Das Jätvreni: ELTeC Ausgabe Waser, Maria (1878-1939) ELTeC conversion Priska Rüegg 50 12497

2020-05-18

Transcription UB Basel Scan UB Basel Das Jätvreni. Erzählung von Maria Waser Waser, Maria Rascher & CIE Zürich 1917

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Auch heute noch ist das behäbige Bernerdorf, das seine grossdachigen Häuser stattlich über den saftiggrünen Grund eines Wiesentales ausbreitet, seiner Gärten wegen bekannt und vielgepriesen. Diese zeigen nicht etwa bäurischen Charakter, vielmehr erscheinen sie vornehm abgemessen und haben einen herrschaftlichen Anstrich, der überall das Wirken des Berufsgärtners verrät. Das war jedoch nicht immer so. Es gab eine Zeit, wo das Dorf noch keinen Gärtner besass, wo man noch nichts wusste von englischem Rasen, blendenden Kieswegen und Wasserkünsten, wo die Gärten zwar minder elegant und kühl ausgezirkelt erschienen, aber doch nicht von geringerer Schönheit; denn damals nahm ihr rühmlicher Ruf seinen Ursprung. Bäurisch heimelig, von einem wundersamen Reichtum der Farben und Düfte waren sie damals, und von den letzten sonnigen Märztagen bis zu den ersten Herbststürmen gab es darin des Summens und Zwitscherns kein Ende. Diese innige Pracht aber war einem alten Weibe zu verdanken — heute ist es tot, und seine Arbeit ist in kalte Berufshand übergegangen — dem Jätvreni. Das war ein sonderbarer Mensch, dem von der Anmut seiner Gärten wenig genug anzuhaften schien. Eine starre verschlossene Frau, in sich gekehrt und ohne Freundlichkeit, mit einem Gemüt, in dem Hass und Liebe gleich üppig wucherten. Um die Menschen kümmerte sie sich kaum; aber für eines jeden Garten hatte sie ein wachsames Auge und ein mütterliches Herz. Sie erschien ungerufen, wo ihre Arbeit nötig war, und tat sie um geringen Lohn, aufopfernd und mit einer glücklichen Hand, der alles zur Freude gedieh, sodass der einzige Garten, dem das Jätvreni fern blieb, neben den andern kalt und freudlos erschien wie ein künstlicher Strauss, und war doch stolz genug angelegt, da er zum reichsten Hof der ganzen Gegend gehörte, zur Sonnmatt.

Eigentlich hätte man also das Jätvreni ebensogut Gärtnervreni nennen können, da ihm jegliche Pflege des Blumengartens anvertraut war; aber beim Jäten kam seine Besonderheit am stärksten zum Ausdruck. Das hatte ihm den Übernamen eingebracht, und es trug ihn auch mit einem gewissen Stolz als einen Ehrentitel, da er denjenigen Teil seiner Arbeit nannte, dem es seine grösste Liebe und Kunst widmete.

Es war etwas gar Eigenes, dem Jätvreni zuzusehen, wenn es seinem Lieblingswerk oblag, und nie konnte einem die Nichtigkeit jener Rede von der Niedertracht gewisser Arbeit besser zum Bewusstsein kommen und die Wahrheit, dass es beim Menschen allein liegt, ein Werk zu adeln oder herabzuziehen, als wenn man sah, wie diese alte Frau mit Leidenschaft und Kraft und mit einem gewissen grossartigen Pathos ihre Jätarbeit verrichtete. Freilich auch etwas Geheimnisvolles und Unheimliches war an ihr, wenn sie, die gekrümmte schwere Gestalt langsam auf ihren Knieen vorwärtsschiebend, mit starken Händen dem Unkraut zu Leibe ging und wenn dann die grauen Augen unter den wild zusammengewachsenen Brauen funkelten und der eingezogene Mund dumpfe Worte murmelte. Fast beängstigend aber war es, wenn man die dunkeln Reden belauschte und vernahm, wie die Alte mit Unkraut und Blumen Zwiesprache hielt, nicht anders, als ob sie mit Menschen zu tun gehabt hätte, denen sie Liebes oder Leides zufügen wollte. Wie ein Gott, der am jüngsten Tag zu Gericht sitzt — die Donnerstimme dröhnt, wenn er verurteilt, und Engelsharfen klingen, wenn er erlöst — so richtete das Jätvreni über Gut und Böse unter den Kräutern des Gartens, und seine Stimme grollte oder ward freundlich und weich. Da war es vor allem der Löwenzahn, dem sein grösster Zorn galt: „Ei, du Verfluchter, bist du schon wieder da! Bist doch der Schlechteste unter den Schlechten; denn du bist falsch, falsch wie der Versucher, der da hingeht und zeigt der armen Seele die Reiche der Welt und hat ein strahlend Gesicht, aber inwendig ist er angefüllt mit schwarzem Gift wie des Sonnmattbauers Fässer mit sündhaftem Wein. Also zeigst auch du ein strahlendes Gesicht, und der Saft deiner Stengel ist zart und milchweiss wie sanfte Worte; aber wenn ein unschuldig Kindlein dich pflückt, dann befleckst du ihm die zarten Hände und das weisse Kleid, dass man es nicht mehr sauber bringen kann. Du hast ein üppig Kraut und stolze glänzende Blätter; denn die freche Wurzel geht tief in den Boden und frisst den armen Blumen alle guten Säfte, dass sie welken müssen und sterben. Aber wart, du Teufel, du Verdammter, das Jätvreni kennt dich und deine heimtückische Wurzel und lässt nicht los, bis du vertilgt bist und kein Fäserchen von dir übrigbleibt, kein Fäserchen!“ Zu den Verdammten gehörte auch der Hahnenfuss: „Aha, hast dich schon wieder eingeschlichen, gelbs Blümelein! Bist so falsch und heimtückisch wie dein Herr und Geliebter, nur minder stark und schön. Dein Gesicht ist glatt und glänzt wie Butter; aber deine Wege sind verborgen, und du gehst um mit heuchlerischen Lippen. Während dein gelb Gesicht lächelt, streckst du die Arme aus im Verborgenen und erwürgst die reinen Blumen; aber dein Richter ist gekommen, der auffindet die verborgenen Wege und ausreutet alles Ärgernis und alle Schlechtigkeit zerstört, dass es geht wie in Jerusalem und kein Stein bleibt auf dem andern!“ Danr griffen die Hände zäh, mit grausamen gekrümmten Fingern zu, als ob es gegolten hätte, ein Lebendiges zu erwürgen, und das Messer bohrte tief in der Erde, bis kein Würzelchen mehr im Grunde stak.

Aber diese grossen Hände konnten auch zart und behutsam tun, und die Stimme konnte weich sein, mit einem tröstlichen und mütterlichen Klang, so besonders, wenn unter dem Jätkraut der feine Erdrauch sich fand: „Verzeih’s Gott, du armes Kindlein, dass ich dich nehmen muss! Bist schön und zart wie ein Seelchen. Deine Blätter sind fein wie Eisblumen und die Blümchen wie ein Räuchlein im Morgenrot. Du bist schön, an dir ist kein Arg; leicht könntest du unter den fürnehmen Blumen stehen und wärst der Schönsten eine, wenn-du einen stolzen Namen und noble Herkunft hättest; aber so bist auf dem Wege erwachsen und darum verachtet und ausgeschieden. Aber wart, mein Erdräuchlein, arms Kindlein, wie steht da geschrieben? Die Ersten sollen die Letzten sein, und die Letzten sollen die Ersten sein, und du wirst bald eingehen in den Ort, wo ist Seligkeit und Friede, und wirst dich freuen und lobsingen!“

Dieser Ort der Seligkeit aber war Jätvrenis Heimen. Ein winziges Häuschen an der Waldecke, braun und geduckt, mit klaren Scheiben, mit einem Ziegenstall hinterwärts nach dem magern Baumgarten und dem Kartoffel- und Bohnenplätz und einem kleinen Garten vorn heraus nach der Strasse. Hier fanden die begnadeten Unkräutlein, welche die Alte nach jedem Jättag in gütigen Händen mit sich trug, eine Heimstatt und konnten, zierlich ins Wasser gestellt, in schöngeblümten Töpfen ihr Leben angenehm beschliessen oder sich gar in den buchsbaumumkränzten Beetchen des Gartens wohlig einleben; denn nach und nach hatte das Jätvreni den ganzen kleinen Garten seinen verschupften Lieblingen eingeräumt. Das war nun freilich absonderlich genug, und keiner ging an dem Gärtchen vorbei, ohne sich kopfschüttelnd den Umstand zu besehen, wie da das leidige Unkraut wohlgeordnet in Beeten stand, wie hellrote Blutströpfchen, zitternde Hungerblümchen, Erdrauch und Augentrost sich auftaten und gediehen. Das war ja nicht anders, als wenn man arme Wegelagerer in fette Bürgerhäuser setzte, und man fand, dass niemand weniger Grund dazu habe, die köstliche Gartenerde nutzlosem Gestäud zu überlassen, als solch ein armes Weib, das jeden Rappen mühsam verdienen, wenn nicht gar erhungern musste. Denn dass auch diese armseligen Kräutlein ihre Schön heit hatten, das bemerkte niemand. Um so einleuch tender war einem jeden die Pracht einer mächtigen Kaktuspflanze, die in einem schwerfälligen Topf mitten im Garten auf überwuchertem Baumstrunk stand. Das war ein Prunkstück, um das manch einer das Jätvreni beneidete. Seltsam abenteuerlich war seine Gestalt im Frühling, wenn der reichverzweigte Stock seine fleischi gen Arme, auf denen nie ein Stäublein lag, um sich reckte, sodass sie wie von geheimer Kraft geschwellt erglänzten. Und wenn dann am Ende eines jeden Armes ein kleines Spitzchen hervortrat, erst herb und unscheinbar wie die Stacheln der Blätter, dann aber rasch zur grossen hellroten Knospe sich entwickelnd, war es jedes Jahr ein herrliches Wunder, das die Kinder, denen Jätvrenis Glockenkaktus wie das Sinnbild alles fremdländisch Geheimnisvollen erschien, mit staunender Erwartung beobachteten, bis eines Morgens die Knospen aufbrachen und die wunderbare Pflanze ihre Verklärung erlebte. Dann pilgerten wohl auch die Grossen zum Waldhäuschen hinaus, um sich den Zauber .zu besehen. Als mächtige, leuchtendrote Glocken hingen die schweren Blumen an den breiten Zweigen, und wenn die Sonne durch die roten Kronen schien, glänzte es wie Goldstaub über den Blüten, so weich und schimmernd war ihr Schmelz, und ein rotes Licht ergoss sich über die gelben Staubfäden, dass sie wie ein rotgüldenes Strahlenbündel aus dem Kelch hervorbrachen. Und wenn man die Finger behutsam in die Glocken hielt, dann wurden sie feuerrot wie Weihnachtskerzchen, und wenn eines seine Nase den Blumen nahe brachte, dann erhielt es ein hellrotes Gesicht wie vor einem bengalischen Feuer.

