Scala Santa: ELTeC Ausgabe Waser, Maria (1878-1939) ELTeC conversion Priska Rüegg 131 16808

2020-05-18

Transcription UB Basel Scan UB Basel Scala Santa Waser, Maria Rascher & CIE Zürich 1919

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Meiner Schwester Hedwig

Nun lege ich in deine stillen Hände Dies stille, kleine, träumereife Buch, Und findest du darin vertrauten Spruch, Verwandtes Bild bei jedes Blattes Wende, Erkennst des eignen Herzens sanfte Spende: Verzeih, mein Leben lebt von deinem Ich, Und wenn ich gebe, geb’ ich ewig dich.

Aus Jerusalem brachten Kreuzfahrer sie nach Rom, die viermal sieben Marmorstufen vom Palaste des Pilatus, über die der Herr wandelte, Nun streben sie seit Jahrhunderten durch die goldene Dämmerung schmaler, hoher Wölbungen empor, dem tiefleuchtenden Kruzifix zu, Und wen nach der höchsten Gnade verlangt, der ersteigt im Gebet die Heilige Treppe. Knieend; denn keines Menschen Fuss soll die Stufen betreten, die den Herrn trugen.

Drei Frauen sah ich zu Rom die Heilige Treppe erklimmen, Die eine war noch so jung, dass ihre Wange unter dem Schleiertuch in kindlicher Rundung blühte; aber ihre Augen strahlten vom Glück erfüllter Liebe, und während sie in frommer Eile dem heiligen Bild entgegenhuschte, gingen heimliche Blicke immer wieder nach dem Treppenfuss zurück, wo der Geliebte lächelnd ihrer harrte.

Langsam und schwer erstritt die Zweite den heiligen Weg, als ob sie über jeder Stufe zusammenbrechen müsste; denn ihre Arme hielten ein todblasses Kind umklammert, und durch ihre gläubige Inbrunst schlug der Schmerz, und fordernde Angst zermürbte die junge Stirne.

Aber wie von unsichtbaren Armen aufwärts gezogen, stet und gross glitt die Dritte empor, und ihre Augen umfassten das Bild des Gekreuzigten, Das Haar auf der klaren Stirne schimmerte silbern, und ihr vom Leben und Leiden geadeltes Antlitz erglänzte also in Heiterkeit und grenzenloser Liebe, dass man zu ihr hätte sprechen mögen: Stehe auf, dein Fuss ist des geweihten Bodens wert.

Drei Frauen sah ich auf der heiligen Treppe des Lebens...

Unter dem Quittenbaum

Regine legte das weiche warme Bündel in den Wagen zurück und zog behutsam den Vorhang; denn die zarten, noch durchscheinenden Blätter des Quittenbaumes vermochten die helle Sonne nur wenig zu dämpfen, Ganz satt vom Trinken, still und unbewesglich lag das kleine Wesen da, mit rundgeöffnetem Mäulchen, an dem noch ein gelbliches Milchtröpilein hing; nur die roten Fingerchen spreizten sich sachte und wohlig auseinander, als ob auch sie den warmen Strom in sich fühlten, Süss und voll das ganze Menschlein, wie eine reife Frucht, die vom Baume fiel und nun hilflos im weichen Grase liegt.

Regine beugte sich über den Wagen und schob ihn mit sorgfältigen Händen ein paarmal hin und her, sodass er auf den hochgespannten Federn leise schaukelte, Das war nun zwar eigentlich nicht erlaubt, dieses Schaukeln; die weise Frau hatte es strengstens verboten, es sei nicht erzieherisch, Ach, was doch alles nicht erzieherisch sein sollte, und gerade das, was das Köstlichste war und wonach man solches Verlangen hatte! Auch herumtragen sollte man sein eigenes Kind nicht, Du himmlische Güte, wozu hatte man denn seine beiden Arme, wenn nicht, um solch liebes Geschöpflein darein zu betten, warm und lind, und dann mit ihm leise auf und ab zu wandeln und dabei den süssen Duft einzuatmen, der von den Flaumhärchen herkam, beseligend, wie von Weihnachtskerzen und reifem Korn, und sich immerzu mit dem Takt der leisen Füsse zu sagen: «Das ist nun dein und gehört dir für immer ,, , für immer,»

Und nun hatten sich die kleinen Augen geschlossen, nachdem sie eine Zeitlang mit seltsam vagem Blick irgend etwas angestarrt hatten, das nicht da war. Regine stellte das Schaukeln ein und liess sich dicht neben dem Wagen auf der braunen Bank unter dem Quittenbaum nieder, Es war köstlich, so dazusitzen, den Kopf an den kühlen glatten Stamm gelehnt, und zu wissen, dass nun niemand kommen würde, um einen zu stören, und dass man so hindämmern konnte und denken, was man wollte; oder auch gar nichts denken, bloss glücklich sein und den rosigweissen Blütenblättern zusehen, die langsam durch die Luft schwammen wie winzige Gondeln, sich leise drehten und dann zuletzt sich irgendwo hinsetzten; auf den Sternenteppich der weissen Massliebchen in der kleinen Wiese gerade vor der Bank oder auf die braunen Wege, wo sie besonders zart und durchsichtig aussahen, wie feinste Porzellanschälchen, oder gar auf Bubis himmelblaue Decke, Ach ja, dahin hätten sie eigentlich alle fliegen sollen, dass er ganz unter Blüten wäre, wenn er erwachte, und dann hätte er vielleicht gelacht — wer weiss! In fünf Tagen wurde er zwar erst fünf Wochen alt, und vor sechs Wochen dürfen Kinder nicht lachen, sagt die weise Frau; aber der ist auch nicht in allem zu trauen, Und — überhaupt — dass man plötzlich auf andere hören soll und ihnen glauben und gerade in dem, was einem am nächsten liegt und das man doch am besten selbst wissen muss, weil man es fühlt!

Die Sonne legt ein weisses Band über ihre beiden Hände, die still und müde im Schoss liegen, Sie muss lächeln, wie weiss sie aussehen, wie zart mit den hellblauen Adern und den durchsichtigen Nägeln, und waren doch vordem braun und fest, «Kleine tapfere Jungenhände» hatte er sie genannt damals — und dann hatte er sie geküsst, fast scheu und doch so innig — o, wie sie zitterten, die tapferen Hände — und da hatte es eigentlich begonnen, das Grosse, das ihr Leben anders gemacht hat, still und nach innen gekehrt und so reich.

Auch ihr Gesicht ist nun anders als damals, blasser und magerer und mit dunkeln Schatten unter den Augen. Und die Haare — das ist auch nicht mehr dasselbe, nicht mehr die festen Flechten, fast zu schwer für den dünnen Hals, Nein, nun sind sie eigentlich recht bescheiden geworden, beinahe spärlich, und sie hört eine Bekannte sagen, so mit einem befriedigten Mitleid um den scharfen Mund: «Schade um die hübsche Frau, die wird sich nicht mehr erholen, die ist gründlich ruiniert.» Und nun muss sie wieder lächeln, Die Menschen, wie komisch sie sind, quälen einen mit ihrem Neid, oft, wenn man innerlich am tiefsten leidet, nur weil vielleicht äusserlich etwas an einem haften geblieben ist, was glänzt, ein wenig Gold oder ein wenig Ruhm; und wo einer einmal ganz glücklich ist, da kommen sie mit ihrem Erbarmen, Weshalb sie beklagen? Bedauert man einen Baum, dass er Blüten verliert, wenn man Früchte reifen sieht?

Ein Brief von Vivien fällt ihr ein, der seit dem Morgen ungelesen in ihrer Tasche liegt, Sie zieht ihn hervor, Grosse, klare Schriftzüge, elastisch, herb und kühl, Sie muss an das Zimmer denken, dort weit im Süden, das so kühl ist und klar mit den weissen Wänden und dem weissen Kamin und das keine andere Farbe duldet als nur dies eigentümliche Grün, fein und schmelzend wie eine Maiwiese, auf die ein Reif gefallen ist: grün die strenglinigen Möbel, grün gebunden die vielen, vielen Bücher mit den weissen Schildchen am Rücken und grün der Myrtenstrauss vor dem weissen Kopf der Demeter, aber ohne seine süssen Strahlenblüten, sondern mit den kleinen schwarzen Beeren; denn es ist Winter, und im Kamin flackern Lorbeer und Oliven. Und am Schreibtisch die Herrin in diesem kühlen Reiche, im schwerfallenden grünen Kleide; die Feder geht mit leisem Knistern über das rauhe Papier, das sich rasch mit diesen Lettern füllt, die so schlank sind, so sehnig und so entschieden wie die Hand, unter der sie hervorspriessen , , . Regine öffnet den Umschlag und liest:

«. . . Da hast du also deinen. Jungen, und das freut mich, Und natürlich ist er ein Prachtskerl, wie wäre es anders möglich! Aber nun, ums Himmelswillen, Liebste, stilisiere dich nicht etwa auf die Madonna hinaus — ipsum quem genuit etc, — Das wäre entsetzlich und stünde dir gar nicht, Du mit deinem klaren Kopf und dem scharfen Blick und nun so mütterlich hingegeben, sanftmütig und pathetisch und selbstlos — nicht zum Aushalten wäre es, eine Geschmacklosigkeit, die ich dir übrigens gar nicht zutraute, wenn da nicht bisweilen so etwas in deinen Augen wäre, und dann deine letzten Briefe , , , Kurz, ich beschwöre dich, um alles werde mir kein so mütterliches Opferlamm, es passt wirklich nicht zu dir, und schliesslich kommt dabei doch nichts anderes heraus als ein verzogenes Muttersöhnchen und eine heruntergekommene Mama, Du aber sollst nicht herunterkommen, hörst du! Du weisst, was wir von dir erwarten, du darfst dich deinen grossen Aufgaben nicht entziehen, Also, nimm eine Nurse, und zwar so schnell wie möglich — damit kann man nie früh genug anfangen, und das gibt immer die vernünftigste Erziehung und die besten Kinder: anständig, bescheiden, rücksichtsvoll, ohne übertriebene Ansprüche an die Eltern und vor allem -— ohne Sentimentalität, dieses geschmackloseste Laster der Deutschen . . .»

