte, legte jener dem erstaunten Herrn Werner nicht ohne Stolz vor: »Und das Schönste, mein neuer Dienst hält mich nicht etwan in Basel fest, sondern wird mich der Reihe nach durch alle großen Städte führen.«

Mit schmerzlichem Staunen gewahrte Anna, wie leicht jenem das Scheiden wurde, derweil ihr der Abschied so schwer auflag. Auch die Nachricht von Annas Abreise erschreckte ihn nicht sonderlich: »Da werd' auch ich nimmer lang zögern,« sagte er leise zu Anna; »denn dann ist nichts mehr, was mich hier hält.« Nur, daß sie so schnell ging, am andern Tage schon, das tat ihm leid. »So sehr hatte ich mich gefreut auf diese Tage.«

Die Abschiedsstimmung lag schwül wie mit schweren Flügeln über dem kleinen Kreis, als die paar Menschen, die, mehr als die Jahre des Zusammenseins, vereinte Arbeit, geteilte Freude und gemeinsam ertragenes Leid aneinander geschlossen hatten, am letzten Abend beisammen sahen.

»So, Kinder, da wären wir also am Ende, und sachte tröpfelt nun alls auseinander,« sagte Herr Werner mit schlecht verstelltem Humor und erzählte dann, daß auch er sich entschlossen habe, im Herbst mit seiner Familie nach Berlin überzusiedeln.

»Weiß der Himmel, wie's uns dort geht und ob der güldene Berg, den man mir verspricht, nicht am End als ein güldener Sarg sich erweiset; aber meine Freud hier hab' ich auch verloren, und etwas wagen muß man, wenn man nicht den Schimmel ins Gehirn kriegen will, solcher schließlich nicht allein unter ratsherrlichen Baretten gedeiht.«

»Ja, etwas wagen!« Lukas richtete sich hoch auf und reckte die langen Arme, daß die Muskeln hervorsprangen, und ein schneller, heißer Blick schoß zu Anna hinüber, die schweigend hinter ihrem Spinnrad saß. »Etwas wagen und hinein in den Wirbel und Kampf und Sturm, nur keine Stubenluft nicht und kein still Warten, sonsten muß man ersticken!«

Aber Christoph, der Anna gegenüber am Ofen saß, schüttelte trübsinnig seine Mähne: »Ich weiß nur, daß etwas aufhört; was nachher kommt, seh' ich nicht.«

»A bah,« – Frau Susanna wiegte den Kopf mit gutem Lächeln – »der Herrgott wird uns Sonnenschein geben und Regen, dort wie hier, verlaßt euch darauf; etwas Neues gibt's nicht, und jeder trägt seine alte Haut zu Grabe!«

Anna riß den Faden vom Nocken, daß es leise krachte; dann erhob sie sich und legte die volle Spule Frau Werner in die Hand: »Das ist nun wohl das Letzt, das ich Euch spinnen durfte.«

Frau Susanna betrachtete die regelmäßigen Fäden: »Fein, fein, genau und ohne Fehler, wie alles, das aus deiner Hand kommt, Anna. Die sollst behalten und zu etwas Besonderem aufheben – vielleicht an die erst Windel für dein erst Kindlein!« Sie lachte leise, aber Anna errötete und warf den Kopf zurück: »Oder zum Leinwat für das erst groß Bild, darin ich über die Miniatur hinausgehe.«

»Was zum Teufel,« rief Herr Werner erbost, »über die Miniatur hinaus! Ist das ein Wort für die Lehrjüngerin eines Josephus Werner?«

Aber Anna lachte begütigend: »Nur im Umfang, mein' ich, Meister, nur im Umfang! Ich hab' oft ordentlich ein Gelüste, einstens einen großen Pinsel zu führen mit schneller, weiter Hand, sonderlich, wann mir recht froh ums Herz ist oder – recht weh.« Gepreßt stieß sie das letzte Wort heraus, daß es fast wie ein Schmerzenslaut in einer plötzlichen Stille versank. Alle schwiegen und sahen Anna an, die schlank aufgerichtet mitten im Zimmer stand mit glänzenden, verwachten Augen.

Frau Susanna erfaßte ihre beiden Hände: »Was wird deine Mutter zu dir sagen, Kind! Du bist so anders geworden in den vier Jahren, größer und« – sie lächelte – »auch sonst anders. Eine starke große Tochter hat sie bekommen, die ihr helfen wird und das Leben verschönern.«

Anna drückte Frau Werners Hände: »Ja, ja, anders schon – oh, es war eine schöne Zeit hier, so schön! Ihr habt viel an mir getan, ihr alle; der Liebgott ...« Aber plötzlich stürzten ihr die Tränen in die Augen, daß sie mit einem erschreckten »Gutnacht!« aus dem Zimmer floh.

Und die andern lauschten ihr nach, wie sie mit flüchtigen Füßen die Treppe hinaufeilte. Keines sprach ein Wort. Herr Werner wandte sich ab und trommelte mit erregten Fingern gegen das Fenster, daß die runden Scheiben leise klirrten in ihren Bleirahmen, und aus der dunkeln Ecke des Zimmers drang Sibyllas Schluchzen herüber.

Frau Werner fuhr sich mit der kräftigen Hand über die Augen:

»Ja, ja, so ist's nun, dahin und vorüber! Weiß Gott, mir ist, als ob uns der gut Geist verließe mit dem Mädel. Doch ihre Leut können sie auch brauchen jetzt, nötiger als wir, und das geht nun allem vor.«

Aber Herr Werner drehte sich mit zornigem Gesicht in die Stube zurück: »Daß sie mir sie nur nicht erdrücken mit ihren häuslichen Sorgen, Parbleu, eine Sünd gegen die heilige Kunst wär's, eine blutige Sünd!«

IV Zum grauen Mann

So ein weicher, schwerverhängter Dezembertag, wann der Himmel tief steht und die Flocken niederfallen, still und groß und unablässig, fast kein Tag, ein Dämmer bloß zwischen Morgen und Nacht, und wann sich einmal eine Helle zeigt irgendwo am Himmel, so ist es nur ein milchiges Licht und für kurze Zeit nur, ein Blick bloß, wie von einer Mutter, die den Vorhang von der Wiege hebt: »Schläfst du noch?« und ihn dann sachte wieder fallen läßt mit einem Lächeln: »Sum, sum, ist dir nicht wohl unter deiner Decke?« Und still wie in einer Wiege sind die Menschen in ihren Häusern; die Wärme tut ihnen wohl, wenn draußen die kühlen weißen Schleier fallen, und sie fühlen, daß es etwas Köstliches ist, so in der warmen Stube zu sitzen, beisammen, und nichts da ist, was hereindringt und einen hinausruft in die Weite. Denn die Welt hat keine Weite mehr, ist selbst so eine stillverschlossene Stube geworden ohne Türen und ohne Wege.

Anna schob ihren Tisch ans Fenster. Es war zu wenig Helligkeit da drinnen in der großen dunkeln Stube. Die zarten Farben erstarben ihr unter dem Pinsel, und die Augen schmerzten vom scharfen Zusehen. Es hätte eine weiße Stuckdecke da sein sollen wie in Meister Werners frohmütiger Werkstatt, und ein helles Getäfer, solches das karge Licht nicht also neidisch verschluckt hätte wie das strenge dunkle Braun. Und doch, war dieses geräumige Gemach nicht schön? Wie samtig die matten Wände und dazwischen die glänzenden Nußbaumtüren mit den leuchtenden Messingbeschlägen; oben waren sie gewölbt in einem stattlichen Bogen, und es war erwartungsvoll, sie zu öffnen, weil man ein Besonderes dahinter vermutete, und wenn man sie schloß, dann war das ganze Draußen verbannt, und es wurde heimlich in dem Raum und ein wenig feierlich.

Als ihr die Eltern zuerst dieses schöne Sälein anwiesen: »Dies ist nun dein Reich, darinnen du fürderhin schaffen sollst,« was war das ein Jubel! Da erst hatte ihr Leben hier eigentlich begonnen. Vorher – ja, da war alles trüb und weh; Maria so beängstigend, fast grauenhaft in ihrer wortlosen Verzweiflung, und die Mutter krank, und an ihrem Bett Elisabeth in Tränen und tausend Ängsten um ihr Leben, und sie, die Neueingetroffene, mitten drin, unbeholfen und entfremdet, ach, doppelt fremd um der heimlichen Liebe willen ...

Damals hatten Pinsel und Farbe Ruhe; aber ihre Seele war wie gepeitscht von Selbstvorwürfen und Sehnsucht und unterdrücktem Schaffensdrang. Erst als sich dieses Zimmer ihr öffnete, wurde es besser, und sie konnte wieder zu sich kommen und arbeiten. Freilich war es auch hier zuerst anders, als sie geglaubt. Eines Tages gingen die Aufgaben aus, denn die Vaterstadt hatte keine Aufträge für sie. Man wartete auf Anerkennung von draußen, derweil sie gehofft hatte, mit den heimatlichen Erfolgen hinausdringen zu können. Wäre nicht Herr Lukas Hofmann gewesen, sie hätte ihre gute Kunst in der eigenen Heimat feilbieten müssen oder verdorren lassen. Wie anders sie sich das gedacht hatte, damalen, als sie an dem stolzen, glitzrigen Wintertag die Vaterstadt zuerst wiedersah und sie von allen Zinnen und Türmen und von jeder blitzenden Limmatwelle ein freudiges Willkomm zu lesen vermeinte.

Aber nun ging es auch so, und die Sendungen, die fleißig nach Basel wanderten und ihr jeweils herzliches Lob und schönen Erlös eintrugen, die brachten Ansporn und Freude genug.

Nur heute wollte es nicht recht gehen mit der Arbeit. Oder war es vielleicht schon gestern so oder auch länger schon? Ach, die Tage waren kurz geworden und dunkel.

Anna öffnete das Fenster und wischte den Schnee, der sich halbmondförmig in den Bleirahmen auftürmte und die alten runden Scheiblein überzog, herunter, und dabei dachte sie, daß man hier neue Fenster einsetzen sollte, wie man sie nun vielerorts sah, hellere, mit großem und durchsichtigem Glas. Dann blickte sie hinaus. So still war alles, wie ausgestorben und verweht; denn auch der Schritt der wenigen, die durch die Gasse gingen, versank lautlos im tiefen Schnee. Der Brunnenturm am Ende des kleinen Gäßchens, das just vor ihrem Fenster sich aufrichtete, stand mit überhängender weißer Mütze da, wie eine Bürgersfrau im Kirchengerüst, und seine Schleier verhüllten alles Fernere, so emsig fiel der Schnee. Nur das Haus über der Gasse lag nüchtern, fast nackt vor ihren Augen, mit unverhüllten Farben und Flächen; denn so schmal war der Raum, der ihr Fenster davon trennte, daß auch der dichteste Schneefall nur spärliche Flocken hineinsandte. Oh, daß man sie hätte entfernen können, durch ein Zauberwort, diese Mauer mit den neugierigen Augen, daß der Blick nur um ein Geringes weiter gewesen wäre und sich mit dem beengten Atem nicht immer wieder schmerzhaft an dem zudringlichen Gegenüber gestoßen hätte!

Seufzend schloß sie das Fenster und setzte sich wieder an ihren Tisch. Ein wenig heller war es wohl geworden. Sie betrachtete prüfend die begonnene Arbeit und verglich sie mit der Vorlage, dem Ölbildnis eines dicken Basler Ratsherrn, das sie in Miniatur übersetzen sollte. Dann nahm sie den silbergestielten Pinsel wieder auf und ließ ihn mit einem leichten Karmoisin in haarfeinen Strichlein über des alten Herrn lange Nase gleiten. Aber plötzlich hielt sie entmutigt inne. Man sollte kein Konterfei von sich machen lassen, wenn man solch feistes Gesicht hat, daß die Augen und alles Edle verschwemmt werden, und eine so lampige rote Nase! Scharf und jung sollte ein Gesicht sein, dann wär' es eine Lust zu malen. Mit einem einzigen Pinselstrich zog sie auf dem Papier, worauf sie ihre Hand zu legen pflegte, ein eigenwillig geschnittenes Profil mit scharfer Nase und hervortretendem Kinn.

»Lux ...«

Und plötzlich wußte sie, daß es weder die Dunkelheit des Tages noch des alten Herrn rote Nase war, das ihr immer wieder den Pinsel aus der Hand nahm: »Lux, warum schreibst du nicht?«

Sie zog den Brief hervor, den sie nun schon hundertmal gelesen und der – als letzter einer so herrlichen Reihe – seit drei Monaten ohne Nachfolge geblieben, und las wieder und wieder den einen Satz, den sie längst mit allen Einzelheiten der seltsamen, ungeordneten und widersprechenden Schriftzüge auswendig kannte: »Die Welt heraußen ist keine Alpwiese und keine Malstube, sondern gleicht mehr einem großen und wüsten Kessel, worein man geschmissen wird, und weiß keiner, wie er herauskommt, ob weichgekocht oder hartgesotten oder gar schwarz und rußig wie der Teufel; wärest Du aber bei mir, durch die Höll selbst wollte ich gehn und doch blank bleiben wie ein Engel... Und sollst Du mir viel und Liebes schreiben, ansonst ich nicht weiß, von wannen mir Stärke kommen soll und Rettung in dem Wirrsal.«

Und sie hatte geschrieben, so oft und so voller Liebe; aber zuletzt ganz ernst: »Die Wahrheit will ich wissen, warum Du nicht antwortest, maßen ich es nimmer aushalte so.«

Und nun wartete sie und wartete, und die Tage waren dunkel und kurz und die Nächte so lang ...

Sie nahm den Pinsel wieder zur Hand. Da hörte sie jemanden die Stiegen heraufkommen. Wie merkwürdig verschieden die drei Treppen tönten, die winklig und in gesonderten Richtungen zu ihrer Stube führten. Anna lauschte: Das war Marias müder Schritt. So kam sie nun jeden Tag zu ihr herauf: »Hier ist mir wohl; es ist so still, und du fragst nicht, nicht mit Worten und nicht mit Blicken,« und dann setzte sie sich in die Fensternische mit irgendeiner Handarbeit. Anna aber mußte sich zusammennehmen, daß sie nicht immer wieder zu der Schwester hinüberblickte und verstohlen die weiße Strähne betrachtete, die ihr im schwarzen Haar mitten über der Stirn stand wie die Pfingstflämmchen auf den Köpfen der Apostel. Es war etwas Heiliges, dieses sichtbare Zeichen großen Schmerzes, aber auch etwas Grausenvolles, das einem das Herz zusammenzog und einem bang machte, daß man sich fremd fühlte in der eigenen Stube und daß die Arbeit nimmer gehen wollte. Wie oft hatte Anna nachträglich zerstört, was sie in Gegenwart der armen Schwester unter streitenden Gefühlen mühsam erschaffen!

Maria trat ein. Sie hielt einen Brief in der Hand, einen Brief mit widersprechenden, unruhigen Schriftzügen. Anna wollte ihr entgegenstürzen, aber die Knie zitterten zu heftig. So mußte sie warten, ganz still auf ihrem Sessel, bis die andere bei ihr war. Und dann endlich hielt sie den Brief und konnte mit bebenden Fingern über die wirren, ach so lieben Züge streichen, die ihren Namen formten. Daß sie doch allein gewesen wäre, in diesem Augenblick nur. Sie konnte ihn doch nicht öffnen, so, wenn ein anderes dabei war. Aber dann plötzlich riß sie ihn doch auf, ungestüm und mit einer hastigen Bewegung, daß das Papier knisternd zerriß. Und sie las:

»So Du aber die Wahrheit wissen willst, bedenk es: Wahrheit schmecket nimmer süß.

Das Leben hat mich in die Hand genommen, und die Wege, die's mich führt, sind solchergestalt, daß Deine zarten Füße sie nimmer gehen könnten. Und die Luft, die mich umgibt, ist heiß und schwer, daß Dein stolzer Mund sie nimmer atmen könnte, und steh' ich da mit schwarzen rauhen Händen, die Deine kühlen weißen Finger nimmer berühren dürfen. Ach, wären sie minder weiß und minder kühl, Deine Händ, vielleicht gäb's heute noch einen Weg von Dir zu mir. Und wäre Dein Herz minder kalt und minder stolz Dein Mund und hätt' er mich zu küssen vermocht, dann wär' ich vielleicht nimmer auf diesen wirren heißen Weg geraten. So aber hast Du wohl eine Flamme zu entzünden, nicht aber sie zu stillen gewußt, und das Feuer ist groß geworden und ist ein fremder Wind hineingefahren und hat die Brücke zerstört, so zwischen uns lag.

An Dich will ich denken in meinen besten Stunden als an etwas außer den Maßen Schönes und Hohes, das man wohl verehren, aber nimmer begehren soll, dieweil das Leben nicht rein und hoch ist, wie Du meinst, wohl aber heiß und gemein und am stärksten oft dort, wo es zutiefst führt. Dich aber wird es wenig gelüsten, nach mir Dich umzuwenden, maßen Deine Pfade hochgehn, die meinen aber erdwärts. Und magst Du mir auf diesen Brief, den Du als aus unwürdiger Hand kommend verbrennen sollst, nicht mehr antworten, dieweil ich morgen schon diese Stadt verlasse und sich fürder vor Dir auch äußerlich meine Straße verlieren wird.

So leb wohl, Du Reine, Kühle, und halt dich inskünftig fern von Menschen, so ein heiß Herz haben und heiße zugreifende Händ, und halt Deine Augen wohl in acht, daß sie kein Feuer entzünden, solches Deine zärtliche Seele nicht ertragen kann.

Zum letzten Mal Dein Lux.«

Ganz langsam hob Anna die Lider. Ja, was war nun das? War der Wintertag ins Zimmer getreten, daß ihr weiße Schleier vor den Augen fielen? Und saß da nicht etwas auf ihrem Herzen und stach hinein, ganz tief, daß ihr Mund wimmerte und Maria entsetzt aufsah, ah, mit so schrecklichen schwarzen Augen – oder war das gar nicht Maria, was dort saß hinter weißen wogenden Schleiern mit den furchtbaren großen Augen und mit der weißen Flamme auf der Stirn? Und nun kam es näher ... Anna sprang auf: Fliehen, fort! Der Boden wich unter ihren Füßen; aber nun öffnete sich doch die Tür, und nun fiel sie hinter ihr ins Schloß, und nun war Anna in ihrer Kammer, allein, und konnte ihr Gesicht in den kühlen Kissen ihres Lagers verstecken, daß keiner es hörte, wie es verzweifelt aus ihrem Herzen stieg, und keiner es sah, wie es aus ihren Augen brach – all die ungeweinten Tränen langer schmerzhafter Wochen – »Tut es so weh?« Anna fühlte eine warme Hand auf der ihrigen, und als sie sich umwandte, sah sie in Marias Gesicht. Das war nicht gramvoll und zerrissen wie sonst, sondern hatte einen weichen und guten Ausdruck. Anna suchte ihre Tränen zu verbergen. Aber die Schwester schüttelte den Kopf: »Wein du nur, Kind; dafür ist man jung, daß man den Schmerz ausschütten kann. Später geht's nicht mehr, und dann kriecht er nach innen und frißt das Herz. Ja, und dann kommt der Vogel mit den schwarzen Schwingen und kreist immerzu, immerzu, gerade über dem Kopf, und weiß man nie, wann er herabstößt.« Sie setzte sich auf Annas Lager und streichelte sachte ihr feuchtes Haar. »Wein du nur, Kind, Tränen, aufgelöste Schmerzen – Wolken müssen zu Regen werden, wann die Sonne wieder scheinen soll.«

Anna legte ihre beiden Arme um Marias Schultern. Wie wohl es tat, die dunkle Stimme und die gute, beschwichtigende Hand! Oh, diese da, die kam nicht mit leeren Trostesworten, die kannte beides, die Liebe und den Schmerz. Sie drückte ihr heißes Gesicht in Marias weichen Hals und weinte still vor sich hin. Und Maria sprach weiter, ganz leise, als ob sie mit sich selber redete, und mit langen, tiefatmenden Pausen:

»Der Brief – ich hab' ihn gelesen – oh, das tut weh, das hätt' mir auch weh getan, wann mein Jacob mir so geschrieben hätte, damals – und wär' doch ein groß Glück gewesen; denn dann wär's nie gekommen, das Furchtbare... Die Liebe – zuerst, ja, da wandelt man im Licht, und alles ist rein und hell; aber dann, aus dem Licht wird ein Feuer, und das ist nimmer so hell und ist rot und heiß – und wenn erst die große Flamme da ist und man sie nicht stillen kann – ah, Anna, wann die große Flamme da ist und man sie nicht stillen kann ... Bei uns, da geht es wohl lange, wir sind kühl gemacht, und liegt ein still Wasser in unserer Seele, das ist klar, und viele Flammen kann es löschen. Aber die andern, die Armen – da ist nichts von kühlen Gewässern, alles liegt trocken und heiß wie die Heide im Sonnenbrand, und kommt nun das Feuer, dann gibt's kein Aushalten mehr, bis alles brennt und alles zu Grund geht.

Die große Flamme hat mir meinen Liebsten zerstört.

Wir brauchen so wenig – ein lieb Wort und ein guter Blick – und wann die Händ sich berühren, ganz zart nur, mit den Fingerspitzen bloß – ah, da sind wir selig und wünschen nichts anderes mehr – aber sie, immer mehr wollen sie, immer mehr, und wenn man's nun nicht geben kann, weil man's nicht geben darf, weil die Welt es verbietet – dann ist das Unglück geschehn.

Hab's ja nimmer geahnt, daß er verdürsten gemußt. Nur brav wollt' ich sein. Und als er kam in jener Nacht – es war schon früh am Tag, aber draußen noch schwarz, da hört' ich einen Stein an meinem Fenster und eine Stimme, und als ich hinableuchtete und ihn unten stehn sah im schmalen Gäßlein, barhaupt und ohne Schuh, und wußte, daß er so von Baden hergelaufen war, mitten in der kalten Nacht, da hab' ich mich gefürchtet vor dem Wahnwitzigen, und als er dann bat – mit solcher fremder wirrer Stimme, daß mir das Herz zitterte – ›Laß mich herein, Maria, sieh, es ist kalt, und doch vergeh' ich vor Glut‹– da hab' ich an die Nachbarin gedacht, daß sie es hören könnt, und ›Geh fort‹ hab' ich gerufen, ›zu deinem Schwager, und daß mir nimmer so kommst!‹ Und hab' das Fenster zugeschlagen und meinen Kopf in die Kissen gesteckt vor Angst und Scham und daß ich ihn nimmer hören konnt' ...

Am Tag haben sie mich dann geholt in währendem Kirchenläuten. Da lag er in des Schwagers Bett, ganz weiß, und war das Blut ringsum. Und als ich wieder zu Sinnen kam, denn ich war hingefallen von dem Jammer, da hob er die armen Händ zu mir: ›Siehst du, Maria, nun hab' ich mir selbst geholfen – ganz still ist mir nun, ganz kühl ...‹

Sieben Tag bin ich bei ihm gesessen, allezeit an seinem Lager, und hab' die sterbenden Händ in den meinen gehalten, und da hat er mir alles gesagt: ›Siehst du, Maria,‹ – und war es wie ein Lächeln in dem weißen Gesicht – ›so sollten wir sein, ohne Blut und mit durchstochenem, sterbendem Herzen, dann würden wir die Lieb ertragen können. So wohl ist mir jetzt, da ich dich liebhaben kann ohne Verlangen und ohne Glut, ganz rein wie die lieben Engel im Paradeis.‹ Und hat es mir abgebeten, daß er solches getan im jachen Wahnwitz jener Nacht und hat schöne und heilige Worte geredet. Mir aber war, als ob ich es gewesen, die ihm das Messer ins Herz gestoßen, und als die strenge Kirche ihm verzieh und man ihn ehrlich bestattete, war mir immer, als ob man mich als eine Mörderin hätte richten müssen.

Und ihr habt Angst gehabt um mich, ich weiß es, und gefürchtet, daß ich es ihm nachtäte, meinem Jacob; deshalb hat man dich zurückgerufen, Anna, daß du mich hütetest, nicht wahr? Oh, ihr hattet unrecht, ich hab' eine ganz andere Sühne: als die feuchten Finger kalt wurden in meinen Händen, ist es zu mir herübergekrochen – auf einmal saß es mir im Herzen, und nun bin ich da, um es zu Ende zu leiden sein qualvoll abgebrochenes Leben, allein, und ist keiner, der mir Helfen darf.«

Mit einer plötzlichen Bewegung hatte sie Anna von sich gestoßen und starrte nun aus großen Augen ins Leere. Anna, deren Tränen unter den seltsamen Worten der Schwester lange versiegt waren, berührte leise ihre Hand: »Arme, arme Maria!« Da wandte sich diese ihr zu, und es kam wieder ein mildes Licht in die schwarzen Augen:

»Ja, arm – aber siehst du, du darfst nicht arm werden, Anneli, du hast glückhafte Augen, und der liebe Gott meint es gut mir dir. Deshalb hat er nun deinen Liebsten einen andern Weg finden lassen, daß du rein bleiben kannst. Trennung, das tut weh; aber besser jetzt, da es die große Flamme noch nicht ist. Laß dem Schmerz seine Zeit, und dann kann alles wieder gut werden und besser als vorher. Und wann ich dich wieder froh seh' – dein heiter und still Wesen hat mir so wohlgetan – dann wird es vielleicht auch in mir wieder ruhiger. Deine Ruhe wird mir so gut tun und deine Stärke, willst du mir helfen?«

Und sie versuchte zu lächeln. Wie ein blasses Wintersonnenscheinchen zitterte es um ihre Lippen, so rührend sah das aus.

Anna fiel ihr um den Hals: »Liebe, liebe Maria, wir wollen stark sein, beide!«

*

Nein, die große Flamme war es wohl nicht gewesen, aber ein stilles und frohes Licht, das in alle Winkel hineingezündet hatte, und nun es erloschen, war alles grau geworden und trüb. Und auch die Vergangenheit lichtberaubt und schmerzhaft. Und all die lieben Erinnerungen, womit Anna sich ihr junges Lebensstübchen ausgeschmückt hatte, daß es darin glänzte und duftete wie von Kränzen und buntem Flor, die waren nun welk und tot. Nur nicht zurückdenken, das tat so weh. Aber auch nicht vorwärts. Wer mochte in eine Zukunft blicken aus der grauen, grauen Gegenwart heraus? Konnte es anders werden als es war, lichtlos und ohne Freudigkeit? Da war nur die gegenwärtige Stunde und die Arbeit, der sie gehörte. Die Arbeit. Wohl war es nicht mehr das frohe leichtbeschwingte Schaffen jener glücklichen Zeiten des Lichts, vielmehr ein strenges und mühsames Werk. Aber auch der tapfere Eifer tat gut, machte, daß man nicht Zeit hatte zu lauschen, wann die schwarzen Flügel sich regen wollten, machte, daß man müde wurde, daß die brennenden Augen zufielen und die vom langen Sitzen schmerzenden Glieder sich lösten, wann die langen schlimmen Nächte kamen.

Wie lieb ward ihr nun ihr strenges Arbeitszimmer; so dankbar war sie, daß es sie mit festen Türen und kleinen unklaren Fensterchen vor der Welt abschloß, sodaß man es nicht zu wissen brauchte, wann der Frühling draußen umging und mit hundert unbarmherzigen Fingern in neue Wunden griff und wann der Sommer mit Düften und Sonnengluten dem alten Weh neues Leben eingoß.

Und auch vor Maria war ihr nimmer bang. Es tat ihr wohl, das stille traurige Gesicht um sich zu sehen, aus dessen ernsten Augen ein wortloses Verstehen zu ihr sprach. Und das ganze stille Haus hier tat ihr wohl, darinnen das Leben nur gedämpft auftrat, als ob es Rücksicht nähme auf ein Totes, das irgendwo unsichtbar lag. Einst hatte sie davon geträumt, Freude da hineinzutragen, und nun war sie selber froh, daß man mit keinem Lustigsein sie bedrängte. Fröhlichkeit, sie hielt ja doch nicht stand, eines Tages lag sie doch am Boden, und wer mochte sie dann noch aufheben mit zerschlissenem und staubigem Gewand? Sie mußte an das Wernersche Haus denken, wie war es dort einst lustig zugegangen und laut, und heute?

Klagerfüllt und trostlos waren Sibyllas Briefe, einer wie der andere. Die Fremde hatte ihnen kein Glück gebracht; schon die Reise war beschwerlich gewesen und voller Trübsal und hatte ihnen bittern Schaden zugefügt an Gut und Gesundheit. Und in Berlin, da war alles häßlich und unfroh und anders als sie gedacht. Der große Minister gefallen und an seiner Stelle ein kleiner und enger Mensch, der die Werke seines Vorgängers zerstörte und Herrn Werner um Stelle und Recht bringen wollte. Da gab es Kämpfe und Not und Verbitterung ohne End.

Einförmig und trüb wie Regentage reihten sich Sibyllas Briefe; aber einstmals brachte einer doch ein Wort, das wie ein Blitz in Annas Leben zündete: »Lukas Stark war da; er ist groß geworden und fest mit einem rötlichen Gesicht, darinnen der arme Giulio kaum mehr einen Dante erkennen möchte, und hat er meinem Vater nicht gar gefallen, indem er viel spöttischer und wilder Reden geführet, woraus man eine nicht immer gute Gesellschaft füglich erkennen konnte. Sonderlich seine leichtfertigen Worte, so er der Kunst gewidmet, haben meinen Vater geschmerzt. ›Wozu soviel Kopfzerbrechens!‹ rief er mit höhnischem Lachen, als der Vater ihm von einem neuen, über die Maßen schwierigen Werke erzählte. ›Früher, da hab' ich auch Verse geschrieben und viel schwerer Gedanken mir gemacht über Kunst und Leben, aber jetzo weiß ich, daß ein guter Brotkorb mehr wert denn alle brotlosen Kunst zusammen!‹ In Nürnberg will er nun in eines Glasermeisters Werkstatt treten, um allda mit Ätzen auf allerlei kostbarlich Glas ein angenehm Brot zu verdienen. Der hohen Kunst wie allem Edeln aber ist er nun wohl für immer verloren.«

Zweimal mußte Anna diese Worte lesen, bevor deren Sinn ihr verständlich wurde. War es möglich: Lukas, ihr stolzer, ehrgeiziger Lux, und nun auf diesen breiten gewöhnlichen Wegen! Oh, das war traurig, trauriger als alles andere. Und sie fühlte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen, nicht heiß und leidenschaftlich wie einst, sondern mild wie aus einem großen herzlichen Erbarmen heraus. Armer Lux! Ob man ihn nicht heute noch zurückrufen könnte? Aber er hatte sich ja selbst ihren Händen entwunden, und sie war machtlos. Sie dachte nach, wieviel sie gearbeitet in dieser Zeit und daß ihre Kunst stärker geworden und eigener und wie die Erfolge nun kamen, einer nach dem andern, und sie höher hoben von Jahr zu Jahr und daß er all die Zeit benutzt, um tiefer zu steigen und an einem glatten und öden Ufer zu landen. Der weiße Berg fiel ihr ein, den sie einst zusammen betrachtet, und Herrn Werners Worte. Wie weit vom hohen Ziel war er nun abgekommen. Und sie? Ein freudiger Schreck ergriff sie. War sie nicht durch all das tapfer niedergekämpfte Leid dem Ziele ein ganz klein wenig nähergekommen und durch die unermüdliche Arbeit, darin sie ihren Schmerz begrub? War es am Ende doch ein Glück gewesen, daß ihre Wege auseinander gingen?

Langsam, langsam nahm ein neues Gefühl in ihr Platz und wuchs und trennte Gegenwart und Vergangenheit und ließ aus dem Mitleid für den neuen Lukas, der sie nichts mehr anging, Erinnerungen in wehmütigen und lieben Bildern wieder aufleben. Langsam wuchs sie über ihr eigenes Leid und das Schicksal dessen, der es ihr zugefügt, hinaus zu einer neuen Freiheit.

Und als Sibylla zum andern Mal Lukas' Namen nannte, konnte sie ihn ruhig lesen und ohne Schmerz die Nachricht aufnehmen, daß er seinen Brotkorb nun sichergestellt und die Tochter des Glasermeisters zu Nürnberg geehelicht habe. Ja, das paßte nun wohl zu dem neuen Lukas, vielleicht gar konnte es ein Glück für ihn sein. Ihr bedeutete es nichts mehr; für sie war es ja abgeschlossen – lange schon.

Ihr Leben hatte sich neu gemacht, ernst und streng zuerst, aber dann freier, und hier und da war es schon fast wie eine kleine Fröhlichkeit, die sich ankündigte, erst schüchtern, aber mit der Zeit immer vernehmlicher: wann Herr Lukas Hofmann ihr Briefe voll Lobes schrieb, die in den Augen der Eltern ein zufrieden stolzes Lächeln entzündeten, oder wann man nun auch in der Vaterstadt anfing, ihr Aufträge zu geben. Und die große herzklopfende Freude, als der Vater eines Abends nach dem Tischgebet mit feierlicher Stimme, daraus man aber eine heimliche Freude wohl vernahm, verkündete, daß ihrem Haus eine hohe Ehr widerfahren sei, maßen die durchlauchtigsten Herrschaften, der Herzog Eberhard Ludwig von Württemberg und dessen Schwester, die Markgräfin von Durlach, ihre Contrafete bei niemand anders denn seiner Tochter Anna in Miniatur übersetzen zu lassen wünschten.

Ah, die stolzen Augen des Vaters und der Mutter tränenfeuchte Rührung und Marias Lächeln, das gar nimmer trüb war, sondern mit einem heiteren, schier sonnigen Glanz, und der jüngeren Geschwister erstaunte, bewundernde Augen! Aber Rudolf sprang auf, umarmte Anna und lachte: »Das müssen wir feiern, Schwesterlein! Ein wenig frische Luft, die kannst ohnedies brauchen, du Zimmerpflänzlein, mit deinem weißen, weißen Gesicht. Auf den See wollen wir, der Abend ist schön!« Und er deutete nach dem Brunnenturm, der mit einem roten Schein durch das schmale Gäßlein herabzündete. Und als sie im Kahn saßen, Rudolf, Elisabeth und sie, und Annas Hände nach so langer Zeit wieder einmal die Ruder führten und ihr mit jeder strammen Bewegung ein kräftiges und warmes Leben durch den Körper ging, war ihr, als ob die alte, lang vergessene Freude wieder in ihr aufstünde und aus ihren eigenen Augen neu und wissend in die Welt blickte.

Sie trieben unter dem Grendeltor durch in den offenen See hinaus mit eilenden Ruderschlägen, daß die im Widerschein des Abends erglänzende Wasserfläche vor ihren Augen rasch und mächtig sich weitete. Anna sah im Stern des Schiffes, den Rücken gegen den See, und blickte nach der Stadt und dem westlichen Himmel hinüber. Das war das Bild, das sie so oft in Stunden des Heimwehs heraufbeschworen, früher, als sie fern war: Zürich im Abendbrand, mit dunkeln, weithin spiegelnden Füßen aus der roten Flut steigend und mit glänzenden und schwarzverschatteten Häuptern in den flammenden Himmel aufragend, mächtig und lieblich, unwahrscheinlich und wunderbar wie himmlische Gesichte. Und wieder fiel ihr auf, wie verschieden die beiden Stadtteile, die der Fluß nach links und rechts auseinanderlegte. Dem westlichen Himmel zugewandt lag die mehrere Stadt da, sodaß der Abendschein mit gelben Lichtern und violetten Schatten ein seltsames Farbenspiel über die hohen Zinnen und winklig verstauten Häuser warf und die hochgestellten Großmünstertürm sich in einem rosigen Dampf über sich selbst hinaus zu recken schienen. Von der Grendelhütte weg, die mit lustigen Erkerchen gespreizt auf der rechten Seite mitten im Wasser stand, dort, wo der Grendel mit langer Palisadenreihe den Fluß vom See trennte, zog sich ein vielgestaltiges Ufer mit allerlei Zierlichkeiten flußabwärts. In buntem Ungestüm drängten sich die schmalfrontigen Häuser und festen Türm an die Limmat heran, wie Kinder, die zum Baden gehen und von denen die einen sich noch schüchtern dem Wasser fernhalten oder kaum ein vorsichtig Füßchen hineinzustecken wagen, derweil andere schon tief drin stehen in der kühlen Flut. So recht als ein tapferer Taucher erhob sich der Wellenberg mitten aus dem Fluß, einäugig und trotzig mit seinem spitzen Helmdach, und ließ die vornehme Wasserkirche weit hinter sich, die ihren schlanken Schatten nach dem hellen Spiegel der Häuser am Stad hinüberwarf. Zufernst im Fluß aber erhob sich das Rathaus mit weißen Gerüsten und hellen neuen Mauern und ließ seine modisch welsche Schönheit auf den alten breitspurigen Wasserfüßen mit viel Stolz erglänzen.

So war es ein unterhaltliches und reichgestaltiges Bild zur Rechten, während die mindere Stadt am linken Ufer ihre festgesammelte Silhouette dunkel vom roten Abend abhob. Wie mannliche treue Stadtwächter rückten die schwarzen Türm der Ringmauer am Himmel heraus, einer hinter dem andern, vom Kratzturm, der unten am Wasser schwerfällig hinter seinem Schänzlein stand, bis hinauf zum St. Peter. Der aber überragte alle andern und glich mit seiner gedrungenen festen Gestalt und dem mächtigen, erstaunten Zifferblatt gewissen wackeren Bürgern dieser Stadt, die auf kurzen festen Beinen durchs Leben gingen und mit klaren Augen aus ihren großen Köpfen herausblickten.

»Der Sankt Peter, weißt du noch, wie wir ihn früher nannten?« Anna wandte sich an Rudolf, der ihr gegenüber das Stehruder führte und nun, ihren Augen folgend, nach der Stadt zurückschaute.

»Freilich,« nickte er ernsthaft, »auch heut ist er mir immer noch der Onkel Fähndrich und ist mir schier so lieb wie dieser, sicherlich der liebst unter allen Türmen der Stadt«

Elisabeth, die zwischen ihnen saß, das Häubchen im Schoß, mit träumerischen Augen und roten Lichtern im dunkelblonden Haar, schüttelte leise den Kopf: »Mir sind die Großmünstertürm doch lieber, so vornehm und hochgebaut; der ander aber ist schwerfällig und gewaltsam und gar nicht wie ein Kirchturm. Mit dem mutzen Dach, den vier Ecktürmchen und der Riesenuhr erinnert er recht an die Zeitlichkeit, derweil die andern mit zwei mächtigen Fingern grad hineinweisen in den Himmel.«

Aber Rudolf machte ein überlegenes Gesicht: »Wie kann man lieben, was zu zweien austritt! Die Großmünstertürm, zwei glatte Pfarrherren mit einerlei Meinung, von denen keiner allein gehen kann; aber der Peter, der bedarf des andern nicht, der steht allein!«

»Zwei Pfarrherren?« Anna lachte. »Und wo findest denn unsern Herrn Antistes? Einen gar zu schlanken Turm wirst nicht wählen dürfen!«

Rudolf zog die Brauen scharf zusammen: »Der Antony Klingler, das ist der Rennwegturm! Mit seinem dicken Bauch betreut er den Fröschengraben und labet sich an den übeln Dünsten, die daraus steigen – der Rennwegturm, wann das Tor geschlossen ist und er sich einem schwerfällig entgegenstellt und mißtreu und keinen durchläßt, es sei denn, daß er mit fürnehmen Insignien ankommt und vergüldeten Wagen.«

»Wie redest du auch, Rudolf!« Anna sah ihn erstaunt an. »Sollt einer meinen, daß du selbst ins Ministerium zu treten im Begriff stehst? Von wem hast du solche Reden?«

»Von mir,« entgegnete der andere trotzig, »und von einem, der mehr wert ist denn alle Schwarzröck zusammen, den dicken Vetter Antistes dreimal mit eingerechnet, von einem, der von einer gewissen Jungfer ein merkwürdig Wort geredet: ›Die Waserin‹, hat er gesagt, ›eine Person mit einem männlichen Geist und jungfräulichem Sinn, klug genug, um häßlich, und schön genug, um dumm zu sein – ein Miraculum, fähig, ein paar antikischer Dogmata auf den Kopf zu stellen!‹«

»Er redet von Professor Scheuchzern,« sagte Elisabeth schüchtern, »dann hat er immer so glänzige Augen; aber der Vater hört's eben nicht gern.«

»Verkehrst du immer noch viel mit ihm?« fragte Anna dawider.

»Weniger als ich möcht'; denn Vorsicht scheint ratsam, wenn man nicht um Amt und Zukunft kommen will wie der arm Jacob Cramer. Aber doch grad genug, um zu merken, von wannen ein neuer Geist in unsern Moderschmack hereinfahren wird und welcher Gestalt er ist. Die frommen Herren fürchten ihn; leicht könnt' der frisch Luftzug ihre Paperassen durcheinander machen, und dann fänden sie sich nimmer zurecht, da ihre Religion nicht in Kopf und Herzen, sondern lediglich auf vergilbten Pergamen steht.«

»Vater meint, er sei ein unruhiger Kopf, der Professor,« entgegnete Elisabeth nicht ohne Ängstlichkeit in den weiten blauen Augen. »Er habe absonderliche neue Ideen, die leicht den alten guten Glauben ins Wanken bringen und den alten guten Geist der Vaterstadt verwirren könnten!«

»Den alten guten Geist!« höhnte Rudolf. »Sag die alte Stickluft, und du sprichst wahrer; aber Vater braucht nichts zu fürchten, einstweilen ist wohl dafür gesorgt, daß die beieinander bleibt. Die neuen Bastionen? Um den Feind abzuhalten wurden sie erbaut, hieß es. Ich glaub's nicht, weil sie erst aufgeführt wurden, als der bös Krieg zu Ende ging. Eine neue Mauer und Schutz für den guten alten Geist bedünkt es mich; denn denkt, wann ein paar Türm weniger den Himmel beengten und der Fröschengraben einen minderen Gestank verschickte, das wär' eine schlimme Not! Und wann der alte Geist ein Loch bekäm' und im Nebeldach ein Stück Blauhimmel erschiene, das wär' ein Jammer!«

Rudolf schwieg. Er warf den Kopf zurück und ruderte mit verdoppelter Kraft, daß die dunkeln Haare flatterten und das Schiffchen rasch dahinschoß. Auch die Mädchen redeten nicht. Elisabeth beugte sich über den Schiffsrand und ließ die Hand durchs Wasser gleiten, derweil Anna nachdenklich zu der Stadt hinüberblickte. Der Himmel war mählich blasser geworden, und auf der Erde verschwanden nach und nach die vielen Zierlichkeiten und lösten sich sachte in den großen kompakten Schatten, die mächtig um sich griffen und das Stadtbild zusammenschlossen. Drohend, mit besonders schwarzen Schatten erhoben sich links und rechts die gewaltigen Bollwerke der Bastion.

»Wißt ihr,« nahm Rudolf wieder das Wort, »was der Casperli Billeter sagte, als er ein Halbjahr neben mir im Collegio gesessen? ›Ich vermeinte in einen Adlerhorst zu kommen,‹ sagte er, ›nun aber bin ich in ein Krähennest geraten! Und dafür dank' ich!‹ Und dann hat er sein Bündel gemacht, ist weggelaufen und sitzt nun auf einer Mühle, droben im Ried, und hab' ihn schon oft um sein einsam und frei Leben beneidet.«

Der Casperli Billeter. Anna sah plötzlich wieder den kleinen Pfarrbuben von Rüti vor sich mit dem frechen Stumpfnäschen und den runden hellen Augen, und ein starkes Heimweh kam sie an nach ihrer Kinderheimat, denen Zeiten, da sie mit dem flinken Jungen im Mühlbach geschwadert und durch die weiten summenden Kleefelder gelaufen war. Sie seufzte: »Weißt du noch, Rudi, wie uns zumut war, als wir von Rüti wieder hierherkamen, in die enge Münstergass', zum grauen Mann, und sich uns die Mauern vor die Fenster stellten! Wie ein gefangenes Vöglein war ich da, das sich den Kopf an den Wänden blutig stößt. Ja, es ist schon schön, das Freiland und die Weite.«

Rudolf ließ die Ruder stehen und sah Anna mit glänzenden Augen an: »Ja, die Weite ... Weißt du, ich möcht' einmal hinaus aus diesen Mauern und fort, weit, weit fort.«

Anna nickte: »Im Land Italia gibt's herrliche Städte, dort stehen Marmorbilder an grünen Wänden und mitts aus den freien Plätzen, und Straßen gibt es, die gehen lang und gerade den glänzenden Flüssen nach und führen einen dahin und dorthin, weit, weit hinaus und nicht immer nur in engen, heimtückischen Winkeln herum. Dorthin möcht' ich.«

»Und gen Mitternacht,« fuhr Rudolf fort, »da gibt es Städte, da wohnen Menschen drin mit hellen und klugen Köpfen, die gehn den großen Geheimnissen nach und wissen, wie die Welt aus des Schöpfers Händen sprang und wie die Erde in den Ewigkeiten hängt – dorthin möcht' ich.«

Elisabeth betrachtete mit stillem Lächeln die älteren Geschwister: »Und ich wünsch' mir nichts Liebers, als immer hier bleiben zu können in der schönen Stadt mit den stolzen Kirchen und den heimlichen Gassen und mit dem Lindenblust – und die sich so lieblich auftut auf den hellen, weiten See. Ihr aber werdet schon noch zu euern Wünschen kommen.«

Rudolf lachte: »Wahr ist es, warum sollten wir beide nicht die Welt kennen lernen? Du, Anna, bist ja nun allbereits eine verrühmte Person, und wann die Fürsten erst bei dir bestellen, werden sie nimmer lang warten, bis sie dich zu sich rufen. Was meinst, Jungfer Hofmalerin? Ich aber, wann ich erst mein Examen hinter mir hab', warum soll ich nicht in die Welt hinaus kommen wie andere auch? Da ist der Johannes Cramer. Seit zweien Jahren weilt er nun schon an äußeren Orten auf der Gnädigen Herren Kosten, und weiß der Himmel, wie lang er noch bleiben kann.«

»Im Winter kommt er zurück,« sagte Elisabeth leise und bog ihren feinen Kopf über den Schiffsrand hinaus, als ob sie im Wasser etwas suchte. »Es ist ihm eine Stell als Professor der Sprachen am Collegio sicher.«

»Woher weißt dann du das?« Rudolf betrachtete überrascht die junge Schwester, deren helle Wangen sich plötzlich dunkel färbten.

»Er hat es geschrieben,« antwortete sie schüchtern. Aber dann hob sie plötzlich den Kopf und sah den Bruder aus glücklichen Augen frei und groß an: »Er hat es mir geschrieben.«

Anna und Rudolf gaben sich einen schnellen bedeutsamen Blick. Dann schwiegen sie alle. Sie hatten den Nachen gewendet und fuhren nun nach der Stadt zurück. Die Farben des Westens waren erloschen und hatten ein weißliches Himmelsstück hinterlassen, das einen silbrigen Schein weithin über die Wasser legte. So still war alles geworden auf einmal, so regungslos unter dem kühlen Hauch des sterbenden Lichtes.

Anna zog die Ruder langsam durch das silberne Wasser. Sie mußte nachdenken. Ganz plötzlich, aus Begeisterung und Sehnsucht hatte sich etwas auf sie gestürzt und saß ihr nun fremd und weh auf der Brust. Von Elisabeths stillem Geständnis war es hergekommen. Herrgott, war das am End Eifersucht? Mochte sie der jungen Schwester nicht gönnen, was ihr so grausam genommen war? Anna erschrak über sich selbst. So häßlich wäre das. Aber dann schüttelte sie leise den Kopf. Nein, nein, das war bloß die alte Wunde, die wieder schmerzte, und Lisabeths Worte hatten sie aufgerissen. Den neuen Lukas, den mit dem jungen Weib und dem einträglichen Geschäft, den hatte sie wohl überwunden; aber den andern, den früheren Lukas mit den heißen Augen und den seltenen Worten, den Lux, mit dem sie durch den grünverhangenen Wald gegangen, als die Goldamsel sang und das Moos unter ihren Füßen den feinen müden Geruch verströmte, den hatte sie nicht überwunden – den würde sie wohl nie überwinden – niemals.

Bei der Schifflände gingen sie ans Ufer, und während Rudolf den Kahn befestigte, stiegen die beiden Mädchen durch ein dunkles Gäßchen nach dem Oberdorf hinauf. Anna zog leise Lisabeths Hand durch ihren Arm: »Freust du dich, daß er zurückkommt, der Johannes Cramer?«

»Ja,« antwortete Elisabeth mit leisem Zittern.

»Und freut er sich, wiederzukommen?«

»Ja,« tönte es heller zurück, und dann fügte sie bei, mit einem zärtlichen Jubel in der Stimme wie bei ganz kleinen Vögeln, die ihre Kehle probieren am dunkeln Morgen, bevor die Sonne aufgeht: »Wir haben uns so gern, Johannes und ich.«

Anna drückte innig den Arm der Schwester: »So segne dich Gott, Schwesterlein; ich glaub', er ist ein feiner Mann, adlig in Gesinnung und Gestalt.«

Sie sah den Jüngling vor sich. Als sie von Bern zurück war, hatte sie ihn oft getroffen, wann er ins Haus kam, um Maria zu trösten über den Tod seines armen Vetters. Er war ihr immer angenehm gewesen mit seiner vornehmen und stillen Art und mit dem vornehmen blassen Gesicht. Er hatte eine hohe kluge Stirn mit ein paar zarten himmelblauen Äderchen drauf und seltsame Augen: groß und still, mit einem inneren Leuchten. Oh, der war anders als Lux, und der würde auch eine Liebe hegen können, zart und still wie ein heiliges Licht. Ja, der paßte zu der zarten Elisabeth. »Gott segne euch beide,« sagte sie noch einmal und streichelte wie andächtig der Schwester dünne Hand.

Da fiel ein Lichtschein über den Weg, der aus einer plötzlich geöffneten Schenktüre herausbrach, aber sofort wieder von der dunkeln Masse einer festen Gestalt aufgefangen wurde. Ein Mann verließ die Weinstube, stellte sich breitspurig vor die beiden Mädchen und schaute ihnen unter die Hauben: »Saker Hagel,« rief er überrascht, »meine Nönnchen! Ist das eine Ordnung! Ohne Begleit und zu der Stunde!«

»Der Rudolf ist mit uns,« erwiderte Lisabeth schier ängstlich.

»Was,« entgegnete der andere lachend, »der Student mit dem Flaumbartgesicht, das wär' noch ein schöner Schutz! Da ist's bei Gott an der Zeit, daß der Onkel Fähndrich euch unter die Fittiche nimmt, euch ungefedertes Hühnervolk!« Er nahm die beiden Mädchen, die ihm lachend einhängten, an seine Arme und trottete mit ihnen durch die dunkle Oberdorfgasse, in die ein paar helle Fensterchen lustige Lichtseelein warfen.

»Ist ihm auch zu gönnen, dem alten Knaben,« brummte er im Weitergehen, während er zwei schlanke Händchen zärtlich in seinen festen Tatzen vergrub, »ist ihm auch zu gönnen, daß er mal mit zwei so feinen Jüngferchen durch die nächtliche Stadt promenieren kann!«

Aber vor dem Großmünster, an der unteren Kirchhoftür, ließ er plötzlich ihre Hände los. »Geht voraus,« sagte er kurz, fast rauh, »ich komme euch nach.« Dann riß er den Hut vom Kopf und verlor sich im Schatten der Kirche, den der aufgehende Mond über die Kreuze warf.

An der oberen Pforte, die den Kirchhof von der Münstergasse trennte, holte Rudolf die Schwestern ein: »Habt ihr den Onkel Fähndrich gesehen?« fragte er leise. »Nun steht er wieder am Grab der Margarete; nie geht er über den Kirchhof, ohne sie zu besuchen.«

Die Mädchen nickten schweigend, und Anna dachte an die alte Geschichte von des Oheims seltsamer Liebe zu der schönen Violanda Bürklin schönem Kinde, das die Braut seines Bruders gewesen und so früh starb. Und plötzlich fiel ihr ein, wie rasch der Bräutigam, der Onkel Pfarrer, eine andere Eheliebste gefunden und daß der Onkel Fähndrich unbeweibt geblieben ... Ja, ja, der hatte es auch nicht verwinden können, der rauhe gute Mensch.

Unten vor der Haustüre stand er plötzlich wieder neben ihnen: »Nun hinein mit euch, ihr Nachtschwärmer!« rief er lachend, scheuchte mit Händeklatschen das junge Volk die dunkeln Treppen hinauf, wie man mit Hühnern tut, und folgte dann selbst bedächtigen Schrittes.

Als sie die große Stube betraten, die von einer Ampel nur mäßig erhellt wurde, sahen ihnen die andern mit besorgten und ernsthaften Gesichtern entgegen. »Ihr seid spät,« sagte der Amtmann mit trockener Stimme und zog die Stirne kraus. »Nimmt mich wunder, daß man euch das Grendeltor nicht vor der Nasen zugeschlagen und daß ihr nicht dem Profosen in die Händ gefallen. Das sind mir absonderliche Manieren das!«

Aber der Fähndrich fuhr begütigend dazwischen: »Papperlapapp, Jungvolk muß auch seine Sprüng machen, kannst sie nicht alleweg einsperren wie die Bürgermeisterin ihren Affen.« Und er küßte mit einer artigen Reverenz, die seinem schweren Körper merkwürdig stand, der Amtmännin weiche wächserne Hand.

Diese nickte ihm freundlich zu und fuhr dann ihrem Eheherrn scheu und beschwichtigend über die bedenklichen Stirnfalten: »Ein ander Mal wird's nimmer vorkommen, Vater, es war doch heut ein sonderlicher Anlaß.«

»Was, sonderlicher Anlaß?« fragte der Fähndrich, während er sich schwerfällig und mit vernehmlichem Krachen des festen Lehnstuhls niederließ. »Hat eins seinen Namenstag oder hat die Esther wieder was zur Welt gebracht?«

»Wie du auch redest,« entgegnete die Schwägerin vorwurfsvoll; »der Casparli ist ja kaum sieben Monate alt.«

»Nanu, dann schwör' ich drauf, daß ihr in zwei Monat wieder Großeltern werdet; die hat's los, die Dietschin!«

Mit Rudolfs Hilfe, der Stein und Zunder herbeibrachte, setzte er, ungeachtet des kopfschüttelnden Bruders, der den verbotenen Tabak nur ungern duldete, sein kurzes Pfeifchen in Brand und ließ sich derweil von Annas neuesten Erfolgen berichten.

»Saker Hagel,« rief er dann und zog mit gutmütigem Spott die Brauen hoch, »da muß man dir ja felicitieren, Meiti,« und er zog Anna zu sich und küßte sie mitten auf den schmalen Mund. »Ist allweg was anderes, so ein hochfürstlich Contrafet zu malen als ein gemein bürgerlich Gefräß, und wird dir auch gleich sein, wenn einmal was anderes unter den Pinsel kriegst denn lange Basler und breite Zürcher Nasen!«

Er setzte sich behaglich in den Lehnstuhl zurück und sah zu, wie Maria aus einem großen zinnernen Krug den klaren Herrliberger in die Becher goß, während die Amtmännin ihre unterbrochene Stickarbeit mit subtilen Händen wieder aufnahm und die beiden Mädchen das Zimmer verließen, um Hauben und Tüchlein abzulegen.

Der Amtmann rückte seinen Stuhl zum Bruder hin: »Was sagst du zum Erfolg unserer Tochter?« fragte er leise, während er langsam die blassen Hände aneinander rieb. »Leben wir nicht in einer schönen und gebildeten Zeit, da selbst dem Frauenzimmer so hohe Ehre nicht versagt ist?«

»Was, schöne Zeit!« schnauzte der andere dawider. »Für das Meiti kann die Zeit nichts, das Anneli war von der ersten Stund ab was Besonderes. Was, gebildete Zeit! Ja, wann man Bildung nach Papier und Tinten bemessen könnt' und wann Wortedrechsler und Haarspalter gelehrte Leut und Aberglaube Weistum wär', dann stünd' unser Säculum obenan. Aber wann man nach großen eigenen Gedanken, klarem Urteil und verstandsamen Spruch oder gar nach Taten fragt, da kann unsere vielverrühmte Zeit recht als ein geschlagener Hund den Schwanz zwischen die Schlotterbein nehmen und sich verkriechen, wo's am finstersten ist. Da meinen sie, was Wunder es sei, wann heutigstags jeder Schnuderbub sein eigen Federrohr besitzt, und ziehen die bleichen Nasen krumm, wann einer vom dunkeln Mittelalter redet, und mein' doch, daß die Zeiten, da der edle Rüdiger von Maneß, der nicht bloß die Federen, wohl aber auch das Schwert zu führen verstanden, dort drüben im Blarerturm mit Staatsleuten, Dichtern und gelehrtem Volk allerlei unterhaltsame und nachdenkliche Stunden feierte, an Weistum unserer verbildeten, papierenen Zeit um nichts nachstand.«

Mit grimmem Schnauf blies er den Rauch seines schweren Tabaks von sich und blickte gedankenvoll zu dem dunkeln Turm, der querüber auf der andern Seite der Gasse stand und mit matten Lichtern ins Fenster schaute.

Der Amtmann lehnte sich im Stuhl zurück und nagte unmutig die dünnen Lippen. Ein blaues Äderchen zitterte erregt auf der schmalen Schläfe, was seine Frau mit Besorgnis beobachtete.

Da öffnete sich die Türe, und Anna erschien, den kleinen Bruder an der Hand. »Er will euch gut Nacht sagen, der Heinerli,« und sie schob ihn, der die geblendeten Augen mit den Händen bedeckte, an den Tisch.

»Was ist, Fledermäusli,« sagte der Fähndrich freundlich, »hast schon geschlafen, daß d' Augen nimmer öffnen kannst?«

»Auf der dunkeln Winde war er,« berichtete Anna, »und hat die Sterne betrachtet durch die Dachluke; jetzt muß er sich erst ans Licht gewöhnen.«

Der Oheim legte die Pfeife weg, zog dem Knaben die beiden Händchen vom Gesicht und sah zu, wie die blinzelnden Augen nach und nach ruhig wurden und zuletzt still und groß in dem altklugen Gesicht standen. »So, Sterngucker,« sagte er gutmütig, »und was hast alsdann gesehn dort oben? Erzähl' eins!«

Aber der Knabe schüttelte den Kopf und seufzte:

»Oh, das kann man nicht sagen, so schön, so hoch.« Und dann war ein unkindliches Flimmern in den braunen Augen, daß einem sonderbar zumute wurde.

Der Fähndrich strich ihm über die rötlichblonden Locken, die das schmale Gesichtchen umgaben. »Sapperment,« rief er dann halb erbost, »ist das ein Haar, daß es einem an den Fingern hängen bleibt, wie ungesponnene Seide!« und er löste seine rauhe Hand aus dem zarten Gewirr. »Festere Borsten solltest haben und festere Knochen, Bub, und im Bett liegen solltest und schlafen statt die Sterne begucken. Zeig mal, wie schwer geworden bist angehnds!«

Er stand auf, hob Heini mit starken Händen über den Kopf bis zur Decke empor und stellte ihn dann enttäuscht wieder auf den Boden. »Leichte War, viel zu leicht für deine neun Jahre!« Er setzte sich in den Lehnstuhl zurück und betrachtete den schlanken Knaben, der sich, das blasse Gesicht schmerzlich verzogen, die schmalen Schultern rieb, dort, wo des Onkels Hände ihn angefaßt hatten.

»Was, und wehleidig auch noch!« rief er mißmutig. »Da ist das Estherlein bei Gott ein anderer Held, wenn's schon erst die drei Jahr zählt, das Figürchen! Kaum daß es mich sieht: ›Onkel, Hotti machen!‹ ruft's, und dann läßt's nicht lugg, bis es oben sitzt. Nicht etwan auf meiner Schulter, das ist ihm zu nieder, dem Amazönchen, nein, meine Perücke herunternehmen muß ich, und grad mitts auf meinen Schädel hocken will es, und dann muß ich traben mit ihm, immer rund in der großen Stube, bis mir der Schnauf ausgeht und ich es abwerf grad von oben herunter in einem Ruck pumps hinein ins Lotterbett. Und hat keine Angst nicht und quietscht vor Wonne wie ein junges Säulein, das man aus dem Sack läßt. Ein Donnerskröttli, das Estherlein!«

Er lachte mit dem ganzen Gesicht, und die andern nickten: »Ja, das Estherlein,« und lachten mit. Wie wenn einer vom Frühling redet und jeder sich seine stille Freude aus dem Wort zieht, so war es, als der Name des Kindes auf eins herfürsprang.

Nur Heini lachte nicht. »Ich mag's nicht, das Estherlein,« und er warf den schmalen Kopf stolz zurück. »Die schönsten Sachen nimmt es mir weg, und wann ich etwas dawider sag', so zeigt's mir seine Zunge, die ist ganz rot und spitz, und kann sie nicht leiden.«

»Mußt dich halt wehren, Bub,« sagte der Onkel lachend. »Freilich,« fügte er dann nachdenklich bei, »schwer ist's schon, ihm etwas abzuschlagen, dem Figürchen. Hat mir auch die silberne Medaille abgelätschelt, die ich vom Oncle Bürgermeister her hab' und wo das Bild drauf steht von der glorreichen Ambassade. Nun spielt's Hurlibub damit, und ich laß es gewähren und denk' mir, 's war auch nicht viel anders als so ein Tanz, die ganze Komödi, und freut es mich, daß es das Estherlein ist, das ihn führt, und nicht der stolze Perückenkönig.«

Der Amtmann fuhr entsetzt auf: »Was, dem Kind gibst du sie, die wertvolle Denkmünze!« und er zürnte: »Viel zu viel laßt ihr ihm nach, alle miteinander; seine Mutter beklagt sich auch, die Esther, daß man es ihr verwöhne. Hat ohnehin ein zu wildes Blut, sollte fester eingetan werden.«

»Warum nicht gar,« wehrte der Fähndrich. »Laßt das Pflänzlein gedeihen, wird allewege nicht anders als der Same, daraus es gekrochen, und was aus einer Hagebutten kommt, muß stechen und blühen und Wohlgeruch streuen, und kannst niemalen eine Ilge daraus machen. Kommt nur daraus an, daß man jedwedes an sein Platz stellt: die wilde Rose an den Zaun, daß sie ranken kann, und die Ilge in das still Gärtlein, allwo sie keiner stört. Für das Estherlein ist mir lang nicht angst. Dem Anneli gleicht es am meisten, und wann's auch ein Stück wilder ist und trutziger – das ist gutes Blut und wird seinen Weg schon machen.«

Inzwischen hatte Heini mit Gutenacht und Handkuß die Runde gemacht. Nun trat er vor den Fähndrich, küßte sein weißes Händchen und legte es flüchtig in des Onkels feste Tatze, der es entfloh, bevor sie nur recht zugegriffen.

Dann umfaßte der Knabe in plötzlichem Ungestüm die große Schwester: »Gelt, Anna, das erzählst mir noch von dem bösen roten Stern, der die Kriegsfuria anzündt, und von dem schönen weißen, wo sie wieder löscht?«

»Ein ander Mal,« sagte Anna lächelnd und küßte ihn auf die helle Stirn, »jetzt sollst du schlafen!«

Da trat Rudolf, der die ganze Zeit schweigend hinter Marias Spinnrad zwischen den beiden Säulen des dunkeln Fensterwändchens gestanden hatte, in den Lichtkreis. »Mein, Heinerli,« sagte er geheimnisvoll, mit glänzenden Augen, »ich wüßt' dir auch von den Sternen zu erzählen, von den tausend kleinen Sternen, die alle um die große Sonne tanzen und wir auch mitten drin, so ein kleiner tanzender Stern!«

Heini sah den großen Bruder verständnislos an; aber der Amtmann zürnte: »Das Kind mindestens sollst mir annoch verschonen mit deiner diskutabeln Scheuchzerschen Lehr!« Und er schlug mit der flachen trockenen Hand auf den Tisch, daß Frau Esther erschreckt ausfuhr.

»Geh nun, Heini,« sagte sie ängstlich, »und vergiß das Beten nicht, Kind!«

Als der Knabe das Zimmer verließ, sah ihm der Fähndrich ernsthaft nach. »Zartes Gewächs, zartes Gewächs,« brummte er, »das ist auch so eine Ilge, der man ein still Plätzchen sollte aussuchen können. Schad, daß er kein Katholischer ist, der Bub, ein Mönchlein hätte er gegeben wie kein anderer. Für einen reformierten Geistlichen ist er zu sinnierlich und zu schwach. Wir sollten feste Leut haben, heutigstags, solche, die den alten Geist zu wecken oder einen neuen zu pflanzen vermöchten, sonst kommt's schlimm mit uns, und der dort hätt' sich sein Herzblut füglich sparen können.« Er wies nach der gegenüberliegenden Wand, wo auf braunem Getäfer zwischen schwarzgrundigen Ahnenbildern Zwinglis Contrafet hing.

Rudolf zog hastig seine niedrige Sidele neben des Onkels hohen Stuhl und blickte ihn von unten herauf mit heißen Wangen an: »Wie meint Ihr das, Oheim?«

»Wie ich das mein'?« Er schob die Augen zusammen und blies umständliche Wolken über sich: »So mein' ich's: Pfaffheit bleibt alleweil Pfaffheit. Geist muß zu Worten werden, himmlisch Feuer zu Geschwätz, die rein Lehr müssen's in Satzungen gießen. Herzenssach wird Hirngespinst, Liebe in Haß verkehrt, und was uns zur Freud sein sollt' und trostlichen Erhebung, zu einem Instrumente geformt, darmit die arm Seel zu quälen. Da muß denn einer kommen von Zeit zu Zeit und den schwarzen Fetzen herunterreißen, der das himmlische Licht also traurig verstecket, und den Staub wegwischen, so auf dem göttlichen Wort liegt. Das hat der Zwingli getan. Eja, war das ein lustiger Putztag! Mit dem Licht hingezündet, daß man den Plunder sah in der hintersten Ecken, mit dem Schwert aufgestöbert, mit dem Feuergeist dreingefahren und annoch nachgewaschen mit dem eigenen Herzblut. So gründlich hat keiner gefegt, der Luther nicht und nicht der Calvin, ist kein Stäublein geblieben auf der reinen göttlichen Lehr, daß sie bloß war und blank wie am ersten Tag ... Aber dann sind die Schwarzröck wieder drüber gekommen, die flauen und die schlauen, haben mit Eifer begonnen, mit Verblendung weitergefahren und mit Faulheit und Eigennutz zum bösen End geführt, allwo der Plunder wieder gehäufet liegt, fast so dick wie zuvor, darunter die rein Lehr ersticken muß wie ein arm's Kindlein, das eine schlimme Dirn erdrückt unter ihrem Dachbett.«

Er hielt inne. Der Amtmann war aufgesprungen, hatte ein Fenster, das um ein weniges offen gestanden, mit Geräusch geschlossen und stellte sich nun bleich und erregt vor den Fähndrich.

»Bruder,« sagte er mit eigentümlich belegter Stimme, »sprichst wie ein Schmachlibell! Denk, zu wem du sie redest, deine aufrührerischen Wort, daß d' jung unreif Volk vor dir hast, zumal einen Candidatum theologiae, der über ein kleines die heiligen Glaubenssätz unserer hohen Kirche wird beschwören müssen!«

Der andere lachte grimmig: »Grad zu ihnen hab' ich gesprochen, Bruder, grad zu den Jungen und zu Rudolf zuerst. Dir brauch' ich nicht davon zu reden, hast deine eigene Meinung und weißt deine Sach so gut wie ich. Aber die Jungen, die Jungen! Sollen sie im alten schleimigen Fahrwasser weiterschwimmen und den betrübten Geist dieses verlebten und versärbelten Jahrhunderts in das neu hinübertragen und also einen Leichnam in eine Wiege legen? Schau dir den Rudi an! Das vorspringend Kinn hat das Zwingliblut in den Waserstamm hereingebracht; sollt' er mit dem kostbarlichen Tropfen nicht auch noch ein Brösemlein Zwingligeist bekommen haben? Und das Meiti, die Anna, paßt die mit ihren klaren Augen, verstandsamem Kopf und kunstreichen Händen etwan in das Spinnwebgehäus des sterbenden Säculi? Sollen deshalb, weil wir Alten uns nimmer bekeimen können, nun auch die jungen Keimlein, solche sich allenthalben schüchtern herfürwagen, erstickt werden unter dem alten Unrat?«

»Mit nichten,« erwiderte der Amtmann, der, ruhiger geworden, seinen alten Sitz am Tisch wieder einnahm. »Mit nichten, Bruder; aber junge Keim müssen Zeit haben, so sie sich gedeihlich entwickeln sollen. Kommt nun einer und zupft daran und bringt künstliche Wärme hinzu und unzeitig Licht nächtlicherweis aus lauter Ungeduld, weil er den Frühling nimmer zu schauen fürchtet und nun im Herbst noch die jungen Pflänzchen sehn möcht' – sieh, wie schwächlich sie aufgehn, wie erbarmungswürdig sie sterben, und im Haustagen steht das Feld leer. Ich« – er hielt einen Augenblick inne und setzte dann mit eigentümlich blasser Stimme hinzu – »ich hab's schon einmal gesehn, dieses unzeitige Ausgehen und Sterben – an meinem Buben möcht' ich's nicht auch noch erleben.«

Ein weher Ton, bang und zitternd, fast wie der Schrei einer Möve, die am grauen Wintertag einsam zwischen Nebel und Wasser kreist, durchschnitt die plötzliche Stille. Maria, deren Spinnrad lange schwieg, stand mitten im Zimmer. Einen Augenblick sahen alle erschreckt in ihr schneeweißes Gesicht mit den weißen wehen Lippen und den wehen übergroßen Augen, dann stürzte sie hinaus.