Allein, nicht einem jeden erlaubte das Jätvreni, solches zu tun; denn seinen Glockenkaktus hütete es eifersüchtig wie einen Schatz, und wenn man ihn bewundernd lobte, kam jedesmal ein triumphierendes Lachen in das alte Gesicht, und sie sagte mit feierlichem Worte: „Ja, ja, der Stein, den die Bauleute verworfen, ist zum Eckstein geworden!“ Das aber war eine Anspielung auf die Herkunft des Stockes. Aus einem armseligen Pflänzlein, das eine der undankbaren Pflege überdrüssige Hausfrau von ihrem Blumensteg verbannt und dem Jätvreni um einen halben Taglohn zugeschoben hatte, war der glänzende Glockenkaktus entstanden. Später dann hatte der Handel die frühere Besitzerin gereut, und um die herrlich entwickelte Pflanze soll sie oft genug mit dem Vreni gemarktet haben; aber es antwortete ihr so entschieden wie allen andern, die Kaufgelüste äusserten. Der Stock war ihm um keinen Preis feil; es war eigentlich verliebt darein, fast so sehr wie in seinen Enkelbuben, den Hans Barthlome, und den liebte es doch so über alle Massen und hatte ein solches Wesen mit ihm, dass man sich allgemein über die närrische Liebe der Alten aufhalten musste.

Ja, mehr als des Jätvrenis seltsames Wesen, mehr gar als sein Unkrautgarten war es die übermässige, eifersüchtige Liebe zu dem Jungen, welche die Leute zu der Meinung brachte, dass es nicht ganz richtig sei bei der Alten. Indessen trug ihr keiner ihre Narrheit nach, und keiner hatte einen Spott für sie, dieweil sie ihre Arbeit tüchtig und billig verrichtete, sich und den Jungen ohne Schulden durchbrachte und die unpassend wackern Kleider des Knaben, der einherging wie ein richtiger Bauernsohn, dem eigenen Munde absparte. Und dann konnte man die hülfreiche Frau gar zu gut brauchen, als dass man es mit ihr hätte verderben wollen. Die braunen, samtnen Wege der Gärten, die köstlich entwickelte, von keinem Unkraut belästigte Blumenpracht, schliesslich auch die gut instand gehaltenen Rohrsessel und Körbe und die herrlich warmen Endefinken, in denen der Fuss so wohlig versank, dass man die Behaglichkeit des Daseins doppelt innig empfand, das alles redete laut und eindringlich genug von Jätvrenis segensreichem Wirken im Sommer und Winter. Dann aber war da noch etwas Besonderes, ein gewisses ehrfürchtiges Gefühl, was dazu beitrug, dass man die Alte ungekränkt gewähren liess und dass kein Spott sich an sie wagte: man wusste, dass ihre Absonderlichkeiten einen trüben, schwermütigen Ursprung hatten und dass ihre Narrheit aus dem Unglück geboren war.

Zwar vom Glück hatte das Jätvreni Zeit seines Lebens nie viel zu spüren bekommen. Vom Augenblicke an, da sich der Barthlome Marbot, sein Mann, im eiskalten Wasser der Kanalbaute den Bluthusten geholt, hatte sich die Sorge im Waldhäuschen breit niedergelassen und für bleibend eingerichtet. Denn als der Mann sein noch junges Leben ausgehustet hatte, hinterliess er seinem Weibe nichts als ein verschuldetes Heimen und ein kaum jähriges Mägdlein, das so schwach und hinfällig war, dass niemand an sein Aufkommen glaubte. Nur das Jätvreni hatte daran geglaubt und das zarte Pflänzlein mit der ganzen Hingabe und angstvollen Liebe, der ihr heisses Herz fähig war, gepflegt. Und ihr guter Glaube und ihre glückliche Hand behielten recht. Das kleine Vreneli blieb am Leben und wuchs auf, und wenn es auch immer zart und durchsichtig blieb wie ein Erdräuchlein, so erreichte es doch sein achtzehntes Jahr ohne Störung und ohne dass das Erbe seines armen Vaters sich an ihm gezeigt hätte. Und was ihm an Kraft abging, das ersetzte ihm seine Schönheit, die von einer stillen und innigen Art war, und seine Reinheit und Herzensgüte, die vernehmbar aus den grossen grauen Augen sprachen. Damals erlebte das Waldhäuschen seine holden Zeiten; denn wenn das Jätvreni tagsüber seiner Arbeit nachging, so schaltete derweilen das blonde Vreneli im kleinen Haus und Garten, brachte zu der gewohnten Reinlichkeit die Schönheit und setzte der Sehnsucht seines verträumten Herzens in einem kleinen Blumenparadies ein Ziel, zu dem es das schlichte Heimen umwandelte. Da war kein Blümchen in Feld und Garten, dessen Schönheit es nicht verstand und irgendwie zur Geltung zu bringen wusste, vom ersten Erglühen der Krokusflämmchen bis zum ersterbenden Schein der Herbstzeitlose, und kein Plätzlein fast in Haus und Garten, dem es nicht die Freude eines Blumenschmuckes gönnte. Solchermassen ward das Waldhäuschen von einem Duft und Glanz umgeben, der manches Auge anzog und auch wohl auf zarten Wegen zu der Herrin dieses Blumenreiches hinleitete; waren die Blicke aber einmal dort angelangt, so fanden sie die Umkehr nicht so leicht.

Es kam ein Tag, wo das Vreneli mit verwirrtem und freudig erregtem Herzen sich dessen bewusst war, wo es entdeckte, dass der junge Sonnmattbauer nicht nur der Blumen wegen täglich am Gärtchen sich aufhielt, und wo ihm aus den strahlenden blauen Augen des Jünglings ein Wissen kam, das ihm die ganze Welt zum Paradiese umschuf. Und der Tag kam auch, wo andere dies bemerkten, und ganz zuletzt entdeckte es auch das Jätvreni. Aber da waren die Paradiesespforten schon zugefallen, und der armen Mutter gingen die Augen über ein zerstörtes Glück und ein zerstörtes Leben auf. Was half es, dass sie mit ihrer ganzen Kraft um dieses Glück und dieses Leben kämpfte — ein schlimmes Wort des alten Sonnmattbauers und die Hochzeit des jungen mit einer reichen Bauerntochter waren die Antwort auf alle Bitten, Drohungen und Erniedrigungen.

Daraufhin ward es still im Waldhäuschen. Der Garten verwucherte, die Fenstersimse wurden kahl, und keiner sah je mehr das Vreneli, bis man eınes Tags einen schmalen Sarg durch die niedere Türe trug und eine übermässig kräftige Kinderstimme verriet, dass ein schwaches Leben einem starken gewichen war.

Von da her hatte das Jätvreni sein starres, geheim nisvolles Wesen, und der kleine Hans Barthlome konnte zusehen, wie nach und nach im Gärtchen die farbenfrohen Blumen dem schlichten Unkraut Platz machten. Indessen kümmerte ihn dies wenig; sein Sinn war nach der andern Seite des Häuschens gerichtet, dorthin, wo die fruchttragenden Obstbäume standen und die Ziege kauend zwischen den Stämmen hin und wieder ging, und weiter hinauf, nach der Waldlücke am Eichenberg, wo die wuchtigen Schläge der Holzhauer so lustigen Klang gaben und wo der Blick rings über die herrlich gebreiteten Felder frei war und man auf braunem Acker den Pflug wandern sah. Er wuchs auf wie eine junge Eiche, stetig und stark, und was der Sonnmattbauer so starr geleugnet hatte, das war bald an des Buben blondem Kraushaar und den strahlenden blauen Augen offenbar geworden. Sonst wäre der alte Bauer wohl kaum eines Abends ins Waldhäuschen gegangen mit einem Anerbieten, das weniger seiner Zusammenhäbigkeit als der Angst vor dem kleinen Krauskopf entsprach, für dessen Wegzug aus dem Dorfe ihm kein Preis zu hoch war. Aber da musste er es erleben, dass ein armes Weib für seinen Stolz und seine Rache noch mehr wagt als ein reicher Bauer für seinen guten Namen, und als er verdutzt und geschmäht wie ein‘ geschlagener Hund das arme Häuschen verliess, wusste er, dass er dieses Ärgernis Zeit seines Lebens nicht loswerden würde, dass es mit dem Buben wachsen und seinen guten Namen aufzerren werde, und während. diese Angst an ihm frass, nahm in Jätvrenis Herzen ein Triumphgefühl Platz, das aus jedem Blick auf den frischen Buben neue Nahrung sog.

An der Grossmutter Handwerk zeigte der Hans Barthlome wenig Freude, und selten hielt er es lange neben ihr aus in den engen Gartenwegen; wenn aber irgendwo ein Pflug die dunkle Erde durchwühlte oder eine Sense im morgenfeuchten Grase rauschte, da war der Kleine dabei, und hinter jedem Pferd und jedem Rind lief er her, kaum dass er recht auf den eigenen Füssen stehen konnte. Die Grossmuiter liess ihn gewähren und gönnte ihm seine Bauernlust; nur als sie ihn einmal über den Wiesensteg nach dem grossen Kornfeld hinüberlaufen sah, wo des Sonnmattbauern Knechte eben beim Garbenbinden waren, rief sie ihn mit barschen Worten zurück und nahm ihm das heilige Versprechen ab, nie mehr das Brückchen zu überschreiten, das die Waldmatte mit der Sonnmattwiese verband.

Von da her blieb dem Knaben eine Sehnsucht im Herzen zurück, und alle seine kindlichen Wünsche schwärmten um die verbotene Herrlichkeit des stolzen Hofes, dessen entlegenste Wiese nur durch einen kleinen Bach von der Grossmutter Bohnenplätz getrennt war. Und einmal im Frühjahr, als er einen ganzen Tag allein zu Hause bleiben musste, wurde die Versuchung übermächtig, und weil er nicht über die Brücke gehen durfte, lief er dem Bächlein nach, bis er zu einer seichten Stelle kam, wo er durchwaten konnte. Einmal drüben, ging es vorwärts mit leichten Füssen über saftgrüne Wässermatten, in denen die tiefgelben Dotterblumen und leuchtenden Primeln sich bachwärts zusammenscharten, dann zwischen unendlichen Feldern hindurch, wo auf beiden Seiten hellgrün und zitternd die junge Saat stand, endlich zu dem mächtigen Baumgarten, der das weite Gehöft mit einem traulichen Obstwald umschloss und mit breiten Kronen das Haus verdeckte, sodass nur mehr Giebel und Glockentürmchen von Haupt- und Nebengebäuden sichtbar wurden. Und auf einmal stand er mitten in der Hofstatt, vor dem grossen Hause mit dem freundlich gerundeten Vordach und der gewaltigen Einfahrt, die sich eben krachend auftat, um einen hohen Leiterwagen herauszulassen.