Regine lässt den Brief in die Tasche. zurückgleiten, «Da hast du also deinen Jungen!» Wie sie das schrieb, als ob es hiesse: «Da hast du also dein Buch fertig!» Oder nein, das würde sie doch ganz anders sagen, viel jubelnder, viel wärmer, — Ja, wusste sie denn nicht? ,,, Aber es fällt ihr ein, hat sie selbst nicht einmal ähnlich gesprochen? Ja, einmal — vielleicht — aber das liegt so weit zurück, tausend Jahre und mehr. Es ist wie im Märchen, wo die eine Nacht bei den Feen hundert Menschenjahre zählt. Aber sie allein weiss, dass die hundert Jahre vorüber sind, die andern fühlen es nicht; denn sie allein weiss, was in jener Nacht vorgegangen ist und dass sie weit, weit weg gewesen, nicht bloss im Feenreich, viel weiter noch, dort, wo alles Endliche am Ziel ist und wo die grossen Zusammenhänge geknüpft sind, sodass man sie ganz klar sieht, ganz verständlich und auf einmal weiss: so ist es, so durchaus anders, als man glaubte, so wichtig, was klein schien, und was man bedeutend meinte, so hinfällig, Vielleicht war sie tot und hatte zwischen Grauen und Wundern einen Blick in jene Welt getan, wo die Klarheit anhebt, und dann war der grosse Erbarmer gekommen und hatte sie wieder erweckt: «Deine Zeit ist noch nicht erfüllt» — und als sie zurückkam, da war alles anders, grösser und kleiner, aber neu und mit einem solchen satten Glanz.

Wenn man die letzten Dinge an sich gefühlt hat und die Grenze, wo Leben zu Tod wird und aus dem Tod das Leben kommt, da sieht man wohl alles anders, so wissend wird man da, so zeitlos, Oft meint sie, dass sie alt ist wie die Erde, die alles begreift, die spriessen lässt und blühen und sterben, alles mit demselben mütterlichen Lächeln; denn sie weiss, dass es keinen Anfang gibt und kein Ende und dass nichts ein Ziel hat als die Gedanken der Menschen, die so furchtbar kämpfen und doch immer wieder die Stirne anschlagen an der ersten harten Bretterwand und die immer im Kreise gehn und immer viel zu spät merken, dass das Neue, das sie gefunden, ganz alt ist und schon lange irgendwo in einer stillen Ecke mit blutiger Stirne lag, Die armen Menschengedanken! Und Vivien meint, ihnen sollte sie leben, und spricht von Opfern und von einer Nurse, Ja, nennt man das Opfer, wenn man seinem innersten Verlangen folgt? Und soll man einem fremden Menschen lassen, was das Leben reich macht und was man auskosten sollte jede volle Minute lang! Veberhaupt, ein Wollen gab es da nicht mehr, man musste einfach dem Neuen folgen, das sich plötzlich und gebieterisch hervortat und das auf ganz andern Wegen ins Leben hineinführte.

Oft auch fühlt sie, dass sie gerade so klein ist wie das Kindchen da und dass sie mit ihm wieder vorne anfangen muss, ganz vorne.

Da ist nun das kleine Bettchen: vier winzige weisse Wände und vor den Blicken das Himmelblau der Decke und des Vorhangs, Darüber hinaus sieht das Kleine noch nicht, Aber ist nun ihre Welt etwa grösser als dies himmelblaue Nestlein? Weiss sie noch von einem Draussen, von sehnsüchtigen Wegen, die in die Ferne ziehn! Alles, was darüber hinausliegt, bedeutet es ihr mehr als Nebel und Schatten? Nebel und Schatten, man sieht sie vielleicht, aber man weiss nichts von ihnen; gerade wie die kleinen unsicheren Augen sie sehen, die nun so still unter den bläulichen Lidern liegen , ,. Wie winzig die braunen Wimperchen sind, und doch schon fest und sicher hingestellt wie kleine handfeste Torwächterchen: «Es soll nur ein Stäubchen kommen, ein nichtsnutziges, ob wir es hereinlassen!» Und dann die Härchen: zuerst. waren sie dunkel und ein wenig feucht, aber die weise Frau meinte, das wären nur so Paradehärchen, die blieben nicht, die richtigen kämen erst später; und dann hatte sie eine Schere genommen und ein Büschelchen weggeschnitten und mit einem Rosabändchen zusammengebunden, «als Andenken für die Mamas», Sie freilich hatte darüber Fieber bekommen, weil sie es nicht mitansehen konnte, wie man mit einer Schere an das Kleine ging, Man denke: eine harte, kalte Schere mit zwei grossen gemeinen Klingen und dieses Köpfchen mit dem weichen Flaum und dem Samthäutchen! — Aber nun wurden die Haare doch anders, und wenn man sie genau betrachtete, entdeckte man einen geheimen goldenen Glanz, der darüber kam.

O ja, goldige klare Härchen wird er bekommen; und zweifelt etwa jemand, ob es Locken geben wird? Man sehe sich doch dieses Gesichtlein an, die lustige kleine Nase, so vergnügt mit ihren leise gewölbten Flügelchen, und das frische Mündchen, das sich so mutwillig büscheln kann, die kleinen, enganliegenden etwas spitzen Faunsöhrchen und gar die hohe Stirn mit dem zarten Flaum darauf, der über dem linken Auge einen kleinen Wirbel bildet — hat man je etwas so Drolliges gesehen? einen ganz kleinen silberfeinen Flaumwirbel auf der Stirn? — Das alles sehe man an und frage sich, wie nun Schnittlauchhaare dazu passen würden! Nein, so stillos konnte die Natur nicht sein, Natürlich wird er Löcklein bekommen, nicht so verkrauste Ringelchen, die an Schafe erinnern und an die Bärte gewisser rosenroter dicker Teutonen und weiss der Himmel an was noch und die eigentlich recht unappetitlich sind, nein, so feine Schimmerlöcklein, die wie ein Glorienscheinchen um den Kopf stehen, flimmerig und unbestimmt, wenn sie noch kurz, und die ganz weich und seidig werden, wenn sie länger sind, Aber zu lang dürfen sie nicht wachsen; denn niemals darf das schlanke Hälschen verdeckt werden und jene Linie, die vom Kopf zum Rücken führt und die so aufschlussreich ist, aufschlussreicher oft als Auge und Mund und das ganze menschliche Gesicht zusammen-

Wie haben Künstler diese Linie verstanden! Die schlanken, geschmeidigen Hälse alter ägyptischer Könige, so vornehm und grausam mit der kleinen tückischen Kerbe dort, wo der Kopf ansetzt, Oder der stolze, geschwungene Nacken der grossen Frau von Melos, kühl und doch süss und schwer wie eine reife Frucht am Sommerabend, und Botticellis zarte, sehnsüchtig vorgestreckte Engelshälschen, und Michelangelo mit seinen breiten, kurzgesetzten Nacken voll heisser, trotziger Kraft! Und der grosse moderne Künstler: hat nicht lange, bevor man die Sprache seiner Kunst verstand, sein Nacken eines pergamenischen Giganten verkündet, dass er einst siegen werde? — Aber die Menschen rings mit ihren nichtssagenden, langweiligen, mit den kaltherzig steilen, den heimtückisch eingezogenen und den gemein verschwemmten Hälsen, die waren freilich recht unerfreulich, und es war vielleicht eine taktvolle Mode, die den Herren die Köpfe auf enge weisse Röhren stellte — manches blieb einem da erspart, Aber bei ihrem Jungen wird der Nacken so sein, dass man darin lesen darf: etwas zu schlank vielleicht, aber stolz und vornehm, ein wenig zurückgeworfen und doch geschmeidig und so klar — ach, es wird eine Lust sein, darin zu lesen! Und wie die hellen lockigen Haare dazu passen! Komisch, dass man heute noch nichts von ihnen sieht als bloss diesen kleinen goldenen Schimmer über dem dunkeln Pelzchen, und sie weiss doch ganz bestimmt, wie sie sein werden, obschon die andern lachen, wenn sie von Locken spricht, Aber wie war es mit den Augen? Sie hatte ja auch immer gewusst, dass er braune Augen haben würde; nicht von dem stumpfen neidischen Braun, das nur einsaugt. und nichts widerstrahlt, nein, von einem ganz hellen, strahlenden, schenkenden Goldbraun, Fra Angelico hat seinen Christkindchen solche Augen gemalt und seinen Engeln, allen dieselben. gelbbraunen Sterne, die soviel Liebe ausstrahlen und soviel Innigkeit und die dabei doch immer etwas Geheimnisvolles behalten; denn das Letzte dürfen sie doch nicht verschenken von dem himmlischen Glanz, den sie geschaut haben.