Die Amtmännin blickte sich hilflos um und griff mit bebenden Händen an ihre Schläfen: »Die Maria, das arm, arm Kind, wenn nur nichts geschieht!«

»Nein, Mutter,« sagte Anna einfach und erhob sich, »seid getrost, ich gehe zu ihr.«

Nach kurzer Zeit kam sie zurück: »Sie ist wieder ruhig und läßt abbitten, wenn sie nimmer kommt zum Abendsegen. Sie hat geweint, und nun mußt' ich ihr das Alt Testament geben. Da liest sie ihren CIII. Psalm, und das hoch Lied von der Göttlichen Erbarmung und menschlichen Nichtigkeit ist ihr Arzenei und besser denn alle unsere Trostworte.«

Der Fähndrich klopfte die Pfeife aus, mit einem betrübten, ein wenig verlegenen Gesicht. »Saker Hagel, das hab' ich nicht gewollt, das arm Kind erschrecken!« Er sah nachdenklich vor sich hin: »Hast am Ende recht, Bruder, reifen lassen ... Ja, wann man das könnt'! Warst halt immer der Fürsichtigere und Weisere, trotzdem der Jünger bist. Ich, wann mir die schlimmen Ding zu Sinn kommen, da reißt's mich immer wieder fort und mein', ich müss' den andern die Nase draufstoßen, wann sie's nicht selber sehen, und ihnen die Fenster aufreißen und die jungen Kräft anspornen, daß sie nicht ungenützt verlampen. Heut, als ich am neuen Rathaus vorbeikam, da hat's mich wieder mal gepackt. Das Gerüst nehmen sie weg, und da kommen nun die schönen steinernen Köpf herfür, einer nach dem andern, die sie auffigürt haben auf dem stolzen welschen Bau. Ist gar ein fürnehm Schauen, die alten griechisch und römischen Helden und dazwischen ihre helvetisch und zürcherischen Brüder und jeder mit einem schönen lateinischen Sätzlein ausstaffiert! Da ist mir aber aufgestoßen, wie schlecht die Taffere zum Geschäft paßt und die Büchse zum Inhalt: Hängen Heldenhäupter heraus und große, vieldeutende Sprüch, herinnen aber armselige Perückenköpf, die lieber Weibermoden studieren denn tüchtig Mannswort, lieber Kleidermandat fabrizieren und Glaubenssatz denn eine vernünftige legislationem. Kein Gehirn nicht, Spürnasen bloß und Zeigfinger.«

Der Amtmann lachte kurz auf: »Schön gesprochen, Ratsherr, ist ein netter Anblick, wann einer in sein eigen Nest hofiert!«

»Selb tu' ich nicht, Bruder,« erwiderte der andere ruhig, »nur sauber halten möcht' ich's, das lieb alt Nest; du weißt selbst, wieviel unsereiner zu sagen hat im Regiment. Zusehen können wir, wie sie es treiben: lassen fremd Geld in die eigenen Taschen rinnen und behandeln den armen Mann als einen servum, nehmen ihm sein arm Lebensfreud und meinen, daß man also glücklich und willig Untertanen schafft. Und ist mir beigefallen, daß es allenthalben so im ganzen lieben Helvetien, Zweiheit und Enge und Haderlust allerorten, und mußt' an die schönen alten Träum denken, dem Zwingli seine stolzen Plan und letzthin noch des Oncle Bürgermeisters verstandsam und wohlerwogen Vorschlag, wie sie all ins Wasser gefallen bishero, und wie kein Einheit nicht und kein Richtlinien, und hab' an Villmergen denken müssen und an die Ausländerei und an Hüningen – Herrgott! Da ist mir die Galle aufgekrochen, daß ich sie hab' herunterschwemmen müssen in der ersten Weinstube. Aber ist doch nicht gelungen, bin halt doch noch herausgeplatzt.« Er seufzte wehmütig und streckte die kurzen Beine ergeben von sich. »Und nützt doch allweg nichts, das Geschimpf, hast am End recht, Bruder: Ausreifen lassen, ausreifen lassen – wenn man's kann!«

Aber Rudolf sprang auf: »Nein, Oheim, nicht warten, auf die lang Bank schieben nicht! Wann sie uns die Fenster nicht von innen auftun, dann schlagen wir sie von außen ein. Oh, wir haben Mittel!« Er lachte, und seine Augen blitzten. »Neue Mittel, Onkel, aber kräftige, nicht Schwerter und nicht Legislationes, aber Wahrheiten ...«

Doch der Amtmann fuhr ihm mit einem barschen Wort dazwischen: »Schweig, Bursch, und daß nimmer solche Worte wagst in meinem Beisein, hörst! Was ich am allermindsten leiden kann, das ist großmäulerisch und frech Jungvolk, solches klüger sein will als das Alter.«

Rudolf, dem die Flamme übers Gesicht schlug, suchte sich zu verteidigen: »Ich bin nicht großmäulig, Vater, nicht frech ...«

Aber der Fähndrich klopfte ihm begütigend auf die Schulter: »Hast mich selbst schier erschreckt, Rudi. Das mit den Wahrheiten, nimm dich in acht! Willst ein Pfarrer werden, schau, die Heilige Schrift, mit dem Herzen muß man sie begreifen, und nur wann's durchs Herz geht, so wirkts, das göttlich Wort. Leicht aber kannst mit unpäßlicher Forschgier die reine Lehr antasten.«

»Die Heilige Schrift,« redete der Amtmann streng dazwischen, »hat keine Forschgier nicht zu fürchten, wenn sie von weisen und vernünftigen Leuten kommt, und die Wissenschaften, so sie ernsthaft und streng betrieben werden, machen mir keine Angst, sie werden schon so weit kommen, daß es stimmt mit dem göttlichen Wort. Aber was jung und unreif Volk da erstürmen will, das kann nichts Gutes sein. Der Herrgott läßt sich keine Geheimnisse abzwingen, am allermindesten durch übermütig und selbstisch Gebaren. Er gibt seine Schätz, wann Er will, zunächst aber dem, der warten kann und in Demut sich bescheiden.«

Er stand auf, und wie er nun den schmalen Mund schloß mit einer kalten und bestimmten Art, war es, als ob er einen festen Punkt hinter sein Diktum gesetzt hätte, einen Pfahl, darüber man sich nimmer hinauswagt.

Auch der Fähndrich erhob sich. »Es ist spät geworden und hab' ob all dem Disput die Hauptsach vergessen und warum ich eigentlich hierher gekommen bin.« Er wandte sich an Frau Esther: »Die Schmidin, das Lisi, ist mir krank geworden, liegt im Bett mit Hexenschuß, sollt' jemanden brauchen zur Hülf; da hab' ich dran gedacht, die Maria, wenn sie kommen wollte, ich wüßt' es ihr zu danken, daß sie mir ein Aug hätte auf allem, die arme Kreatur pflegte, auch etwan im Gewerb nachsähe; ist jetzt allenthalben viel Arbeit mit Eintun und neu Pflanzen ...«

Die Amtmännin, die mit einem bleichen und verletzten Gesicht den aufgeregten Reden der Männer beigewohnt hatte, schüttelte leise den Kopf: »Es wird kaum gehen. Nicht einmal aus dem Haus heraus bringt man sie, wenn's nicht in die Kirche geht oder aufs Grab. Und nun gar in ein fremd Haus und zu neuer Arbeit – wirst dich um jemand anders umtun müssen, Schwager.«

»Das kann ich schon, Leut find' ich allerwege; aber« – er zog bedenklich den langen Schnurrbart – »leid tut's mir, auch um die Maria. Eben heraus sollte sie, ist ja bleich wie eine Kellerrübe – und sich um etwas annehmen. Wann man fremde Wunden verbindet, vergißt man am ehsten die eigenen, und frischere Luft haben wir auch droben auf dem Graben und im Feld als ihr in eurer Staatsgass', und grad die Fremde sollte das großväterliche Haus ihr auch nicht sein.«

Da legte Anna ihre Hand begütigend auf der Mutter aufgeregte Finger: »Ich glaub' auch, Mutter, daß es gut wär' für die Maria. Wenn Ihr einverstanden seid und der Vater nichts dagegen hat – ich will sie schon dazu bringen, und wenn es etwa mehr zu helfen gibt, ich greif' gern mit an.«

Anna leuchtete dem Onkel die Treppe hinunter. Unten vor der Türe blieb er stehen und betrachtete das Mädchen, das im roten Kerzenlicht hell vor ihm stand, einen Augenblick. »Das liebe, klare Gesichtlein,« murmelte er und streichelte ihr weiches Kinn. »Ist gut, daß du da bist, Anna, so klare Augen, wir können sie hier brauchen. Ist nicht alles im Blei: Mattheit und Phantasterei und Weichlichkeit und Strenge – all's ohne Ausgleich. Dein gesunder Kopf und dein jung Blut können viel Gutes schaffen da, vergiß das nicht neben deiner Wissenschaft und Künst.« Er drückte Anna die Hand, daß es sie schmerzte, und verließ dann mit lauten Schritten das Haus.

Nachdenklich stieg sie die Treppe hinaus. Viel neuer und besonderer Gedanken waren ihr durch den Kopf geschossen heute und brodelten durcheinander. Nun aber lag des Onkels Wort zu oberst. Viel Gutes schaffen, ausgleichen – ja, ja, wann sie es konnte! Und es kam ihr auf, wie selbstisch sie bis jetzt gelebt, am meisten in der Zeit der Schmerzen: aber das mußte jetzt vorüber sein. Sie gab sich einen Ruck, daß das Licht in ihrer Hand flackerte. Ein stilles Herz mußte sie haben, einen steten Sinn und eine sichere Hand, wenn sie den andern helfen wollte.

In der Stube standen sie schon zur Abendandacht bereit, mit gesenkten Köpfen und gefalteten Händen, und der Vater vor ihnen, aufrecht über der offenen Bibel. Rasch trat Anna in den Kreis neben die alte Sarah, die etwas abseits dastand und ihre braunknochigen Finger unbeholfen ineinanderschlang.

Der Amtmann hub an, mit scharfer, eintöniger Stimme, den Blick unverwandt auf seinen Sohn gerichtet:

»Solches stehet geschrieben in des Apostels Pauli erster Epistel an die Corinther, allda im dritten Capitulo, und hat diese Worte ein trefflicher Diener unserer Kirchen, nämlich der Antistes Casparus Waserus, unser seliger Oheim, seinem ersten Sermon zugrunde gelegt, so er auf der Kanzel Zwinglis gehalten.«

Er las:

»Und ich, lieben Brüder, konnte nicht mit euch reden als mit Geistlichen, sondern als mit Fleischlichen, wie mit jungen Kinder in Christo. Milch habe ich euch zu trinken gegeben und nicht Speise, denn ihr konntet noch nicht: auch könnt ihr noch jetzt nicht. Dieweil ihr noch fleischlich. Denn sintemal Eifer und Zank und Zwietracht unter euch sind, seid ihr denn nicht fleischlich und wandelt nach menschlicher Weise? ... So ist nun weder der da pflanzt, noch der da begießt etwas, sondern Gott, der das Gedeihen gibt. Der aber pflanzt und der da begießt ist einer wie der andere. Ein jeglicher aber wird seinen Lohn empfangen nach seiner Arbeit.«

Langsam schloß er das große silberbeschlagene Buch, mit einem ehrfürchtigen Blick nach dem Bildnis des Antistes, der mit langem weißem Bart und milden Augen aus dem dunkeln Rahmen herausblickte.

Dann folgte der kurze Abendsegen, und mit stummem Gruß verließ eins nach dem andern die Stube. Nach dem göttlichen Wort sollte keine weltliche Rede mehr laut werden, so wollte es der Amtmann.

Anna sah, wie Rudolf bleich und mit hängenden Armen hinausschlich. Elisabeth aber hatte immer noch dasselbe stille Lächeln in den Augen, das sie den ganzen Abend trotz den heißen und wilden Worten nicht verloren.

Ja, bei der war's nun Frühling, und sie wandelte im Licht.

*

Maria hatte sich überreden lassen. Sie war zum Oheim in sein lustiges Haus auf der Schanze hinausgezogen und blieb dort, auch als die alte Schmidin das Bett wieder verlassen konnte. Ihre jungen Augen und sorgfältigen Hände waren auch jetzt noch nötig. Der Onkel bewies es ihr und wußte immer neue Aufgaben zu stellen, verantwortungsvolle, die den Kopf in Anspruch nahmen. Das war nicht leicht; aber man gewöhnte sich daran, und der Kopf wurde heller und das Herz minder sehr, ach, und wann sie sah, wie des Onkels Behagen wuchs und er ihr freundlich zunickte: »Ja, so wär's schön bei mir, glatt und geordnet, fast wieder wie zur Zeit, als ich mit Mutter seligen hauste«, war da nicht wieder etwas Liebes in ihr, wie eine ganz, ganz kleine Freude? Und so blieb sie denn.

Auch im Waserschen Hause gewöhnte man sich daran. Vielleicht war es sogar um einen kleinen Schimmer heller geworden im Grauen Mann, seitdem Marias müder Schritt nicht mehr durch die dunkeln Stuben ging. Anna freilich vermißte zuerst den stillen Gast in ihrem Arbeitszimmer und daß ihr Blick nicht mehr auf Marias still schaffenden, nachdenklichen Händen ruhen konnte, wann sie von der Arbeit aufschaute. Aber als dann die andern Geschwister, die früher die Scheu vor der ernsten Maria ferngehalten, Annas Malstube mehr und mehr als ihre Heimstätte betrachteten, da war es doch auch ihr, wie wenn nach erloschenen Zeiten ein Licht wieder aufgeht, ob es schon kein übermütig jung Leben war, das sie mit sich brachten. Kein fröhliches Kinderlachen trug der kleine Heini herein, der stundenlang neben der großen Schwester stehen und aufmerksam jeden Pinselstrich beobachten konnte, nur hier und da die Stille durch seltsame Fragen brechend, die oft zaghaft und unbewußt um die letzten Dinge tasteten. Und Rudolf, der seine inneren Kämpfe vor Anna ausbreitete und seinen schwerverhaltenen Groll gegen den Vater, der ihm jeglichen Umgang mit Scheuchzern und seinen Genossen untersagt hatte, brachte auch kein frohes und helles Wesen, wohl aber Leben und ein heißes Herz, an dessen weitzielenden Plänen Anna sich selbst entzündete.

Auch Elisabeth kam. Nur selten und in den Stunden des Zwielichts. Dann erzählte sie von ihrer Liebe. Mit einer leisen schwebenden Stimme, auf der, wie der feuchtschimmernde Hauch auf Morgenblüten, eine innige Zärtlichkeit lag. Und die zarten Worte ließen Anna erzittern. Wie anders war Lisabeths Empfinden voll grenzenloser Hingabe als ihre Liebe, die gekämpft hatte und gejubelt und so rasch zusammengebrochen war! Ja, das war es wohl, das große tiefe Gefühl, das für ein Leben dauerte und über den Tod hinausging und das sich nicht an sich selbst verblutete. Die große selbstlose Liebe, die wenig verlangt und alles gibt. Anna fing an, Elisabeth zu beobachten mit einer Art scheuer und stiller Verehrung. Und als deren Geliebter wieder in seine Vaterstadt kam und mit dem stillen Einverständnis der Eltern im Hause verkehrte und sie sah, wie die beiden aneinander hingen und sich liebten ohne Ungestüm mit einem heiteren innigen Genügen und wie die Schwester dem andern sich unterordnete in allem und ihre ganze junge Menschlichkeit bedingungslos in dem Wesen des geliebten Mannes auflöste, da begriff sie, daß es ein Glück gab, das für sie nicht bestand, weil es eine Liebe gab, deren sie nicht fähig war. Etwas war in ihr, das sich nicht hingeben konnte, was sich behaupten mußte, das stärker war als sie selbst und alles, das von außen kam. Worte von Andreas Morell fielen ihr ein und Werners Warnung: »Kunst und Liebe, ein Weibesherz ist zu eng für beides!« So war es doch wohl deshalb, daß ihre Liebe sterben mußte, damit das andere sich entfalten konnte, ganz. Ein höheres Zeichen war es am Ende, daß sie sich nicht verlieren durfte, weilen etwas Bedeutsames in ihr war, wohl wert, ein ganzes Leben ihm zu weihen.

Und in ihren steten Arbeitseifer kam ein neues Feuer, das sie antrieb, über das Erreichte hinaus neuen, größeren Zielen zuzustreben. Wie Rudolf, der auch nicht an Liebe dachte und die Bedürfnisse des Herzens, wollte sie einem Großen folgen, mochte es noch so fern liegen und unerreichbar, sie wollte daran glauben und kämpfen, kämpfen. Die großen Namen, die Werner ihr oft genannt hatte, wie man einer zagenden Seele die Seligkeiten des Jenseits nennt, um sie zu gläubigem Aufschwung zu treiben, klangen ihr im Ohr. So jung war sie noch, sollte nicht ein Weg sich finden, der über ihr gegenwärtiges Können, auf das sie vor kurzem noch so stolz gewesen und das ihr nun auf einmal nicht mehr genügen konnte, hinaus nach jenen glänzenden Höhen führte!

Wie ein Fieber kam es über sie. Ihre Malstube wurde ihr zu eng und die Aufträge, die sich mehrten, aber über die Schranken des Gewohnten nicht hinauswiesen, zur Qual. Kopieren, immer wieder kopieren und hier und da ein Contrafetchen nach dem Leben, war das die große Kunst, von der sie geträumt hatte? Wo waren die stolzen Pläne, die sie einst mit Giulio geschmiedet, wo ihr eigene gute Kraft? Sie dachte an ihr Schäferstück; hatte sie es seither übertreffen oder auch nur erreicht? Stand sie nicht an jener gefährlichen Grenze, vor der Giulio sie gewarnt, und war daran, in handwerklicher Geschicklichkeit ihre großen Hoffnungen zu begraben?

Giulio und Morell und Herr Werner, alle hatten sie in die Ferne gewiesen, und nun saß sie da zwischen gehäufter Arbeit, aus der ihr Sehnen keinen Ausweg fand.

Und da war Rudolf und schürte ihre Fernsucht mit seinem eigenen heißen Verlangen. Die Schule hatte er hinter sich, aber war annoch frei und ohne Stelle, und nun drängte es ihn fort: lernen, lernen, nicht nur zu Arbeit und Verdienst, lernen, um das Höchste zu erreichen.

Und da war Johannes Cramer, dessen das Glück sich zum andern Mal annahm, indem es dem noch so Jungen eine ehrende Stelle brachte, als Professor an einer kleinen Akademie draußen in deutschen Landen. An einem Maimorgen zog er aus, mit solch frohem Leuchten in den blauen Augen und einem seltenen roten Schimmerchen auf den schmalen Wangen, als er Lisabeth behütete: »Nun geht's nimmer lang, dann hol' ich dich!«

Und Elisabeth hatte unter Tränen gelacht: »O Lieber, Lieber, nun kommen deine Briefe, die schönen, da will ich nimmer klagen, daß du fort bist, will mich freuen, daß es dir gut geht, und stolz sein auf meinen hochgelehrten Liebsten.«

Ein so hoffnungsreich seliges Abschiednehmen. Aber Rudolf, als er den andern wegreiten sah, hatte sich die magere Hand in die Augen gedrückt und geweint wie ein Bub: »Ja, der, der kann gehen, alle Welt steht ihm offen und alle Zukunft. Wir aber können dableiben in den Mauern drin und oboedientiam lernen und uns ducken, ducken und kein Freiheit nicht, kein Luft nicht, kein Ausweg nicht!«

Anna hatte ihn zu trösten versucht und zu mahnen, und hatte doch selbst das Herz voll. Die Welt, die Welt, die das große Geheimnisvolle in Händen halten mußte, darnach sie sich sehnten, beide ...

Und Elisabeth erzählte voller Stolz aus den Briefen ihres Liebsten, wie er einen glänzenden Weg genommen, in Basel auf der hohen Universität Kosten – das war am sechzehnten des Mai – zum Doktor creieret worden, wie er viel Freundschaft und Glück genossen auf der weiten sonnigen Reis' den Rhein hinab und wie er in Herborn auf der Akademie daselbst mit großen Ehren empfangen worden, so eher einem alten würdigen Professor denn einem jungen neugebackenen Doktor geziemt, und wie er an seinem neuen Platz allbereits zu so hoher Anerkennung gelangt, daß ihm über die Stelle eines Professors linguae hebraeicae auch noch die Würde eines Prorektors anvertraut worden. Ah, wie da ein seltenes Lächeln des Amtmanns Züge verschönte, da er solches vernahm, und die Frau Esther rosenrot wurde vor lauter Stolz. War es nicht, als ob dieser Johannes alles Leid auslöschen könnte, was sein armer Vetter über sie gebracht? Aber Rudolf biß die Zähne zusammen über all dem Lob. Ja, klug ist er, der Johannes, und hat viel gearbeitet, aber auch zahm und gefällig den Großen, und ein Glück hat er, ein Glück!

Aber eines Tages kam von Johannes ein Brief mit einem eiligen Boten und trug des jungen Rodolphus Waserus V. D. M. Adresse, und als dieser ihn gelesen, da rannte er die Treppen hinauf in paar Sätzen in Annas Malstube und lachte: »Victoria, Victoria!« und umhalste seine Schwester: »Da lies, da lies!« Und drückte sein Gesicht an Annas Wange, daß er mit ihr lesen konnte, und hielt ihre Hand in der seinen, um sie zu pressen an denen Stellen, worüber das Herz einen Sprung machte, und gingen die vier Augen durch die Zeilen, die also lauteten:

»... Und ob Du, lieber Schwager in spe, aus was Ursach ich Dir eine so lange und eilige epistulam schreibe, Dich füglich wundern und nach dem Ende mit viel Neubegier trachten magst, muß ich Dich dennoch um etwas Geduld bitten, dieweil ich den Vorgang der Reihe nach und in extenso vorzutragen am besten erachte, gemäß der alten Regel, daß der grad Weg der kürz ist.

So sitz' ich nun hier in der loblichen Stadt Herborn, die, wenn auch an Größe kaum ein Dritteil unseres stolzen Zürich, doch durch eine wohlausstaffierte, zu jeglichen Lehrfächern geeignete Academie einer gewissen Bedeutung nicht ermanglet. Die Stadt aber lieget hart an des hohen Herrn Seiner Durchlaucht des Grafen Wilhelm Moritz zu Solms-Braunfels Gebiet, dessen Residenz Braunfels, eine feste Burg und Stadt über dem Lahntal, nahebei in einer distantia, nicht weiter denn Baden von Zürich gelegen. Da ich nun selbigem Herrn meine Huldigung darzubringen nicht unterlassen konnte noch wollte, ritt ich gestrigen Morgens in des Professor Schrammii, meines löblichen collegae an dasiger Schul, Begleit nach Braunfels hinüber.

Am frühen Morgen, in währendem Tagesläuten und mit der hellen Sonnen brachen wir auf, und war es das Dilltal hinab ein gar andächtig und lustig Reiten. Du mußt nämlich wissen, daß die Länder hier am Lahnfluß von großmächtigen, sonderbar buchenen Forsten, deren ich in solchem Pracht meiner Lebtag nicht gesehen, dermaßen bestanden, daß man von einem erhabenen und weitblickenden Punkte, wie etwan dem Bergfried von Braunfels aus, in die hellen windbestrichenen Wipfel weithin als in ein unermeßlich grün Meer zu blicken vermeint, welche Wälder mit einem frischen, würzigen Odem, auch mit überlautem Vogelgeschrei uns gar trostlich aufnahmen. So ritten wir etwas Zeit dahin, schweigenden Mundes, maßen der Jubel der Creatur sowohl als ein mild grün Licht, so uns zudeckete, mit allerlei ernsthaften, zu Gott gerichteten reflexiones einen gar andächtig stimmte. Um so größer war mein freudiger Schrecken, als die grüne Kirche auf eins ihr Türen auftat und gegen uns über, auf hohem Burgfels ob dem Tal ein gewaltig Schloß mit vielen weithin erglänzenden Türmen sich darstellte. Als wir dann über die Lahnbrück und weiter den Schloßberg hinanritten und die Burg also nahe vor unseren Augen war, mußte ich freilich mit Schmerzen gewahren, daß das herrlich Schloß, solches in deutschen Landen unter den schönsten eine privilegierte Stell einzunehmen wohl verdiente, die Folgen eines großen und mörderischen Brandes, so die Kriegsfuria vor zwanzig Jahren darüber geworfen, noch nicht völlig überwunden hat, sondern vielmehr mit geschwärzten Steinen und auch wohl einem halbgestürzten Turm gar betrüblich an sich erzeiget. Das Schloß hat zu seinen Füßen ein kleine Stadt mit lustigem Marktplatz, und kann ich Dir das Ganze mit nichtes besser vergleichen denn mit unserm festen Regensberg, das gleichermaßen auf hohem Fels über der Weite thront, nur daß Du Dir alles ins Große, ja Ungemessene übersetzet und das Schloß von festen Toren und den allzeit wachen Kriegsleuten aus des Grafen Regiment wohlbeschützet denken mußt.

Durch unterschiedene Tor und ein dunkles Gewölb, darauf die Schloßkirche mit festem Gestrebe köstlich stehet, gelangeten wir zur Schloßwach, allwo ein Steintafele, so ein Beil auf blutiger Hand und die Warnung: ›Wer diesen Burgfrieden bricht, wird also gericht‹ gar bedrohlich darstellet, mir auffiel. Die Wach im blauen Kriegsrock, die meinen Begleiter, maßen er ein häufiger Gast des Grafen, wohl erkannte, ließ uns unbeschoren ein. Im Schloß selbst, wo man uns einen mit allerhand altem und kunstreichem Dekor ausgeschmückten Saal eröffnete, allwo wir uns etwas Zeit wartend aufhielten, wäre den Augen viel Vergnügens und Zeitvertreibs gewesen, wenn nicht, über meine angeborene indifferentiam gegen derlei Sachen, ein starke Enge auf der Brust mir die Schaulust benommen hätte, solche vom Anstieg sowohl als dem Herzklopfen, das mir der Ort und das nahe Zusammentreffen mit dem hohen Herrn verursachte, herrühren mochte. Aber eja, wo war mein enge Brust, da nun der Gefürchtete selber erschien und mit soviel freundlichem und leutseligem Wesen mich begrüßete, daß mir das Herz aus der Angst in die lautere Freud mit einem Purzelbaum hinübersprang! Denk Dir einen Mann, ohngefähr von des Onkel Fähndrichs statura, aber annoch jung und mit viel Geschmeidigkeit in den stählernen Gliedern. Willst Du aber wissen, wie er gekleidet, so fragest Du umsonst, maßen ich über seinem hellen und strahlenden Aug, woraus ein edler und gütiger Geist gar vernehmlich sprach, und über seinem guten und fröhlichen Wort das Äußerliche zu beschauen füglich vergaß. Wohl aber glaub' ich, daß er einfach und ohne absonderliche, noch aufdringliche insignia ging. Als ich meine vorgenommenen, wohlgesetzten Wort mit viel Würde und Herzklopfen vorgebracht, legte er mir sein feste Hand auf die Schulter, also mächtig, daß ich ein Husten befürchtete, das aber glücklicherweis nicht heraufkam, und lachte: ›Er ist Schweizer, Herr Professor; ich hör's an seiner Sprach, die gar so lustig aus der Kehlen heraussinget,‹ und er versuchte ein paar zürcherische Brocken, solche aus seinem Mund also possierlich klangen, daß Herr Schrammius wie ich, ohngeachtet allen Respektes, in ein Gelächter ausbrachen. ›Sieht Er,‹ lachte der hohe Herr mit, ›nun sind wir allbereits gut Freund, so Er ein Schweizer, maßen ich für selbigs Volk eine absonderliche prédilection habe.‹ Und dann erzählte er mir, daß er in seiner Jugend einen schweizerischen Präzeptoren, einen gewissen theologum Bachofen, so jetzo im zürcherischen Bischofszell amte, gehabt und daß er ihm für seine tüchtige und grundrichtige Lehr sein Lebtag dankbar bleib'. Auf diesem Gedankengang aber kam er zu der Frag, um deretwillen ich heute einen schönen und kostbaren Morgen lang über dieser Epistel sitze.

›Da Er nun directe von dem vielweisen Zürich kommt, wüßt' Er mir am Ende nicht unter seinen commilitones einen ephorum und Hofmeister für die jungen Grafen, dieweil der gegenwärtig Gouverneur auf Weihnachten uns zu verlassen gedenket?‹ – ›Wohl wüßt' ich einen,‹ sagte ich und dachte an Dich und erzählte von Deinen schönen Successen, so Du an unserm collegio insonderlich in den alten Sprachen und historia gehabt, daß Du aus reputierlicher patrizischer familia, annoch frei und zur Übernahme der so ehren- als verantwortungsvollen Aufgabe nicht allein aufs beste qualificieret, sondern auch herzlich geneiget seiest.

Eja, hättest seine Freud gesehn! ›Famos, famos,‹ rief er und schlug auf sein fest Knie, daß es klatschte; ›den Mann muß ich haben! Wie heißt denn das Lumen?‹ Aber kaum hatt' ich Deinen Namen genennet, als ich sobald auch ein nachdenksame Miene an dem edeln Herrn bemerkte, der den Namen ›Waser‹ einige Male vor sich hinmurmelnd mit gerunzelter Stirn um sich sah wie einer, so etwas suchet, schließlich aber sich directe an mich wendete: ›Helf Er mir, sag Er mir, wo ich den Namen allbereits vernommen!‹ Als ich nun Deine edeln oncles, den Bürgermeister und Antistes nannte, auch Deines, wegen seiner Wissenschaft wie weiten Reisen vielverrühmten Urgroßvaters Casparus gedachte, schüttelte er heftig sein schön Haupt: ›Nein, nein, die Erinnerung stecket in einer andern Schubladen meines Schädels, dann wo ehrbare politici und Gelehrte aufgespeichert liegen,‹ und lacht plötzlich und schnalzt mit den Fingern: ›Da hab' ich's, bei dem Schwarzenburger war's, dem Grafen Günther in Arnstadt drüben, hat einen Antiquarius, ein vielgelehrt Haus, der sich sonderlich mit alten Münzen befaßt, von denen er eine große Collection weniger in Originalen, dann in Copien besitzet. Da mir nun unter diesen Zeichnungen etwelche als besonders schön und von zierlicher Hand auffielen, nannte er mir eine Malerin, solche er sowohl ihres bei großer Jugend ungemeinen Geistes als ihrer Kunst wegen, mit der sie sich den Männern furchtbar mache, als ein miraculum bezeichnete. Dieses Wunderkind aber trug den Namen Wasera.‹ – ›Und der Antiquarius,‹ rief ich erfreut, ›ist der verrühmte Herr Andreas Morell aus Bern!‹ – › Parfaitement,‹ entgegnete der Graf erstaunt. ›Kennet Er also die Malerin und ist sie etwan eine Verwandtin Seines Freundes?‹ – ›Die Schwester, Euer Durchlaucht,‹ antwortete ich, und kam mich eine solche Rührung ob dieses schönen und höchst wunderbaren Zusammentreffens an, daß mir meine Tränen zu unterdrücken nur mühsam gelang. Worauf der edle Herr aber aufsprang, etliche Male hin- und herging und sich schließlich mit einem Gesicht vor mich hinstellte, darauf ein plötzlicher Entschluß gar hell leuchtete: ›Was meint Er, Herr Professor, könnten wir die wunderbare Malerin auch hieher bekommen?‹ Und da ich, daß es sich wohl machen ließe, gern zugab: ›Da müssen wir mit der Gräfin reden,‹ rief er und führte uns nach einem andern Gemach, von wo uns eine schöne und seltsame Musik, wie ich eine solche noch nie vernommen gar rührend entgegenklang. Darinnen saß die Gräfin, eine schöne und zarte Frau, halb liegende in einem Faltstuhl, neben einem sowohl seines figurierten Holzwerks und schön bemalten Deckels wie des himmlischen Tones wegen wunderbarlichen Clavecin, das eine andere Dam mit weißen Fingern rührte. Die Gräfin kam uns aufs angenehmste entgegen und gleichermaßen die fremde Dam, von der mir mein Begleiter nachhero, daß sie, eine französische Hugenottin von fürstlichem Geblüt, hier als in einem refugio und zugleich als Freundin des hohen Paares weile, zu berichten gewußt und die mir einer hohen klaren Stirn und eines großen lebhaften Auges wegen merkwürdig war. Kaum hatte der Graf seine Dich wie Anna betreffenden Projekte fürgebracht, als auch schon die beiden Damen mit großer Acclamation ihre Zustimmung erteilten und absonderlich die Französin ihrer Freude über die junge Malerin beredten Ausdruck gab. Es wurde dann, daß ich Euch morndes die Sache in einer Epistel vorlegen solle, raschestens beschlossen, und meint der hochedle Herr, daß Ihr Eure Reis' auf die ersten Täg des beginnenden Jahres ansetzen solltet, allwo ein anderer Schweizer, ein junger Schaffhauser derer im Turn, den er als einen Pagen engagierte, herkommt, mit dem Ihr zu reisen Euch wohl verbinden könntet.

Das also, viellieber Schwager, ist die große Zeitung, so ich Dir zu geben habe, und bitte ich Euch, die Sach förderlichst zu betätigen, auch zu veranlassen, daß eine schöne Zahl recommandationes, so von M. G. H., dem Rat und Bürgermeister, als einzelnen Respektspersonis, wie etwan von Professor Schweizer und Antistes Klingler, Deinen Lehrern und Fürgesetzten, an den Hochedeln abgehen mögen, daraus er sehen mag, daß ich nicht selbstsüchtig und übertriebenerweis Euch empfohlen, besonderlich, da ich ihm, daß Ihr meiner Liebsten Geschwister seid, nicht verborgen. Nun aber zweifle ich nicht, daß Ihr alle diese große Ehrung als ein Glück und göttlich Fügung dankbarlich empfinden werdet, wie denn auch ich mit einem frohen übervollen Herzen heimwärts ritt, derweil mein Begleiter mir die Vorzüg und Macht dieser edeln, nicht allein mit dem Brandenburgischen Kurfürsten, sondern auch mit dem englischen Königshaus verschwägerten Dynastei mit vielen und warmen Worten schilderte. Und ist zu sagen, daß der Graf Wilhelm Moritz, ein Mann von außerordentlichen Geistesgaben, ein väterlich gütig Herz gegen seine Untertanen heget, solche er weniger als servos denn als lieben Kinder behandelt, ihnen neben der Arbeit etwelche, in allen Züchten gepflogene recreationes wohl gönnend, insgemein aber mit Erbauen von erwerbbringenden institutiones, als Hochöfen, Eisenhämmer, Drahtzügen und Sensenschmieden für den Wohlstand seines Landes gar emsiglich bedacht ist. Auch hat er über seine an den eignen Untertanen erwiesene Güte Fremden, insonderheitlich denen armen Exulanten, ein väterlich Herz zu erzeigen nicht unterlassen und den armen Elenden sein Land also liebreich erschlossen, daß man hier in zweien, gänzlich denen réfugiés eingeräumten Dörfern kein ander dann welsch Wort hören mag. Und wie ihn denn sein weit Herz neben der Lutherischen auch die Calvinische Lehr in seinem Land zu dulden treibet, so ist er gar – darüber aber mag ein Schweizer, dem annoch der Lärm von Villmergen in den Ohren liegt, sich füglich wundern – denen Katholischen, so im Angesicht des Schlosses ein alt Nonnenkloster besitzen, nicht allein ein gütiger Nachbar, sondern den Altenburgi Virgines selbst ein kräftiger Berater. An seinem Hof aber soll der Hochedle ein gar liebreicher Hausvater so gegen seine vielzarte Eheliebste als seine drei Kinder, ein Mägdlein und zwei Knaben, die ich auch zu sehen bekam, sein, wie seinen Gästen, deren er – ein rechter Liebhaber von ritterlichen divertissements, wie Wüssenschaft und Künst – gar viele bei sich besammelet, ein froher und liebenswürdiger Wirt, und wird es Euch, liebsten Geschwistern, die Ihr an ein streng und fast engherzig Regiment gewöhnt seid, an diesem lieblichen Ort seltsam bedünken, allwo der Geist so hell und weit wie der Blick, der hier vom Taunus bis zum Westerwald und an die Vögelberg hinunter durch ein weit sonnenreich Land aufs wohligste sich ergehet. So aber der Herr Amtmann, Euer edler Vater, von diesem frohen und hellen Wesen ein Schaden für Euch befürchten sollt', mag er sich füglich getrösten, dieweil ich niemalen einen Mann getroffen, der denen höchsten Dingen gegenüber im Ewigen und Zeitlichen ein frömmern, demütigern und herzhaftem Sinn erzeiget denn dieser weise und hochfühlende Fürst, wie ich aus etlichen seinen Worten herzinniglich vernehmen konnte.

So hoff' ich denn, daß Ihr diese epistulam mit gleicher Herzensfreud, wie ich sie schrieb, lesen und einen frohen Entscheid in Bälde treffen möget. Die condiciones werden nicht anders sein, als Ihr Euch wünschen könnt, und glaub' ich, daß meine Jungfer Schwägerin hier nicht allein Gelegenheit haben wird, ihre Kunst aufs glücklichste zu zeigen und an den erfreulichsten Objekten zu üben, sondern, daß sie auch an denen hohen Damen, insonderheitlich der in allen Künsten und Wissenschaften bewanderten Marquise eine Lehrmeisterin zu manchen Vollkommenheiten des Geistes haben wird, solche man in unserer, mehr auf das Gegenwärtige und Nützliche denn auf das Zukünftige und Erhebende gerichteten Vaterstadt umsonst suchen mag. Und wirst Du, lieber Schwager, fürderhin mich zu beneiden kein Ursach mehr haben, vielmehr ich an manchem schönen Tag in meiner Schulstube mit unterdrückten Seufzern Euer gedenken, wann Ihr – wie dies hierzuland auch beim Frauenzimmer der Brauch – auf schnellen Pferden mit den gräflichen Herrschaften durch die weiten Wälder jaget ...«

Sie lasen nicht weiter die seitenlangen Empfehlungen und Grüße, die nun folgten. Sie faßten sich an den Schultern und sahen sich in die Augen: »Jungfer Hofmalerin!« – »Herr Hofmeister!« und umhalsten sich und lachten wie Kinder. Und wiesen zum Fenster hinaus, das grämlich unter dem Schatten der nahen Häuser lag: »Siehst die Wälder da draußen, weit, weit und grün und rauschig wie das Meer!« Und blinzten nach Annas dunkler Kammer hinüber: »Siehst dort das fein fürstlich Gemach, glänzt vor lauter Sonnenschein und Seide, und sitzt eine Gräfin darin, die macht eine Musica so süß, so süß, das Herz muß einem schmelzen!«

Aber Anna wurde plötzlich nachdenklich: »Ob es nicht zu schön ist, Bruder, das alls! Ob ich es darf, so fort, weg von daheim und in die weite Welt, jetzt!« Doch Rudolf lachte:

»Zu schön? Nichts ist zu schön für dich, Schwesterlein!« und streichelte ihre goldbraunen Zöpfe. »Und wann du fort willst, eben jetzt muß es sein, solang die Lisabeth noch da ist.« Und Anna dachte nach: Nein, jetzt war sie kaum nötig daheim. Marias Schmerz war still geworden über den neuen Pflichten, war nur selten etwas, so daran erinnerte mit sanften wehmütigen Schlägen wie ein fernes Vesperglöcklein. Lisabeths Glück aber hatte eine Helligkeit über alles gebracht, daran besonders die Mutter sich sonnte – oh, es ging ohne sie! Aber der Vater? »Wird's der Vater erlauben?«

Rudolf zog die Brauen zusammen, daß einen Augenblick sein junges Gesicht hart wurde und unfreundlich. »Der Vater, ah, wann er uns vor dem Glück sein wollte!«

Aber Anna wehrte ihm: »Wann's wirklich unser Glück, wird er nicht dagegen sein.« Und dann verabredeten sie, wie man's am besten anstellte, um ihn geneigt zu finden. Und als er nach dem Abendbrot sein Augenglas einsteckte mit einer ruhigen Gebärde, die schon schier etwas Gemütliches hatte, und mit merklichem Räuspern eben ein erbaulich lehrreiches Gespräch in die Wege zu leiten sich anschickte, da wagten sie's.

Zuerst war es freilich ein groß ernsthaft Staunen und bedenkliches Kopfschütteln: »Was, so weit weg und in die fremde Welt? Das will mir mit nichten gefallen. Es heißt nicht umsonst und ist ein nachdenksam Wort: Exeat ab aula, qui pius esse debet!« Wer rechtschaffen bleiben will, der halte sich dem Hofe fern.

Aber da läutete Lisabeths Stimme dazwischen: »Es kann ja nur gut sein und glückhaft, da es von Johannes kommt,« und das war ein Argument, das wirkte, absonderlich auf die Mutter. Und wenn auch an diesem Abend unter des Amtmanns vielfältigen Bedenken die Sache zu keinem Beschluß gedieh, eines Tages war man doch so weit und war es der Amtmann selbst, der mit dem Braunfelsschen Hof in Unterhandlung trat, die Condicionen geschickt und vorteilhaft leitend, und der vom Bürgermeister und Rat und Professoren Rekommandationen erwirkte, die wohltönend und mit einer schweren Fracht rühmender Worte dem Geschwisterpaar vorauszogen, und schließlich kam auch die Stunde, da sie selber mit der Gnädigen Herren Erlaubnis Zürich verließen.

Es war an einem der ersten Tage des jungen Jahrhunderts, als die beiden an einem köstlich kalten Morgen im schwerfälligen Reisewagen über das grobe Pflaster des Niederdorfs hinrumpelten. Ein paar junge Leute hielten sich, die mäßige Schnelligkeit des mühseligen Gefährtes unschwer innehaltend, zur linken Seite des Wagens, um mit munteren Worten und kräftigem Händedrücken den Abschied von Rudolf zu verlängern, während Anna aus dem rechten Wagenfenster den freundlichen und neugierigen Gesichtern zunickte, so die jungen Reisenden allenthalben von Türen und Fenstern her grüßten.

Sie schmiegte sich in ihrem schweren Pelz wohlig zusammen. Seltsam, wie die grauen Häuser vorbeischwankten und die altbekannten Gesichter auftauchten und verschwanden, das war alles traumhaft, wie unwirklich. Auch durch den Abschied von den Ihrigen war sie gegangen wie durch einen Traum. Wie ganz anders war es doch gewesen damalen, als sie nach Bern ging und ihr das Trennungsweh die Brust zusammenschnürte wie mit eisernen Reisen. Heute war ihr so leicht, und die Abschiedsworte waren an ihr vorbeigegangen, wie wenn sie nicht ihr gegolten hätten, als ob sie von fernher gekommen, aus einer Welt, der sie schon nicht mehr recht angehörte. Der Mutter weiche Rede und des Vaters Mahnung und Befehl: »Sobald ich euch ruf', kommt ihr zurück!« und Lisabeths Bitten: »Den Johannes vergeht mir nicht; bringt ihm das Tuch, wo ich ihm gestrickt, daß er sich warm halt' und den Husten nicht wieder bekomme, den schlimmen ...« und Marias dunkle Worte: »Bleib stark, Schwesterlein, bleib kühl ...« alles, alles wie im Traum ... Nur als Heini im letzten Moment seine von Aufregung und zerdrückten Tränen feuchten Händchen ihr um den Hals warf: »Geh nicht, Anna, bleib bei mir!« da hatte es ihr einen Stich gegeben und hatte sie einen Augenblick lang gewußt, daß das kein Traum war, wohl aber ein Erlebnis, ein starkes und einschneidendes vielleicht. Aber nur einen Augenblick. Jetzt war ihr wieder so ruhig, so hell, so ungegenwärtig, wie sie die grauen Häuser vorbeischwanken sah und die bekannten Gesichter auftauchen und verschwinden – wie im Traum.

Als sie unter dem Stadttor durchfuhren, jauchzte Rudolf in den Klang des Posthorns hinein: »Ihr fürsichtigen Gestrengen, valete und habt ihm Sorg, dem guten alten Geist, auf daß das alte Säculum noch ein fünfzig Jahr hocken bleib' allhier, wir ziehn mit dem neuen!« Und bog sich zum Fenster hinaus und winkte den grauen Türmen nach, die sich langsam in die weißen Morgendünste zurückzogen. Dann warf er sich in die Wagenecke und lachte: »Sag, ist es auch wahr, Schwesterlein, sind wir unterweges, und was wir dort zurücklassen, ist das unsere alte gute Stadt?«

Anna lächelte: »Wird schon so sein müssen, und was da kommt, ist die Welt und die Weite, ist das Große, Freie, Schöne!«

Sie wies zum Wagen hinaus: ein weites stilles Land tat sich vor ihnen auf. Die Erde war ohne Schnee; aber der Rauhreif hatte ihr ein feiertägliches Gewand übergelegt, daß sie blank und jung war. Und Bäume hängten den Glitzertand ihrer Äste in die starre Luft und hoben ihre weißen Kronen funkelnd durch die ersten Sonnenstrahlen in den stillen Himmel, der sich rein und unendlich wölbte.

Mit verschränkten Händen, eng aneinander geschmiegt, saßen die Geschwister da und schauten zu, wie die Sonnenstrahlen tiefer stiegen und allüberall auf der sauber gebreiteten Erde ein festliches Funkeln entzündeten, und fühlten, wie die Räder sich unter ihnen drehten, immerfort, immerfort, jede Drehung ein Stück weiter der glitzerigen blauen Ferne zu ...

V Die engen Mauern

Ein graugelber Oktobertag schlich in den Abend hinein. Unablässig fiel der feine frostige Regen, der den trüben Himmel auf die verweinte Stadt herunterzog, wusch den letzten Sommerstaub aus den Dachrinnen und legte gelbe Pfützen über das unebene Pflaster der Münstergasse. Anna stand am Fenster ihrer alten Malstube und sah dem Rinnsal dünner schmutziger Bächlein zu, die vom Brunnenturm her durch die steile Napfgasse herabschossen.

Trostlos, trostlos.

Sie schaute nach dem nahen Blarerturm hinüber, der sie anmaßend und unbequem anzublicken schien, wie so ein alter Seelsorger seinen einstigen Kommunikanten aufs Korn nimmt: Bist du auch noch der alte, hat dich die Welt da draußen nicht verderbet, kannst du fürder bestehen vor den scharfen Augen deines Lehrers? Anna lächelte trüb: Kannst du etwa bestehen, alter Griesgram? Hockst festgemauert zwischen hohen Häusern, über die dein Blick nicht hinausgeht, und dünkst dich etwas in deiner wohlgeborgenen Breitspurigkeit. Oh, ich habe andere gesehen, stolze tapfere Türm mit lustigen Mauerkronen, ragen in die freie Lust und schauen in die weite Welt hinaus und schützen und wehren und tun nicht wichtig wie du.

Seufzend wandte sie sich nach dem Zimmer zurück. Trostlos auch hier, kahl und unbewohnt der dunkle Raum, und in den tiefen Ecken saß schon die Nacht. Sie fröstelte. Die schweren Kleider hingen feucht an ihr herunter. Das kam von der schlimmen Reis' her; auch in den Wagen hinein war der emsige Regen gedrungen. Trockene Kleider taten not.

Sie schritt über den schmalen Gang nach der Kammer hinüber, die aus zwei niedrigen Fenstern über das enge Nebengäßchen auf das Dächergewirr der Nachbarhäuser sah. Zwei schlichte Betten standen hintereinander an der Längswand. Da würde sie von nun an schlafen, mit Elisabeth zusammen, damit sie nicht allein war in ihrer Not – die Arme.

Anna seufzte abermals und kniete dann zu dem schweren Koffer nieder, der am Fenster aus der weißen Diele stand. Sie schloß auf und schlug den Deckel zurück. Ein feiner Duft strömte ihr entgegen, der sich seltsam mit dem Dunst ihrer nassen Kleider mischte. Sie schloß die Augen und sog den süßen Wohlgeruch tiefatmend ein. Ah, wie alles wieder vor ihr stand: das hohe Gemach mit den ernsthaften Tiefen und den Bildern aus Purpur und Gold, und draußen der rote Abendhimmel weithin, weithin ... Und nun die Musik, müd, traurig und doch voll sehnender Sucht; wie die zarten Töne sich hintasteten, schmerzlich süß, und sich verloren, einer nach dem andern, wie kleine goldhaarige Prinzessinnen, die mit gedämpften Schritten über tiefe gelbe Teppiche wandeln und die kühlen Händ aufs Herz pressen, daß es nicht also klopfe, und die so traurige Augen haben und weiße Wangen und die Lippen so rot. Oh, man mußte weinen, wann man sie hörte, diese Töne – und dann auf einmal der durchsichtige Wohlgeruch, und auf der Stirn ein leiser Kuß und die warme herrliche Stimme: »Liebes Herz, so vieles ahnst du, wann du erst sehen wirst – und du sollst sehen ...«

Anna öffnete die Augen. Die kahle Kammer und ihre Kleider naß und mit einem dicken Geruch! Sie fror ... Vorbei, vorbei ...

Die Tür öffnete sich. Ein gemütlich rosiges Gesicht erschien. Anna sprang aus: »Esther!« Und dann mußte sie lachen, wie sie die runde Gestalt umfing und die prallen Wangen küßte; sie war noch behaglicher geworden, seit sie sie zum letzten Mal gesehen, die Schwester.

Auch die andere lachte: »Gut, daß du wieder da bist, altes Malheur. Oder muß ich nun wohl sagen: Hofmalheur?« Sie schob Anna von sich und betrachtete sie angelegentlich: »Potz Plunder, siehst du allamodisch aus mit deiner neuen Coiffüre!« Und sie zog die Schwester an den beiden Locken, die ihr aus den schweren Flechten hervor über die Schultern fielen: »Und wie das riecht herinnen, heilige Nägel, allweg wie in Salomonis Lied: Deiner Kleider Geruch ist wie der Geruch Libanon.«

»Das kommt von der Marquise, der französischen Dam, weißt, die auf Braunfels ist; als ich packte, hat sie mir ein klein Fläschchen von ihrem Parfüm dazugelegt – als ein Gedenken, wie sie sagte, bis ich sie wiederseh, dieweil nichts so sehr die Erinnerung reize wie der Geruch. Nun ist wohl ein Tröpflein ausgelaufen.« Sie wandte sich wieder dem Koffer zu und nahm sorgfältig die Kleider heraus.

Esther war ihr behilflich und betrachtete mit viel Vergnügen die mancherlei hübschen und neuen Dinge, die zutage kamen. Ein helles Seidenkleid, ein Paar bestickter Pantöffelchen, einen goldbetreßten Jagdhut und den winzigen Flacon legte sie apart. »Den Gerust da kannst allerdings beiseit' legen,« sagte sie lachend, »das verträgt sich nicht mit dem obrigkeitlichen Mandat, und auch das Wohlriechende fördersam aus den Kleidern lüften, ansonst ein hohe Nase Ärgernis darob nehmen könnte.«

Anna nickte seufzend: »Ja, ja, das fängt nun wieder an mit den Mandaten und der Strenge und all dem Eingetanen.« Sie nahm ein schlichtes Hauskleid zur Hand und begann sich umzuziehen.

Esther betrachtete sie mitleidig: »Wärst wohl lieber dort geblieben, gelt? So plötzlich und mitten aus allem heraus und aus dem fürnehmen und schönen Leben in das Jammertal hier – kann's begreifen, du Armes.«

Aber Anna wehrte ab: »Nicht deshalb, das fürnehme Leben allein tut's nicht, und lauter Lustbarkeit war's auch nicht. Als das jung Gräflein starb vor einem Jahr, glaub's mir, es waren trübe und herzbrechende Zeiten; aber der starke und hochstrebende Geist, die vielen Liebhaber der Wissenschaft und Künst, so sich allda zusammenfinden, der Graf und Herr Morell und vor allem die Marquise – eine Kraft gab das, ein Fürsichkommen! Wann ich hätte bleiben dürfen, ein Weniges noch, mit meiner Malerei – leicht hätt' es gut werden können.«

Esther klopfte ihr begütigend die Wange: »Ist gut genug, ist lange gut genug, du verrühmtes Schwesterlein du; aber – was die Malerei angeht – in diesen Stücken wirst nun schon ein wenig bremsen müssen. Ist gar viel, was hier auf dich wartet, allenthalben bist nötig: im Haushalt – denn die Mutter, weißt ja schon, wie's ist, wann den andern was fehlt, fällt sie erst recht zusammen, und die Maria, die kann der Onkel nimmer missen, ist auch nicht jünger geworden, der Alte, und die Lisabeth, die hat doch nur für eins mehr Kopf. Und dann grad für die Lisabeth müssen wir dich haben, daß ihr helfen kannst, jetzt, und sie trösten, später, und dann etwan auch pflegen. Die wird doch krank nachher; derenweg hält sie's nimmer aus mit dem Ängsten und Beten und nicht Schlafen.«

Anna schrak leise zusammen: »Ich hab' nicht gewußt, daß es so schlimm steht um den Johannes. Als er von Herborn wegging, für eine Erholung sei's, meinten wir, und nun so.«

»O herrje,« erwiderte Esther mit einem betrübten Zug im wohligen Gesicht, »der macht nimmer lang. Nun hat er so rote Flecken bekommen aus den Wangen, und da tun sie sich wunder was darauf zugut und reden von Gesundwerden, und sind doch allweg nichts anders als Kirchhofsrosen, und kein Vierteljahr mehr werden die blühen. Aber den Glauben muß man ihnen lassen, Cramern und der Lisabeth, daß sie nicht gänzlich verzweifeln.«

Mit hilfreichen Händen heftete sie Anna, der unter den ruhigen Worten der Schwester ein Schauer um den andern über die kalte Haut ging, das Kleid zusammen; da entdeckte sie auf dem bloßen Hals eine Goldkette. »Eja,« rief sie entzückt, »ein gülden Kettemlein und gar mit einem Stein, einem katzgrünen! Wo hast dann das her?«

»Es ist ein Smaragd,« sagte Anna ernsthaft. »Ich trag' ihn immer aus mir; an meinem glücklichsten Tag hab' ich den erhalten, und er soll mir auch fürderhin Glück bringen, so es Gottes Wille.«

»So, so,« machte Esther vieldeutig und lachte Anna aus runden Augen erwartungsvoll an, »der glücklichste Tag? Kann man dir etwan gar felicitieren?«

Anna blickte einen Augenblick erstaunt, dann schüttelte sie lächelnd den Kopf: »Nicht so, wie du meinst, Esther, nicht so! Das Kettemlein hat mir der Graf umgehängt vor dem ganzen Hof und allen Gästen an dem Abend, allda ich mein erst groß Bild, solches die gräfliche Jagdgesellschaft auf einem Ausflug im Wald, an einem schönen und lustigen Wasser darstellt, vorzeigte. Und der Graf hat mir schöne und nachdrucksame Worte gesagt, und die Marquise ...« Sie brach leicht errötend ab, indes Esther enttäuscht seufzte:

»Ach so, das ist es – schade, ich hätt' mich so gefreut, wenn's das ander gewesen wäre. Für die Mutter vorab. Die hat in alle Wege bishero kein Glück gehabt mit ihren Töchtern. Als ich Dietschin nahm, hat es ihr fast das Herz abgedrückt, daß er ein simpler Hutmachermeister und nicht aus eurer patricischen Gesellschaft, und hat's als ein Unglück eracht', daß ich fürderhin eine Volante weniger an meinem Gerust haben sollt' als ihr. Dann kam das schandbarlich Unglück mit der Maria, und nun stirbt der Johannes auch weg, auf den sie doch ihr ganzen Stolz und Hoffnung gesetzt. Ich hätt' es ihr gönnen mögen, wenn sie nun noch eine lustige und standesmäßige Braut neben denen armen ledigen Wittiben hätte haben können. Und dir hätt' ich's auch wohl gönnen mögen. Schau, das mit deiner Kunst, das ist ja schon recht und mit dem Ruhm und Geldverdienen; aber das richtig, das wahr Glück für das Frauenzimmer liegt doch anderswo.« Und während sie selbander zur Wohnstube hinunterstiegen, erzählte sie voller Munterkeit von ihren Kindern, von dem Estherlein, das nun schon ein schön groß Dirnlein geworden, von den zwei Jüngsten, die Anna noch nicht gesehen, daß sie nun mit dem Margineli das erste halb Dutzend abgeschlossen hätten und sich allbereits freuten, ein neues anzufangen. Und Anna hörte zu mit aufeinander gepreßten Lippen und staunte, daß man das Leben so einfach nehmen konnte und so geruhsam, ohne das Grauen seiner Abgründe zu spüren oder nach dem Glanz seiner Höhen zu lechzen, und ihr war, als ob sie mit der dunkeln Treppe Schritt für Schritt in eine seiner trüben Tiefen hinabstiege und als ob mit dem feinen Duft, den sie oben zurückgelassen, das Lichte und Frohe gänzlich abgetan wäre.

Vor der Stubentüre trafen sie mit Elisabeth zusammen, die mit einem Weinkrug und dem Öllämpchen, darauf ein freies Flämmchen unruhig hin- und herflatterte, mühsam aus dem Keller herausgestiegen war. »Ach was, das ist doch viel zu schwer für dich, Mondscheinchen!« rief Esther mit gutmütigem Lachen, indem sie Lisabeth den Krug abnahm und ihn rasch auf das Büfett hineinstellte. Dann verabschiedete sie sich eilig und trollte die Treppe hinunter mit einer Behendigkeit, die man ihrer rundlichen Gestalt kaum zugetraut hätte.

Drinnen stellte Lisabeth ihr Lämpchen aus den Tisch, ihre schmale Hand zitterte von der Anstrengung des Tragens: »Fällt dir das so schwer?« fragte Anna erstaunt. »Wohl, schon ein wenig!« Sie lächelte verlegen. Aber dann schaute sie die Schwester vertrauensvoll an: »Nun bist du ja da, Anna, nun kann schon alles wieder gut werden.«

Sie ging hinaus, um die andern zum Abendbrot zu rufen. Anna blieb allein. In der großen Stube lag schon die Nacht, und nur das zuckende Lichtchen auf dem Tisch leckte in das schwere Dunkel hinein mit unruhigen, zackigen Strahlen, sodaß ein unheimliches Schattenspiel über die Wände ging und dem vertrauten Gemach einen fremden Schein gab. Die Zinngeräte aus dem Schenktisch schienen sich zu regen, und die alten Bilder an den Wänden hatten uneigentliche, verzerrte Züge. Hier und da aber, wann das Flämmchen ganz in sich zusammensank, wuchsen gewaltige Schatten aus dem Boden heraus und schlugen erstickend zusammen. Anna fuhr sich mit kalten Fingern über die Augen; ihr war, als ob dunkle Riesenhände nach ihr griffen, von allen Seiten: Nun fassen wir dich, nun halten wir dich, nun lassen wir dich nimmer ...

Da erschienen die andern unter der Türe, voran Sarah mit der großen Lampe, deren freundliches Licht alles wieder in die alte vertraute Anschauung rückte: die Zinnkrüge erhielten ihren steten Glanz, die Ahnenbilder zeigten wieder verläßliche Gesichter, und die Schatten sanken in die tiefen Ecken zurück und legten sich beschwichtigt unter den großen Tisch.

Man trat zum Abendgebet zusammen, und während des Vaters ruhige Worte in trockenem vertrautem Takt durch die Stube gingen, fühlte Anna, wie sie sich langsam wieder diesem stillen Kreis einfügte, untrennbar und unentrinnbar, als etwas Dazugehöriges, und ein tapferer Wille füllte ihr die Brust, als sie mit leisen Lippen den letzten Satz mitsprach: »Tröst uns in der Not, gib uns Stärke dazu und Kraft zu jeglichem guten Werk.«

Mit ruhigem, schier heiterem Sinn konnte sie am Mahl teilnehmen, das ihrer Rückkehr wegen um etwas festlicher gestaltet war als sonst, und nur, wann sie von Braunfels erzählen sollte, von Rudolf und dem Leben auf der Burg, da stieg wohl mit der lebendigen Erinnerung etwas Würgendes in ihr auf, und ihr Herz kämpfte wie im Gedanken an zu früh verlorenes Glück und zerstörte Hoffnung.

Indessen zeigte es sich, daß die Braunfelser Jahre mit ihrem freien und gesunden Leben in Anna nicht nur Wünsche geweckt und die Sehnsucht nach einem bedeutenderen, wirksameren Dasein, als die enge Heimat es ihr zu geben vermochte, sondern daß es auch einen gesunden Sinn in sie gelegt und sie gekräftigt hatte an Leib und Seele, sodaß sie, dem eigenen tapferen Willen gewachsen, mit tüchtiger Kraft die kommenden Zeiten auf sich nehmen konnte, die hunderterlei Arbeiten und Sorgen, die von allen Seiten auf sie fielen. Wo Elisabeths geschwächte Kräfte und der Mutter lahmer Wille nimmer ausreichten, da griff sie ein, trat der alten Sarah, die ihrer Arbeit nicht mehr gewachsen war und nun doch mit den jungen Mägden nicht auskam, hilfreich zur Seite, übernahm jene Schreibereien, die Elisabeth sonst für den Vater besorgt hatte, und wann die Schwester an ihrer Aussteuer schaffte, mit fiebriger Hast, als ob sie durch diese zielsichere Arbeit dem Schicksal hätte den Weg weisen können, dann war es wieder Anna, die mit geschickten Händen das Werk fördern half. Zuerst hatte sie noch gehofft, trotz all den Pflichten ihre Malerei nicht ganz aufgeben zu müssen; aber als sie einsah, daß die karge, schmerzlich unterbrochene Arbeit nicht gedeihen konnte, hatte sie eines Tages ihre Malstube abgeschlossen. »Das Heizen dort oben können wir uns ersparen,« hatte sie zu Sarah gesagt, leichthin, als ob es sich um ein kleines gehandelt hätte, und keiner ahnte, aus welch schmerzhaftem Kampf dieser Entschluß gestiegen war. Sie sahen nur ihren tapferen Arbeitsmut, der wie ein frischer Zug durch die trübe Luft ging und auch ihnen wieder Stärke gab und Vertrauen. Elisabeth blühte ein wenig auf und ward zuversichtlicher. Denn auch in Cramers Krankenstube, der bei seinem Vetter, dem Tischlermeister Kambli, drüben über der Limmat wohnte, hatte Anna etwas von ihrer jungen Kraft hineingetragen, sodaß der Kranke an ihrem klaren verläßlichen Wesen sich aufrichtete und wieder gläubige Händ nach dem Leben ausstreckte wie ein junger eingesunkener Weinstock, den des Gärtners Hand am festen Stab gehoben hat und der nun wieder mit verlangenden Ranken Luft und Sonne einsaugt.

Das waren seltsame Stunden, wann an den kurzen Winternachmittagen die beiden Schwestern selbander bei dem Kranken weilten, der, in feste Decken gehüllt, mit glänzenden Augen, fiebrigen Wangen und weißen abgezehrten Händen in seinem Lehnstuhl saß und mit leiser, etwas bebender Stimme von der Zukunft redete, von seiner persönlichen kleinen irdischen Zukunft und von der allgemeinen großen, ewigen. Drunten ging die Limmat vorbei mit ruhigem stetem Gemurmel und warf den Widerschein ihrer emsigen Wellen in silbernem Gekräusel an die helle Decke. Die beiden Mädchen stichelten mit flinken Fingern an Lisabeths Aussteuer: »Ich muß mich eilen, daß mir nicht zuvorkommst mit dem Gesundwerden,« sagte Lisabeth mit frohem Lächeln; »denn diesmal laß ich dich nimmer allein gehen. Wann ich dich hätt' pflegen können, gar nicht gekommen wär' er, der böse Husten.«

Und Johannes nickte: »Nun ist's schon gar nicht mehr so schlimm, und wann mich die Füße erst wieder tragen, dann sollst sehen, wie schnell es geht,« und er erzählte von Herborn und wie sie sich einrichten wollten, er und Elisabeth. Ach, und wie schön es werden sollte – wann es nur erst wieder ging mit seinen dummen schwachen Füßen.

Die Schwestern halfen bauen an des Kranken hoffnungsreichen Plänen und nickten ihm Beifall, mit gläubigen Augen Lisabeth und Anna mit einem ruhigen Lächeln, dem niemand die schmerzliche Bewegung des Innern anmerkte.

Oh, wie sie dieses weiße Linnen in ihrer Hand haßte, wie sie litt an dieser herausfordernden, ungeheuerlichen Arbeit! Oft war ihr, als ob sie eine fürchterliche Melodie in das Zeug hineinnähen müßte, die sich drohend am eintönigen Gang der Nadel abwickelte, immerzu, immerzu: Du nähst ein Totenhemd, du nähst ein Totenhemd ...

Und dazu Johannes' zukunftsfrohe, von kurzen trockenen Hustenstößen unterbrochene Erzählungen und Lisabeths zuversichtliches Geplauder – es war entsetzlich, entsetzlich! Einmal warf sie die Arbeit in plötzlichem Grauen von sich: »Ich bin eine schlechte Näherin, Lisabeth, ich hab' mich in den Finger gestochen!« Sie zwang sich zu einem Lachen und packte das Linnen zusammen, und dann erzählte sie mit hellen Worten hundert Dinge – lustige kleine Erinnerungen aus ihrer Berner Zeit, aus Braunfels, aus Rüti, was ihr gerade durch den Kopf fuhr, nur um einmal jene Reden abzubrechen, die ihr in die Seele schnitten, und die andern lauschten erstaunt und lachten und freuten sich und waren betrübt, als hinter dem Ütliberg hervor der rote Abend zum Aufbruch mahnte.

Cramer betrachtete Anna verwundert: »Ich hab' dich niemals so gesehen, so funkelnd; nun erst versteh' ich ein Wort des gräflichen Herrn, der dein Wesen einstmalen einem Bergwasser verglich, das zwar stille und klare Seelein bilde, darin man jedwedes Steinchen erkennt auf dem tiefen Grund, das aber hinwiederum wild und rätselhaft erscheinen könne, wann es als Wasserfall mit tausend Diamanten durch die Sonne springe.«

Anna lächelte wehmütig, wie immer, wann plötzlich Braunfelssche Erinnerungen erweckt wurden, und eine feine Röte fiel auf ihre Wangen, während sie abwehrte: »Davon weiß ich nichts, von denen Diamanten.«

Am andern Tag ließ sie ihre Näharbeit daheim und brachte dafür ihr Elfenbeinkästchen mit: »Ich will dich malen, Johannes; man muß dich nehmen, solang du still hältst; später, wann du erst wieder an der Arbeit bist, fängt dich doch keiner mehr ein.« Und während sie daran ging, mit scharf beobachtenden Augen und sicherer Hand die Züge des Kranken festzuhalten, kam eine schöne Ruhe und Befriedigung über sie, als ob sie durch diese Arbeit, anstatt das Schicksal herauszufordern, ihm mit leiser List etwas abzwingen könnte. Und ihr Werk, an dem sie in der folgenden Zeit ruhig und ohne Hast arbeitete, gedieh aufs beste, und derweil sie die Wangen des Kranken um ein kleines voller malte, als sie es in Wahrheit waren, und ihr fiebriges Rot milderte zu der schönen Farbe der Gesundheit, täuschte sie ihm selbst ein Bild der Genesung vor, daraus sein tapferes Herz neuen Lebensglauben schöpfte. Und einmal, als die Schwestern an einem sonnenfreudigen tüchtigen Jännertag sein Zimmer betraten, kam er ihnen auf unsicheren Füßen zur Tür entgegen. Anna erschrak und führte den Schwankenden zum Lehnstuhl zurück; aber während er in die Kissen sank und der klare Schweiß ihm aus der Stirne brach und über die zitternden Hände lief, lachte er mit einem kleinen spitzbübischen Lachen: »Das war der erste Schritt, nun geht's nimmer lang!« Und er streichelte wieder Lisabeths Wangen und küßte ihre schönen Augen, welche die Freude der Überraschung mit Tränen füllte.