Mit bangem Herzklopfen drückte sich der Knabe hinter den granitenen Brunnenstock, sodass die weissen Pfauentauben, die sich radschlagend darauf niedergelassen hatten, erschreckt davonflogen. Aber die Knechte nahmen seiner nicht wahr, und als sie aus dem Stall zwei Pferde herausholten und sie an den Wagen spannten, schlich er sich unbemerkt zu den Stalltüren und blickte hinein. Da standen die glänzenden Pferde Seite an Seite in langer Reihe, warfen die Köpfe hoch und schlugen mit den Schwänzen, dass es knisterte und dem Buben vor Lust ein Jauchzer in den Hals stieg, den er nur mit Mühe unterdrücken konnte. Auf der andern Seite aber waren die Kühe fast so sauber und glänzend wie die Pferde, sie frassen aus blanker Krippe das reichliche Heu, dass ihnen links und rechts das Wasser von den Lefzen tropfte, und weiter hinten standen neue und immer wieder andere, dass dem Hans Barthlome das Zählen verging und er meinte, gewiss seien da soviel Rinder beisammen wie am heiligen Sonntag Leute in der Kirche. Dann aber wurden die Türen wieder zugemacht, und der Kleine lief auf die andere Seite des Hauses, wo mitten in einem samtbraunen See sauber und glatt geflochten der grosse Miststock stand. Eine alte Magd hockte daneben und schwenkte ihr schwarzes Nachtmahlkleid in der dunkeln Jauche, damit es auf Ostern wieder Glanz und Festigkeit bekomme.

Hans Barthlome wollte sich ihr zutraulich nähern, um ihr bei der seltsamen Arbeit zuzusehen; wie aber die Frau ihn erblickte, fuhr ihr ein arger Schreck übers Gesicht: „Um Gottes willen, Bub, was tust du da! Gleich machst, dass du fortkommst; das fehlte noch, dass der alte Bauer dich sähe!“ Gleichzeitig tönte von der Scheune her eine strenge Befehlsstimme, und die Glocke im Türmchen gab hellen Laut, um von fernher die Knechte zum Mittagessen herbeizurufen. Da stieg die heisse Angst in dem Buben auf, und er rannte davon, dass ihm die Sohlen brannten; aber schneller noch als die Füsse jagte das bange Herz, sodass dem Kleinen die Augen flimmerten und die Ohren rauschten, als ob sich die rauhe Stimme des Bauern darin verfangen hätte.

Wie unendlich weit schien der Weg bis zum Bach, und war es denn möglich, dass er diese ungeheure Strecke kurz zuvor so leichtsinnig zurückgelegt hatte? Und kamen sie nicht alle hinter ihm drein, der Bauer und die Knechte und die alte Magd? Und war da nicht eine Hand, die ihn packen wollte? Aber schliesslich war doch der Bach erreicht, und als Hans Barthlome über die Brücke zurückblickte, sah er hinter sich still und wohlgemut die grüne Wiese liegen, und die helle Sonne war darüber. Vor ihm aber stand das Waldhäuschen, und die kleinen dürftigen Fenster sahen ihn traurig an, grad als ob sie gewusst hätten, dass er ein grosses Unrecht getan. Da schlich der Knabe, noch immer am ganzen Körper zitternd, in den dunkeln Stall, wo ihm auf einmal alles schmutzig und armselig vorkam, legte beide Arme um den Hals der alten Ziege und schluchzte zum Herzbrechen.

Von da an war die Sonnmatt vor den Füssen des kleinen Hans Barthlome sicher, nicht aber vor seinen Gedanken. Die kreisten nach wie vor um das verbotene Land, und wenn sie früher Neugier geleitet hatte, so wurden sie jetzt von banger Angst und wilden Fragen getrieben. Das herrliche Bild von dem stolzen Hofe jedoch blieb tief in der kindlichen Seele eingebrannt, und die Farben wurden nicht blasser mit der Zeit, sondern gewannen noch an Helligkeit und Pracht.

Von alledem ahnte das Jätvreni nichts. Der Junge wusste zu schweigen, und das war nicht schwer neben der Alten, die sich lieber in dunkeln Reden als in lebendiger Zwiesprache erging. Wohl war Hans Barthlome das Ziel all ihrer stillen und lauten Gedanken, aber diese gruben nicht in der Seele des Knaben. Als heisse Wünsche taumelten sie um ihn und trieben an seiner Kraft wie der glühende Atem des Föhn an der jungen Saat. Seitdem sie des alten Sonnmattbauern Furcht vor dem Jungen erkannt hatte, war ihr klar geworden; dass der Bub auserwählt sei, um alle Schmach und alles Elend, das die Sonnmatt über das Waldhäuschen gebracht, zu rächen. Nicht durch eigene Taten — soviel hatte das Jätvreni in seinem zerdrückten Leben gelernt, dass kein Armer sich an einem Reichen rächen kann — sondern in einem höhern Sinn. Die Marbotin war immer eine eifrige Bibelleserın gewesen; seit dem Unglück mit dem Vreneli aber war sie unvermerkt aus den lichten Gefilden des Evangeliums auf die schwerbeschatteten Pfade der alten Propheten gelangt, hatte sich an jedem strengen Wort über göttliche Gerechtigkeit und Wiedervergeltung berauscht und hatte gelernt, in dem Knaben das Werkzeug der göttlichen Weisheit zu erblicken. Mit ihm sollte nicht nur die Schande der Sonnmättler gross werden, dass sie ihren ehrbaren Namen erstickte, auch ihre Reue sollte mit dem Knaben mächtig aufspriessen und der Neid, bis sie Glück und Ruhe der Selbstgerechten erwürgt hatten. Das Schicksal kam diesen heissen Wünschen entgegen. Jahr um Jahr verging, ohne dass auf der Sonnmatt eine Kinderstimme laut wurde, und als der alte Bauer die Augen schloss, musste er sein stolzes Gut ohne Hoffnung auf den ersehnten Enkel hinterlassen.

Hans Barthlome aber entwickelte sich wie ein Baum auf Freiland, ward stark und klug und eilte seinen Altersgenossen voran wie der Edelhengst den Ackergäulen, und als er im Konfirmandenzug zur Kirche ging, zeigte es sich, dass er nicht nur der Grösste, sondern auch der Schönste unter der jungen Schar war. An diesem Charfreitag hatten Jätvrenis Wünsche ihr erstes Ziel erreicht; denn lebendiger als alle bewundernden Worte, die da und dort in der neugierigen Menge über den flotten Burschen laut wurden, war ihr der Blick des Sonnmattbauers ins Herz gegangen, den er dem jungen Hans Barthlome nachsandte, als dieser breitschultrig und hoch die Stufen zum Taufstein emporstieg, um seinen Spruch entgegenzunehmen. Alle nagende Reue und alles heisse Verlangen, die das Jätvreni seinem Widersacher ins Herz gewünscht, hatten in diesem Blick gelodert und das durch die Jahre verhärtete Gesicht mit seltsamer Flamme umflackert. Da war in des Weibes Seele ein Jubel angegangen, der nicht verstummen mochte und noch am Ostersonntag deutlich in den grauen Augen stand, als das Jätvreni stolz aufgerichtet neben seinem Enkel zur Kirche ging und mit jedem Blicke triumphierte wie eine, die sich vom Schicksalsbaum den schönsten Tag herunterlangt. In der Tat barg dieser sonnige Ostertag vielleicht Jätvrenis glücklichste Stunden; es war aber auch der Tag, an dem das Neue in ihr Leben kommen sollte, das all ihre Hoffnungen, Glück und Glaube zu zerschmettern drohte.

Dies nahm seinen Anfang, während das Jätvreni ahnungslos unter den alten breitästigen Kastanienbäumen des Kirchhofes sass und auf seinen Buben wartete, der drinnen in der Kirche zum erstenmal an den Tisch des Herrn trat. Ganz still sass die Alte auf der breiten Steinbank und horchte auf die verlorenen Orgeltöne, die zu ihr herausdrangen. Um sie her lag die helle Frühlingssonne und zog aus Jätvrenis verlegenem schwarzem Kleid, das alt und modrig roch, die schäbigrötlichen Stellen hervor. Die Alte sog den müden Geruch des Kleides ein, strich mit der grossen Hand über die abgetragenen Stellen und dachte an alles Leid, das sie in diesem Kleide erlebt, und wie es nun doch noch einen frohen Tag sehen durfte. Sie dachte auch daran, dass dies einst ihr Nachtmahlkleid gewesen und dass sie seit Vrenelis Tod nie mehr den Weg zum Tisch des Herrn gefunden hatte, seit die Worte von Verzeihung und Versöhnung für das Jätvreni keinen Sinn mehr hatten.

Auch heute war sie nach der Predigt hinausgegangen; denn auch heute hatte die Freude in ıhr nichts Versöhnendes an sich, sondern war heiss und grimm und sass ihr wie ein Rausch im Kopfe. Ihre Blicke tasteten an der Kirchentüre und bettelten, dass sie sich auftäte und ihr den Buben herausliesse. Dann würde er über die Stufen herunterkommen, stark und stolz wie keiner, und die Sonne würde ihm durch das Kraushaar blitzen, und die Leute würden ihm bewundernd nachschauen und einander zuflüstern, dass der Marbot doch der Flotteste sei von allen. Und der Sonnmattbauer würde es hören und würde an seine gelbe Frau denken und an sein eigenes verdorrtes Leben, und der Neid würde ihm in den Hals steigen und ihn würgen und würde ihn nie mehr loslassen und ihm die Augen heiss und die Zunge bitter machen, dass er versengen müsste mitten in seinem gottlosen Reichtum . .

Derweil sass Hans Barthlome drinnen in der Kirche allein auf seinem Plätzchen, von den andern getrennt, wie einer, den man aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen hat; denn als die Grossmutter mit den übrigen Predigtgängern die Kirche verlassen hatte und die jungen Kommunikanten von ihren Angehörigen nach vorn geführt worden waren, wo der Abendmahlstisch stand, war er sitzen geblieben, halb aus Scheu — denn die Heiligkeit der Stunde lastete auf ihm — halb aus Trotz, da niemand sich um ihn kümmerte und er sich keinem aufdrängen wollte. Nun sass er da, trübsinnig, und starrte auf die leeren Bankreihen, die ihn von der feierlichen Gemeinde trennten, und da war es, dass ein Gedanke über ihn kam, grausam und übermächtig, dass es ihm den Atem verschlug und das Wasser in die Augen trieb, der Gedanke, er gehöre nicht zu den andern, er sei ein Ausgeschlossener. Alle hässlichen Zweifel, für die der tapfere Knabe nie ein Ohr gehabt hatte, bestürmten ihn in dieser heiligen Stunde, die der versöhnenden Liebe geweiht ist. War es die Stimme der alten Magd, die einst das neugierige Kind von der Sonnmatt weggejagt, oder gehörte sie dem hochmütigen Hubelpeter, der den Vaterlosen verhöhnte, oder waren es der Grossmutter. dunkle Reden, die da auf ihn eindrangen und mit dem Singen und Grollen der Orgel höhnische und drohende Dinge erzählten? Ob er denn nie gesehen, wie die Leute über ihn spotteten und dass er nur ein armer Geduldeter sei? Aber das Leben werde ihm nun schon zeigen, was es mit einem verachteten Unnötigen tun könne! Mit der Schule sei es nun aus, wo er sich habe grossmachen können, aber im Leben frage man nicht nach klug und dumm und fleissig und faul, da gelte nur der, welcher Reichtum habe und Name. Und ob er nie darüber nachgedacht, dass er der Ärmste sei unter den Armen? Denn die andern hätten doch ihre Eltern, er aber sei so elend, dass der eigene Vater ihn verleugne und verstosse. Keinen Menschen habe er auf der Welt ausser der alten Grossmutter, deren Liebe zwar heiss sei, aber schwer und erstickend und ohne Freudigkeit . .. Das wisperte und toste in seinen Ohren, schwarze Flammen tanzten vor seinen Augen, dass ihn die Lider brannten und der Atem heiss durch die beengte Brust ging.