Solche Augen hatte sie erwartet von ihrem Kind, und als sie dann das Neugeborene aus dunkelblauen Sternen anblickte, hatte sie bloss gelacht: «Willst mir etwas vormachen, kleiner Schelm!» und hatte dann ruhig gewartet, bis der goldene Schimmer hervortrat, erst schüchtern und nur ihr bemerkbar ‚und dann immer deutlicher, dass auch die andern es sehen konnten, Und heute war nur mehr ein letztes blaues Schleierchen über dem Goldgrund, gerade wie bei jenen Seifenblasen, den allerfeinsten, leichtesten, die zuletzt dem Pfeifchen entsteigen, wenn der Schaum schon zu Ende geht, und die zuerst himmelblau und goldig ihren rotgrünen und violettroten Kameraden folgen und sich zuletzt in ein goldenes Nebelchen auflösen.

Ja, solche Goldaugen! Und wenn sie erst einmal lachen — wie zwei Sonnen wird es sein, die nicht mehr untergehn, Tag und Nacht nicht, und was kann das Leben dann noch Schlimmes haben, solange die scheinen?

Wenn er aber erst einmal lacht, dann hat es schon ein Ende mit der kleinen himmelblauen Welt, und die Fäden mit der grossen spinnen sich an, Die ist nun schon so weit wie der ganze Platz hier unter dem Quittenbaum und ist auch von einer blauen Decke überspannt ganz zu oberst. Aber da kommt noch soviel Neues dazu: das wundervolle Grün, hell und dunkel leuchtend, wie man es will, immer neu und immer bewegt — denn da ist stets ein kleiner Wind, der durch die Blätter kichert — und dann das Weisse und Rosenrote über den dunkeln glatten Aesten ,, , Es ist nicht auszudenken und ist doch erst der Anfang; denn dann kommt immer Neues und immer mehr mit jedem Tag, und die Farben nehmen Formen an, so eigentümliche, runde und feste, die man mit den dicken Händchen greifen kann, oder auch weich und seidig oder hart, dass es ein wenig weh tut, Und eines Tages, da lässt man das blaue Nestchen überhaupt ganz zurück, irgendwo in einer Ecke des Hauses; denn nun geht man, Ist es zu begreifen, solche dicke, rosenrote Kisschen mit den kleinen eingesteckten Fleischklötzchen, und nun darauf schreiten wie auf richtigen Füssen? Aber es geht doch, Zuerst noch etwas schwankend, dann immer sicherer, und nun kommt das grosse, grosse Leben,.

Wer hat das je geahnt, was so ein Garten alles umfasst? Vielleicht sie oder Vivien oder irgend jemand von den grossen, klugen Leuten mit den Gedankenringen im Kopf? Er ist ja unglaublich gross, dieser Garten: vom Quittenbaum zum Ahornplätzchen und dann querüber zu den grossen Tannen — vier sind es und stellen eigentlich schon einen kleinen Wald dar — und dann weiter zu dem Kiesplatz vor dem Haus, wo die fremden Pflanzen stehn in Kübeln, schön nebeneinander, die immer etwas mürrisch aussehen und kränklich, aber doch vornehm, Und dann kommt erst der Hauptweg mit dem vielen Flieder und dem vielen Farnkraut, der so lang ist, dass winzig klein scheint, was am Ende steht; und zuletzt, wenn man an den hundert Farnbüschen vorübergegangen ist, kommt man zu einem grossen Kastanienbaum mit den langen hellroten Kerzen, die fremdartig zwischen den gewaltigen grünen Händen hervorschauen und deren höchste Blütchen das Blau des Himmels sehnsüchtig in ihre zarten Kelche hineinziehen, Unter dem Kastanienbaum ist ein richtiger kleiner Berg, man muss ganz steil hinaufgehen und zwischen Aesten durchschlüpfen, die einem die Löcklein zupfen, und wenn man oben ankommt, auf einem grossen runden Platz, ist es fast dunkel von den vielen Bäumen, und man fürchtet sich ein wenig, Aber dann geht's wieder hinunter, wieder querüber, und dann. kommt man zu den breiten Gemüsebeeten, die gemütlich an der Sonne liegen, mit lustigen Weglein dazwischen, auf denen es so schwer zu gehen ist, weil die Füsschen immer links und rechts in die schönen grünen Büschel hineinfallen wollen, was sie aber gar nicht dürfen, Und dann erst noch der braune Weg, der so mutwilligs herumgeht, hin und her, und ganz zuletzt zum Quittenbaum zurückführt. Aber da muss man sich schnell setzen; denn man ist furchtbar müde von dem langen Weg und von den vielen Dingen, die man gesehen, und den vielen, die man nicht gesehen hat, Ach, einen ganzen langen Sommer kann man sich da müde laufen, und dann kennt man erst noch nicht alles, Denn da ist so viel, nicht nur die tausend Blumen, die jede Woche ändern, dass man nicht nachkommt mit Beschauen: erst die Schneeglöckchen, ängstlich und immer etwas verfroren, dann die Primeln mit den runden Mäulchen und die Stiefmütterchen, so komisch mit den vielen Gesichtchen, erstaunt und verschmitzt und ernsthaft und übermütig, jedes wieder anders, Und die lieben Massliebchen, von denen man pflücken kann, soviel man will — denn es gibt immer wieder neue — die am Morgen wie kleine hellrote Kugelchen aussehen, wenn noch der Tau dran hängt und blitzt, weil die Sonne ganz schräg hereinscheint, und die am Nachmittag schöne weisse Sterne werden. Und die hellblauen Graslilien, wie schnell sie wachsen! Heute sieht man die ersten grünen Speere aus dem Boden dringen und übermorgen; — oder ein wenig später? — sind schon die blauen Blumen da zwischen den schmalen Blättern auf den hohen dünnen Stengeln, und man weiss nicht, wie es zugegangen ist, Und dann all die Blumen, die auf den Bäumen wachsen und die man nie recht sieht, weil sie zu hoch oben stehen, Bloss riechen kann man sie und die Blätter zusammenlesen, wenn sie herunterrieseln, Aber die Rosenblätter, die sammelt man und stellt sie in einem Fläschchen an die Sonne mit wenig Wasser, O, dann gibt es einen feinen Duft!

So viele Blumen, und doch ist das lange nicht alles, Es gibt da anderes, was eigentlich noch interessanter ist. Habt ihr die Steine einmal recht angeschaut auf den Kieswegen? Ihr meint, sie seien grau oder weiss oder gar alle gleich? Wie schlecht habt ihr geschaut, sonst hättet ihr gesehen, dass keiner gleich ist wie der andere! Da gibt es die dunkelroten mit einem kleinen matten Glanz und die gelben, heiter und rund wie Maiskörner, und die grauen mit dem weissen Band oder gar einem Kreuz und schwarze und violette und grünliche und ganz weisse und fast blaue und alle wieder mit anderen Formen und jeder anders anzufühlen: warm und glatt die roten und kalt und rauh die grauen, aber die weissen so fein, fast wie etwas Seidiges, Das. Allerschönste jedoch sind die Tiere. Die Schnecken zum Beispiel, die sind so schlau: im Herbst legen sie sich ruhig schlafen, ein wenig unter der Erde, zwischen modrigem Laub und Wurzelwerk, gerade dorthin, wo die junge Keimkraft liegt, und kommt nun der Frühling und fängt es zu spriessen an, so lassen sie sich einfach herauftragen durch die jungen Schosse, und eines Tages sind sie da, alle oben zwischen den zarten zusammengerollten Blättchen der Primeln und Farnkräuter; und wenn sie erst einmal die Hörnchen herausstrecken und sich die Augen putzen, ei, da ist ja der Tisch schon aufs herrlichste gedeckt mit all dem jungen Grün, Die grossen Rebschnecken {freilich, die lässt man eher liegen, man hat mehr Respekt für sie als Liebe; denn sie sind zwar tapfere Kerle, gesinnungstüchtig und voller Würde, doch sie sehen immer etwas verwahrlost aus, wie staubig, mit zerbrochenen und schlecht geflickten Häuschen, Aber die kleinen sind hübsch, besonders wenn man jedes für. sich nimmt: da sind die dunkeln mit den gesprenkelten Häuschen und den schwarzen Leibern, elegant und schlank wie abessinische Prinzchen, und dann die gemütlichen gelben mit den gestreiften Häuschen, bei denen man immer an den guten Onkel Fritz denken muss mit dem gelben Bart und den RayeHosen — und dann die ganz hellen, ein wenig langweilig wie die blonde Weissnäherin, die immer gähnt, wenn sie Hunger hat, und immer Hunger hat, wenn sie gähnt. Die allerschönsten aber sind die mit den rosenroten Häuschen; man darf sie fast nicht anrühren, so dünn und durchsichtig sind ihre Schalen. Und alle lassen sie so herrlich glänzende Strassen hinter sich, wenn sie sich fortbewegen, oft silbern, oft schimmernd wie Seifenblasen, Man muss nur nicht zu viele zusammennehmen, sonst hängen sie sich aneinander, und dann gibt es keine silbernen Strassen mehr, sondern so einen schleimigen Knäuel, und das sieht gemein aus und macht keine Freude mehr, Es ist gerade wie bei den Menschen: einer, ja — auch zwei, vielleicht auch drei noch; aber dann wird's immer unerfreulicher, und wenn's erst ganz viele sind — o du lieber Himmel!

Aber die Münzenkäferchen, von denen kann man nie genug bekommen; sie sind so wunderschön, wie kleine leuchtende Edelsteine, und keins wie das andere: das eine rötlich und violett das nächste und wieder eins dunkelblau oder gar hellgrün, aber alle mit einem Goldton; und wenn man nun recht viel zusammen hat, gibt es solch ein Funkeln und Leuchten wie in König Laurins Zaubergarten, wo in jeder ungetrübten Vollmondnacht tausend Edelsteine aus dem Boden spriessen.