An diesem Tage vollendete Anna mit plötzlich verschärfter Eile das Bildnis.

Als sie andern Tags wiederkehrten, trat ihnen die alte Magd, die dem verwitweten Vetter die Wirtschaft führte, mit verweinten Augen entgegen, und während Lisabeth rasch voranschritt, flüsterte sie Anna zu: »Jetzt ist's schlimm, schlimm, er hat einen Blutsturz gehabt, der arm Herr.«

In der Stube schlug ihnen eine unangenehme, drückende Luft entgegen; der Boden, der noch naß war vom Scheuern, strömte einen bangen, süßlichen Geruch aus. Johannes saß schneeweiß mit geschlossenen Augen im Lehnstuhl am Fenster. Neben ihm stand mit betrübtem, verdutztem Gesicht der alte Vetter, der beim Erscheinen der Mädchen alsbald im Nebenzimmer verschwand. Elisabeth kniete leise weinend neben dem Stuhl nieder und streichelte die durchsichtigen Hände des Kranken, der mit schmerzlichem Lächeln zu ihr niederblickte.

»Nicht weinen, Elisabeth,« sagte er mit schier unhörbarer Stimme; »schau, das ist ja gut, daß es heraus ist, das schlimme Blut, das hat mir eben den Husten gemacht. Nun wird's schon besser werden, nur etwas Geduld müssen wir haben, bis ich wieder stärker bin.« Aber Lisabeth weinte weiter, und auch aus dem Gesicht des Kranken wich nicht der wehe Zug.

Anna schob ihm ein festes Kissen in den Rücken und bettete ihn besser, sodaß der Kopf nicht also auf die eingesunkene Brust herunterfiel. Dann öffnete sie einen Augenblick das Fenster, daß mit der Sonne eine herbe kräftige Luft hereindrang und die schlechten Dünste vertrieb, und trocknete, so gut es ging, den Boden nach.

Und Johannes nickte zufrieden: »Nun ist mir schon wieder besser,« und sein Atem ging ruhiger und sicherer als zuvor. Auch Lisabeth beruhigte sich nach und nach; aber ihr Nähzeug nahm sie heute nicht hervor und auch die späteren Tage nicht, ob Johannes schon sich scheinbar wieder erholte.

Es war auf einmal alles anders geworden. Oft saßen sie nun alle stumm beieinander, Anna mit irgendeiner kleinen Beschäftigung, Lisabeth und Johannes untätig, mit verschlungenen Händen, lauschten dem gleichmäßigen Gang der Limmat und dem Rufen der Fischer, das von unten herausklang, und sahen den zitternden Lichtkringeln nach, die über die weiße Decke liefen, unablässig, unablässig. Oft auch sprach Johannes, nicht mehr von Plänen und Hoffnungen und Zukunft, wohl aber – mit stiller ferner Stimme – von den ewigen Dingen und letzten Fragen. Und die Mädchen hörten ihm zu, andächtig und atemlos, und Anna staunte über die reife Abgeklärtheit dieses jungen Geistes. Wie ganz anders brodelte und gärte es noch in Rudolfs heißem Kopf und – in ihrem eigenen Herzen. Und sie erschauerte im Gedanken, daß es kein Junger, Zukunftsberechtigter sei, der da also zu ihnen spreche, sondern ein Vollendeter.

Oft auch sang ihnen Elisabeth, und wann die alten lieben Lieder mit ihrer reinen morgenklaren Stimme durch den Raum gingen, konnte bisweilen ein köstliches, zeitloses Glück über die drei Menschen kommen, daß sie Schmerz und Bangen dieser Stunden darüber vergaßen.

Einmal wandte sich Johannes, der nach einer schlimmen Nacht erschöpft und kraftlos dalag und mit erschreckenden bläulichen Schatten im Gesicht, unvermittelt an Anna: »Das Lied vom Totensee möcht' ich hören, du weißt, das der unbekannte Sänger gesungen – damalen.«

Anna erschrak. Sie fürchtete sich vor diesem Lied, und dann – sie sang nicht gern, sie fürchtete sich vor ihrer eigenen Stimme, aus der oft ein unberechenbarer erbebender Klang wie aufwühlend herausbrach. »Euer Gesang,« hatte Giulio gesagt, »ist ein Rätsel; alles an Euch ist klar wie der hell Tag; aber wann Ihr singt, dann muß ich an einen schweren Sommerabend denken über dem Tal des Arno, wann rote und violette Dünste den Fluß herausziehen und die zuckenden Flämmchen der Feuerfliegen durch verschattete Büsche schweifen.« Sie schüttelte den Kopf: »Laß das, Johannes, es ist ein trauriges Lied, und ich habe eine unfrohe Stimme.«

Doch der andere beharrte darauf: »Weißt noch, wie wir's zuerst hörten? Wohl war es traurig, aber so schön!« Und er erzählte Lisabeth von einem Herbstabend in Braunfels, da sie selbander – Anna, Rudolf und er – mit den gräflichen Herrschaften unten an der Lahn durch einen Wald geritten, als sie plötzlich auf einen kleinen See trafen, der mit schwarzen, vom aufsteigenden Mond leise versilberten Wassern, worüber Tausende von kleinen Nachtfaltern schwebten, gar ernsthaft und andächtig ausgesehen habe, sodaß manch lustiger Mund verstummt sei. Und dann aus einmal sei vom andern Ufer ein Lied herübergekommen, so weh und mit solch trostlosem Schmerz vorgetragen, daß darob selbst des jungen Schaffhauser Pagen leichtsinnige Augen tränenfeucht geworden. Man hätte aber nachher vernommen, daß, der das Lied gesungen, ein armer fahrender Sänger gewesen, dem einstmalen an eben jenem See ein schlimmes Unglück zugestoßen sei, wovon ihm ein unstet Leben und verstörter Geist geblieben ... Und der Kranke bat neuerdings schier eigensinnig um das Lied.

Da holte Anna schweren Herzens des Schwagers Laute herbei, damit ihre Stimme sich nicht also allein und unbedeckt hervorwagen müßte, und sie sang:

Der Mond streicht über die Wälder, Sein Licht ist weiß wie Schnee, Es schimmern die weiten Felder, Es zittert der tiefe See. Die dunkeln Wellen trinken Ein weißes Totengesicht. Zwei Äuglein sah ich einst winken, Nun ist erloschen ihr Licht. Ein weiße Ros' ist zerflossen Auf seiner schwarzen Flut – Und wer nie Liebe genossen, Weiß nicht, wie Leiden tut. Auf seinen schwarzdunkeln Wetten Viel weiße Falter ziehn – An mir, einsamem Gesellen, Armseelen vorüber fliehn ...

Mit heftiger Bewegung warf Anna die Laute auf den Tisch, wandte sich jäh zum Fenster und schaute mitten hinein in die sinkende Sonne, der der nahende Frühling schon ein scharfgelbes Licht verlieh. Es tat ihr wohl, sich die grellen Strahlen ins Aug brennen zu lassen, daß es schmerzte und daß sie, ins Zimmer zurückgewandt, wie eine Blinde nur das tolle Kreisen gelber und violetter Sonnen gewahrte. Als die Augen wieder klar waren, sah sie, wie die beiden sich in den Armen lagen mit einer großen und wehen Innigkeit, wie sie es noch nie an ihnen gesehen.

Später sagte Johannes: »Aus dem Lied hast dein Bild genommen, gelt?« und als Anna nickte, fuhr er fort: »Als ich's zuerst sah, kaum verstanden Hab' ich's, so fremd kam es mir vor: der schwarzrot See und dann die weißen Gestalten, wie sie heranschwebten zwischen den dunkeln Stämmen herfür und sich niederneigten zu der Flut, tief, tief, als ob sie etwas daraus herfürholen gewollt.«

»Eine Geschichte des Homer ist mir vorgekommen,« sagte Anna dawider. »Als ich die weißen Sommervögel sah, still und traurig, wie so kleine Seelen, und das dunkel Wasser darunter, worein das herbstlich Laub einen roten Schein warf, an die armen Seelen hab' ich denken müssen, die der Odysseus fand dort unten, und an das Blut, wie sie herbeischwärmten, so elend, so bleich, und es tranken voll Gier, daß ihnen das Erinnern wiederkomme an die Welt und das warme Leben – und so hab' ich's gemalt.«

»So was hat mir die Marquise gesagt, da sie mir's zeigete,« fuhr Johannes fort, »und dann beigefügt, daß es ein Meisterstück sei.«

Anna lächelte: »Wohl mein Bestes – und doch erst ein Anfang.« Sie seufzte und senkte den Kopf tief, daß die hängenden Locken ihr Gesicht und Blick verhüllten.

Es wurde ganz still in dem Gemach, daß jedes sein eigenes Herz klopfen hörte. Und dann, als es schon Zeit zum Gehen war: »Sing auch du mir noch ein Lied, Liebste,« bat Johannes. Und Elisabeth faltete die Hände und hub alsobald an des Paulus Gerhard herrliches Lied: »Befiehl du deine Wege ...«, und ihre Stimme war zart und duftig wie eine Kirschblüte und klar und durchsichtig wie ein Wintermorgen. Johannes schloß die Augen mit seligem Lächeln, und als sie zu Ende war: »Ei, hab' ich doch geglaubt, allbereits die lieben Engel zu hören im Paradeis,« flüsterte er. Er sah Elisabeth groß an und griff nach ihrer Hand: »Das sollst öfter tun, Liebste, recht viel singen und fürnehmlich dieses trostliche Lied – auch nachher, und sollst denken, daß ich's hör', auch dort, und daß wir allezeit beisammen.« Er lächelte: »Meine christliche Seele braucht kein Blut zu trinken, Elisabeth, um dich zu sehen. Allezeit werd' ich dich haben und wirst du spüren, daß unsere Liebe wohl in ein ander Gewand geschlüpft, aber daß sie nicht geringer geworden, nur reiner, nur größer noch durch Himmelsglanz und die göttliche Gnad.« Und Lisabeth nickte und lächelte unter Tränen.

Von nun an redeten sie immer davon, von dem Nachher. Johannes schier mit einer kleinen Ungeduld und Lisabeth still und ergeben. Anna sah mit Staunen, wie diese beiden Menschen mit einer fast seligen Ruhe alles Irdische von sich abtaten, gleich einem alten Kleid, und Leben und Menschlichkeit von ihrer grenzenlosen Liebe wie von einer großen läuternden Flamme gleichsam aufgezehrt wurden. Nichts hatte mehr Bestand als diese Liebe, die in der göttlichen sich aufzulösen schien und in der Zeitliches und Ewiges zusammenflossen. Wie klein kam sie sich auf einmal vor neben diesen beiden Menschen, denen sie vor kurzem noch mit ihrem gesunden Wesen Stärke und Halt gegeben hatte. Nun bedurften sie ihrer nimmer. Und so fern war sie ihnen aus einmal! Wann ihre Blicke durchs Fenster, das man bisweilen schon der stärkeren Sonne öffnen konnte, den grünen emsigen Wellen folgten und den federleichten Föhnwölkchen, die vom See heraus über das tiefe Blau strichen, wie sie da fühlte, daß sie mit hundert Fasern in dieser Welt wurzelte, mit hundert Hoffnungen und Forderungen, und sie vermeinte, ihr ungelebtes Leben zu fühlen wie etwas Starkes, Greifbares, und sein Ziel lag weit, und lang war der Weg.

Daß man so schlicht, mit solch frommer Ergebenheit sich zum Aufbruch rüsten und sein Liebstes dahingeben konnte, es war wie ein banges Wunder. Oft mitten in der Nacht, wann sie vom tiefen Schlaf, den die Mühen des Tages ihr auslegten, erwachte, hörte sie Lisabeths leises Beten; aber nicht wie früher, da sie um Genesung und Kraft des Geliebten gefleht hatte, ihr stilles Gebet ging um sein selig End. Und Anna fröstelte.

Aber einmal, als sie erwachte, sah sie die Schwester völlig angekleidet vor sich stehen mit weiten schreckhaften Augen: »Der Johannes, er hat mich gerufen, ich muß gehen.«

Anna sprang auf: »Kind, Kind, wohin denkst du!« Aber da wurde schon unten an der Haustür ein lautes Pochen vernehmlich.

Das Haus ward lebendig. Der Amtmann öffnete. Vor der Tür stand der Tischlermeister Kambli, und der rote Schein seiner Laterne fiel trübsinnig in den schwarzen Hausgang. »Die Jungfer Elisabeth soll ich holen, mit Verlaub,« sagte er mürrisch; »Cramer schickt mich, es geht zum Letzten mit ihm.« Und stumm, ohne Klagen folgten Vater und Tochter dem roten Schein, der mit ängstlichem Flackern die steile Schoffelgasse hinunterhuschte.

Anna blieb zurück bei der Mutter, die ihrem Schmerz verzweifelten Ausdruck gab: »Nichts bleibt mir erspart, alles kommt über mich und meine armen Kinder! Die Lisabeth, die arme Lisabeth! So gefreut hab' ich mich über den Johannes, und nun so!« Und sie weinte hilflos und aufgelöst wie ein tiefgekränktes Kind. Anna suchte sie zu beschwichtigen mit lieben ruhigen Worten, als ob sie zu einem Kleinen spräche, und sorgte sich um sie wie um ein Krankes, und derweil ihr selbst das Herz hämmerte vor Jammer und Grauen, legte sie neues Feuer an im Ofen und braute ein Teelein aus Lindenblust, daß es der Mutter wohler wurde, und dann holte sie die Heilige Schrift und las daraus, und die ewigen, trostreichen Worte, solche sie oft aus Johannes' Mund vernommen mit gläubigem und frohem Klang, legten sich beschwichtigend auf ihr eigenes Herz und brachten auch der Mutter Beruhigung, daß sie schließlich überwältigt von Erschöpfung und Schmerz einschlief.

Da erschien Heinrich. Er hatte gerötete Wangen, aber frostblaue Hände und zitterte vor Kälte. »Wo kommst du her, Bub?« rief Anna erschreckt, und während sie seine eisigen Hände rieb und ihn in die warme Ofenecke zog, flüsterte er, und es war ein glückliches Leuchten in seinen Augen:

»Ich hab' ihn gesehen, den Johannes; jetzt grad ist er zum Himmel gefahren.«

Anna ließ erschreckt seine Hände sinken: »Was sagst du, bist nicht bei Trost!« Aber er fuhr fort in demselben geheimnisvollen Ton:

»Vom Dach aus hab' ich hinuntergeschaut, immer nach des Kambli Haus, immer nach seinem Haus, und aus einmal hab' ich den Schein gesehen, einen weißen Schein; von dem Haus kam er und stieg hinaus geradwegs in den Himmel, und sah ich wohl, daß es kein gewöhnlich Licht war, wohl aber des guten Johannes ewige Seel.« Er schwieg einen Augenblick, dann lachte er vor sich hin: »Freuen wird sie sich, die Lisabeth; nun weiß sie ganz gewiß, daß er die Seligkeit gefunden.«

Anna sah den Bruder besorgt an. Einen rechten Kummer machte er einem, der Bub, aufgeschossen und zart, wie er war, und dann immer diese Grübelei und Phantasterei – und sie bemühte sich wieder um seine kalten Hände und Füß.

Am Morgen kamen die beiden zurück, fast so stumm, wie sie gegangen. »Es war ein selig End,« sagte der Amtmann, und um seinen knappen Mund ging ein eigentümliches Zucken; »niemalen habe ich so etwas gesehn oder bei einem armen Sterblichen auch nur für möglich gehalten.« In Lisabeths tiefen Augen lag ein neuer, verklärter Zug, und sie lächelte schier glücklich zu des Vaters Worten. Von Anna ließ sie sich zu Bett bringen wie ein Kind und versank auch alsobald in einen tiefen Schlaf.

An einem föhnigen, lenzhaften Februartag ward Johannes Jacobus Cramer bestattet, draußen auf dem neuen Friedhof vor dem Lindentor, und ward seiner Leich viel und absonderliche Ehr angetan, dieweil man ihn sowohl seiner Jugend und freundlichen Art als auch seiner großen Gelehrte wegen allenthalben betrauerte. Nicht allein in der Vaterstadt, auch zu Herborn, wo der wackere Professor Schrammius in der Akademie daselbst öffentlich einen schönen Leichsermon hielt, der später, in Druck gegeben, auch zu den Zürchern gelangte. Wie stark aber der Ruhm des jungen Gelehrten selbst nach äußeren Orten gedrungen, zeigte jenes Schreiben, das der Zürcher Rat in eben jenen Tagen erhielt, als der arme Johannes im Todbett lag, und darin Burgermeister und Rat der löblichen Stadt Leyden den jungen Zürcher als Professor theologiae an die dortige Hochschule beriefen.

Von all dem Ruhm und vielen Gerede, das über den Toten ging, vernahm Elisabeth nichts. Der tiefe Schlaf, darein sie die Erschöpfung der Todesnacht geworfen hatte, war in schlimmes Fieber übergegangen, das ihre zarten Kräfte zwischen Glut und Frost, zwischen Wachen und Wahn, zwischen Tod und Leben hin- und herpeitschte.

»Hab' ich's nicht gesagt, daß es so kommen müsse,« sagte Esther mit schier befriedigtem Ton in ihrer Betrübnis. Und Maria strich der Fiebernden über das feuchte Haar: »Gut ist es, Liebe, das führt zu Erlösung und Genesung, so oder so.« Anna aber saß am Bett der Schwester und half ihr und pflegte sie und kämpfte um sie Tag und Nacht.

Ah, die grauenvollen Nächte, wann draußen der Föhn mit heißem, aufwühlendem Atem und heißem, aufwühlendem Gesang durch die Gassen stürmte und Elisabeth mit irren Augen und brennenden Lippen seltsame, süße und furchtbare Dinge redete zu einem, der nicht da war, und wann sie zu singen versuchte – mit solch herzzerreißender Stimme ... Und später die langen bangen Tage, als das Fieber gesunken war und die Kranke dalag, weiß und teilnahmlos wie ohne Leben, und man nie wußte, wie lang das erschöpfte Herz noch schlagen würde und ob es noch schlug.

Aber Anna harrte aus, Tag und Nacht, kühlte den brennenden Leib der Fiebernden und führte dem erschöpften Körper durch sorglich bereitete und gereichte Nahrung neue Kräfte zu und achtete es nicht, wenn ihre eigene Kraft von all den rastlosen Mühen und Herzensangst langsam ausgesogen wurde.

Als sie zum ersten Mal mit Lisabeth ausgehen konnte, um Cramers Grab auszusuchen, sah sie fast so durchsichtig aus wie die Genesende, und die mitleidigen Blicke der Vorübergehenden galten ihr kaum weniger als der andern.

Anna hatte sich gefürchtet vor diesem ersten Gang aufs Grab; aber Elisabeth begrüßte mit eigentümlicher, beinahe heiterer Ruhe den frischen Hügel. Mit zärtlichen Händen strich sie über die kleinen Frühlingsblumen, die zwischen magerem Immergrün einen gelben und blauen Flor ausbreiteten. »Gar ein lieber kleiner Garten ist es,« sagte sie leise; »seine Freud wird er daran haben, mein Johannes ... Nicht der da unten,« wandte sie sich dann wie erklärend an Anna, »der andere, der wahre Johannes!« Und sie lächelte träumerisch vor sich hin: »Wann du wüßtest, wie oft er bei mir ist und wie herrlich er geworden ist und wie wir uns verstehen ...«

Anna streichelte fast verlegen der Schwester dünne Hände, und dann mahnte sie zum Aufbruch und führte die Schwache schweigend durch die steilen winkligen Gäßchen nach der Wohnung zurück. Lisabeths Worte waren ihr unsäglich peinvoll und machten ihr viel Sorgen, und erst nach und nach, als sie sah, wie die Schwester sich mit den wachsenden Kräften langsam wieder ins altvertraute Geleise zurückfand und sie sich überzeugte, daß ihr Geist klar war und unverwirrt wie früher, fiel die Angst von ihr ab. Aber Lisabeths entrücktes überirdisches Wesen trat doch wie etwas Fremdes trennend zwischen die beiden Schwestern, während Heinrich mit einer Art neugieriger Verehrung sich an die Genesende anschloß.

Und alles kam wieder ins Geleise, nach und nach und auch der Tag erschien, da Anna wieder ihre Malstube beziehen konnte, an den Nachmittagen wenigstens. Wie hatte sie sich nach dieser Stunde gesehnt in den langen schweren Zeiten, da zwischen ungeliebter Arbeit und heißer Not das Verlangen nach ihrer Kunst ihr schier das Herz versprengte. Nun aber sah sie zwischen dem lieben Gerät müde und ohne Schaffenslust, eingeschüchtert von ihren eigenen hohen, ach, so geliebten Plänen, und ohne die Kraft zum frischen mutigen Anschluß. Aber die Aufträge, die man der im Ausland zu Ruhm gelangten jungen Mitbürgerin nicht länger vorenthielt, trafen ein und zwangen sie auf nüchternen Wegen langsam wieder in die alte Beschäftigung.

Eines Tages wurde Anna auf des Vaters Schreibkammer gerufen, und da der Amtmann solches nur in sonderbarlichen Fällen tat, betrat sie ein wenig bang und nicht ohne Neugier die dunkle Stube, die sie gleich mit einer Reihe unerquicklicher Kindheitserinnerungen überfiel. Der Vater bedeutete ihr, zu warten, und während er ein umfängliches Schreiben mit feinbewegter Hand zu Ende führte, trat Anna vor einen alten Holzschnitt, der in schwarzem Rahmen neben dem Fenster hing, und betrachtete angelegentlich das kleine Bild das sie schon als Kind gemüht hatte und das in drolliger Weise die beiden Reformatoren Luther und Zwingli, ausgestattet mit den Insignien ihrer Glaubenslehr, einander gegenüberstellte. Und wieder, wie als Kind, freute sie sich an Zwinglis herber, sehniger Gestalt, die dem rundlichen, mit Fascikeln schwer bepackten und zu gläubigem Dulden auffordernden Luther resolut Anker und Wage und den Weckruf: »Gott lebt ja noch!« entgegenhielt. Unter den Holzschnitt hatte der alte Künstler als Summa der Darstellung das beherzigenswerte Wort gesetzt:

»Glaube, leide, forsche, hoffe ist allhier das Symbolum:

Wer 's zu prakticieren weiß, der versteht sein Christentum.

Eitler Streit der Disputanten ist nicht eine Bohne wert,

Weil durch alle Federkriege gar kein Mensche wird bekehrt.«

Wie eine Melodie summten diese lustig hüpfenden Verse der ungeduldig Wartenden durch den Kopf, bis der Vater endlich den Brief abschloß und sich ihr zuwandte. Er gebot ihr, sich zu setzen, und dann erzählte er mit leisen und ein wenig hastigen Worten, derweil eine ungewöhnliche Erregung auf seiner weißen Stirn sich vernehmlich malte: ein Brief aus Braunfels sei eingetroffen; Rudolf vermelde, es sei ihm eine Stell angeboten worden als Feldprediger in holländischen Diensten, und daß er große Lust hätte, selbige anzunehmen, weilen ihm der fürstlich Dienst, vorab die Schulmeisterei, nimmer behage, die Fremde aber und sonderlich das kriegerische Leben ihn gar mächtig anzögen. Und auch der Amtmann meinte, daß er solches als ein großes Glück für seinen Sohn erachten würde, da nichts wie strenger Kriegsdienst und die Ansehung fremder Länder geeignet sei, einen unruhigen Geist zu Ordnung und Einsicht zu bringen, wessen sein Sohn gar sehr bedürfe. Da nun aber ein junger Mann in solcher Charge ohne bedeutenden Zuschuß von daheim nicht standesmäßig existieren könne, erwachse ihm daraus eine Last, so er im Angesicht der durch Teurung beschwerten geldöden Zeiten nicht wohl übernehmen könne, ohne sein Vermögen zu schädigen, was er hinwiederum in Besorgung der andern Kinder und fürnehmlich der beiden unverheirateten Schwestern nicht tun dürfe. An ihr liege es nun, dem Bruder dieses Glück zu vermitteln, wenn sie den aus ihrer Malerei gezogenen schönen Erlös ihm zuwendete. Mit freudiger Zustimmung wollte Anna ihm ins Wort fallen; aber der Amtmann brachte sie mit raschem Wink zum Schweigen, während er wie verlegen an den dünnen Lippen nagte: »Das Opfer,« fuhr er leise fort, »ist größer als du meinest, maßen es von dir einen Verzicht erheischt, den du nur mit widerstrebendem, wenn nicht gar schwerem Herzen wirst leisten können. Ich traue aber, daß du dich auch hierin, wie allezeit, als meine tapfere Tochter erzeigen mögest.« Und während Anna ihn mit erstaunten Augen und wachsender Erregung betrachtete, berichtete er weiter von einer zweiten Botschaft desselben Briefes, dahin gehend, daß die Marquise, deren durch den harten Winter geschwächte Kräfte nach der Sonne verlangten, wünsche, Anna aus eine italienische Reis' und zu längerem Aufenthalt in südlichen und kunstreichen Städten mit sich zu nehmen.

Der Amtmann schwieg. Anna schloß die Augen. Italien! Giulios Stimme klang wieder, all die halbvertrauten, süßen, herrlichen, unsäglich heißbegehrten Bilder umkreisten sie, und die Marquise erschien ihr, die Frau, die sie liebte und verehrte wie kaum einen andern Menschen, die ihr vorkam wie die Türöffnerin zu allem Großen und Vollendeten, wie die Erlöserin von jeglicher Halbheit des Könnens. Ihr Kopf brauste ... Aber da vernahm sie wieder des Vaters Stimme. Diesmal redete er von ihr selbst. Wie nötig sie sie hätten auch sonst, sie alle, und daß er sich sein Haus nimmer ohne sie denken könnt'. Anna horchte auf: Was war das für ein seltsamer Ton an ihrem Vater? So ungewohnt liebevoll, fast weich. Sie schlug die Augen aus und erhob sich langsam: »Ja, Vater, ich bleibe,« sagte sie bestimmt, dann verließ sie das Zimmer. Unter der Tür wandte sie sich noch einmal: »Wenn Ihr dem Rudolf schreibt, einen Brief möchte ich Euch mitgeben, um ihr zu danken, der hohen Frau, für ihre Güte.«

Langsam erstieg sie die Treppe mit sorgfältigen kleinen Schritten, als ob sie eine heikle Last hätte aufwärtstragen müssen, und dabei summte ihr fortwährend lästig und lächerlich jener Spruch auf dem alten Holzschnitt um den Kopf: »Glaube, leide, forsche, hoffe ist allhier das Symbolum, wer's zu prakticieren weiß, der versteht sein Christentum – Glaube, leide...«

Droben in ihrer Malstube sank sie müde auf einen Stuhl. Ja, es war dunkel, dieses Gemach, besonders jetzt, da der Abend heraufkam – Herrgott, der Abend vor der langen Nacht! – Und es war auch einsam, trostlos einsam. Fiel ihr das heute zum ersten Mal auf? Wohl; denn – richtig – nun waren ja die Brücken abgebrochen nach drüben, wo die Helle war und die Weite und das Leben. Rudolf ging nun auch so weit fort. War sie nicht wie auf einer Insel, abgetrennt und auf sich selbst gestellt mit ihrer armen halbfertigen Kunst und ihrer Sehnsucht nach Vollendung? So einsam...

Und doch tat ihr die Einsamkeit wohl, gerade in diesen Tagen, und sie war froh, daß die andern sich nicht um sie kümmerten, dieweil ein jedes mit sich selbst genugsam zu tun hatte, und daß sie es nicht achteten, wenn die Schatten unter ihren übernächtigen Augen sich tiefer malten. Liebevolle Teilnahme, das hätte sie jetzt am allermindesten ertragen können. Unter jeder zarten Berührung hätt' es hervorbrechen müssen, was sie so mühsam verbarg und unter solchen Schmerzen verwand. Ja, sie war dem Vater dankbar, daß er gleichgültig tat und unberührt. So war es recht.

Dann kam Rudolfs glücklicher Dankbrief, ein wenig gerührt, ein wenig übermütig auch in Erwartung des neuen Lebens. Die Marquise aber schrieb nicht. Ja, die Brücken, die waren nun wohl abgebrochen, und es hieß sich einrichten, da, wo man war, für bleibend.

Die Aufträge kamen und häuften sich. Anna saß nun wieder den ganzen Tag in ihrer Malstube und arbeitete, unaufhörlich, und keine Aufgabe war ihr zu mühselig und keine zu gering. Warum hätte sie neben der Malerei nicht auch die Schönschreibekunst betreiben sollen? Das alles trug Geld ein, und verdienen wollte sie nun vor allem, damit doch wenigstens der geliebte Bruder das haben konnte, ganz haben konnte, was sie dahingeben gemußt. Warum also sollte sie nicht auch Diplome verfertigen? Herr Werner sah es ja nicht und Herr Morell nicht und Giulio nicht und – nicht die Marquise, ja, und der kleine Stich in der Brust, jedesmal, wann sie an derlei Werk sich machte, daran gewöhnte man sich wohl mit der Zeit. Warum sollte sie nicht Epitaphien schreiben mit fürchterlichen, verlogenen, ellenlangen Versen und Kränzlein drum herum malen, die ihr im Angesicht der papiernen Dichterei unter dem Pinsel zu Papierblumen erstarrten?

An einem solchen Totenspruch zeichnete sie auch eines Samstagnachmittags. Zum offenen Fenster herein kam eine warme duftige Herbstluft mit viel Wehmut und viel Traurigkeit; aber in der Gasse rumorte das Schwätzen der putzenden Frauen und der lustige Lärm spielender Kinder, und während Annas Silberstift unter der halbwachen Kontrolle ihrer ermüdeten Augen sorgfältig Linie um Linie zog, durchhorchte sie erwartungsvoll das muntere Samstagstreiben, bis endlich ein kleiner lustiger Pfiff ihr ins Ohr klang. Erfreut blickte sie aus. Das Gäßchen herab mit etwas beschwerlichen, aber festen Schritten kam der Onkel Fähndrich gegangen. Von weitem schon grüßte er Anna mit fröhlichem Hutschwenken, warf dann einer spinnenden Alten, die in einem verlorenen Sonnenstrahl mitten auf seinem Weg saß, ein neckisches, etwas derbes Wörtlein zu, daß sie mit zittriger Stimme ein kicherndes Gelächter anschlug, und verschwand sodann unter vernehmlichem Zuschlagen der Tür im Hause. Gleich daraus hörte Anna seine schweren Schritte, die ununterbrochen über alle drei Treppen zu ihr herauf stapften. Unter der Türe begrüßte sie ihn: »Ihr seid gradwegs zu mir gekommen?« fragte Anna erstaunt.

»Ja, Jungfer Meiti,« erwiderte der andere lachend. »Die Mutter und die Lisabeth, schau, 's ist mir zu fein das Frauenzimmer und zu himmlisch. Porzellanfigürchen, das war alleweil mein Fall nicht; hab' Angst, daß sie mir zerbrechen zwischen den groben Fingern. Da bist dann schon ein ander Gewächs, du.«

Er strich Anna leise über das Haar und berührte sie dabei so zart und behutsam, daß sie lächeln mußte: »Da sprecht Ihr von groben Fingern und könnt einen streicheln wie ein Sommervogel. Ja, ja, so seid Ihr, Onkel, meint, ich sei Euch noch nicht dahintergekommen, hinter Eure zärtliche Seele.«

Sie setzte sich wieder an ihre Arbeit, während er brummend seinen Hut auf den Tisch warf: »Von der Seel und gar von der meinen ist's mir schon lieber, wenn man nicht reden tut.«

Schwerfällig ließ er sich auf der großen Truhe an der Fensterwand nieder und sah mit behaglich gefalteten Händen und weit auseinander gestellten Füßen nach Annas emsigen Fingern hinüber. Plötzlich nahm er eine pathetische Stimme hervor und hub, indem er die beiden Daumen gemach umeinander drehte, mit komischem Ernst zu deklamieren an:

»Und wie das Waservolk des Marsen Fäder tragt, Wann es dem Vaterland und Gottes Ehr behagt, So kann es gleicherweis die Pallasfäder führen, Das weiße Nilusfäld mit einem Heer zu zieren, Das meiste Sprachen redt und aller Künste Pracht Sich gleichsam zum Verbunst darstellt und sichtbar macht.«

Anna schaute belustigt auf: »Was habt Ihr wieder zu spotten?«

Aber der andere wehrte sich: »Das ist kein Spott nicht, wenn mir also ehrwürdige Wort zu Sinn kommen in Ansehung meiner so kunst- als wissensreichen Jungfer Nichte.«

Doch Anna schüttelte den Kopf: »Spott und Hohn, nichts als Spott, allemal, wenn Ihr ein Stück aus dem Waserschen Heldenlied fürbringet, das weiß ich lang, und hält es doch mein Vater ehrfürchtig hinter Glas und Rahmen.«

Der Oheim seufzte: »Ja, der Herr Amtmann und der Fähndrich, das sind zwei unterschiedene Waserstämm,« und als Anna ihn fragend anblickte: »Schau dir mal unser Wappen an, gar deutlich findest sie da auffigürt, die beiden Stämm mit Ruder und Stachel... Ja, so ein Ruder, wie es bedachtsam und im schönen Gleichtakt über die glatt Fläche streichet, immer emsig, immer gleich, alleweil eins mit seinem Gespanen an der schönen glänzigen Oberfläche; jeder rühmt's, und jeder freut sich daran, da es also sichtbarlich das Schifflein für sich bringt aus der alten, guten, leichten Bahn. Aber der Stachel, der tanzt nicht auf Flächen. In den Grund dringen will der, dorthin, wo der Schlamm liegt und das Faulfleisch also wohl verstecket unter den silbrigen Schwätzerwellen, und auswühlen und gegen den Strom treiben will er. Der hat kein leichte Arbeit und kein lustige nicht, und eines Tags ist er abgenutzt oder gar abgebrochen, und dann wirft man ihn weg, selber hinab in die unrühmliche Tiefe, wo er ungesehen geschafft hat all die Zeit, und keiner weiß etwas von ihm ... Ja, ja, und also hat es auch zwei Waserstämm gegeben allezeit. Die einten, das sind die Verstandsamen, die Fürsichtigen und Fleißigen; denen geht die Ordnung über alles und der Gehorsam und all die siebenundzwanzig Bürgertugenden. Eja, die haben's weit gebracht mit ihrer sichtbaren sauberen Arbeit, sind oben gesessen am Staatsschiff und haben sich aus die fürnehmste Kanzel gesetzt und die sublimste Kathedra und haben sich Bürgermeister genannt und Amtmänner und Antistes und Professores. Aber wer weiß von den andern was, als etwan, daß sie unruhige Köpf gewesen, solche ihre fürnehmen und reputierlichen Verwandten nur mühselig im Takt gehalten! Und hätt' man auch etliches von ihnen gewußt und ihrem stillen Werk, zu einem Ruhmestitul würd' man's ihnen kaum anrechnen. Müssen froh sein, wann sie sich schließlich ungekränkt ins Todbett legen dürfen und mitsamt ihrem eigenen Kopf.«

Er sah düster vor sich hin; aber da gewahrte er, wie Anna mit tiefgebeugtem Nacken hastig an ihrer Arbeit strichelte. Sie war merkwürdig weiß, nur das feine Ohr, das die vorgefallene Locke freigab, glühte. Sofort änderte er den Ton: »Nu, Meiti, wollt' sie dir nicht heruntermachen, deine Oncles und Großväter,« sagte er begütigend; »schließlich will doch jeder das Beste auf seine Weis', bloß daß die einen dabei aufblühn und die andern dran zugrund gehn, und dann kommt sie das Schimpfen an, wer weiß, aus lauter gelbgrünem Neid. Übrigens,« fügte er fröhlich bei, »scheinst du mir sowohl das emsig väterlich Ruder als das mütterlich Mühlrad fürzustellen, dieweil du also ununterbrochen arbeitest und deinem armen Oncle, der sich die drei Treppen zu dir herausgetappt, expreß und aus die Gefahr hin, seinen Schnauf zu verlieren, kein Blicklein gönnst. Was schaffst eigentlich?«

»Ein Epitaphium für die selige Frau Regula Winklerin.«

»Was,« rief der Fähndrich und lachte laut aus, »gar ein herzigs Engelein soll sie ja geworden sein, die alte Hex!« Er trat zu Anna: »So, so, der also! Das Leichenhuhn hat kaum das Lachen verbeißen können, als es ihren Tod ausrief, und nun darf das Meiti ihr ein Totenopfer malen wie einer halben Heiligen! Potz Sadrach, Mesach und Abednego, das kann's mir nicht!«

»Was kann ich tun, wenn man's verlangt?« entgegnete Anna müde und sah dabei den Onkel dermaßen an, daß ihm seine Worte gleich leid taten.

»Hast recht, Meiti,« sagte er beschwichtigend, »was geht's dich an, wem's gilt, hast sie doch nicht selber erdacht, die Lügenvers; wann deine Arbeit bloß recht tust, und das hast, beim Saker!« rief er vergnügt, während er sich auf das große Blatt bückte. »So fein die Schrift, wie gestochen jeder Buchstab, und erst das Kränzlein rund herum mit den Tulipanen und Ehrenpreis und Denkelein, und gar da unten der Totenkopf, aus dem die Blumen herfürsprießen, was ein sinnvoll Erfindung und Zeichen für das ewig Leben, so den Tod überwindet!«

Aber Anna schüttelte heftig den Kopf und warf den Silberstift unmutig von sich: »Nein, Onkel, das macht mir keine Freud, die Totenköpf; weil ich zuerst einen gezeichnet aus der Frau Escherin ihr Epitaph, wollen sie nun allenthalben so einen haben. Wann du wüßtest, wie ich ihn haß, den Schädel, und jedesmal, wann die Leichenbitterin durch die Gassen läuft und einen reputierlichen Namen ruft, denk' ich schon an den Totenkopf, den ich werd' zeichnen müssen, und es schüttelt mich.«

Sie sprang aus, die Tränen waren ihr in die Augen gestürzt; der Fähndrich aber legte ruhig den Arm um ihre zitternden Schultern, zog sie neben sich auf die breite Truhe und streichelte sie sanft: »Armes Meiti, kann mir's schon vorstellen, daß es keine Freud ist für so ein junges Blut, den Tod zu malen.«

Aber Anna wehrte sich: »Nicht das, Onkel; grad den Tod malen möcht' ich, nur nicht so und nicht in dieser leichten, einförmigen Arbeit.« Und leise lehnte sie den Kopf an des Fähndrichs breite Brust: »Ach, Onkel, Plän hätt' ich, Entwürfe ...« »So, so,« brummte der andere. »Plän, Entwürfe, auch du? Am End gehörst doch auch zu denen Stachel-Wasern, Meiti, Meiti! Und gar den Tod malen willst? Leicht ein zweiter Holbein werden oder Manuel!«

Anna wehrte errötend ab: »Nicht spotten, Onkel!« Dann aber fuhr sie leise fort: »Wohl den Tod; aber nicht den bösen, gewaltsamen, häßlichen, sondern den guten Tod möcht' ich malen; denn es gibt deren zwei. Der eine, das ist der Tod, den die Menschen selber herbeirufen; im Krieg kommt der oder wann Leute morden, die andern oder sich selbst, oder wann sie durch schlecht und maßloses Leben ihre eignen Kraft zerstören, und der ist wohl häßlich und grimmig und kommt als ein Zerstörer zur schlimmen Stunde. Der andere aber, der gute Tod, der ist mild und schön, und der Herrgott schickt ihn uns, und immer kommt er zur rechten Stund', nicht anders als der Herbst an die reife Frucht.«

»So, so meinst du das.« Der Onkel blickte starr vor sich hin: »Und wann eins gehen muß, ein Junges, mitten aus dem schön aufblühenden Leben heraus, das Kind aus der Wiegen, die Braut am Hochzeitsmorgen und der Mann von der Arbeit weg, grad wäre sie fertig geworden? Ist das kein gewaltsamer, ist das auch ein guter Tod?«

»Wohl,« erwiderte Anna ernst, »wenn wir's auch nicht recht begreifen können. Das Kindlein, weiß man, wie das Leben es zugericht' hätt' und ob seine Seele nicht zu fein gewesen dafür? Und die Braut? Der Hochzeitsmorgen, da war sie wohl just angelangt oben aus dem Gipfel, und nachher wär' ein Abstieg gekommen, vielleicht ein Abgrund gar. Der Mann aber, wenn er sein Werk hätt' fertig bringen können, wer weiß, da hätt' er gesehen, daß er aus Irrwegen gegangen, all die Zeiten, und da kam der gute Tod und ließ ihm die liebe Arbeit und sparte ihm das schlimme End.« Der Onkel schwieg und wiegte nachdenklich den Kopf, während Anna immer lebhafter, mit immer heißeren Augen weitererzählte. So wollte sie ihn malen, den Tod; als einen schönen und edeln Jüngling mit einem Kranz von Feuerblumen um die weiße Stirn, wie er lieblich als ein Vollender an jedes herantritt, sodaß die Jungfrau ihren Geliebten, die Mutter ihren Sohn, der Greis den glücklichen Enkel und das Kindlein einen schönen großen Gespielen in ihm erkennen würde und freudig mit ihm ziehen, wie dem langersehnten Ziele zu. Und plötzlich sprang sie auf, und nachdem sie die Türe geschlossen, damit keins unverhofft eintreten könne, holte sie aus der hintersten Ecke des tiefen Schrankes eine wohlverwahrte Mappe heraus und entnahm ihr mit bebenden Fingern eine Reihe lebendig hingeworfener Rötelzeichnungen, die sie vor dem Onkel ausbreitete.

Überrascht betrachtete er die stattlichen Blätter. »Und das hast du gemacht, Anna? Kenn' ich doch mein zartes Maljüngferchen nimmer wieder in dieser kräftigen und kühnen Hand!« Und er versuchte mit dem Finger die geschwungenen leichten Linien nachzumachen.

Anna lächelte. »Ja, wißt, die Miniatur, das war wohl nicht von Anfang an meine Ambition. Der Vater hat mich hineingebracht, und Herr Werner und Herr Morell haben ihn unterstützt, und da ich sie nun kann, freu' ich mich auch dieser feinen und ziervollen Kunst. Aber auf das ander mag ich nimmer verzichten. Nicht daß ich große Gemälde schaffen wollt', nein; aber nur nicht immer mit dem nadelfeinen Pinsel und den zarten, zarten Färblein. Ah, den Rötel führen, wie das wohltut, mit der freien lustigen Hand übers Papier fahren anstatt unter der Lupen zu tüpfeln und stricheln wie mit einer Nadel. Einen breiten Pinsel möcht' ich einmal führen mit freien Augen und freien Händen und mit freien Gedanken.«

Annas vordem so blasse Wangen färbten sich, und die Augen glänzten, während sie nun daran ging, dem Onkel Blatt um Blatt zu erklären. Und voll Staunen sah dieser hinein in des Mädchens tiefe Gedanken und farbenreiche Vorstellungen.

»Nun fang' ich an zu glauben, daß weder Stachel bist noch Ruder,« rief er bewundernd aus, »wohl aber eines der schönen güldinen Wasersternlein! Warum nur, zum Saker Hagel, führst sie nicht aus, deine meisterlosen fürtrefflichen Plan?«

Da wurde Anna plötzlich wieder traurig und packte kleinlaut die Blätter zusammen. »Zur Ausführung, da fehlt mir wohl manches noch,« sagte sie leise, und langsam schwand die Farbe wieder aus den zarten Wangen. »Ja, wenn ich nach Italien hätt' gehen können mit der Marquise, an die vielen kunstreichen Orte; aber so: keinen Lehrmeister hab' ich nimmer und keine Zeit nicht. Ach, das Geldverdienen und die Arbeit, die viele, viele betrübte und wertlose Arbeit, die man hierzuland als Kunst ansieht!«

Der Fähndrich setzte sich wieder auf seinen Sitz zurück und sah nachdenksam vor sich hin. »Ja, das drückt, das tut weh, wenn man mit Planen herumgeht und kann sie nicht ausführen, schier die Seel abdrücken könnt's einem; davon weiß auch dein alter Oncle etwas zu sagen, Meiti – Aber jetzo nichts davon ... Also, nach Italien möchtest, an kunstreiche äußere Orte, einen Lehrmeister möchtest annoch haben? Das wird sich nicht heut machen lassen und nicht morgen. Aber wenigstens das andere: aufs Geldverdienen hin sollst nimmer arbeiten müssen; für was hat der Rudolf einen alten unbeweibten Oncle, als damit er ihm beispringe in solchen Läuften? Nimmer überschaffen sollst dich fürderhin, siehst ja bald zarter aus denn die Lisabeth und fast rot die lieben Augen! Und Totensprüch sollst auch nimmer malen für so discutable Engel; wollen sehen, ob dann nicht deine Entwurf doch ausführen kannst, wann wieder Zeit hast und Schnauf und klare gesunde Augen, auch ohne den Lehrmeister und die äußeren Ort.«

Er erhob sich, schier leicht; als aber Anna voller Dankbarkeit ihm um den Hals fiel, wehrte er ihr fast verlegen: »Nicht, nicht, Meiti, etwan früher reden hätt'st können; so ein alter Oncle, schließlich ist man auch für etwas zu brauchen.« Er legte seine Hand um ihre Schulter, und während er mit ihr im Zimmer auf- und abging, mit kleinen, etwas aufgeregten Schritten, beredeten sie den Plan, freudvoll und voller Hoffnung, wie zwei glückliche Kinder, wie es kommen sollte und wie es einzufädeln sei beim Vater. Klug mußte man sein und vorsichtig, und so durfte man beileibe nicht jetzt gerade mit dem Gestrengen reden, da er von allerhand mühseligen Amtsgängen und erschwerten Herbstgeschäften jeweilen einen unlustigen, nicht eben zugänglichen und fast eigensinnigen Kopf heimtrug. Aber bis in zwei Wochen, da war das Schlimmste für, da konnte man's schon wagen. Und zwei Wochen, das war schließlich keine Ewigkeit mehr.

Als Anna wieder allein war und sie daran ging, mit Bürste und Schaufel die Spuren von Onkels erdbeschwerten Schuhen vom blanken Boden zu tilgen, betrachtete sie nicht ohne Rührung die breiten Tritte, die in lustiger Unordnung über die Diele verstreut lagen und sich vor der Truhe in zwei stattlichen, weit auseinander liegenden Häuflein verdichteten, und fast tat es ihr leid um diese lebendigen Zeugen einer schönen und wichtigen Stunde. Der liebe Mensch! Nun konnte doch alles wieder anders werden und besser. Sie rechnete aus: In zwei Wochen, da war's kaum Mitte November, und der lange, lange Winter lag noch vor ihr!

Aber am vierzehnten November lag der Onkel Fähndrich im Todbett. Ganz plötzlich war es gekommen. Am Abend hatte er sich gesund niedergelegt und ein lustiges Liedlein gepfiffen dazu; als er aber am Morgen nicht aufstehen gewollt und Maria nach ihm sehen ging, lag er schon weiß und starr auf seinem harten Lager, und man erkannte, daß er vor etlichen Stunden allbereits den Geist aufgegeben hatte. Und weil er sich also still und ohne Abschied davongemacht, kam es wohl, daß keiner an seinen Tod glauben konnte und daß man immer wieder vermeinte, des Fähndrichs tiefes Lachen und festen Schritt irgendwo zu vernehmen, auch dann noch, als man ihn bereits in die Erde gelegt mit schönen Ehren, wobei der Onkel Pfarrer gar einen beweglichen Sermon gehalten, und als sich schon ein breiter und ruhiger Hügel über seiner letzten Wohnstatt wölbte. Auch da noch erschien es Anna wie ein Traum, wie ein schlimmer, schlimmer Traum, daraus sie hätte erwachen müssen. Und wann der Sonnabend kam und die Stunde, wo sonst sein lustiger Pfiff von der Napfgasse zu ihr herauf getönt, da setzte sie sich wohl auf die alte Truhe, als ob er neben sie hätt' kommen müssen, und überließ sich ihrem warmen aufquellenden Herzweh. Ach, sie hatte nicht bloß den Onkel verloren wie die andern, den guten rauhen Menschen mit der seinen Seele und den klugen vorschauenden Augen; wo war nun der Mensch, der sie so liebte, wie ein Kind zugleich und wie eine Freundin – und der sie verstand? Ja, den Freund hatte sie verloren und mit ihm ein Glück, eine Hoffnung und vielleicht einen Glauben – oder wie war es, stimmte es nun auch wirklich mit dem guten Tod? Der Onkel hatte ihr so oft etwas angedeutet von Plänen, von einem großen Werke, darein er sein Bestes gelegt, sein halbes Leben. Was war nun damit geschehen? Lag es vielleicht irgendwo unfertig, abgebrochen und sinnlos? Ja, und was war es dann mit dem guten, zeitrichtigen Tod?

Eines Tages rief sie der Amtmann in seine Stube. Als sie eintrat, schlug ihr ein brenzlicher Geruch entgegen, der Vater aber stand neben dem Ofen mit blassen, angegriffenen Zügen und wie gebeugt die hagere Gestalt. »Hol den Aschenkessel!« befahl er barsch. »Der Ofen muß geräumt werden, ich hab' etwas verbrannt!«

Als sie das Eisentürchen öffnete, sah sie, wie das Innere angefüllt war von einem Haufen schwarzverkohlten Papiers, und da sie es mit der Kruke herausholte, behutsam, damit die bröckelnde Asche nicht neben den Kessel auf den Boden fiel, gewahrte sie, daß es beschriebenes Papier war. Die glänzende Tinte hatte sich noch deutlich erhalten auf dem verkohlten Grund, und da war auch ein unverbrannter Fetzen und ein Satz zu lesen: »... so aber stehet es um diese untapfere Zeit, daß, wessen das Herz voll ist und der Kopf heiß von gerechtem Zorn und Klag, die Feder greifen muß an Schwertes Statt und Tinten fließen lassen, wo er doch reden möcht' mit feuriger Zungen ...«

Entsetzt ließ Anna die Kruke fallen, und dann stand sie mit bebenden Gliedern neben dem Amtmann, der abgewandt zum Fenster hinaussah.

»Vater,« rief sie, flammend vor Entrüstung und Schmerz, »was habt Ihr getan! Des Onkels Werk habt Ihr zerstört, sein Lebenswerk!«

Der andere zuckte leise zusammen, dann straffte er langsam den eingesunkenen Körper und wandte sich ihr zu: »Ja, ich hab' es getan,« sagte er herb, während er sie aus blassen Augen grad anblickte, »und ist es mir nicht leicht gefallen, maßen ich vermeinte, meinen Bruder zum andern Mal zu begraben, und hab' doch nimmer anders handeln können, vor Gott nicht und weiser Einsicht nicht.« Und er berichtete Anna mit kurzen, fast mühsamen Worten von des Onkels Schriften, daß sie zwar große, vielbedeutende und begründete Gedanken über staatliche wie kirchliche Einrichtungen und über die menschlichen Dinge enthalten, aber von solch unerhörter Neuigkeit und in solch unerschrockener, Schäden ausdeckender Sprach, wie sie einer auch wohl in hundert Jahren nicht ungestraft würde fürbringen können. Und da er sich vorgestellt, wie unheilvoll derlei Gedanken den heißen und unreifen Köpfen seiner Söhne hätten werden können und daß diese Schriften, vor obrigkeitlicher Instantia als Schmachlibell erachtet, sie alle hätten ins Verderben bringen müssen, sei ihm nichts anderes übriggeblieben, denn zu Verhütung so großen und unabsehbaren Schadens diese verfrühten Kundgebungen einer Zeit zu entziehen, die dafür noch nicht reif genug.

Anna versuchte unter den verstandsamen Worten ihre Erregung zu meistern. Ihre verschleierten Blicke begegneten den scharfen, überlegenen des Vaters. »So leben wir dann in der schlimmsten Zeit,« sagte sie bitter, »solche nur das Halbe und Schwächliche bestehen läßt, was aber neu ist und tapfer und ganz, das wird erdrückt.«

»Keine wird anders sein,« entgegnete der Amtmann ruhig; »das Neue, auch wann es gut ist und ersprießlich, solange es außer dem Gewöhnen liegt, wird keine Zeit es ertragen.«

»Aber« – Annas Augen wurden groß und heiß – »die großen Helfer und Neuerer, Vater, die Reformatoren!«

»Einmal kommt der Tag, wo das Neue an das Gewöhnliche rückt.« Des Amtmanns Stimme blieb unbeirrt wie sein Blick. »Wer dann die letzte dünne Wand brechen hilft, den nennt man einen Reformatoren, ein hundert Jahr früher aber hätt' man ihn als Ketzer verbrannt. Die größten Neuerer haben keine Wahrheiten gebracht, die nicht allbereits in der Luft hingen, und bloß, was einer schon selber halb gedacht, davon läßt er sich überzeugen.«

»Und des Onkels Wahrheiten?«

Der Amtmann machte eine kühle, weithin weisende Gebärde, und etwas Seltsames sprang durch die bernsteinfarbenen Augen:

»Er hat die Obrigkeit angegriffen und den gemeinen Mann verteidigt. Auch in hundert Jahren wird kein Regent solche Sprache ertragen, und doch werden die Gnädigen Herren weit ehnder der Schmeichelei entraten als der gemeine Mann der Peitsche, ist doch kein Spruch wahrer denn dieser: Rustica gens optima flens pessima ridens.« Mit dem Bauer fährt man am besten, wann er flennt, am schlimmsten, wann er lacht.

Anna zuckte zusammen: »Eure Sprüch ersticken einen, Vater, aber des Onkels Worte gaben das Leben!«

»So schau hin, wie solches Leben endet!« Eine leise Röte stieg dem Amtmann in die Stirn, während er nach dem Ofen hinüber wies; dann wandte er sich rauh von seiner Tochter weg.

Anna war, als ob ihr die Brust zusammengedrückt würde, zwei-, dreimal, wie unter der eisernen Umarmung der Folterfrau, wovon ihr etwas Gebrochenes zurückblieb und eine Mattigkeit, die sich ihr schwer an die Glieder hängte wie Ketten. Stumm und wie gelähmt ging sie zum Ofen zurück, und während sie den Kessel willenlos mit der letzten zerfallenen Asche füllte, dachte sie an des Onkels Wort von dem Stachel, der – abgebrochen – ruhmlos in der Tiefe versinkt. Hatte er wohl solches geahnt oder hatte der Tod ihn mit dem Bewußtsein vollendeter Tat und aus einer frohen Hoffnung von hinnen genommen? Ja, dann war es vielleicht doch der gute Tod, und sie durfte nicht klagen, daß er für sie unzeitig gekommen, so übel unzeitig, daß sie daran fast zerbrach ...

Schon manchen trüben Winter hatte Anna erlebt – damals, als Lux von ihr gegangen und alles schmerzlich war und düster und voller Verzweiflung, und dann wieder, als der arme Johannes im Sterben lag und sie um Lisabeths Leben kämpfte – aber so einsam war keiner gewesen wie dieser. Lichtlos reihten sich die langen arbeiterfüllten Tage in der einsamen Stube; die kleinlichen Aufträge mehrten sich, und die erfreulichen nahmen nicht zu. Zu jeglichem eigenen Werk aber fehlten Kraft und Aufschwung der Seele in dieser pflichtbeherrschten, erstickten Zeit. Was sie auch tat, alles ging ihr bloß von Händen – Kopf und Herz hatten keinen Anteil daran – und ging ihr zu leicht von Händen. Nur die Augen röteten sich ob der subtilen Arbeit, und der Rücken schmerzte. Rudolf aber, dem all das freudlose Mühen galt, ließ wenig von sich hören. Nur seltene Grüße hier und da und flüchtiges Gerede, daraus man nicht vernahm, wie das Soldatenleben ihm anschlug, ob es ihn hob oder niederdrückte. Und so war es auch sonst. All das Lauschen nach draußen blieb fruchtlos. Langsam schienen die Wege, die in die Welt führten, einzugehen. Von Werners wußte sie fast nichts mehr; nur selten kamen Sibyllas grämliche Briefe mit viel Klagen und wenig Nachrichten, inhaltsarm und undurchsichtig; von Braunfels fehlte jegliche Kunde, und auch die Marquise war verstummt, ganz verstummt seit jener Absage. Und als im Frühling die Nachricht vom Tode des Herrn Andreas Morell eintraf, war es Anna, als ob der letzte glänzende Faden zerrissen wäre, der ihr kleines Leben mit dem großen weiten verband, sodaß sie nun ganz zurücksinken mußte in Dunkel und Enge.

Aber da brachte gerade der Frühling eine kleine Wendung. Elisabeth, deren häusliche Arbeit seit Marias Rückkehr schier überflüssig geworden war, ließ sich von Anna in die Geheimnisse der Kalligraphie einführen, und sie zeigte eine so glückliche Hand für diese zierliche Kunst, daß sie ihrer Lehrmeisterin bald nichts nachgab. So kam es, daß Anna auf einmal nicht mehr allein war in ihrer Malstube und daß sie nach und nach jene Aufträge, die sie nur mit widerstrebendem Herzen angenommen, der Schwester übertragen konnte und wieder freie Hände bekam für die geliebtere Arbeit.

Und nun schien man endlich auch in der Vaterstadt zu entdecken, daß die Waserin nicht allein Kopien und dekorative Stücke anzufertigen berufen war; es kamen Porträtaufträge. Freilich waren es fast durchwegs die billigeren Silberstiftzeichnungen, die man bestellte – die Malereien, die sie zu schaffen noch Zeit und Anlaß fand, wanderten nach wie vor durch Herrn Lukas Hofmanns Hände in die Fremde, zumal nach England; aber die heimischen Arbeiten führten Anna aus ihrer Malstube hinaus und in die Häuser der Bürger. So wurde ihr Leben auf einmal lebendiger und jünger. Mancherorts in den alten strengen Patrizierhäusern und aus den schlichten Landsitzen am See fand sie eine feine, von allerlei Lustbarkeit durchdrungene Geselligkeit, solche sie hinter den nüchternen Mauern und ernsthaften Gebärden nicht vermutend gewesen und wie man sie in ihrem pflichtstrengen Vaterhaus nicht kannte.

Sie selbst wurde hineingezogen in das heitere Wesen, und ihre gesellschaftlichen Gaben, die seit Braunfels lange brachgelegen, gelangten zur Geltung und erweckten Bewunderung. Immer mehr fühlte sie, die früher so Einsame, sich als Mittelpunkt eines kleinen Kreises von jungen Mädchen, die ihr schwärmerisch anhingen und eifersüchtig um ihre Freundschaft warben, und von Jünglingen, die es nicht viel anders taten. Mit Staunen erst und einer Art Neubegier, aber dann mehr und mehr mit einem schier kindlichen, ein wenig prickelnden Vergnügen genoß Anna das alles, das amüsantere Leben und Ehrungen und liebende Verherrlichung. Angenehme Worte und bewundernde Blicke – erfreulich war es schon, man konnte ein wenig aufblühen darunter wie Pflänzlein unter der Sonne, und manches Gewicht löste sich in den schmeichelnden Wellen dieses leichteren Lebens, und manche Tiefe deckte sich zu, daß man unbekümmerter wurde und der Schranken beinahe vergaß und der engen Mauern. Wenn sie am Sonntag nach der Predigt mit den Ihren auf der Niedern Brücke wandelte, hin und her unter all dem Volk, und ihr von jeglicher Seite ehrerbietige Grüße zuflogen und die Leute sie beguckten und flüsterten, wo sie vorüberging – ein bißchen höher schlug das Herz da schon, und die leichten Schritte wurden noch leichter. Und war es nicht ein eigenes Gefühl und schier wie Vorschmack des Unvergänglichen, wenn sie nun immer wieder aus dringenden Wunsch und Bestellung hin ihr Selbstbildnis zeichnen mußte? Daß es dabei etwas Anmutsreiches zu schaffen gab, konnte sie sich nicht verhehlen, und wann die Bildchen ihrer Hand entflogen, jedes in einem tiefsinnigen Spruch oder nachdenksamen Wort auch eine Spur ihres Geistes mit sich nehmend, waren das nicht so viele Grüße und Botschaft ihres Daseins an spätere Zeiten!

Und so schnell gingen auf einmal die Monde, es war alles wie ein Traum fast und kleiner Taumel.

Aber dann kam das Erwachen.

Ein kleines Ereignis ohne äußere Folgen führte es herbei, ein Brief, der Anna seines seltsamen und völlig unerwarteten Inhalts wegen als etwas außer den Maßen Rührendes anlag und sie zum Nachdenken brachte und zur nüchternen Beurteilung ihres Lebens.

Christoph Werner schrieb aus Berlin, er habe sich nun trotz den mittelmäßigen Gaben, die Anna wohl an ihm kenne und die ihn als gar unwürdigen Sohn seines großen Vaters erscheinen ließen, doch durch unentwegten Fleiß und gütige Protektion so weit gebracht, daß er an Gründung eines eigenen Hausstandes füglich denken dürfe. In Erwägung solcher Situation aber habe sich der große Wunsch seines Lebens neu in ihm geregt, und ob er gleich seiner schier unerhörten Vermessenheit sich wohlbewußt sei, wage er es dennoch, in Ansehung der herzlichen Freundschaft, die Anna mit seiner Familie und insonderheitlich mit Vater und Schwester verbinde, als auch ihrer großen und herablassenden Güte, ihr seine herzinnige Liebe einzugestehen, die an Alter ihrer Bekanntschaft gleichkomme, deren Tiefe und unvergleichliche Kraft aber an Annas Fürtrefflichkeit zu messen sei. Wenn nun aber Anna, was freilich zu hoffen er kaum wage, ganz uneingedenk ihrer Überlegenheit seinen Wünschen ein geneigt Ohr zu leihen dennoch nicht verschmähte, würde es ihm nicht anders ergehen denn einem Menschen, dem nach langer betrübter Nacht plötzlich die Sonne erscheine. Indessen wisse er wohl, daß allein solches zu denken schon eine Verwegenheit sei, und bitte sie deshalb inständiglich, ihm eine fördersame Antwort zu geben, in beiden Fällen, maßen er den schweren Schlag lieber bald erdulden möchte denn nach langem und herzaufreibendem Warten.

Nicht daß sich ihr eine unerwiderte Liebe nahte, war das Besondere – solches war ihr in den letzten Zeiten mehr als einmal widerfahren, und ihr unbeteiligtes Herz hatte davon weiter kein Aufhebens gemacht – aber daß es eine so alte und treue Liebe war und daß sie all die Jahre unbeachtet neben ihr hingegangen, das rührte sie und dann, daß es von Christoph kam. Der Name rief so vielen guten und herzlichen Erinnerungen, und die Vorstellungen, die sich damit verbanden, hatten alle irgendwie etwas Tüchtiges, Klares, Vertrauenheischendes, eine Echtheit und Verläßlichkeit, neben der ihr aus einmal ihr gegenwärtiges Leben flackerhaft vorkam und voller Schein, und da sie es nun unter ihr scharfes Urteil legte, gewahrte sie die Belanglosigkeit der letzten Zeiten, wie sie ihre Kräfte verzettelt in leichter gefälliger Arbeit und wie sie sich ohne Kampf und vorwärtsstrebendes Ringen am billigen Erfolg begnügt hatte, und sie schämte sich dieses Erfolges und ihrer Freude daran. Aber in der Erkenntnis, deren bittere Neige sie sich nicht ersparte, lag auch der Entschluß zur Umkehr. Als sie Christoph antwortete, in einem klaren und schonsamen Brief, daß sie jenem Weg, so der Frau vorbestimmt erscheine, gänzlich zu entsagen sich längst entschlossen habe und ihr Leben in den alleinigen Dienst der edeln Malerei zu stellen gewillt sei, so war das kein ausweichendes Wort bloß für den andern, sondern ein ernstgemeintes Gelübde vor sich selbst.

Mehr und mehr zog sie sich zurück aus der Gesellschaft – nicht leicht, denn es zeigte sich, daß das feine Netz der Gefälligkeit und Zerstreuung keine minder zähe Fessel bedeutet als die strengen Bande der Pflicht. Und nach und nach tastete sie sich zurück auf die alten herberen Wege und fand den Ernst der Arbeit wieder und die gesammelten Kräfte und suchte nach der alten Freudigkeit und dem vertrauenden Eifer.

Christoph hatte ihre Absage mit großem Schmerz zwar, aber mit tapferer Ergebenheit aufgenommen, und es gefiel ihr, daß er nicht bettelte um die Liebe und nicht marktete. Und dann später einmal teilte er ihr mit, daß er sich nun einer Jungfrau angelobt, die nicht allein den Namen und Beruf, sondern auch einige liebliche Eigenschaften des Herzens mit Anna gemein habe, nämlich der löblichen Jungfer Anna Hayde, die in der Kunst der Miniatur nicht zu Verachtendes leiste, und daß er sich dermaßen, unwert jenes höchsten Glückes, ein bescheideneres erbaut, darin sich sein Leben freundlich und warm gestalten möge.

Mehr noch als von dem unerwarteten Geständnis des ersten fühlte sich Anna von der unerschrockenen Offenheit dieses zweiten Briefes gerührt. Eine Art Ehrfurcht erfüllte sie vor diesem seltenen Menschen mit der wahren, durchsichtigen Seele und der tapferen, unbeirrbaren Ehrlichkeit gegen sich und andere. Einen solchen Menschen glücklich zu machen... ja, diese Anna Hayde, ein schlimmes Los war ihr nicht gefallen. Und es fuhr ihr durch den Kopf: damalen, in Bern, wann der andere nicht gewesen wäre... und kam ihr zu Sinn, wie seltsam die Liebe, wie blind, und wie sie oft an dem Wertvollen vorbei einem Wertlosen oder gar Entwerteten zustrebte und wie wenig sie zu schaffen hatte mit der Erkenntnis ... War denn Liebe überhaupt etwas Wirkliches, war es nicht bloß eine Einbildung, die uns die eigene Seele fälschlich im andern erkennen läßt, und konnte es nicht bloß Zufall sein, daß solche Einbildung in zweien zugleich entstand und sie zusammenführte?

Es waren viel absonderlicher Gedanken, die ihr nun oft durch den Kopf gingen, und mit der Liebe hatten sie immer irgendwie zu tun; Anna aber wußte nicht, kamen sie aus einer eigentümlichen Unrast ihres Herzens oder war es allein ein besonderes Ereignis, das ihr solches nahe legte: Rudolf war zurückgekehrt, nicht reich und heiß von Erlebnissen, wie sie erwartet hatte, sondern still, ruhig und fast ein wenig müde, und als sie ihn klopfenden Herzens nach der großen Welt gefragt und dem Leben dort draußen: »Ja,« hatte er mit unklarem Lächeln geantwortet, »ein wenig anders ist es schon, als man glaubt. Die großen Antworten hab' ich wohl nicht gefunden, vielleicht gar hab' ich auch die Fragen verloren. Man wird müd von der vielen Wißbegier und Hoffnung, und schließlich begehrt man nichts Besseres denn ein klein still Winkelchen, irgendwo, möglichst nah an der engen, geschmähten und – so geliebten Heimat.«

Und als ihm dann unversehens die Pfarre des nahen Zollikon zukam mit dem schönen Stadthaus in Zürich oben an der Römergasse, da freute er sich wie ein Kind. »Mein warm Nestchen hätt' ich nun, fehlt bloß noch so ein Weiblein hinein.« Und auch dieses fand er, merkwürdig schnell, und seither war er wieder der alte Rudi, jung und feurig und voller großer Gedanken, die er alle aus dem kindischen, untiefen und herzlich unbedeutenden Wesen des blonden Pfarrstöchterleins von Dielsdorf zu lesen glaubte, und trieb mit solcher Ungeduld an der Hochzeit, als ob sie ihm letzte Lösung und Erfüllung bringen müßte.