Da plötzlich war es still. Die Orgel schwieg, und eine ruhige kühle Stimme hub an. Das war wie frischer Luftstrom und tiefes Atemholen. Der Knabe richtete sich auf. War das nicht die Kirche, in der er so oft neben der Grossmutter gesessen, und es hatte ihn etwas Schönes und Andächtiges gedünkt, dieser kühlen ruhigen Stimme zu lauschen? Und die Sonne, die dort in schmalen Streifen durch den Epheuverhang des offenen Fensters brach, hatte er sie nicht heute morgen mit einer feiertäglichen und scheuen Freude begrüsst? Und sprach da die Stimme im Chor nicht von einer Liebe, die alles verzeiht und vor der alle gleich sind? Hatte er diese herrliche Botschaft nicht heute morgen noch geglaubt mit ganzer Inbrunst und sass er nun nicht da mit düstern Gedanken wie ein Verdammter und waren nicht statt der reinen himmlischen böse teuflische Mächte in ihm lebendig? Hans Barthlome schrak zusammen, vom Chor her kamen die strengen Worte, und diesmal klang die Stimme rauh und hart wie Hammerschlag: „Wer aber unwürdig isset und trinket, der isset und trinket sich selbst das Gericht.“ Ihn schauderte. War er nun nicht einer von denen, die hingingen, um sich selbst zu richten, vielleicht auf ewig zu verdammen? Eine grenzenlose Angst kam über ihn. Hatte er soeben nicht eine Todsünde begangen, da er in geweihter Stunde verruchten Gedanken Raum gegeben? Mit Recht sass er dahinten als ein Ausgeschlossener. Die alle dort vorn standen mit sonntäglichen Seelen am Tisch des Herrn, er aber haderte und grollte und schmähte seine Nächsten wie ein Rasender. War er denn würdig, die reine Speise zu geniessen? War er versöhnt und mit seinem Gewissen im reinen, wie die dort es waren, die so still und abgeklärt die hei lige Handlung begingen?

Die Orgel setzte wieder ein, diesmal zart und geheimnisvoll wie Engelstimmen, und Hans Barthlome war, als ob die Töne mit begütigenden Fingern ihm über die heisse Stirne glitten und eine sanfte Reinheit über ihn ausbreiteten. Die wirren Stimmen schwiegen. Langsam wurde es still in ihm, und vom Herzen drang eine köstliche Wärme herauf und machte die wilden Pulse glatt und gleich. Er sah, wie die Männer sich erhoben, einer nach dem andern, und in feierlicher Prozession zum Altar schritten, und da fühlte er, dass auch er sich ihnen anschliessen durfte, und es war wie ein Jubel in ihm, dass er alles Unrecht von sich ablegen, dass er mit heller Stirne und reinem Herzen vor den Altar treten konnte als einer, der verziehen hat.

Mit vor Andacht scheuen Blicken folgte er den Mannen. Soeben schritt ein alter Bauer die Stufen empor, und es war ehrfürchtig zu sehen, wie die Sonne auf dem weissen Scheitel glänzte. Nun trat er an den heiligen Tisch, nun musste das Grosse geschehen. Kaum wagte der Knabe die Augen zu heben; denn ihm bangte fast vor dem Wunder dieser in göttliche Geheimnisse gehüllten Handlung. Unsicher, wie verschleiert gingen die Blicke dorthin, wo die Keichhalter standen. Aber, Herrgott, was war das! Ein Stich fuhr ihm durch die Brust, dass er sich zusammenkrümmen musste — der dort stand und den heiligen Becher dem Alten bot, das war ja der Sonnmattbauer, war der Mensch, der seine Mutter ins Grab gebracht und ihn verleugnet und verstossen hatte. So war denn alles Trug und Falschheit und das heilige Abendmahl selbst ein Gaukelspiel; denn wie könnte es sonst geschehen, dass der dort das geweihte Gefäss halten konnte, ohne dass es ihm zu Feuer wurde zwischen den schändlichen Händen, und wie wäre es sonst möglich, dass er das Mahl der reinsten Liebe dem zu reichen wagte, an dem er sich versündigt hatte sein Leben lang! Aber nein, das durfte nicht geschehen! So mochten die Leute, die den Frevel stillschweigend annahmen, sehen, wie es ist, wenn der arme Waldhäusler das Abendmahl verweigert, das ihm der reichste Bauer mit heuchlerischer Hand reicht! Hans Barthlome warf den Kopf hoch. Alle bangen und ehrfürchtigen Gefühle waren von ihm abgefallen, der Grossmutter Worte bohrten in ihm, und ein heisser Wille stieg auf, den Frevel zu brandmarken. Als die letzten Männer aus den Reihen traten, erhob er sich stolz und schritt von seinem einsamen Plätzchen mit festen Tritten zum Chor, sodass seine Füsse unfeierlich auf den roten Fliesen aufschlugen. Nun erstieg er die Stufen, nun stand er ihm gegenüber, nun musste das grosse Wort fallen, das jenen vernichten sollte. Stramm richtete sich der Knabe auf, dass er dem breitschultrigen Mann vor sich an Grösse wenig nachgab, und seine herausfordernden Blicke drangen zum erstenmal in das Gesicht des Bauern ...

Aber was war das, dass plötzlich ein Schauer über ihn ging, dass sich die geballte Hand ihm löste und zitternd nach dem Kelch griff? War ein göttliches Wunder an ihm geschehen oder hatte die Kraft allein in dem stillen, festen Blicke gelegen, der dem seinen entgegenkam und ihn umfasste wie eine starke gütige Hand? War es die himmlische Liebe, die mit der heiligen Speise in ihn drang und ihm alles in neuen Farben zeigte, oder war, es ein menschliches Gefühl, von menschlicher Kraft erweckt, das ihn plötzlich erfüllte und ihm eine Welt zeigen wollte, wo Güte und Vertrauen und frohes Sichverstehen herrschten und eine Liebe, die so ganz anders war als der Grossmutter enge und bedrückende Leidenschaftlichkeit? Wie im Traum schritt der Knabe die Stufen hinunter, da fühlte er noch einmal ein paar Augen, die sich an ihn hängten mit ängstlichem, aber nicht unfreundlichem Blick: sie standen im abgehärmten Gesicht der Sonnmattbäuerin, die eben in der Reihe der Frauen dem heiligen Tisch zuschritt. Dann sass Hans Barthlome wieder auf der Kirchenbank, nicht mehr an einsamer Stelle, sondern vorn neben den andern, und ihm war, als ob etwas Grosses, Hoffnungsvolles in ihm aufginge, das die Brust weit machte und die Augen hell und das gut war und warm wie Sonnenschein über dem Walde.

Als die Kirchentüre sich öffnete und das harrende Jätvreni unter den schwarzgekleideten Menschen seinen Buben über die breite Kirchentreppe herunterkommen sah, da klopfte der Alten das Herz vor Freude. Gerade so, wie sie ihn erwartet, trat er ihr entgegen, stark und stolz, und es war, als ob die Sonne, die durch sein Kraushaar blitzte, auch in seinen Augen sich verfangen hätte. Und als sie sah, wie die Leute ihm nachschauten und zusammen flüsterten, wiegte sie bedeutsam den Kopf hin und her, und die eingezogenen Lippen murmelten ein übers andere Mal: „Der Stein, den die Bauleute verworfen, ist zum Eckstein geworden.“

War ein göttliches Wunder an ihm geschehen oder hatte er etwas Menschliches erlebt? Hans Barthlome staunte und staunte, wie er. am Nachmittag einsam zur Waldlücke am Eichenberg hinaufstieg und ihm alles neu und anders vorkam, und war doch die alte liebe Welt. Da waren die vertrauten Plätzchen, wo er im Sommer die Erdbeeren gepflückt hatte und im Herbst die Buchnüsschen zusammengelesen, und unten lag das Land ausgebreitet, wie er es immer gesehen, breit und wohlig zwischen den krausen Waldhügeln und dem Leberberg, der mit himmelblauen Wellen die Ferne verschloss. Und da war das Dorf mit dem spitzen Kirchturm, der unten so hoch schien, dass man meinte, er gehe in den Himmel hinein, und der von da oben gesehen so klein war und geduckt, kaum höher als das nahe Glockentürmchen der Sonnmatt. Und da waren die weiten, weiten Felder rund um den stolzen Hof und die Wässerwiesen, und bereits zogen die vielverzweigten Wasserarme grüne und gelbe Bänder in die braunen Wintermatten, so sprossten schon junges Gras und Dotterblumen. Hans Barthlome kannte jeden Fleck auf dem gesegneten Stück Erde, das zur Sonnmatt gehörte, wusste, wo der Hafer am besten gedieh und wo das Korn am stolzesten stand, wo für Rüben und Flachs die beste Erde war, jedem Acker wusste er seine Zeit und seine Bestimmung, und doch war er seit jener verzweifelten Flucht dem Hofe nie: mehr nahegekommen. Nur von hier aus hatte er alles beobachtet, mit einer brennenden Lust und doch voll Groll und Schmerz. Heute war alles anders, der Groll war weg und der Schmerz. Wie war das gekommen? Die Blicke des Knaben gingen hin und her zwischen dem fernen Kirchturm und dem nahen Sonnmatttürmchen, und ihm war, als ob er nur zu warten brauchte, damit ein neues Wunder geschehe und von da unten ein grosses ungekanntes Glück zu ihm käme. Das ganze erwartungsvolle Frühlingsweben, das in der sonnigen Osterluft lag, wollte sich ın dem jungen Herzen zusammendrängen. Hans Barthlome lauschte auf jeden Ton, ob er ihm nichts Neues und Herrliches zu verkünden wisse, und als er am Abend allein mit der Grossmutter im schwacherhellten Stübchen war und die Alte in ihre Bibel versenkt dasass und schwerbeladene Worte vor sich hinmurmelte, lief er unruhig hin und wieder vom Fenster zur Türe und horchte in die Nacht hinaus wie einer, der auf etwas wartet. So kam es, dass er lange, bevor die Grossmutter etwas merkte, die Schritte wahrnahm, die in später Stunde dem Waldhaus sich nahten, und dass er das Pochen an der Tür hörte, fast ehe die Hand draussen anklopfte, und als gleich darauf in der niedern Tür der Sonnmattbauer erschien, wusste er, dass er darauf gewartet hatte den ganzen Tag.