Und die Marienkäferchen, von denen man nie weiss, welche einem am besten gefallen, ob die geheimnisvollen schwarzen mit den roten Pünktchen oder die fröhlichen roten mit schwarzen Aeuglein, Aber wenn man eins in den Himmel schicken will, so von der äussersten Fingerspitze aus: «Marienkäferchen, flieg auf und sag dem lieben Gott, dass er morgen schön Wetter macht!», da wählt man doch immer ein rotes, Denn den andern traut man nicht recht; die könnten schliesslich auch ganz wo anders hin fliegen als in den Himmel und ganz was anderes bestellen als Sonnenschein.

Das Allerherzigste aber sind vielleicht die Mooshummelchen, die gelb und rund wie goldene Seidenflöckchen durch die Luft wirbeln, Hinten im Garten unter dem Feuerbusch haben sie hundert kleine Löcher in den Boden gemacht, und da fliegen sie nun unablässig ein und aus, mit gelben Höschen hin und mit schwarzen Stiefelchen zurück, Man könnte ihnen stundenlang zusehen und sich dabei denken, wie wunderbar es wohl aussieht in der dunkeln Stadt da unten mit den vielen, vielen Türen, den vielen Wohnungen und Honigkammern, Oft hat man auch Lust, ein Rütlein in die Löcher zu stecken, ein wenig aufzugraben und selbst nachzusehn, Aber man tut es doch nicht; denn es wäre zu traurig, wenn dann alles zusammenfiele und die Türen verschüttet wären, Und wenn dann abends so ein fleissiges Hummelchen.müd und honigschwer heimkehrte, ach, da müsste es draussen bleiben und vielleicht erfrieren in der taukalten Nacht, Nein, so etwas könnte man nicht tun, Einem Spinnlein sein Netz zerreissen und die eben gefangene Fliege wieder loslassen oder ein Käferchen aufden Rücken legen, besonders wenn's eins von den schwarzen schmalen ist, die sich dann immer so geschickt in die Luft schnellen, um wieder auf die Füsse zu kommen, das schon eher, Oder vielleicht sogar — einen Regenwurm mitten durchschneiden, wenn es ein besonders langer ist und man gerade die kleine scharfe Haue zur Hand hat, mit der man sein Gärtchen umgräbt; denn dann gibt es auf einmal zwei Würmer, zwei schöne glänzende Regenwürmer, die sich abwechselnd dick und dünn machen und so behende durch die dunkeln Erdkrumen schiessen, jeder nach einer andern Seite, durchaus vergnügt, als ob die beiden Wurm-Enden schon lange auf diese Lösung drückend gewordener Bande geharrt hätten. So merkwürdig sind die Würmer, aber schöner doch die Raupen mit den Plüschmänteln und schillernden Seidenwämsern und den grossartigen Bürstchen und Quasten auf dem Rücken, Eines Tages gehen sie hin und hängen sich auf, und dann werden sie starr und bekommen ein sonderbares Gesicht wie Totenköpfe; aber man weiss ganz gut, dass sie nur dergleichen tun und dass hinter der Larve etwas sehr Wunderbares vorgeht, Und man mag es fast nicht erwarten, bis die Puppe aufspringt und der Sommervogel herauskommt. Wie wird er wohl sein? Dunkelbraun mit einem samtnen roten Band oder weiss, ganz weiss und gross mit herrlichen purpurnen Augen? Oder seidenblau mit einem Silberflaum oder perlmutterfarben? Man wartet und wartet, und schliesslich kommt wohl nur ein ganz gewöhnlicher Kohlweissling her aus. Aber wenn man sieht, wie er auf ein mal da ist und wie er nun die feinen zer knitterten Flügelchen erst an der Sonne sich entfalten lässt, sie dann langsam, lang sam bewegt, als ob er atmen würde damit, und dann zuletzt seidenglänzend und weiss durch die Luft schwimmt wie ein Blütenblatt: da meint man, dass der Kohlweissling vielleicht der allerschönste sei von allen.

So unermesslich reich ist ein Garten, und mit der Zeit wird er immer noch reicher; denn dann füllt er sich mit all den Erlebnissen, Da ist z, B, die Ecke unter dem Ahornbaum, Was bedeutet sie heute mehr als ein lieber kleiner Winkel voller grüner Schatten? Aber eines Tages wird aus dem Nesichen dort oben am äussersten Giebel ein kleines nacktes Vögelchen herausfallen, gerade auf das harte Pflaster vor dem Haus, und dort wird man es finden, platt ausgestreckt und tot, noch ein wenig warm das rosenrote Körperchen mit den blauen Stacheln an den Flügeln und den blauen Kügelchen der blinden Augen links und rechts vom gelben Schnabel, Und da wird man wissen, dass es auch traurige Sachen gibt auf der Welt, und wird sehen, wie die alten Vögel flattern und schreien und ganz verzweifelt tun, Dann nimmt man das arme Tödlein mit behutsamen Händen, und drinnen holt man ein Schächtelchen, eine braune Kakaobüchse, die feierlich und ernsthaft aussieht; die füttert man mit den weissen Blättern der Quitten wie ein winziges Bettlein, und mitten hinein legt man das arme tote Vögelchen, Und dann macht man ihm ein Grab, nicht nur so ein unordentliches Loch, sondern mit Haue und Rechen ein schönes, sauberes Grüftlein eben dort unter dem Ahornbaum; und dann legt man den Sarg hinein mit ein paar weissen Massliebchen drauf und wölbt zuletzt die Erde zu einem winzigen Hügel mit weissen Steinchen ringsherum und einem grossen glatten zu Häupten, Von nun an aber ist es gar nicht mehr die gewöhnliche Ecke unter dem Ahorn: sie hat nun etwas Besonderes bekommen; und wenn man daran vorbeigeht, wird man immer ein wenig feierlich. und ernst und kann nicht begreifen, wie nun die alten Vögel schon. wieder vergnügt auf dem Dach sitzen und sich die flaumigen Brüstchen mit den Schnäbeln strählen können, gerade als ob nichts geschehen wäre.

So reich ist der Garten und wird immer noch reicher, und doch kommt einmal der Tag, wo man darüber hinaussieht und entdeckt, dass der Gartenzaun auf der Seite nach der grossen Wiese des Nachbars hin so ein nettes Loch hat, gerade gross genug, um durchzuschlüpien., Drüben aber wachsen die tausend Häliblumen, zuerst mit wundervollen gelben Kissen auf den weisslichgrünen Röhrchen, aus denen man die allerschönsten Dinge machen kann, Halsketten und Wasserleitungen und Brunnen — was man nur will, Aber dann später gibt's aus den gelben Blumen runde weisse Lichtlein, die nach allen Seiten zerstieben, wenn man hineinbläst, und hundert silbrige Samenvögelein ziehen durch die Luft, so fein, so fein! Aber einmal am Morgen, ganz früh, wenn man noch im Bett liegt, hört man ein Rauschen draussen, klingend und feucht, das ist der Bauer, der das Gras mäht, O wie herrlich, im Heu zu liegen, wenn es stark duftet und warm ist von der Sonne, und den Heupferdchen zuzusehen, wie sie mit den rauhen Beinchen über die grünen Flügel streichen, dass es zirpt, so fein und dünn, als ob das knistrige Heu selbst ein Stimmchen bekommen hätte.

So ist die Wiese, Aber an die Wiese grenzt der Wald, und eines Morgens ist man auch dort, und nun freilich kommt etwas Neues, Ja, das ist nun die Welt, und der Garten — wenn man offen sein will, man darf es freilich fast nicht aussprechen — der war eigentlich recht klein: nur so rund herum ums Haus, mit ein paar Tannen am einen und einem Känzelein am andern Ende. Und nun der Wald: nicht abzusehen und herauszufinden, wo er am schönsten ist, ob dort zwischen den grauen Stämmen, wo die vorjährigen Buchnüsschen wurmzerstochen und modrig liegen unter den abenteuerlichen Rapunzeln, die mit ihren bleichen gezackten Köpfchen fast gespenstisch aussehen wie kleine tückische Waldgeister; oder an der Quelle mit den vielen moosigen Steinen oder im Tannenwald, wo die zernagten Zapfen rötlich am Boden liegen und rote Eichhörnchen über die hohen Stämme gleiten; oder am Ende gar zu oberst auf den schlanken Buchen! Es ist so köstlich hinaufzuklettern, dass die Gelenke krachen und die Hände hart werden, und sich dann zu oberst zu wiegen — hin und her, dass es fast gefährlich aussieht und man mitten in einer grünen Laube von Buchenblättern drin sitzt, die in der Sonne glänzen und leise rauschen, wenn ein kleiner Regen darüber geht, Dann sieht man auch wohl einen Vogel vorbeischiessen, etwa einen Häher mit samtblauen Federchen am Flügel oder gar den grossen goldenen Pirol. Ueberhaupt — die Vögel! Wie ganz anders sie hier singen als im Garten! Besonders die Amseln, Daheim war es ja auch schön, wie sie anfingen, im Frühling; aber dann immerzu das gleiche Gesätzlein, wie auswendig gelernt, drei Monate lang, jeden Tag — zuletzt war es eigentlich gar nicht mehr so schön, Doch hier hat jede einen andern Sang, und dann klingt es auch so anders, so viel voller und sonderbarer in der grossen grünen Herrlichkeit. Auch das Lachen des Buchfinken tönt hier viel jubelnder, und der Schwarzkopf — hell und schmelzend wie grüngoldener Waldsonnenschein! Die mürrische Goldammer hört man hier gar nicht; die hat sich mit ihrer dürren Stimme aufs heisse Feld hinaus gemacht, und das ist recht so. Hierher passen nur die lautern und weichen Töne und die frischen, Kukkuck und Drosseln, vor allem aber der Pirol mit seinem langen, atemlosen, reichverschlungenen Pfiff, Der hat die Stimme des Waldes wie kein anderer.