VI Hochzeit

Anna erwachte aus kurzem heißem Schlummer. Ein breiter Lichtschein lief blendend über die geblümte Bettdecke. Erstaunt öffnete sie die Augen – ja, war sie denn im Turmgemach zu Braunfels oder gar im alten Berner Stübchen, daß der leuchtende Morgen zu ihr hereintrat? Aber da kannte sie sich wieder aus: Richtig, heut war ja des Bruders Hochzeitstag, sie lag im Teucherschen Pfarrhaus zu Dielsdorf, und die dort im andern schmalen Bett so friedlich schlief, das war Enneli, die junge Braut.

Anna betrachtete aufmerksam das Mädchen, das mit kindlich geöffnetem Mund und roten Wangen, die weißen warmen Arme unter dem blonden Kopf verschränkt, ruhig atmend dalag. So hatte sie geschlafen, die ganze Nacht, unbeweglich an derselben Stelle, wo sie sich gestern abend mit einem glücklichen Dankgebet hingelegt, während Anna immer wieder zu ihr hinüber hatte lauschen müssen und staunen über die ruhige Schläferin. War es denkbar, gab es wirklich so etwas, eine solch sicher ruhige Liebe, daß man dem großen Tag ohne Bangen und ohne Jubel, mit diesem friedlichen Lächeln und der klaren Stirn entgegenschlafen konnte? War die Erfüllung, das Glück vielleicht etwas so Selbstverständliches? Und tausend Gedanken waren ihr durch den heißen Kopf gejagt und hatten ihr den Schlaf geraubt, sodaß sie erst gegen Morgen in einen kurzen, wilden, ach so seltsamen Traum verfiel.

Sie erhob sich und warf ein paar Kleider über – die Luft, darinnen man geträumt, ist nicht gesund; sie trat ans Fenster, öffnete es leise und beugte sich weit hinaus, daß die Morgenbrise prickelnd über ihr zusammenschlug. Ah, das tat wohl.

Aus erfrischten Augen blickte sie in die stille Welt hinaus. Langsam, mit gelblichen Lichtern breitete sich die Frühe über das zürcherische Land zu ihren Füßen, das unter durchsichtigen Septembernebeln mit herbstlich gelben Ebenen und seinen gleitenden Horizonten weithin erglänzte.

Anna atmete tief. Das war das Freiland, darnach sie sich so oft gesehnt aus ihrer engen dunkeln Gasse heraus, das war die Weite, die irgendwie mit allen glücklichen Zeiten ihres Lebens verbunden war. So groß und glänzend hatte sich der Himmel über ihre Kinderheimat gewölbt, solch freie Morgenluft hatte ihr Berner Stübchen umweht, und also köstlich hatte vor den Blicken der Braunfelsschen Burg das Land sich gebreitet.

Aber sonderbar, heute bangte ihr fast vor dem unbegrenzten Blick.

War sie am Ende selber eng geworden in der engen Gasse, daß sie sie nimmer begriff, die Weite, mußte man vielleicht selbst etwas Großes in sich haben, eine große Hoffnung oder ein großes Wollen, um diese Größe zu ertragen? Sie aber hatte wohl beides verloren. Viel Kleinlichkeit hatte sich in ihr Leben gedrängt, daran war das Große verkümmert. Und all das Kämpfen und Nichtnachgebenwollen, es nützte doch nichts, nur die Unrast blieb einem davon und das schmerzliche Drängen. Freilich, sich nicht ergeben, nicht unterliegen zu wollen, tapfer war es schon und nichts verächtlicher denn Feigheit und lahmes Verzagen; aber man brauchte der Sache bloß einen andern Namen zu geben: sich bescheiden, und dann war es auch köstlich und vielleicht gar letzte Weisheit.

Nachdenklich löste sie den Blick von der glänzenden Ferne und wandte sich der nächsten Umgebung zu. Das stattliche Pfarrhaus lag zwischen der kleinen Kirche und den höchstgestellten Häusern des Dorfes. Zunächst stand eine alte braune Bauernhütte mit wohligen grünsamtnen Mooskissen auf dem breiten Strohdach und mit freundlichen blumenbeschwerten Fensterchen. Vom Hühnerstall her tönte das zufriedene Gackern einer Henne, und aus der schwarz geöffneten Küchentür stieg allbereits ein friedliches Räuchlein aus. Von der andern Seite der Straße aber glänzten die freundlichen, gleichmäßigen Kreuzlein des Totenhofs herüber, der sich um die kleine Kirche zog. Wie ruhig mußte es sich hier leben lassen in der schlichten kleinen Welt, immer in Ansehung des letzten Ziels.

Der Anblick dieses engbegrenzten Seins tat ihr wohl; sie begriff auf einmal den Bruder. Ein eigen Nestchen? Eine Welt, der man gewachsen ist, die einen nicht erstickt und nicht beherrscht, eine Welt, die man ausfüllt – das war es wohl!

Sie sah wieder nach der Ebene hinaus.

Mit der rückenden Sonne hatten sich die seinen Nebelchen gehoben, sodaß nun das Land klarer dalag und wie nähergerückt, und weit draußen aus der Zürcher Straße gewahrte Anna zwei lebendige Pünktlein, die sich dem Dorfe zu nähern schienen. Das war Leben, pulsendes Leben, das die Ferne kürzte! Auf einmal sah alles trauter und froher aus.

Anna betrachtete scharf die beiden Pünktchen und entdeckte bald zwei winzige Reiterlein, die im raschen Herankommen zusehends wuchsen. Waren es am Ende schon Hochzeitsgäste? Aber wozu so früh am Tag?

Mit wachsender Aufmerksamkeit beobachtete sie die beiden – es schienen fürnehme Reiter zu sein, flott im Sattel und von fremdartiger Tracht, der eine bunt, dunkel der andere – und als das nahe Hausdach ihr die Aussicht benahm, horchte sie gespannt auf das Pferdegetrappel, das durch die Stille vernehmlich zu ihr hertönte.

Anna atmete tief aus. Ihre Brust dehnte sich freudig. Oh, das helle Aufschlagen leichter Pferdehufe, wie froh und erwartungsvoll das durch den sonnigen Morgen drang und welch lieben Bildern es rief! Nun waren sie schon nahe – nun mußten sie beim Wirtshaus sein; ob sie wohl da herauskamen oder nach links abbogen? Sie hielt den Atem an. Das Getrappel hatte aufgehört. Lebhafte Stimmen wurden vernehmlich – ob sie mit dem Wirt unterhandelten? Eines der Pferde schien ungeduldig, es schlug fortwährend den Boden. Und nun rannte es davon, gradwegs zu ihr herauf, im nächsten Augenblick mußte es um die Ecke biegen.

Rasch zog sich Anna vom Fenster zurück; aber da ertönte auch schon von unten ein heller Ruf: »Holla, Hans! Nicht dorthin, links halten, sonst gerätst in die Reben!«

Überrascht lauschte Anna aus: Diese Stimme? Die mußte sie schon gehört haben irgendwo! Mit scharfen Gedanken durchforschte sie ihre Erinnerung. Wo war es nur? Etwas Frohes war es, soviel stand sicher – und ein Bild stieg vor ihr auf: Goldgelb Laub vor tiefblauem Himmel und ein müder modriger Duft – ein Herbstwald wohl; aber weiter kam sie nicht.

Nachdenklich wandte sie sich in die Kammer zurück, während das rasch sich entfernende Pferdegetrampel Regensberg zu wehmütig verklang. Sie machte sich an die Morgentoilette, und da sie eben ihr Haar zu kämmen begann, erwachte endlich auch das Enneli. Nach Art von Kindern fing sie mitten aus dem Schlaf gleich munter zu plaudern an: »Ist das Wetter schön?« rief sie fröhlich.

Anna bückte sich über sie: »Ja, kleine Braut, die ganze Welt voll Sonne!« – und sie küßte die Warme zärtlich auf die Stirn – »Glück und Gottes Segen zum heutigen Tag!«

Die andere lachte vergnügt, ein wenig überlegen. Glück? Ja, hatte sie es denn nicht allbereits und sicher in vollen Händen? Dann aber sah sie Anna überrascht an: »Ist's schon spät, daß so weit bist?«

Diese beruhigte sie: »Nein, nein, die erste Tür hab' ich eben gehört im Haus, wart nur ruhig; ich aber muß fertig sein, wenn die Brautkinder kommen,« und sie machte sich wieder an ihre Zöpfe.

»Was für ein Haar du hast!« rief Enneli voller Bewunderung, und sie fügte betrübt hinzu: »Ich, wenn ich nur halb so viel hätt' und nur halb so langes, ich wär' glücklich!«

Aber Anna lächelte: »Frag den Rudolf, welches ihm besser gefällt? Wetten will ich, das deine scheint ihm tausendmal schöner.«

Das Mädchen lachte dankbar, und dann aus dem Bedürfnis, auch der andern etwas Liebes zu sagen: »Du bist allweg schön,« sagte sie ernsthaft. »Nicht begreifen kann ich, daß du keinen Mann bekommen annoch, vielleicht gar bist ihnen zu gelehrte und zu fein! Aber,« fuhr sie dann tröstlich fort, »leicht ist der Recht noch ausgeblieben und kommt er erst.«

Anna lächelte, halb belustigt und ein bißchen wehmütig; denn sie spürte das Mitleid aus den gutgemeinten Worten. Dann vollendete sie rasch die Toilette und brachte Bett und Kammer in Ordnung.

»So, und nun zu der kleinen Braut!« Von einer Sidele nahm sie ein bereitgelegtes schneeweiß und reichbesticktes Leinwat und breitete es sorgfältig über Ennelis Bett, dann zog sie dem Mädchen ein weißes Spitzenhäubchen über den von zahlreichen Papilloten lustig umsteckten Kopf und gab ihr den festen staatsmäßigen Maien in die Hand, den die Pfarrerin am Vorabend gebunden, sinnreich unter Zugabe von allerlei beziehungsvollen und glückbringenden Kräutlein. »Ganz festlich siehst aus,« lachte Anna, während Enneli sich erwartungsvoll aufsetzte; denn allbereits vernahm man ein lustiges Wispern und Kichern die Treppen heraus.

Langsam öffnete sich die Tür, und hintereinander erschienen, feierlich mit ihren Gaben beladen, vier Mädchen, die drei jüngeren Schwestern der Braut und das Estherlein, überragt von der stattlichen Figur der Frau Pfarrerin. Die Teucher-Mädchen hatten alle das rosig vergnügte Stumpfnasengesichtchen der Braut und ihr spärliches blondes Haar, das die älteren bereits zierlich um den Kopf gelegt trugen, während es beim Jüngsten als zwei winzige Zöpflein links und rechts hinter den Ohren hervorstach. Das mehr städtisch gekleidete Estherlein mit den dunkeln Locken, den grünblauen Augen und den roten Lippen im weißen Gesicht erschien daneben recht als ein fremdländisches Pflänzlein.

Nachdem die Kinder sich neben der Tür in einer Reihe aufgestellt, kam eins nach dem andern mit seiner Gabe hervor, die es unter Hersagen eines Sprüchleins auf der weißen Decke niederlegte. Zuerst trat das jüngste Teucherlein heran mit dem bestickten und fein gefältelten Hemd:

»Wir bringen der Brut ihr Hochzytshemd, Die heilig Sankt Rägel ihr Segen dreinspend.« Dann folgte die Älteste mit dem schwerseidenen Staatsgewand, das sie auf einer Kleiderstange mühsam vor sich herschob: »Wir bringen der Brut ihr Hochzytskleid, Trag alleweil Glück, niemalen keis Leid.«

Sorgsam auf beblümtem Teller bot die dritte den hohen, mit filigranenen Blumen beschwerten Brautkranz dar:

»Wir bringen der Brut die Hochzytskron, Hat luter Blumen und keini Dorn.«

Das Estherlein aber stellte ein Paar ziervoller Schuhe vors Bett, und seine Stimme tönte um ein Bemerkbares weniger feierlich als die der andern, da es sein Verslein herauswirbelte:

»Wir bringen der Brut die Hochzytsschueh, Drin lauf sie sälig dem Liebsten zue!«

Dann faßten sich alle bei den Händen, und lustig klang es im ungleichen Vierklang der Stimmen:

»Was hören wir dussen wohl vor dem Tor?

Ein feiner Hochzyter, und der steht davor.

Stand uf, gib dein ledig Bettli frei» Morndes und so bist du nümmen allei!«

Das Enneli, das all die Zeit mit glücklichem, halbverschämtem und halb neugierigem Gesicht dagesessen, gab nun jedem der Mädchen ein bereitgehaltenes Zuckerplätzlein und einen herzhaften Kuß, worauf diese lachend die Treppe hinunterstoben.

Dann trat die Pfarrerin, ein paar Freudentränen auf dem gesundheitsroten Gesicht, ans Bett der Tochter, Anna aber verließ leise die Kammer.

Sie ging eine Treppe tiefer nach dem Zimmer, wo die Mutter und Elisabeth, die mit ihr zusammen schon gestern hier eingetroffen, genächtigt hatten.

Als Anna eintrat, standen die Frauen bereits festlich gewandet am Fenster und hielten erwartungsvolle Ausschau. Erstaunt blickte Anna die beiden an: wie gut ihnen diese Festtagsfreude stand. Die Mutter in ihrem langen, reichgewirkten Kleid vornehm und adlig trotz ihrer zarten Gestalt; sie hatte einen schönen, seltenen Glanz in den Augen, und Anna fuhr es plötzlich und schmerzlich durch den Kopf: Freude, wann sie mehr Freude gehabt hätte und wann der Vater minder arbeitsstreng gewesen und von minder ernsthafter Zeiteinteilung, vielleicht hätte sie öfter die glänzenden Augen.

Sie trat auf die Mutter zu und küßte ihr voll Zärtlichkeit die Hand. Dann begrüßte sie Lisabeth. Diese trug ein einfaches blaues Seidenkleid und ein ebensolches, mit Silber und Perlen fein besticktes Häubchen aus dem weichen Haar. Kleid und Häubchen hatten die Farbe ihrer Augen, die dadurch noch größer und tiefer erschienen als sonst, und die zarten bläulichen Schatten auf Stirne und Hals, die Annas feines Malerauge oft bewundert hatte, schienen in der Nachbarschaft dieses feuchten Blau noch deutlicher und gingen mit leisem Hauch in die wärmer geröteten Wangen über. Wie lieblich sie aussah unter dieser kleinen, ein wenig aufgeregten Freude – so mochte ihre heilige Namenspatronin ausgesehen haben, als das holdeste Rosenwunder an ihr geschah – und Anna dachte mit wehmütigem Schmerz, wie sehr sich nun der arme Johannes freuen würde an diesem Anblick. Lisabeth aber, als ob sie der Schwester Gedanken erraten hätte, lächelte: »Er hat die blaue Farb immer so gern gehabt an mir, gefall' ich ihm wohl so?«

Und Anna nickte freundlich: »Wohl, wohl mußt du gefallen.« Sie war sich schon so gewöhnt, daß Lisabeth von dem Toten redete wie von einem Anwesenden, daß es ihr selbst schier natürlich vorkam.

Mit Hilfe der Frauen legte nun auch Anna ihr Festkleid über. Es war von einem weichen und seltenen Grün, dessen Widerschein Hals und Arme mit zartem Perlmutterglanz überhauchte. Haar und Augen jedoch erschienen im Widerspiel dazu heller als sonst, und wann etwa ein Sonnenstrahl die Locken traf, die links und rechts unter der goldbordierten Haube aus die Schultern niederfielen, meinte man bisweilen ein rotes Fünklein darin aufsprühen zu sehen.

Nachdem sie mit der Pfarrersfamilie und der noch ungeschmückten Braut ein schnelles Frühstück genossen – in der hinteren Laube, denn die großen Stuben im Erdgeschoß waren allbereits zu Morgensuppe und Hochzeitsmahl festlich gerichtet – half Anna beim Anziehen der Braut, die sich nicht ohne Mühe in die ungewohnten steifen und schweren Kleider pressen ließ.

Eben hatten sie Enneli die gewichtige Krone auf das nun schöngelockte Köpflein gesetzt, sodaß sie darunter hingebungsvoll aussah, wie ein duldend und schmuckreich Opferlämmlein, als von der Straße, allwo sich viel Volk besammelt hatte, ein aufgeregtes Rufen hertönte: »Sie kommen, der Hochzeiter! Der Hochzeiter!«

Anna trat ans Fenster. Vom Dorf herauf gesprengt erschienen Vater und Brüder. Zu Mitts Rudolf, hochzeitlich gekleidet, mit leuchtenden Augen und rötlich die gebräunten Wangen. Noch nie war er ihr so stattlich erschienen wie jetzt, da er hochaufgerichtet zwischen dem blassen ergrauten Vater ritt und dem schmalen Heinrich, der, hochmütig und lässig im Sattel sitzend, trotz der schlichten Studententracht recht als ein feinblütiges Junkerlein sich dartat.

Vor dem Gartentor sprangen die Männer ab und übergaben ihre Pferde dem herbeigeeilten Pfarrhausknecht. Kaum aber hatte Rudolf den Boden gewonnen, als sich auch schon ein dichter Kreis von Kindern um ihn bildete, die ihn, den Eintritt verwehrend, mit festverschränkten Händen umringten:

»Die Brut, die Brut, die geben wir nit,

Und bis Ihr drümal umesyt,

Dann lah wir die Brut la gah!«

Dreimal mußte der Hochzeiter mit Austeilen von Nüssen, Zuckerzeltlein und Münzen die Runde machen, ehe ihm der Weg freigegeben wurde, den er – nicht ohne dem Vater den Vortritt zu lassen – rasch betrat.

Als Anna seine ungestümen Schritte auf der Treppe hörte, öffnete sie weit die Türe und führte den Bruder herein. Voll Bewunderung betrachtete er das reich ausstaffierte, von Freude und Erregung rote Persönchen, und nachdem er der Pfarrerin ehrerbietig die Hand geküßt, umarmte er mit heißer und andächtiger Zärtlichkeit seine Braut. Anna schien er nicht zu bemerken.

Still begab sie sich nach unten, und etwas zuckte ihr schmerzlich durch die Brust: Ja, das war wohl ein Abschiedstag für sie; der Rudolf – so innig hatten sie einst zusammengehalten und nun – aber, wann er nur glücklich wurde, lieber Gott, wann er nur glücklich wurde!

Unten waren bereits Gäste eingetroffen: Esther und Dietschi, beide vergnügt und mit dem Abglanz bevorstehender Freude auf den behaglichen Gesichtern, der Onkel Pfarrer aus Dübendorf, korrekt und wie immer ein wenig bedrückt neben seiner hartkantigen Frau, der gefürchteten Tante Regula. Dann ein paar Vettern und Basen von Waserscher und Teucherscher Seite, fast alles ältere Leute, die sich, steif oder munter, je nach ihrem Temperament, aber jedenfalls unter vielen und komplizierten Scharringgeln ins Haus hinein komplimentieren ließen und die alle auf einem dazu bestimmten Tischlein unter mehr oder weniger vielversprechenden Mienen ein verschwiegenes Päcklein niederlegten. Das waren die Arten, die Geschenke, damit man an jeglicher Hochzeit die Beteiligten zu überraschen pflegte und gegen welche die hohe Obrigkeit in ihren Sittenmandaten so streng und so erfolglos zu Felde zog.

Anna sah mit Betrübnis, daß Maria nicht da war, und wenn sie auch kaum mehr geglaubt hatte, daß die Schwester sich nachträglich noch zum Kommen entschließen könnte, ihr Fehlen tat ihr nun doch neuerdings leid, und schmerzlich gedachte sie der Einsamen.

Endlich erschien auch das Brautpaar, und nachdem es allseitig mit viel Herzlichkeit, Rührung und Neugier betrachtet und begrüßt worden, schickte man sich eben an, Platz zu nehmen, um der Morgensuppe, die als Warmwein mit Käse und allerlei Gebäck appetitlich hereingetragen wurde, zuzusprechen, als das erneute Anfahren einer Kutsche wiederum alle ans Fenster und vor die Türen rief. Und diesmal lohnte es sich, Ausschau zu halten, zeigte sich doch den erfreuten Augen ein gar stattlicher Aufzug: die landvögtliche Kalesche von Regensberg mit zwei flotten, fremdländisch gekleideten Vorreitern, militärisch, junkerlich der eine, der andere mehr ernsthaft gewandet nach Art ausländischer Gelehrter und Praeceptores.

»Ei was der Tausend,« rief Rudolf überrascht, als er die Reiter gewahrte, »das sind ja meine Hänse!« Und völlig uneingedenk seiner hochzeitlichen Würde stürzte er zur Türe hinaus, den beiden entgegen. Auch Anna fühlte sich bei deren Anblick freudig überrascht, da sie in ihnen ihre frühen Reiter unschwer erkannte und alsobald auch des Rätsels Lösung für jene Stimme fand: Der flotte Junker, der Rudolf eben lachend und mit Herzlichkeit umarmte, das war ja der junge Hans Schmid von Wollishofen, der lustige Offizier, mit dem sie einst an einem goldigen Herbsttag durch die Braunfelsischen Wälder gejagt. Ja, und der war es auch gewesen, der dem Bruder zuerst die Freude am Kriegswesen in den Kopf gesetzt und der ihn später auch nachzog nach Holland.

Der andere aber, der Schlanke mit den schlichten dunkeln Haaren und den langgeschnittenen Augen unter den festen Brauen, den kannte sie nicht, nein, den hatte sie nie gesehen, und doch umhalste er den Bruder nicht minder herzlich als der Junker, ja schier mit einer brüderlichen Zärtlichkeit. Und Rudolf nannte ihn Hans Schlatter, seinen lieben Hans ... Hatte sie den Namen wohl schon gehört?

Inzwischen war auch die schwere Kutsche zum Stehen gekommen, und dem rasch geöffneten Schlag entstieg mit einer bei der Stattlichkeit seiner Figur erstaunlichen Behendigkeit Herr Heinrich Holzhalb, der Landvogt von Regensberg. Dann hob er ritterlich zuvorkommend seine junge Gattin aus dem Wagen und lotste unter gutmütigem Spott endlich auch Herrn Ulrich Weggler, den jungen Dielsdorfer Vikar und Präzeptor zu Regensberg aus der Tiefe des Kastens, allwo der Schüchterne ängstlich und unbeholfen mit zwei riesigen Päcken unter den Armen sitzen geblieben war.

»Da hat man's,« rief der Landvogt gutgelaunt, während er den verlegenen Vikar an die pralle Sonne stellte, »dem gelehrten Volk ist's alleweil am wohlsten in der Trucke! Euch ausgenommen, vielwackerer Herr und Meister aller Theologi,« fügte er lachend bei, während er dem herzugeeilten Pfarrer Teucher, seinem getreuen Jagdfreund, herzlich und mit vielwissendem Augenzwinkern die Hand drückte. Und dann ging's an ein lustig sprudelndes Begrüßen nach allen Seiten. Frau Esther Dietschin erhielt von dem leutseligen Landvogt gar einen Kuß auf ihre einladenden rosigen Wangen unter dem Vorwand, daß sie sein Gotteli sei. In Wahrheit aber war sie bloß seines Vetters Patenkind.

Anna betrachtete die etwas turbulente Begrüßungsszene vom Fenster aus. Ihre Blicke fielen aus die junge Landvögtin, die heiter lächelnd am Arme ihres Gatten ging. Wie viel hatte man geschwatzt, dazumal, als die schöne junge Margaretha von Muralt den ältlichen Witwer heiratete. Nun aber schien sie doch zu gedeihen unter ihres Eheherrn zärtlicher Fürsorge. Nur Zufriedenheit, nur das Glück konnte eine solch ruhige Heiterkeit verleihen, wie sie in dem schönen Gesicht der Landvögtin sich spiegelte. Die Ankunft der Regensberger Gäste war wie ein Wirbelwind unter die Gesellschaft gefahren, und als man sich endlich zur Morgensuppe beisammenfand, zeigte es sich, daß es höchste Zeit war, wenn man den Sigristen nicht eine Halbstund lang wollte läuten lassen, und schließlich mußte manch eines mit unverschlucktem Bissen im Mund dem Brautzug sich anschließen. Anna ging mit dem Hochzeiter, während Heinrich die Braut führte, und der Zug war so stattlich, daß, als der voranschreitende Pfarrherr bereits unter der Kirchentür stand, die den Beschluß bildenden Kinder eben erst vom Pfarrhaus weggingen.

*

»Ich ermahne euch hoch und teuer, o ihr Töchteren Jeruselems, bei den Rehen und Hirschen des Feldes, daß ihr die Liebe nicht ohnruhig machet oder erwecket, bis sie selbst wolle.«

Mit ruhiger, unpfarrlich natürlicher Stimme las Herr Teucher den Text seiner Hochzeitspredigt.

Anna schrak leise zusammen. Salomonis Lied! Da war keine Seite in der ganzen Heiligen Schrift, die ihr also das Innerste aufwühlte und sie mit süßem Weh also peinigte, wie diese unergründlichen, vieldeutigen Worte der sehnenden Sucht. Wie oft hatte sie sich angestrengt, darin das Symbolum der himmlischen Liebe so recht zu erfassen. War es ihr je geglückt? Immer hatten sich seltsame fremde Gedanken dazwischen gedrängt – unverständlich und bang – und doch war es schön über alles Sagen und ein Glaube darin, so fest, daß es ihr fast das Herz abdrückte.

Nur heute hätte sie diese Worte nicht hören sollen, heute nicht, da ihre Seele weich war und locker wie Erdreich, durch das der Pflug gefahren und das sich nach Regen sehnt.

Sie zwang sich zu klaren Gedanken und versuchte emsig, den Worten des Pfarrherrn zu folgen, der sich in etwas lederner, wohl in Hinsicht auf den theologischen Schwiegersohn mit Gelehrsamkeit reichlich gespickter Rede anstrengte, die irdische Ehe der himmlischen Verbindung mit Jesu zu vergleichen.

Es waren Worte, wie sie solche hundertmal vernommen hatte. Im selben grauen Gleichstrom flossen sie auch von den zürcherischen Kanzeln; aber wann er hier und da im Wandel der Abhandlung aus den Text zurückkommend einen Vers des Hohen Liedes zitierte, war ihr jeweilen, als ob es purpurn aufleuchtete wie der Ritz am Granatapfel, und es durchschauerte sie, daß sie sich zusammennehmen mußte, um die Bewegung des Innern nicht nach außen treten zu lassen; denn unter der Kanzel, ihr gegenüber, saßen die beiden Reiter. Der Fremde hatte den Kopf zurückgeworfen, und ihr schien, als ob er sie unter gesenkten Wimpern unablässig betrachtete. Der, wann er etwas erraten hätte von der zitternden Bedrängnis ihrer Brust, so peinvoll, nicht zu ertragen wär' es gewesen!

Indessen schickte der Pfarrherr sich gemächlich zu landen an und sammelte sich zu einem etwas gesalbteren Schluß, den er also einleitete:

»Ein jede Creatur liebet und suchet ihre Ruh! Und wann sie je aus ihrem Element getrieben ist, ringt und dringt sie so lang nach ihrem Ruhpunkten, bis sie denselben erreicht hat. Eine Magnetnadel zittert so lang, bis sie den Nordpol gefunden; also kann die Seel eines Gläubigen nicht zufrieden sein, bis sie den Polum ihrer süßen Ruh in der Liebesgemeinschaft Jesu gefunden hat.«

Auch dieses, der Vorratskammer kanzelrednerischer Gleichnisse entnommene Bild war keine Absonderlichkeit; aber es traf Anna wie eine Erleuchtung. Wie Antwort erschien es ihr aus die quälenden Fragen der durchwachten Nacht und die drängenden Empfindungen der Frühe. Ja, der alleweil abgelenkten Magnetnadel gleich war ihr Leben gewesen bishero, und den festen Punkt hatte sie wohl noch nicht gefunden; nun ging das Wort vom Pol der süßen Ruh ihr schmerzhaft durchs sehre Herz wie eine wehmütige Verheißung.

Anna neigte ihr Gesicht tiefer, um die sich feuchtenden Augen nicht zu Verrätern werden zu lassen.

Die Trauung ging vorüber. Die Neuvermählten verließen das Kirchlein, mild und strahlend wie der Herbsttag draußen. Die Dorfleute kamen mit Felicitieren und Geschenken. Und dann saß man an den langen Tafeln, Reden stiegen, Hochzeitscarmina wurden verlesen und die Arten verteilt, die Freude ging hoch; aber Anna stand immer noch unter dem Eindruck jener Worte, und alles Nahe schien ihr wie entrückt. Sie machte nicht mit innerlich und auch äußerlich kaum; denn da sie als Brautjungfer an den Ehrenplatz, den Hochzeitern gegenüber, neben den Landvogt zu sitzen kam, wurde sie durch des alten Herrn Gesprächigkeit vielen Redens enthoben.

Sie atmete auf, als die Gesellschaft sich endlich erhob und man beschloß, der Einladung des landvögtlichen Ehepaars folgend, samt und sonders zu einem Nachtrunk nach Regensberg hinaufzufahren.

Die Wagen wurden vorgeführt und stellten sich ranggemäß ein auf der breiten Straße, die sich in angenehmer Windung um den Berg herum nach Regensberg hinaufzog. Als man sich aber zum Einsteigen anschickte, zeigte es sich, daß für die Kinder kein Platz da war, und da man entschied, das Kleinvolk solle zu Fuß hinauf gelangen, bot sich Anna erleichterten Herzens an, sie zu begleiten. Nach vielen Widerreden wurde es gewährt; doch da sie sich eben mit der kleinen Schar auf den schmalen Pfad begab, der hinter dem Pfarrhaus durch Wiesen und Rebberg geraden Wegs ins hochthronende Städtchen hinaufführte, gewahrte sie, wie Schlatter plötzlich vom Pferd sprang und mit den Worten: »Tut mir den Gefallen und reitet an meiner Statt!« dem verdutzten Vikar die Zügel in die Hand warf. Der Wollishofer aber erhob scherzhaft drohend den Finger gegen den Freund.

In ein paar Sätzen hatte er sie eingeholt.

»Darf ich, und seid Ihr mir nicht böse, da ich mich Euch also ungebeten zum Geleit anbiete?«

Anna sah ihn kühl an. Eigentlich war sie ein wenig erzürnt über sein eigenmächtiges Vorgehen, sie hatte sich so gefreut, allein zu sein mit den Kindern und mit sich selbst. Da sie nun aber den bittenden, schier unterwürfigen Blick seiner schmalen Augen gewahrte, mußte sie lächeln.

»Ich dank Euch,« sagte er leise und lächelte wieder, und dann stiegen sie nebeneinander den steilen Weg hinauf, der unter schwerbehängten Obstbäumen hervor in den Rebberg führte.

»Da wär' ich heut schon mal beinahe hineingeraten,« nahm Schlatter wieder das Wort, und dann erzählte er von ihrer frühen Kavalkade, wie sie, vor zweien Tagen in Zürich eingetroffen, von Rudis Hochzeit vernommen und sich alsobald entschlossen, ihn dabei zu überraschen. Beim Wirt in Dielsdorf hätten sie sich zu früher Stunde schon über das Nähere erkundigt und seien dann, um die Zeit zu kürzen, noch nach Regensberg hinaufgeritten, allwo sie später mit der befreundeten Familie Holzhalb zusammengetroffen. Er redete hastig, ein wenig zerstreut, als ob er nicht recht bei der Sache wäre; dann schwieg er plötzlich wieder. Und auch Anna sagte nichts davon, daß sie um den frühen Ritt wußte und mit wieviel Anteil sie ihn beobachtet hatte.

Sie blickte den Kindern nach, die vor ihnen den Weg hinauftollten, allen voran das Estherlein. Wie ein Geißlein sprang es bergan, dahin und dorthin mit lustigen Einfällen, und die andern alle, der halbwüchsige Pfarrsbub nicht ausgeschlossen, gehorsamten ihm blind. Hier und da aber warf es einen zornerfüllten Blick auf Schlatter. Anna mußte im geheimen lächeln: so war es nun, das heiße, wilde Ding, so eifersüchtig in seiner schwärmerischen Liebe zu ihr, daß sie mit keinem andern mehr hätte gehen sollen. Aber Schlatter schien nichts zu bemerken von dem Zorn des Mädchens; überhaupt schien er nichts zu sehen. Mit gesenktem Kopf lief er neben ihr her und betrachtete den Boden, als ob sich nicht rings die Welt in ihrem goldigen Reichtum vor ihnen aufgetan hätte.

Auf einem Känzelein blieb Anna stehen und blickte nach der Ebene zurück. Die Sonne hatte mit der feuchten Luft milde Schleier über das Land gelegt, daraus aber zu fernst die dunkeln und weißen Berge mit scharfen Horizonten hervorbrachen. »Die schöne silbrige Ebene!« sagte sie erfreut.

»Die Ebene?« Der andere lachte. »Ein Holländer, wann er das sähe: ›Die wilden grausamen Berg!‹ würde der ausrufen.«

»Liebt Ihr Eure neue Heimat?« fragte Anna. Er zuckte mit den Achseln: »Vielleicht, ich weiß es nicht. Das ist mir heut alles so fern und alles gleich.«

Anna blickte ihn erstaunt an. Der sah doch nicht aus, als ob er gleichgültig wäre! Und dann suchte sie ihn aufmerksam zu machen auf die Schönheiten rings.

»Ja, schön!« sagte er leise; aber seine Blicke gingen nicht in die Ferne, sondern hafteten an Annas Händen, derweil sie sich die Haube abnahm.

Sie gingen wieder bergan. Der Pfad wurde schmal, daß sie hintereinander schreiten mußten. Ein kleiner Wind spielte um Annas freien Kopf und wehte ihr schmeichelnd die Haare über die Wangen, daß sie unter der feinen Liebkosung warm wurden.

Plötzlich hörten sie das Estherlein schreien: »Feuerblumen, schaut die Feuerblumen!« und jubelnd sprang es in eine kleine Grube, die sich seitlich in den Rebberg drückte. Zwischen rötlich lehmiger Erde und gelbem Gestein flammte es überall von verspäteten roten Mohnbüscheln.

»So kommt doch!« rief das Estherlein ungeduldig und gebieterisch den erstaunten Kindern zu. »Ihr sollt mir pflücken helfen! Die alle sind für das Tanti, alle, alle für die Anna, weil die sie doch so scheußlich lieb hat.« Nun folgten auch die andern, und während Anna ihnen Anweisung gab, wie man die Feuerblumen pflücken müsse, ohne sich Hände und Kleider zu beschmutzen mit dem räßen Saft der Stengel, und daß man vor allem nur die halberschlossenen nehmen soll und nicht die hellen, kränklich blassen, sondern die dunkeln, glutroten, sah sie voller Verlangen nach den lieben lockenden Blumen. Hätte sie nicht ihr schweres Staatskleid getragen, sie wäre selbst hinuntergesprungen mit den Kindern.

»Liebt Ihr die Feuerblumen?« fragte Schlatter im Weitergehen. »Die Frauen, so ich bisher gekannt, liebten wohl Rosen, Ilgen, Levkoien und andres gartenmäßige und duftende Gewächs, ich glaub' aber, daß sie für dieses heiß und wilde Unkraut kaum mehr denn ein verächtlich Nasenrümpfen übrig gehabt hätten.«

»Nennt es immerhin Unkraut,« antwortete Anna lachend; »mir ist's die allerliebste Blume: feurig und zart mit den seidnen roten Blättern und tapfer mit den feinen stachligen Stengeln. Und wie sie sterben! Welken nicht und faulen nicht; aber wann der Abendwind kommt, dann geben sie ihm still und froh die roten seidnen Blättchen mit: ›Da nimm sie!‹ und stehen dann ruhsam und starr, die Köpfchen, so sie am Morgen noch bescheidentlich neigten, stolz gehoben – denn sie dürfen's, da sie ihr Ziel erreicht. Das ist kein Unkraut nicht, ist eine gar köstliche Blume, recht als ein Vorbild und Exemplum könnten wir sie nehmen mit ihrer edeln Art, bescheiden und stolz zur rechten Zeit: modesta iuventis, honesta senectus.« Bescheiden die Jugend, ehrenvoll das Alter.

Schlatter sah Anna von der Seite an. »Den Spruch hab' ich allbereits gelesen, war auf dem Bildnis einer edeln Jungfrau – feurig und zart, tapfer und fein, bescheiden und stolz,« er lächelte, »ich hab' es gut betrachtet, das Bildchen – Rudolf hat es mir gezeigt – aus Hunderten hätt' ich Euch wiedererkannt!«

»Rudolf hätte Gescheiteres tun können, als mein Contrafetchen andern zu zeigen, so unnütze Spruch dazu machen,« sagte Anna barsch und ärgerte sich darüber, daß ihr unter der Schmeichelei des Fremden das Blut in die Wangen gestiegen. Er hatte solch merkwürdige Stimme, schwebend und leichthin, aber mit einem Unterton, der allen Worten einen besonderen und tiefen Sinn zu verleihen schien.

»Wenn Ihr wüßtet,« fuhr er unbeirrt fort, »wie ich darauf gebrannt hab', Euch kennen zu lernen! Rudolf hat mir viel von Euch erzählt, mir und den andern. Damalen, nichts Höheres hat er gekannt als Euch. Und wann wir andern von den Frauen redeten, nicht immer fein und nicht immer schön, dann hat er Euern Namen genannt und uns alsobald zum Schweigen gebracht.«

Anna lief schneller voran, ohne zu antworten. Nach einer Weile fuhr er fort:

»Als ich heut die Braut sah, eigentlich erstaunt hat es mich, daß er schließlich an einer so kindlichen und unbedeutenden Person sein Begnügen finden gekonnt.«

Anna krauste die Brauen: Was hatte der Fremde ihre Gedanken zu teilen und gar sich ein Urteil über des Bruders Braut anzumaßen! »Enneli ist ein liebes und gutes Kind, wohl geschaffen, den Bruder glücklich zu machen,« gab sie rasch zurück.

»Ihr sagt es,« antwortete der andere nicht ohne einen leisen Spott, »lieb und gut – aber – ein Kind! Können wir aus der Hand eines Kindes jene Ruh und den sicheren Polum erwarten, darnach unsre arme Seel – um Herrn Teuchers Bild zu gebrauchen – wie die verstörte Magnetnadel zeitlebens zittert?«

Anna erschrak: das waren wiederum ihre Gedanken. Hatte er etwas erraten, unten in der Kirche? Sie warf den Kopf zurück: »Den sicheren Polum, ein andrer wird ihn uns kaum geben können, und auch sonst – braucht man in alle Umständ einen solchen zu haben? Sind wir alle Magnetnadeln gleich und gibt's bloß Polarstern? Leicht könnt' sich einer lieber den Planeten angesellen, oder dem lieben Mond, der wandert immerzu und ist kein Tag wie am andern.« Sie sprach schnell, ein wenig herausfordernd wie einer, der an die eignen Worte nicht recht glaubt, und ihre Schritte wurden noch schneller, da jetzt auf dem sich weitenden Wege Schlatter wieder neben sie trat.

»So hab' ich auch gedacht, früher,« fuhr er ruhig fort. »Das Wanderblut ist ohnehin in unserm Stamm, wie denn auch mein Oheim, der Hans Caspar vom Beckenhof, so aus dem Berg Zion begraben liegt, all sein Leben gewandert und kein Ruh nicht gefunden und kein Ziel bis zum letzten. Und so bin auch ich ausgezogen, halb noch ein Kind, mit dem Vetter Leutnant nach den Niedern Landen, und war mir kein Ziel zu fern und kein Weg zu lang und keiner zu heiß – und keiner zu tief. Aber endlich hab' ich's gewußt: All das Reisen war doch ein Suchen nur nach dem festen Ruhpunkt, wie denn auch die Wanderstern ein fest Centrum haben in ihrer Bahn, und die Flüss' streben zum Meer, und selber der Sturm sucht die Stille ... Ja, der fest Punkt – vielleicht kann ich suchen mein Lebtag und find' ihn doch nimmer.«

Die letzten Worte klangen matt, fast schmerzlich, sodaß Anna ihn anblicken mußte. Er hatte den Hut abgenommen, eine Strähne des dunkelblonden Haars war vornüber gefallen und beengte die hohe Stirn, daß er auf eins merkwürdig jung aussah, fast jungenhaft mit dem leisen Zucken um den Mund.

»Eure Mutter,« sagte Anna weicher, »hat sie's über sich gebracht, Euch ziehen zu lassen, so jung und in das fremd Leben?«

»Meine Mutter!« Er warf die Strähne aus der Stirne und lachte bitter. »Meine Mutter, wann ich zu ihr wollte, mußt' ich auf ein Grab gehn, und eine Fremde stand daheim in des Vaters Haus.«

»Armer,« sagte Anna einfach. Sie waren auf die Höhe des Weges gekommen, allwo er plötzlich in das Städtchen mündet, und da die Kinder noch nirgends zu erblicken waren, schlug Anna vor, sie hier zu erwarten. Sie setzte sich auf ein niedriges Mäuerchen, und Schlatter, der sich mechanisch ihrer Anordnung fügte, nahm neben ihr Platz. Dann fuhr er fort, langsam, mit dumpfer Stimme und tiefen Pausen:

»Ja, die Mutter, die hat mir gefehlt in meinem Leben, wie überhaupt alle stille und reine Güte. Wild war alles, ziellos und ohnsinnig. Und der feste Punkt, darnach ich gesucht all die Zeit ohn Bewußtsein, heut denk' ich, daß er vielleicht nichts anders war als solch eine liebe, gütige Frauenhand. Oh, wie stark sie einen halten muß, wann man am Abgrund steht und dort, wo die Wege schlüpfrig sind und abwärts gleiten, und wie kühl sie über die heiße Stirn gehen muß, wie beschwichtigend über das wild Herz, daß es ganz rein wird, ganz still.« Seine Blicke glitten auf Annas Hand, die neben ihr auf dem Mäuerchen lag. »Ihr müßt eine sehr kühle Hand haben,« sagte er dann leise, wie zu sich selbst. »Sie ist weiß und seidig wie das Blatt einer Magnolia und voller Seel bis in die Fingerspitzen hinaus.«

Anna war aufgesprungen. »Die Kinder, dort kommen sie!« sagte sie mit belegter Stimme. »Bis wir beim Schloß sind, haben sie uns eingeholt!« Und ohne zu sprechen, traten sie selbander ins hohe Burgstädtchen, das sich, einer geräumigen Stube vergleichbar, mit seinem traulichen, von saubern Häusern und Türmen umringten Platz lustig vor ihnen auftat.

Als sie eben das mächtige, vom Schloßturm überragte Burgtor, das den Platz auf der entgegengesetzten Seite abschloß, durchschreiten wollten, stand plötzlich das Estherlein vor ihnen. Mit beiden Händen hielt es Anna einen gewaltigen Mohnstrauß entgegen: »Der ist für dich, ganz für dich,« sagte es und fügte dann mit gedämpfter Stimme bei und einem fremden Blitzen in den grünblauen Augen: »Aber mit dem dort sollst nimmer gehn, weil – weil ich ihn nicht leiden kann!«

Anna bemerkte, wie ihr Begleiter bei diesen Worten zusammenfuhr. Mit den aufeinander gepreßten Lippen und gesenkten Lidern sah er zum Erbarmen verletzt aus.

»Ich aber sage dir,« wandte sie sich strengen Tons an das Mädchen, »daß ich deine Blumen nicht eher annehm', als du dem Herrn deine schlimmen Wort abgebeten.«

Da biß sich das Estherlein mit den weißen Zähnen in die blutroten Lippen, und plötzlich, mit einer jähen Kraft, schlug es den Strauß ein paarmal gegen die Tormauer, daß die roten Blüten zerfetzt und traurig zu Boden fielen. »Da!« Seine Augen funkelten vor Befriedigung.

»So,« sagte Anna ruhig, »die armen Blumen hast getötet und mir die Freud genommen, aber dem Herrn hast immer noch nicht abgebeten; bevor du das getan, werd' ich nimmer mit dir reden!« Und ohne sich weiter um das Kind zu kümmern, durchschritt sie neben Schlatter, der ihr mit einem Aufleuchten dankte, das Tor.

Die Gesellschaft fand sich im großen Saal des Erdgeschosses wohlig besammelt an zwei riesigen Tischen, daraus mattblinkende Weinkrüge und hohe Türme der tellergroßen hellgelben Eieröhrlein gar einladende Nachbarschaft pflegten, und allbereits ging ein vergnügliches Knuspern und Becherklingen ringsherum. Als die beiden eintraten, wurden sie allseitig mit Lachen empfangen; der Landvogt aber rollte die runden blauen Augen schalkhaft im rötlichen Gesicht herum:

»Lupus in fabula!« rief er schmunzelnd ihnen entgegen. »Oder eigentlich besser: Leo in fabula, maßen uns der wackere Junker eben erzählt, welch tapfere Löwin sich unter Eurer scharmanten Außenseite verbirgt, holde Waserin, und wie Ihr, der verrühmten orleansischen Jungfrau vergleichbar, einstmalen mit tapferer Hand in den Kampf der Männer eingegriffen und zwar zugunsten eben des Herrn, an dessen Seite Ihr jetzt also lieblich erscheinet, daß meinem wackern pfarrherrlichen Freund allbereits die Zunge nach einer zweiten Copulationspredigt jucket.«

Erstaunt und völlig verständnislos sah Anna um sich. Aber der Wollishofer, der bei ihrem Eintreten aufgesprungen war, fuhr erklärend dazwischen:

»Ihr müßt um etwas zurückdenken, Fräulein, und an den großen Platz vor dem Collegio, allwo die Buben sich zu balgen pflegen.«

Anna sann nach, und da ging ihr aus ferner Kindheit eine blasse, lang vergessene Erinnerung auf: Ein sommergreller Morgen und zwei Buben, die zusammen ringen, grad oben an der Römergasse, wo es schier gefährlich ist vonwegen der großen Steile. Und der eine, der Feste, der ihr den breiten Rücken zukehrt, will den andern zu Boden werfen, den feinen, schlanken, grad hinunter durch die Gasse – herrje! Sie stellt ihr Körbchen ab, läuft herzu, gleitig und leis' wie ein Mäuslein, faßt den Breiten in den Kragen und reißt, so stark sie kann, daß er vor lauter Schreck hintüber fällt auf den platten Rücken – der ander aber flieht davon, federleicht, und das blond Haar flattert hinter ihm drein.

»Ja, war't Ihr das?« fragte Anna voller Verwunderung, und es schoß ihr seltsam durch den Kopf, daß er also doch kein Unbekannter war, der andere, und ein warmes Gefühl stieg ihr auf beim Gedanken, daß sie einst dem Mutterlosen beigestanden.

»Waren wir, wir beiden Hänse,« entgegnete der Junker mit komischer Betrübnis. »Aber er hat es Euch schlecht gedankt, der dort! Hat sich späterhin geschämt, daß ihm ein Mädchen hab' helfen müssen, derweil mir, dem armen Gebodigten, in Erinnerung des zarten Pfötchens, das mich also kräftig im Nacken gefaßt, noch lang ein wohlig Gruseln über den Rücken lief. Ihr seht also,« fuhr er dann ernsthaft fort, »es ist nichts als billig, daß Ihr heut dem Undankbaren die gerechte Straf, mir aber etwelche Entschädigung gönnt durch freundliche Gewähr Eurer holden Gesellschaft, so jener sich eben für eine kleine Stunde kühnlich gestohlen.« Mit diesen Worten bot er Anna den Arm und führte sie an den Tisch, während die Landvögtin dem vereinsamten Schlatter neben sich Platz machte. »Wann Euch die Jugend verschmäht,« sagte sie mit einem schalkigen Blick ihrer schönen jungen Augen, »müßt Ihr mit dem Alter vorlieb nehmen.«

Nun tollten auch die Kinder herein, halb schüchtern, halb gierig angesichts der reichlich getürmten Küchlein. Das Estherlein aber fehlte, und da man nach ihm fragte und die Pfarrskinder nur mit Kichern und Ellbogenstupsen antworteten, berichtete Anna, daß es etwas mit sich auszufechten habe und man es besser allein lasse.

So nahm die Gesellschaft mit vielfach geteilten Gesprächen ihren Fortgang.

»Wißt Ihr etwas von Braunfels?« fragte Anna den Junker, sobald sie neben ihm saß.

»Wohl manches,« erwiderte er vielversprechend, »ich war unlängst aus meiner Herreis' dort; was ich Euch aber zu erzählen hab', sollt Ihr ein andermal anhören, dieweil ich mir die wohlbegründete Gelegenheit zu einem Besuch nicht so unvorsichtig vorwegnehmen will.«

Enttäuscht, schier ein wenig erzürnt sah ihm Anna ins frische Lachgesicht, und während er ihr allerlei Lustiges und Artiges vorerzählte, sann sie auf ein Mittel, ihm sein Wissen doch abzulätscheln.

Aber da griff die Dübendorfer Pfarrerin, die dem Paar gegenüber saß, in des Junkers Geplauder und Annas Sinnen hinein: »Die Maria ist nicht gekommen,« sagte sie mit gedämpfter, aber scharfer Stimme, und ihr Gesicht erschien gelber und die Gestalt geradliniger als sonst.

Anna fuhr leise zusammen. Die Tante Regula, wann die den Mund öffnete, etwas Unliebes kam allemal heraus.

»Sie meint, daß sie nicht hingehöre zu den lustigen Leuten,« antwortete sie tonlos, »und wer weiß, es ist besser so, leicht hätt' es ihr wehtun können.«

»Aber paßlich ist es nicht,« gab die andere zurück und juckte ihre rechte Schulter abwehrend nach hinten. »Weder, die heutige Jugend weiß allerdings nimmer, was sich schickt, und zusammennehmen kann sie sich erst nicht.«

»Ja, früher war man wohl klüger,« sagte Anna ein wenig spöttisch; denn sie dachte daran, wie klug die junge Regula Egli es einst eingefädelt mit dem Onkel Pfarrer und daß man erzählte, sie hätte sich bei der Beerdigung seiner Braut, der schönen Margarete, auf der andern Seite des Grabes dem Bräutigam gegenüber aufgestellt, um solchermaßen durch einen alten Glauben ihre Pläne zu fördern, demzufolge einem Witwer diejenige vorbestimmt war, auf die sein erster Blick übers Grab hin fiel. Die andere fühlte irgendwie Annas geheimen Spott. Sie biß sich auf die dünnen Lippen. »Es geht ungleich,« fuhr sie dann mit wohlgezieltem Seufzer fort, »wenn ich denk', wie unsere Kinder alle bereits versprochen, wenn nicht gar verheiratet sind, ob sie wohl allesamt jünger als ihr ... Deine Mutter hat kein Glück mit ihren Töchtern.« Anna antwortete nicht mehr, und ein Wort des Onkels Fähndrich fiel ihr ein: Die Regula, die kann ihren Namen auch mit dreien Buchstaben schreiben, und kommt zuvörderst ein H, zuletzt aber ein x.

Da sie stumm blieb, fuhr die andere spitziger fort: »Was macht eigentlich deine verrühmte Miniatur? hab' lang nichts mehr davon gehört? Das mit der Hofmalerin war auch eine kurze Herrlichkeit, ist alleweil so mit den großen Herren, und das Frauenzimmer, sobald es seine Natur verleugnet, wird schon gar nimmer geschätzt.«

»Da irrt Ihr Euch!« rief der Junker mit heißem Gesicht zu der Pfarrerin hinüber. »Was die Hofmalerin anlangt, so hat mir noch jüngsthin der gräflich Herr eine große Jeremiade angestimmt darüber, daß er eine so vorzügliche Meisterin also früh hätt' verlieren müssen, und gar sehr bedauert, daß die Waserin mit ihrer Wissenschaft und Künst auf einem Boden zu leben verurteilt sei, allwo das Frauenzimmer gemeiniglich noch zurück und also die richtige Schätzung kaum werde vorhanden sein.«

Er hatte in seiner Entrüstung so laut gesprochen, daß die Worte über die plötzlich verstummte Gesellschaft hin allen vernehmlich klangen. Die Pfarrerin war sprachlos, dafür aber wehrte sich der Landvogt:

» Parbleu,« rief er erbost, »da soll der hohe gräfliche Herr sich doch zusammennehmen, was er sagt, als ob wir eine so feine Kunst nicht zu verstehn und eine so fürtreffliche Person, wie die Waserin, nicht zu ästimieren wüßten!« Und dann sprudelte er hundert artige Lobsprüche hervor und Beweise des großen Ansehens, das sie genoß, und schloß endlich mit dem Lob eines jüngst entstandenen Kontrafetes: »Wie Ihr den gewissen Junker vor dem Lindentor gemalt – ein Meisterstück ist das, so Euch die großen Holländer kaum nachgetan hätten. Heilige Rägel, habt Ihr ihn herfigürt, den guten pflichtvollen Spitzkopf mit seiner bedenklichen Stirn und trübsinnigen Nasen – wahrlich, wie er leibt und lebt – oder besser gesagt ablebt, trotz seiner Vielgeschäftigkeit, maßen ihm das Blut nicht heiß und rot durch hundert Äderchen zu springen, wohl aber schwer und kühl den vorgezeigten Weg abzuwandeln scheint. Mit viel Kunst habt Ihr das getan, aber – mit Verlaub – auch mit einiger Malicen, sodaß ich mir geheimlich schwor, niemalen meinen Vollmond einer so wahr- als boshaftigen Hand anzuvertrauen. Dafür aber möcht' ich mir nichts Liebers wünschen, als meine Frau Eheliebste von Euerm kunstvollen Pinsel verewigen lassen.« Mit großer Lebhaftigkeit nahm er diesen plötzlich hervorgesprungenen Gedanken auf und spann ihn mit viel Begeisterung weiter bis zu der Bitte, Anna möchte bei ihnen bleiben, heroben in Regensberg, grad jetzt, und alsobald das Bildnis seiner viellieben Frauen in Angriff nehmen. Mit Jubel pflichtete ihm die Landvögtin bei, und da auch der Amtmann mit geschmeicheltem Lächeln seine Zustimmung gab, nahm Anna an, mit freudigem Herzklopfen; denn der Gedanke, etwelche Zeit in dieser freien und sonnigen Welt zu verbringen, war über die Maßen verlockend. Ihr Blick ging durchs Fenster, das zu ihrer Linken sich auftat, auf den freien Lägerberg hinaus; freundlich geschmiegt und kräftig getürmt stand er gegen den grünlichen Himmel. Wie die Sonne aus den sanft übergoldeten Wäldern lag, so mild, so liebevoll! Es war dieselbe Sonne, die ihr vom rückwärtigen Fenster her mit warmen Fingern über den Rücken tastete und ihr leise duftend durchs Haar schien. So wohl war ihr auf einmal, so warm und frei die Brust.

»Du solltest aus der Sonne rücken, Anna,« sagte plötzlich Tante Regula mit vernehmlichem Flüstern, »man sieht sonsten zu gut, daß dein Haar eigentlich rot ist!«

Aber der Landvogt gab eine Lachsalve los. »Laßt der Sonnen die Freud, edle Pfarrerin, daß sie das Gold aus diesem sonderbarlichen Haar herfürzieht; rothaarig ist deshalben Eure schöne Nichte mit nichten. Sonst wird Euch ein Vergleich mit unserm lieben Herrn Vikar eines Bessern belehren.«

Er wies auf Herrn Weggler, der unten am Tisch stumm hinter einem langsam abnehmenden Turm von Eieröhrlein saß, deren Farbe mit seinem Schopf wetteiferte. Erschreckt sah der Jüngling, der plötzlich alle Blicke fühlte, auf, und während seine Hände hilflos nach den gelbroten Strähnen griffen, die das erglühende Gesicht einrahmten, stotterte er verlegen: »Am Kopf schon – aber – aber an den Beinen hab' ich dann schwarze.«

Eine lautlose Stille folgte dieser wunderlichen Selbstverteidigung. Dann erhob sich die Landvögtin brüsk: »Ich denk', wir gehen noch auf die Terrasse!« Und mit zusammengezogenen Brauen und stolz zurückgeworfenem Kopf verließ sie aufgebracht den Saal. Ihr Eheherr folgte ihr auf dem Fuß, während sich auch die andern gemächlich aufmachten.

Als Anna über die kleine Treppe auf die Terrasse trat, sah sie, wie Frau Holzhalb mit erregtem Stampfen des kleinen Fußes auf ihren Mann einredete, der sie vergeblich zu begütigen suchte. »Da hast du es,« rief sie mit schlecht gedämpfter Stimme, »und so etwas soll unsere Söhn erziehn, und dann wunderst dich, daß der Hansheinrich ein Wildfang, der Beat aber gar ein Schwärmer und Pietist wird? Schau den dort an, so einen sollten wir haben, dem fehlt's auch nicht an Gelehrte, und ist dabei doch ein Weltmann und voller Cavalier.« Sie wies nach Schlatter hinüber, der abgewandt, die Hand leicht in die Hüfte gestützt, an der äußersten Mauer lehnend eine elegante Silhouette in den hellen Himmel schnitt.

Anna schämte sich, daß ihr feines Ohr sie zum ungewollten Zeugen dieses Gespräches gemacht hatte, und da sie eben oben an der steilen Treppe, die in den Burggraben führte, das Estherlein erblickte, ging sie zu ihm hinüber. In trutziger Haltung stand das Mädchen da; aber als Anna sie näher betrachtete, sah sie, daß ihre Lider dick und rot waren. Sie hatte eine kleine rote Rose in der Hand und hielt sie nun Anna halb bittend, halb störrisch entgegen. Aber diese schüttelte den Kopf: »Nein, Kind, damit ist's nicht getan, deine Beleidigung abbitten sollst.«

Da warf das Estherlein mit einer zornigen Bewegung die Locken aus dem heißen Gesicht:

»Ich kann es nicht sagen, ich kann nicht, lieber über die Mauer da hinabspringen, tausendmal lieber!«

»Weißt was,« sagte Anna, milder gestimmt – das Mädchen erbarmte sie in seinem verzweifelten Trotz – »weißt was, so bring du ihm die Rose; brauchst weiter nichts zu sagen, und ich komm' noch mit dir, wenn d' willst.« Auch dagegen wehrte sie sich; aber da nun Schlatter, nach einem lebhaften Gespräch mit dem Landvogt, selbst raschen Schrittes zu ihnen herüberkam und Anna sie mit den Worten: »Da ist eine, die wieder gutmachen möchte!« dem andern zuschob, drückte ihm das Estherlein mit plötzlicher Bewegung die Rose in die Hand und stürzte dann davon.

Schlatter zuckte ein wenig zusammen; dann zeigte er Anna seinen schmalen langen Finger, daraus ein kleiner Blutstropfen langsam hervordrang. »Es hat mich gestochen, das Teufelchen,« sagte er und lachte dann plötzlich heraus, so hell und jungenhaft, daß Anna erstaunt aufhorchte. Wie paßte dieses junge, ungebändigte Lachen zu dem ernsthaften Menschen mit der verschleierten Stimme und dem verhaltenen Schimmer in den langen Augen? Sie vermeinte, auf einmal wie durch ein Fensterlein in eine Zweiheit seines Wesens geblickt zu haben, und derweil sie das Estherlein entschuldigte, daß es sonst ein gar herzig aufgewecktes Persönchen, bloß seiner Kleine wegen zu sehr als Kind behandelt und deshalb etwas verwöhnt sei, forschte sie in seinem Gesicht nach einem Zug, der ihr irgendwie dies Seltsame seines Wesens erklären konnte, und da entdeckte sie, daß der große Mund um ein weniges weicher gebildet war, als man es gemeinhin bei Männern gewohnt ist. Vielleicht auch waren die merkwürdig weißen Zähne schuld daran, daß er so jung erschien und so beweglich, als ob er nicht ganz hineingehörte in dieses hagere Gesicht mit den ernsten Brauen.

»Ich muß Euch etwas mitteilen,« sagte Schlatter, während er des Estherlein Rose auf seinen Hut steckte: »Herr Holzhalb hat mich gefragt, ob ich hier bleiben könnt' für meine Vacanzen, damit ich seinem Praeceptori mit meiner hofmeisterlichen Erfahrung etwas nachhelfen könnt', und weilen mich ja doch kein Vaterhaus erwartet, hab' ich angenommen. Tut's Euch leid, daß Ihr für etwas Zeit die Einsamkeit heroben mit mir teilen müßt?«

Forschend, mit einem schier ängstlichen Blick sah er Anna an. Sie blieb ihm die Antwort schuldig; denn sie wußte nicht, ob das, was ihr bei seinen Worten mit einem ganz kleinen Schmerz durch die Brust gefahren, bloß Überraschung war oder Freude oder am Ende gar Schreck... »So wünsch' ich Euch einen frohen und ersprießlichen Aufenthalt heroben,« sagte sie leichthin und wandte sich dann mit flüchtigem Kopfnicken von ihm weg, den andern zu, die unter der mächtigen Burglinde um das Brautpaar versammelt standen.

Als es gegen Abend ging, brach die Gesellschaft auf, Onkel Pfarrers und Dietschis, die Amt und Geschäft riefen, sowie auch die beiden Reiter geradewegs nach Zürich. Die andern erwartete das Abendbrot in Dielsdorf, allwo das freundliche Fest sich noch in die Nacht hinein erstrecken sollte. Es dauerte geraume Zeit, bis man sich mit viel wohlgesetzten und herzlichen Worten geziemend von den Gastfreunden verabschiedet hatte, und als die Kutschen endlich vollgestopft und die Pferde vorgeführt waren, zeigte es sich erst noch, daß Heinrich fehlte, der seit mehr als einer Stunde verschwunden war.

Endlich erschien auch er, Arm in Arm mit dem jungen Beat Holzhalb. »Ist er etwan auch ein Schwarmgeist, der Heinrich?« wandte sich der Landvogt an Herrn Waser, als er die Jünglinge mit den heißen Köpfen und glänzenden Augen gewahrte. »Dann tätest mir leid, Amtmann, maßen mir mein Bub viel Kummer macht mit seinem überspannten und pietistischen Getue!« Und da nun die beiden mit einer schier mädchenhaften Zärtlichkeit sich verabschiedeten, sahen ihnen die Väter kopfschüttelnd und mit sorgenhaften Augen zu.

Anna hatte sich entschieden, auch diesmal mit den Kindern zu gehen, und während der Zug, voran die Reiter und die landvögtliche Kalesche mit dem Brautpaar, schwerfällig unter dem festen Kronentor neben der Burg verschwand, schritt Anna leichten Fußes durch das abendlich leuchtende Städtchen. Das landvögtliche Ehepaar gab ihr das Geleit bis dorthin, wo der Weg, hinter der schön gebauten Präfektur mit dem mächtig gewölbten Tenntor, von der flachen Höhe plötzlich und unvermittelt ins Rebgelände hinabsank. Mit herzlichen Worten und einem frohen: »Auf Wiedersehen morgen!« nahm man Abschied.

Langsam folgte Anna den voraneilenden Kindern und blickte in die rötlich dampfende Ebene hinaus, die sich in dunstenden Fernen mit dem Himmel verband. Sie blieb einen Augenblick stehen und suchte die Zürcherstraße, auf der sie auch bald die beiden Reiter gewahrte, die raschen Flugs den langsamen Kutschen vorankamen. Da hielt der eine der beiden, und Annas scharfe Augen gewahrten, daß es der dunkle war und daß er mit gewendetem Pferd nach dem Berg hinaufschaute. Einen Augenblick später aber jagte er wieder gestreckten Laufs neben dem andern dahin, und Annas Blicke folgten ihnen, weithin, bis zwei kleine Pünktchen sich in der Ferne verloren. Und als sie nun dachte, daß der eine von den beiden morgen schon von dort zurückkommen würde, da wußte sie plötzlich, daß das kleine Zucken in ihrer Brust nicht bloß Überraschung gewesen und auch nicht Schreck.

Der Abend glutete voller und verwandelte das nebelnde Land in ein rotes Meer. Mächtiger und unbegrenzter als am Morgen erschien die Welt, und doch fühlte Anna kein Bangen mehr vor dieser Weite; ihr war, als ob auch sie getragen würde von den roten Fluten fernhin an ein glänzendes Gestade.

Sinnend stieg sie tiefer. Die Kinder waren nicht mehr zu sehen. Da fiel ihr ein, daß das Estherlein wohl auf sie warte, unten bei der Grube, mit einem Mohnstrauß in der Hand, und still lächelnd beschleunigte sie den schlanken Schritt.

*

Unter der hellen Fensterreihe ihres Giebelzimmers saß Frau Margarethe Holzhalb in einem erdbeerfarbenen Samtkleid, daraus ihr mattschimmernder bräunlicher Hals weich und stolz hervorwuchs. Ein resedenfarbener Teppich hing hinter ihrem schönen Kopf und zog bläuliche Lichter auf ihrem glänzend schwarzen Haar. Mit Befriedigung betrachtete Anna die feine Farbenstufung, die ihr Pinsel allbereits mit zartem Schmelz festgehalten hatte. Nur hie und da war ein Schatten noch etwas zu schwer, ein Übergang zu hart. »Ihr könnt Euch um ein weniges ausruhen, edle Frau,« sagte Anna, während sie mit dem fein gespitzten Pinselchen behutsam den Fehlern nachging.

Die Landvögtin seufzte erleichtert auf, warf sich anmutig im Sessel zurück und schlug die schmalen Füße wohlig übereinander. Dann blickte sie belustigt nach Schlatter hinüber, der in der tiefen Fensternische sitzend unverwandt Annas emsige Finger betrachtete. »Ihr seid ein schlechter Unterhalter,« rief sie mit übermütigem Lachen, »und wenn Ihr's nicht besser versteht, einer armen sitzenden Frau die Langeweile zu verkürzen, dann mag die gute Meinung, so ich von Euern Cavalierstugenden gehabt, um ein Gewaltiges sinken!«

Schlatter fuhr auf und warf die Strähne, die ihm übers nachdenksame Gesicht gefallen war, jäh aus der Stirn. »Zu Euern Diensten, vieledle Frau,« sagte er mit liebenswürdigem Lächeln und etwas übertriebener Reverenz; »was aber kann Euer schönes Ohr zu hören wünschen?«

»Was Ihr wollt! Erzählt uns von Holland!«

Schlatter zuckte die Schultern und machte ein gelangweiltes Gesicht; dann fing er an aufzusagen im einförmig singenden Ton der Schulbuben: »Holland ist ein helles flaches Land mit schwerfälliger Luft und seichten nutzbringenden Gewässern, und die Menschen sind ebenso.«

»Schlingel,« rief die Landvögtin vergnügt, »wartet nur, ich will Euch ein ander Sujet geben, daraus Ihr Euch nicht so leicht werdet ziehen können! Wann man von den Männern etwas Besonderes hören will, muß man sie über das Frauenzimmer befragen. Also, erzählet uns von den holländischen Frauen. Sie sollen schön sein, mit einer Haut wie Apfelblüten und stattlich gebaut.«

Schlatter überlegte einen Augenblick, während Anna ihren Kopf tiefer auf die Arbeit neigte. »Apfelblüt,« sagte er dann gedehnt, »ist wohl ein gar zu zartes Wort, ehnder möcht' ich ihre gesunde Haut jenen Frühlingsprimeln vergleichen mit dem rohen und unverhüllten Rot, das mit der Zeit gern ins Bläuliche überspringt. Stattlich? Ja, viele von ihnen sehen aus wie Stadtgöttinnen, daß man ohnwillkürlich nach einer Mauerkron auf den Köpfen sucht, und auch sonsten überall harte Mauern und Bollwerk an ihnen vermutend ist.« Und während die Landvögtin sich leise kichernd weicher in ihrem Stuhle rekelte, fuhr er fort: »Ihre Gesichter aber haben gemeiniglich diesen Fehler, daß sie zuviel Maul zeigen und zuwenig Stirn; ich aber kann ein Gesicht niemalen schön finden, darin die Kinnlade über den Schädel, das Eßinstrumentum über die Denkmaschine sieget. Und dann haben sie zumeist breite und rötliche Händ, wie ausgeweitet und aufgeweicht vom vielen Scheuern, dieweil die Holländerinnen sich mit der Fegbürsten ins Paradeis hineinzuputzen vermeinen. Ich aber,« fügte er leiser hinzu, »könnte niemalen eine Frau lieben, so breite und rosenrote Händ hat.«

Befriedigt betrachtete Frau Margaretha ihre feinen bräunlichen Finger. »So sagt uns denn, wie die Frau sein soll, die Ihr zu lieben wünschtet?« fragte sie mit einem schnellen Aufblitzen ihrer schwarzen Augen.

Aber Anna fuhr ein wenig hastig dazwischen: »Darf ich Euch, eine Zeit lang ruhig zu sein, wieder bitten? Sonderheitlich den Mund sollt' ich in seiner Ruhe betrachten können.«

»Sobald der dort redet,« sagte die andere schalkhaft, und während Schlatter zu erzählen begann, setzte sie sich in Position. Anna aber erbebte leise: Das war wieder die besondere, verschleierte, untertönige Stimme, die sie damals im Rebberg zuerst an ihm vernommen hatte und die er in den acht Tagen, so sie selbander hier verbracht, nur selten hatte hören lassen und zumeist, wann sie allein waren.