Der Bauer tat den Hut vom Kopf und trat fest auf, dass die Diele knarrte: „Guten Abend geb Euch Gott! Ich hab mit Euch zu reden, Frau Marbot, mit Euch und dem Buben!“

Das Jätvreni hatte zuerst entsetzt mit den Händen in die Luft gegriffen wie abwehrend; dann aber erhob es sich und stellte sich breit vor den Mann hin, mit harten Fäusten, als ob es ihm nachträglich noch den Eintritt verwehren wollte, und die beiden Gesichter standen sich nahe gegenüber, Auge in Auge, das ernste geschlossene des Mannes und das zerrissene, flackernde der alten Frau.

„Ich hab heute dem Hans Barthlome den Nachtmahlskelch gereicht. Glaubt, ich hätte es nicht getan, wenn ich nicht vorher mit mir ins reine gekommen wäre. Ich will gutmachen. Ich will mich zu dem Buben bekennen und ihn zu mir nehmen.“

Streng, fast rauh ‚hatten die Worte geklungen, als ob sie den Weg nicht leicht gefunden hätten. Dann war es einen Augenblick still. Nur vom Ofen her, wo der Knabe stand, wurde ein sonderbarer Laut vernehmbar, war wie ein tiefes Aufatmen, wie unterdrücktes Schluchzen oder ein verhaltener Jubelschrei.

Das Jätvreni bäumte sich auf wie unter einem Peitschenhieb ; dann tat es zwei grosse Schritte nach der Ecke, wo das breite Bett stand, und riss mit fester Hand den rotgewürfelten Vorhang zurück, dass die Bettstange stöhnte: „Da, schau her, Sonnmattbauer! Hier hat das Vreneli gelegen in seinem Elend. Drei Tage lang hat’s geschrieen und sich gewälzt in seinen Schmerzen, hat hundertmal nach Einem gerufen; aber der ist nicht gekommen. Und wiederum drei Tage lag’s da, still und weiss wie ein Engel, und das Würmchen hat geschrieen neben ihm; aber sein Vater ist nicht gekommen. Da hab ich’s aufgezogen, hab geschafft und gehungert für den Buben, und jetzt, da er gross ist und stark, jetzt kommt Ihr wie der Dieb in der Nacht und wollt ihn mir stehlen und in Euer gottverfluchtes Haus schleppen, weil der Herr es gebrandmarkt hat und gezeichnet mit Unfruchtbarkeit! Aber wartet, Sonnmattbauer, das Jätvreni kennt Ihr noch nicht und den Hans Barthlome auch nicht, und die göttliche Gerechtigkeit habt Ihr so lang verspottet, dass Ihr auch nicht mehr daran glaubt; aber Ihr sollet daran glauben lernen, Ihr werdet daran glauben lernen!“

Wie ein Sturm waren Jätvrenis Worte über den Bauer dahingegangen, dass er nun grau aussah im Gesicht und verwüstet, und die Stimme tönte belegt und unsicher zurück: „Ihr wisst wohl, dass ich damals nicht handeln konnte, wie ich wollte, Frau Marbot, und dass der Vater mich dazu zwang, und Ihr wisst, wie er einer war, mein Vater!“

Die Alte lachte grell: „Waret wohl noch ein kleiner Bub, der dem Alten am Kuttenfecken hing! Habt ihn auch nicht gefragt, als Ihr kamt und das Vreneli ins Unglück brachtet! Dazu hattet Ihr den Mut, um ein armes ehrliches Kind zu verführen; aber um es wieder zu Ehren zu bringen, dazu fehlte er. Habt es 'in Elend und Verzweiflung vergehen lassen und den Geldsack heimgenommen, den gelben!“

Der Bauer brauste auf: „Lasst die Frau aus dem Spiel, Marbotin; ist ein braves Weib und ein unglückliches. Ohne Freud ist sie zu mir gekommen und ohne Glück bei mir gewesen, all die Zeit, und ist doch eine Gute; denn den Buben will sie aufnehmen und für ihn sein wie eine Mutter, sie hat mir’s versprochen, und auch an Euch hat sie gedacht, Marbotin; im Stock sollt Ihr wohnen und Euch pflegen können auf die alten Tage. Das hat meine Frau so bestimmt, die Gute.“

Da zog das Jätvreni die Brauen zusammen, dass sie sich schwarz über der Nasenwurzel buschten, und legte die Faust auf den Tisch wie zum Schwur: „So wahr ich dastehe, soll mich der Herrgott verdammen in die unterste Höll, wenn ich einmal den sündigen Boden betreie, wo der Sonnmättler Meister ist, ich oder der Bub!“

Über des Bauern Gesicht flammte es: „Und an das Glück des Knaben denkt Ihr nicht? Habt Ihr denn eigentlich keine Liebe zu dem Buben? Denkt, was ich aus ihm machen kann und was Ihr!“

Wieder tönte das grelle Lachen der Alten: „Hörst’s, Jätvreni, der Sonnmattbauer muss kommen, um dir Liebe zu predigen für Vrenelis Bub!“ Aber unbeirrt fuhr jener fort: „Der Hans Barthlome muss ein Bauer werden, wie kein anderer passt er dazu, er hat’s im Blut.“ Und wiederum höhnte das Jätvreni: „Hab wohl warten müssen, bis Ihr mir das sagt! Weiss lange schon, dass er ein Bauer werden soll und zwar ein braver und tüchtiger; denn hört, Sonnmattbauer, darauf kommt’s an und nicht auf den Geldsack. Es ist schon manchmal aus einem Knechtlein ein Bauer geworden. Das soll mein Hans Barthlome lernen, und zwar beim Hubelbauer soll er’s lernen!“

„Bei dem!“ Der Bauer schlug die Hand auf den Tisch, dass es krachte. „Bei dem schlechten Hund, dem niederträchtigen Schelm?“

„So sagt Ihr, weil Ihr einen Span mit ihm habt; aber grad darum ist er mir wert. Auf dem Hubel ist der Bub sicher vor dem Versucher. Dorthin hat sich noch kein Sonnmättler verirrt!“

„Verrückt seid Ihr, Jätvreni,“ schrie der Bauer; „aber seht zu, dass Ihr den Buben nicht ins Unglück bringt mit Euerm Unverstand und wilden Wesen. Ein Glück, dass Ihr nicht allein Meister seid. Der Bub hat wohl auch noch etwas zu sagen, denk ich.“ Und mit ruhigen Worten wandte er sich an jenen: „Was meinst du zur Sache, Hans Barthlome?“

Der Bursche stand noch immer in der Ofenecke. Wie ein Feuerregen waren die Worte der beiden auf ihn niedergeprasselt, und es brannte ihn, als ob er wund gewesen wäre an Leib und Seele. Das glückselige Land, das heute in der Ostersonne lockend und fern erglänzte, war ihm entgegengekommen, greifbar nahe war es gewesen, und nun musste er entdecken, dass eine Kluft ihn davon trennte, die er nie überspringen konnte; denn in der Kluft war das Grab der Mutter, mit all den wehen, süssen und heimwehvollen Gefühlen, mit denen der einsame Knabe es umgeben hatte, und der Grossmutter Fluch war daneben und stellte sich riesengross vor jeden sehnsüchtigen Blick, den er nach drüben warf. Nur einen Augenblick noch zeigte es sich in ganzer Schönheit, hell und verführerisch, als der Bauer die Frage an ihn stellte. In einem Wirbel stand der Knabe da, und. Glück und Schmerz, Verheissung und Fluch zerrten an seiner Seele, als der Grossmutter Stimme ihm ins Ohr zischte: „Was hast du ihm zu sagen, Bub, dem Mörder deiner Mutter?“

Da raffte er sich auf; tonlos und zitternd kamen ihm die Worte vom Munde: „Zu meiner armen Mutter gehör ich, und bei der Grossmutter will ich bleiben.“

Der Bauer sah ihn an, ernst und väterlich wie am Morgen in der Kirche: „Das ist nicht dein letztes Wort, Hans Barthlome; wenn du ein Mann geworden bist, reden wir wieder zusammen!‘

Dann nahm er seinen Hut und ging ohne Gruss aus der Stube.

Das Jätvreni aber riegelte die Türe zu; dann stürzte es ans Fenster, und erst als es die breite Gestalt des Bauern, um die der Mond einen hellen Rand legte, im schwarzen Waldschatten verschwinden sah, wandte es sich aufatmend in die Stube zurück. Da sah es, dass der Bub verschwunden war, und hörte das Stöhnen der Holztreppe, die in Hans Barthlomes Gaden führte.

Dann sass die Alte lange noch über ihrer Bibel. Aber die Augen starrten ins Leere; denn die Ohren hatten immerzu auf die Worte zu horchen, die zuletzt hier laut geworden und die wie von vielfachem Echo getragen auf sie einstürmten: „Wenn du ein Mann geworden bist, reden wir wieder zusammen.“ Und sie sah den Buben, wie er zitternd dastand und wie mühsam ihm die unsichern Worte kamen.

Als am andern Morgen Hans Barthlome in die Stube herunterkam, mit verschleierten Augen und einem übernächtigen Gesicht, fand er die Grossmutter im Sonntagskleid. Sie band sich eine neu gewächste flächserne Schürze um, die in stattlichen Falten um die breiten Hüften stand und die glänzte wie Glas, und langte das bessere Kopftuch vom Wandbänklein herunter, das schwarze mit den grünen Borden.

„Mach dich zuweg, Hans Barthlome; wir gehen zum Hubelbauer!“

Der Knabe schrak zusammen: „Aber dein Äckerlein wollte ich doch noch bestellen, Grossmutter, und dann . . .- der Hubelpeter hat mich mehr als einmal verhöhnt und geplagt!“

„Die paar Erdäpfel werde ich wohl noch selbst pflanzen können und die Bohnen, und was den Hubelpeter beirifft, der ist jetzt im Welschen, und wenn er zurückkommt, er wird wohl nicht allein Meister sein dort oben.“

Da erwiderte der Knabe nichts mehr. Langsam machte er sich zum Gehen bereit, und etwas Müdes und Freudloses war an ihm, das schlecht zu seinen festen Gliedern passte. Das Jätvreni sah es, und es hätte den Burschen anschreien und ihn aufrütteln mögen aus seiner Trübheit; aber es schwieg. Ihm hockte der Abschied auf der Brust und der Gedanke, dass es nun seinen Buben von sich geben müsse. Schweigsam stiegen sie zusammen den Wald hinauf, dem Eichenberg zu. Die Frühe lag noch feucht und neblig zwischen den kahlen Stämmen, und der nasse Waldboden atmete herbstlichen Modergeruch.

Der Hubel lag auf der andern Seite des Eichenberges gegen Norden, und bis am spätern Nachmittag legte der Wald seinen breiten Schatten über den Hof. Das machte wohl, dass das sauber gehaltene Haus so kalt erschien, so unfroh; man fühlte, dass hier die Sonne fehlte. Vielleicht kam es auch von der Hubelbäuerin her, die ein rässes, hageres Weib war und eine harte Hand hatte. Hans Barthlome fühlte das alles, und ihn fröstelte. Der Bauer hatte mehr Worte als sein Weib und war nicht ungut gegen die beiden; er hatte etwas Schleichendes, eine verschlagene Freundlichkeit an sich, und als er den Burschen musterte, seinen starken Wuchs und das helle Gesicht mit dem Kraushaar, kam ein Lächeln in seine listigen Äuglein, das Hans Barthlome das Blut in die Wangen trieb, und auch die Grossmutter schob die Augen fester zusammen, als er ihr zublinzelte: „Der kann auch nicht verbergen, woher er kommt!“

Man war bald einig. Hans Barthlome sollte sich noch seine Sachen daheim holen und am Nachmittag schon eintreten. So wanderten die beiden nach einer halben Stunde wiederum ihren Weg zurück, wiederum stumm; denn die Hubelluft hatte ihnen den Atem nicht leichter gemacht.