Ja, der Wald, so reich, so unermesslich ‚, , Aber einmal fällt einem die Landstrasse in die Augen, Sie ist weiss und glatt, nichts weiter, Und doch? Wie sie dahingeht, ruhig und sicher zwischen den grauen Feldern und grünen Wiesen, erst gewunden, als ob sie’s nicht eilig hätte, aber dann immer sicherer, gerader und so weit, dass sie zuletzt mur inoch ein weisser Strich ist, aber immer noch dem Auge vernehmlich, Wie stolz lässt sie alles zurück, Haus und Garten und Wald — alles, und wenn man sie jetzt recht betrachtet, ist da nicht etwas an ihr, das zieht und ruft, dass man nicht mehr bleiben kann?

So kommt das Wandern, Zuerst immer noch gemeinsam, mit den Augen in die Ferne gerichtet, weg vom Zunächstliegenden; aber die Strasse führt zum Fluss, und nun sieht man in die weiten Täler hinein, glänzend ihr Grund von den glänzenden Wassern des Stromes und in der Ferne duftig und zart mit dem Himmel zerfliessend, Das zieht nun noch stärker, noch unwiderstehlicher ...

Dann aber geht es nicht mehr gemeinsam — dann sitzt sie wieder daheim unter dem, Quittenbaum, allein! Fallen auch wieder die Blättchen rosig und zart wie feine Gondeln aus Porzellan? Sie weiss es nicht, Zwischen zwei Stämmen sieht sie die weisse Strasse, wie sie sich gerad und sicher in die Weite verliert, Ist das nun wieder die Sehnsucht der Ferne, die sie packt? Vielleicht, aber nicht wühlend und bang wie einst, sondern mit einem schönen und starken Grund: das liebe Glück, ich brauche ihm nicht nachzujagen, es kommt doch immer wieder zu mir zurück, und ich kann warten.

Dann ist wohl die Zeit gekommen, wo sie Viviens Brief zu Ende lesen kann und an die grossen Aufgaben denken, Vielleicht wird sie sich nun wieder hineinwagen in den Kampf der Geister; sie hätte nun wohl Waffen von ganz anderer Kraft mitzubringen, solche, die imstande wären, Kreise zu durchbrechen...

Vielleicht wird sie es auch nicht tun. Wozu der Kampf und das Ringen und Bauen und Niederreissen? Handelt es sich um viel anderes als um einen grossen Betrug, einen herrlichen und ehrlichen freilich, aber doch — einen Betrug, eine Illusion, ein Spiel, alles, um wegzutäuschen — worüber? Ueber Dinge, die doch so einfach sind und gross, wenn man sie einfach und gross zu nehmen versteht. Ach, das ewige Sichauflehnen, das Sichnichtfügenkönnen, das heisse, eitle Bemühen, sich loszutrennen aus der Gemeinsamkeit der andern Geschöpfe und dem Menschen neue Wege zu finden, andere Gesetze, die doch nirgends Bestand haben als in seinem armen, ewig genarrten Gehirn. Und wäre doch so viel besser, über alles Trennende hinweg die grosse Gemeinsamkeit zu erkennen, mit ganzer Inniskeit zu begreifen, dass im Grunde doch alles gleich ist, Muss man erst Mutter werden, um zu verstehen, wie innig nahe wir der Erde immer noch sind? Und redet doch die ganze Natur zu uns unaufhörlich und so klar!

Da ist ein ganz grosses Wort, das ein ganz Grosser gesprochen: «Dein Wille geschehe.» Gäbe es wohl ein einziges Geschöpf in der Natur ausser dem Menschen, das nicht schlicht und selbstverständlich dieser höchsten Weisheit nachlebte?

Der Baum hier, wie er die weisse Pracht seiner Blüten von sich ablegt, leise erschauernd nur unter dem kleinen Winde, so wird er später seine Früchte hingeben, die sorgsam gehegten, und dann auch den letzten goldigen Schmuck des herbstlichen Laubes und wird schliesslich nackt und starr dastehen — und alles ohne Kampf und ohne Klage, immer mit derselben ruhigen Selbstverständlichkeit: blühen, reifen und vergehn — und wieder blühen, Dass man doch diese grosse, schlichte Sprache verstünde!

Und dann: mit all den tausend Fragen kommt man dem Augenblick nicht so nahe, wie mit dem einzigen tapfern: «Ich halte dich; nun gib mir deine ganze Süsse und alles, was in dir ist!» Und die vielen satten Augenblicke — ist das nicht ein Leben wert und dass man alles auf sich nimmt?

Nein, sie wird sich wohl nicht mehr hinwagen, wo die vielen Menschen sind und die vielen, ach, oft so nutzlosen Fragen kreisen, Dann wird Vivien sagen, dass sie zugrunde gegangen sei, aufgeopfert und heruntergekommen, und die andern werden es auch sagen, Sie aber wird hier sitzen, still und glücklich, mit dem Blick auf die weisse sehnsüchtige Strasse, die so stolz auszieht und doch immer wieder zurückkommt, und wird die Blätter fallen sehen, die weissen im Frühling und die goldenen im Herbst, und wird so fühlen, wie alles hingeht und wiederkommt und kein Ende hat, und wird am stillen Strom der Dinge das Ewige erkennen, wie damals in jener Nacht, als unter Grauen und Wundern die Welt der grossen Klarheit sich einen Augenblick lang vor ihr auftat.

So wird es kommen.

Und nun beugt sie sich wieder über das Bettchen, War da nicht ein zartes Geräusch wie von kleinen nassen Lippen? Wirklich, nun sind ja die beiden Aeuglein offen, blank und so goldig wie noch nie! Und da, um das Mündchen, was ist denn das, dieses kleine Zucken, unbeholfen, fast grämlich? Und nun heller und immer bestimmter, und nun zieht es schon ganz weit hinauf um die Nasenflügelchen — und nun — die Augen, . , Heiliger Himmel, er lacht!

Das erste liebe kleine Lachen — und für sie! Und so wird es nun immer sein: ihr ein jedes neue Aufleuchten und jede neue.Erkenntnis mit ihr, für sie und mit ihr die ganze grosse herrliche Welt, Allmächtiger, so reich kann das Leben sein ...

Die Lebendigen

Als Frau Madeleine nach so langer Zeit zum ersten Mal wieder in Gesellschaft ging, war ihr zunächst beinahe erwartungsvoll zumute, Es war soviel Furchtbares und Schönes über sie und die Welt gegangen seither, es musste doch wohl auch hier manches anders geworden sein, Aber als sie die immer noch so neue Villa auf dem Berg vor sich sah und die festlich belebten Räume sie aufnahmen, fühlte sie denselben Enttäuschungsstich wie als Kind, wenn sie nach den Ferien die Schulstube wieder betrat mit der geheimen Hoffnung, irgend etwas darin verändert zu finden; aber es war immer dasselbe, und den heiligen Glanz musste man draussen lassen.

Unwillkürlich schmiegte sie sich enger an den Arm ihres Gatten und zog die Schultern höher, als ob sie so dem Anprall der Begrüssungen besser standhalten könnte, Sie hatten alle ungefähr dieselben Worte — des Staunens über ihr endliches Erscheinen nach so langer Zurückgezogenheit, des Vorwurfs über ihr unverantwortliches Fernbleiben: Hundert Jahre hätte man sie nicht mehr gesehen, und ob sie einen denn überhaupt noch kenne? Eigentlich tönte das alles wenig freundlich, schon fast eher wie Tadel, Der Gedanke an die Schulstube kam wieder: Wenn man die Ferienaufgaben nicht ordentlich gemacht hatte, dachte sie und’ musste lächeln. Dann streckte sie die Begrüssungshand ein wenig weiter von sich ab und liess die blonden Wimpern tiefer über die grauen Sterne sinken, Sie hätte ihnen so gerne gesagt, dass es ihr vorkomme, als ob man sich erst gestern gesehen habe, und dass sie alle entsetzlich unverändert fand, Aber das ging wohl nicht an. So blieb ihr denn nichts als ein paar ebenso leere Worte und das Höflichkeitslächeln, Es war ihr, als ob sie sich mählich zum Aigineten erstarren fühlte.

Ein hartes, etwas zu lautes Lachen des Hausherrn schreckte sie auf, Sie spürte mit einem eigentümlich schamhaften Schmerz, wie schwer es diesem Lachen wurde, ein Lachen zu sein und nach Freude zu klingen, Rasch löste sie sich vom Arm ihres Gatten, trat auf den Hausherrn zu und reichte ihm mit herzlicher Bewegung die Hand; aber da sie in dessen überraschten Augen nichts las als Staunen über die erneute Begrüssung, wurde ihr auch gleich das Ungewöhnliche ihres Tuns bewusst und dass man hier Mitgefühl nicht verraten durfte, So sagte sie ihm denn ein paar angenehme Worte über seine neueste ästhetische Arbeit, Sie waren nicht tief geholt; aber sie gaben doch dem gequälten Gesicht des Mannes einen warmen Zug, und als er jetzt neuerdings, doch leise lachte, tönte es fast natürlich, dass sie sich mit befreiter Empfindung, wenn auch ein wenig beschämt, von ihm wenden konnte, um ihn neu Eintretenden zu überlassen.