Er sprach: »Es gibt Frauen, die sind stolz und kühl wie Tulipanen; solche haben einen hohen Gang und überlegene Augen und sind wie ein Tag im Jänner, hell und gleißend; man kann sie wohl bewundern, aber lieben nicht; denn ihre weißen Händ, wann man sie berührt, sind leblos und hart wie ein Stück Marmelstein.

Und solche gibt's, sie sind bunt und lustig wie ein Stiefmütterchenbeet im Frühling, darin die hundert Immen summen. Daran hat man seine Freud und sein Vergnügen, aber lieben kann man sie nicht, maßen ihr bunt und offenbar Gesicht ohne Tiefe und ohne Geheimnis.

Und Mädchen gibt es, die sind fein und hold wie Röslein und haben einen süßen Duft. Die mag man wohl lieben, einen Tag oder zwei; aber dann ist es vorbei mit beidem, mit der Liebe und mit dem Duft, und weiß man kaum, daß man sie je gesehen.

Und es gibt Feuerlilien. Die leuchten und locken, und ihr Atem ist heiß und geht einem schwer zu Kopf, folgt aber ein arms Imblein dem betörsamen Duft und will gar trinken aus dem Flammenkelch, dann schlagen die roten Blätter darüber zusammen und weiß keines, wie es wieder Herfürkommen mag und ob's noch herfürkommt. Die Feuerlilien, die möcht man wohl lieben, aber man sollt' nicht, dieweil solche Liebe nicht Labsal gibt und Trost, wohl aber Glut und verderbendes Feuer ... Nun hab' ich einmal eine Blume gesehn, fein und feurig, herb und süß, stolz und zart, klar und doch voller Rätsel, die möcht' ich wohl lieben.«

»Ihr redet zu dunkel,« sagte Frau Margaretha etwas ungeduldig. »Ich hab' Euch nach dem Frauenzimmer gefragt, Ihr aber sprecht wie ein Gärtner von seiner Serren. Genaues möcht' ich wissen: Wie sollen ihre Augen sein, wie ihre Gestalt, wie das Haar? Blond oder braun oder gar schwarz?«

»Das Haar?« Schlatter sah sinnend vor sich hin: »Keins davon und alls zugleich: braun, wann der matte Morgen heraufzieht mit der tauigen und verdeckten Lust, schwarz, wann die Nacht die dunkeln Schatten breitet, aber wann der helle Mittag scheint, blond schier mit roten und güldenen Lichtlein... Die Augen aber müßten offen sein und still und so tief, daß einer, sobald er hineinschaut, sich von einer stillen und klaren Luft ganz eingehüllt vermeint, darin seine Seele klar wird wie ein Kristall oder ein fein durchsichtig Lüftlein.«

Die Landvögtin lachte: »Ihr seid ein Phantast, aber es hört sich wohl an. Fahret fort!«

»Der Mund ist beides, herb und süß, mit schmaler Linie, aber blühend die Farb, und die Füße schmal und hochgeschwungen. Wie kann man eine Frau lieben, so auf niedrigen und breiten Füßen geht? Aber hoch und leicht wandelt es sich auf diesem schmalen stolzen Fuß ... Das Schönste aber sind die Hände. Wie Blumen wachsen sie aus den schlanken Armen heraus, und weiß sind sie und zart, wie die Blätter der Magnolia, aber voll Leben und voller Seel bis in die Spitzen der schmalen Finger.«

Schlatter sprang auf und bückte sich nach dem Pinsel, der Annas Hand mit leisem Klirren entfallen war.

Frau Margaretha dehnte sich. »Seltsam,« sagte sie mit einem kleinen verstohlenen Blick nach den beiden hin, und dann befahl sie: »Fahret fort, Herr Hofmeister, von ihrer Gestalt sollt Ihr uns reden.«

»Die Gestalt?« Schlatter trat wieder ins Fenster und sann einen Augenblick nach, als vom Burghof herauf ein starkes Getrampel und Räderrollen vernehmlich wurde.

»Was ist, wer kommt?« rief die Landvögtin unangenehm überrascht. Schlatter beugte sich zum Fenster hinaus und gab Auskunft:

»Eine fürnehme Kalesche – steigt eine Dame aus – eine alte, das Gesicht – mit Verlaub – einer Enten nicht unähnlich und ebenso der Gang!«

»Heiliger Felix,« rief Frau Margaretha mit komischer Verzweiflung, »das ist die Tante Ursula, nun ist es fertig mit unsern Sitzungen! Bis ich die Zeitungen alle vernommen – heut und morgen läßt sie mich nimmer aus. Ihr aber, wenn ich euch raten kann, fliehet, daß ihr nicht auch noch hereingezogen werdet in die Klappermühle!« Sie nickte den beiden mit einem übermütigen Blick zu und verschwand.

»Wie schade, nun ist das Bild wieder nicht fertig geworden, und fehlt doch so wenig mehr,« seufzte Anna, während sie ihre Sachen zusammenpackte.

»Ihr habt doch noch ein ander Werk unterhänds, wie wär's, wann Ihr solches fürnähmt? Es ist noch früh am Nachmittag und das Wetter schön.«

»Ihr meint das Schloß?« Sie schüttelte den Kopf: »Nein, da doch Frau Holzhalb mitzukommen verhindert ist.«

»Und ich?« Schlatter sah sie dringend an: »Kann ich Euch in gar nichts dienen? Was soll ich anfangen mit der Zeit, da die andern alle weg sind?«

Anna zögerte einen Augenblick, dann sah sie ihn groß an: »Ich lieb' es nicht, wenn Ihr so redet, wie Ihr es vorhin getan.«

»Dann soll es nimmer geschehen,« sagte der andere ernst. »Seid Ihr nun nicht mehr bös, und darf ich Euch begleiten?« Er blickte bittend, fast ein wenig verlegen, aber gut und grad. »Wohl,« sagte sie bestimmt, »mein Geräte könnt Ihr tragen.«

Sie machten sich auf den Weg.

Der Ort, von wo aus Anna auf der Landvögtin Wunsch das Schloß malte, lag in halber Höhe am steigenden Lägerberg, durch ein schmales Tälchen von dem vorgelagerten Hügel getrennt, darauf Burg und Städtchen thronten. Der Frühnachmittag füllte das baumreiche Gelände mit einer warmen, etwas feuchten Sonnenluft, durch die schon hie und da mit seinem Modergeruch ein wehmütiges Herbstmahnen ging. Rüstig durchschritten die beiden die schmalen Pfade, die von der Burg niederwärts, über etwelche die Ringmauern verbindende lustige Trepplein hinunter und aus der andern Seite zwischen Wald und Wiesen aufwärts führten. Mit heißen Wangen und klopfenden Herzen erreichten sie die kleine Wiese, wo Anna ihre Staffelei aufzupflanzen pflegte. Unter einer breitschirmigen Esche, deren schon etwas gelichtete Zweige ein feingoldenes Geäder über den blaßblauen Himmel zogen, ließen sie sich nieder.

»Wie gut haben wir es getroffen,« sagte Anna freudig, während sie ihr Malgerät hervornahm, »so schön war es noch nie!« Und sie maß mit entzückten Augen das glänzende Bild, das sich ihnen bot. Über dem dunkeln Rahmen eines nahen Tannensaumes stieg das hochgetürmte Städtchen mit seiner mächtigen Feste unvermittelt auf, von der sonnenfeuchten Luft seltsam fern und hoch gerückt. Dahinter aber schwamm die silbern duftende Ebene, zufernst in den zarten Himmel verklingend.

Schlatter, der sich neben Anna in die Wiese gesetzt, folgte ihren Blicken. »Das ist der September,« sagte er nachdenklich, »der liebe, silberige September, und dünkt mich doch kein Monat schöner als er. Wie mild legt er seine kühlen Nächte und zarten Tage über die Gluten und Schmerzen des Sommers. Alles ist fein an ihm und sanft, der blasse Himmel, die sterbenden Wiesen mit den verlöschenden Flämmlein der Herbstzeitlosen, die weich vergilbenden Bäum – und gar die Luft, von Silberschleiern durchzogen, mild, mild, wie das gütige Lächeln einer schönen Frau, die ganze Welt wie ein Herz, so den Frieden gefunden und sich nun langsam der Erfüllung neiget.«

Anna sah über sich: »Ja, so blaß der Himmel, und über ein kleines wird er wieder dunkel sein und leuchtend, und die goldnen und roten Bäum stehen vor der Bläue, und in den Rebbergen ist der Jubel, und die ganze Welt in der Fülle ... Vielleicht lieb' ich den Oktober zumeist, dieweil er so tapfer und schön dem Tod ins Auge schaut, und man weiß auf einmal: Sterben ist nichts Schlimmes, ist eine Erfüllung, ein Ziel!«

Schlatter schüttelte lebhaft den Kopf: »Nein, nein,« rief er fast heftig, »die jubelnde Erfüllung, so den Tod nach sich bringt, ist grauenhaft! Ich liebe die milde Gegenwart, die spätere Fülle verheißt.«

Er warf sich ins Gras und blickte unter halbgesenkten Wimpern zu Anna auf: »Wißt Ihr, wie ich Euch nun sehe?« fuhr er leiser fort. »Wie einer der Cherubim, also blickt Euer Gesicht aus der freien Luft zu mir herab. Euer Haar aber schwimmt in der zarten Bläue wie jung Eichenlaub im Lenzhimmel ... So werd' ich Euch immer sehen, wann ich an diese Tage zurückdenke, mild und voller Güte, wie ein Engel in der milden Septemberwelt, und in mir alles licht und gut... Ich werde viel Kraft ziehn aus dieser Erinnerung, aber – auch viel sehren und schweren Mut, auch leiden werd' ich nachher...«

Nachher? Anna erschrak. Ja richtig, das alles hatte ein Ende, diese sonnigen, lieben Tage, und dann kam das Nachher, und das war eine dunkle Stube und ein einsam Werk, etwas Leeres, etwas grausam Leeres nach der vollen Gegenwart.

»Und Ihr,« fuhr der andere fort, »werdet Ihr auch ein wenig an mich denken, hie und da einmal, wann die kühleren Herbsttage kommen oder – oder sonst, wann all meine Gedanken zu Euch gehen und um Einlaß bitten wie ausgeschlossene Kinder, werdet Ihr etwas spüren und ihnen auftun?«

Anna sah ihn unsicher an, seine Augen schimmerten unklar. »Wohl werd' ich etwan Euer gedenken,« und sie zwang ihre Stimme zur Ruhe.

»Ich dank' Euch,« sagte er einfach, aber durch das hagere Gesicht lief ein eigenes Leuchten.

Später erzählte er von seinen Plänen, daß er seine Stell bei dem holländischen Grafen bald einmal zu quittieren und sich um eine andere am Gymnasio zu Campen, allwo der greise Rektor ihm gar wohlgesinnt sei, zu bewerben gedenke. Er sprach mit großer Lebhaftigkeit und baute mit freudiger Zuversicht ein schönes Zukunftsgebäude; je höher aber seine Pläne stiegen, umso größere Traurigkeit legte sich über Anna. Ja der, die Zukunft lag vor ihm, und alles fügte sich zu einem Ziel, sie aber – seit die Brücken abgebrochen und sie den weiten Boden verlassen gemußt, war ihr ganzes Leben nicht ein großes graues Nachher?

Schlatter war aufgesprungen und stellte sich vor Annas Staffelei. »Oh,« rief er voller Bedauern, »schon so weit! Ihr solltet Euch nicht dermaßen eilen; wann Ihr fertig seid, dann geht Ihr, und dann, ja dann ist alles zu End!« Das tönte leidenschaftlich, fast schmerzlich. Ja, gab es etwa auch für den ein Nachher? Anna sah ihn verwundert an. Sein Gesicht war plötzlich dunkel geworden, und es war etwas Fremdes in seiner Stimme, wie unterdrückter Zorn schier, als er fortfuhr: »Früher, wann ich Eure Miniaturen sah, oh, wie ich sie bewundern könnt' und mich freuen daran, und hab' mir allezeit die Hand vorgestellt, wie fein und zart sie sein müßt', um so Feines zu schaffen; nun aber, da ich Euch selber seh, nun hass' ich sie fast, jene feinen Werke, weilen ihnen alles gehört, die Hand und die Augen und – und alles; ich aber kann betteln und warten um einen Blick, einen einzigen flüchtigen Blick. Eure Hand, Eure Hand!« Seine Stimme zitterte, und plötzlich kniete er neben Anna und hielt ihre Linke zwischen seinen bebenden Händen. Anna wollte sie ihm entziehen, aber er hielt sie fest: »Nein, nein,« rief er flehend, »laßt mir sie, laßt mir sie, einen Augenblick bloß!« Und Anna fühlte, wie von seinen heißen Fingern her ein seltsamer, lähmender Schmerz ihr durch alle Glieder ging; sie wollte aufspringen, sie wollte sich entziehen, sie wollte schelten, wollte hundert Dinge tun, um sich zu befreien aus dieser Qual, und blieb doch reglos, wie gebannt von einer fremden Macht, und ließ es geschehen, daß er ihre Finger an seine heißen Schläfen preßte, daß sie vermeinte, das Hämmern seines Blutes wie eine betäubende Musik im eigenen zu spüren.

Es war wie eine Schwäche, aber einen Moment bloß, dann fand sie Widerstand und Kraft. Rauh entzog sie ihm die Hand und sprang auf. »Ich mag das nicht,« sagte sie streng, während sie vor Erregung zitterte. »Ihr sollt nicht knien wie ein Franzos und nicht Wort machen wie ein solcher.«

Schlatter erhob sich langsam. Er war blaß; aber auf seinem Gesicht lag es wie der Abglanz eines Lächelns.

»Ich habe etwas entdeckt,« sagte er leise, wie abwesend. »Euer Händchen – wir haben denselben Herzschlag, Anna, genau denselben Herzschlag, und wißt Ihr, was man sagt? Menschen, die denselben Herzschlag haben, sind füreinander bestimmt, von Uranfang füreinander bestimmt, und ist nichts, was sie zu trennen vermag.«

Wieder streckte er die Hand nach ihr; aber Anna trat zurück: »Wollt Ihr, daß ich es bereuen muß, Euch mitgenommen zu haben?« Sie warf den Kopf in den Nacken, die Augen sahen dunkel aus dem weißen Gesicht. »Wir gehen,« sagte sie dann schroff, und rasch Bild und Farbenkästchen zusammenraffend, wandte sie sich, ohne zurückzusehen, dem steilen Pfad zu, der unter schattigen Bäumen niederwärts führte. Schlatter folgte, stumm, mit hängendem Kopf, Staffelei und Feldstuhl unter dem Arm; aber der letzte Schimmer eines Lächelns lag immer noch in den schmalen Augen.

Früh am Abend zog sich Anna in ihre Kammer zurück. Mochte man glauben, daß sie durch ihre Anwesenheit den Besuch der Tante Ursula nicht stören wollte. Ohne Licht zu machen, setzte sie sich in den Sims ihres hochgelegenen Fensters und sah zu, wie die Nacht zuerst mit schwarzen Schatten am Lägerberg hinausschlich und dann wieder mit bleichen Strahlen vom Gipfel niederglitt. Sie schmiegte die heiße Schläfe an den kalten Fensterstein und ließ sich die nachtfeuchte Kühle über den Körper rieseln. Kühl und klar wie das weiße Mondlicht draußen mußte sie werden, damit sie nachdenken konnte, unerbittlich nachdenken.

Was sie heut dort oben erlebt unter der goldenen Esche, das hatte ihr die Augen geöffnet über Dinge, an denen sie bis dahin wie blind vorbeigegangen und ohn Bewußtsein.

Aber nun wollte sie sehend werden, ganz sehend und ganz bewußt.

Sie zog ihre Gedanken zusammen, daß sie hart wurden und scharf wie eines Messers Schneide, damit sie alle die Erlebnisse der letzten Tage klar und grausam auseinanderlegte.

Ja, so war es: von der ersten Stund an war er ihr besonders gewesen und anders als die andern. Schon damals in der Kirche und dann im Weinberg, da sie sich über seine Anwesenheit zu ärgern vermeinte, war es nicht, weil sie fühlte, daß er ihre Gedanken anzog, mehr denn jeder andere? Und dann später, diese ganze Woche, die ihr schön erschien wie ein hold Geträumtes, wußte sie nicht heute jedes Wort zu wiederholen, das er zu ihr gesagt, und jede Gelegenheit, die sie zusammengeführt hatte? Und in den Stunden, da er mit den Söhnen des Landvogts war und mit ihnen über Land ritt, hatte sie nicht auf seine Rückkehr gelauscht, unablässig? Und wann er kam, hatte sie nicht sein Nahen gefühlt, ohne sich nur umzusehen?

Und heute, da ihre Hände das heiße Blut seiner Schläfen spürte, war es nicht einen Augenblick über sie gekommen, daß sie sich hätte niederbeugen mögen und ihre Wange an sein glühendes Gesicht legen ... Allmächtiger, so weit war es! Entsetzt sprang sie aus; aber dann sank sie wieder aus den Sims zurück und drückte ihren heißen Kopf härter gegen den Stein, daß die Stirn schmerzte. Was nun, was nun?

Sie dachte weiter, an Lux. War es möglich, konnte es noch einmal kommen, nachdem es so schmerzlich zugrunde gegangen? War das wiederum die Liebe? Aber da fiel ihr ein, das mit Lux, das war doch ganz anders gewesen: stark und froh, wie wenn einer das erste Schneeglöcklein sieht und aus einmal spürt, nun kommt das große Wunder, der Frühling kommt, und er sich nicht zu fassen weiß vor unbändiger Freud, so war es damals, aber heute? Da war kein glänzendes Land, das sich vor ihr auftun wollte mit lichten Höhen und dünner Lust, wohl aber stand sie am Eingang eines Gartens, der war dunkel verhängt und geheimnisvoll die Wege, und kam ein Duft heraus, süß, süß, aber so schwer. Es war wie eine Betäubung.

Sie aber wollte nicht betäubt sein, nie, niemals. Wohl war es seltsam zu denken, daß man nur hineinzutreten brauchte in diesen Garten – so leicht ging es, die Tür stand schon halb offen – und auf eins war es verschwunden, all das Leere und Einsame und Schmerzliche, und das Leben hatte die Fülle gefunden und den tiefen Ton – und vielleicht den festen Pol ...

Aber war sie nicht schon zu weit gegangen auf der andern Bahn? Wär' das nicht ein Umkehren auf halbem Weg, sodaß ihr Leben am End aussehen mochte wie jenes Bildnis von des armen Giulio Hand: Unvollendet, in Halbheit erbärmlich und haßbar!

Sie richtete sich straff aus: Nein, das war vorüber, mußte vorüber sein. Mochte ihre Kunst auch bisweilen eine harte Herrin sein und eine karge, die ihr nicht immer gab, was sie erhoffte – zu lang schon war sie in ihrem Dienst, um nun alles abzutun, und zum Neuanfangen war sie zu alt. Denn – das fühlte sie mit sonderbarer Sicherheit– mochte er bergen, was er wollte, jener geheimnisvolle Garten, die Kunst gedieh nicht darin und die Freiheit nicht und auch jene Kraft nicht, die sie bis jetzt in Händen gehabt wie einen festen und verläßlichen Stab.

Der Mond schwamm schon mit bläulichen Schatten im westlichen Himmel, als Anna endlich den Schlaf fand; er kam ihr aus einem festen, tapferen Entschluß: Es mußte zu Ende gehen, so schnell wie möglich. In den nächsten Tagen wollte sie die Bilder vollenden und dann fliehen, unverzüglich fliehen in die sichere Einsamkeit ihrer stillen Malstube.

Aber als sie am Morgen vor dem Frühstück den Landvogt traf, der – ein großer Frühaufsteher – schon von einem Forstgang zurückkam, blickte er sie gar seltsam an:

»Was ist mit Euch,« rief er bedenklich, »daß Ihr ein weißes Gesicht habt und Schatten unter den Augen? Überarbeitet, gelt?« Und dann schimpfte er gutmütig: »Sacrebleu, so ist es, das Frauenzimmer, alleweil zu hitzig bei der Sach! Daß Ihr mir heut kein Pinsel nicht anrührt, hört Ihr!« Und er schlug mit dem Stock auf den Boden und rollte die blauen Augen, daß Anna lachen mußte. Aber an seinem Verbot ließ er nichts abmarkten, vielmehr mußte sie ihm versprechen, sich am Morgen auszuruhen, um dann nachmittags einmal einen Ritt zu tun. »So ein wenig das Blut durcheinander, das wird Euch bekommen, und da die Buben ohnedies der Tante Ursula die Ehr werden erweisen müssen, weilen sie schon auf den Abend das Feld zu räumen beabsichtigt, sind die beiden Praeceptores ledig und zu einem Begleit sicherlich mit Freuden bereit.«

Die beiden, Anna atmete auf. Wann Weggler mitging, dann war sie ruhig.

Gleich nach dem Mittagessen machte sie sich bereit; sie kleidete sich in ihr braunfelsisches Jagdgewand, das die Mutter auf der Landvögtin Wunsch geschickt hatte, und legte damit ein schönes und frohes Stück Erinnerung um sich. Leichtfüßig lief sie die steilen Treppen zum Burghof hinunter, wo der Landvögtin Zelter bereitstand. Das klare Denken und der feste Entschluß hatten ihr Herz leichter gemacht, sodaß sie nun Schlatter frei und freundlicher entgegentreten konnte. Er aber schien stiller und verschlossener als sonst.

Der Landvogt war ihr beim Aufsteigen behilflich.

» Parbleu,« rief er fröhlich, »was haben wir für ein schönes Edelfräulein!« und küßte scherzhaft ihre behandschuhte Rechte. Anna lachte herzlich. Es war ihr auf einmal merkwürdig froh zumute. Das alte geliebte Kleid, der scharfe Geruch des Pferdes und der warme, leise schauernde Pferdeleib unter sich, es war wie eine kleine köstliche Berauschung. Und dann ging es los, mit lustig klingenden Hufen unter dem Kronentor durch ins Land hinaus.

Aber wie sie da den Lägerberg, freundlich hingelagert, mit sanften und einladenden Steigungen vor sich sahen, kam es Anna aus eins an, daß sie dort hinausreiten möcht'. »Traut Ihr Euch, es ist kein so leicht Stück?« fragte Schlatter ernst, und da sie ruhig zusagte, trieb er alsobald seinen Braunen waldeinwärts. Herr Weggler aber folgte mit einem betrübten und nachdenklichen Gesicht. Aus angenehmen Pfaden gelangten sie zu der kleinen Wiese unter der Esche. Einen Augenblick hielten sie wie aus Verabredung ihre Pferde an, um nach dem besonnten Städtchen hinüberzublicken.

Plötzlich wandte sich Schlatter an den Vikar: »Seht, unter dieser Eschen,« sagte er mit gemacht ruhiger Stimme, »ist mir jüngst ein seltsam Gesicht erschienen; mag sein, daß Ihr aus Eurer Gelehrsame eine explicationem dafür findet.«

Herr Weggler sperrte die Augen groß aus und spreizte die Nasenflügel, er war ganz Aufmerksamkeit. Mit seinem Lächeln gewahrte es Schlatter, dann fuhr er fort: »Dort im Gras lag ich, wie Ihr an den betrübten Herbstzeitlosen noch ersehen möget, die meines Leibes Last erdrückte, als mir aus eins ein Wesen erschien, war über die Maßen hold und einem Engel nicht unähnlich und hielt etwas in seinen Händen mir entgegen, das ich nicht erkennen konnt'. Da ich aber mit fragenden Augen darnach sähe: ›Das ist die Güte,‹ sagte es lächelnd, ›so du lange gesucht, das ist die Reinheit, daran du nimmer geglaubt, das ist die Ruh und das Glück, so dein arm Herz umsonst erstrebet – da nimm!‹ Und wie ich darnach greisen wollt' mit zitternder Hand, sieh, da erhielt ich einen Nasenstüber, und alles war weg.«

Herr Weggler machte ein stumpfes Gesicht: »Mit Verlaub, ist Euch solches bei wachenden Sinnen geschehen oder im Traum?«

»Im Traum,« sagte Schlatter mit einem Seufzer, »natürlich im Traum.«

»Da muß ich denn doch gestehn,« fuhr der Vikar bedenklich fort, »daß es mir höchst unklug erscheint, da außen und gar in der Nähe eines großen, nicht immer geheuerlichen Waldes einzuschlafen.«

»O ja,« rief Schlatter spöttisch, »sehr unklug!« Und dann lachte er laut auf und gab dem Pferd die Sporen, daß es davonraste, quer über die Wiese in den Wald hinein. Die andern folgten langsam.

»Es ist äußerst merkwürdig,« sagte der Vikar mit wichtiger Umständlichkeit, »wie dieser Herr bei seiner großen Gelehrte und vielen Gereistheit ein oft kindisch und sonderbar Wesen an den Tag zu legen nicht verschmähet, solches unsereiner bei aller Bescheidenheit als unter seiner Würde zu erachten nicht umhin könnte.«

Anna schwieg; mit starker und aufmerksamer Hand faßte sie in die Zügel ihres Pferdes, das dem Davonjagenden nachzueilen bestrebt war. Nicht ohne Mühe hielt sie das vor Erregung bebende Tier im Zaum. Auf der andern Seite der schmalen Waldzunge, am Saum einer mächtig gebreiteten, nur sachte ansteigenden Wiese erwartete sie Schlatter, und während sie alle drei nebeneinander weiterritten, Hub er mit Weggler ein sachliches Gespräch über seine Schüler an.

»Auf den Beat sonderlich,« sagte er ernst, »solltet Ihr acht haben. Er zeigt ein schwärmerisch und überspannt Wesen, wie es mir an einem jungen Menschen nicht bloß gegen die Natur, sondern auch äußerst gefährlich erscheinet. Seht zu, daß er nicht der schlimmen Pietisterei verfällt.«

Der Vikar sah halb demütig, halb gereizt auf: »Glaubet Ihr, daß ein jung Gemüt je zuviel von jenem Durste verspüren kann, der nach dem ewigen Leben dürstet?«

»Es handelt sich nicht darum,« erwiderte der andere ruhig; »aber so ein junger Mensch in seltsamen und gehirnverrenkenden speculationibus sein Heil sucht und darüber die gesunde Welt und die klaren Zusammenhäng verliert und so er über das göttlich Wort hinaus nach dunkeln und vieldeutigen mystica suchet, leicht kann ihm der gesund Verstand, die klar Wissenschaft und der gut Glaube darüber verwirrt werden.«

Überrascht horchte Anna aus. Das waren Dinge, die auch sie nahe angingen, da ihr der Bruder Heinrich mit seiner Wundersucht und Pietisterei viel Kummer und schwerer Gedanken verursachte. Mit gespannter Aufmerksamkeit folgte sie Schlatters Worten, der klar und mit einer seltenen Kenntnis von Dingen, die ihr fremd waren, über das Wesen und die Gefahren der Pietisterei, die sich überall im Land wie eine kontagiöse Krankheit regte, sprach und auch für des Bruders Liebling, den Angelus Silesius milde, aber träfe Worte fand. Während er sprach, sah er ernsthaft vor sich hin mit gefurchten Brauen. Alles Weiche und Traurige war von ihm gewichen. Klar, männlich und reif wie seine Worte war auch sein Äußeres. Anna fühlte, daß sie in diesem Moment nicht mehr da war für ihn, und bei dem Gedanken gab es ihr einen plötzlichen feinen Schmerz. Im gleichen Moment zuckte auch das Tier unter ihr zusammen, als ob es eins wäre mit ihr, und jagte dann jählings in wilder und ungebundener Raserei über die weite Wiese hin. Anna, die im ersten Augenblick erschrocken war, fand sofort die sichere Hand wieder, und da sie das Tier in ihrer Gewalt wußte, war es ihr eine prickelnde Lust, so dahinzujagen durch die frische Lust und über das kurze Gras, daraus die Heupferdchen schwarmweis hervorstoben. Köstlich, wie jeder Nerv sich spannte und das Blut heiß und fröhlich ging. Ach, das war Leben! Sie hätte jauchzen mögen wie als Kind, wann sie mit Casparli Billeter über den Wiesenbach sprang, oder wie damals in Braunfels, wann sie mit dem gräflichen Herrn durch den Forst ritt und sie ihm aus schweizerisch singen gemußt; dann kam wohl ein lustiges Echo von der Burg zurück oder aus dem tiefern Wald, und war des Bruders Stimme. Ach, wie leicht es da zu leben war, wie frei.

Am andern Ende einer Wiese blieb das Pferd stehen. Als Anna sich wandte, war ihr Schlatter schon aus den Fersen. Er sah erregt aus: »Ihr solltet nicht dermaßen davonjagen,« sagte er mit heißem Atem, »es hätte ein Unglück passieren können.«

Anna sah, daß er sich geängstigt hatte, das freute und reizte sie zugleich. »Da ist keine Angst nicht zu haben,« sagte sie lachend. »Ich hab' eine sichere Hand und weiß, was ich tu'.«

»Ja,« sagte der andere nachdenklich, »eine sichere Hand und wißt, was Ihr tut, das stimmt.«

Ein kleiner Wald nahm sie auf. Die Wege wurden zusehends steiler und schmaler. Nun hieß es aufpassen und sie erweisen, die sichere Hand. Mit scharfen Augen maß Anna den schwierigen Pfad, man mußte sich sorgfältig aufwärts tasten, zwischen Stämmen durch, über starkes Wurzelwerk, aufwärts. Später holte sie der Vikar ein. »Ihr seid falsch geritten, mit Verlaub!« rief er ärgerlich. »Da kommen wir nicht weiter, wir können ja doch nicht auf den Gipfel!«

»Warum nicht?« fragte Schlatter hochmütig zurück.

»Ihr werdet es sehn, sobald wir aus dem Forst heraus, das sind doch keine Saumpferd!«

Und wirklich, als sie den Wald durchquert hatten, zeigte es sich, daß an ein Weiterreiten nicht zu denken war, da jenseits einer kleinen, ziemlich ebenen Terrasse der Pfad auf eins ganz steil wurde und völlig unkommlich für den Reiter.

»Wie schade, so nah am Ziel umkehren zu müssen!« sagte Anna betrübt.

»Das ist nicht gerade nötig,« entgegnete Schlatter; »die kleine Strecke könnte man ja auch zu Fuß zurücklegen, was meinet Ihr?«

»Das wär' schon schön, aber die Pferde?«

»Die lassen wir hier!« rief Schlatter erfreut, während er schnell von seinem Braunen sprang und das Tier an einem Baume festband. »Und der Herr Vikar, der tut uns am End den Gefallen und hält derweil Wache hier?« Mit einem etwas kläglichen Gesicht stimmte Weggler bei.

Auch Anna schickte sich an, abzusteigen. Aber da war schon Schlatter neben ihr. »Wartet,« befahl er, »ich helf' Euch!« Und ehe sie's hindern konnte, faßte er sie mit starken Händen und ließ sie langsam niedergleiten.

Einen Augenblick lang fühlte sie seinen Herzschlag, einen Augenblick lang sah sie sein Auge ganz nahe an dem ihren, daß sie meinte, den Hauch seiner Wimper zu verspüren, dann stand sie schon auf dem festen Boden. Langsam wandte sie sich ab und ging dem aufwärtsführenden Pfad zu, mit unsichern Füßen; denn sie zitterte am ganzen Leib, und ihr Herz stockte. Wie gejagt floh sie die steile Höhe hinan – nur jetzt ihn nicht sehen, nicht sprechen; aber als sie oben ankam mit heißem Blut und schwimmenden Augen, schämte sie sich ihrer Flucht – wann er es bemerkt hätte!

Rasch holte Schlatter sie ein: »Ihr seid geflogen wie ein Sommervogel!« Er sah sie still an, und in seinen Augen glänzte etwas wie bei einem Menschen, dem ein Wundersames widerfuhr. Dann führte er sie aus einen kleinen Vorsprung, von wo aus der Blick ungehindert in die Runde ging.

Anna dachte, daß es wohl schön sein müsse, das Land dort unten, das ihr wie etwas Fremdes und Unwirkliches in die Augen gleißte; aber sie sah nichts, sie fühlte nur, daß er neben ihr stand, ganz nahe, und daß sie seine Nähe hätte fliehen sollen, und da er nun mit ausgestreckter Hand ihr die Gegend erklärte und dabei sein Arm ihre Schulter berührte, fuhr sie leise zusammen.

Schlatter hielt ein in seiner Erklärung. Er griff nach ihrer Hand und sah ihr forschend in die Augen: »Warum,« fragte er leise, und seine Stimme schwankte, »warum habt Ihr gezittert vorhin, als ich Euch vom Pferde hob?«

Anna erschrak. Sie biß sich in die Lippe, dann aber hob sie stolz den Kopf: »Glaubt Ihr, es sei angenehm, also zwischen Himmel und Erden zu schweben und ohne den festen Boden unter den Füßen?« Ihre Stimme klang fast gleichgültig.

»Ach so!« Er ließ enttäuscht ihre Hand fallen. »Angst also, bloße kindische Angst! Und ich Narr,« fügte er bitter bei, »hatte an ein Wunder geglaubt, an eine Offenbarung von Seele zu Seele, da in Eurer zitternden Nähe und unterm Schlag Eures Herzens alles Große und Heilige in mir zu klingen begann, daß mein armer Leib von Seligkeit und himmlischem Wohlklang also erbebte wie der Dom unter Orgelrauschen. Ihr aber hattet keinen Anteil daran, Ihr bangtet bloß, daß Ihr den Boden gewännet?« Er lachte bitter aus; aber dann griff er wieder nach ihrer Hand: »Ist es möglich, die Augen lagen ineinander und die Herzen fühlten sich und Ihr spürtet nichts? Oh, so seht Ihr nicht aus, so fühllos nicht!« Und er flehte: »Sagt mir die Wahrheit, in Gottes Namen sagt mir die Wahrheit.«

Anna wollte etwas entgegnen, sie suchte nach einem kalten tapfern Wort; aber die dumpfen Schläfen und der jagende Herzschlag fraßen ihr jeden klaren Gedanken und jede sichere Kraft, und da war etwas in seinen Augen und im Klang der Stimme, was der Verstellung trotzte. Ihre Hand zitterte in der seinen und leise neigte sie den Kopf.

»Anna!«

Und da fühlte sie seine Arme und fühlte seine Lippen auf den geschlossenen Lidern, und dann zart und schier ehrfürchtig auf dem eigenen bebenden Mund und fühlte, wie es über sie hinströmte, fremd, voller Bangnis und doch so süß ...

Leise zog er sie aus einen kleinen Felsensitz und kniete vor sie hin: »Anna, ist es wahr, kannst mich liebhaben, ein ganz klein wenig liebhaben?«

Die Frage verhauchte. Es ward still, nur das Waldweben umschlang sie mit weichen summenden Wellen und entrückte sie und löste allen Zusammenhang, daß sie einsam waren und auseinander gewiesen, wie am Anfang der Welt.

Da beugte sie sich lächelnd zu ihm nieder: »Lieber!« und strich ihm das wirre Haar aus der Stirn.

»Du!« Er barg seinen Kopf in ihrem Schoß und seine Gestalt zuckte. Als er das Gesicht wieder zu ihr erhob, waren seine Augen feucht.

»Du, und willst mich hineinnehmen in deine reine Welt und willst mir die Güte geben, die ich nie gekannt, und die Stille und die Ruh?«

Er drückte sein Gesicht in ihre Haare: »Wie es duftet!« flüsterte er. »Dein Haar duftet wie ein Maienforst, wann der Waldmeister blüht, und wie weich es ist!« Und er küßte die seidenen Locken.

Dann zog er ihr die Handschuhe von den Händen und küßte die weißen Finger und preßte sie gegen seine heiße Stirn.

Und Anna ließ es geschehen und fühlte, wie sich langsam etwas in ihr löste – war es eine Kraft, war es eine Qual? – und wie alles weich in ihr wurde und sanft und warm, wie die dürstende Scholle unter dem Maienregen.

»Du, du!«

*

Und wieder stand sie an ihrem Fenster, als die Nacht niederstieg. Heute war es dunkel draußen; denn tausend kleine Wolken waren plötzlich über den Himmel gekommen und zogen nun mit rötlichen Mondrändern leise dahin. Ein kleiner Wind wisperte im Garten, wühlte die herbstlichen Düfte auf und trug sie zu ihr empor. Mit tiefen Zügen sog Anna die müde Luft ein. Dann beugte sie sich vor und betrachtete ein helles Lichtviereck, das aus einem halb abgewandten Fenster auf die Ringmauer fiel. Ein hoher schlanker Schatten stand in dem unsichern Schein.

Anna lächelte: »Du, du!« Und sie dachte, wann es Giulio wäre, seine Laute würde er nun holen und singen, so süß und selig, daß einem das Herz zerflöße, und wann es Lux wäre – in seiner Kammer auf und ab stürmen würde er, rastlos, und die Mauer hinabklettern und zu ihrem Fenster hinaufstarren, und Verse würde er ersinnen, heiße, jubelnde Verse. Der dort aber, wie still er stand in dem stillen Schein, doch seine Gedanken gingen zu ihr, daß sie sie spüren konnte, innig und zart wie Küsse auf der zitternden Hand, und waren tausendmal süßer denn Giulios Lieder und tausendmal inniger denn Lukas' Verse.

»Du, du.«

Ihre Stirn berührte den Fenstersims, er war kalt und feucht. Sie schauerte leise zusammen: Hatte sie nicht einmal da gestanden, die Schläfen an den kalten Stein gepreßt, und hatte Vorsätze gefaßt, große, tapfere und kalt und hart wie der Stein da? Wohl, wohl; aber wie fern das lag, kaum daß man es noch erspähen konnte mit seinen Augen. Das war ja noch in jenem andern Leben gewesen, damals, als sie noch draußen stand, frierend und einsam mit dem harten Willen in der Brust und dem toten Herzen. Jetzt aber hatte er sich aufgetan, der geheimnisvolle Garten, und sie stand mitten drin, und die Geheimnisse öffneten sich, süß und kostbar wie dunkle Rosen und wie die verschwiegenen Lilien der Nacht.

Draußen wurde es dunkler und dunkler; heftiger wehte der Wind und voller frostiger Schauer. An der Mauer verschwand das freundliche Licht. Anna schloß das Fenster und legte sich zu Bett. Es war kalt geworden auf einmal, die ganze Feuchte der Nacht saß in der Kammer und durchdrang das glatte Leinwat ihres Bettes. Anna fröstelte, und da tat sie, was sie früher so oft getan, um sich vor der Kälte zu schützen, die zuzeiten die Wände ihres Berner Stübchens verzuckerte: sie löste ihre Haare und legte sie wie einen Mantel um Brust und Arme.

Das war das Haar, das er geküßt, heute! Und war das nicht der liebe Waldsonnenschein, der sich mit warmen Wogen über sie legte?

Selig, selig.

Sie schloß die Augen und hielt der süßen Wärme still, die sie umfing wie mit liebenden Armen und wie mit liebenden Worten zum Herzen drang.

Der Nachtwind hatte den Regen heraufgebracht. Ein paar Tage lang hing das hohe Städtchen wie ein Adlerhorst in den Wolken, und graue, undurchdringliche Fetzen hängten sich allenthalben vor die Fenster der Burg und drängten das Leben drinnen zusammen, daß es heimlich wurde, die Zimmer von winterlicher Traulichkeit erfüllt und traulich und lang die dunkeln Abende. Als aber eines Tages ein rascher Wind vom Süden kam und die Fetzen zerriß, leuchtete die goldenrote Ebene reingefegt von den Septemberdünsten mit heißen Farben nahe heraus, und dunkelblau ergoß sich der Oktoberhimmel.

An einem sommerlich warmen Morgen verließen Anna und Schlatter Regensberg. Herzlich wie von lieben Freunden schieden sie von der landvögtlichen Familie. Frau Margaretha küßte Anna wie eine Schwester: »Viel Glück, Liebe, viel Glück!« und in ihren schönen Augen war eine kleine Feuchtigkeit. Als aber die beiden den Wagen bestiegen, warnte der Landvogt: »Seid mir schön fürsichtig bis morgen, wann ich nachkomm', damit der gestrenge Herr Waser sich keine vorzeitigen Gedanken macht. Und vor allem, Herr Hofmeister, vergesset nicht auszusteigen vor den Porten, zu Vermeidung unnützen Aufsehens!«

Sie versprachen alles, und Schlatter lachte: »Wann Ihr den Freiwerber machen wollt, wie könnt' mir bange sein!«

Aber der Landvogt zwang sein rundes Gesicht zu einiger Bedenklichkeit: »Immerhin, immerhin, glaubet wohl gar, es sei ein Leichtes, einem Vater sein Liebstes abzulätscheln und seinen Stolz, für einen jungen Springinsfeld, der noch keinen festen Boden unter den Füßen hat?« Als er jedoch Schlatters plötzlich verdüstertes Gesicht sah, lachte er beschwichtigend: »Wird schon gehn, wird schon gehn, nur übermütig werden sollt Ihr mir nicht, vorher!«

»Nun ist es vorbei,« sagte Anna wehmütig, als sie unter dem Kronentor durch die unebene Gasse hinunterpolterten. »Es war so schön!«

Aber Schlatter preßte ihre Hand: »Schön war es, ja, aber schön wird es sein auch fürderhin und immer schöner. Hast mir ja den Himmel aufgetan, du, und eben stehn wir erst unter der Pforten.« Und als sie vom Städtchen niederwärts durch die einsamen Felder fuhren, zog er sie mit zärtlichen Händen an sich. Sie schwiegen und sahen sich in die Augen, ganz nahe, daß jedes sein Bild in der Pupille des andern gewahrte.

»Wann ich das gewußt hätt',« sagte er leise, »daß sich mein schlimm Gesicht einstmalen in diesen Augen spiegeln dürft', wohl wär' vieles anders gewesen in meinem Leben, schöner und reiner.«

»Still, still davon, nun ist es vorbei.« Ein schmerzliches Lächeln ging um Annas Mund; dann zog sie sein Gesicht an ihre Schulter und streichelte es, wie man mit Kindern tut.

Schlatter aber fuhr fort: »Deine Augen, das ist wohl das Schönste auf der Welt. Klar, klar, wie ein tiefer köstlicher Bronnen, daraus die arm Seel alle Reinheit schöpft und alle Kraft, daß sie blank herfürgehet und gut wie am ersten Tag. Und alles, was wild und weh war, ist abgetan, wann man in diesen Quell getaucht.« Und mit andächtigen Fingern strich er über Annas Hand.

Sie aber löste sich sanft aus seinen Armen. »Das liebe Regensberg,« sagte sie ablenkend und beugte den Kopf, rückwärtsblickend zum Wagenfenster hinaus. Stolz und hell glänzte die kleine Stadt von der Höhe nieder, und vor dem Burgfried wie ein seines Feuer leuchtete der gelbe Gipfel einer Birke. »Wie das mich an Braunfels erinnert,« sagte Anna lächelnd; »grad so steht auch dort das Schloß über der Weite, nur all's gewaltiger, die Burg und das Land.«

»Ja,« fügte Schlatter bei, »und das Schloß mit vielen mächtigen Türmen statt des einen stumpfen Klotzes.«

»Kennst du Braunfels?« fragte Anna erstaunt und setzte sich in den Wagen zurück.

»Ja,« entgegnete der andere kurz; sein Gesicht wurde hager, und eine seltsame Verschlossenheit malte sich darin. »Ich war mit Hans Schmid dort.«

»Du?« Voller Verwunderung betrachtete sie ihn. »Und hast mir niemalen davon erzählt? Und weißt am End gar um jenen Auftrag, den der Junker mir verheißen und nun seiner plötzlichen Reis' wegen nicht hat bringen können?«

»Wohl,« entgegnete Schlatter düster, »aber in zweien Tagen kommt er zurück, dann mag er dir selber berichten.«

»Lieber möcht' ich's von dir hören.« Eine plötzliche Unruhe und ein Befremden hatte Anna erfaßt beim Gedanken, daß er ihr etwas verschweigen konnte, und sie drang in ihn mit beweglichen Worten, bis er schließlich erzählte: In Braunfels hätten sie bei den gräflichen Herrschaften auch die Marquise getroffen, die, seit geraumer Zeit aus Italien zurück, sich eben anschickte, in die Heimat zu reisen, dieweil ihr solches auf Fürsprache einer hochmögenden Verwandtin und gegen Zusage eines völlig zurückgezogenen, unauffälligen und schier verborgenen Lebens vom großen König zugestanden worden. Da sie nun aber solche Zurückgezogenheit von der Gesellschaft nicht hindern werde, ihren Neigungen zu leben und sie vielmehr beabsichtige, all ihre Zeit denen schönen Künsten und solchen Menschen, die darin exzellieren, zu widmen, habe sie den Wollishofer beschworen, nicht eher abzulassen, als bis er Anna bestimmt hätte, zu ihr nach Paris zu kommen, allwo in höherm Grad denn in Italien die Malerei einen unerhörten Aufschwung zu nehmen im Begriff stehe.

Stockend und mit vielfacher Unterbrechung kam dieser Bericht heraus, und Anna lauschte mit stockendem Atem. Einen Moment war ihr schier schwindlig. Sie mußte denken: Diese Nachricht, wann der Junker damals gesprochen hätte, der Himmel, hätt' sie gemeint, war' zu ihr herabgestiegen, und jetzt: »Was meinst du dazu?« sagte sie zögernd.

»Ich?« Der andere warf den Kopf zurück, seine Augen wurden schwarz, und die Hände ballten sich: »Ich, wann ich mir dich dort denken müßt', in der üppigen Stadt und mit all dem Künstlervolk, und ich denken müßt, wie du aufgehst in deiner Malerei und daß sie all deine Gedanken fressen würd' und dein Herz und all's – verrückt werden müßt' ich, oder – eine Kugel durch den Kopf!«

Anna sah ihn groß an: War das nicht schön, die sprühenden Augen und die heißen Wangen, um sie, alles um sie. »Ich bleibe,« sagte sie lächelnd, »und warte auf dich!« Und während er sie in seine Arme schloß, voll Dankbarkeit und voller Jubel, kam ihr zu Sinn, daß sie schon einmal dieses Wort gesprochen: »Ich bleibe!« und daß es ihr damals schier das Herz zerrissen hatte, heute aber ging es ganz leicht. War es nicht schön, dem Liebsten ein Opfer zu bringen und ihm die heißen Wünsche langer Jahre zu Füßen zu legen wie Blumen, die sterbend die süßesten Düste geben? Und so war nun alles anders geworden. Leicht das Schwere, das Gewöhnliche besonders, das Kleine groß, und was flächenhaft gewesen und dünn, das hatte nun die Tiefe bekommen.

Eng verbunden saßen sie nebeneinander und blickten in den leuchtenden Tag hinaus. Die erste schwere Probe hatte ihre Liebe bestanden. Nun war sie nimmer so jung, und die Porte hatten sie wohl durchschritten. Schlatters Augen schimmerten. Er war wie befreit von einer Angst, und mehr als einmal erklang sein frohes Jungenlachen, während er voller Zuversicht an der Zukunft baute: Übers Jahr, wer weiß, da fuhren sie vielleicht wieder so zusammen durchs Land, aber nicht dem Abschied entgegen. Oh, der erste Winter, da man sich ganz gehörte, der Winter mit den stillen Stuben und den langen Abenden, wann im Kamin das Feuer sang und das Lämpchen der Nacht entgegenstarb und man lachte: »Stirb nur, wir brauchen dich nicht, wir fürchten keine Dunkelheit nicht; denn für uns ist nun der ewige Tag angebrochen, und uns geht die Sonne niemalen unter!«

Anna lauschte den leisen Worten, die wie eine ungewohnte Musik ihr betörend ans Herz gingen. Als sie aber wieder einmal zum Fenster hinausblickte, Regensberg zu, da waren Städtchen und Burg lange versunken in der waldreichen Weite.

»Wie schade,« seufzte sie enttäuscht, »nun ist es verschwunden, und ich hab's nimmer gesehen!« Und es kam wie eine Traurigkeit über sie: eine Tür war zugefallen, etwas Herrliches war vorüber und würde solchergestalt nimmer wiederkehren.

VII Die fernen Ufer

Ein naßkalter Oktobertag ging zu Ende. Anna legte den Pinsel beiseite und betrachtete erstaunt und ein wenig betrübt ihr Werk. Das war nichts Rares, was sie an diesem langen Nachmittag zusammengepinselt hatte. Aber freilich, es war auch kein leichtes Ding für Hand und Auge, einem Willen zu gehorsamen, der, von lockenden Bildern und Träumen umgaukelt, immer wieder ausglitschte. Die lieben Träume! Anna legte den Kopf zurück und lächelte; dann aber packte sie resolut ihr Malzeug zusammen. Schließlich, hatte sie nicht lang genug dagesessen über der peinlichen Arbeit, jahrelang, und war der Tag, der einem des Liebsten ersten Brief gebracht – ach, einen Brief so voll Liebe und Innigkeit und zartem Feuer – war der nicht feiernswert?

Sie trat ans Fenster und sah in den nassen, von unablässigen Regenschauern durchrieselten Herbstabend hinaus. Ihr Blick fiel auf den Blarerturm, der regenschwer und dunkel mit weinenden Dachrinnen dastand, und da mußte sie an einen andern Abend denken, wo sie gleichermaßen hier am Fenster gestanden und zu dem mürrischen Klotz hinübergeschaut hatte, dannzumal, als sie von Braunfels zurückgekehrt war und ihr die verwaschene Welt und alles so trostlos vorgekommen, so grenzenlos trostlos. Und heute? Hing vielleicht der gelbgraue Himmel weniger tief als damals und waren die Pfützen aus dem unebenen Pflaster der Münstergasse minder schmutzig oder hatte vielleicht der alte verweinte Turm ein freundlicheres Gesicht bekommen? Gewiß nicht, und doch, wie anders das heute aussah! Die kleinen gelben Bächlein, die lustig die Napfgasse herunterstürzten, so eilig hatten sie es, als ob ein jegliches erzählen wollte, wie schnell die Zeit vergeht und daß ein Jahr vorüber, man weiß nicht wie! Aber die tiefhängenden Wolken, die sich fast mühsam über die Giebel schleppten, erzählten sie nicht von jenen andern, die einst die Regensberger Burg einspannen, daß es ganz heimlich wurde drinnen und voller lieblicher Traulichkeiten? Ja, in jenen verschwiegenen Tagen hatte sie den Regen lieben gelernt. Wann man einmal durch den tropfenden Garten huschte, unten an der Ringmauer vorbei, wo es so einsam war unter den efeuverhangenen Erkern, daß kein Mensch einen sah oder hörte, und wann man dann zurückkam mit kalten feuchten Händen, daß man sie sich wärmen mußte – im Jägerstübchen brannte ein kleines Feuer im Kamin, dort roch es seltsam nach Horn und Harz und regendampfenden Kleidern, und gerade war man allein ... Anna lächelte, ja gewiß, er war etwas Schönes, der Regen. Mit weichen Pinseln ging er über die Welt und löschte die Gegensätze und machte alles mild und zart. Das hatte sie nur nicht gewußt, früher, aber jetzo gingen ihr die Augen auf, immer mehr.

Leise schloß sie das Fenster und wandte sich in ihre Stube zurück. Und abermals mußte sie lächeln. War nicht auch hier alles anders geworden? Mit liebkosenden Blicken durchging sie den altvertrauten Raum. Dort hing ihr Kinderbildnis, das sie noch in des Meisters Sulzer Werkstatt gemalt; mit wieviel Innigkeit hatte er es betrachtet, da sie zum ersten Mal selbander dieses Sälein betraten: »So hast du ausgesehn, Liebe?« und dann hatte er ein wenig gelacht: »So streng war die Puppe, daraus mein holder Sommervogel geflogen?« Und hatte sie geneckt, daß sie auf dem jungen Bilde ihr Haar also unter einer schwarzen Kappe versteckt und ihre Brust mit starrem silberverschnürtem Mieder wie mit einem Panzer also streng umschlossen hatte ... Und die Tür dort, konnte sie jemals den erwartungsvollen Bogen betrachten, ohne ihn darunter zu sehn, wie er plötzlich eintrat und seine Augen leuchteten. Ja, und des Onkels Fähndrich Truhe, wie oft waren sie da gesessen mit zärtlichen Worten und zärtlichen Händen, aber in größerer Glückseligkeit nie als damals, nachdem das Sonderbare geschehn, dessen Erinnerung ihr heute noch rätselhaft anlag und mit einem kleinen Schmerz in der Brust trotz der Süßigkeit. Denn heute noch begriff sie nicht, weshalb er solches von ihr verlangte, daß sie die Plän opferte, die lang gehegten, dieweil er es nicht leiden mochte, daß sie den Tod malte, und es nicht leiden mochte, daß sie diesen Blättern eine Liebe gab und einen Eifer, den er für sich allein wollte, ganz allein. Es war so sonderbar und wehtuend. Aber als sie es ihm zugegeben und, den harten Worten und heißen Blicken weichend, die geliebten Blätter weggeschlossen hatte, für immer – wie lieb er da war, wie so ganz voller inniger Zartheit – keine größere Glückseligkeit!

Vielleicht lag alles Glück und Wunder der Liebe darin, daß man geben konnte, rückhaltslos geben; denn da war einer, der alles wollte, und das Größte am liebsten.

So königlich hätte sie geben mögen in der Kunst, aber es war ihr mit nichten vergönnt gewesen. Das Kleine wollte man von ihr, das Gefällige; aber das Große, darein sie ihre ganze Kraft hätt' legen können, wer fragte darnach? Und so war alles verstückelt geblieben, halb und ohne Richtlinien. Jetzt aber konnte es anders werden, und die Ganzheit, darnach sie sich gesehnt hatte all ihr Leben, und das Vollendete, Runde, wohl konnte es noch kommen; nur tapfer mußte man sein, nur hier keine Halbheit, nur in der Liebe kein Markten.

So hatte sie ihre Plän geopfert und die Träume langer Jahre, und so würde sie – wenn es sein mußte – auch mehr noch geben. Ihre Malerei, war das so was Fürtrefflichs? Da hingen die Bildchen rings an den Wänden, größere und kleinere, fertige und unfertige, war da vielleicht ein einziges, das sie so ganz befriedigte? Er aber, da er von ihr ging: »Als ein armer Versprengter bin ich hergekommen, wirr und verstört, als ein Klarer geh' ich zurück und hat mein Leben die Richtung bekommen, so zur Güte führt und zum Glück.« Gab es etwas Herrlicheres als sein dankbares und inniges Gesicht? Und der heutige Brief, hatte ihr ganzes eifervolles Leben etwas gezeitigt, das sich diesem vergleichen konnte an Völligkeit und restlosem Begnügen?

Jetzt erst begriff sie das alte Wort, daß der Weg zum eignen Glück durch des andern Freude führe; aber der Weiser an diesem Weg war die Liebe.

Und die Liebe öffnete die Augen und machte, daß man alles neu sah und wahr. Da wurde der regenschwere Herbsttag schön und sanft und die dunkle Stube froh, und selbst aus jenen Ecken, wo die Nacht schon saß, sah es sie an wie mit zärtlichen Augen.

Aber die Liebe machte auch feinhörig, daß man die sämtlichen Töne vernahm bei sich und den andern. Hatte nicht ihr eigenes Leben früher dem kleinen Betzeitglöcklein geglichen, das dünn und einfältig daherklingt? Nun aber waren die großen Glocken dazugekommen, daß es schwer tönte und voll, mit vielen unterschiedenen Stimmen, wie Sonntagsgeläut des großen Münsters. Aber auch bei den andern lernte man neue unerhörte Tön vernehmen, wenn man nur lauschen wollte, und sie wollte lauschen!

Oft kam es ihr vor, als ob sie mit ihrem Glück wie eine unverdient Bekränzte zwischen den kranzlosen Schwestern ging. Das Glück wollte sie sich abverdienen an den beiden Einsamen, ehe sie ging. Geordnet und hell sollte es werden in dem ernsten Hause und jegliches begnügt und sicher an seinem Platze, daß sie keine Lücke ließ, wann sie ging.

Als ein helles Banner setzte sie diesen Vorsatz vor ihr Leben und folgte ihm mit einem freudigen Glauben durch die kurzen Wintermonate, die sich freundlich und erfolgreich reihten; denn die Liebe war wie ein Zauberstab, und was man anrührte, gelang.

Wie oft hatte sie früher gesucht, den Ihren zu helfen, beides, mit Willen und wider Willen, es war ihr kaum geglückt. Aber nun war die Kraft da. Es war nicht allein ihre Liebe und die häufigen, ach, so herrlichen Briefe, die den Winter hell machten und reich, und nicht allein in ihrer Kammer war es wie milder Sonnenschein, sondern allenthalben, im ganzen Hause ein frisches und neues Leben. Zuerst hatte ihre Sorge für Elisabeth einen neuen lebenskräftigen Weg gefunden. Ganz vorsichtig und allmählich hatte sie der Zögernden einen Plan in den Kopf gesetzt zu einer Tätigkeit, für die sie paßte wie keine andere. Liebte sie die Kinder nicht über alles und hingen ihr diese nicht an wie einem Mütterlein? Und welch feine Hand sie führte und wie schön sie sang! Wie, wann sie sich ganz mit ihrem Können und ihrer Liebe in den Dienst der Kleinen stellte? Und als der Plan zu Elisabeths Kinderklasse schon reif war und allenthalben Gestalt annahm, da hatte Anna schon wieder einen neuen Vorschlag: in einer solchen Schule, ein rechtes Buch sollte man haben und Schreibvorlagen, darnach die Hand aufs beste zu üben. Aber dieser Plan galt nicht allein Elisabeth, sie selber wollte mithelfen an dem Werklein, und es gelang ihr, auch die stille Maria dafür zu gewinnen; daß aber selbst der Amtmann nicht übel Lust zeigte, mitzuwirken, dieweil er sich seiner genugsam bewunderten Schreibkunst nicht zu schämen brauche, das war doch auch für Anna eine Überraschung.

So hub denn ein lustiger und eifriger Wettbewerb an, und die langen Winterabende fanden Anna nicht länger allein in ihrer einsamen Malstube; da saß man drunten um den großen Tisch und schrieb und komponierte. Jegliche Woche ward ein kleines Schiedsgericht aufgestellt, sowohl über die Ausführung als den Text, den man zumeist selbst verfaßte in denen gebräuchlichen Hauptsprachen, und die vorzüglich befundenen Blätter wurden säuberlich beiseite gelegt. Anna aber setzte die schönen Kalligraphien in Kupfer, Marias ein wenig schwere nachdrucksame Schrift, des Vaters scharfe, durchsichtig ausgewogenen Zeilen und die eigenen klaren, schönzügigen Lettern; aber Elisabeths Blätter lagen zwischen den andern ziervoll, wie mit hundert Blumen bestreut.

Und es war, als ob auch Frau Esther diese traulichen Abende wohltäten, an denen ihr gestrenger Eheherr zutunlicher und freundlicher erschien denn je. Ihre ängstliche Bekümmernis löste sich und schwand vor etwas, das schier einer Freudigkeit glich. Noch nie war man so beisammen gewesen, und Anna fühlte mit Staunen, wie eine Schranke, so die Malerin und die Mutter immer getrennt, fiel, seitdem sie Braut geworden. Zuerst freilich war es nur ein Klagen gewesen: »Mußte es grad der sein, wiederum einer ohne die feste Stell und gar so weit weg?« Aber dann hatte sie sich doch darein gefügt, und nun war es wie ein stilles Einverständnis zwischen Mutter und Tochter. Man redete kaum davon; aber wann Anna bisweilen aus einem innigen Blick oder auch wohl aus einem verständnisvollen Wort spürte, wie ihre liebsten Gefühle bei der Mutter Nachklang fanden, war es jedesmal wie ein stilles Wunder und ein stilles heiliges Fest.

Auch zu dem scheuen Heinrich suchte sie einen Weg; aber es war nicht leicht, dem unergründlichen Knaben beizukommen, der sein schwärmerisches Innenleben hinter einem kühlen und abweisenden Äußern verbarg und sich nach Art jener zarten Pflänzlein, die mit fadendünnem Stengelchen und seinen roten Fränschen auf der Sumpfwiese von Rüti wuchsen, bei jeder kleinsten Berührung zuckend und herb zusammenschloß. Aber Anna ahnte, wie dieser unreife Geist von Zweifeln, Sehnsüchten und allerlei sonderlichen Phantastereien durchwühlt war und siech, und sie spürte, daß da kein Forschen am Platz war und kein Mahnen, nur warten mußte man, bis die Stunde kam, da er ihre stumme Sorge begriff und sich ihr offenbarte. Und sie wußte, daß es kommen würde; denn seit sie sehend geworden, war mit jedem Werke das Gelingen.

Nur in der Malstube droben starb nach und nach die emsige Arbeit. Waren des Liebsten Briefe schuld daran, aus denen immer neu die eifersüchtige Sorge sprach, daß Anna durch die Ausübung ihres Berufes ermüdet und von ihm und ihrer Liebe abgezogen werde, oder kam es davon, daß die Aufträge mehr und mehr zurückblieben, dieweil man allbereits mit ihrem Fortgehen rechnete und ihr, die durch die Verlobung aus dem Besondern heraus ins gewöhnlich Alltägliche getreten, einen verminderten Anteil entgegenbrachte? Oder lag der Grund vielleicht tiefer? Wären nicht des Vaters ernstfragende, schier vorwurfsvolle Augen gewesen, sie hätte es kaum gewußt, daß ihr Pinsel so oft ruhte, und sie fühlte keinen Schmerz darüber – kaum eine kleine Wehmut – wann ihre Malstube oft ganze Tage verlassen war, gab ihr doch ihr neues Leben an allen Enden zu schaffen. Es kam der Frühling und brachte die Früchte des Winters. Elisabeth eröffnete ihre kleine Schule, und da sich schon in den ersten Apriltagen die große Stube gegen die Ankengasse hin, die man ihr eingeräumt, mit allerlei kleinen Leuten füllte, ging bald ein lustiges und lautes Leben durch das stille Haus, das manchen altverhockten Schatten und manche eingefrorene Betrübnis zu verscheuchen und schmelzen vermochte.

Und dann kamen die Schreibvorlagen heraus in einem hübschen Gewändlein. Anna hatte selbst das Umschlagpapier gewählt; es zeigte auf sattrotem Grund viel güldene Amoren mit Füllhörnern und früchteschweren Kränzen und erschien ihr recht als ein Symbolum dieser warmen und reichen Zeit. Das schmucke Büchlein aber fand allenthalben so der guten Invention als vorzüglichen Ausführung wegen Bewunderung. Man hatte Ähnliches noch nicht gesehn, und manch freundliches Wort und erfreuliches Lob erreichte die kunstreichen Schwestern, denen sich nun auf eins auch die abseitige Maria zugezählt sah, und unter dem neuen Schein, der dadurch auf ihren mit soviel schmerzhaften Vorstellungen verbundenen Namen fiel, gestaltete sich auch ihr unversehens manches leichter und neu. Und dann wurden ihre Pflichten größer und fester umgrenzt, da Elisabeth ihren Beruf gefunden, und das tat gut, der feste Wirkungskreis, gleich einer festen, hilfreichen Hand, die zur Ruhe zwingt.

Zum ersten Mal wollte der Frühling im Haus zum grauen Mann Widerhall finden. Aber Anna ließ es sich dabei nicht genügen und suchte ihn auch draußen auf, wo er sich mit Vogelsang und jungem Grün darstellte.

Auf dem Lindenhof waren nun die Tage schon weich. Eine grüngoldene Luft lag unter den breiten Ästen der mächtigen Bäume, wenn die Sonne durch die zarten Blättlein fiel, und seine Schatten zeichneten sich auf dem weiten Plan; sie waren durchsichtig und grün wie die Luft, und wann man darüber hinschritt, vermeinte man durch grüne Kronen zu schweben wie die Vögel, die mit den hellen Stimmen soviel Jubel und Sehnen in die blaue Luft verschickten. In den Gärtchen unterhalb der Mauer, die den Lindenhof wie ein Burgfelsen über die Stadt erhob, blühten die ersten gelben Büsche mit zarten, rasch welkenden Sternen, und ganz zu unterst eilte die Limmat vorbei und zerriß mit grünen Wellen die bunten Spiegelbilder der Häuser am Stad.

Das alles hatte Anna auch früher gesehn; aber die zarten Schatten und vergänglichen Lichter, die schnellwelkenden Blümlein und enteilenden Wellen hatten ihr jeweilen Bedrängnis gebracht und Trauer, wie alles an dieser seltsamen rastlosen Jahreszeit, die man nirgends fassen konnte und niemals begriff, die mit tausend holden Verheißungen an uns vorbeirauscht, die ist wie ein hastiger, überstürzter Trunk, der die Kehle durstig macht und den Kopf heiß.

Jetzt aber tat sie ihr wohl, diese enteilende Zeit mit dem jubelnden Drängen nach der Erfüllung.

Die zarten Lindenblättchen – wie bald waren sie dunkel und dicht, und wann erst von den feinen Spitzen ein gelbes Schimmerchen nach den Rispen zufloß – ja dann! Und die gelben Sternlein dort unten, bald fielen sie ab, und kleine grüne Kugelchen erschienen an ihrer Statt; aber wann diese erst groß waren und glänzend und von einem schweren durchscheinigen Not – ja dann – dann ging auch ihr Weg dorthin, wo die rastlosen grünen Wellen strebten, unablässig und sicher.

Aber manches sah sie auch, was sie früher nicht beachtet hatte. Oft schaute sie nun den jungen Müttern zu, die mit ihren Kleinsten auf dem Arm da herauskamen. Mit leise wiegenden Schritten gingen sie der breiten Mauer entlang, hin und her, immer der Sonne nach. Und alle neigten sie die lächelnden Gesichter tief auf die runden flaumigen Köpflein nieder, als ob die ganze Welt draußen nicht da wär', und alle waren sie schön und hatten einen seltenen Glanz in den Augen.

Das hatte sie früher nie gesehen, dieses Versunkensein und stille Begnügen.

Mit zärtlichen Augen sah sie ihnen nach, folgte jeglicher Bewegung und erhaschte jeden leisen Laut jenes ewigen Liedes, das zwitschernd und zart hin- und herwebt zwischen Mutter und Kind. Sie dachte an Enneli, des Bruders junge Frau. Seit einiger Zeit ging sie mit frohen, andächtigen Augen einher und war etwas Reises und Stilles in ihr Wesen gekommen – im Spätsommer würde auch sie so ein Kleines in den Armen halten. Ja, und wann der Sommer sich zum andern Mal neigte ... Ein Schauer lief ihr über die Haut, und ihr Herz erbebte. Allmächtiger, das Wunder, das Wunder! Solches vermochte die große Liebe: aus zweien eines schaffen, das beide vereinigte und keinem gleich war, urvertraut und doch so neu, daß nichts aus der Welt ihm ähnlich, eine Vollendung, heißem Wollen und Wünschen ein neues und besseres Ziel. Das Wunder!

Aber dann fiel ihr ein Wort der Marquise ein, und sie sah das edle Gesicht wieder, wie sich ein scharfer und kalter Zug zwischen die klugen Augen legte, derweil sie sprach: »Leibeskinder, eine Lotterie, denn keiner weiß, welch trübe und unerfreuliche Fäden von Urväterzeiten her heimtückisch in dies neu Gewebe schießen. Ein zufällig, vergänglich Ding, wie alles Fleischliche: aus schwacher Stunde entstanden und der schwachen Stunde verfallen von allem Anfang an. Aber die Geisteskinder, aus Kraft und Willen geboren und zu Kraft und Dauer bestimmt, die sind nicht zufällig und vergänglich nicht, die sind's wohl wert, daß man alles hingibt für sie.« Und dann hatte sie sich ans Clavecin gesetzt und eine Melodie gespielt, süß und heiß erst, aber schließlich mit einem stillen, wehen, entsagenden End. Und als Anna wehmütig und mit stillen schmerzlichen Tränen gelauscht, hatte sie gelächelt: »Siehst du: Rühren, erschüttern und wehmütig Verzichten lehren, das wollte, der dies Lied erdacht, und rühren, erschüttern und zur stillen Entsagung führen wird er, solange es Töne gibt und Hände, solche zu rühren, und Herzen, solche zu verstehen. Und so auch du: Jeden tiefen Gedanken und jegliches Gefühl, das du mit kunstreicher Hand im Bild festhältst, werden alle nach dir, denen dein Werk zu Augen kommt, so denken und so fühlen müssen, wie du es gewollt.« Wie hatte Anna damals die Worte ausgenommen, mit glücklichen und gläubigen Sinnen, und hatte ihr Ziel höher gesteckt über dem freien Weg.