Als sie zur Waldlücke kamen, blieb Hans Barthlome einen Augenblick stehen. Die Frühnebel hatten sich gelöst, die Sonne war da und erfüllte das weite Land mit weissem Glanze. Ein breites Licht lag über dem mächtig geschwungenen Dach der Sonnmatt, von dem sich eben ein weisser Taubenschwarm loslöste und mit schimmerndem Flügelschlag in den blauen Himmel hineinstieg wie ein jubelnder Lerchentriller. Da kam es über den Knaben, dass er sich hätte hinwerfen und laut aufschreien mögen; aber er zwang das Weh nieder. Die Zähne frassen sich in die Lippe, dass sie weiss wurde und dann rot aufsprang, und die Augen zogen sich krampfhaft zusammen; aber kein Laut wurde vernehmbar, und als das Jätvreni, das in seinen Gedanken leise murmelnd vorwärtsgestürmt war, sich nach dem Buben umsah, kam dieser mit festen Schritten den Weg herunter. Die Augen waren trocken, und nur die geballte Hand zuckte wie ein verendendes Tier. . .

Die Zeiten, die nun kamen, waren auch für das Jätvreni keine glücklichen. Zum erstenmal war es allein in seinem Häuschen, und da in der einsamen Stube die Worte des Sonnmattbauers umgingen, kam die Angst, die sich seit dem Osterabend in das alte Herz gesetzt, niemals zur Ruhe, sondern griff um sich und wuchs und stellte vor jede stolze Hoffnung ein schwarzes Gespenst. Hans Barthlome kam nur hie und da an einem Sonntag zur Grossmutter; dann sass er trübsinnig neben der Alten, erzählte manches von der Arbeit, die er liebte, obschon der Hubelbauer sie ihm haufenweise vorlegte, aber wenig von dem Bauer selbst, und es waren keine freundlichen Worte, die er für ihn hatte. Das tat der Grossmutter wohl leid; aber der Gedanke, dass der Bub auf dem Hubel vor der Sonnmatte sicher war, blieb doch Sieger. Dann einmal im Herbst, mitten in der Woche, als der Abend hereindämmerte, erschien Hans Barthlome plötzlich im Waldhaus, legte sein Bündel vor die Grossmutter und erklärte, dass er keine Stunde mehr beim Hubelbauer bleibe; nun wisse er es, ein Unrichtiger sei der, ein schlechter Hund und niederträchtiger Schelm.

Das Jätvreni fuhr auf; denn dass der Bub die Worte des Sonnmatibauers gebrauchte, hatte es wie ein Stachel getroffen, und es zankte, ob er wohl anfangen wolle zu vagieren oder was er denn meine, ob man ein in Schanden fortgelaufenes Knechtlein an einem braven Ort noch aufnehmen werde. Er sei nicht in Schanden gegangen, erwiderte der Bub; bei dem Bauer sei die Schande, der habe ihn zwingen wollen, Hand zu reichen bei seinen Betrügereien, drum sei er gegangen; was aber das andere betreffe, so sei es überhaupt aus, er wolle kein Bauernknecht mehr sein. Wieder war es ein Stich für die Alte; denn es entging ihr nicht, dass Hans Barthlome einen höhnischen Ton auf das Wort Knecht legte. Aber als er ihr erklärte, dass er mit dem Schmied schon einig sei und dass dieser ihn gegen das Geringe, was er beim Hubelbauer verdient, und auf spätern Abzug von seinem Gesellenlohn hin in die Lehre nehmen wolle, beschwichtigte sie sich nach und nach. Dass der Bub aus freien Stücken vom Bauern wegkam, war ihr schliesslich nicht so unrecht, war dies doch ein Weg, der eher von der Sonnmatt abführte.

So kam denn Hans Barthlome in die Schmiede, und das Jätvreni hatte seinen Buben wieder bei sich; deshalb war es aber doch nicht froher geworden im Waldhaus. Mit dem Burschen war eine Veränderung vor sich gegangen. War das rauhe Handwerk, das die Haut schwärzte und die Muskeln mächtig hervortrieb, schuld daran, dass nach und nach etwas Düsteres und Wildes aus ihm herauskam, das früher keiner an ihm bemerkte? Die Alte forschte und suchte nach Gründen, und die Angst machte sie scharfsinnig; aber ihr Suchen blieb fruchtlos. Der Schmied lobte die tüchtige Arbeit des Burschen, meinte bloss, er sollte mehr Umgang haben, das einsame Leben im Waldhaus tauge nichts für einen jungen Menschen. Solche Rede missfiel jedoch dem Jätvreni. Dass er bei der Grossmutter sass, Abend für Abend, das war ja noch das einzige Gute, und wenn er bei dem stummen Zusammensein auch mehr vor sich hinbrütete, als der Alten recht war, sie hatte ihn doch unter den Augen und wusste, dass nichts Ungrades passieren konnte.

Mit dem Frühling kam eine grosse Unrast über Hans Barthlome, sodass es ihn früh morgens vor der Arbeit und oft noch spät am Abend in den Wald hinaustrieb. Und Jätvrenis Angst wanderte mit ihm und forschte, ob seine Unruhe ihn auf Wege brachte, die dem Willen des Sonnmattbauern zuführten oder von ihm weg. Der Schmied aber meinte: „Das ist der Bauernkolder, der über einen kommt, wenn der Pflug herauswill; das musst du verwerken, wenn du ein rechter Schmied werden sollst!“

Und Hans Barthlome schaffte und arbeitete in seiner dunkeln Schmiede, und wenn vom Feld die hellen Rufe der Pflüger herüberkamen, wenn Heufuder und Erntewagen an der offenen Schmiede vorbeischwankten, dann rührte er mit doppelter Kraft den Hammer, dass die Funken jagten und der Schmied lachend sprach: „Wenn es so weitergeht, bist übers Jahr Geselle!“

Es ging wirklich so weiter, und als die Schneeschmelze wiederkam, wurde der wackere Jungschmied aus der Lehre entlassen.

„Du könntest nun Geselle bei mir werden,“ meinte der Schmied; „aber besser ist's für dich, du gehst vorher noch ein wenig auf die Wanderschaft. Es ist nicht gut, immer bei der Alten zu hocken. Schau dir ein wenig die Welt an und komm mir mit hellen Augen wieder, dann will ich dich einstellen.“

Hans Barthlome dankte für den Rat; aber ihm lag noch ein anderer Plan am Herzen, der der Wanderschaft vorging. Ein Unternehmer aus der Stadt wollte auf dem Eichenberg hinter der Waldlücke ein Kurhaus errichten, und damit man den Bau im Frühling beginnen könnte, sollte jetzt trotz der ungünstigen Jahreszeit im Eichwald ein grosser unzeitiger Holzschlag getan werden. Hans Barthlome wollte beim Fällen mitmachen. Wie mit hundert Pferden zog es ihn in den Wald hinaus, und die Lust prickelte in ihm, wieder einmal die Glieder in freier Luft zu rühren. Was half da das Kopfschütteln des Schmiedes, dem solche Unterbrechung der Arbeit nicht vom Guten schien, was das Zanken der Grossmutter, die ihm vorhielt, es habe keine Art, von einem zum andern zu laufen wie ein junger meisterloser Hund? Der Bursche setzte seinen Willen durch, und von den ersten Märztagen an zog er mit jedem jungen Morgen, die Axt über der Schulter, in den Wald hinauf, und an jedem Morgen stand die Grossmutter unter der Tür und folgte ihm mit ihren Blicken, bis er zwischen den Stämmen verschwand, und Angst und Misstrauen lag in ihren Augen; denn als sie am ersten Morgen den jungen Holzhauer betrachtet und gesehen hatte, wie kräftig die Muskeln an den nackten Armen hervorsprangen und wie leicht die schwere Axt auf der breiten Schulter lag, war es ihr zum erstenmal durch den Kopf gefahren: „Der Hans Barthlome ist kein Bub mehr, er ist ein Mann geworden!“ und die Worte des Sonnmattbauern hatten ihr wieder im Ohr geklungen: „Wenn du ein Mann geworden bist, dann reden wir wieder zusammen!“ Doppelt schwer sass ihr nun die Angst auf der Brust, da sie ihren Buben unbehütet im offenen Walde und den Waldungen der Sonnmatt so nahe wusste.

Indessen brachte Hans Barthlome jeden Abend mit der frischen Waldluft eine frohere Stimmung in die kleine Stube, und das Jätvreni bemerkte mit Staunen, wie nach und nach aus dem schwarzen Schmied wieder der alte frische Junge herauswuchs. Und doch nicht ganz der alte. Eine Lebendigkeit kam in ihn, eine Freudigkeit und ein Übermut, die der Knabe nie besessen hatte, und zum erstenmal gewahrte das Jätvreni an ihm eine Ähnlichkeit mit seiner Mutter. So innig, so leuchtend und wie von innerm Feuer erhellt hatten Vrenelis Augen geschaut, damals, bevor das Unglück geschah ... Herrgott! Der Alten kam die Angst: ob da nicht etwas ging, hinter ihrem Rücken, auf Schleichwegen, wie damals? Aber Hans Barthlome hatte für ihre lauernden Fragen nur ausweichende Worte und leichtsinniges Lachen. Da fing sie an, den Buben zu verfolgen, und unversehens erschien sie hie und da im Holzschlag; aber da gab es ein Gelächter und Spötteln unter den Holzknechten: ob der Hans Barthlome immer noch dem Grossmüeti am Schürzenbändel hange? Und der Bursche, dem der Spott zu Kopfe stieg, hatte barsche Worte für die Alte.

Von da an wagte sie es nicht mehr, sich auf dem Arbeitsplatz zu zeigen, und da nun allmählich die Arbeit in den Gärten begann, wurden ihre Gedanken auch ein wenig auf andere Wege geleitet. Aber einmal, als sie von ihrer Herzensangst getrieben wieder heimlich den Waldweg hinaufging, sah sie weiter oben auf dem schmalen Holzweg, der vom Eichwald herkam und nach dem Sonnmattwald hinüberführte, den Sonnmattbauer schreiten. Nur ein paar Sekunden lang war er zwischen den Stämmen sichtbar geworden; aber das Jätvreni hatte ihn erkannt und gesehen, wie hoch er den Kopf trug und wie stolz er schritt. Von da an kannte es nur noch einen Gedanken. Wie ein scheues Tier umkreiste es den Holzschlag, Tag für Tag, und zum erstenmal mussten die Leute das Jätvreni an seine Pflicht mahnen. Es kam selten, unregelmässig in die Gärten, und immer wieder trieb es seine Unrast von der Arbeit weg.