Unter ihnen erschien auch der Dichter, Seine schwarze Gorkimähne enthüllte immer noch mit derselben fettigen Gebärde die krampfige Stirn, und die Augen unter den betonten Brauen standen in Tiefglut wie immer, und wie immer warf er sich mit tragischem Handkuss auf die Hausfrau.

Der Anblick dieser Begrüssung -gab Frau Madeleine einen kleinen Schauer, Sie wusste, dass sie eines der nächsten Opfer sein würde und dass er im nächsten Augenblick seine reimzerquälten Lippen just auf jene Stelle ihrer Hand pressen würde, wo sie noch den Gutenachtkuss ihrer Knaben fühlte, den lebendigen und sanften Druck der beiden so verschiedenen Mündchen, Mit leisem Grauen barg sie die Rechte in die Falten des Kleides und wandte sich dann, rasch die Deckung einer Begrüssungsgruppe benützend, einer kleinen, unbeachteten Veranda im Hintergrund des Saales zu.

Die venezianische Lampe gab dem geborgenen Raum mehr Dunkelheit als Licht, Frau Madeleine duckte sich aufatmend in dessen schwärzeste Ecke, Der sanfte Duft und die Weichheit ihres Kleides umhüllten sie mit wohliger Heimatlichkeit, Sie fühlte sich auf einmal allein und ganz fern, Die Welt in den Sälen drüben ging sie nichts mehr an, und sie fand es reizend, so dazusitzen als einziger Zuschauer vor diesem komischen kleinen Theater unter den Leuchtern, Die versteckten Schlupfwinkel ihres heimatlichen Gartens fielen ihr ein, wo sie sich als Kind gerne verborgen hielt. Die Welt hatte dann auf einmal so anders ausgesehen, wenn man nicht dazu gehörte, Man entdeckte dann plötzlich, wie jung die Eltern noch waren, die ahnungslos und innig an einem vorbeiwandelten, wie schön die Mutter und dass der Vater sein Haupt stolzer trug als alle andern. Aber das Schönste, wenn Georg erschien, das Gesicht erhitzt vom Suchen, die hellen Haare zurückgeworfen und in den Augen ein ängstlich und. zorniges Blitzen, Ah, sie hätte dem Bruder um den Hals fallen mögen, und doch zögerte sie noch in ihrem Versteck: das Wiederfinden war dann so schön, Das Wiederfinden? ‚.. Sie fuhr sich leise erbebend über die Stirn — dann wandte sie ihre Augen wieder dem Saale zu.

Die letzten Gäste waren eingetroffen, Am spätesten und fast gleichzeitig die beiden umgeheirateten Ehepaare. Sie waren die Sensation des Jahres und bildeten auch jetzt den Mittelpunkt der Gesellschaft, Sie grüssten sich gegenseitig mit augenfälliger Natürlichkeit, und jedermann bewunderte sie und hätschelte den Anblick: man spürte an diesem fast freundschaftlichen Verkehr geschiedener Eheleute das Mass der eigenen Weitherzigkeit, sie gaben dem Grossstadtbewusstsein sozusagen den Echtheitsstempel — Frau Madeleine lächelte — und war doch nichts kleinstädtischer als die Bewunderung ungewohnter Dinge, an denen es nichts zu bewundern gab, Sie verglich die Paare, die sie zuletzt noch in ihrer frühern Verbindung gesehen hatte, Gewiss, auch diese Kombination ging, warum nicht? Und es hätte sich ruhig so weiter kombinieren lassen, Das war wie Konfektion, die jedem passt, und tüchtige und geprägte Menschen erkannten solcher Tauschware Persönlichkeitswert zu und glaubten, dass der Mut braucht zur Veränderung, der keine Wurzeln hat und keinen Grund.

Sie betrachtete ihren Gatten, Er hatte sich bei der Dame des Hauses festgefahren und sass nun etwas zusammengeklappt vor der lebhaft Sprechenden, Er hatte die Höflichkeitsfalte auf der Stirn, in der er es allemal zu verbergen suchte, wenn ihn jemand langweilte, Er sah sehr beflissen aus, und doch wusste sie, dass er nichts hörte. Wie sie dieses Unvermögen, Dinge anzuhören, die ihm nichts sagten, an ihm liebte und dieses gütige Bestreben, dennoch aufmerksam zu sein! Seine Augen, die in ihrer Richtung blickten, hatten ein ganz leises Lächeln, das ihr sagte, dass er sie gewähren liess und sie so lange wie möglich nicht verriet, Und sie sah ihm auch an, dass er ihren Dank fühlte.

Man begann, sich zu gruppieren und irgendwie gesellschaftlich zusammenzutun; aber es wollte nicht recht, und man spürte, dass es noch geraume Zeit dauern würde, bis die Ungezwungenheit sich dieser Menschen erbarmte, Vielleicht, wenn Jugend dagewesen wäre, ein paar festlich gestimmte Backfische und schüchterne rotohrige Jungen, das hätte den Aeltern die Sicherheit gegeben und sie in die natürlichen Proportionen gebracht; jedoch das wollte man jetzt nicht mehr, Familienabende, man wollte Salon halten, Seitdem der grosse Dichter die Hölle der Gemütlichkeit verspottet hatte, schämte man sich, gemütlich zu sein, Und nun gab man sich soviel Mühe zu zwanglosem Verkehr und freier Geistigkeit, Vielleicht war dieses Bestreben ja rührend; aber das Rührende hat bald etwas Erbärmliches an sich, Vielleicht auch war es just das Erfreuliche daran, dass ihnen die Maske der Gesellschaftlichkeit noch so schlecht sass und dass zum Beispiel diesen braven Geistern die nötige Oberflächlichkeit zur urbanen Diskussion noch fehlte und sie immer noch gereizt und eigensinnig wurden, wenn Anschauungen sich kreuzten, Anderseits tat es einem wohl, zu denken, dass, was man hier gewahrte, nicht das Echte und also das weniger Gute war und dass noch in dieser selben Nacht all die forcierten Gebärden sich heimisch beschwichtigen konnten, Die gute Hausfrau, wie musste ihr wohl werden, wenn sie, aus der Verpflichtung ihres Künstlergewandes und ihrer ästhetischen Gesinnung entlassen, die tüchtigen Hände, unbehindert durch den absichtsvoll gerafften Shawl, wieder brauchen durfte, Und die Gattin des Kunstmäcens, wenn sie ihre erzwungene Nonchalance ablegen, wieder aufrecht sitzen und die runden Knie in bürgerlich brave Frontstellung bringen durfte und wusste, dass sie nun viele Tage nicht mehr zu rauchen brauchte! Ach, und die blonde Redaktorsfrau, die sich immer so schämte, dass gewisse Reden dieses Kreises ihr noch nicht glatt eingingen — wenn sie ruhig erröten oder einfach davonlaufen durfte, sobald Worte sie verletzten! Sie waren doch alle ein wenig wie der kleine zapplige Doktor, der unter halben Zynismen und bizarren Anläufen sein liebes Jungengesicht verleugnete und verspottete, was er so gern geliebt hätte: ihrer Freiheit taten sie Gewalt, um unabhängig zu scheinen, und wie mancher war wohl, der in dem kostbar aufgesparten Büffett etwas anderes sah als die wohlverdiente Belohnung für ausgestandene Freigeistigkeit? Denn es war auf die Dauer anstrengend, Dinge zu zeigen, die man nicht hatte, und sich all des Lieben, Freundlichen schämen zu müssen, das einem wert war, Aber das Büffett war die Erlösung. Die Herren assen dann, und wenn ein Mann isst, so ist das wie Beichte und Gebet; Offenbarung des Innersten, Und die Frauen naschten und fingen an, von den Kindern zu sprechen und vielleicht, ganz leise, auch vom Einmachobst, und ihre Augen, die die stolzen Reihen köstlich durchglühter Fruchtgläser sahen, wurden schön.

Jetzt kam eine konzentrierende Bewegung in die Gruppen; auch vom andern Saal traten sie herüber, Der Dichter liess sich bitten.

Frau Madeleine fühlte, wie das Blut ihr zu Kopfe schoss, Das ging ihr immer so, wenn sie jemanden mitten unter plaudernden Menschen sich produzieren sah, gar mit eigenen Werken: immer so ein Gefühl, als ob sie unter den Tisch kriechen müsste, wie damals als Kind, da der alte Dichter zur Mutter kam, Er hatte einen schneeweissen Schopf über der Stirne, wie ein Kakadu, und ein blaues und ein braunes Auge und war ein so reizender alter Herr; aber als er beim Morgenkaffee anfing, von seinen Gedichten zu rezitieren, hatte sie sich aufschluchzend unter das Tischtuch geflüchtet und gar nichts anderes zur Erklärung zu sagen gewusst als: «Ich schäme mich drum so!»

Nun liess sich der Dichter nicht länger bitten. Er erhob sich, Er hatte bereits das schwermütig serene Lächeln um den Mund, mit dem er nachher Glückwünsche quittierte, Sie musste dann wohl auch Glück wünschen, und' dann würde es ihr vielleicht ergehen wie ein früheres Mal, da er ihr Erröten für Ergriffenheit nahm und die Verpflichtung fühlte, ihr von sich zu sprechen: von innern Hemmungen und seelischer Stosskraft und Dichterorganen, die sich ihm allenthalben öffneten — alles so entsetzliche Dinge, die peinlich anzuhören waren.