Aber heute wußte sie, daß es anders war. Ihre Geisteskinder, verkümmert, von tausend Zufälligkeiten bestimmt, von tausend Schranken beengt, so waren sie entstanden, und der Gedanke schreckte sie, daß diese halbgeglückten Geschöpfe, denen die beste Kraft ihres Herzens fehlte, Dauer haben würden und Bestand, wann sie längst nicht mehr war und mit ihr jene andern, vollkommeneren Seelenkinder gestorben waren, die sie zur Welt zu bringen weder Kraft noch Macht gehabt, noch Gelegenheit.

Gelegenheit? Es durchzuckte sie wie ein schlechtes Gewissen: Hatte sie sich ihr nicht geboten und wie kostbar! Wohl, wohl; aber so spät, da hatte sie sich schon müdgekämpft an den vielen Schranken und müdgedacht an den ungeborenen Werken, und inzwischen hatte das Schicksal entschieden, und Gott hatte es anders mit ihr gemeint.

Eine der jungen Frauen setzte sich neben Anna aus die breite Steinbank, um ihrem Kleinen die Milch zu geben. Sie sah zwei rosenrote Händchen, die mit lieblicher Unbeholfenheit in der Lust spielten, und sah ein rundes Köpflein mit weißlich schimmernden Härchen dran und zwei glänzende Augen unter lustig aufgebogenen Brauen. So ein Geschöpflein, und das sollte zufällig sein und vergänglich! Ja, die Marquise, die aus einer lieblosen Ehe ein undankbares Kind empfangen, das die andersgläubige Mutter schmählich verließ, die konnte wohl so reden, aber das Weib da, wann sie die gefragt hätte: »Wie hast du dein Kind gefunden, da du's zuerst sahst?« würde sie ihr nicht antworten: »Grad so, wie ich mir's gewünscht und gedacht, nur schöner noch und herziger und viel klüger!« Und wie war das mit der Vergänglichkeit? In wenig Jahren, dann würde das kleine Dirnlein schon groß sein und würde da herumlaufen, wie jetzt die vielen Mädchen taten drüben in der andern Ecke des Platzes; sie hielten sich bei den Händen und tanzten mit mehr Würde denn Ausgelassenheit ringsherum und sangen die lieben alten Verslein, solche man unten in der Straße nimmer hören durfte. Aber an diesen Frühlingstagen machte selbst der Profos mit einem versteckten Lächeln einen Bogen um den Lindenhof und ließ das Jungvolk oben nach Herzenslust zwitschern und jubeln wie die Vögel, die bis anhin auch keine Sittenmandat nicht erreichen gekonnt ... Ja, so würde auch dieses Kindlein singen, und wieder um ein paar Jahr später, da würde es heraufkommen mit lächelnden Augen und wiegenden Schritten und würde selber so ein Geschöpflein in den Armen halten, das aus lustigen Augen in die Welt lacht und soviel schöner und herziger und klüger war, als man je gehofft ... Und so ging es weiter und weiter, und wann einst das Rathaus dort unten alt und gebrechlich dastand, zermürbt die festen Mauern, die heut einer Ewigkeit zu trutzen vermeinten, und zerbröckelt und vernichtet die Heldenköpf ringsherum, da würde irgendwo ein junges Menschlein mit ebendiesen glänzigen Augen in die Welt schauen, unter ebenso luftig aufgebogenen Brauen hervor und im warmen Herzchen ein Tröpflein von dem Blut tragen, das jetzt durch diese kleinen Fäustchen schimmerte, die ganz nahe bei ihr mit lieblicher Unbeholfenheit in der Luft spielten. So also stand es um die Vergänglichkeit des Fleisches, daß kein Tod dazwischen Platz fand, dieweil sich überall das Leben erneuerte unter dem großen Wunder der Liebe.

Oh, er hatte recht gehabt damals, wozu den Tod malen, wer die Liebe hat! Denn Liebe ist ewiges Leben. Und Liebe ist Anfang, Erfüllung und Ziel.

Auch dies lernte sie erst jetzt erkennen, in diesem seltsamen Sommer, da ihre wachen Sinne überall im Leben der Natur die heilige Stimme der Liebe gewahrten. Der Sommervögel schimmerndes Gaukelspiel und der kleinen Fische hastige Züge grabenwärts und des Finkleins durchsichtiger Jubel und der Amsel verschleierter Sang, ach, und all der Duft und tausend Liebesaugen der Blumen, hatte das alles nicht einen Sinn und ein Ziel? Und der Lindenblust – nun verstand sie Sibylla, nun fand sie sein Duften nimmer kühl und fromm, wohl aber schwer und betäubend, wie der drängende Atem der Sehnsucht. Oft war ihr, als ob sie durch tausend Fäden mit der ganzen Welt verbunden wäre, daß sie Geheimnis und Größe der Natur und die Schönheit ihrer Heimat zum ersten Mal ganz erfaßte, in diesem seltsamen Sommer, mit dem sie der Erfüllung des Herbstes entgegenreiste.

Aber als die Zweiglein sich der reifen Fülle neigten, da stand ihr Bäumlein immer noch früchteleer.

Kurz vor den Vakanzen, die ihr den Liebsten hätten bringen sollen, war der Brief eingetroffen mit der trüben Nachricht, daß Hans zwar die Stell am Gymnasio bekommen, die ihm lange zugesagt, daß er sie aber annoch mit einem andern teilen müsse, sodaß für ihn zwar mindere Arbeit, aber auch minderer Lohn herausschaue, solcher die Gründung eines Hausstandes noch nicht erlaubte. Es hieß also noch warten, noch ein ganz klein wenig warten; denn lang konnte es nimmer dauern: war er erst einmal da, so wollte er sich seinen Platz schon erobern.

Warten, das war ein schlimmes Wort, sonderlich wann man die Brücken allbereits hinter sich abgebrochen hatte. Mit leisem Frösteln dachte Anna an ihre verlassene Malstube; die hatte ein mürrisches und unbequemes Gesicht bekommen über dem erwartungsvollen Sommer, wie ein erzürnter Schulmeister. Darin mußte sie sich nun wohl wieder einrichten, dieweil sie überflüssig geworden, allenthalben im Haus, wo die Schwestern sich mit neuen Kräften zielvoll zurechtgefunden. Aber dem Liebsten schrieb sie ein gutes Wort: »War es etwan keine schöne Zeit, dieses liebe Jahr mit denen glückhaften Briefen und da jedes, ohngeachtet des weiten Wegs, so zwischen uns lieget, sich dem andern nahe wußte? Wollen wir undankbar sein gegen den gütigen Gott und nicht lieber denken: Das Glück, je schwerer errungen, umso besser verdient!«

Und als die Mutter bei der Nachricht mit zitternden Händen ihr feines Haar unter die Haube schob und ihr die Tränen in die Augen stiegen: »Armes Kind, muß ich's wohl zum dritten Mal erleben!« hatte sie lächelnd geantwortet: »Bin ich Euch allbereits über geworden? Laßt mich noch ein weniges da; wann ich geh', es wird auch noch früh genug sein!« und die andere hatte sich seufzend gefügt.

Nur der Amtmann schien die Kunde gleichmütig aufzunehmen: »So wird dir denn, die verlassene Malerei wieder um ein weniges aufzunehmen, Gelegenheit geboten,« sagte er ernst, und sein prüfender Blick hatte Anna das Blut in die Wangen gejagt, daß sie allsogleich hinging und an Herrn Lukas Hofmann schrieb, ein paar kleine Aufträg, wann sie nicht gar zu zeitraubend, würde sie wohl noch ausführen können. Und Herr Hofmann nahm mit Freuden den Vorschlag an, machte unverzüglich ein paar Bestellungen, äußerte überdies aber auch einen Wunsch: »Wann Euer Liebesglück und zart Herzensangelegenheit Euch etwan zu einer jener Schäfereien, solche Ihr früher mit soviel Kunst und Zierheit zu malen verstanden, zu inspirieren vermöchten, an Käufern würde es uns nicht manglen.«

Das Wort gab Anna zu denken. So hatte sie es früher auch gemeint, daß die Liebe einen zu besondern und großen Werken sollte begeistern können, und aus der Liebe hatte sie ja auch einst einen Aufschwung und eignen Weg in der Malerei gefunden; aber jetzt war es so anders, und des Liebsten Eifersucht war nicht allein schuld, daß sie wie fremd geworden in ihrer eigenen Kunst. Da war etwas viel Größeres und Ungemeines. Wohl hatte Herr Werner recht, Liebe und Kunst, beide hatten nicht Platz in eines Weibes Herzen; doch daran war nicht die Enge des Herzens schuld, wohl aber die Größe der Liebe. Ja, jene helle Jugendliebe, die hatte sich schon vertragen damit. Wie ein frisches Morgenlüftchen war die, das die Augen klärt und die Kräfte stählt; nun aber war es gekommen wie ein Sturm, der Bäume entwurzelt und stille Wasser aufwühlt, und war gekommen wie ein Erdbeben, das Ströme versiegen läßt und Inseln auftauchen über neuen Gewässern. Und da stand sie nun in dieser neuen Welt mit neuen Augen und neuen Händen, zu denen ihre alte Kunst nimmer paßte. Wann sie jetzt an ihre Schäfereien dachte, bloß die Oberfläche hatte sie gemalt, den dünnen Schein bloß der Dinge. Jetzt erst waren ihr die Augen aufgegangen, und sie hatte gelernt, in die Tiefen zu blicken; aber wo war die Kunst, die solches wiedergeben konnte? Mit Händen malte man und nicht mit der Seele; aber die großen Werke kamen aus dem Herzen.

So war ihr die alte Übung kein Ziel mehr, ein Zeitvertreib bloß der Wartenden. Sie malte mit geschickten Händen und fleißigen Augen, zumeist Kopien wie in frühern Zeiten und auch kalligraphische Stücke. Ihre Gedanken aber gingen über das Werk der Hand hinaus und forschten in den Geheimnissen ihres neuen Lebens, und ihr Herz drängte nach dem wahren Ziel, das von Monat zu Monat sich hinausschob.

Schlatters Briefe verloren den glücklichen Ton, und die lieben und zärtlichen Worte vermischten sich mit zornigen Anklagen gegen Widersacher und Schicksal, die ihn mit einem vorgemalten und heimtückisch immer wieder entzogenen Glück als einen zweiten Tantalum zur Verzweiflung brächten. Das war nicht immer ein herzerfreuendes Lesen wie früher. Fast mit Bangen sah Anna oft diesen Briefen entgegen, und wenn sie antwortete, mußte sie sich zusammennehmen, um heiter und gläubig zu erscheinen und nichts merken zu lassen von der eigenen Qual; denn sie schämte sich ihrer Sehnsucht und daß ihr das Warten so lange wurde. Sie schämte sich der dumpfen endlosen Nächte, da sie mit klopfendem Herzen und wachen Augen in den heißen Kissen lag, und der trüben Morgen, da sie matt mit schlaffen Gliedern an ihre Arbeit ging. Sie wollte es sich selbst nicht zugestehen, daß es Stunden gab, wo ihre Liebe wie ein Fieber in ihr war, daß sie nach Zärtlichkeiten dürstete wie ein Baum unter brennender Sonne, dem der Regen lange gefehlt, und wiederum Stunden, schlimmere noch, da die Mutlosigkeit über sie kam und sie kleingläubig wurde an allem. Ach, dazwischen waren ja wieder die hellen Tage, wo sie ihre Liebe stolz und vertrauensvoll trug wie eine Krone und ihr die Zukunft erschien wie ein glänzend geöffnetes Tor, und Augenblicke atemraubenden Glückes, da ihr das Herz stillstehen wollte vor irgendeinem Zukunftsbilde, das sich plötzlich mit überwältigender Gegenwart in ihre Vorstellung drängte. Wer konnte also sagen, daß sie nicht froh war in ihrem Glück, und sicher?

Aber als der Frühling kam, wich sie seinem Jubel aus. Sie fürchtete sich beinahe vor dem Lindenhof, dessen freudige, schnellreifende Herrlichkeit sie im Vorjahr so innig mitempfunden hatte. Lieber ging sie nun vors Tor hinaus an einen stillen Seewinkel, wo das neue Leben zart, mit einer tröstlichen Heiterkeit und ohne Überschwang sich zeigte, wo über noch winterlich blassen Gewässern die letzten Möwen kreisten und kleine schwarze Entlein ernsthaft zwischen totem Schilf durchruderten. Hier war der Lenz kein stürmisches Beginnen. Nur allmählich und mit schier zagen Gebärden tauschte sich der Winter an den Frühling, der sachte mit lichtem Grün und freundlichen Schlüsselblumenkränzen aus dem toten Herbstgras auftauchte. Anna tat dieser stille Übergang wohl, dieses prunklose Ineinanderschmelzen zweier Zeiten, das ihr erschien wie köstliche Gewähr aller Dauer und Kraft des Bestehenden. Die Gesetzmäßigkeit der ewigen Wiederkehr, das war das Große, daran man sich klammern konnte und fest daran halten, wie an der ewigen Güte Gottes. Nur daran nicht glauben, daß es Umsturz gab und Wende und ein sinnloses Aufhören; denn es war häßlich und zerstörte alles und nahm jede Kraft und den verläßlichen festen Boden, daß die Füße straucheln mußten.

Immer mehr suchte sie die einsamen und feierlichen Orte auf, die ihr mit einer kühlen Beschwichtigung über das heiße Herz gingen. Sie liebte es, mit still gefalteten Händen unter den ernsthaften Gewölben des Großmünsters zu sitzen, hart neben einer der schweren Sandsteinsäulen, die eine beruhigende Feuchte ausströmten. Beschützend umhüllten sie die schweren Falten des schwarzen Kirchengewandes, und die feine weiße Leinenhaube umspannte mit stiller Gelassenheit die heiße Stirn. Sie dachte nicht mehr daran, sich über die geistlosen Äußerlichkeiten der Predigt zu ärgern. Der Gleichfluß des grauen Redestromes, der sich von der Kanzel ergoß, tat ihr wohl, wie der Anblick all der stillen schwarzen Gestalten rings ihr wohl tat, all der Frauen, die in ihrer einförmigen Tracht wie Schwestern erschienen, von einem einzigen gemeinsamen Schicksal bestimmt. Das alles war wie eine Beruhigung und gab eine weiche, ein wenig süße Resignation ins Blut, die besser war als die heißen und hellen Stunden des Glückes, von denen sie zum voraus wußte, daß sie doch neue Enttäuschung und neue Qual nach sich führten.

Die Vakanzen kamen und vergingen, aussichtslos, und in die verregneten Gassen schlich der bleifüßige November. Im Waserschen Hause sprach man wenig mehr von Schlatter. Nur Marias wissende Augen redeten: »Ja, ja, ich weiß, wie das tut, das Warten: wie wenn man einem einen Schraubstock in die Herzgrube setzte und zuschraubte, langsam und ruckweise, oder wie wenn einer das Herz anfaßte, an beiden Enden, und es sachte auseinanderzöge, bis es reißen will.«

Aus der Amtmännin Stirn lag wieder die alte Betrübnis: aber sie schwieg, und nur selten strich sie mit besorgter Hand über Annas schmale Wangen: »Solltest dich ausruhen, Kind, daß nicht so blaß wirst; schlechte Nächt, das bringt eine müde Haut und macht früh alt.« Und die Leute aus der Stadt kamen wieder mit Aufträgen, und keiner fragte, wie lange sie noch im Vaterhaus bleibe. Es war etwas in der Luft wie ein Zweifel und Mitleid, das sich erstickend um sie zusammenzog.

Aber das war nicht recht und nicht verdient mit dem Mitleid. Stand ihre Liebe nicht groß da und stark wie immer und waren des Liebsten Briefe, wenn auch vielleicht um etwas weniger zart und ehrfürchtig denn früher, nicht zuversichtlich und so voller Glut? Nur das Warten war schuld daran, daß sie feige schien und wehleidig und wie ohne Glauben, das untätige, unsichere, zermürbende Warten. Ja, wenn sie eine Ausgabe gehabt hätte, ein tüchtiges, anstrengendes Werk, dann hätte sie es wohl besser ertragen, dann wär' sie wohl tapferer gewesen, und kein Mitleid hätte mit klebrigen Fingern an sie gerührt.

Eine Aufgabe! Anna flehte darum, und plötzlich stand sie auch vor ihr, schneller als sie gehofft und anders.

*

Eines Dezemberabends beim Zunachten kehrte sie von einem Gang vor das Kronentor zurück. Noch lag kein Schnee, der Himmel war wolkenschwer mit verirrten gelblichen Lichtern, und der Graben drohte schwarz heraus. Anna beschleunigte ihre Schritte und suchte den kürzesten Weg, um der wachsenden Dunkelheit möglichst zuvorzukommen. Solchermaßen geriet sie unbedachtsam in eine enge, übelriechende Gasse, die sonst das Frauenzimmer, sonderlich zu solcher Stunde, mied. Sie gewahrte indes in der Befangenheit ihrer Gedanken den Irrtum erst, als sie schon mitten zwischen den nahegerückten Mauern der schmalen Häuser stand, die oben in schwindelnder Höhe mit schiefen Giebeln flackerige Zacken in den Abendhimmel schnitten. Links und rechts lauerten schmale Blinzelfenster und neben engen Türen weite runde, bald ängstlich verschlossene, bald schwarzgähnende Torbogen.

Unwillkürlich drückte sie die schwere Pelzmütze tiefer in die Stirn und folgte mit raschen, lautlosen Schritten dem schmalgeführten, schattendunkeln Pfad. Er lief gradwegs auf einen altersschwachen, turmähnlichen Bau zu, der sich, gewaltsam den Blick verrammend, in das Gäßlein vordrängte, dort, wo es in scharfem Winkel abbog.

Ein wenig neugierig und mit einem kleinen Gruseln betrachtete sie das unheimliche Haus, als plötzlich hinter einem seiner spitzbogigen Fensterlein ein mattes Licht aufsprang, dem alsobald ein seltsamer langgezogener Schrei von einer hohen, fast unnatürlichen Frauenstimme folgte. Anna blieb stehen und lauschte beklommen. Einen Augenblick wurde es ganz still hinter dem matten Fenster, nur der Widerhall klagte im engen Gäßchen, als ob der irre Laut alle Grauen dieses unheimlichen Winkels geweckt hätte. Dann folgte ein lebhaftes Stimmengewirr, das zu einem Männerstreit anschwoll und sich bald in lautem Tumult treppabwärts zu bewegen schien, der hohen Tür zu, die über einer unwahrscheinlich steilen Treppe in das Gäßchen mündete.

Erschreckt flüchtete sich Anna in den niedrigen Torbogen, der angesichts des Hauses schwarz geöffnet in einen leeren Schopf führte. Kaum stand sie im schützenden Dunkel, als die Türe gegenüber aufsprang und eine schwarzumhüllte Jünglingsgestalt, von häßlichen Worten verfolgt, herausstürzte und, die schmalen Stufen verfehlend, quer über die Gasse schlug. Anna hörte unmittelbar neben sich an der Kante des Torbogens ein dumpfes, quetschendes Aufschlagen, dann folgte das leise Ächzen einer jungen Stimme, deren Ton ihr das Blut zum Herzen trieb. Sie eilte aus dem Versteck hervor und beugte sich über den Jüngling, der sich mühsam aufraffte.

»Heinrich, du? Allmächtiger, ist es möglich!«

Der andere war zuerst erschreckt zusammengefahren, als ob er hätte fliehen wollen; dann aber lehnte er sich wie ermattet gegen den Torpfosten und neigte mit einer müden Gebärde das schmale Gesicht, darüber ein breites Blutband niederfloß. Zart und gebrochen, ein verhetzter Knabe, stand er vor der älteren Schwester. Anna fragte nicht weiter. Sie faßte ihn leise unter dem Arm und führte ihn von der schlimmen Stelle weg. Im letzten verborgenen Winkel des Gäßchens, das unweit vom Waserschen Hause mit einem blinden Ende in die Hauptgasse führte, trocknete sie dem jungen Bruder das Blut von den Wangen, verband mit ihrem Tüchlein die Stirnwunde und zog ihm das Barett so tief als möglich über den Verband. Er ließ alles mit sich geschehen wie ein Kind, ließ sich von Anna im Schatten der Häuser nach der Wohnung und über die vielen Treppen hinaus nach seinem Dachstübchen geleiten, wo er erschöpft auf sein Lager hinfiel.

Schweigend besorgte Anna den Bruder, der mit geschlossenen Augen wie erloschen dalag; während sie aber die Wunde auswusch und den festen Verband anlegte, gewahrte sie, daß die Verletzung geringer war, als sie geglaubt hatte, und daß sie des Bruders Erschöpfung nicht erklärte. Da mußte etwas anderes vorliegen, eine Wunde tieferer Art, die ihn solchermaßen niederwarf.

Sie setzte sich an sein Bett und forschte in dem farblosen Gesicht, das in seiner Hilflosigkeit unter der weißen Binde seltsam an den kleinen Heinrich erinnerte, an den Heini im blauen Kittelchen und Seidenlöcklein, mit dem sie die Sterne betrachtet und der so innig an ihr gehangen. Wie lang war der Weg von dort und wie ganz hatte sie ihn verloren, über ihrer eignen Welt, wo war es nun hinverirrt, das große seltsame Kind? In stillem Erbarmen und wie abbittend streichelte sie seine schmalen Hände. Sie dachte daran, wie verändert sein Wesen in der letzten Zeit, wie er oft mit verträumten fernen Augen herumgegangen, darin etwas Besonderes glänzte, und wie er allezeit mit dem jungen Beat Holzhalb, dem schwärmerischen Studenten, zusammengesteckt hatte und wie man sie oft in der merkwürdigen Gesellschaft eines fremden deutschen Gesellen gesehen, über dessen Herkunft man nichts wußte und dessen Umgang ihm der Vater zu mehreren Malen untersagt hatte.

Als ob Heinrich ihren stillen Gedanken gefolgt wäre, öffnete er plötzlich die Augen angstvoll: »Der Vater,« sagte er leise mit einem schmerzlichen Zucken um den bartlosen Mund, »der Vater, was wird er sagen?«

Anna drückte beruhigend seine kalten Hände: »Ich werde ihm erzählen, daß wir beisammen waren, als du den ungeschickten Fall tatest,« sagte sie ernst, und da er mit einem erlösten Blick dankte, fuhr sie fort: »Zum Essen brauchst nicht zu kommen, ich bring' dir nachher einen Tee, das wird dir gut tun; ich will auch dafür sorgen, daß die andern dich nimmer aufsuchen heut abend; aber beim Frühstück wirst du wieder dabei sein.«

Sie erhob sich ruhig und verließ mit dem Öllämpchen das Zimmer, den Bruder der Dunkelheit und den eignen Gedanken überlassend. Als sie später wiederkehrte, fand sie ihn immer noch in derselben Stellung, matt und teilnahmslos. Widerwillig nahm er den warmen Trunk zu sich und legte sich alsobald wieder zurück mit krampfhaft geschlossenen Augen.

Anna betrachtete ihn eine Zeit lang, dann sagte sie gelassen: »Damit ist es nicht getan, Heinrich, mit dem Augenschließen und Schweigen und Nichtgestehenwollen. Du hast's ja eben gesehn: genau anschauen muß man eine Wunde und hineingreifen und sie auswaschen, ehe man verbinden kann und heilen.«

Einen Augenblick sah er sie entsetzt aus aufgerissenen Augen an. Dann deutete er mit abgewandtem Gesicht nach dem Tisch hinüber und zog ein Schlüsselchen hervor und reichte es ihr mit unsicherer Hand. Anna schloß die Schieblade auf. Viel überschriebenes Papier lag darin, obenauf verschiedene kleine Zettel mit wirrem, hastigem, schier unleserlichem Gekritzel, daneben ein großes sauberes Heft, sorgsam beschrieben, offenbar eine Reinschrift nach jenen Entwürfen. Dieses nahm sie auf und führte es nahe an das flackernde Lämpchen. Sie las:

»Siebenzehente Inspiration, am 17. Dezembris Anno 1709.

Ein fremder, unstäter Tag. Am Morgen ging die Sonne mit einem schier mörderischen Feuer auf, darvon die schneelose Erde fast in einen Brand geriet. Hernach erschienen schwere Wolken mit gelben Schößen, so den ganzen Tag einen schweren und herzbedrückenden Dunst in die Stadt warfen. Zur Mittagsstund erhielt ich von G. das Zeichen, sollten uns zur Betzeit bei seiner Schwester einfinden, wovon ich den übrigen Tag in großer Erregte wartend und mit schier unerträglichem Herzklopfen verblieb.

Als ich hinkam, lag die Magdalene schön mit weißem Gesicht da wie eine Tote, nur die blauen Adern am bloßen Hals pochten vernehmlich. G. erzählete flüsternd, wie sie schon den ganzen Tag in Verzückung gelegen und auch schon einige convulsiones gehabt. Wir setzten uns um das Lager G. hielt ihren Puls zu Wahrnehmung ihrer Blutsbewegungen, derweil Beat und ich beides, Worte wie äußer Gebaren, zu notieren uns anschickten. So saßen wir etwas Zeit, als plötzlich eine seltsame Veränderung mit ihr vorging. Die Pupillen, so bislang ohnverrückt unter den dünnen Lidern gelegen, fingen an mit starkem Hin- und Herrollen, dabei oft ein Glanz wie von einem geheimen Feuerlein unter den roten Wimpern herfürsprang. Alsbald aber breiteten sich die convulsiones weiter aus mit Verrenkung des roten Mundes, und war es nicht anders, als ob die brennenden Lippen von einer großen und fremden Macht gepeinigt würden zu Formung unvertrauter und gewaltiger Worte. Jedennoch waren es zuerst zarte und schier gurgelnde Laute, so sich, dem Gurren von denen Täubchen nicht unähnlich, unter heftigem Erzittern des ganzen Leibes entrangen. Plötzlich aber warf sie sich mit einem großen und furchtbarlichen Schrei hintüber und ging ein Schrecken durch das Gemach, woraus wir wohl fühlten, daß die göttlich Inspiration in sie gefahren. Mit weiten Augen, so in dieser Verzückung völlig grün erschienen, starrte sie über sich und warf die weißen Ärm in einer unerhörten Heftigkeit gen Himmel mit einer hohen, außermenschlichen Stimme zu unterschiedenen Malen rufende: ›Herr, Herr, wie du willst, wie lang du willst, durch diese Flamme muß ich!‹ Dann schier geheimnisvoll und unter heftigem Zupfen der Finger: ›Ah, sehet an das Feuer, rot ist das Feuer, oh, der große Fresser kommt über mich,‹ und dann lauter und wie Gesang von denen Katholischen: ›Der Wald ist verzehret, das Gras ist verdorrt, die Herrlichkeit der Schwanen ist dahin! Heulet, ihr Tiere, dann das Gras des Feldes ist verbrennet, und das Kraut des Waldes ist verzehret, der schwarze Vogel wird dich deiner Kleider berauben und deine Geschmeide den Hummelen zur Beute geben. Oh, oh, oh!‹ Dabei griff sie in ihr mächtig rot Haar, daß es sich alsobald lösete und gleich dem Feuerbrand um sie her loderte.

Dann lag sie wiederum etwas Zeit, still zuerst mit starkem und schnellem Atem. Dann aber alsgemach fast leblos und wie eine Tote, und war es so still im Zimmer, daß ich vermeinete, mein eigen Blut zu hören. Plötzlich aber richtete sie sich auf, mit ganz großen Augen, und ihre Stimme zitterte als wie eine Windharfe, da sie mit langen und säligen Seufzern rief: ›Seht, seht, der Herr Jesus zu der Rechten Gottes, welch eine Herrlichkeit, die Engel beten ihn an!‹ Voller säligen Fiebers streckete sie die Hände gen Himmel und in solcher Heftigkeit, daß man vermeinete, sie auffliegen zu sehen und G. und Beat sie kaum zurückhalten konnten. Endlich schlug sie die Hände zusammen und rief laut staunende: ›Ah, ah, ah!‹ Dann leise: ›Es läuft alles zu ihm und fällt vor ihm nieder!‹ Darauf neigete sie ihr Haupt und lag wieder wie tot. Es hatte sich aber von der Heftigkeit und Ringen ihr Gewändlein also verschoben, daß sie halbnackt dalag mit entblößter Brust, weiß wie ein Leinwat in dem roten Haar und wie eine Ilge zart, und es wär' ein sündhaft Schauen gewesen, hätte man nicht den Geruch der Heiligkeit so stark an ihr verspürt, darvon kein irdisch, sondern allein himmlisch Feuer entflammet und ein verklärter zu Gott gerichteter Sinn.

So lag sie lange, schön und wundersam wie ein Engel, und glaubeten wir sie in tiefem Schlaf. Da aber Beat und G., durch ein verräterisch Geräusch vor der Tür angelocket, auf einen Augenblick das Gemach verließen, öffnete sie plötzlich die Augen, und mit einem raschen und glühenden Blick zu mir sagte sie kaum hörbar, sodaß ich mich über sie beugen gemußt: ›Oh, du Auserwählter des Herrn, der Herr wird dir ein Zeichen geben, daß du mich allein suchest in meiner Verzückung, und werden wir selbander den Weg zur Säligkeit finden.‹ Dabei ergriff sie meine Hand, und ihre fiebrigen Finger gaben mir einen solchen Jast ins Geblüt, daß ich von einem schier schmerzhaften Schlag bis ins Herz getroffen zitternd dastand, wovon ich denn auch deutlich merkte, daß sie in eines andern Auftrag redete und daß sie nicht bloß eine Inspirierte ist, wohl aber eine große Heilige. Sie wollte noch ein Mehreres sagen, wie mich bedünkte, mit näherer Angabe von Zeit und Gelegenheit; aber da kehrten die andern, die ihre Furcht unbegründet gefunden, zurück, wobei sie alsobald wieder in schweren Schlaf verfiel, nicht ohne mir noch ein Zeichen zu geben, daß ich ihre Worte verschweigen sollt', und ist sie aus solchem Schlummer den ganzen Abend nicht mehr erwacht.

Mir aber ist von jenem himmlischen Auftrag die Hitze geblieben im Geblüt und das Zittern, sodaß ich Tag und Nacht an sie zu denken nicht unterlassen kann, jeden Augenblick vermeinend, jenes Zeichen zu verspüren, auf das hin ich, ohngeachtet G.s Verbot, seine Schwester zu einer andern denn der von ihm bestimmten Stunde zu besuchen, mich ohnverzüglich zu ihr verfügen werde.

Wann wird es kommen, Herr, Herr, und bin ich würdig solcher Weihe? Oh, sie ist eine große Heilige.«

Anna ließ das Blatt sinken, ihre Hand zitterte. Das also war es! Sie hatte schon von jenen merkwürdigen Menschen reden hören, die, von Staat und Kirche verfolgt, auf absonderlichen und unnatürlichen Wegen nach dem rechten Glauben stöberten; aber sie hatte wenig darauf geachtet, denn das war ihr wie alles Unklare und Ungesunde in der Seel zuwider. Und nun war ihr Bruder auf die krummen Weg geraten und hatte von dem trüben Quell getrunken! Ihr Heini, der Sohn ihres Vaters und Zwinglis Enkel! Scham und Zorn wallten in ihr auf bei diesem Gedanken, das hatte er gekonnt, der dort! Aber da sie ihn nun sah, wie er dalag, das Gesicht gegen die Wand gekehrt, und ihm ein schmerzliches Zucken über den schmalen Rücken lief – ach, das war doch recht herzzerreißend, und man fühlte es, der so bitter darniederlag, er verdiente nicht Zorn und nicht Vorwürfe, bloß Erbarmen.

Sie setzte sich wieder zu ihm, ergriff tröstend seine feuchte Hand und bezwang ihre Erregung, daß es milde klang, wie sie nun sprach: »Dort also warst du heute, bei der Tremulantin?« Ein Seufzer antwortete ihr, oder war es ein Schluchzen, das halb unterdrückte, verzweifelte Schluchzen großer Kinder? Sie drückte seine Hand fester: »Ja, und da hast du wohl erfahren, daß sie keine Heilige ist?«

Mit einer heftigen Bewegung richtete der Bruder sich auf und starrte sie aus rotgeränderten Augen an: »Woher weißt du das?«

Sie lächelte ein wenig: »Weil ich weiß, daß es keine Heiligen gibt, am allermindesten unter denen Leuten, so ihre Frommheit mit lauten und absonderlichen Gebärden und mit Verrenkungen dartun, und dann, weil ich wohl verspürte, daß es kein heiliger Ort war, von wannen du mir heute kamst.«

Heinrich schlug die schlanken Hände vor das schamrote Gesicht: »Ich kann nimmer leben,« sagte er dumpf.

Sie betrachtete den Gebrochenen, und wiederum übertönte ein schmerzliches Mitleid den aufsteigenden Zorn: »So,« sagte sie ruhig, aber in etwas strengerm Ton, »deshalb also, weil du durch gütige Fügung noch rechtzeitig zur Erkenntnis deiner falschen und verwerflichen Weg gekommen, deshalb willst du nimmer leben?« Und sie zog ihm die Hände vom Gesicht und blickte ihm fest in die Augen; aber der andere schüttelte traurig den Kopf:

»Wie könnt' ich noch leben, da ich an nichts mehr glauben kann? Nicht an die Menschen; denn ach, wann du wüßtest, wie sie war, hold, hold, wie ein Maienblust und rein wie die Ilgen und voll himmlischen Feuers wie Engel des Paradeises, und dann das von heut abend! Oh, werd' ich's nicht immer vor mir sehn, das Abscheuliche? Soll ich nun glauben, daß alles ein Trug, ihre inspirationes und göttlich Wunder, oder aber, daß Gott sich für seine Offenbarungen eines unwürdigen Gefäßes bedient? Beides ist so furchtbar, so furchtbar!« Er seufzte, und dann fügte er leise hinzu: »Und wie kann ich an mich glauben, wenn all das inner Feuer und himmlisch Seligkeit, so ich in denen Zeiten verspürt und davon ich meine Seel gleichsam durchleuchtet und sublimiert fühlte, nichts ist als Trug und eitel Gaukelspiel? Worauf soll ich mich dann verlassen, wann selbst die innere Stimm für nichts mehr zu halten ist, bin ich nicht selbst schon verworfen und dahin?« Und wieder setzte er mit fast eigensinniger Betrübnis hinzu: »Ich kann nimmer leben.«

Anna sprang auf. Sie ballte ihre Hände, daß die seinen Knöchel scharf aus der glatten Haut hervorsprangen. Einen Augenblick war es totenstill im Zimmer. Dann setzte sie sich wieder neben den Bruder: »Was du glauben sollst?« – ihre Worte waren betont – »Das sollst du glauben, daß du, ein argloser, unerfahrener Knabe, unter die unreine Influenz eines betrügerischen Menschen geraten, der durch das Mittel einer armseligen, innerlich zerrütteten und deshalb zu allerlei paroxysmi geneigten Person auf dich wirkte. Nun aber dir die Augen aufgegangen, sollst du für alle Zeiten wissen, daß Gott nicht durch verrenkte und armselige Menschen zu uns redet – ob sie sich nun als Betrüger so gebaren oder als durch ihre eigne krankhafte Constitution Betrogene – und daß er Mittel ganz anderer Art hat, um die Wunder seiner Weisheit zu künden.«

»Und die Heiligen, die Apostel, all die Gottgeweihten und Inspirierten früherer Zeiten, an denen ebensolche Wunder geschahen?« Heinrich sah die Schwester von unten herauf forschend an.

»Das waren Emblemata,« erwiderte sie rasch mit einer heftigen Gebärde, »Emblemata zur Zeit, da Gottes Volk noch ein Kind war. Heut aber, wo die Kirche ein Mann geworden, handelt Gott nicht mehr durch Gesichte, Träume und Weissagungen, am allermindsten in Zwinglis wahrer und klarer Kirche.«

Heinrich legte sein Gesicht zur Seite und lächelte, wehmütig und altklug wie ein Kind, dem man Märchen erzählt, daran es nimmer glaubt. »O ja, du redest wie die andern,« sagte er leise, »wie sie alle reden, die Gerechten: Zwinglis wahre und klare Kirche, weilen sie nicht spüren, wie das ist, wenn man verhungert auf dem trockenen Boden und versengt in der klaren trockenen Luft.«

Anna senkte den Kopf und betrachtete ihre verschlungenen Hände. Da hatte sie sich zu einem raschen und gewöhnlichen Wort hinreißen lassen, und nun spürte sie selbst, daß es nicht stimmte. Jener ferne Abend stand vor ihr – ach, wie innig und weh war das Rückwärts denken an jugendfrühe Zeiten – da sie mit Rudolf und Lisabeth über den roten See gefahren mit heißen Herzen und heißen Köpfen. Hätte sie damals so vernünftige und unwahre Worte gefunden? Hatte ihr nicht die Seele gebrannt unter des Onkel Fähndrichs rebellischer Rede, und mußte sie ihr nicht heute noch zustimmen?

Sie sah Heinrich voll an: »Du hast recht,« sagte sie einfach, »es ist wohl nicht so, wie ich sagte, und die zwinglische Kirche ist nimmer Zwinglis Kirche und die christliche Religion auch wohl nimmer Christi Religion; aber so du vermeinst, auf verworrenen und vermessenen Wegen aus der Öde auf gesund Land zu gelangen, so irrst du. Oder ist es etwa nicht Vermessenheit, wann ein Mensch sich über die bestehenden menschlichen und göttlichen Gesetze hinaus zu einem göttlichen Instrumente erkoren glaubt? Wunder, ja, und welch herrliche und unerfaßliche Wunder! Aber nicht für den Wundersüchtigen, für den allein, der stillhalten kann und aus sich selbst vergessen und lauschen. Denn die allergrößten Wunder kommen ganz schlicht, ohne Überschwang und ohne Gepränge ... Der Heiland, als er auf den Berg stieg, um jene Worte zu sprechen, die alle Herrlichkeit der Welt zunichte machten und alle Seligkeit der Himmel erschlossen – siehst du ihn? Ganz allein auf dem kahlen gelben Berg, allein unter der gewaltigen Menge, und wie schlicht er dasteht, wie ruhig und unverstellt. Und da er sprach, ganz ohne hinweisende Gebärden und alles dunkeln und vieldeutigen Wesens bar, aber die Worte still und klar, wie der Morgenstrahl über der Sommerflur und mächtig wie Donnerschlag und unerschöpflich wie purpurne Wasser über den Tiefen des Meeres. Und jedes Wort ein neu Wunder, darob alle Welt sich entsetzte, und jedes eine neue Seligkeit. Aber das Schönste vielleicht dieses: Selig sind die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.«

Anna erhob sich und trat ans Fenster. Einen Augenblick folgte sie den schwanenweichen Wolken, die schwer über die dunkeln Dächer hinstrichen; dann fuhr sie leise fort, mit fernem Antlitz, und es war ein seltsames Zittern in ihrer Stimm und ein ungewohnter weicher Klang:

»Ja, das ist es wohl, das reine Herz; aber die Kraft des reinen Herzens ist die Liebe. Sie macht, daß man Wunder sieht, oh, solche Wunder allenthalben, und daß man Gott schaut allenthalben und nicht zuletzt im eignen Herzen.«

Sie wandte sich wieder dem Bruder zu: »Siehst du, die Liebe, das solltet ihr lernen, ihr Gottesgelehrten, dann erst würdet ihr wahre Gottsucher und Gottfinder. Wahr ist es ja, unsere Kirche, ein öd' Land ist sie geworden und ein rechter Holzboden vielerorten; aber die Liebe, so den dürren Stab begrünen konnt', wird es wohl auch zustand bringen, daß wieder Pflanzen aufsprießen aus dem hölzernen Grund. Rebellion und wundersüchtig Wesen kann nur Verderben bringen und Zerstörung, die Liebe aber pflanzet nicht allein, sie gibt auch das Gedeihen dazu.«

Heinrich sah sie aus flimmernden Augen an: »Du, wann du früher so zu mir gesprochen hättest, leicht wär' alles anders geworden; aber jetzt, jetzt ist's zu spät!« sagte er mühsam.

Zu spät? Es gab Anna einen kleinen Stich; aber dann lächelte sie: »Nein, nein! Nicht zu spät, Heini, da ist lange noch Zeit zum Umkehren und Erkennen!« Und sie wollte ihm begütigend die Wangen streicheln; er aber fuhr zurück und warf beide Hände vors Gesicht und stöhnte:

»Oh, wann du alles wüßtest! Oh, solches hab' ich getan, und wann's auskommt, dann ist doch alles fertig und zu End, und es muß auskommen, es muß!« Die Tränen stürzten hervor, und da er ihnen nimmer wehren konnte, brach er zusammen, kraftlos und elend wie ein angeschossener Vogel.

Es war schon tief in der Nacht, als Anna auf vorsichtigen Sohlen ihr Zimmer aufsuchte. Die Sorgen lagen ihr schwer auf dem Herzen wie eine schwarze formlose Masse; aber allbereits blitzte ihr daraus etwas entgegen, scharf und fein wie ein tapferer Entschluß: Dem armen mißleiteten Knaben mußte geholfen werden, um jeden Preis, und sie mußte helfen.

Am andern Morgen verließ Anna zu früher Stunde das Haus. Sie hatte die Pelzmütze ins Gesicht gezogen und ein unscheinbares dunkles Tuch übergelegt, darunter sich ein schwarzes Kästlein wohl verbergen ließ. Ihre Augen waren heiß von durchwachten und durchrechneten Stunden: aber ihr Blut hatte einen starken und hohen Schlag, und davon flammten ihr die Wangen.

Die Nacht hatte einen mächtigen Schnee auf die Erde gelegt, sodaß ihre raschen Schritte ungehört im weichen Grund versanken, und emsige Flocken verwischten die schmalen Spuren, die sie durch einsame Gäßlein trug. Vor dem letzten, baufälligen Hause einer gedrückten Hintergasse blieb sie stehen und maß zögernd die dunkel geöffnete Haustüre. Ein großes Mädchen mit verwirrtem schwarzem Haar und schwarzen Augen schlurfte ihr durch den nassen Gang entgegen.

»Wohnt hier der Proselyte Christian Felix?« fragte Anna und richtete sich hoch auf. Aber nachdem die andere mürrisch, mit neugierigen und mißtrauischen Blicken bejaht, zögerte sie immer noch, denn aus dem Hause schlug ihr mit dem Geruch von Unsauberkeit und unbestimmbaren Gewürzen ein heißer stickiger Dunst entgegen, und der Ekel schnürte ihr die Kehle zusammen. Dann aber raffte sie sich auf und setzte entschlossen den Fuß über die ausgetretene, schlüpfrige Schwelle.

Und der Ekel schüttelte sie immer noch, als sie nach geraumer Zeit das Haus wieder verließ. Sie lüftete das enggeschmiegte Umtuch von den Schultern und ließ eine Handvoll frischgefallenen Schnees durch die Finger stäuben, wie um sich zu reinigen. Wie das beschmutzte, Umgang und Handel mit solchen Menschen! Und solchen Orts hatte der Bruder Hilfe gesucht! Jetzt erst fühlte sie, wie tief Schwärmerei und Unwissenheit den Knaben in Gefahren verstrickt hatten, und die Eindrücke der dumpfen Gäßlein legten sich ihr schwer aus. Was mochte der Bruder alles gesehen haben, hier in der übeln Wirtschaft des Wucherers und gestern abend in dem verruchten Hause, und mußte solches nicht schaden und wie ein Gift bleiben in der jungen Seele, davon man nimmer gesundet?

Aber da fiel ihr Adam Mörikofer ein und wie sie einst gelitten unter seiner täppischen und gierigen Verliebtheit und wie sie vermeint, das Häßliche nie mehr abwischen zu können und es gleich einem Flecken durchs ganze Leben tragen zu müssen. Und heute? Dachte sie anders als mit einem Bedauern an den armen, unfreien Menschen zurück, heute, da sie sein Leben zum Teil überblicken konnte und wußte, wie der von versteckten Wünschen und Mißerfolg Gepeitschte endlich an der Seite einer braven Frau die Ruhe und in der Ausübung eines schlichten Handwerks Genügen und eine gewisse Freiheit gefunden? Schließlich, man überwand manches, und man wurde älter, und dann kam die Erkenntnis und brachte das Versöhnende. Aber zur Erkenntnis bedurfte es der Erfahrung, und dazu gehörte wohl auch das Häßliche, so sehr sich alles dagegen sträubte.

Auch Heinrich mußte darüber hinwegkommen, und was in ihren Kräften stand, sie wollte ihm helfen. Das eine war ja allbereits getan, aus den Händen des Wucherers hatte sie ihn befreit, und daß jener schweigen würde, auch dafür war gesorgt, denn sie hatte ihm aus dem unerlaubten Geldleihen an einen Unmündigen einen bösen Strick gedreht. So würde denn niemand davon wissen, was der verblendete Knabe getan und daß er, von schlechten Menschen mißbraucht, auf einen Weg geraten war, der ihn um Ehre und Zukunft hätte bringen können.

Und niemalen brauchte es der Vater zu erfahren.

Freilich, ihre Ersparnis, die sie für allerlei Anschaffung drüben in der neuen Heimat zusammengelegt, die war nun dahin. Sie wog das leicht gewordene Kästchen in der Hand. Ja, wann jetzt der Bräutigam gekommen wäre, wie der törichten Jungfrauen eine stünde sie da, und wär' kein Öl in dem Lämpchen. Sie lächelte wehmütig; am Ende mußte sie noch froh sein, daß er nicht kam; aber dabei fuhr ihr auch ein Gedanke durch den Kopf, der ihr seit gestern schon oft mit einem Trost gekommen: Das lange Warten, nun hatte es einen Sinn; alles war nun wie notwendig, versöhnlich und gut. Und bis er kam – sie hatte ja so genau gerechnet diese Nacht – wann sie recht tüchtig an der Arbeit war, bis dahin mochte das Lämpchen wieder gefüllt sein, und keiner wußte davon, daß es nicht immer so gewesen.

Als Anna die Treppen zu Heinrichs Kammer hinaufstieg, eilte ihr von oben der junge Beat Holzhalb entgegen. Sie wollte ihn aufhalten und einen Gruß an die Eltern auftragen; aber er rannte mit dunkelm Gesicht und flüchtig grüßend an ihr vorbei treppabwärts.

Den Bruder fand sie in großer Erregung: »Sie sind fort!« rief er ihr entgegen, und sein Gesicht flammte: »Beide zusammen, heut morgen in aller Früh, und keiner weiß wohin.«

»Gottlob, die Luft rein!« Anna atmete befreit auf.

»Beat zürnt mir,« fuhr der andere hastig und ohne ihrer Worte zu achten fort. »Er sagt, ich sei schuld daran, hätt' sie erschreckt mit meinem Tun gestern, daß sie Verrat befürchtet und Anzeige beim Vater. Mich beherrschen hätt' ich sollen, meint er, kein Geschrei machen; denn so oder so, eine wunderbare Person sei sie in alle Wege, der man hätt' Sorg tragen müssen. Denk, Anna,« er sah die Schwester aus den übernächtigen Augen entsetzt an, »alles hab' ich ihm erzählt, all das Abscheuliche von gestern abend, und dennoch sagte er solches ... Oh, nun hab' ich auch Beat verloren!«

Er seufzte und ließ kraftlos die Hände sinken.

Anna betrachtete ihn ernsthaft. Die beiden Jünglinge tauchten wieder vor ihr auf, wie sie sich zuerst getroffen in Regensberg und gleich mit soviel Schwärmerei gefunden – ja, der schicksalsschwere Tag ... »So mußte es wohl kommen,« sagte sie dann gelassen, »das Alte muß abgetan sein, ganz und gar, wann du Weg und Wille zum Neuen, Echten und Ehrlichen finden sollst. Auch das mit Beat, wenn anders er nicht herausfindet aus der Wirrnis, auch ihn mußt du wohl ziehen lassen, ein Stück Wegs zumindest, bis ihr beide festen Fuß gefaßt.«

Und dann erzählte sie von ihrem Gang zu dem Proselyten.

Heinrich horchte erst ungläubig aus; als er aber alles erfaßt hatte und sich auf einmal von einer schweren Last und all der Angst vor drohender Gefahr befreit sah, kam es wie ein Rausch über ihn, daß er die Schwester umhalste und lachte: »Ja, vorbei, alles soll fertig sein, alles!« Und er eilte auf den Schrank zu und nahm Bücher heraus und Schriften, ganze Stöße: »Das soll in den Ofen, alles zusammen in den Ofen, daß es aus ist und zu End!« Aber Anna wehrte es ihm: Wohl verwahren und beiseite legen die verführerischen, verbotenen Bücher und unheilvollen Schriften, das möge er schon tun, aber zerstören nicht. Dadurch, daß man die Spuren einer Tat verwische, sei diese nicht ungetan, und ein gewaltsam zerstörter Feind sei am allermindsten ein toter Feind, sondern stehe immer wieder auf mit tausend Fragen und Versuchungen wie das bös Gewissen. So man ihn aber im Auge behalte, bleibe er zwar ein steter Mahner, aber zugleich verliere er die Kraft der Versuchung und liege eines Tags machtlos da, nicht als ein Zerstörter, wohl aber als ein Überwundener.

Sie half dem Bruder alles in eine Kiste packen, obenauf den Schein des Wucherers, und verwahrte sie dann im Kastenfuß. Ängstlich betrachtete Heinrich den kleinen Sarg so vieler Phantasterei, Seligkeit und Verzweiflung: »Aber wann man einmal darüber käme, um Stelle und Amt könnt's mich bringen.«

»Nun,« antwortete Anna ernst, »wann du dich dann nicht zu rechtfertigen vermöchtest, wohl ertragen müßtest du's.«

Er sah sie erschreckt an und ohne Verständnis; dann aber fiel er ihr plötzlich mit Ungestüm um den Hals: »Du, du! An dich will ich mich nun halten, an dich glauben, wann nur du mir bleibst!«

Und Anna fühlte seine Wange naß an der ihren, und der kleine Heini fiel ihr ein, wie er ihr die tränenfeuchten Händchen um den Hals geworfen, damalen an jenem kaltklaren Wintermorgen, da sie Braunfels zufuhr, und wie er bat: »Geh nicht, Anna, bleib' bei mir!« Aber sie war gegangen – so weit, so weit – und darüber war er an den Abgrund geraten.

»Heini, Heini, großer Bub,« sagte sie bewegt und küßte ihn und streichelte den noch zarten Nacken. »Ja, ich bin da, und nicht eher als du stark geworden und gesund und du den klaren Blick hast, verlaß ich dich.«

Als sie jedoch auf ihrem Zimmer war, allein, und sich die Gedanken von den wirren Erlebnissen klärten, fiel es ihr schwer aufs Herz, daß sie nicht sah, wie ihm zu helfen war. Sie wußte es wohl, mit der Erkenntnis des Übels waren die Mächte noch nicht abgetan, die solches herausgeführt. Wie sollte sie den Träumling von der Schwarmsucht befreien? Und vor allem: die Leere, die nun in dem Knaben entstehen mußte, da alle Hoffnungen, Wünsche und Glauben weggefegt waren, wie sollte man die ausfüllen?

Aber zu Mittag kam die Esther Dietschin gelaufen, strahlend, und warf schon unter der Tür die Hände hoch und lachte: »Wißt ihr's Neust? Das Estherlein kommt zurück, in zwei Wochen schon, unser Estherlein, denn eine Reisgelegenheit hat sich gefunden!« Und lachte wieder und sprudelte tausend Dinge herfür, was schöne Sachen die Frau Bas aus dem Welschen von dem Kind geschrieben, daß es nicht allein die Sprache aufs erstaunlichste gelernt, sondern auch in denen Koch- und Haushaltungskünsten eine solche Tüchtigkeit an Tag gelegt, daß man gar einen Stolz mit ihm haben könne, und wenn sie ihm auch das wild und fast unberechenbar Wesen nicht grad hab' abgewöhnen können, so denk' sie, daß solches als in der Natur begründet auf spätere Reise zu verschieben sei. Dafür sei es ja auch ein rechts Herrgottskind und ein Sonnenschein, der ihnen allenthalben bös fehlen werde.

Das war nun eine wahre Freudenkunde, und wenn die andern nach ihrer stillern Art auch nicht gleich mit der fröhlichen Esther herausjubelten, es trug doch jedes den Abglanz eines Glückes auf dem Gesicht; denn das Estherlein, es hatte einem arg gefehlt all die Zeit, das fühlte man erst jetzt so recht, wo die Nachricht von seiner Rückkunft wie verfrühter Amselsang durch die Stube ging.

Aber Anna war es wie ein leises Dankgebet im Herzen: Gottlob, das Kind, das mußte ihr helfen, das war wohl geschaffen, um Lücken auszufüllen. Allerlei Pläne gingen ihr durch den Kopf von gemeinsamer Arbeit, und zu Esther sagte sie: »Daß es seine Kenntnis in der Sprach nicht verliert, sondern sie befestigt, dafür laß mich sorgen.«

Und die Schwester lachte gutmütig: »Kann's mir denken, daß das wieder anfangen wird mit der Gelehrsame, wie früher auch schon. Aber sobald es die häuslichen Pflichten nicht verachtet, wann du daneben noch eine Gelehrtin aus ihm machen willst, kann's mir gleich sein; man weiß allweg nie, zu was heutigstags die Meitlein noch gut sind.«

Nun hatten Annas Pläne einen sichern Weg. So mußte es sein: Die beiden wollte sie zusammenbringen, und das heiße rasche Estherlein mußte den Grübelsinn des Bruders aufstöbern und an die Helle reißen. Ja, und arbeiten wollte sie mit den beiden, etwas lesen mit ihnen, etwas Herrliches, ganz Großes, daran man sich und die Welt verlieren konnte, etwas, das vermochte, aus Nebeln herauszuleiten auf klar jung Land, und wiederum, was den Flattersinn in die Tiefe zog und ihm Wurzeln gab und Tüchtigkeit. Etwas Klares und Tiefes mußte es sein, mächtig und doch einfach und voller Weihe.

Sie dachte an Homer, und ein Schauer überzitterte sie. Wie hatte er einst in ihr Leben eingegriffen, so gewaltig und mit solch sichern Richtlinien, daß sie bis heute das Wunder an sich verspürte, und hatte doch so lange seine Sprache nicht mehr vernommen. Aber irgendwo in ihrer Seele, ganz zu innerst in einem kleinen verborgenen Winkel, ruhte etwas Köstliches unverlierbar, wie ein Schatz geheimer Kräfte, und irgendwie hing er mit jenen Jugendtagen zusammen, über denen der große griechische Dichter gestanden wie ewige Gestirne, und irgendwie wurzelte er in jenen Stunden, da sie Herrn Morells Worten gelauscht und vermeinte, Türen sich öffnen zu sehen, eine nach der andern, die zum Allerheiligsten führten und zu jedem tiefsten Geheimnis. Wohl hatte sie lange nicht daran gedacht, und oft war es wie verschwunden im Drängen und Geschäftigkeit des Alltags. Aber es war ihr wie Gewißheit, daß es in jeder trübsten Zeit sich regen müßte und ihr aus jenem geheimen Schatz, wie aus einem Wunderborn, in jeder schwersten Stunde eine Kraft zuströmen mußte, daß sie nimmer zugrunde gehen konnte – nimmer.

Aber den Bruder jenem Gewaltigen zuzuführen, das ging wohl nicht an. Der Grund war noch zu locker, um solch mächtigen Baum zu halten, und die weiche Scholle verlangte annoch süßere Nahrung. Und gar das Estherlein! Wie eine blauschillernde Wasserjungfer über das Wiesenbächlein, so würd' es über die purpurnen Tiefen gaukeln und sich daran genügen, wenn ihm die unendlichen Fluten sein eigenes Flimmergewändlein und ein Stück Blauhimmel vorspiegelten. Oder tat sie ihm unrecht, dem wilden raschen Kinde?

Nein, mit dem großen Griechen ging es nicht. Doch da war ein anderer Großer, der war auch klar und tief und ewig, aber die eigne Zeit, ihre Schmerzen und ihre Sehnsucht spiegelten sich in ihm, und auch er hatte den Zauber der Sprache, und er hatte die Weichheit des Herzens und Zweifel und Erlösung zerrissener Seelen.

In das Reich Racines wollte sie die beiden führen, daß sie unversehens in einen starken und guten Strom gerieten, darin sie beide fanden, was ihnen not tat, Tiefe und ein größeres und gestärktes Wesen.

Sie sah so deutlich, wie es kommen würde: Zuerst wollten sie nicht gern dahinter und sträubten sich wohl gar gegen das gemeinsame Arbeiten; denn sie hatten sich nie so recht vertragen, und jedes möchte sie allein haben. Und so ganz verschieden würden sie es angreifen, das Estherlein mit raschem Verständnis, leidenschaftlich erfassend, was ihm zusprach, und das andere überhüpfend, Heinrich aber still, mehr zuwartend und gründlich. Aber dann kam der Augenblick, wo sie beide an denselben Worten sich entflammten – vielleicht war's einer jener himmelschönen Chöre, daraus alle Kraft eines naturseligen zu Gott strömenden Gefühls klang – ja, und dann las eins die eigne Begeisterung in den Augen des andern, und wann zwei junge Herzen erst einmal über derselben Schönheit höher geschlagen, wo waren dann alle Zweifel und Hadergelüste? Dann war es auf eins nicht mehr das alte Estherlein mit dem frechen roten Zünglein und nicht mehr der Träumerbub, der untapfere; einfach zwei junge Menschen waren sie dann, gewillt, nach dem Schönen und wahrhaft Wertvollen zu fahnden. Wann es aber einmal so weit war und die junge Freundschaft zwischen ihnen stand, das gab eine Kraft und eine Helligkeit beiden; dann kam wohl die Zeit, wo sie gehen konnte, sie bedurften ihrer nicht mehr.

Denn Altersgemeinschaft war eine große Macht, und man brauchte gar nicht alt zu sein, um zu erkennen, daß keine Schranke das Jugendland härter abschließt denn Erfahrung und Einsicht. Sie wollen nicht geleitet werden, die ganz Jungen, selbander suchen, tasten und finden wollen sie, und das ist recht und ist das Gesunde; denn nur das Selbsterrungene gibt Kraft und hat Bestand. Alle geborgte Weisheit ist hinfällig, sie trägt kein Licht in sich, wohl aber die grauen Schatten der Langeweile, die sich so gern verdunkelnd und mißleitend über die naturgewollten Wege legen.

Nur zusammenbringen mußte sie die beiden; aber bis man so weit war, lag ihr allein des Bruders Leitung an, und dazu bedurste es wohl einer starken Hand.

Sie fühlte es in den kommenden Tagen, da bei Heinrich nach dem ersten beglückten Aufatmen die alten Nöte wiederkamen, Kleinmut und Zweifel und wohl auch Verlangen nach den frühern Zuständen. Da mußte sie mit aller Zartheit und Stärke zugegen sein, um den Schwachen zu stützen, und durfte ihn nimmer aus den Augen lassen, ob sie gleich zur selben Zeit auch ihr Malwerk wieder mit erneutem Eifer ausnehmen mußte.

So waren die Tage auf eins wieder voll geworden und bunt, und als sie eines Tags einen Brief des Geliebten in der Hand hielt, bemerkte sie mit Staunen, daß es der erste war, den sie nicht unter hundert Wünschen herbeigesehnt, und der erste, den sie ruhigen Herzens öffnen konnte. Die bedeutsame Gegenwart hatte die große Frage abgerückt, das Warten war zu einem Wirken geworden.

Aber gerade dieser Brief brachte die große, schmerzlich erwartete Kunde.

Als Anna ihn zu Ende gelesen, wußte sie einen Augenblick nicht, ob es unsinnige Freude war oder Schreck, was ihr das Herz in den Hals drängte und machte, daß die runden Fensterscheibchen sich vor ihr drehten wie Räder eines Uhrwerks; aber als die Rädchen wieder stillstanden und das weiße Winterlicht unbewegt hereinließen, wußte sie, daß es die große Angst war, die ihr die Brust zusammenschnürte, die Angst; Unrechtes zu tun. Da wäre nun das Glück, so nahe, daß man es mit Händen greifen konnte; aber davor stand die Pflicht und hielt ihr das grausame »Noch nicht« entgegen.

Was tun?

Um Lichtmeß wollte er kommen – schnell, schnell; denn im Frühjahr hatte er mit Übernahme der Rektorstelle, die ihm unversehens, aber nicht unverdient zugefallen, dermaßen zu tun, daß an ein Reisen nicht zu denken war, dann hätte man warten müssen bis zu den Vakanzen; aber das konnte kein Mensch, deshalb lieber jetzt gleich, wann auch in aller Eile.

War das ein Jubel in seinen Worten! Wie ein heißer Hauch ging es ihr über die Wangen, daß sie die Augen schließen mußte und vermeinte, seine Nähe allbereits zu spüren. Und er war ja auch so nahe – sie brauchte bloß zu wollen – vier Wochen kaum, und dann – war solches zu fassen!

Aber – durfte sie wollen? Stand dort nicht der Bruder, ach, auf so unsicherm Boden, und war nicht ihre Wange noch feucht von seinen Tränen, und hatte sie nicht noch seine Bitte im Ohr, und ihr Versprechen, hatte es nicht groß und fest geklungen wie ein Schwur? Wie ein Schwur! Und nun wollte sie ihr Wort brechen?

Und dann war noch das andere: Sollte sie mit leeren Händen Einkehr halten im eignen Haus? Und wann sie das nicht wollte, dann mußte sie sich dem Vater offenbaren, ja, und dann kam alles aus, und ihr Opfermut war dahin wie eitel Blendwerk. Und Heinrich – »An dich will ich glauben, an dich mich halten ...« War das nicht eines Ertrinkenden Greifen nach der rettenden Hand, und die wollte sie ihm entziehen, so nah am Ufer?

Aber der Geliebte, hatte er nicht das erste Recht auf sie? Und ihr Herz, das mit solcher Gewalt zu ihm drängte, daß es fast sehr geworden darüber mit unregelmäßigen und unsichern Schlägen, konnte es die neue Qual ertragen? Und ein Zorn wollte sie ankommen gegen den Knaben, der auf verbotenen und unbraven Wegen vertan, was ihr nun zur Erfüllung fehlte.

Doch dann schämte sie sich wieder einer Verzeihungskraft, die so gering, daß sie vor dem eignen Mißgeschick gleich dahin war. Und die Vernunft regte sich: Nachher gehört man sich ja für immer, unverlierbar, und was bedeuten die paar Monate vor dem ganzen langen Leben? Dem Bruder aber können sie zum Heil werden.

Freilich dieser Frühling, den man zuerst zusammen erleben würde, das neue Leben in all dem Blust, und der große goldne Sommer – alle Macht der Welt konnte das nicht wiedergeben. Ihre Seele war bereit gewesen wie ein Myrtenbaum am tauigen Morgen. Mit tausend bebenden Knösplein harrt er der Sonne entgegen, daß sie ausbrechen möchten den tausend drängenden Strahlenkelchen, und konnte man der springenden Knospe das Blühen verbieten, wann die Sonne kam?

Es war ein schlimmer Tag und eine schlimme Nacht. Aber am Morgen schrieb sie, daß es nicht sein konnte, jetzt noch nicht. Und sie sagte die Wahrheit, aber schonte des Bruders.

Die Pflicht hatte gesiegt und die Vernunft; aber als der Brief weg war, fühlte sie sich als eine Geschlagene und Schuldige. Sie hatte gegen ihr eigenes Wünschen gehandelt und so, wie die tapfere Stimme es ihr eingegeben; aber da war eine andere Stimme, die tadelte und quälte und war nicht minder gut; denn sie kam aus dem Innersten und hatte keinen falschen Ton. Wo war nun das Gewissen? Wie einer, der sein Kind gestraft hat, vorsätzlich und mit Überlegung und im Bewußtsein, recht und nützlich zu handeln, und dem dabei doch elend ist, daß er sich schlecht vorkommt und sich schämt vor dem eignen Herzen, so war ihr zumute.

Aber da sie nun gehandelt hatte, galt es tapfer sein und aus der Qual den Nutzen ziehen. Der Erfolg mußte für die Notwendigkeit des Opfers zeugen, so dachte sie und arbeitete und richtete sich ein in des Bruders Leben, daß sie Ordnung schaffen konnte in dem Wirrsal und die festen Balken zimmern zum neuen Fundament. Die eignen Qualen aber und des Liebsten Schmerz und Vorwurf trug sie standhaft und schließlich schier gelassen wie jene Märtyrer, die auch zusammenzuckten, als der erste Stein sie traf, aber für die spätern hatten sie nur mehr ein Lächeln.

*

An einem hellen Mainachmittag kehrte Anna mit Heinrich und dem Estherlein aus Zollikon zurück, wo Bruder Rudolf seit einiger Zeit im neu erworbenen Pfarrhaus der Gemeinde wohnte. Sie nahmen nicht den gewöhnlichen Weg dem See entlang, sondern den vielgestaltigen über den Berg, der sich mit schmalen, dunkeln Tobeln und sehr hellen Hügeln zwischen die feste Stadt und das Dörfchen drängte. Oben auf der Höhe hielten sie Rast. Anna fühlte sich vom steilen Weg, den sie in raschem Anstieg, Hand in Hand wie drei fröhliche Kinder genommen, ermüdet. Sie setzte sich unter einen der weißüberschäumten Birnbäume, während die andern durch die goldig gesprenkelten Wiesen hin den Blumen folgten.

Gedankenvoll blickte sie den beiden nach, wie sie, ihrer Anweisung gemäß, mit sorgfältig hochgehobenen Füßen, Sumpfvögeln gleich, durch das blumige Gras stiegen, erst nach verschiedenen Richtungen, dann aber auf sich nähernden Pfaden, bis sie sich schließlich mitten in der goldenen Wiese fanden und ihre gelben Ranunkelsträuße lachend aneinander maßen.

Anna nickte: Ja, so war es gekommen, ganz, wie sie es gehofft hatte; die gesonderten Wege hatten sich gefunden, und nun band sie bereits die junge gute Freundschaft aneinander. Verschieden waren sie ja auch heute noch, und neben dem blühend hellen Estherlein sah der Bruder immer noch zart und schmalbrüstig genug aus; aber die Haltung war doch kräftiger als früher, und dem schmalen Gesicht gab die gebräunte Haut ein gesunderes und männlicheres Ansehen. Jetzt eben, da er lachte und die Lippen über den weißen Zähnen fast rot erschienen, hatte er beinahe etwas Sorgloses. Anna betrachtete ihn zärtlich: die liebe braune Haut, die von Bergluft erzählte und viel Sonnenschein, die hatte er von der Exkursion mit Professor Scheuchzer zurückgebracht, dazu viel seltsamer Erlebnisse und einen hellern Blick und ein fröhlicheres Wesen. Es hatte zwar viel gebraucht, bis sie ihn zum Mitgehen gebracht; denn die abenteuerlichen, schier berüchtigten Bergfahrten des Gelehrten waren nicht nach des blassen Stubenhockers Sinn. Auch beim Vater hatte es der Überredung bedurft; aber schließlich hatte es sich doch geformt, daß er die Reise mitmachte. Erst widerwillig, dann mit immer größerem Anteil und schließlich mit einem heißen und wachen Eifer. Scheuchzer hatte es ihr selbst nachher erzählt: »Habt kein Kummer, mit dem Heinrich kommt's allweg gut. Ist wie ein Pflänzlein, so allzulang am Schatten gesteckt, allwo es weiße und ungesunde Keim getrieben; nun aber es Licht geschmeckt, sollt sehn, wie freundlich es gedeiht. Und wann er auch nicht Ruedis Feuergeist hat, ein Flämmlein ist doch in ihm, und zwar kein verflackerndes, wohl aber eins, das kräftig werden wird und stät, wenn man es von denen Stürmen bewahren kann, die kleine Feuer erlöschen und große zum gefährlichen Brand schüren.«

Heinrich selbst hatte nach seiner verschlossenen Art wenig davon erzählt; aber als sie ihn jüngst über seinen gesammelten Pflänzlein traf: »Weißt,« hatte er leise gesagt, »der Professor, der hat auch die große Liebe, daß er allenthalben Wunder sieht, die wahren göttlichen Wunder,« und dabei hatte es seltsam gezuckt in seinen Augen. Ja, der war nun in guten Händen und aus Pfaden, die von Tremulanten und Wucherern, von jeglichem unlautern und ungesunden Wesen so mächtig wegführten, daß keine Versuchung und keine Umkehr mehr zu fürchten war.