Eines Morgens hörte es den Hans Barthlome früher als gewöhnlich vom Gaden heruntersteigen und hörte, wie er Scheiter von der Beige draussen hereintrug und Feuer machte. Als es in die Küche trat, bot ihm der Bub einen hellen Guten Tag; er kauerte vor dem Herd, und während die Flammen rote Lichter in sein Gesicht warfen, erzählte er, dass es nun zu Ende gehe mit dem Holzen. Nur heute hätten sie noch eine alte Eiche zu fällen, ein Riesenstück ; dann gebe es noch etwas Kleinwerk und in wenigen Tagen seien sie fertig. Was aber die Eiche betreffe, so werde das eine harte Arbeit und die Grossmutter solle sich nicht wundern, wenn er heute etwas später heimkomme; denn nach dem schweren Werk wollten die Holzer einen Feierabend machen, wie das so Brauch, und da wäre er doch auch einmal gern dabei.

Die freundlich gesprochenen Worte gingen der Alten tröstlich zu Herzen; sie hörte nur eines daraus, dass es mit dem Holzen ein Ende haben werde, und da sie seit jenem Erscheinen des Sonnmattbauers auf all ihren geheimen Wegen nichts Verdächtiges mehr bemerkt hatte, hoffte sie, dass nun ihre Angst bald zu Ende sei. Von dem Zusammensein mit den Holzknechten befürchtete sie weiter nichts Schlimmes, und so fand sie denn seit langem wieder einen ruhigen Gedanken und ein versöhnliches Wort: „In Gotts Namen, so hab deine Freude, wenn’s doch jetzt zu Ende geht, und ich will heut in den Kronengarten, der hätt’s schon lange nötig.“

Da sprang der Bursche auf: „Bist halt doch ein gutes Grossmüeti; aber du musst dir auch eine Freude machen heut abend, ein Semmelbrötlein und einen Schluck Roten,“ und er drückte ihr ein Silberstückchen in die Hand. Aber die Alte schüttelte bedenklich und abwehrend den Kopf: „Behüt mich Gott, dass ich unter die Schlemmer gehe und die Verschwender!“ Und sorgsam legte sie das Geldstück ins Glasschränkchen unter eine umgestülpte Tasse zu zwei Briefmarken, die seit Jahr und Tag unbenützt dort lagen.

Aber des Buben Freundlichkeit hatte ihr doch wohlgetan, und als sie dem Davongehenden nachblickte, konnte sie es seit Wochen zum erstenmal wieder mit ruhigem Herzen tun, und sie meinte, die Worte des Buben wieder zu hören, diesmal aber mit zuversichtlichem und festem Ton: „Zu meiner armen Mutter gehöre ich, und bei der Grossmutter will ich bleiben !“

Fast freudig ging heute das Jätvreni an seine vernachlässigte Arbeit im Kronengarten. Mutig griff es an, und es ging ihm auch an diesem hellen Morgen fast so leicht von Händen wie früher. Aber nach und nach kamen doch wieder die Angstgespenster. Am Ende hätte es den Buben doch nicht gehen lassen sollen mit den Holzern. Wer weiss, was da gesprochen und getan wurde! War da nicht gerade Gelegenheit für den Bösen, sein Verführungswerk zu beginnen? Wie der Nachmittag sich neigte, wurden der Alten die Hände unsicher, und das Schnaufen ging hart. Sollte sie ihn nicht jetzt noch zurückhalten? Sie musste aufstehen, nach Atem ringen, die Brust wurde ihr eng. Da stand der Kronenwirt hinter ihr: „Ja, ja, man wird auch nicht jünger mit den Jahren, gelt, Jätvreni?“ Und er nickte ihr freundlich zu. „Aber Ihr werdet Euch auch nicht lange mehr plagen müssen mit der Arbeit,“ und als ihn die Alte verständnislos anblickte: „He, ich meine nur, wenn man drauf und dran ist, Grossmutter vom jungen Sonnmattbauer zu werden . . .“

„Was! Sagt das nicht noch einmal!“ schrie das Jätvreni, und die Augen funkelten, und die geballten Hände streckten sich vor, dass der Wirt einen Schritt zurücktun musste.

„Tut doch nicht so, als ob Ihr nicht wüsstet, was das ganze Dorf weiss, dass der Sonnmattbauer den Hans Barthlome an Kindesstatt annehmen will! Ja, ja, Ihr habt ein Glück zusammen, Ihr und der Hans Barthlome!“

„Verdamm mich Gott in die unterste Höll, wenn eins von uns beiden seinen Fuss in das Satansnest setzt!“

„Eh aber, verflucht Euch nicht, Jätvreni; das wäre auch, wenn Ihr das Glück mit Füssen treten wolltet! Denkt doch auch an den Buben; der wird’s schon anders sinnen und hat allweg nichts dagegen. Man hat ihn gesehen mit dem Sonnmattbauer, und ich wüsste nicht, dass er ihn gerade angespieen!“ Wie geistesabwesend stand die Alte da; ihre Augen sahen ins Leere, und der Atem pfiff durch die blauen Lippen. Dann riss sie den Jätschurz von den Hüften, rollte ihn zusammen, und ohne ein Wort zu sagen, hastete sıe davon, dem Waldhaus zu, so schnell die alten Füsse und der enge Atem es zuliessen. Sie hatte nur einen Gedanken: Zu dem Buben, ihn retten, ihn dem andern entreissen um jeden Preis!

Bis zum Wald war der Weg lang. Die Dämmerung stieg schon feucht aus der Erde, und von der Kirche kam das Vesperläuten. Das war das Zeichen zum Feierabend. Nun stellten auch die Holzhauer ihre Arbeit ein; bis sie oben sein konnte, war der Platz vielleicht schon geräumt. Das durfte nicht sein! Die Alte fing an zu rennen, dass es ihr schwand vor den Augenund dass sie beim Waldhäuschen einen Augenblick stillstehen musste — denn das Herz wollte nicht mehr.

Sie hielt sich an der Scheiterbeige und schöpfte Atem. Da fiel ihr Blick auf ein zusammengerolltes Papierchen, das an der Stelle lag, wo der Bub am dunkeln Morgen die Scheiter geholt hatte. Sie nahm es auf, die zitternden Hände rissen es auseinander. „Morgen abend ohne anders kommst du. Ich will nicht länger blangen. Kannst ihr sagen, es gelte einen Feierabend mit den Holzern der grossen Eiche wegen. Wann es gemacht ist, wird sie’s auch nicht mehr anders wollen. Gott segne deinen Eintritt.“

Mit einem heiseren Schrei warf die Alte das Blatt von sich. Und nun konnte sie auf einmal wieder laufen. Es war, als ob die Füsse sich von selbst bewegten und als ob der Atem, der scharf und pfeifend ging, neue Wege gefunden hätte. Mit gesenktem Kopf stürmte sie vorwärts, den Wald hinauf.

An einer Wegkante fuhr sie hart mit einem Mann zusammen. Er fasste sie beim Arm und wollte sie aufhalten; aber die Alte befreite sich mit einem Fluch: „Herrgott, lasst mich, ich muss den Buben suchen!“ Und erst als der andere mit ernster Stimme sprach: „Den braucht Ihr nicht mehr zu suchen, dort bringen sie ihn Euch,“ blieb sie stehen, und da hörte sie auch das andere Wort: „Es hat ein Unglück gegeben, Marbotin!“

Sie sah auf. Durch den Hohlweg herab, in den die Nacht schon ihre ersten Schatten gelegt hatte, kam langsam ein Zug dunkler Gestalten, und ihre schweren, behutsamen Schritte verrieten, dass sie keine leichte Last zu tragen hatten. Zwei Männer schritten voran; sie liessen die Köpfe hangen und hielten ihre Kappen in der Hand. Da wusste das Jätvreni, dass sein Bub tot war ..

Sie lehnte sich an einen Baum und sah den Nahenden enigegen, und ihr war, als ob sie den kleinen Zug aus weiter, weiter Ferne her, stundenlang auf sich zukommen sähe, und sie fühlte, wie die heisse Angst langsam von ihr niederglitt und einer grossen kühlen Stille Raum gab. Da brachten sie ihr ja den Buben zurück, ihr allein, und keine Macht der Welt konnte ihn ihr mehr entreissen. Nun brauchte sie nie mehr Angst um ihn zu haben, nie mehr; denn keiner hatte Gewalt über ihn, und dem Sonnmattbauer war er entrissen für ewig!

Eine warme Welle fühlte sie in sich aufsteigen, und als sie den Toten vor ihr niederlegten und sie niederknieend unter blutdurchtränkten Tüchern das weisse stille Gesicht erblickte, lief es ihr warm und lösend über die Wangen. Sie ergriff die kalte Hand des Toten und streichelte sie behutsam und zärtlich, wie man einem jungen Täubchen tut: „Ist dir leid gegangen, armer Bub? Aber schau, jetzt hast du’s überstanden, nun kommst du zum Vreneli, deiner Mutter, und das Böse kann dir nichts mehr anhaben!“

Die Männer hatten einen leidenschaftlichen Ausbruch der wilden Alten erwartet; nun, da sie so still und ruhig erschien, wurden sie mitteilsam und fingen an, den Hergang zu erzählen:

„Weiss der Himmel, wie es gekommen ist; sonderbar ist's zugegangen auf alle Fäll. Er war sonst immer der Flinksten und Stärksten einer; aber den ganzen Tag her war er aufgeregt und lustiger als sonst, und da hat er wohl nicht gut aufgepasst. Vielleicht auch war sein Seil zu kurz, dass ihn beim Fall ein Ast erreichen konnte. Keiner sah, wie’s zugegangen ist. Als wir ihn liegen sahen mit der Wunde am Hinterkopf, meinten wir, es sei nur eine leichte Verletzung, und da war es schon aus mit ihm. Es ist nicht zu begreifen, wenn man das Ästchen sieht an der äussersten Krone, lützel und dünn, fast nur ein Zweig, und der starke Bursch... Nicht zu begreifen!“

Da stand das Jätvreni auf, beugte sich vor gegen die Männer, und in den Augen funkelte es geheimnisvoll, als sie mit heiserer Stimme flüsterte: „Glaub’s schon, dass ihr’s nicht begreifen könnt; ein Wunder ist geschehen, ein grosses, herrliches Wunder von Gott!“

Die Männer sahen einander verdutzt an; dann griffen sie stumm nach der aus rauhen Ästen gefügten Bahre, hoben sie auf und schritten weiter mit ihrer Last. Das Jätvreni ging neben ihnen her, hielt die tote Hand in der seinen, und sein Reden ging in ein Murmeln über, das klang weich und zärtlich und war rührend anzuhören, fast wie ein Wiegenlied.