Nun fuhr er sich durch die fettige Mähne und bohrte die Blicke ein, Und rings die Damen.

Frau Madeleine fühlte einen sonderbar süsslichen Schmerz in den Schläfen, und plötzlich stand sie draussen auf der Verandatreppe und schloss mit heimlicher Hand die Türe hinter sich zu.

Geräuschlos glitt sie über die wenigen Stufen hinunter in den Garten.

Der breite Kiesplatz vor dem Hause war weiss vom Mondlicht, und die weissgestrichenen Gartenhäuschen und Pergolen der noch neuen Anlage glänzten nüchtern aus dem Dunkel einer magern Taxuswand, die den Blumengarten abschloss; aber weiterhin, über die Gipfel eines tiefer liegenden Wäldchens weg, erschien die Stadt, sanft umhüllt und verklärt von durchsichtigen Mondnebeln, Frau Madeleine suchte unter dem schimmernden Gewirr ferner Dächer das eigene, und ihr Herz fand die Kammer, wo jetzt ihre Knaben schliefen, Sie sah sie so deutlich vor sich in den beiden Bettichen; der Kleine warm und innig zusammengeschmiegt wie ein schnurrendes Kätzchen, die schlichten Haare hell in die dunkle Wange gestrichen; aber der Grosse lang und leidenschaftlich hingestreckt wie ein im Kampf Ueberwältigter, die Arme von sich geschleudert, den Kopf zurückgeworfen, dass die Locken wie gelbe Schlänglein über dem Kissen lagen, und die Brust arbeitete mit tiefen Atemzügen ... So hatte Georg auch immer dagelegen — auch zuletzt noch — wie ein schöner junger Gigant, den Gottes Blitzstrahl auf den Schild niederwarf, einer, der um sein Leben kämpfte bis zuletzt, Und so hatte man ihn auch gelassen, in dieser lebendigen Gelöstheit; gefaltete Hände hätten nicht zu ihm gepasst und nicht zu seinem geheimnisherrlichen ferndeutenden Totenantlitz.

Frau Madeleine schrak zusammen, Ein paar übersteigerte Worte des deklamierenden Dichters drangen bis zu ihr heraus, von der Wucht einer dröhnenden und künstlich nachschlotternden Stimme getragen, Wieder fühlte sie den süsslichen Schmerz in der Schläfe, und dann rannte sie plötzlich, wie aufgescheucht und verjagt, durch die Gärten hinunter, über Wege und Trepplein bis dorthin, wo die neuen Anlagen in eine stille Wiese mündeten.

Auf dem Mäuerchen, das diese vom tief duftenden Gemüsegarten trennte, kauerte sie sich nieder, glücklich wie ein geborgenes Kind, und drückte sich eng an den Stamm des alten Apfelbaumes, der sich gütig und breit über die Mauer lehnte, Seine niedern Aeste hielten sie wie mit Armen, dass sie sich gestützt und wie getragen fühlte und mit wohliger Hingabe der Musik ihres Herzens lauschen konnte, das, vom ungewohnten Lauf gepeitscht, heisse Wellen durch den zitternden Körper jagte.

Sie lachte leise vor sich hin: das war das wilde Herz, das den Aerzten soviel Kummer machte, und doch, war es bei allem Bangen und Weh nicht etwas Köstliches, diese: fremde Macht in sich zu fühlen, als ob man die eigene Seele spürte, wie sie, ein wundersamer gefangener Vogel, mit gewaltigen Flügeln den engen Käfig sprengen wollte? Und süss dieses Zittern, der eigene Körper wie durchrauscht vom nahen Wunder der Geburt der Seele.

Sie sah mit verflorten Augen um sich, Die Welt hier war einsam und heilig, wie bereitet für das Wunder. Mit zarten Schleiern und durchsichtigen Schatten hing das Mondlicht über der glatten Wiese. Die Stadt war hinter dem nähergerückten Wäldchen verschwunden. Nun stand dieses allein da und ganz nahe vor dem scheinenden Himmel, und die freien Wipfel schimmerten und erbebten unter der sanften Liebkosung der silbernen Hand. Es war dasselbe feine Zittern in den Bäumen, das Frau Madeleine am eigenen Körper fühlte, und sie meinte, dass auch jene vom Schlag ihres heissen Herzens bewegt würden, und fühlte, wie sie ein wunderbarer Strom mit dieser ganzen kleinen Welt verband.

Als der Schauer vorüber war und die Gipfel unbewegt und rein wie kostbarer Filigran vor der lautern Tiefe standen, war auch in ihr die Stille eingekehrt und ein seltenes Gefühl, als ob etwas in ihr durchsichtig geworden wäre und weit wie der Himmel, Und in diesem Gefühl lag es wie letzte Sehnsucht und die Ahnung des nahen Glückes.

Sie lehnte sich inniger in die rauhen Arme des Baumes und schloss die Lider und wartete in süsser Bangnis, bis vor diesen geschlossenen Augen langsam das Bild ihres toten Bruders erstand und bis es jene ergreifende Klarheit erreicht hatte, die nur das innere Auge erträgt.

Er stand in einiger Entfernung von ihr, und sie sah seine grüssenden Hände frei bewegt, und doch fühlte sie zugleich seine sichere Hand an der ihren und hörte den warmen und hellen Laut seiner Stimme, die ihren Namen nannte, so nahe, als ob er sie in Armen hielt.

Und ihre Stimme klang in die seine: «Endlich . . . Ich habe so lange gewartet.»

Seine Augen beleuchteten das klare Gesicht mit tiefem Glanz: «Immer war ich doch da, Schwesterlein, du sahst mich nur nicht, Ihr solltet nicht an uns denken, ihr solltet spüren, dass wir in euch sind; dann wüsstet ihr, dass es keine Trennung gibt.»

Sie staunte mit geschlossenen Augen in sein durchleuchtetes Gesicht: «Wie bist du hell; nichts auf der Welt ist so heiter wie du.»

Er lächelte, und die gelben Haare schimmerten weithin; «Die Lebendigen sind immer heiter; denn Heiterkeit ist der Sinn des Lebens, wie des Tages Sinn das Licht, Alles Dunkel ist Tod, und das Dunkle verhüllt die Seelen, solange ihr wandelt, Deshalb seht ihr uns nicht, Madeleine; die verdunkelten Seelen werden blind.»

Sie nickte still vor sich hin; «Das Dunkle, woher kommt uns das Dunkle?»

«Von dort, wo die Klugheit sitzt, das gewisse Wissen und der rechnende Wille, Sie trennen euch vom Licht.»

«Ich bin so unklug, so ungewiss, so willensarm, und dennoch ist das Dunkle über mich gekommen.»

Seine starke Hand wurde zärtlich wie eine Liebkosung: «Gehörtest du zu den Klugen, Schwesterlein, du hättest mich auch jetzt nicht gefunden, und hättest du den bedachten Willen, so sässest du nun dort oben bei den Gesellten; aber du bist Mutter, Mütter wollen ihren Kindern Schicksal sein, Wen anderer Schicksal sein will, wer seine eigene Weisheit über anderes Leben stellen will, der geht der göttlichen Weisheit verlustig und löscht das Licht in der eigenen Brust, Und gar die Kinder, die brauchen keine menschliche Schicksalsweisheit, sie sind Schicksal; denn sie leben — die einzigen Lebendigen unter den Wandelnden, die einzigen Heitern, die einzigen Allgegenwärtigen, Als wir noch klein waren, so klein, dass Kleider uns nicht unterschieden, weisst du noch? Wir waren nicht ich und du, waren die Kiesel, die im Bache glänzten, und dessen helle Wellen und waren das feine Gespinst der Silberweide und das Wölklein über dem Wald und der Vogel im Blau, waren weit und reich wie die Welt und des heitern Lachens so voll wie die ewige Weisheit — solange uns die Klugheit der Grossen nicht traf und die Aengstlichkeit, die daran hängt und ist wie Schwefeldunst über den Blumen des Lebens.»

«Die Kinder» — Frau Madeleine zitterte, aber durch ihren innern Jubel ging noch ein Zagen — «sind sie uns nicht anvertraut, dass wir sie leiten?»

Das Lachen seiner Augen wurde fein und seltsam: «So meint es eure Selbstgewissheit, die nicht weiss, dass ihr es seid, die jenen anvertraut werden, auf kurze Strecke, dass sie euch den rechten Weg weisen.»

Sie fühlte, wie etwas in ihr sich löste und sich warm und ganz der Freude aufschloss: «O, das möchte ich wohl, mich ihnen anvertrauen, ihren Wegen folgen und ihrer Hand! Vorher, wann wir sie noch in uns haben und ihr kleiner Herzschlag unser Wesen meistert, wie ist da alles klar und rein und urverwandt und 'aller Bangnis bar — und wohl auch nachher noch, solange wir ihnen ganz angehören und nichts zwischen uns steht und wir eins sind und die Welt in uns eins, Aber dann kommt das andere: Angst und Besorgnis und Eitelkeit und die Forderung der Welt, Erziehung. Das Wort ist schlimm und gewaltsam wie Stecken und Seil, Kinder sind doch nicht Spalierbäumchen oder Schlingpflanzen, dass man sie ziehen müsste, Ach, dass man das göttlich Gewollte könnte gedeihen lassen! Erziehen heisst doch immer etwas anderes daraus machen, und das andere zwingt und zerstört, und auf einmal ist das Trennende da, und die Einheit zerbricht.»