Mit erleichtertem Seufzer lehnte sich Anna an den kühlen Stamm zurück. Ihr war so dankbar zumute wie einem, der aus bangen Irrwegen den rechten Pfad erkennt, oder einem, der eine schwere Last von sich ablegen darf. Sie ließ sich den kleinen Wind über die etwas zu heiße Stirn streichen und sah mit einem stillen Wohlgefühl auf das sonnig gebreitete Land. Noch hatte die Maienpracht nicht ihre Höhe erreicht, Blust und Blumen steckten noch halb in Knospen, und die kleinen, schmächtig entfalteten Blättchen der Bäume warfen nur dünne Rieselschatten über den Weg, die ganze Welt war erfüllt von tausend kleinen Zierlichkeiten.

Anna lächelte: Der Frühling war recht wie ein Miniaturist, der mit zu kleinem Pinsel aus großer Fläche arbeitet, sodaß nun alles in lauter kleine Pünktlein aufgelöst erscheint, die ganze Welt in Millionen kleiner farbiger Pünktlein, weiß und grün und gelb, die lustig nebeneinander fürsprangen, wie Triller des Buchfinks oder wie die hüpfenden Töne jenes Mailieds, das die Kinder vor den Haustüren sangen am ersten des Monats, wann sie mit dem Maibaum herumzogen und den Städtern verkündeten, daß draußen vor den Mauern der Maien aufgestanden.

Ein Sonnenstrahl, der durch die leise bewegten Äste des Birnbaums herunterglitt, legte sich über Annas Gesicht. Sie schloß ein wenig die Augen und blickte unter den gesenkten Lidern hervor in die Ferne. Da zeigte sich ihr plötzlich eine seltsame Erscheinung: Zwischen den dunkeln, sonnenbestrichenen Wimpern hindurch sah sie die Welt wie in einen köstlichen saphirblauen Schleier gehüllt, märchenhaft und großartig. Es war, als ob der tiefe Himmel niedergesunken und alle Kleinlichkeiten der Welt in sich aufgenommen hätte. Die Zierlichkeiten waren verschwunden, das Unterschiedliche aufgelöst, alles wie umfaßt von einem mächtigen Willen, alles wie aus einen gewaltigen Grundton gestimmt, der tausend Töne zum Einklang brachte.

Es war wie eine Bezauberung; aber nur für einen kurzen Augenblick, dann glitt der Sonnenstrahl weiter, und Anna sah wieder klar. Aber dennoch, war nun nicht etwas von den blauen Schleiern hängen geblieben? Sie beugte sich vor und schaute aus weitgeöffneten Augen erstaunt, als ob sie die Welt zum ersten Mal erblickte. Daß der Ütliberg, der dort drüben über dem tiefblauen See ausstand, blau war an solch duftigen Tagen, fast so blau wie See und Himmel, das hatte sie früher wohl auch gesehn,' aber sonst, war ihr nicht eben noch die Welt bunt wie ein Maibaum erschienen mit harten lustigen Farben, weiß die Bäume und gelb und grün die Wiesen und grün der Wald dort drüben am Hang? Aber das Estherlein mit weißem Gesicht und roten Lippen und braunschwarz das dichte Haar, und so würde sie es auch gemalt haben, bunt und hell und aufgeklärt. Aber nun? Schwammen nicht die weißen Gipfel der Birnbäume mit blauen Lichtern im Himmel und lagen nicht blaue Schatten auf Estherleins schwarzem Haar und auf dem hellen Gesicht, das sie eben erhob, blaue Schatten, ganz leicht wie ein zarter Schmelz? Und drüben aus dem Wald und allenthalben, war es nicht, als ob ein seiner Hauch über allem lag, liebevoll alles Gegensätzliche verschmelzend, wie der Odem Gottes!

Sie mußte tief ausatmen. Die von den herben Wohlgerüchen der tausend Blütchen durchstäubte Luft ging ihr würzig in die Brust wie ein feiner Maitrank. Die Luft wie ein würziger Maitrank! Anna staunte wieder – hatte sie daran nie gedacht, daß das etwas war, die Lust, etwas, das man fühlen konnte, das uns die Brust wonnig füllte, und etwas, das man sah! Und was man sah, konnte man das nicht auch malen?

Sie sprang aus, ihr Herz zitterte wie unter der starken Freude einer plötzlichen Erkenntnis.

Die Lust, die weiche blaue oder die goldig durchsonnte oder die feuchte, silbrig durchwebte, sie war wie die Liebe Gottes, die Gegensätze verbindet und alles umhüllt wie mit zarten gütigen Händen. Aber ihre Malerei, war sie ihr nicht deshalb so kalt vorgekommen und liebelos, weil sie die Dinge nach der eignen Kenntnis und gleichsam nackt hingestellt? Wann man nun aber das malen konnte, was sie mit plötzlich geöffneten Augen sah, dann mußte alles anders werden: die Kunst kein bloßes Contrafet der Dinge, zu einer Offenbarung mußte sie alsdann werden, zu einem Symbolum jener Liebe, die alles vereint.

Worte des armen Giulio fuhren ihr durch den Sinn und wie er einst über Herrn Werner gespottet: »Wann Tiziano Engel malt, dann steigen sie aus dem Himmel nieder, mit blaugüldnem Gefieder aus dem blaugüldnen Schoß; aber Meister Werners Flügelknaben sind mit unsichtbaren Schnüren an Papierwolken ausgehängt.« Anna blickte in den Himmel. Engel? Gewiß keine rotbackigen Kinder mit Vogelflügeln; wie jene halbverflüchtigten Wölklein, die dort gen Abend zogen, müßten sie gebildet sein, aus blauen und rosigen Lichtern, zärtlich enttaucht der unendlichen Bläue und halb noch mit ihr verschmolzen.

Anna fuhr leise zusammen. Die beiden andern standen vor ihr, und das Estherlein lachte: »Als ob du Gesichte hättest, so siehst du aus!«

»Es war auch so etwas,« sagte Anna leise, und dann suchte sie ihnen davon zu erzählen mit noch unklaren und überstürzten Worten; aber das Estherlein begriff sie dennoch.

»O du,« rief es und fiel Anna um den Hals, »das ist gewiß grad eine Entdeckung; nun wirst du so etwas wie ein Columbus in der Malerei und dann wirst keine schäbigen kleinen Helglein mehr malen, aber etwas ganz Großes und Herrliches!«

Anna wehrte ihr; des Mädchens Überschwang beängstigte und ernüchterte sie. »Ach, was meinst,« sagte sie fast bekümmert, »da müßt man vor allem arbeiten, viel und lang, bevor etwas würde, ja – und dann ...«

Sie hielt plötzlich inne; das Estherlein hatte sie losgelassen und stand nun heiß vor ihr, und die blauen Augen sprühten: »Ja, und dann, dann wär' der Herr Liebste nicht zufrieden und der Eheherr erst recht nicht; denn der will doch nichts anders als aus der großen Malerin eine kleine Hausmutter machen!« Sie stampfte auf den Boden und ballte die Hände, daß die Blumenstengel knisternd zusammenquetschten. »Meinst, ich hab's nicht gesehn, wie du deine seinen Plan hast liegen lassen und hast wieder geringer Werk herfürgeholt und bist immer langweiliger geworden in deiner Arbeit, immer öder!«

Anna war blaß geworden: »Schäm dich,« sagte sie streng; »du weißt, ich will solches nicht hören, das verstehst du nicht.«

Aber die andere ließ sich nicht beirren: »Ich bin auch kein Kind mehr,« rief sie, »und so viel versteh' ich: Die einten und die meisten, die sind wohl gut für die Heirat! Das Enneli, wie der Spatz im Weizen sitzt das in der Eh'; aber der Rudolf? Aus einem geiststarken und feurigen Jüngling ist der ein breiter Pfarrherr geworden, daß man meinen sollt, das Feuer war' all abgetan und erstickt in lauter Zufriedenheit. Aber warum hat er sich alsdann ein neu Taubenhaus bauen lassen aus die alte Scheuer, mit einem rechten Gemächlein dahinter und einer inwendigen verborgenen Treppe, daß es die Bauern nicht gleich sehen, wenn der Herr Pfarrer halbe Tag dort oben verbringt mit seinem Viehzeug? Liebhaberei! So alt bin ich auch und so witzig, um zu merken, daß derlei nichts anders als schäbige Abläuf für die großen Leidenschaften. Ja, so: ein Ablauf für alles Große und Ungewöhnliche, das ist die Ehe, und darum passest du nicht dazu, Anna, und erst für den – den – tausendmal zu gut bist für ihn!«

»Estherlein!« Heinrich ergriff das Mädchen heftig bei der Hand, und da erst sah es, daß Anna ganz weiß war, mit merkwürdigen großen Augen. Es hielt erschrocken inne, und dann schossen ihm auch schon die Tränen hervor:

»Sei nicht bös, Anna,« sagte es kleinlaut, »ich hab' dich drum so lieb, und du reust mich so.«

Anna versuchte zu lächeln: »Geh, Kind, und sag nie mehr so etwas.«

Sie schickte die beiden um ein weniges voran, dann folgte sie ihnen. Das Gehen fiel ihr fast schwer, so müde war sie auf einmal. Ob die Welt da draußen in tausend bunten Zierlichkeiten glänzte oder in himmlischer Bläue schwamm, was bedeutete es ihr jetzt? Sie wußte nur das eine, daß des Estherleins wilde Worte einen Ton in ihr geweckt, der sündhaft war für eine, die den Bräutigam erwartete.

Aus den hellen Wiesen glitt nun der Weg in den Wald hinunter. Die grünen Schatten schlugen tiefatmend über ihnen zusammen. Anna blieb einen Augenblick stehen. Sie schloß die Augen und sog den moosigfeuchten Geruch ein. Waldduft, der war so voller Erinnerung; er mußte ihr den Geliebten an die Seite zaubern, daß sie selbander diesen verschwiegenen Pfad wandelten und sie ihm abbitten konnte.

Aber da geschah es ihr, daß sie sein Gesicht nicht zu finden vermochte. Giulios Züge stellten sich davor, und Lux' brennende Augen erschienen; aber sein Antlitz wollte sich nicht formen. Es war wie ein Bann: Aus kurze Momente sah sie seine Augen, sein Haar, sie hörte auch wohl den Ton seiner Stimme; aber dann war es wieder vorbei und floh vor den Gesichtern der andern und wollte sich nicht zum Ganzen fügen.

Anna erschrak. Solches war ihr in letzter Zeit etwa vorgekommen, daß sie seine Gegenwart nicht leicht gewann, aber noch nie so beklemmend wie jetzt. Sie dachte nach: Kam es vielleicht vom Frühling? Die fröhliche zwitschernde Jahreszeit glich ihrer großen Liebe wenig, die der reisen goldenen angehörte. Vielleicht war es das helle Buchengrün, das die Erinnerungen aus frühen und maienhaften Zeiten so mächtig heraufführte, daß sie die Gegenwart verdeckten. Aber hatte es in den andern Maien nicht auch Buchengrün gegeben, und war ihr da solches vorgekommen? Immer hatte der Geliebte neben ihr gestanden, so klar und so deutlich, nicht einmal zu rufen brauchte sie ihn. Aber das andere: Hatte er nicht in einer schlimmen Verzweiflung geschrieben in diesen Tagen: »So lange Trennung, es ist nicht gut. Die alten süßen Erinnerungen, schier zu Tod gedacht sind sie, so oft hat man sie durchgekostet, man hätte Neues erleben sollen. Ich hätt' Dich unter den Blütenbäumen haben mögen, nun welkt der Pracht ungenossen, und das will mir fast die Brust versprengen. Oft aber auch hab' ich ein plötzliche Angst, daß der allzu straff gespannt Bogen lahm werden könnt'. Doch will ich nicht daran glauben, solcher Gedanke ist wohl aus der Höll geboren.«

Ja, die lange Trennung. Und plötzlich fiel ihr bei: Das mit der Erkenntnis vorhin, das war vielleicht auch solch eine Versuchung der Hölle, daß sie einen Augenblick lang alles vergaß und von sich warf, wie in einer Berauschung, die mit ihm nichts zu tun hatte und mit ihrer Liebe.

So war es wohl: einen Augenblick hatte sie ihm nicht mehr gehört, und deshalb hatte sich das geliebte Gesicht ihr entzogen. Das war die Strafe. Sie atmete fast erleichtert auf. Und da sah sie ihn plötzlich wieder vor sich, wie er auf dem Mäuerchen gesessen, damals, als ihr zuerst seine Stimme zum Herzen ging; oh, so deutlich sah sie ihn, die Strähne fiel ihm in die Stirn, daß er fast knabenhaft schaute, aber die Augen waren dunkel, und um den Mund lag es herb, schier schmerzlich. Und nun hörte sie auch seine Stimme, ganz lieb und weich, und wie sie nun mit leisen Füßen über den weichen Waldboden schritt, fühlte sie da nicht seine Hand an der ihrigen mit zartem Druck, daß ein Schauer über sie ging und ihr Herz stockte?

Als sie die andern wieder erreichte, konnte sie dem geknickten Estherlein ohne Zwang zunicken, mit einem ruhigen, fast frohen Lächeln. Sie wußte wohl, das wilde Kind war nicht schuld an ihrem Schmerz, der Feind saß anderswo, und wann sie ihre Liebe ungekränkt lassen wollte und die Ruhe des Herzens wahren, dann mußte sie jene Stimmen fliehn, die das ander, das einstige Ziel ihres Lebens anriefen.

Indes konnte sie es nicht hindern, daß sie von diesem Tag an die Welt in einem neuen Lichte sah und daß ihr bislang auf das Kleine und Einzelne gehetztes Auge allenthalben in der Natur nach den großen Zusammenhängen suchte, nach den Geheimnissen des Lichtes und der Farbe. Und bisweilen, wann sie unter mildem Frühsommerhimmel die Welt in zarten und schmelzenden Tönen sah, silbern umdampft der Berg und die reifen Wiesen wie von blaßvioletter Seide überwogt, oder wann der Hochsommer Feld und Himmel mit goldigen Pinseln malte, dann kam sie etwan ein heißes Verlangen an, eine Gier fast, irgendwie dieser Betörung von Licht und Farbe und den seltsamen Gesichten Gestalt zu verleihen. Doch sie wies die Versuchung jeweilen von sich, standhaft aus der Kraft ihres sehnsüchtigen Herzens. Ihre Malerei aber hatte sie kurz nach jenem Maientag, sobald das schwarze Kästchen seinen Inhalt wieder besaß, endgültig beiseite gelegt. Sie hatte es mit trüben, doch unschmerzlichen Gefühlen getan, als ob sie ein lange Totes hätte begraben müssen. Denn das war ihr aus der neuen Erkenntnis klar geworden: Was sie in den letzten Jahren geschaffen, war keine lebendige Kunst mehr gewesen, bloß gewohnheitsmäßige Arbeit, die Hände allein hatten geschafft, derweil die Seele auf den Pfaden der Liebe Neuland eroberte. Und also hatte sie am unrühmlichen Ende mit den stolzen Planen ihres Lebens abgeschlossen, ohne Schmerz, denn die blutwarmen Wünsche des Herzens waren darüber hinausgewachsen.

Und diese letzte Wartezeit war nicht mehr qualvoll wie die frühern; denn vom sichern nahen Glück beschienen, ging sie schnell vorüber, wie in einer sanften Betäubung. Oft meinte Anna, daß die Welt ihr nur deshalb so neu vorkam und in diesem weichen aufgelösten Farbenprunk sich zeigte, weil in ihr selbst alles weich war und aufgelöst und voller Farben. Sie konnte träumen wie ganz junge Mädchen und konnte sich tausendfach und unter tausend bangen Wonnen die eine große Stunde des Wiedersehens ausmalen. Wann würde er wohl kommen? Würde sie es wissen, ganz genau, oder würde er sie überraschen? Und welches würde das erste Wort sein und wie der erste Blick? Alles in ihr war Erwartung.

Aber als sie eines Abends, da sie mit dem Ölkrug vom Keller heraufstieg, im dunkeln Gang unvermutet mit einem Manne zusammentraf, der mit stattlichen, fremden Umrissen vor dem flackernden Treppenlicht stand, und dieser sie mit des Liebsten Stimme anredete, erschrak sie dermaßen, daß ihr der Ölkrug aus den Händen glitt, und die andern, von dem Lärm herbeigerufen, fanden Anna mit ölübergossenen Händen und triefendem Kleide und mit dem erschreckten Ausruf: »Aber ums Himmels willen, Hans, trägst du nun eine Perücke?«

Da gab es ein allgemeines Gelächter, und so war denn das einzige eingetroffen, daran sie nie gedacht, das Wiedersehen war zum Lachen und von kleinen äußerlichen Verlegenheiten gepeinigt.

Auch das hatte sie nicht erwartet, daß man die erste Stunde unter munterm Geplauder am Familientisch verbringen würde und daß der Geliebte, aufgeräumt, ein wenig selbstzufrieden und mit viel amüsanten Worten von seinen Campener Erlebnissen, Kämpfen und Siegen erzählen würde, derweil sie still lauschend und nur von seinen Blicken ausgezeichnet unter den Schwestern saß. Aber daß aus dem schlanken, ein wenig knabenhaften Jüngling ein kräftiger Mann geworden und daß statt des schlichten natürlichen Haars mit der lieben, widerspenstigen Strähne über der Stirn ein stattlicher Lockenschwall das kräftigere Gesicht umgab, das war doch das Allerunerwartetste und gab ihr eine schier schmerzliche Überraschung. Was half es, daß Mutter und Schwestern sie nachher beglückwünschten, da Schlatter so männlich und schön geworden? Den Stich einer leisen Enttäuschung ließ dieser erste Abend doch zurück.

Aber am andern Tag, als sie zusammen in ihrer Malstube waren, allein, und sie seine heimliche Stimme wieder erkannte und seine zärtlichen Hände und man sich einen Augenblick wieder eins fühlte, ganz eins – ach, da war es so schön und so voller Glück, wie sie es sich schöner nie geträumt. Leider nur einen Augenblick; denn dann kam das Estherlein, und wenn es auch bei Schlatters Anblick betreten, erschreckt, nach einem kurzen trotzigen Gruß gleich wieder davonstob – nachher war es doch nimmer dasselbe. Des Mädchens unfreundliche Art hatte den Geliebten wohl verletzt, daß er einsilbig blieb und zerstreut und den alten innigen Ton nicht mehr fand, und dann mußte man zu den Eltern und hatte wichtige Dinge zu bereden.

Auch ein nächstes Mal war wohl wieder das Estherlein schuld daran, daß ein Schatten in ihr Zusammensein fiel. Am frühen Morgen kam es herangestürmt und suchte Anna in ihrem Zimmer auf: »Du, meine Bücher möcht' ich nun zurück und meine Arbeiten, dahier hab' ich doch nichts mehr zu schaffen!«

Anna suchte ihr den schlimmen Trotz auszureden und sie zu besänftigen; aber noch ehe sie zu Ende gekommen, vernahm man Schlatters Tritt auf den Stiegen. Da war das Mädchen auch schon davon, und Anna hörte, daß die beiden unten auf der Treppe zusammentrafen und wie das Estherlein nach einem kurzen, seltsamen Gespräch, das ihr unverständlich blieb, weiterstürmte. Aber als Hans oben ankam, hatte er ein gerötetes Gesicht und schmale flimmernde Augen: »Sieh, was sie gekonnt hat, die kleine Hexe!« rief er und hielt Anna mit ärgerlichem, zu lautem Lachen einen blutigen Finger entgegen. »Ich wollt' sie auffangen, wie sie die Treppe herunterrannte, zum Scherz bloß, da hat sie mich gebissen, die Katze – die Katze!«

Anna erschrak, mehr über des Liebsten verändertes erbostes Wesen als über die kleine Verletzung. Sie zog ihn herzlich neben sich auf die Truhe und versuchte unter liebevollen, fast mütterlich zärtlichen Worten den Finger wieder in Ordnung zu bringen. Aber plötzlich entriß er ihr die Hand. »Laß das,« rief er mit unterdrückter Stimme, »ich mag das nicht, das weiche und bemutternde Tun; ich bin kein Bub nicht und du nicht meine Mutter, wohl aber mein Liebchen, du!« Und plötzlich riß er sie an sich, zog sie auf seinen Schoß und warf die ganze Flut einer rücksichtslosen Zärtlichkeit über sie. Anna war wie betäubt. Als eine Wehrlose ließ sie den Sturm über sich ergehen, zuerst wie etwas Banges, schier Süßes, dann aber wie etwas Furchtbares, und als sie sich endlich loswinden konnte, war ihr wie einer Gepeinigten.

Sie wich hinter den Maltisch zurück mit bebenden Gliedern. »Nie, nie mehr,« klagte sie, während sie den Geliebten aus großen fremden Augen anstarrte. »Oh, das war schlimm, das war entsetzlich, als ob ein Fremder mich geküßt hätte, nicht du!«

Auch Schlatter war aufgestanden. Er wandte sich dem Fenster zu und klopfte mit erregten Fingern gegen die Scheibchen. Sie sah, daß auch er zitterte. Da traten ihr die Tränen in die Augen: »Hans,« bat sie leise, »tu's nicht mehr, sei wieder wie früher; früher, da warst auch nimmer so wild.«

Der andere wandte sich brüsk nach ihr um: »Früher,« rief er mit einem kurzen, unnatürlichen Lachen, »früher, wohl, da war ich ein elender Junge, müd und abgehetzt von einem rauhen Leben, da sehnte ich mich wohl nach kühlen mütterlichen Händen! Aber jetzt, jetzt bin ich ein Mann, und die langverhaltene Sehnsucht ist wie ein Strom in mir und Gewitter, das hinaus muß, wenn ich nicht bersten soll!«

Und dann fand er Worte, viele und heiße Worte über die Sehnsucht und Nöte seines liebesehren Herzens, die Anna zwar nicht glücklich machten, die ihr aber ein Verständnis gaben, darin sie Verzeihung fand und eine gewisse Beruhigung.

Aber die Erinnerung an seine wilde Zärtlichkeit blieb doch als etwas Schreckhaftes zurück, und das Bewußtsein, daß sie einander nie fremder gewesen als in jenen Augenblicken der Leidenschaft, war das Schreckhafteste daran und warf auch über die folgenden Tage, die doch ein ruhigeres und innigeres Einverständnis brachten, einen fremden und betrüblichen Schein. Manches an Schlatter kam ihr jetzt verändert vor und neu, und oft war ihr, als ob sie neben dem alten Geliebten, der jahrelang ihre Seele erfüllt hatte, noch einen neuen müßte lieben lernen, und das war beängstigend und schmerzhaft und störte den stillen Frohmut und verscheuchte manche Nacht den Schlaf von ihrem Lager.

Auch daß das Estherlein sich mit Hans nicht versöhnen wollte, schmerzte sie; es war kläglich, die Zweiheit der beiden geliebten Menschen zu sehen, und dann erschien ihr oft in besonders bangen Stunden des Mädchens Abneigung wie ein böses Omen. Deshalb trachtete sie emsig darnach, eine gute, ehrliche Versöhnung herbeizuführen, und als sie eines Tages, aus der Stadt zurückkehrend, zu ihrer Überraschung die beiden allein in ihrer Malstube traf und sah, daß sie wie grollende Kinder abgewandt und mit roten Köpfen an den zwei Fenstern standen, suchte sie die Sache mit einem muntern Griff zu Ende zu führen. Sie zog die Unversöhnlichen, die sich ihr gleichzeitig zuwandten, bei den Händen herbei und versuchte, sie mit der fröhlichen Aufforderung: »So, nun gebt euch einen tapfern Versöhnungskuß:« aneinander zu bringen.

Aber Schlatter riß sich mit einer zornigen Bewegung von ihr los. »Mach keinen Unsinn!« rief er ungeduldig, während seine Brauen sich schwarz zusammenzogen. Das Estherlein aber warf einen wilden, fast grünen Blick nach ihm hinüber, während das heiße Rot ihm vom Gesicht über den weißen Hals hinunterschoß. Dann stürzte sie mit solcher Heftigkeit davon, daß man nach wenigen Augenblicken schon das Zufallen der schweren Haustüre vernahm.

Schlatter hatte das eine Fenster aufgerissen und sah nun in die Straße hinunter dem Mädchen nach, das mit raschen Füßen durch die steile Napfgasse entfloh.

Als das letzte Endchen von Estherleins bauschigem, blaßfarbenem Gewand oben an der Ecke des Hauses zum blauen Himmel verschwunden war, wandte er sich zu Anna zurück. Sein Gesicht war wieder ruhig, und seine Stimme tönte fast weich, als er zu ihr sprach: »Es gleicht dir, das Estherlein, merkwürdig, wie es dir gleicht, fast so mußt du ausgesehen haben, als du jung warst – so jung wie sie. Nur herber ist sie und heißer mit den schwarzen Haaren und dem aufreizenden blauen Blick. Und dann die Hände, braun und schlank mit eigensinnigen Fingern und kurzen Nägeln, die Füß aber kurz und bodenfest mit starken trutzigen Hacken.«

Anna lachte überrascht: »Sieh einer, wie scharfäugig die Abneigung macht!«

Doch der andere ließ sich nicht beirren: »Aber deine Füße, Anna, schmal und hochgeschwungen, als ob sie jeden Augenblick den Boden fliehen und aufschweben möchten, und die Hände weich, weiß und schmiegsam und so gut.«

Er griff nach ihrer Rechten, und während er sich mit Anna auf der Truhe niederließ, streichelte er die weißen Finger behutsam und ehrfürchtig.

»Weiht du, in sie hab' ich mich wohl zuerst verliebt, ganz zuerst,« sagte er mit einem innigen, fast wehmütigen Ton. »Ganz zuerst in diese weißen, sanften Hände.« Und während er unablässig und zart darüber strich, legte Anna den Kopf an die Wand zurück, mit geschlossenen Augen und ließ seine sanfte Zärtlichkeit wie etwas Süßes, Wehmütiges, unsäglich Beglückendes über sich hinströmen.

So saßen sie lange, regungslos und ohne ein Wort zu sprechen. Dann legte er ihre Hände in ihren Schoß zurück, ganz zart, wie eine Mutter das besänftigte Kindlein in die Wiege legt, und erhob sich.

»Willst du mir nicht einmal etwas von deiner Malerei zeigen, Anna?« Er hatte immer noch dieselbe stille Stimme.

»Was ist wohl aus denen Entwürfen geworden, die du mir früher einmal gezeigt? Es war wohl etwas Seltsames, vom Tod oder so, aber gewiß voll Bedeutung.«

Anna sah ihn erstaunt an: »Aber, Schatz, die Entwürf – sie auszugeben hab' ich dir ja versprechen müssen, und so tat ich auch.«

»So, so!« Er strich sich über die Stirn: »So ernst war's doch wohl nicht gemeint.«

Anna sprang auf, ihr Gesicht färbte sich. »Nicht, nicht ernst gemeint? Und ist mir doch nicht gar leicht gefallen, glaub's nur!«

»Ich glaub's,« antwortete er nachdenklich, »nicht leicht gefallen, ich glaub's, das war wohl auch eins von denen Opfern, die du mir gebracht.«

»Opfer?« Anna sah ihn erstaunt an. »Davon redet man doch nicht, wann man sich liebhat.«

Aber der andere schüttelte den Kopf schier eigensinnig: »Ja, ja, Opfer, und wie viele! Das mit Paris, wann ich nicht gekommen wär', eine große Meisterin wärst wohl jetzo, von Königen belobt, und dann das lang Warten und das Ungewisse und all's, und weißt, das kommt nicht umsonst, die Schatten unter den Augen und die schmalen Wangen und die müde Stirn.«

Anna wollte ihm wehren und seinen Worten; aber er fuhr unbeirrt fort in einem selbstquälerischen und harten Ton: »Allweg gewiß, mir fällt das zu; aber weißt, man sollt' keine Opfer bringen, nichts Gutes kommt da heraus, nimmer nichts Gutes. Und grad hier drücken sie auf mich wie eine Last. Meinst, ich seh' es nicht? Der Vater und Heinrich, als einen Räuber sehn die mich an, der ihnen das Best nimmt. Wenn du wüßtest, wie mich das wurmt. Und dann die Leut: ›Unsere Malerin nehmt Ihr uns weg! Das ist nicht recht von Euch, und habt ihr Sorg, so eine gibt's nicht eine Zweite!‹ Herrgott, daß ich es aushalten soll in dem engen Nest und in der engen Stube da mit der Opferluft!«

Er stieß einen Stuhl, der ihm zwischen die Finger geraten, mit Ungestüm von sich und schritt erregt im Zimmer auf und ab.

Anna sah ihn erschreckt an; aber dann kam es wie ein Mitleid über sie, und sie suchte ihn zu beschwichtigen, daß dies doch alles Redensarten seien und dumm Geschwätz, daß die Leute sie ja nichts angingen, sondern allein ihre Liebe, mit der sie so bald schon, in dreien Wochen schon, entfliehen konnten aus all der Enge. Aber das Haus und die Stube, wann es ihn bedrückte, auch jetzt schon wollten sie hinaus, einmal in die liebe Gotteswelt hinaus, wie damals in Regensberg, da sie so glücklich gewesen. Und sie schlug ihm vor, am andern Tag, da ja der zwanzigste des Monats sei und also des Bruders Hochzeits- und ihr eigner Glückstag, selbander nach Zollikon hinauszugehen. Oh, wie schön das sein mußte, allein in der schönen Welt und einmal einen ganzen Tag draußen, vom Morgen bis zur Betzeitstunde, und wie gut das seinem erregten und erhitzten Gemüt tun mußte!

Er stimmte bei: »Ja, ja, das wird gut tun!« und ward plötzlich wieder ruhiger und heller und versprach, sie morgen außerhalb des Lindentors zu erwarten, damit die Leute kein unnützes Geschwätz anstellten, wann sie zwei so allein übers Feld ziehen sahen.

Als Anna andern Tags unter dem hochgelegenen wuchtig getürmten Lindentor hervortrat und ihr der dunstige Septembermorgen mit einer breiten Helligkeit entgegenwallte, mußte sie stillstehen, so feierlich und groß dünkte sie dieser Augenblick, da sie gleichsam auf der Scheide zwischen Vergangenheit und Zukunft stand; denn war dieser kleine Ausflug nicht das Vorspiel des großen, der sie dem neuen Leben zuführte? Und lag dieses Leben nicht ebenso hell vor ihr wie der Morgen, der hinter dünnen Schleiern soviel verheißungsvollen Glanz und duftige Bläue barg? Ja, nun kam es, nun kam es, und dort unten, wo die großen Linden standen – sie trugen allbereits viel Herbstlaub auf breiten Ästen – dort harrte ihrer der Geliebte. Schnellen Fußes wollte sie hinuntereilen über die Grabenbrücke dem engen Hottinger Pförtchen zu, das den Weg durch den Schanzenwall ins Freie führte; aber da schaute sie der Totenhof an, der mit seinen stillen Kreuzen dem Lindengraben anlag, und es war wie ein Mahnen und Aufforderung, auch der Vergangenheit ihr Recht zu geben an solchem Glückstag.

Sie wandte sich zur Rechten, öffnete die Gittertüre und ging mit gedämpften Schritten durch einförmige Reihen dorthin, wo drei erinnerungsreiche, liebe Gräber nahe beisammen lagen. Wehmütig grüßte sie die blumengeschmückten der beiden armen Jünglinge, die das Leben so grausam um das höchste Glück betrogen hatte; aber beim Onkel Fähndrich verweilte sie länger. Sie pflückte gedankenvoll ein paar welke Blätter von dem Rosenstrauch, der zwischen festen Buchsbüschen ein paar helle verspätete Blüten trieb. Dann strich sie leise liebkosend über den rauhen Stein. Da waren nun schon viele Gräber, die ein Teil ihrer Vergangenheit verschlungen – Giulio und Andreas Morell und nun auch Joseph Werner, der nach enttäuschungsreichem Lebensabend in ungeliebter Erde lag – soviel warme Erinnerungen hatten sie mitgenommen – aber keins, in das ein so breites Stück ihres eigensten Lebens versunken war, wie in dieses schlichte Grab. Und ihre Gedanken gingen wieder zu dem einsamen Manne mit dem großen heißen Herzen, und der sie so tief verstanden hatte.

Es war immer wie eine Andacht, wann sie mit diesen Erinnerungen geheime Zwiesprache hielt, und ein Abglanz davon lag noch auf ihrem stillen Gesicht, als sie später weiter unten mit dem Geliebten zusammentraf.

»Ich habe gewartet,« sagte Schlatter ein wenig ungeduldig.

»Ich war noch auf den Gräbern,« entschuldigte sie sich; »es war mir, daß ich nicht vorbei konnte, ohne sie zu grüßen. Grad wann das Glück zu einem kommt, soll man ihrer am mindsten vergessen.«

Er lächelte ein wenig bitter: »Das ist edel, viel edel – aber die Lebenden warten lassen um der Toten willen? Hast wohl nie daran gedacht, daß man auch zu edel sein kann, Anna? So edel, daß es den andern schier erstickt!«

Sie sah ihn betroffen an: »Nein, Hans, daran hab' ich nie gedacht; ich hab' auch jetzt nicht vermeint, edel zu sein, ich tat einfach, wornach mich verlangte.« Dann schwiegen sie beide und folgten wortlos dem Weg, der heiter und voller Anmut zwischen dem hellen See und dem schwachübergoldeten Berg in die Ferne ging.

Später hub Schlatter von der nächsten Zukunft zu reden an mit viel Sachlichkeit und einigem Eifer, von der Hochzeit und der Reise und wie sie sich einrichten wollten drunten im schöntorigen Campen und was für Menschen Anna dort finden würde in der vergnügten und witzreichen Stadt und was für Verhältnisse. Sie hörte zu. Es war wohl nötig und auch wichtig, daß man von diesen Dingen redete; aber eigentlich – solches konnte man zwischen den vier Wänden auch sehr wohl tun, und war es nicht schade um den glänzenden Herbsttag und die süße Einsamkeit zwischen rotverbrämten Weißdornhecken und blonden Weinstöcken und dem hellen Blick in die zitternde Ferne, daß man von diesen äußern und gewöhnlichen Dingen redete?

Einmal blieb Anna auf einer kleinen Anhöhe stehen, wo das Auge weit über den silbrig umsponnenen See nach den hochgerückten Höhen der fernen Alpen ging, die wie durchsichtig in den zarten Himmel verschwebten.

»Das ist der September,« sagte sie innig; »weißt du noch, Hans, damalen, wie du mir seine feine Art priesest und ich dich nicht verstehen konnt' und vermeinte, der rotgüldne Oktober mit seinem Glanz und Pracht und Todesjubel sei mir lieber, und scheint mir doch heute auch nichts schöner als diese zarten, wehmütigen Tage mit ihrem Abschiedslächeln und Glückverheißen.«

Da warf Schlatter den Kopf wild zurück und streckte die Arme aus mit einer seltsamen Gebärde, als ob er irgend etwas hätte umfassen wollen, das weg war, weit weg: »Mir aber ist heut der rotgüldne heiße Tag tausendmal lieber als all die milde kühle verheißende Stille!«

Anna sah ihn verwundert an, und es wurde ihr traurig ums Herz, sie wußte nicht recht warum. Dann schwiegen sie wieder beide.

Der Weg führte sie in einen kleinen Birkenforst, der, schon ganz im gelben herbstlichen Gewand, von der kräftigern Sonne mit einem betörenden Schwall goldenen Lichtes erfüllt wurde. Anna lächelte: »Da hast du ihn ja, deinen goldigen heißen Tag!« Aber Schlatter sah sie fremd an, als ob er sie nicht begriffe, und schritt stumm weiter, mit gesenktem Kopf, wie wenn alle Pracht ihn nichts anginge.

Und der Weg schlüpfte aus dem gelben Birkenhain in einen dunkeln, tief verhängten Tannenwald und wurde so schmal, daß man hintereinander gehen mußte. Anna ließ Schlatter voran und folgte ihm mit weiten, traurigen Augen; versunken und wie abwesend schritt er durch all die stille Heimlichkeit. Ja, fühlte er denn nicht die Verlockung dieser innigen Pfade und fühlte er denn nicht, wie sie sich nach ihm sehnte, nach einem lieben Wort, nach einem warmen Blick, der ihr gesagt hätte, daß sie eins waren? Oder waren sie es nicht mehr? Was war das, daß sie nebeneinander gehen konnten und doch zweierlei denken und zweierlei sehen, und hätte sie es je geglaubt, daß man so hingehen konnte, selbander und doch mit diesem schweren, schweren Herzen ...

Als der Wald zu Ende war und die weithin sichtbare Straße sie wieder aufnahm, ging auch Anna mit gebeugtem Kopf und ohne der Schönheit und des freudigen Lebens rings zu achten.

Plötzlich fuhr Schlatter auf, als ob er aus einem Traum erwachte: »Wie gehst du auch dahin,« rief er schier ärgerlich, »als ob es einem Leichgang gälte! Sind wir denn nicht zwei Liebesleute, so sich freuen sollten?« Und er versuchte, sie an sich zu ziehen.

»Nicht hier, Hans, nicht an der gemeinen offenen Straße!« Anna wehrte ihm. Da wurde er eigensinnig:

»Was geht's mich an, die Leut, wann ich mein Liebchen küssen will?« und zog sie mit heftigen Händen in den Schatten eines Holderbaums, der breitästig am Wege stand, und preßte sie an sich mit einer hastigen Glut. Anna ließ es geschehen, ohne sich zu wehren, aber auch ohne die Zärtlichkeiten zu erwidern; denn ihr Herz, das vorhin noch so innig nach seiner Liebe verlangt hatte, zog sich unter diesen heißen, herrischen Liebkosungen fröstelnd zusammen.

»Siehst du, wie kalt du bist!« Er ließ enttäuscht die Arme sinken und trat einen Schritt zurück: »Wie ein Steinbild kalt!« Und dann kam ein unschöner Zug in sein erhitztes Gesicht, derweil er sie mit scharfen Augen maß: »Was ist es mit dir, daß du dich so verändert hast?«

Anna sah ihn nur groß an; aber er fuhr heftiger fort, mit einer ungeduldigen Gebärde und redete sich in Eifer wie durch Widerspruch gereizt: »Wohl, wohl hast du dich verändert, früher warst du beides, heißer und trutziger, nun ist alles weich in dir geworden, aber auch das Feuer ist dahin. Schon selbigsmal hab' ich's gefühlt, da du mir's schriebst wegen Heinrich: Wann die Liebe so in ihr wär', hätt' sie's nimmer gekonnt, aus Edelmut mich opfern, so hab' ich mir gesagt, hundertmal des Tags, wann die Leidenschaft in mir brannte und der Zorn – sie weiß nicht, was Liebe ist, sie weiß nicht, was Liebe ist!«

Er brach ab. Seine Stimme war plötzlich unsicher geworden, Anna stand groß vor ihm. Sie regte sich nicht, nur die Hände glitten in einer unsäglich wehen Bewegung am Körper nieder, sie schimmerten von krankhafter Blässe. Und in ihren Augen lag etwas, das er früher nie an diesem klaren Blick gesehen, schmerzhaft und unergründlich und so, daß es alle seine eifrigen Worte Lügen strafte.

Da stürzte er vor ihr nieder und barg sein Gesicht in ihren Kleidern und stöhnte: »Anna, Anna, eine Heilige bist du, ich aber bin schlecht, so schlecht!« und sprang auf und eilte davon mit der Straße über das offene Feld.

Anna aber folgte ihm müden Fußes, wie eine, die sich mit Wunden schleppt.

Auf der Straße kam er ihr wie demütig entgegen: »Verzeih,« sagte er leise und zog ihren Arm mit einer zarten Bewegung durch den seinen und behielt ihre Hand mit einem innigen Druck: »Schau, das ist nun so in mir, wirr und aufgeregt und voller Widerspruch: aber wann wir einmal beisammen sind und alles sicher und abgeschlossen, dann wird's wohl anders werden.«

Und nach einer Weile: »Das denk' ich mir schön, in deinen Armen sterben, in deinen milden, guten Armen möcht' ich einmal sterben.« Aber da Anna ihn fragend und schmerzlich anblickte, suchte er sich zu erklären: »Derlei Gedanken, der Hans Schmid, der Wollishofer, hat mich daraufgebracht. Voriges Jahr, da er vor Mons auf die Brust blessiert ward und man ihn für einen Toten gehalten: ›Alles macht nichts,‹ hat er mir nachher gesagt, ›Schmerzen vergehn und Wunden heilen, und auch die lang Nacht auf dem Schlachtfeld, da man als ein Halbtoter zwischen Toten lag und einem das fremd Blut am eignen Leib harschte, all's vergißt man; aber daß man nun weiß, wie einem zumut ist, der sterben muß, ohne eine liebe Hand, die ihn pflegt und die ihm letzte Kühlung gibt und letzte Wärme – das könnt' einem doch schier das Leben verleiden!‹ Da ich ihn aber aufmuntern gewollt, solches könnt' er wohl noch finden, eine liebe Hand, hat er mich nur so angeschaut: ›Ja, du kannst reden, du bist allweg frei von derlei Nöten!‹ und hat sich dann abgewandt und eins gepfiffen.« Schlatter versuchte zu lächeln: »Weißt, er hat es noch nicht verwunden, der denkt immer noch an dich, es hat ihm bös zugesetzt selbigs Mal.«

Anna wußte, daß Hans derlei nicht gern sagte und daß er es jetzt tat, um sich zu strafen; aber es berührte sie kaum. Sie sah stumm vor sich hin. Alles in ihr war unklar und weh, und wie nun das Pfarrhaus vor ihnen auftauchte und über dem schwarzen mächtigen Dach der Scheuer das neue Taubenhaus erglänzte, hell und lustig umflattert und alles mit soviel Traulichkeit, fühlte sie schmerzhaft, wie sie beide unnatürlich durch die sonnige Welt gingen, mit gequälten Herzen, und vom Sterben redeten.

Aber unter der Türe des langen, wohlig gelagerten Pfarrhauses kam ihnen das frohe Leben entgegen: Enneli mit den beiden Kindern und neben ihr im hellen Sommerkleid das Estherlein.

Anna erschrak, als sie das Mädchen hier fand, und sie fühlte, wie auch Schlatter bei seinem Anblick leise zusammenfuhr. Es sah auffallend weiß aus und älter als sonst – oder kam es nur daher, daß es neben der kleinen und rotwangigen Pfarrerin stand? Es hielt auch den Kopf so hoch mit unmutig aufeinander gepreßten Lippen und machte verschattete, grünliche Augen. Aber Enneli brachte die Sache ins Gleis, erzählte lachend, daß ihr das Jüngferlein gestern unerwartet ins Haus geflogen sei, wie so ein verscheuchter Vogel, und daß es ein wenig hier zu bleiben vorhabe. Eben jetzt hätte es zum See hinuntergehen und nach dem Casparli sehen wollen, dem Fischerbuben, ob er was gefangen fürs Essen, und da sie noch grad in der Küche zu tun habe und sie dabei nichts anderes, weder Hilfe noch Unterhaltung brauchen könne, wäre es ihr wohlanständig, wann sie das Mädchen begleiten wollten.

So stiegen sie denn selbdritt den steilen Pfad hinunter nach dem See, und Anna fiel es auf, daß Schlatter plötzlich lebendiger wurde, fast fröhlich, und einmal hörte sie sogar das helle Jungenlachen an ihm, das sie lange nicht mehr vernommen hatte; aber es schnitt ihr seltsam ins Herz, sie wußte selbst nicht, warum. Das Estherlein jedoch blieb stumm und steif, und nur die schwarzen Locken tänzelten um sein Gesicht wie aufgeweckte Schlänglein.

Als sie unten anlangten, besichtigte es den Fischkorb. »Du hast wenig gefangen,« herrschte es den Buben an; »aber kein Wunder, wenn man so faul am flachen Ufer hockt! Dort hinaus solltest stehen, wenn was Rechts an die Angel kriegen willst!« Und es wies auf einen schmalen, altersgrauen Steg, der etwas weiter unten in den See hinausgebaut war und einen langen, freischwebenden Balken über das Wasser streckte.

Der Bub zog den Mund in die Breite: »Versucht Ihr's, Jungfer, selb ist morsch und alt und die Stütze abgefault, das trägt keine Ente mehr; aber wenn Ihr mir's vormacht, dann kann's mir gleich sein.«

»Gut!« Das Mädchen warf den Kopf in den Nacken und schritt nach dem Steg hinüber. Aber Anna hielt sie fest: »Du wirst doch nicht,« rief sie erzürnt, »das ist kindisch, hörst!«

Da wandte sich das Estherlein nach ihr um und sah sie groß an mit einem eigentümlichen, schier überlegenen Lächeln. »Kindisch? So habt ihr mich immer genannt!« Und warf den Kopf abermals zurück und schoß einen schillernden Blick nach Schlatter hinüber.

Der aber stand da mit ganz schmalen weißen Augen, das Kinn vorgeschoben mit einem fremden, grausamen Zug. Anna erschrak, so hatte sie ihren Liebsten noch nie gesehen – und über dem Anblick vergaß sie einen Augenblick das Mädchen, und als sie sich wieder nach ihm umsah, stand es schon mitten auf dem Steg.

Es wandte den Kopf nach ihnen zurück und lachte ein kurzes, übermütiges Lachen; dann schritt es langsam weiter auf den schmalen Balken hinaus, hoch aufgerichtet und mit ausgebreiteten Armen, wie ein Seiltänzer. Und Anna sah ihm nach, wie gebannt, und fühlte das Herz im Hals, daß sie weder sich regen noch einen Laut von sich geben konnte, und stand immer noch so da, als das Estherlein schon lautlos im Wasser verschwunden war und Schlatter, der fast gleichzeitig mit ihr in den See gestürzt, mit größter Anstrengung den leblosen Körper zum Ufer zwang. Und erst als das Mädchen schon neben ihr im Grase lag, schneeweiß und mit geschlossenen Augen, fand sie Bewußtsein und Willen wieder, daß sie neben ihm niederknien konnte und nach dem Herzschlag forschen, den sie auch alsobald mit unbeschreiblicher Freude in zarten, aber bestimmten Takten wahrnahm.

Aber im gleichen Augenblick riß Schlatter mit einem kalten Griff ihre Hände von dem Estherlein los. »Laß das!« rief er heiser, und dann warf er sich neben die Regungslose hin und zog das weiße Gesicht in seine Arme: »Du, du, Liebstes, Liebstes! Sterben wollen hast du für mich! Aber nun ist es vorbei, nun können wir nicht mehr, nun gehören wir zusammen, ganz und für immer! Hörst? Hörst? Ganz und für immer!«

Und Anna sah, wie er jene wilde Zärtlichkeit, die ihr so schreckhaft gewesen, über die andere ausströmte und wie diese, erwachend, mit einem heißen Jubel in dem Strom untertauchte – und dann zogen auf einmal kleine graue Wellen über die Ebene – tausend kleine graue Wellen und drangen nach ihrem Herzen und schlugen über ihr zusammen; aber sie ging nicht unter in den tausend grauen Wellen, und als diese zurückgeebbt waren, stand sie immer noch da, halb gestützt von den Zweigen eines Uferbusches, und die blutenden Hände voll zerrissenen Buschwerks. Aber die beiden hielten sich immer noch in den Armen; die triefenden Kleider vermischten sich, und die Augen lagen ineinander und feierten jenes höchste Fest, das auch sie einst gekannt und davon sie geträumt hatte, jahrelang.

Sie wandte sich und floh, landeinwärts, über die erloschene Flur, auf Pfaden, die so weich waren, daß der Fuß bei jedem Schritt einzusinken vermeinte, vorwärts, vorwärts, durch die unendliche tote Welt – wohin?

Ein Wagen holte sie ein. Rudolf sprang heraus und half ihr in das schlichte Gefährt. »Ich muß in die Stadt zu Dietschis um trockene Kleider,« sagte er und zwang sich zu einem gleichgültigen Ton.

Anna setzte sich neben ihn, wortlos; es tat ihr fast wohl, die müden, müden Füße nicht mehr bewegen zu müssen. Er sah ihr voller Betrübnis in die Augen, und dann zog er sie plötzlich an sich, und sprangen ihm die Tränen hervor: »Schwesterlein, armes, armes du!« Und streichelte ihr die kranken Hände: »Es ist so furchtbar, aber sieh, es tut ihnen leid, wissen selbst nicht, wie es gekommen: das Estherlein weint und will ihn auf eins nimmer sehen und sagt, keinen Blick geb's ihm mehr, ehe du ihnen verziehen; aber der Hans, wie ein Verzweifelter redet der viel schlimmes, schier sündiges Zeug, er sei ein Unglücksmensch von allem Anfang an, den schon die Mutter hätt' mitnehmen sollen, damalen, als sie an ihm starb, und daß es das Best wär', wenn er es machte wie der Jacob Cramer... Sieh, die sind auch nicht glücklich, die zwei.«

Da legte Anna die Hände ineinander, ganz fest, und ihre müde Stimme tönte fast streng, als sie sprach: »Sie sollen aber glücklich werden, Bruder, da ist nichts zu verzeihen und nichts zu erklären, da hat ein anderer entschieden.«

Und Rudolf schloß sie in seine Arme und küßte sie andächtig auf die bleichen Wangen: »Du großes Herz!« Dann schwiegen sie beide.

Anna blickte vor sich auf den weißen Weg, der sich mählich zusammenzog unter den schnellen Rädern, und blickte aus die Stadt, die mit vielen grauen Türmen am Himmel herauswuchs, und da schoß es ihr durch den Sinn, daß sie schon einmal so neben dem Bruder durchs Land gefahren, an jenem kaltklaren Jännermorgen und hatte vermeint, daß es hinausginge in die große schöne Welt. Nun aber kehrte sie zurück mit gebrochenen Flügeln, zurück in die enge Stadt, die ihr mit schwarzgeöffneten Toren entgegengähnte, wie mit dem Nachen eines beutegierigen Tieres, und keinen gibt es mehr frei, den es einmal verschlang.

Als das Gefährt vor Dietschis anhielt, stieg Anna rasch aus, die weitere Begleitung ablehnend; aber während sie dem Bruder die Hand zum Abschied reichte, sagte sie in einer scheinbar ruhigen und sachlichen Art: »Der Esther kannst du sagen, was die Aussteuer betrifft, dafür ist dann gesorgt,« und wandte sich schnell und ging davon, ohne sich nach der heraustretenden Schwester umzusehen. Und keiner sah es, wie sie daheim ins Haus trat, keiner gewahrte es, wie sie mit todmüden Füßen sich die endlosen Treppen hinaufschleppte und wie sie in ihrem Malstübchen zusammenbrach ...

Elisabeths Meitlein verließen schon mit schlecht gedämpfter Fröhlichkeit die Nachmittagsschule, als Anna sich endlich aus ihrer dumpfen, tränenlosen Verzweiflung aufraffte. Mit verlorenen Augen sah sie sich in der verödeten Malstube um; da blieb ihr Blick an ihrem Jugendbildnis hangen, das mit seinen dicken und lebhaften Farben stattlich neben dem grünglänzenden Ofen hing. Und wie ihre heißen Augen den frischen, sicheren, schalkhaften des jungen Bildes begegneten, geschah es, daß plötzlich in ihrem gemarterten Hirn Gedanken aufsprangen, scharf und unerbittlich, wie sie solche seit langem umsonst gesucht, und ihr all ihr seltsames Leben, Ursprung, Zusammenhang und Notwendigkeit des leidvollen Endes in klares, unzweideutiges Licht setzten. Neue heiße Schmerzen fuhren ihr durch die Brust; aber sie fand doch in der schneidenden Klarheit einen Halt, daß sie auf sicheren Füßen das Zimmer durchschreiten konnte und daß ihre Finger nicht zitterten, als sie das schwere Bild von seinem Platze hob und es in einer dunkeln Ecke gegen die Wand stellte. Es war wie Vorsatz und Ruhe in ihren Bewegungen, als sie nun nach der Truhe ging und aus ihrem Schoß ein anderes Bildnis hervorholte, um es an der leeren Stelle anzubringen. Und da nun von der dunkeln Wand Giulios schmerzhaft unvollendetes Werk herniederblickte, atmete sie auf wie eine Erlöste und grüßte mit einem matten Lächeln die weichen, tränenfeuchten Augen und den schmerzlichen, unsicheren Mund: So war es nun, alle Verheißung Trug, und dieses arme Bild allein behielt recht; solches aber war Sinn und Ziel ihres Lebens, unvollendet, abgebrochen auf halbem Weg. Ihre Kunst hatte sie sterben lassen, ihre Liebe hatte man ihr getötet, alle Ganzheit war zerstört, mußte nun nicht auch der letzte elende Rest ihres Daseins zu Ende kommen? Wäre es sinnvoll und recht, daß nun der seelenlose Körper so hätte weiterleben müssen? Nein, sie fühlte es ja mit einer befreienden Sicherheit, daß es nun auch mit dem andern ein Ende haben mußte. Irgendwoher würde er kommen, der stille Erlöser, an dessen Erlöserkraft sie so fest glaubte, irgendwoher und sicher.

Ein Eifer kam über sie wie über einen, der sein Tagewerk noch vollenden will, ehe er sich zur Ruhe legt. Mit emsigen, fast leichten Schritten ging sie nach der kleinen Bodenkammer hinüber und holte Körbe herbei, einen nach dem andern, und dann öffnete sie den großen Wandschrank, schier hastig, daß die schweren Türen leise ächzten, und hob geschäftig das lastende Leinenzeug herunter, das sorgfältig geschichtet zwischen den dunkeln Brettern lag, und legte es behutsam in die weißen Körbe, und wann ihr der müde Lavendelduft und der Anblick so vieler inniger Arbeit mit überwältigenden Erinnerungen ins Herz stach, dann preßte sie das kühle Zeug heftig an die heiße Brust und ließ keinen einzigen Schmerzenslaut über die schmalen Lippen.

Als der Schrank leer war, legte sie das kleine schwarze Kästchen zu oberst auf den größten der Körbe, daß es auf dem weißen Linnen stand wie ein schwarzes Siegel auf einem Trauerbrief, und dabei fuhr es ihr durch den Kopf: Das, wann es nicht gewesen wär' mit dem Heinrich und seine Sehnsucht nicht also gemartert und abgespannt worden durch das Warten, leicht wäre es anders gekommen. Aber sie verscheuchte den Gedanken – Vorbei – vorbei ... Dann sank sie erschöpft in ihren Stuhl zurück und faltete die Hände und nickte nach den hohlen Augen des ausgeraubten Schrankes hinüber. Wie oft hatte sie diese Stunde herbeigesehnt, nun war es eine andere Reise, auf die sie wartete, und sie war bereit zum Aufbruch.

Da öffnete sich die Türe, und Heinrich trat herein. Mit verstörtem, umschattetem Gesicht, blasser noch als in jener schlimmen Nacht. Er sah sich erschrocken in dem durchstöberten Raum um; dann trat er zu Anna mit unsicheren und schier verlegenen Schritten: »Ich war in Zollikon,« sagte er tonlos, »um das Estherlein.«

Anna sah ihn voll an: »So weißt du es denn,« erwiderte sie still.

Er nickte, und plötzlich schlug er die Hände vors Gesicht und schluchzte auf: »Oh, ich hab' an sie geglaubt, so felsenfest, und nun konnte sie das tun, dir und mir, das Schändliche, das Abscheuliche!«

Aber Anna wehrte ihm: »Nicht so,« sagte sie sanft und zog ihm die Hände herunter. »Nicht anklagen, schau, sie haben sich gewehrt, keiner weiß es wie ich, wie sehr sie sich gewehrt haben; aber nun hat das Schicksal geredet, und, glaub mir, nie hat es zwei zusammengefügt, die inniger zueinander paßten.«

Heinrich sah die Schwester voller Staunen an, aus großen, wie von innen erleuchteten Augen: »So redest du, du, der sie alles genommen?« Und dann warf er sich vor ihr nieder und barg das Gesicht in ihrem Schoß und küßte ihre Hände: »Anna, nun weiß ich, daß es Heilige gibt und göttlich Wunder, so groß, in der Heiligen Schrift stehen keine größeren verzeichnet!«

Sie aber dachte daran, daß schon einmal an diesem endlosen Tage einer dermaßen vor ihr gekniet und sie eine Heilige genannt hatte, und ein Grauen schüttelte sie.

»Nein, nein,« rief sie erschreckt, »das redest du sündhaft, keine Heilige nicht, bloß ein armer, verwirrter Mensch, der sich vom rechten, vorgezeigten Wege verlor und also an einen Abgrund, an ein betrübt und falsch Ende geraten ist!«

Sie richtete den Bruder auf und erhob sich: »Nun müssen wir hinunter, es ihnen sagen, bevor es ein anderes mit häßlichen Worten fürbringt!« Und sie faßte Heinrich unter dem Arm und schritt mit ihm nach der Türe, und da dieser fragend auf die gefüllten Körbe deutete, lächelte sie ein wenig: »Für das Estherlein,« und verließ dann still das Zimmer.

Aber unten auf der zweiten Treppe mußte sie einen Augenblick anhalten, und ihre Hand zitterte auf des Bruders Arm. Da hatte es den Anfang genommen, das war die Stelle, wo die beiden sich zuerst umfangen, im Scherz noch und vermeintlichen Haß; aber dann war es gekommen, unaufhaltsam. Noch einmal zog sich die Brust zusammen im heftigsten Schmerz. Mußte sie nun über diese grausame Stelle gehen, jeden Tag, jeden Tag? Aber die tröstliche Gewißheit stand wieder auf, daß den Tagen ein Ende war und der stille Erlöser kommen mußte, irgendwoher und bald – und ruhigen Schrittes ging sie die Stufen hinunter, wie eine, die ihres Weges sicher ist.

Aber der Erlöser kam nicht. Wohl neigte sich der schwarze Vogel über sie, von dem Maria einst geredet, mit ungeheuren Schwingen, darunter der Atem vergehen wollte, und mit grausamen Krallen, darunter das Herz zu verbluten meinte, und die schlaflosen Nächte und langen trostlosen Tage ermatteten ihre Kraft, daß sie welkte wie eine Blume ohne Wasser; aber keine Krankheit kam aus den Qualen und zog sie trostreich in ihre löschenden Arme. Und als ein Fieber im stillen Hause Einkehr hielt, ging es an ihr vorüber und ergriff die zarte, schwer heimgesuchte Mutter und setzte Anna als Pflegerin ans Krankenbett. Und als die Mutter sich wieder erholte, da fiel es Anna auf, wie gebückt der Vater einherging und wie alt er geworden in der letzten Zeit, und es kam ihr zu Sinn, wie ihm mit neuen Würden immer neue Arbeiten auferlegt worden und daß er wohl der Hilfe bedurfte, und daraus verstand sie, daß ihre Zeit noch nicht gekommen war.

Viele Stunden des Tages saß sie nun in des Vaters Arbeitsstube und schrieb für ihn, ohne Trieb und ohne Freude, aber mit einem steten Fleiß, darin das gemarterte Herz nach und nach eine Ruhe fand, und wenn es auch keine schöne Ruhe war, sondern die stumpfe Stille des Totenhofes, es bedeutete doch einen Stillstand und ein Ausspannen, darin die entwurzelten Kräfte allgemach wieder einen Boden fanden.

Aber einmal im Frühjahr begab es sich, daß Elisabeth auf ein kurzes, ungefährliches Krankenlager kam und Anna an ihrer Statt vorübergehend die Schule übernehmen mußte. Fast erschrak sie darob; denn seit jenem Tage hatte sie allen Verkehr geflohen, wie sie die freie Natur geflohen und ihr eigenes verödetes Malzimmer, wo die Farben eintrockneten und die Geräte verstaubten. Doch der Schwester zuliebe übernahm sie die Arbeit. Erst zaghaft, aber dann mit wachsender Teilnahme und einem schier freudigen Staunen. Nach und nach erkannte sie im Verkehr mit diesen kleinen Menschen, die dem Leben frisch und mit unwissenden Augen gegenüberstanden, daß es noch Neuland gab, von Erlebnissen ungepflügt und von keinerlei Erinnerungen überwuchert. Eine Ahnung kam ihr von der neuzeugenden Kraft der unbepflanzten Scholle und rührte etwas auf, daß es nicht ganz so tot mehr war in ihr, und einmal, an einem ganz hellen und lachenden Tag, ließ sie sich von der kleinen Schar zu einem Spaziergang vor die Tore bewegen. Und wenn auch beim ungewohnten Anblick des blühenden Landes viel Schmerzhaftes über sie hereinbrach, daß sie zuerst beinahe zurückgeflohen wäre, die Macht des Gegenwärtigen fand schließlich doch die Oberhand, und da sie unwillkürlich mit den Augen der Kleinen schaute, die sie mit viel Fragen und Hinweisen umdrängten, entdeckte sie selbst in der erinnerungsschweren Welt allerlei Neues, Ungetrübtes, das mählich das Andenken köstlicher, unverbrauchter und unverletzter Zeiten aus ihrem Leben herausführte, und vor ihren erstaunten Augen reihten sie sich zu einer schönen, unverbrüchlichen Kette.

Als Anna am Abend dieses Tages unversehens durch ihre Malstube ging, zog sie ihr Jugendbildnis um ein weniges aus der dunkeln Ecke hervor und betrachtete es eine geraume Weile, und wann sie es auch mit einem stillen Seufzer wieder zurückschob und dann mit trübem Lächeln an Giulios Bild hängen blieb, der erste Gedanke an die Möglichkeit eines Anschlusses an frühere, unverdorbene Zeiten und eines neuen Anfangs war ihr doch an diesem Abend ganz leise durch den Kopf gegangen. Und keine zwei Monate gingen ins Land, als Elisabeth eines Tages mit freudigem Schreck das verschmähte Bildnis wieder an der Wand entdeckte, und wenn es auch nicht an der alten Stelle hing, sondern neben Giulios unheimlichem Gemälde, es war doch wieder da und blickte einen mit schalkhaften Augen an und warf mit dem roten Röcklein und hellen Mieder einen freundlichen Schein in die Stube, und war die alte Anna mit dem klaren Blick und dem klugen Mund und mit den kunstreichen, malfreudigen Händen.

Als Elisabeth es Heinrich erzählte, ganz im verstohlenen und ohne daß die Schwester es ahnte, da lachte er wie ein Junge, und sie küßten sich und sahen sich voller Hoffnung in die Augen und voller Glück. Wann sie erst wieder malen würde, ja, dann!

Indes Pinsel und Farben hatten lang Ruhe. Wohl weilte Anna nun ab und zu wieder in ihrer alten Stube, sodaß es bewohnter aussah droben und freundlicher, aber ihr Malgerät blieb unberührt. Sie stöberte dann etwa in altem Kram und Büchern, mit einer hastigen, verstohlenen Art von einem zum andern gehend, und bloß wann ihr das gewichtige weißlederne Büchlein in die Hand kam, das ihr Herr Morell verehrt hatte an jenem schneeschweren Neujahrstag, verweilte sie wohl ein wenig länger, und es mochte geschehen, daß sich ihre schmalen Wangen leise röteten ob solchem Tun und daß sie nachher mit nachdenksamen Augen und tieferem Atem die stille Stube verließ.

Bei einer solchen Gelegenheit war es auch, daß ihr einmal ihre alten Entwürfe in die Hände kamen. Zögernd breitete sie die gelblichen Blätter vor sich aus; während sie aber hineinschaute, erst flüchtig und dann mit immer gespannteren Blicken, und die zarten und heftigen Linien vor ihr zu leben begannen und die Formen sich füllten mit altem verlorenem Gut, geschah es, daß ihr plötzlich mit einer unbegriffenen Freude ein Strom lange versiegter Lebenskraft durch die Brust ging mit solchem Ungestüm, daß ihr die Tränen hervortraten und sie die Hände aufs Herz pressen mußte, und wußte doch nicht, woher dieses plötzliche und starke Gefühl kam und ob die Macht alter, lange vergessener Erinnerungen schuld daran war oder die Ahnung einer neuen Erkenntnis.

An diesem Abend aber war es, daß Anna zum ersten Mal jene seltsame, kurze Bitte unterließ, die sie sonst seit ihrer Leidenszeit jedem stillen Gebet angeschlossen – erst heiß, wie eine flehende Forderung, dann stiller und schließlich schier gewohnheitsgemäß –und daß sie die ganze Inbrunst ihres Herzens in das eine Wort legte: »Dein Wille geschehe.«

Und manches ward anders seit jenem Abend, und eines Tags begab es sich, daß sie an Giulios Bildnis eine Entdeckung zu machen vermeinte und mit freudigem Staunen gewahrte, wie es kein Zerstörtes, noch Abgebrochenes zeigte, wohl aber ein gefangenes und verhülltes Leben, sodaß man bloß die Schleier zu heben brauchte, die den Anblick trübten, um ein Frisches, Lebendiges und Vollendetes zu befreien, und ein starkes Gelüste kam sie an, solches vorzunehmen. Indes hinderte sie daran ein abergläubisches Gefühl, das ihr verbot, das Werk des Toten anzutasten. Aber es zwang sie von nun an doch, daß sie immer wieder in dem rätselhaften Bilde verweilen und darnach forschen mußte, welcher Art es anzustellen wäre, um das Verborgene ins Leben zu ziehen und Vorgedeutetes auszuführen.

Solchermaßen kam es, daß sie sich schier unbewußt und ungewollt wieder mit Pinsel und Farbe beschäftigte, und wenn es auch bloß in Gedanken geschah und sie mit keinem Finger die brachliegenden Geräte berührte, ein Weg hatte sich doch geöffnet, und es bedurfte bloß des Anlasses, damit sie ihn auch wirklich betrat.

Inzwischen aber war es Winter geworden, und aus der farblosen Welt kam kein Ansporn, und die dunkeln Stuben und langen Abende brachten viel trüber Gedanken und Rückfälle in alte schlimme Leiden. Zudem ging in dieser Zeit durch die Vaterstadt ein aufgeregter Lärm von kommenden Kriegsläuften des Toggenburgs wegen, und man redete viel von Auftrag und von Rache für Villmergen und Kappel, und der Lärm fand auch im Waserschen Hause Widerhall und führte manche Vermehrung amtlicher Arbeiten herbei.

Anna half ihrem Vater treulich, und dieser gewahrte in geheimem Staunen, wie sie mit immer wacherm Anteil und lebendigerer Sorge ihr Wert tat, und freute sich an der klugen und einsichtigen Art, damit sie auch denen politischen Ereignissen folgte, umsomehr, als er mit seinen beiden Söhnen davon zu reden nur wenig Gelegenheit fand; denn auch Heinrich, der seine Examen mit Auszeichnung bestanden hatte und nun vielerorten im Land herum aushelfender Weise bei kranken und sonst verhinderten Pfarrherren betätigt wurde, war im väterlichen Haufe nur mehr ein seltener Gast. Der Amtmann aber liebte es, auch in der eigenen Stube von den äußern wichtigen Begebenheiten Anklang und Wirkung zu verspüren und ein Urteil zu hören, das über die gewöhnlichen Klagen, Neugierden und Befürchtungen hinausging, darin sich sonst das Frauenzimmer erschöpfte, sobald von Krieg und Waffenlärm die Rede war. Und bei Anna fand er solches und mehr noch, eine sichere, selbständige Meinung, die ihn erstaunte, wenn sie ihn auch nicht immer freute; denn als sie über die Wahl des edeln Obmann Bodmer zum Oberbefehlshaber der zürcherischen Truppen ein besorgtes Gesicht machte und meinte, an solch verantwortungsvollen Posten sollte man klare Leut stellen und keine Schwarmgeister, kam ihm derlei Kritik dem hochmögenden Manne gegenüber doch vermessen vor. Denn Anna verschwieg es, daß sie von Heinrich her wußte, wie dieser einflußreiche Mann insgeheim den Pietisten und Tremulanten ein eifriger Anhänger war. Insbesondere aber fühlte sich Herrn Wasers zürcherisches Herz verletzt durch die Art, wie Anna denen Bernern die Stange hielt zu einer Zeit, da doch wegen ihrer Saumseligkeit und langsamen Zurüstung ganz Zürich aufgebracht war und man allenthalben viel Spott und Verdächtigung gegen die langsamen Bundesgenossen ausstreute. »Schnell fertig sind sie wohl nicht, die Berner,« hatte sie einmal gesagt, »aber auch leichtfertig nicht, und daß sie keine Arbeit nicht lassen, sie seien denn ganz fertig, daraus kommt's doch wohl an.« Ganz schlimm aber war, was sie über die zürcherischen Truppen redete, selbigsmal, da man einem Auszug beiwohnte: »Seht, Vater, wie untapfer sie schreiten,« hatte sie gesagt, mit einem Ton, daß der Amtmann seines seligen Bruders gedenken mußte, ob diese Worte gleich aus einem zarten Mund kamen, »und wie die Musica klingt, weiß Gott, zögernd und trübselig wie Abschiedsgesang. Wann da nicht bald der Bernermarsch hineinfährt und die schlampigen Schritt richtet und die Köpf klärt, dann gnad Gott unserer Sach!« Grad weil er fühlte, daß eine bittere Wahrheit drin war, gaben dem Amtmann diese Worte schier einen Zorn gegen die Tochter.