Auf das breite Bett hinter den rotgewürfelten Vorhang legten sie den Hans Barthlome. So befahl es das Jätvreni; dann schickte es sie hinaus und riegelte die Türe hinter ihnen zu. Die Männer blieben einen Augenblick unschlüssig vor dem Häuschen stehen: „Fast sollte einer in der Nähe bleiben diese Nacht; bei der ist's nicht mehr richtig; leicht könnte etwas Ungeschicktes geschehen!“ Und dann gingen sie doch. Was konnte schliesslich für ein grosses Unglück passieren, wo in einem baufälligen Hüttlein weit draussen vor dem Dorf ein Totes zusammen war mit einem alten Weib?

Am andern Morgen kamen Frauen aus dem Dorf, hilfbereit, mit Kränzen und Klagen. Die Kränze nahm das Jätvreni mit freudigem Dank, die Hilfe und die Klagen brauchte es nicht. Im Sonntagsstaat, gepflegt und friedlich, lag Hans Barthlome auf dem frisch bezogenen Bett, und von den Blutspuren war nichts mehr zu sehen. Neben ihm sass das Jätvreni, ebenfalls sonntäglich angetan, und redete mit dem Buben wie mit einem Lebendigen, dass es fast grausig anzuhören war. Ein paar Blumenstöckchen umrahmten das Lager, und zu Füssen auf einem Schemel stand breitspurig in seiner grünen Pracht Jätvrenis Glockenkaktus.

Die Frauen verliessen scheu und beklommen das sonderbare Sterbezimmer, in dem keine Klage und kein Seufzer laut wurde und das ein schier festliches Aussehen hatte. Dann blickten sie einander bedeutsam an: „Nun muss man es wohl versorgen, das Jätvreni,“ und es tat ihnen leid; denn sie dachten an. ihre Gärten und dass nun der Frühling vor der Türe stand.

Eine stattliche Menschenmenge kam zum Begräbnis zusammen; denn die Teilnahme ist grösser, wo der Tod gewaltsam unzeitige Ernte hält, und dann war auch die Neugier am Werk. Ob der Sonnmattbauer am Leichengang sei, wollte man sehen; denn es war ruchbar geworden, dass ihm der Tod des Hans Barthlome gewaltig zusetzte. Laut geschluchzt habe er an jenem Abend, wie verzweifelt, und seither studiere er und sehe aus wie ein schwer Kranker. Und dann wollte man auch sehen, wie das Jätvreni sich aufführte, wenn man ihm den Buben wegnahm; denn dass der natürliche Schmerz endlich das sonderbare Wesen durchbrechen müsse, daran zweifelte keiner. Aber die Neugier kam nicht auf ihre Rechnung. Der Sonnmattbauer erschien nicht, und das Jätvreni behielt seine seltsame Ruhe. Als man den Deckel auf den Sarg legen wollte, streichelte es noch einmal das tote Gesicht seines Buben; dann drückte es ihm die starren Hände, und es lag fast etwas Heiteres in seiner Stimme, als es mit zärtlichem Tone sprach: „Nun behüt dich Gott, mein Bub, grüss mir das Vreneli und sag ihm, dass ich bald zu euch komme!“

Im Leichenzug ging die Alte gleich hinter dem Sarg. Das war ungewöhnlich; denn die leidtragenden Frauen kamen sonst zuletzt, hinter dem Weiberzug, mit der Leichenbitterin. Aber auch diesmal liess man das Jätvreni gewähren, es war ja schliesslich kein Leidtragender da ausser ihr.

So schritt die Alte an der Spitze der Männer durch das Dorf, fest aufgerichtet in ihrem abgetragenen schwarzen Kleid, und ihre Augen glänzten fast so triumphierend wie an jenem Ostertag, wo jeder Blick zu rufen schien: „Seht, das ist er, mein Bub, und mir gehört er, mir allein!“

Der Umschlag in Jätvrenis Wesen, den alle erwarteten, trat nicht ein. Am andern Morgen schon ging sie an ihre Arbeit, fleissig und ausdauernd; denn sie hatte viel nachzuholen, und der Saft kam schon mächtig ins Schiessen und drückte da und dort an den Zweigen die ersten hellgrünen Knospen hervor. Fast wie in seinen besten Jahren arbeitete das Jätvreni, nur ruhiger und stiller; denn sein Reden ging nicht mehr so aufgeregt. Aber hie und da musste es innehalten in der strengen Arbeit, weil ihm das Herz vor den Atem kam. Dann setzte es sich wohl einen Augenblick hin, und es trat ein seltsames Licht in die alten Augen, ein Schimmer heiterer Verklärtheit, wenn es lächelnd vor sich hinsprach: „Brauchst nicht mehr lang zu warten, Jätvreni!“

Einmal im Herbst — es war schon kalt, und der erste Frost war über die Bäume gegangen, dass nun ein reichlicher Goldregen von toten Blättern durch die blaue Luft rieselte — trat das Jätvreni unvermutet in die grosse Stube, wo der Kronenwirt mit den Seinen zusammensass. Erstaunt blickten alle auf; denn es war sonst nicht der Alten Art, so zu den Leuten zu gehen. Sie stellte sich breit vor den Tisch:

„So, Kronenwirt, nun bin ich doch zum letztenmal in Eurem Garten gewesen. Ich will verreisen!“

„Das wird doch nicht sein, Jätvreni; wo in aller Welt wolltet Ihr auch hingehen?“

Da kam ein fast schalkhaftes Lachen in das alte Gesicht: „Nach Engelland, Kronenwirt, nach Engelland!“

Der Mann aber schüttelte den Kopf: „Woher solltet Ihr das wissen, Frau Marbot,“ und dann versuchte er zu scherzen: „Hat Euch der Petrus ein Billet geschickt?“

Das Jätvreni wurde ernst: „Nein, aber mein Herz sagt mir’s und die Waldwiggle. Seit drei Tagen sitzt sie auf meinem Haus und schreit die halbe Nacht, und die weiss es. Als es mit meinem Mann selig zum Sterben ging, ist sie gekommen und auch beim Vreneli.“

„Und bei dem Buben, dem Hans Barthlome?“

Da faltete die Alte die Hände, und ihre Stimme wurde leise und dumpf, und fast listig blickten die Augen, als sie sprach: „Das war kein gewöhnlicher Tod, das war ein Wunder!“

Einen Augenblick blieb es still im Zimmer, und beklommen sahen alle in das alte Gesicht, das mit den flackernden Augen unter den immer noch schwarzen Brauen und den dunkelblauen Lippen im fahlen Dämmerschein der Stube unheimlich aussah, und die Kinder pressten sich ängstlich aneinander.

Da erhob sich die Kronenwirtin, reichte der Alten ihre feste weisse Hand und sprach mit heiterer Stimme: „So denn in Gottes Namen auf ein seliges End und ein frohes Wiedersehen mit den Euren! Uns freilich wird es leid tun um Euch, Jätvreni, uns und unsern Gärten!“

Die Alte drückte die dargebotene Rechte mit beiden Händen: „Vergelts Euch Gott, Kronenwirtin, Ihr findet immer das rechte Wort!“ Dann ging sie; aber unter der Türe wandte sie sich noch einmal an die Frau: „Den grossen weissen Rosenstock solltet Ihr dann selbst aus dem Boden nehmen im Frühling und ihn im Herbst mit eigenen Händen wieder zurücklegen. Er ist alt und unbiegsam geworden, und eine Männerhand könnte ihn leicht brechen. Und noch eins: Schaut, dass der Löwenzahn Euch nicht in die Verbenen kommt, in der Ecke nach der Hofstatt; immer will er sich dort eindrängen, der Verdammte! Fest zusetzen müsst Ihr ihm, hört, fest, und nur niemals nachlassen!“

* * *

Die Waldwiggle behielt recht. Lange, bevor das erste Grün in den Bäumen war, trat die Alte ihre letzte Reise an. Als es bekannt wurde, dass das Jätvreni tot sei, gingen ein paar Frauen ins Waldhaus, um nach dem Rechten zu sehen und sich nebenbei auch um den Glockenkaktus zu bemühen, der nun meisterlos geworden war. Aber der Vielbegehrte war nirgends zu finden, wie genau sie auch suchten. Endlich entdeckten sie hinter dem Ziegenstall den grossen, grünbemoosten Topf; er war leer, die Pflanze spurlos verschwunden. Da kam ein Ärger über die Weiber: „Zerstört hat sie ihn, weil sie ihn keinem gönnen mochte; so war sie immer, so eine Vergünstige!“ Und entrüstet gaben sie dem wertlosen Topf einen Tritt, dass er die Böschung hinunterrollte und im Bache liegen blieb.

Dort fanden ihn später einmal ein paar Kinder. Sie zogen den halb zerbrochenen Topf ans Land und erkannten ihn, und während sie ihn ehrfürchtig betrachteten, erzählten sie sich, was für eine Wunderpflanze einst darin gewachsen; gross und grün sei sie gewesen, im Sommer und Winter, und richtige grüne Arme hätte sie gehabt mit stachligen Fingern daran, und Blumen seien daraus hervorgeschlüpft, so gross wie Kuhtreicheln und dabei rot und goldig wie Christbaumkugeln. Wenn man aber hineingeschaut habe in die glitzerige Blume, habe man eine Flamme darin gesehen, und der habe man ja nicht zu nahe kommen dürfen; denn wenn die Flamme eins habe erlangen können, dann habe es über Nacht einen geschwollenen Kopf bekommen, weil es halt eine Zauberpflanze gewesen sei. Nur dem Jätvreni habe die Flamme nichts getan. Immer habe es eine Blume mit sich in der Tasche herumgetragen, und mit der habe es selbst zaubern können, dass alle Blumen, die es pflanzte, so schön wurden wie sonst nirgends auf der Welt. Darum seien auch die Gärten damals, als das Jätvreni sie machte, so herrlich gewesen, ganz anders als heute. Da habe es noch Schneeglöckchen gegeben soviel, dass im Frühling die Wiesen weiss davon waren und man meinte, es habe geschneit, und ganze Körbe voll Veilchen habe man forttragen können, ohne dass es jemand merkte, solche Massen habe es gehabt. Und dann erst die Rosen! Doppelt so gross wie jetzt seien sie gewesen und mehr noch, dass man mit einer einzigen Blume schon einen ganzen Strauss meinte in den Händen zu haben. „Ach ja, das war schön, früher!“ Und die Kinder setzten sich rund um den Topf, klopften daran und beguckten ihn von allen Seiten, ob nicht noch etwas an ihm zu entdecken sei von der einstigen Zauberkraft... Das Jätvreni aber hatte sein bescheidenes Plätzchen auf dem Kirchhof in einer Ecke hart am Gitter gefunden, und da auf der andern Seite die blühende Wiese sich anschloss, trug der Sommerwind mehr Samen herein, als das kleine Stück Erde zu fassen vermochte, und Gänseblümchen, Kuckucksnelken und Veronika erblühten nebeneinander in dichter und fröhlicher Unordnung. Aber nach und nach wurden sie verdrängt. Satte grüne Blätter stiegen aus dem Boden, breiteten sich kräftig aus und erdrückten links und rechts die zarten Nachbarn, dass sie vergingen, und als der Mai kam, da ging es wie Flammen über den ganzen Hügel, so glänzten und leuchteten die zahllosen kleinen Sonnen des Löwenzahn, der sich Jätvrenis Grab endgültig erobert hatte...