Aber als die Ereignisse ihrer Meinung mehr und mehr Recht gaben, als man in den unsichern Frühlingstagen wohl Grund bekam, die Wahl des obersten Leiters zu bereuen, und als es schließlich eine Berner Faust war, die das Siegesbanner von Villmergen aus einem bösen Kampf herauszog, sah der Amtmann oft mit stillem Staunen aus seine Tochter und in einem Stolze, von dem freilich keiner was bemerkte.

In eben jenen bangen Frühlingstagen aber war es, daß Anna plötzlich und wie aus einem notwendigen Vollzug unbewußter geheimer Vorgänge den Mut zum alten Leben und zu neuem Tun fand; denn als einmal zwischen endlos gereihten naßkalten Maientagen unversehens ein sonnenheller Morgen erschien, kam es sie auf eins an, daß sie mit zitternden Händen ihr altes Elfenbeinkästchen und Rohr und Papier hervorsuchte und verstohlen und ohne daß jemand es gewahrte, aus der Stadt entfloh, nach jenen Höhen des Zürichberges, wo ihr einst an einem blütenüberströmten Maitag eine neue Erkenntnis aufgegangen war.

Als sie freilich zur Kollation zurückkehrte, schon wieder unter neuen drohenden Regenwolken, klopfte ihr Herz minder freudig als bei dem heimlichen Ausgang am Morgen. Der erste Versuch hatte bloß Enttäuschung gebracht und die schmerzliche Einsicht, daß man nicht ungestraft solange von vertrauter Übung abläßt. Entmutigt ließ sie eine Weile die Dinge wieder ruhen. Aber dann versuchte sie es neuerdings, ruhiger und mit mehr Ausdauer und an vertrautern Segenständen, und als der Sommer aus der Höhe stand und die ganze Stadt erfüllt war vom Jubel über den Ausgang des Krieges und den endgültigen Sieg der Reformierten, der im Aarauer Frieden sauber und glänzend besiegelt lag, schämte sie sich schier, daß ihre eigne stille Freude, die so natürlich mit der allgemeinen ging, weniger den großen äußern Ereignissen entsprang als einem persönlichen Erlebnis.

Zum ersten Mal war es ihr gelungen, in einem kleinen, noch unscheinbaren, aber für sie umso wertvollem Werklein etwas von der neuen Anschauung auszudrücken, die ihr an jenem Maientag ausgegangen und die sie, wie ihr nun klar wurde, schon früher vorgeahnt hatte, damalen schon, als sie unter Luxens Augen im grünhallenden Walde ihr erstes selbständiges Bild geschaffen.

VIII Wie der Rauch von einer Glut...

An einem sehr hellen Jännermorgen schritt Anna, von der mindern Stadt herkommend, der Limmat zu. Mütze und Überwurf aus langhaarigem Pelz waren vom Rauhreif überzuckert und die Wangen gerötet, gleichermaßen von Kälte und rascher Bewegung. Der überaus klare Morgen hatte sie zu einem kurzen Frühgang verlockt, und eben kehrte sie vom frostschimmernden Lindenhof zurück auf einem artigen Umweg, der ihr von der obern Brücke aus noch einmal den Blick auf See und Alpen gönnen sollte. Als sie indes auf die Brücke trat, war der Glast des sonnenbeschienenen Wassers so mächtig, daß sie ihre Augen geblendet vom See weg flußabwärts wenden mußte. Da fesselte auf der andern Seite des Stegs eine seltsame Erscheinung ihren Blick. Hinter dem lustigen Brunnenhäuschen, das stattlich aus vier Röhren sein helles Wasser spendete, erhob sich eine mächtige, glitzernde Zierlichkeit oder besser: ein Gebäude von tausend durchsichtigen Zierlichkeiten, darinnen die Morgensonne mit Funkeln und Blitzen ein abenteuerliches Wesen verführte.

Anna beugte sich über den Brückenrand, um das wundersame Gebilde zu betrachten, und da sah sie, daß es nichts anderes war als Gerüste und Balkenwerk des großen Wasserrades, das diese hartkalten Tage durch Gefrieren der herausspritzenden Wellchen und Tropfen mit einem vielzackigen Eismantel bedeckt hatten. Und da durch das unaufhörlich herangeschleuderte Wasser immer neue Zapfen und Nadeln sich bildeten, hatte sich das Ganze zu einem vielgestaltigen Eiskoloß ausgewachsen, der wie eine funkelnde Kristallburg auf den breitfließenden Wellen zu schwimmen schien. Mittendurch aber rauschte das gewaltige Rad, unablässig das klare Wasser dem Brunnenhäuschen zuführend, und ein paar Möwen flogen ab und zu mit dünnem Kreischen und setzten sich träge auf den Querbalken, der zu oberst die kristallenen Säulen verband. Mit erfreuten Augen durchforschte Anna die fremdartigen und wundervollen Gestaltungen, und gern hätte sie ihr Skizzenbüchlein hervorgezogen, um einige der merkwürdigsten Figuren festzuhalten, wenn ihr solches des Aufsehens wegen, das jedes ungewöhnliche Tun gleich verursachte, nicht zuwider gewesen wäre. Sie begnügte sich deshalb mit scharfer Beobachtung, und dabei entzückten sich ihre Augen immer mehr an dem seltenen Anblick. Welch unermeßlich reiche Spenderin war doch die Natur! Aber solch regelvolle, kunstmäßige Erscheinungen förderte sie doch nur unter ganz besondern Verhältnissen zutage, nur aus der tiefsten, ungestörten Ruhe erwuchsen die scharfkantigen, lichtsprühenden Wunder der Steinwelt, und nur die härteste, unerbittliche Kälte brachte solche Eismärchen zustande. Und sie dachte weiter: War es mit den menschlichen Dingen anders? Kamen nicht aus der großen, ungetrübten Ruhe der Seele und aus dem klaren und kalten Geist allein die durchsichtigen, scharfen Gedanken und die ungetrübten, weittragenden Taten?

Ja, ja, daran hatte es ihr wohl gefehlt, an der sichern Ruhe und klaren Kühle. Aber in der letzten Zeit, war es nicht beinahe, als ob es sich in ihr gelegt hätte, all das Heiße und Getrübte und Qualvolle, und als ob etwas in ihr aufwachsen wollte, das kalt war und durchsichtig wie diese Eiskristalle und daraus eine scharfe und unbedingte Kraft entsprang?

Sie richtete sich hoch auf und atmete kräftig die trockene Luft, und ein stilles, schier glückliches Lächeln ging durch ihr Antlitz. Dann wanderten ihre Blicke flußabwärts nach der andern Brücke, die weiter unten neben dem Rathaus einen betunlichen Weg über die Limmat führte, und sie forschte mit geschärften Augen nach dem andern Wasserrad, das auch dort gleichermaßen einen Brunnen speiste, ob es wohl eine ähnliche Verzauberung erfahren. Aber Brücke und Brunnenhaus verdeckten ihr den Ausblick; dafür gewahrte sie zwei Herren, die gleich ihr über das fernere Geländer der Niedern Brück gelehnt, mit eifrigen Gebärden ebenfalls etwas Absonderliches zu betrachten und verhandeln schienen, und da sie in dem einen, dem lebhaftem kleinen, schwarz gekleideten, Professor Scheuchzer zu erkennen glaubte, beobachtete sie angelegentlich die beiden, bis sie eiligen Schrittes hinter dem Rathaus verschwanden. Aber gleich darauf tauchten sie wieder auf, drüben am Stad, und boten und entzogen sich ihren Blicken mit dem Weg, der hier und da ans Ufer trat, um gleich wieder unter den Tilenen, den gewölbten Lauben der Zunfthäuser, oder hinter diesen zu verschwinden. Das war der seltsame, verstückelte Weg, der sie so oft an ihr eignes Leben gemahnte, darinnen alles unganz war, zerschnitten und ohne Fortsetzung. Auch jetzt drängte sich ihr wieder dieser trübselige Vergleich auf; aber gleichzeitig kam ihr auch eine abergläubische Anwandlung, die sie hieß, die beiden Herren als Orakel zu benutzen: Bogen sie von der Wühre her in diese Brücke ein, die glatt und ungestört zur mindern Stadt geleitete, so sollte das ein gutes Omen sein, daß auch ihr Leben einst noch auf zusammenhängende Wege gelangte.

Mit einer Spannung, die sie kindisch schalt und doch nicht hindern konnte, sah sie den beiden entgegen, und da sie am Ende wirklich unter dem breiten Holzdach des Helmhauses, das den untersten Teil des Stegs verschlang, erschienen, trieb es ihr eine starke Freude zum Herzen, daß sie dem Professor freundlich zunickte, noch ehe dieser grüßen konnte, was er freilich unverzüglich mit einer allerehrfürchtigsten Reverenz nachholte und einem fröhlichen Lachen, das wohltätig über das blasse, blatternzerrissene Gesicht lief.

»Welch schöne Rencontre, liebste Waserin!« rief er erfreut, und rasch an Anna herantretend: »Da kann ich Euch ja gleich einen alten Bekannten präsentieren, der eben mit viel Eifer nach Euch geforscht.«

Jetzt erst faßte Anna auch den andern ins Auge, und ehe noch Scheuchzer dessen Namen genannt hatte, erkannte sie in dem stattlichen, braungewandeten Herrn ihren Jugendfreund Lukas Stark wieder. Sie erkannte ihn und war selbst darüber verwundert, denn was war da in dem festen, blühenden, von einer etwas aufdringlichen Perücke umwallten Gesicht noch von dem alten Lux zu entdecken? Aber da sie sich nun begrüßten, lag doch etwas im Druck der Hand, was sie irgendwie an ferne Zeiten erinnerte. Ja, das waren immer noch dieselben Hände, und sie mußte unwillkürlich denken, daß sich der ganze Mensch gleichsam ihnen angepaßt habe, diesen warmen, festen Händen, die einst recht wenig zu dem unberechenbaren Jüngling stimmten. Indes erzählte Scheuchzer vergnügt, wie er in Herrn Stark einen fürtrefflichen Förderer eigenster Sachen gewonnen, da dieser nicht bloß illustrationes zu seinem neuen Werke zu liefern gewillt sei, sondern auch ihn auf einer wichtigen Reise durch die Berner Alpen zu begleiten vorhabe, solche er aus ältester Vertrautheit aufs genaueste kenne, was für die Wissenschaft gar schätzenswert sei.

Überrascht sah Anna ihren einstigen Freund an: »So habt Ihr Euch denn auf alte Wege zurückgefunden?« rief sie erfreut.

Der andere aber gab ihr einen dringenden Blick: »On revient toujours à ses premiers amours!« und er versuchte zu lächeln. Nun saß aber dieses mißglückte Lächeln des kleinen Mundes so fremd in dem gewichtigen Gesicht, daß Anna beim Gedanken, alte Gefühle könnten unter so veränderten Verhältnissen wiederkommen, unwillkürlich und fast lustig lachen mußte, und ob diesem ungewohnten Lachen wurde ihr selber wohl, als ob sie damit irgendein altes Gespenst verscheucht hätte.

Stark aber ließ sich nicht beirren, obschon ihr Gebaren sein flüchtiges Lächeln gleich wieder gelöscht hatte. »Seid nicht zu absprechend, vieledle Jungfer,« sagte er mit einem ganz kleinen Spott, »hab' ich doch eben von Herrn Scheuchzer vernommen, daß auch Ihr nach langer, höchst bedauerlicher Unterbrechung zu alten guten Gepflogenheiten zurückzukehren nicht verschmäht.«

Anna war unter seinen Worten wieder ernst geworden. »Ganz die alten sind es wohl nicht,« entgegnete sie langsam und dachte an die großen Anstrengungen, die sie machte, um neue Bahnen zu finden in der alten Malerei.

Der andere aber schüttelte den Kopf: »Wohl, wohl, die alten, weilen es nichts Neues gibt für ein und denselben Menschen, bloß eine Stufe höher vielleicht auf der Schneckentreppe des Lebens, und da sieht man das Zeug ein wenig anders, ist aber alleweil dasselbe, alleweil dasselbe.«

Anna schwieg, und Herr Scheuchzer griff wieder in die Rede ein, und nachdem die Konversation eine Zeit lang mit frischer Bewegung über allerlei Dinge gelaufen, vergangene, gegenwärtige und zukünftige, und auch das Eiswunder der Wasserräder die gebührende Würdigung erfahren, verabschiedete sie sich mit freundlichem Gruß von den Herren. Da sie aber vom Ufer aus noch einmal nach der Brücke zurückschaute, gewahrte sie, wie die beiden ihr zugewandt standen und ihr unter lebhaftem Gespräch nachblickten, und da war es, daß sie an Stark, der in einer bezeichnenden Stellung, die Hand auf dem Rücken, dastand und mit etwas gedrehtem Kopf neben der Perücke die Schärfe des Profils hervorließ, plötzlich wieder den alten Lux erkannte, sodaß ihr nachträglich noch das Blut in die Wangen stieg und sie unwillkürlich mit der Hand zu ihnen zurückwinkte, über das trennende Wasser hinweg, was er alsobald mit einem lebhaften und erfreuten Hutschwenken beantwortete. Dann schritt sie weiter nach dem verborgenen, gegen den Fluß abgeschlossenen Rüdenplätzchen.

Es blieb ihr aber von dieser Begegnung eine freudige Erregung zurück, als ob sie die Jugend gegrüßt hätte, und Lukas' Schicksal und Worte beschäftigten sie und stärkten ihren Glauben an das Leben und die Kraft der Dauer. Wann selbst er nach so schwerer Irrfahrt die alten Wege wiederfand – und sie fühlte, er stand allbereits mit festen Füßen darauf, sodaß er jene Höhen, nach denen er einst getrachtet, wohl noch erreichen konnte – wie sollte sie verzweifeln, die ja nicht vorsätzlich, sondern durch Schicksal und Irrtum von vorgezeigten Bahnen abgelenkt worden war? Und sie stand ja noch in der Kraft; seit langem war sie sich nicht so jung und stark vorgekommen wie an diesem frischkalten Morgen, ihre Augen waren noch klar und in ihrem Herzen etwas, das aufspringen konnte, wann sie irgendwo in der Natur Schönes sah oder im Leben Rührendes oder Starkes oder wann sich, wie eben jetzt, die beglückendste Erkenntnis bot, daß ein scheinbar abtrünniger Mensch wieder zu sich selbst zurückfand.

Und ein anderes noch gab ihr zu denken an dieser Begegnung: Wann es doch möglich war, daß man einem Menschen, der einem einst soviel bedeutet und so schweres Leid zugefügt hatte, eines Tages mit heiterm Sinn und unbefangenem Herzen entgegentreten konnte und einem warmen, ungezwungenen Wohlwollen, mußte man da nicht an eine Kraft der Seele glauben, die einen alles überwinden ließ und auch die qualvollste Erinnerung schließlich aufzuklären vermochte zu einem bedeutsamen, aber schmerzlosen Symbolum? Ja, kam es nicht schließlich darauf an und war Grund und Wesen des letzten Glückes, daß man lernte, dermaßen jedes Erlebnis zu läutern, daß alles Persönliche und Zufällige davon abfiel und nur sein eigentlicher Kern übrigblieb, sein Sinn und ewige Bedeutung, das wie alles Allgemeine und Ewige schmerzlos blieb und ohne Stachel?

Und deshalb wohl verlangte die reinste Religion die unbedingte Kraft der Verzeihung als eine wichtigste Tugend, weil sie Ursprung des tiefsten, des unabhängigen Glückes war.

Aus derlei Anschauungen führte Anna ihrem erstarkenden Lebensglauben neue Kräfte zu, und es bot sich auch bald die Gelegenheit, solche auf ihre Tüchtigkeit zu erproben. Als sie in diesen Tagen einmal gegen Abend in das Zimmer ihres Vaters trat, um ein paar sauber vollendete Schriftstücke abzuliefern, traf sie zu ihrer Verwunderung beide Eltern in der erleuchteten Stube, die Mutter mit einem Brief in der Hand; diese entfernte sich jedoch alsobald mit einer verlegenen und etwas ungeschickten Art.

Kaum hatte sie die Türe hinter sich zugeschlossen, als der Vater, der im tiefen Lehnstuhl saß, Anna mit einer fast feierlichen Gebärde zum Sitzen einlud und ihr erst eine Nachricht, so er sie mit ruhigem Herzen zu vernehmen bat, ankündigte, um dann mit etwas stockenden Worten zu erzählen – von einem Briefe, der eben eingetroffen aus Campen und daraus hervorgehe, daß die Mutter und er Urgroßeltern geworden eines Mädchens, solchem die jungen Eltern den Namen Anna beigelegt hätten.

Einen Augenblick war es ganz still im Zimmer. Vor Annas Augen, atembeklemmend wie eine Vision, erschienen jene grüngoldnen Frühlingsmorgen droben auf dem Lindenhof, da sie den jungen Müttern nachgeblickt und den zartflaumigen Köpfchen und ihr neue, seltsame Gedanken über Unsterblichkeit aufgegangen und ein süßer und geheimnisvoller Drang ihr schier das Herz versprengen wollte. Aber sie wehrte sich standhaft gegen die holden und schmerzbringenden Bilder – Vorbei, vorbei ... Und es tönte schier ruhig, als sie endlich leise ihren Glückwunsch darbrachte und die Frage nach des Estherleins Befinden daran knüpfte.

»Wohl geht es ihr gut,« antwortete der Amtmann; dann aber kam ein kaum hörbares Zittern in seine Stimme, als er beifügte: »Sie vermeinet jedoch, so du dich freiwillig und aus verzeihendem Herzen zu dem Kinde als eine Patin bekennen wolltest, fehlte nichts mehr an ihrem Glücke.«

Wieder entstand eine kleine Pause; dann erhob sich Anna mit stiller Festigkeit: »Das will ich, Vater,« sagte sie bestimmt, »und zwar möcht' ich es ihr, damit sie es recht spüren mag, alsobald in einem Brief selbst zusagen.«

Langsam richtete sich der Greis in seinem Stuhle auf und sah Anna aus weitgeöffneten Augen an. Dann griff er plötzlich nach ihren Händen und zog sie zu sich nieder und küßte sie, daß ihr ob dem seltsamen und völlig ungewohnten Tun das Herz zerfloß und sie leise weinend den Kopf in seinen Schoß legte. Und als einmal des Vaters Hände zögernd und so unsäglich wohltuend über ihr Haar strichen – ach, die armen Hände mit dem harten hastigen Schlag unter der spröden Haut – vermeinte sie, diesen Mann, der kühl und streng über ihrem Leben gewaltet hatte, zum ersten Mal zu verstehen, und als sie nun aufblickte und in seinem Gesicht forschte, entdeckte sie darin einen Zug von Milde, den sie früher niemalen an ihm gesehen; zugleich aber fiel es ihr schwer aufs Herz, wie krank dieses Gesicht war, wie müd die gelben Augen unter den bläulichen Lidern, wie hohl die fahlen Wangen, und der himmelblaue Strang an der rechten Seite des Halses hatte keinen sichern Puls mehr, sondern zitterte und bebte wie Flügel eines gefangenen, zu Tode geängsteten Vögelchens.

»Ja,« sagte der Amtmann, als ob er ihre Gedanken vernommen, »so ist es nun, daß ich über ein Kleines nicht mehr da sein werde, und es ist recht so, maßen mich nach einem vollen und werkerfüllten Leben nach nichts so sehr verlangt wie nach Ruhe.« Und bei dieser Rede hatte er wieder den alten bestimmten Zug um den Mund, der keinen Widerspruch erlaubte, so daß Anna still und mit gesenkter Stirn seinen weitern Worten folgte; sie faßte aber ein jegliches aus wie ein Kleinod, daß es ihr für alle Zeiten zum unverlierbaren Schatze bleiben möchte.

»Solcher Gestalt war mein Leben,« fuhr er ruhig fort, »daß ich heute unserm Gott nur danken kann, sintemal er mich zuletzt allenthalben über Irrungen und Schmerzen hinweg Ziel und Sinn erkennen läßt und endlich noch am heutigen Tage eine Schuld von mir nimmt, so lange auf mich drückte; denn an deinem tapfern und guten Wort erkenne ich, daß auch du nun zumal den rechten Weg gefunden hast. Es gab aber eine Zeit, da ich nimmer daran glaubte und da ich mir die Schuld daran beimessen gemußt, dieweil ich dich wohl auf einen außergewöhnlichen Weg zu stellen, nicht aber deinen fernern Wandel daraus zu beschützen vermochte, sondern vielmehr, deine Fähigkeiten in Verkennung deiner innern Triebe zu häuslichen und eigenen Zwecken ausnützend, dir jenen Weg sozusagen abgrub.«

Er schwieg einen Augenblick wie erschöpft von seinen Worten. Anna erhob sich langsam mit stillen Augen:

»Nein, Vater, so sollet Ihr nicht reden!« Ihre Stimme klang schier feierlich, aber mit einer großen Innigkeit. »Nicht abgegraben, geöffnet habt Ihr mir die Wege. Ihr seid es gewesen, der mein Lebensgärtlein also einrichtete, daß es wohlbestellt war mit vielen unterschiedenen Pflänzlein, und starb nun eins, so war immer noch ein anderes da, es zu ersetzen. Es gibt aber solche, sie gleichen denen Zierbeetlein, darein der kurzsichtige Gärtner ein einzige Pflanze gesetzt, um sie zur Üppigkeit zu ziehn; fehlt nun aber diese, so ist alles dahin und bleibt nichts dann verödet Erdreich.« Ihre Stimme schwankte. Sie dachte an ihre Jugendfreundin Sibylla, wie sie an verkümmertem Herzen hinwelkte, daß sie alt war und vergrämt mitten im Leben, und der Gedanke griff ihr ans Herz.

Der Amtmann nickte still vor sich hin: »Menschenschuld oder Menschenverdienst ... Heute glaub ich, daß all's so hat kommen müssen, wie's kam, und daß deine Kämpf und Schmerzen wohl nötig dazu waren, damit dein heißes Herz zur Ruhe kommen und reif werden konnte für jene Einsamkeit, deren der außerordentliche Geist bedarf und darin jedes starke und ungewöhnliche Werk wurzelt. Nun du aber so weit, soll dir der recht Weg nicht länger verrammt werden, und sobald deine Seele stark geworden zu neuen Wünschen, sollst du ihnen auch folgen dürfen. Denn siehe, Maria hat den Frieden gefunden und Elisabeth mehr als das, eine Aufgabe, die ihrem Leben Inhalt gibt und Ziel; du aber bist noch nicht an dem Ruhepunkt angelangt. Für dich kommt das Leben noch, und es liegt dort, wo deinen Fähigkeiten, die ich auch jetzt erst an deinen neuesten Malereien recht zu ahnen anfange, die nötige Entfaltung gegeben wird. Noch weiß ich nicht, wie und wo das Schicksal dir die Tür öffnet; aber es wird geschehn, und ich hab dafür gesorgt, daß wann wieder eine solche Gelegenheit sich bietet, wie ich sie dir einmal versagt, und nach langem Dürsten dir sich die Quellen der Kunst wieder öffnen sollten, die Mittel, solche zu nutzen, nicht fehlen. Freilich,« fügte er nach einem kleinen Lächeln bei, »ein wenig warten mußt noch, bis etwas Zeit vergangen über mein Weggehn und die Mutter sich gewöhnt hat an das Neue, da ich dich genugsam kenne, um zu wissen, daß du nicht eher einen frohen und ersprießlichen Weg in die Welt betreten kannst, als du daheim alles in Ordnung weißt und getröstet.«

Er richtete sich noch einmal auf und reichte Anna die Hand, die sie wortlos und erschüttert küßte; dann verabschiedete er sie mit einem kleinen Wink, und während sie hinausschritt, gewahrte sie, wie er mit geschlossenen Augen und erschreckenden dunkeln Schatten im bleichen Gesicht erschöpft in den Stuhl zurückfiel.

An einem schier ebenso frühlingshaften Februartag, wie jener gewesen, da man den armen Johannes Cramer in sein verfrühtes Grab gelegt, wurde auch der Altamtmann, Cammerer und Eherichter Johann Rudolf Waser in der rötlichfeuchten Erde des neuen Friedhofs vor dem Lindentor zur letzten Ruhe gebettet, mit großem Geleite und viel Auszeichnung, und es wurden viel Reden laut über des Mannes tüchtiges und ehrenwertes Erdenwallen und seine großen Verdienste um die Vaterstadt. Aber spärliche Tränen flossen; denn der Kühle, Rechtliche hatte im Leben wohl Achtung, aber wenig Liebe gepflanzt, und da man den Tod des langsam Dahinwelkenden vorausgesehen und er sich als ein Vollendeter ruhig und gleichsam befriedigt hingelegt hatte, ward auch das Ende dieses geordneten Lebens als etwas Natürliches und Ordnungsgemäßes empfunden, ganz anders als bei dem Fähndrich, der stürmisch und unberechenbar, wie er gelebt, auch davongegangen, oder wie beim Dübendorfer Pfarrherrn, der zwar müde und abgelebt, aber doch völlig überraschend sich eines Tages endgültig aus den harten Händen der Frau Regula fortstahl, wohl nicht ahnend, daß diese ihm in kurzer Frist auch dort hinüber nachfolgen würde.

Selbst im Waserschen Hause verlief dieser Tag, ohne daß die schwarzverhängten Zimmer Ausbrüche heißen Schmerzes vernommen hätten. Als ob auch jetzt noch das zurückhaltende Wesen des Hausherrn geherrscht hätte, blieben Schmerz und Trauer in maßvollen Grenzen. Frau Esther, die sonst unter jeglicher Furcht vor kommendem Unglück oder dem Leid der Angehörigen so leicht zusammenbrach, trug diesen, vom Schicksal ihr zunächst zugedachten Schlag mit einer überraschenden, fast würdevollen Fassung, und als am Abend die Verwaisten zusammensaßen, fand sie sogar die Ruhe der Seele, ihren versammelten Kindern allerlei schöne und seltsame Züge aus dem Leben des Verstorbenen zu erzählen, wobei sie mit Vorliebe und hier und da gar mit einem fernen, verträumten Lächeln bei der allerersten Zeit ihrer Ehe verweilte, wo sie zuerst, allein mit der kleinen Maria, in diesem Hause gewohnt und sie noch so jung war, daß sie oft im verstohlenen mit des eignen Kindes Puppe spielte.

Nur als später Heinrich den Abendsegen las und zum ersten Mal die junge, helle, vor Erregung zitternde Stimme die altvertrauten Worte sprach, die sonst aus des Vaters Mund zwar karg und herb geklungen, aber fest, wie ein verläßlicher Stab, daran man sich halten kann, überwältigte es sie, daß sie aufschluchzend und ohne Gruß das Zimmer verließ, gefolgt von Elisabeth, die von nun an der Mutter Kammer teilte.

Nachdem auch Maria sich in ihrer stillen Weise zurückgezogen hatte, blieben Heinrich und Anna allein. Er zog einen niedrigen Schemel neben Annas Stuhl und setzte sich darauf wie in Kindertagen, und dann nahm er eine ihrer Hände und spielte mit den schlanken weißen Fingern, zerstreut und fast ein wenig verlegen, wie er es als Knabe getan, wann er der ältern Schwester etwas beichten wollte oder etwas erbetteln von ihr. »Nun hat er es doch nimmer vernommen,« sagte er ausatmend. »Oh, wann du wüßtest, wie sehr ich mich oft gequält habe und sonderlich in denen letzten Zeiten, da allenthalben von Pietisten und Tremulanten die Red ist, daß es doch noch zu ihm käme! Vor wenig Wochen noch hat er mit mir davon geredet mit vielstrengen Worten von des Obmann Bodmer Verirrungen, weil sein klarer Verstand für all das verschwommene, wühlende Wesen nur Verachtung hatte, und hat Herrn Holzhalb beklagt, daß er an seinem Beat einen solchen Kummer erleben müsse. Da war's mir, daß ich's hätt' herausschreien mögen, wie auch ich nicht besser und in was für einem Fahrwasser ich nun wohl zöge, wenn du mich nicht herausgerissen hättest mit deiner Opferliebe. Aber heut an seinem Grab, da hab ich Trauer und Schmerz schier vergessen über einem heißen Dankgebet, daß es mir erspart geblieben, ihm den großen Schmerz anzutun.«

Anna neigte sich zu ihm nieder: »Ja, Heini,« sagte sie leise, »es war ein guter Engel, der dir selbigsmal die Augen öffnete, und wann's auch grausam war und weh tat, es hat dich doch geheilt, noch bevor du den zweiten Schritt getan.«

Aber Heinrich schüttelte den Kopf: »Nein, nein, das war's nicht allein, und alle Enttäuschung und Ekel hätten mich nicht zu heilen vermocht, und nachher in meiner Verlassenheit und Angst wär ich doch wieder hineingeraten, so gut wie der Beat auch, wenn du mir nicht die neuen Wege gezeigt und die Augen geöffnet hättest und mich gehalten, nicht allein damalen, auch später, als das andere kam, das mit dem Estherlein, und ich an deiner starken und großen Seel mich aufrichtete und hielt ... Ach, was du mir auch da getan, Anna, so danken möcht ich dir, so danken.«

Aber sie wehrte ihm: »Was weißt du, ob es nicht gerade die Angst um dich war und die Verantwortung, die ich für dich fühlte, was mir eben jene Kraft gab? Wie sollte da eins dem andern danken! Aber festhalten wollen wir an dem, so wir unter Schmerzen gewonnen, daß es uns nimmer verloren geht. Und da nun der Vater von uns gegangen und unser Tag gekommen ist, wollen wir werken, daß wir dereinst so ruhig und vollendet sind und so bereit zum Aufbruch wie er.«

Heinrich preßte ihre Hand. »Von allen Worten, die heute geredet wurden über ihn, war keins besser als dieses und keines mehr in seinem Geiste.«

Hand in Hand erstiegen sie die Treppe und begaben sich ohne weitere Worte jedes nach seinem Zimmer. Anna aber saß noch lange an ihrem Fenster und blickte nach dem dunkeln Himmelsstreifen, wo hier und da ein fernes, blasses Sternlein auftauchte und wieder verschwand, wie zage Hoffnungen einer fernen Zukunft, die eine mächtigere Gegenwart immer wieder verschlingt. Aber als es gen Morgen ging, wurde der Himmel mählich klar, und die Sterne standen fest darin mit einem nahen und vertrauten Schein.

*

Der milde Septembermorgen lag schon geraume Zeit breit und sicher über der Stadt und hatte seinen Schein allbereits in die engsten Gassen hinabgesandt, als Anna plötzlich aus einem seltsamen Traum auffuhr mit einem heißen, aber köstlichen Gefühl in der Brust. Rasch schlug sie die Bettvorhänge zurück und betrachtete erstaunt ihre Stube, die schon taghell vor ihr lag. Der Anblick des großen ernsthaften Raumes, an dessen Wänden ihre hellfarbigen Bildchen mit ehrwürdigen Stichen sich mischten, war ihr immer noch überraschend, obgleich sie nun schon mehr denn ein Jahr hier hauste, seitdem man sich nach des Vaters Tod mit Räumung des obersten Stockwerkes enger zusammengeschlossen. Aber es war ein guter Geist, der hier in des Amtmanns Stube wohnte, ein starker und stiller, der das Herz fest machte und den Kopf klar. Und alles war gewichtiger, was man hier tat, und sozusagen verantwortungsvoller und auch einsamer. Als ob etwas von des Mannes Geist hier geblieben wäre, der das Äußere verdrängte und zur Selbstbesinnung mahnte, so war es. Und als ob sein Wort von der Kraft der Einsamkeit mit unsichtbaren Lettern über der schmalen Tür stünde, daß man sich hier, trotzdem einen keine Treppen von der Wohnung der andern trennte und trotzdem die Fenster nahe über der lebhaften Gasse lagen, wie abgeschlossen vorkam und losgelöst.

Ja, wie losgelöst, nicht bloß von äußern und fremden Dingen, auch von der eignen Vergangenheit. Anna sah still vor sich hin mit glänzenden Augen und gefalteten Händen, und der Gedanke an den starken und gegenwärtigen Geist, der ihrem Leben neue Kraft gab, ging ihr wie ein Dankgebet durch den Sinn.

Als sie in der Eßstube erschien, saßen Mutter und Schwestern bereits beim Frühstück und neckten die sonst so Pünktliche ihres späten Erscheinens wegen. Elisabeth aber nickte ihr lächelnd zu: »Wann der lange Schlaf schuld daran, daß du mit so hellen Augen und frohem Gesicht aufgestanden bist, möchtest du dich füglich alle Tage verschlafen.«

»Nicht der Schlaf allein,« entgegnete Anna, nachdem sie ihre Verspätung entschuldigt, »vielleicht aber ein außerordentlicher Traum. Mir war, als ob mir auf eins Flügel gewachsen wären, große und silberweiße, darmit ich fliegen konnte, nicht allein durch den blauen Raum, aber ganz hoch hinauf bis zu den goldigen Sternen. Das aber war so außer allem Sagen schön, daß mir eine warme Freude davon zurückgeblieben ist.«

Maria wandte sich mit einer raschen Bewegung der Schwester zu. Ihr Gesicht war in den letzten Jahren merkwürdig friedlich geworden, seitdem die geheimnisvolle weiße Flamme auf der Stirn sich allsgemach über das ganze Haar ausgebreitet hatte, sodaß nun die ernsten Züge von einem freundlichen weißen Schein umgeben waren, und nur selten mehr trat ein Strahl des alten beängstigenden Feuers in die stille gewordenen schwarzen Augen. Jetzt gerade aber geschah es, daß es seltsam durch ihren Blick flackerte, derweil sie die Schwester anschaute und mit eigentümlich dunkler Stimme sprach: »Das ist kein guter Traum, das.«

Anna aber lächelte: »Ich weiß, daß mir schon einmal ähnliches geträumt, damalen, als ich zuerst in meinem Berner Stübchen schlief, und ist mir wahrlich nichts Schlimmes davon gekommen.«

Nach dem Tischgebet reichte ihr die Mutter einen Brief hinüber. »Der ist für dich,« sagte sie nicht ohne Bekümmernis; denn die Schrift war ihr fremd, und ihre ängstliche Seele zuckte vor allem Unbekannten zusammen. Auch Anna erblaßte, als sie die lebhaften Schriftzüge gewahrte; während ihre raschen Blicke aber das Schreiben durchliefen, stieg ihr ein ungestümes Rot in die Wangen.

»Von der Marquise!« Sie hatte zu Ende gelesen, ihre Stimme zitterte, und in den Wimpern zuckte es; aber dann versuchte sie zu erzählen: »Der unbekannt Besteller, für den Herr Hofmann mein Maienbild erworben, sie war's, und einem großen Meister hat sie's gezeigt, so in Paris lebt, und sie sagt von ihm, daß er ein wahrer Zauberer sei, der nicht allein Leben und Natur, sondern auch die Geheimnisse der Luft mit dem süßesten Scheine der Wirklichkeit wiederzugeben vermöge. Und ob er gleich ein Fremder, noch jung und gebrechlichen Leibes sei und obschon er keine staatsmäßigen Schildereien male, sondern aus dem Alltäglichen und Natürlichen schöpfe, werde er doch um seiner unerhörten Art willen allenthalben bewundert und erhoben. Ja, und da er mein Bildchen gesehen: ›Da ist eine Seele zu erlösen!‹ hab er ausgerufen. ›Die Hand schreit ja förmlich nach den Wundern der Farbe, wie der Hirsch nach frischem Wasser, und fehlt ihr nichts denn die Perlmutterluft von Paris und meine Palett, und die will ich ihr geben!‹ Und hab ein lustig Wortspiel gemacht auf seinen großen und meinen kleinen Namen und sich dessen gefreut, daß sie beide gleich anfangen – denn er heißt Antoine Watteau – ja, und unter die Leitung dieses Meisters ruft mich die edle Frau!«

Bis dahin hatte Anna sich gezwungen, ruhig und verständlich zu berichten; aber plötzlich übermannte sie der Sinn ihrer eignen Worte, daß sie die Hände vors Gesicht schlug und in ein kurzes, heißes Schluchzen ausbrach; doch da die andern sie überrascht ansahen, lachte sie schon wieder aus den Tränen heraus: »Wie dumm ich bin! Aber ich kann's ja nicht glauben! Wär das möglich, daß es nun doch noch käme, und die Welt sich mir auftäte und ich noch zu dem Ziel gelangte?«

Aber Elisabeth umarmte sie herzlich, und ihre großen Augen waren naß vor Freude: »Anna, Schwesterlein, warum soll's nicht kommen? Lang genug hast warten müssen, und verdient hast's auch, weiß Gott, um uns alle.«

Auch Maria nickte beifällig, nur die Amtmännin sah besorgt drein: »Soweit fort wolltest du? Und die große Reis', wie man das bloß machen müßt?«

Aber Anna beruhigte sie: »Für alles hat sie gesorgt, die vielgute Frau, und daß ich mich am End des Monats einer Bekanntin von ihr anschließen kann, die den nämlichen Weg hat; da schaut selbst!« und sie gab der Mutter den Brief.

Aber auch jetzt noch blieb diese gedrückt: »Ja, wann es nur nicht grad an dem Unglückstag gekommen war!«

Anna sah sie betroffen an, dann lächelte sie wehmütig: »Weil es heut der Zwanzigste ist, meint Ihr? Sollte der Tag, der mir einstmalen ein trügerisches Glück gebracht und es hernach wieder genommen, mir nicht nun auch das rechte bringen können? Und hat mir nicht heut schon ein schöner Traum wahrgesagt? Denn schaut, so ich nun diesem Rufe folgen darf und meinem alten großen Wunsch, nicht anders wird es sein, als ob mir Flügel wüchsen, große, silberweiße, darmit ich fliegen kann, nicht allein durch den blauen Raum, sondern bis an die goldigen Sterne.«

Sie sah fernhin, mit einem sonderbarlichen Leuchten der großgeöffneten Augen, daß die andern sie betrachten mußten, Lisabeth mit einer stillen Freudigkeit, aber Maria forschend und mit durchdringendem Ernst. Doch die Amtmännin seufzte: »Nun wohl, so es Gottes Wille ist; aber mit dem Bruder solltest noch reden, ehe du zusagst, mit dem Rudolf.«

»Das will ich, Mutter.« Anna erhob sich, und es war wie ein Jubel in der Stimme. »Heut noch will ich zu ihm hinaus; es darf nicht Nacht werden, ehe er mein Glück erfährt.«

Dann verließ sie rasch das Zimmer.

Drüben in ihrer Stube setzte sie sich in des Vaters Stuhl und las den Brief wieder und wieder, und aus den geliebten, langentbehrten Zügen kamen sie Erinnerungen an, mächtig, überwältigend, daß sie sich wieder in Braunfels vermeinte, in den hohen Räumen mit den tiefgründigen Bildern auf ernsten Wänden und den Ausblicken weithin über das sanftgewellte Land und das rauschende Gipfelmeer des unabsehbaren Waldes, daß sie wiederum die schmelzende Musik vernahm und der Marquise kluge anfeuernde Worte und daß sie allen Drang, alle Hoffnung und unbändige Zukunftsfreudigkeit des jungen Herzens wieder zu verspüren meinte, und die Freude kam über sie wie ein Taumel: Das alles nicht verloren, nicht dahin, nun kam es erst! Und alles erschien ihr wie eine wunderbare Fügung, und daß gerade jenes Maienbild, das, anders als alles, was sie früher geschaffen, nach langem Ringen wie eine kostbare Blüte aus der schwersten Zeit ihres Lebens herausgewachsen war, ihr nun das Glück brachte! Sie sprang auf und durchmaß mit freudigen Schritten ihr Zimmer und breitete die Arme aus, als ob sie etwas hätte umfangen wollen und ans Herz pressen, das nicht da war und das sie doch fühlte in jedem bebenden Nerv.

Da fiel ihr Blick auf Giulios Bildnis, das abseits, etwas im Schatten des großen Ofens hing. Einen Augenblick stutzte sie; dann trat sie herzu, nahm es rasch entschlossen vom Nagel und stellte es aus die Staffelei. Und im nächsten Augenblick stand sie auch schon mit Palette und Pinsel davor und zog mit fiebernden Händen all jene Linien, die sie in Gedanken schon tausendmal gezogen, und fügte jene Farben hinzu, die sie im Geist schon tausendmal aufgelegt hatte. Und langsam löste sich unter ihren schnellen Händen der verhüllende Schleier, die verweinten Augen erhielten Glanz, der verwaschne Mund Farbe, und als die kleine Glocke vom großen Münster her die Mittagsstunde verkündete, stand vor ihr ein klar vollendetes Mädchenbild, das jung und lebendig in die Welt blickte wie das Leben selbst.

Wie erschöpft sank Anna in ihren Stuhl zurück. Ihre Hände bebten, und das Herz klopfte stürmisch, als ob sie etwas Absonderliches, Verbotenes getan hätte. Aber als sie nun das fertige Werk betrachtete, war ihr, als ob sie nicht allein dieses Bild, sondern auch sich selbst von einem bösen Bann befreit hätte, von jenem Verhängnis, das bis dahin über all ihrem Tun und Wollen gestanden hatte, daß ihr nirgends ein Vollenden beschieden war, nirgends eine verläßliche Richtung oder ein fortgesetzter und zielvoller Weg.

Nun aber war es vorbei, und das Leben sah sie aus klaren und sichern Augen an, wie dieses erlöste Jugendbild.

Im Frühnachmittag verließ Anna das Haus, nicht ohne einen zärtlichen, fast ein wenig übermütigen Abschied von den andern.

»Wann's mir recht wohl gefällt bei dem Bruder,« rief sie noch von der Treppe zurück, »oder die Rosse auf dem Feld sind, daß er mich nicht heimführen kann, bleib ich vielleicht bis morgen: ihr könnt es als eine Vorübung nehmen für die große Trennung!« Und lachend sprang sie die Stufen hinunter mit leichten Füßen, daß die Amtmännin erstaunt aufhorchte. Solch lustiges Treppenrennen hatte sie lang nicht mehr vernommen, seit – ja, seit das Estherlein nicht mehr da war. Sie seufzte, und wiederum fiel es ihr schwer aufs Herz, wie es gewesen, heute vor vier Jahren.

Als Anna unten anlangte, hemmte sie den raschen Schritt und lauschte einen Augenblick dem lieblichen Gesang, der mit vielen unterschiedenen Stimmen hell und grad aus Elisabeths Schulstube drang. Es war Paul Gerhards herrliches Lied, dasselbe, das die Schwester in jenen Herzzerreißenden Tagen dem armen Johannes gesungen. Auch jetzt begleitete ihre schöne Stimme den jungen Chor; aber wie ganz anders das klang, als dazumal, so hell, so zuversichtlich, wie Lerchenjubel in der sonnigen Welt: »Befiehl du deine Wege ...« Anna nickte, ja, das war das große Geheimnis, dieser Glaube und die feste Zuversicht, was die Schwester zu ihrem stillen und unverbrüchlichen Glücke geführt hatte.

Langsam und schier andächtig erklomm sie die steile Napfgasse, begleitet von den Klängen dieses schönsten Liedes. Bevor sie aber nach der oberen Zäune umbog, blickte sie noch einmal zurück und nickte lächelnd zu dem Vaterhause hinab, das ihr aus ein paar Fenstern durch die enge Gasse nachsah: »Ja, grauer Mann, diesmal kannst mich nimmer halten, sieh, nun geh ich doch!« Dann wandte sie sich, und während sie der Stadtmauer zuging, fuhr es ihr beglückend durch den Sinn, wie friedlich und durchaus ruhevoll es nun geworden war in dem alten Haus und daß man ihrer nimmermehr bedurfte dort unten, dieweil jedes seinen Weg gefunden und inneres Begnügen. Auch an Heinrich mußte sie denken und an die Worte, die sie das letzte Mal von ihm gehört. Das war bei des Antony Klingler, des Antistes, Leichgang, da die Theologen alle besammelt wurden; aber des Bruders Gesicht hatte schlecht gepaßt zu dem Trauergerust, und seine Rede war wie Frohlocken: »Wir haben nicht nur einen Mann, wir haben eine Zeit ins Grab gelegt; nun kann es anders werden bei uns, ein frisch Leben regt sich allenthalben, und eins muß ich sagen: Trotz ihrem unklaren und oft auch unwahren Wesen, die Pietisten haben uns doch auch in etwas geholfen; sind wie die Maulwurf, so das Erdreich lockern, daß die junge Saat besser wurzeln kann! Aber lieber ist's mir schon, wenn ich nicht mithelfen muß bei dem lichtscheuen Werk und daß ich sein darf wie der Gärtner, der unter freiem Himmel schafft und an der Sonnen.« Und dabei hatte er selbst gestrahlt, also leuchteten Zuversicht und ein männlich fester Wille von seiner jungen Stirn.

Ja, auch er bedurfte ihrer nicht mehr, und ihre Zeit war gekommen.

Unter dem Lindentor blieb sie einen Augenblick stehn. Die Erinnerung übermannte sie, daß sie wieder spürte, wie sie vor vier Jahren hier gestanden, ebenfalls, wie sie dannzumal vermeinte, vor einer großen Reise und wie ihr Herz gleichermaßen geklopft vor Erwartung und Hoffnung, ach, und wie es dann so anders geworden ... Aber sie schüttelte die Gespenster von sich ab. Die Welt sah heute anders aus als damalen, mit keinerlei gleißenden Dünsten und blendendem Sonnenlicht. Eine zarte Wolkendecke spannte sich weit oben über den Himmel, sodaß die Sonne nur als heller, farbig gerandeter Fleck hoch einherzog. Davon hatte die Erde ein mildes und beruhigtes Licht und eine schöne Klarheit bis in die Fernen hinein.

Mild und beruhigt und klar bis in die Fernen ...

Anna schritt rüstig fürbaß, vorbei am Friedhof, zu dem sie nur leise hinübergrüßte. Es war etwas in ihr, das sie vorwärts drängte und ihren Fuß beflügelte. Und während sie dahinwanderte, tranken ihre Blicke die klare Welt, und es kam ihr zu Sinn, wie anders ihr dieses Land erschienen zu den verschiedenen Zeiten ihres Lebens: Unermeßlich, als sie klein war, der helle See eine Welt, aber die Berge dahinter das Weltende. Und später, da alles wie verhangen war von grüngoldigen Schleiern, dahinter man ein unsägliches Glück vermutete, allenthalben ... Und wiederum, da waren diese selben Berge wie Mauern und wie ein toter Weg der See, daß sie sich eingesperrt vorkam und abgeschlossen von all dem, darnach sie verlangte. Aber dann waren sie plötzlich Freunde, gute, verläßliche Genossen des Glückes – und des Unglücks und Tröster, ach, so tapfere Tröster!

Heute jedoch war alles anders, und die Welt erschien ihr wie neu, befreit von Träumen und Seligkeiten und Schmerzen, unberührt, wie am ersten Tag, und sie vermeinte, sie zum ersten Mal klar mit klaren Augen zu sehn, wie sie war – tüchtig und wahr und notwendig, der Teil eines Ganzen, in sich selbst ein Ganzes... Heut, da sie vermeinte an ihrem Leben, dem vergangenen und zukünftigen, die einheitliche Richtung zu erkennen, sah sie auch in der vertrauten Welt zum ersten Mal die sinnvolle Schöpfung.

Als sie in das Birkenwäldchen einbog, blickte sie mit ruhigen Augen in die gelben Gipfel. Kein frech lockendes Gold lag heute in der Luft, nur ein schöner, gedämpfter Schein. Und sie fühlte wohlig, wie rasch und leicht sie schritt und wie leicht der Atem ging. War denn die, so einst mit müden Füßen und ach, so schwerem, schier brechendem Herzen unter den tiefen Ästen geschritten, wirklich sie gewesen? So frei war ihr nun, so leicht! Und sie spürte, was ihr die Brust mit diesem süßen Drange weitete, das war nicht bloß das Freiheitsgefühl des Ungebundenen, wohl aber dessen, der sich von Banden befreit. Ja, es hatte alles einen Sinn, und kein Weg führte zur Höhe, der nicht durch Qualen gegangen.

Auch am Holunderbusch schritt sie sicher und ungehemmten Fußes vorbei, und dann erschien auf einmal über den Obstbaumkronen das lustig umflatterte Taubenhaus, und als sie ganz nahe war, entdeckte sie am kleinen Fenster des aufgebauten Dachkämmerleins ihren Bruder, wie er, die Hausmütze auf dem perückenlosen Kopf, an einem seiner Vogelkäfige hantierte. Und wie sie ihn so sah, da kam die ganze Freude der Botschaft über sie, die sie zu bringen hatte, daß sie den Bruder anrief und lustig nach dem Fensterchen hinaufwinkte.

Rudolf blickte erstaunt hinaus und grüßte sie freudig wieder: »Ich komme gleich hinunter!«

Da sie aber schnell wie ein Kind nach dem Scheuertor lies: »Ich komme zu dir!« hörte sie, wie er ihr etwas nachrief, dringlich, wie eine Warnung, das sie jedoch nicht verstand: Kann's mir nachher sagen, dachte sie und huschte durch die dunkle Scheuer und über den steilen Treppensteg empor; da riß Rudolf oben das Knattertürlein auf und rief es noch einmal, und nun verstand sie es auch: »Gib acht, das Geländer, zu oberst!« Aber im selben Augenblick ging ihr die dünne Treppenlehne aus der Hand, und haltlos stürzte sie in die Tiefe.

*

Rot, so rot – aber das waren ja die Feuerblumen, ach, ein ganzes Meer, weithin bis zum Wald hinüber.

Anna legte sich auf den Rücken, und die roten Blumen hingen über ihr: »So sollt man sie beschauen, wann der Blauhimmel durch die rote Seide der Blätter scheint. Oh, sie ist mir doch die liebste unter allen Blumen.«

Aber Sibylla schüttelte den Kopf: »Nein, sie ist heiß und herb, und sie riecht wie ein Totes!« Und dann nahm sie einen dicken Kranz und legte ihn um die Stirn.

»Das kannst du nicht,« sagte Anna, »denn dein Haar ist weiß.« Aber Sibylla lächelte und nickte nach dem Wald hinüber, und dort stand Giulio und wollte auch lächeln und nicken; doch es ging nicht, eine breite Schramme lief ihm mitten durchs Gesicht, und viel Blut rann heraus, und wenn man recht sah, ja, da war es wohl das Blut, das die Blumen alle so rot machte.

Christoph legte den Kopf in die Hand und sang:

»Wie ein Schaum aus wilder Flut, Die die Wind erheben, Wie der Rauch von einer Glut ...«

Und dann hatte Anna plötzlich Sibyllas Kranz auf der Stirn, und da spürte sie, daß es nicht Blumen waren, wohl aber Feuer und Glut, und sie wollte ihn herunterreißen; aber sie konnte es nicht, denn sie hatte ja keine Hände mehr, und auch die Füße waren weg, und alles, nur noch der Kopf, und der war in lauter Feuer. Und auf einmal stand Lux da und lachte, so von der Seite her und mit der scharfen Nase in der Luft, und wies nach dem stumpfen Münsterturm hinüber: »Nun bekommt's doch noch einen Kopf, du, wann du hinüber fliegen kannst.«

Und dann war alles weg – nur mehr die rote Glut weithin, weithin ...

Anna öffnete die Augen, und immer noch sah sie in ein rotes Meer; aber das waren keine Blumen, nur die runden Scheibchen, die der Abendhimmel mit Rubinglanz füllte. Und da stand ja Frau Enneli mit dicken roten Augen und daneben Rudolf, ganz weiß, und suchte zu lächeln.

Wie war das nur?

Richtig, sie war ja gestürzt, ah, so grausam, als sie zu ihm wollte, um es ihm zu erzählen, das Große – und nun hatte man sie wohl da heraufgetragen in die Gästekammer.

Rudolf beugte sich über sie: »Wie geht's?«

Sie lächelte: »Ich glaub ganz gut, nur der Kopf brennt ein wenig, und am Rücken, grad unterm Hals, da ist eine Stelle, nicht größer denn die Spitze eines Fingers, von dort her kommt mir etwan ein Stich, aber nicht heftig, nur so wie ein heiß ziehend Brennen, und dann die Füß und die Händ, grad als ob sie mir abgefallen wären.«

Rudolf streichelte ihre Wangen: »Die sind dir wohl ein weniges entschlafen ob dem Sturz; mußt dich nur nicht bewegen, ganz still liegen, gelt?«

Aber die Pfarrerin brach in Tränen aus: »Hab ich's nicht immer gesagt! Mit denen Liebhabereien, den unnützen, und daß es noch einmal ein Unglück geb mit der gefährlichen Treppe! Grad so gut hätt's eins unsrer Kinder treffen können!« Und sie schluchzte hörbar.

Anna wandte sich an den Bruder: »Weißt, warum ich gekommen bin? Etwas zu berichten, etwas ganz Merkwürdigs!« Sie lächelte geheimnisvoll. »Weißt, nun wird es doch noch kommen, die Weite, und am End werd ich doch noch eine rechte Künstlerin und mein Leben ganz. Die Marquise – Ende Monats geh ich nach Paris!« Sie sah Rudolf erwartungsvoll an mit leuchtenden Augen. Der aber kehrte sich dem Fenster zu. »Freust dich denn nicht?« fragte sie enttäuscht.

»Wohl, wohl,« gab er matt zurück. »Aber nicht reden sollst jetzt, ganz still sein, hörst, bis der Wundarzt kommt. Ich hab Kuoni nach ihm geschickt mit dem Wagen.«

Anna gehorsamte. Sie schloß die Augen und ging mit einem feinen Lächeln den Bildern nach, die die Gedanken an den glückhaften Brief herausgeführt hatten; die Schmerzen waren fast gering geworden, und sie fühlte sich ganz leicht. Dann versuchte sie wieder zu sprechen: »Weißt, und Giulios Bild ist nun auch vollendet, hab mich lang nicht getraut, dieweil er es untersagt; aber zuletzt hab' ich begriffen: Selber muß man sich freimachen und am Schicksal schmieden. Und so wird nun alles vollendet werden, ganz und rund.«

Aber da sie sah, wie der Bruder ohne Antwort blieb, schwieg sie wieder.

Später kam der Wundarzt. Sie kannte den stattlichen alten Herrn von lange her. Schon den armen Johannes hatte er gepflegt und Lisabeth und den Vater. Als er eintrat, fuhr er sie gutmütig an: »Was macht Ihr da für Geschichten, Waserin! Für derlei Sprung seid Ihr doch zu klug, sollt man meinen, und zu alt!« und er setzte sich freundlich lächelnd an ihr Bett.

Er betastete die Stirne: »Der Verband sitzt gut, den lassen wir einstweilen, da hab ich nimmer nichts zu ändern,« sagte er befriedigt. Aber da er weiter untersuchte und zu jener Stelle kam unterhalb des Halses, war es plötzlich, als ob man ihm mit einer kalten Hand übers Gesicht gefahren wäre, daß er grau wurde und entstellt.

»Gebt mir eine Nadel,« wandte er sich an die Pfarrerin, und Anna sah mit Staunen, wie er das scharfe Ding auf ihren Arm richtete und hineinstach, erst behutsam, dann rascher, roher, tief, tief hinein und es zurückzog – Herrgott, sie sah es und spürte doch nichts, rein nichts, und auf einmal gingen ihre Augen auf, ganz weit und schreckhaft, und ihr war, als ob man ihr mit der großen Feldschlange vom Bollwerk droben mitten übers Herz führe, mitten übers Herz, daß es ihr einen langen wimmernden Schrei auspreßte.

Einen Augenblick war es ganz still; dann fragte sie mit leiser Stimme, schier flüsternd: »Ist es das Rückgrat?«

Der Arzt streichelte ihr die toten Hände: »Ihr seid immer ein tapferes Frauenzimmer gewesen, liebe Waserin, solches die Wahrheit ertrug, so will ich Euch auch jetzo nicht anlügen – ja, das ist wohl um etwas verletzt von dem Fall.«

Wiederum wurde es still, nur der Pfarrerin schlecht unterdrücktes Schluchzen ging kläglich durch den Raum.

Anna schloß die Augen. Ein grausiges Bild kam heraus, wie sie einst eine Katze gesehn, unten am Blarerturm, die war ganz starr, nur der Kopf lebte noch, und die grünen Augen blinzelten qualvoll; aber einer trat herzu: »Die hat das Grat gebrochen!« und nahm sie und warf sie in den Fluß.

Sie grub die Zähne in die Lippen; denn wiederum kam das Stöhnen. Und dann war es plötzlich eine wahnsinnige Angst, daß sie aufspringen wollte und mit übermenschlicher Kraft die Bande sprengen, die sie grauenvoll fesselten; aber bloß der Kopf bewegte sich, und davon zuckte ein heißer Schmerz über sie, alles andere blieb leblos und starr.

Da wußte sie es: Sie war schon eine halbe Tote, der ganze Leib vorausgestorben.

Sie preßte die Lider zusammen und wurde ganz still. Und dann drangen die Tränen heraus in großen Tropfen und liefen rechts und links übers Gesicht, in die Haare hinein und ins Kissen, und sie konnte ihnen nicht wehren – Nun war es gekommen, und so schön hätt es werden können – so schön ...

Als der Chirurgus aufbrach, sah sie ihn angstvoll an: »Meinen Leuten sollt Ihr nichts sagen vor der Nacht – morgen ist's früh genug.«

Später blieb sie mit dem Bruder allein. Der Abend war erloschen, und graue Schatten schweiften durch die Kammer. Rudolf beugte sich über die Kranke: »Soll ich dir etwas aus der Heiligen Schrift lesen?«

Sie öffnete die Augen groß: »Wo steht das Wort von dem weisen gütigen Gott, der keines seiner Geschöpfe abruft, ehe seine Zeit erfüllet?« Der Bruder schüttelte traurig den Kopf, aber Anna fuhr fort: »Heut vor vier Jahren, wenn es mir dannzumal geschehen war, Gott hätt' ich gedankt dafür; denn dann war es wohl ein Ende gewesen. Nun aber, da es wieder angefangen und mit so neuen und starken Wegen? So ist jetzt alles zerstört und sinnlos und ohne Ende – wie Giulios Bild – vorher.«

Der Pfarrer seufzte: »Was wissen wir, wann unsere Zeit erfüllt ist und ob es eine Erfüllung gibt, diesseits, ob das nicht alles nur Anfang und Beginn für eine andere Vollendung?«

Anna betrachtete ihn lange ernsthaft. Dann bat sie leise: »Aus des Apostels Brief an die Korinther, das Kapitel von der Liebe möcht ich hören ...«

Als der Bruder zu Ende gelesen, sah er, daß sie mit einem stillen Lächeln dalag, das wie eine Verklärung über das arme Gesicht ging. »Soll ich noch beten?« fragte er weich.

Aber sie wehrte ab: »Nein, nein, das ist genug, dieweil es alles ist ... Oh, wann wir nur wüßten, wie so ganz alles es ist; aber wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort.«

Und wieder das seltsame Lächeln.

Dann wurde es totenstill in der Kammer. Anna schloß die Augen und suchte nachzudenken über das, was gewesen. Und da geschah es, daß sie ihr Leben sah, anders als bis anhin; denn zwischen all dem scheinbar Zerstückelten und Sinnlosen entdeckte sie einzelne Punkte, hell und leuchtend wie kleine Sterne. Sie wuchsen und erhoben sich und verbanden sich zu einem leuchtenden, vollgerundeten Kranz, daneben alles andere in Dunkel und Nichts zerfiel. Aber die leuchtenden Punkte waren kleine, stille Erlebnisse, die sie einst für ein Nichts gewertet, derweil nun in nichts zerfiel, was sie einst groß und bedeutsam gemeint.

Jene aber bildeten den Kranz des Lebens ...

Ein stiller Sommerabend in der Kinderheimat, als sie allein geblieben draußen im Feld. Irgendwo sang eine verspätete Grille, und die letzten Schwälbchen suchten ihr Nest. Der Himmel war ganz durchsichtig; aber zufernst im Westen stand ein kleiner Stern, und er wurde heller und zitterte, daß es war wie ein Winken – sie aber warf sich in den weißen duftenden Klee und drückte ihr Gesicht in die feuchten Blätter, dieweil das Herz ihr zerspringen wollte – und wußte nicht warum.

Und ein ander Mal in Bern, da war sie heimlich aufgestanden, ganz früh vor Tag, und in den Garten hinuntergeschlichen. Die Welt war still und reglos, nur Amseln sangen leise und inbrünstig, und die schwarzen Segler gingen durch den zarten Himmel, ganz oben, und kreisten und verschwanden, und über die Gartenwege glitten die kleinen roten und schwarzen Schnecken zwischen weinenden Gräsern durch. Aber die Brust war still wie die Luft und das Herz weit wie die Welt und ohne Wünsche und ohne Schmerz.

Und wieder – ein Novembertag und nebelschwere Gassen. Menschenschatten huschten vorbei und gingen unter – fröstelnd und allein; aber auf einmal kam eine Helligkeit durch den Nebel und spann Goldfäden über die Straße, daß die Mauern hell wurden, und ferne Türme glänzten und wollten sich auflösen in lauter Licht und Duft ... Oh, die Gewalt des Lichtes, und wie die Seele sich aufschwang ... Und wiederum ... und wiederum ... Die Bilder reihten sich süß und ergreifend und hehr, all jene Augenblicke, da sie irgendwie den Zusammenhang gefühlt mit dem, was nicht menschlich war, und da sie selber mit ihrer kleinen Welt untergegangen in Ansehung der großen und allgemeinen – und es waren die einsamen Augenblicke, wo kein Mensch darin war, und die stillen, da Hand und Geist ruhten.

Wo war nun ein Anfang und wo ein Ende? Aber das Ziel allgegenwärtig ...

Als Anna die Augen wieder öffnete, war ein großes Leuchten darin und ein fremder Glanz, der den Bruder erschreckte: »Rudolf,« sagte sie leise, und ihre Stimme bebte, »es ist alles anders, alles ganz anders – so groß und so klein ... Oh, wann ich's dir sagen könnt!«

Sie suchte nach Worten; aber da war es, als ob eine Riesenhand ihr nach der Brust griffe und sie zusammendrückte, daß der Atem stehen blieb und dann bang und kurz durch die Lippen flatterte, und ihre Augen wurden qualvoll und weit.

Aber als es nachließ, kam wiederum der seltsame Glanz: »Weißt du,« flüsterte sie geheimnisvoll, »damalen, als die große Sonnenfinsternis war und der Schrecken kam über die Leut, daß sie Lichter anzündeten mitts am Tag und auf die Knie fielen und die Weiber, die das Spinnen nimmer sahen auf den Straßen, liefen davon und heulten – lauter Angst und Wirre – Aber auf einmal fingen die Amseln zu singen an, auf dem Lindenhof, alle zusammen zu ungewohnter Stunde und da man aufsah, war der Himmel weit und scheinend wie ein Amethyst ... So ist es, Bruder, wir sehen durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort ... Wornach wir jagen und was wir fürchten, ist nichts, aber das Große liegt in der Stille ... Soviel Bangnis und Eifer, und ist doch alles gleich, wo wir aufhören und wann. Alles Ende ist Beginn, die Einkehr ins Ganze aber Sinn und Seligkeit... Denn Not und Glück des einzelnen gilt nicht, sondern allein das Ganze. Hörst, Bruder, das All-Ganze, das All-Gemeine nur ... Hörst du mich? Hörst du mich?«

»Ja,« antwortete er gepreßt; aber er hatte nicht gehört und nicht verstanden, er sah bloß, wie ihre Augen wieder bang wurden und der Atem kurz, und er dachte: Nun geht's an die Lunge, und darüber wollte ihm das Herz brechen.

Und dann kam es wiederum, stärker als das erste Mal, daß sie unter tausend Qualen rang und der Atem keuchte, und in all dem furchtbaren Kampf hatte nur das eine Wort mehr Raum: »Eng! Eng! So eng ...«

Und dann wollte auch das Herz nicht mehr.

*

Als die brechende Dämmerung den ersten fahlen Schein über die Erde warf, wanderte Pfarrer Rudolf Waser auf den nachtfeuchten Wegen Zürich zu. Die frühsten Bauern, die ihn vorübergehen sahen, versunken und ohne Gruß, schauten ihm kopfsschüttelnd nach: »Der studiert an einem schweren Text,« und dann wandten sie sich wieder an ihre Arbeit.

Still und farblos lagen die kahlen Äcker und der See grau und trüb. Der Pfarrer sah in die verschattete Welt hinein. So arm, dachte er, so arm, wann das Licht fehlt, und mit neuem Schmerz kam es über ihn, was sie verloren diese Nacht, sie alle, und daß es auch für ihn grau geworden war und trüb. And wiederum wie in dieser furchtbaren Nacht, da er mit blutleeren Fingern die weißen Lider über die geliebten Augen gelegt, empfand er es martervoll, wie alles Beste und Köstlichste in seinem Leben und alles Große und nach oben Gerichtete in seinem Sinn irgendwie mit diesem großen Herzen zusammengehangen hatte, das nun für immer stillstand.

Und da war die quälende Ahnung, daß sie an ihr gefehlt, nicht bloß Schlatter und das Estherlein, nein, sie alle – und wußte doch nicht recht wie und warum.

Aber dann stand die Stadt vor ihm, grau und hoch vor dem grauen Himmel, und die dunkeln Tore gähnten schwarz wie Rachen beutegieriger Tiere. Und dieses Bild rief einer frühen Erinnerung: Damalen, als sie von Rüti zurückkehrten, da hatte auch die Stadt so fahl und streng vor ihnen gestanden, und da hatte das Anneli plötzlich die Ärmchen um seinen Hals geworfen: »Rudi, da hinein, das kann ich nicht, so grau alles, so eng!« und die Tränen waren ihm aus den bangen Augen gestürzt.

»So eng!« Es war dasselbe Wort, das er diese Nacht zuletzt von ihr gehört. Und nun war es ihm, als ob er ihr ganzes Leben zwischen diese beiden Worte eingesperrt sähe wie in einem Ring, und es stieg ihm auf, wie sie immer nach der Weite verlangt hatte, früh schon, und dann, als sie wirklich hinausfuhren, selbander in die große Welt, wie alles neu an ihr wurde und größer, daß sie sich entfaltete, wie der Baum auf dem freien Felde, ja – und gestern, als er sie herankommen sah, war sie nicht leicht einhergegangen, wie beschwingt, und ihr Gesicht, wie es glänzte, da sie davon redete, daß es nun doch noch kommen würde, die Befreiung, ach, und lag doch schon arm und gebrochen da.

Der Friedhof schimmerte herüber, fahl mit den weißen Mauern im fahlen Licht ... Er zuckte zusammen. Dahin würde sie nun kommen, morgen schon, in den allerengsten Raum. Und plötzlich war es ihm, als ob er die Schwester dort oben durch das Lindentor schreiten sähe, leicht beschwingt und die Augen voller Glanz, und sie lachte nach den strengen Türmen zurück, wie damalen, als sie selbander auszogen: » Valete, nun laß ich euch!« Aber die andern drohten: »Wart nur, wir lassen dich nicht!« Und da war der Totenhof und war eine fahle Riesenhand und streckte sich nach ihr aus und packte sie, und war eine Totenhand: »Dich lassen wir nicht ...«

Er fuhr sich über die trüben Augen. Die Stirn war schweißbedeckt, ihn fröstelte, und wie er langsam über den Graben schritt, strauchelte sein Fuß, daß er sich am Brückengeländer halten mußte.

Da hub im großen Münster drüben die Morgenglocke an, erst dünn und klagend und dann schier eilig. Der Pfarrer atmete tief auf. Dann faltete er die Hände und schritt durchs Lindentor ins graue Halblicht der engen Gäßlein, gesenkten Hauptes – und sah es nicht, wie im Osten das junge Licht herausbrach, still und ohne Gepränge. Mit weißem Schimmer durchdrang es Himmel und Erde, verschmolz das Getrennte, und was hart war und eng, löste sich in der milden Glorie seiner allumfassenden Versöhnung.