Ihre geschlossenen Augen hingen an seinem Antlitz, dessen Glanz in einer grossen Innigkeit schmolz: «Das Trennende ist euer Werk, die Geburt eurer angstgeschaffenen Blindheit, Als ich meinen Weg schloss, wie sankst du in Dunkelheit und fühltest nicht, dass ich aus deinen Augen gegangen war, um ganz in deiner Seele zu sein, Es gibt kein Trennendes, wie es keine Finsternis gibt, Nur das Gemeinsame ist, nur das Licht. Wo sie fehlten, wäre das Nichts; aber sie fehlen nirgends, ein letzter Lichtschimmer lebt auch im tiefsten Dunkel, Und wenn wir Stein und Wolke sind und Tier und Gras — was könnte Kind und Mutter trennen? Mutter werden heisst ja, den Sinn der Gemeinschaft enthüllen — Mutter sein, die Einheit leben; denn Einheit ist Hingabe, Hingabe und Liebe sind eins, und sie allein sind Erkenntnis, Nicht Seelen erziehen, nicht göttlich Ewiges nach menschlich kurzen Gedanken modeln sollt ihr, sondern Seelen erkennen, Ihr Gefängnis ist so durchsichtig: das feine Spiel der Mundwinkel, die belebteZartheit der Schläfen verraten dir mehr von der Seele deines Kindes als alle Erzieherweisheit, Erkenne sie, glaube an sie und gib der Beschwingten ihre Freiheit, Drückt sie nicht nieder mit eurem beschwerten Ernst, lasst ihr die beiden hellen Flügel, den gläubigen Leichtsinn und das befreite Lachen.»

«Das Lachen . . .» — Frau Madeleine fühlte seine strahlende Erscheinung durch ihr ganzes Wesen hin — «dein Lachen, Bruder, das war mir wohl das Liebste im Leben, so ganz erlöst klang es, so säulenschlank, und sprang in den Himmel hinein und öffnete ihn, dass man den ewigen Glanz spürte, Als es mir verstummt war und ich glaubte, es fürder nicht mehr zu hören, meinte ich, nimmer leben zu können; aber ich habe es wieder gehört! Mein grosser Knabe, als ich mit ihm viele Wochen im Krankenzimmer weilte — die überstandene Gefahr hatte mich so froh gemacht und ihn schier wunderbar, und wir waren allein und aufeinander gewiesen, dass ich aller Erzieherklugheit vergass und ward wie er, zwei Kinder — da hat er plötzlich dieses Lachen gefunden, dein Lachen, hat es gefunden, weilich in ihm untertauchte und wieder eins war mit ihm, Seither wusste ich, dass wir nicht als Erzieher über sie geseizt wurden, dass wir einander zu Erlösern gegeben sind, In diesem Lachen hat seine Seele ihre Stimme gefunden und meine Trauer ihr Ziel, Ich wusste nun, dass du lebst — in ihm, in mir, aller tiefsten Liebe Keim und Kern. Und da war auch der Glaube an das Wiedersehen.»

«Glaube» — sein Antlitz wurde fern und herrlich, und in den Augen leuchtete es vertraut und unendlich wie die Geheimnisse der Sternennacht — «Glaube ist das Wissen um die göttliche Weisheit, ist Erkenntnis der ewigen Liebe, und allein die Liebe ist sehend, und Liebe allein ist Kraft, Wo wir geliebt werden, leben wir und leben nur dort wirklich, Alles andere Leben ist Schein, ist wie der Hauch am Fensterglas: er hemmt den Ausblick und lügt Grenzen, aber jeder warme Strahl kann ihn zerstreuen.»

«Da, wo wir geliebt werden und — wo wir lieben,» Frau Madeleine legte den Kopf zurück und lächelte: «Meine Liebe, sie ist wie ein Dom gewaltig und hoch, dass sie euch alle umschliesst, und wie ein Dom heilig und tief; aber dein Lachen, euer Lachen, das ist mir Orgelspiel und Weihrauch und das ewige Licht in meinem Dom, Ach, und meine Liebe ist ewig wie das Herz der Welt, und ewig könnt ihr nicht vergehen,» /Sie fühlte, wie das grosse Glück sie durchdrang und über sie hinauswuchs, weltenfüllend, Ihre Seele hing in den Wundern seiner Augen, und in der Seligkeit der Anschauungen starben die Worte, Aber sein Antlitz war der Spiegel der Welt . . .

Auch nachher, als sie die betauten Lider öffnete, wich das Wunder nicht, und alle Schönheit, die die Mondnacht enthüllte, grüsste sie mit den Augen des Bruders.

* . *

Als Frau Madeleine später im Garten suchende Schritte vernahm, erhob sie sich und ging ihrem Gatten entgegen. Er legte seinen Arm um ihre nachtfeuchten Schultern und blickte ihr besorgt in die schimmernden Augen: «Du warst bei deinen Toten? Nun hole ich dich zurück zu den Lebendigen.»

Sie wehrte leise: «Bei den Lebendigen war ich, du aber willst mich den Ablebenden ausliefern.»

Er presste ihre durchbebten Finger: «Du bist so voller Leben, Madeleine, einem Stein würdest du eine Seele geben können.»

Da ging durch ihre Augen ein feines, überlegenes Lächeln und war doch ganz Innigkeit: «So voller Leben, dass ich immer in dir leben werde, immer.»

Auf kleinen Umwegen stiegen sie langsam zwischen den Beeten hinauf, von den schweren Düften herbstlicher Reife ganz umhüllt.

Droben in der Villa wurde Musik laut, Er schüttelte unwillig den Kopf: «Mozart, so spielen sie ihn immer, so vergnügt, so wiesenbächleinmässig, und fühlen nicht seinen heiligen Schmerz und das tiefe Weh der Vergänglichkeit, das darin brennt und das so ganz anders ans Herz greift als die Verzweiflungsschreie der Neuen.»

Sie nickte still: «Und fühlen nicht die wundersame Heiterkeit, die in diesem Weh liegt, als ob er zu uns sagte: All die Schönheit geht dahin, geht dahin; aber ihr flüchtiger Kuss gibt deiner Seele Ewigkeit, Unsterbliche, freue dich!»

Als sie die Terrasse erreichten, schwieg die Musik, Eine Reihe Lampions leuchtete auf, violett und orange, in strenger Ordnung; die dekorative Absicht war offenbar.

Sie sahen sich überrascht an: «Mozart als Ouverture zur Lampiontour? Nun werden sie gleich ausbrechen!»

Und plötzlich fassten sie sich bei den Händen und liefen, rasch entschlossen und leise lachend, um das Haus herum nach dem hintern Eingang.

Die Aufwartefrau war vernünftig. Mit beifriedigtem Nicken liess sie die Hand in die Tasche gleiten und holte dann die Mäntel herbei, Sie verstand, dass die Herrschaften durch ihren verfrühten Aufbruch das Fest nicht stören wollten, und versprach, es nachher der Hausfrau zu erklären, Aber, dass sie das Auto verschmähten und zu Fuss den weiten Weg machen wollten, das verstand sie nicht, Schliesslich waren das doch keine Liebesleute mehr, und ein Auto hatten die nicht alle Tage.

Und wie sie das Paar, engverbunden, heimlich und fast hastig den kleinen Weg hinuntersteigen und mählich in der milchigen Luft verfliessen sah, schüttelte sie bedenklich den guten Kopf: Herrje, das waren schon nimmer Sommerdünste, was da um den Berg strich, das waren bereits Herbstnebel, und denen sollte man sich nicht aussetzen, wenn man um die Augen her eine so zarte Gegend hatte wie diese Frau, Nicht umsonst nannten sie die Septembernebel Kirchhofstau.

Der Weg

Oben am Waldrand, wo der Weg plötz lich abbrach und in jäher Stufung von der freien Höhe in die weite Ebene hinuntersank, verabschiedete sich Frau Marga von ihren Söhnen, Der Aeltere wandte sich nach kurzem, fast scheuem Händedruck von ihr und war schon im Absturz der Böschung verschwunden, als der Jüngere noch mit lebhafter Zärtlichkeit an ihrem Halse hing; aber wie sie später unten auf der Strasse selbander auftauchten, war es doch der Grosse, der, immer wieder die langen Schritte hemmend, verstoh{en zurück- und nach ihr emporblickte, während der andere mit eifrigen Füssen vorwärtsstürmte, "unaufhaltsam wie ein Bergbach.

Frau Marga sah den Enteilenden nach, dem Glück der heitersten Anschauung ganz hingegeben, Je weiter sie sich entfernten, desto brüderlicher erschienen die beiden schlanken Jünglinge; nur etwas in der Bewegung der Schultern verriet ihre innere Verschiedenheit und dann die Art, wie sie die langen Stöcke handhabten. Der Aeltere führte den seinen als emsig schreitenden Wanderstab, doch der Jüngere trug ihn wagrecht in der Hand, keck und anfechtig wie einen Speer, «Pilger und Eroberer,» dachte Frau Marga, und beides schien ihr gleich rechtschaffen und: schön; denn der Bug der beiden heiter erhobenen Nacken verriet denselben festen Glauben an das gute Ziel.

Die Strasse zog die Brüder immer tiefer in das goldne Sommerland hinein; aber, ob nun ihre leichten Gestalten hell vor dunkelgrünen Kleeäckern erschienen, ob sie im Dust der flimmrigen Strasse sich auflösten oder ob die blonden unbedeckten Mähnen über blonden Kornfeldern wehten, immer war es, als ob die beiden heitern Wanderer just in diese Landschaft hineingehörten; denn überall war Sonne um sie, und Sonne passte gleichermassen zu beiden, zu den tiefen, goldig durchleuchteten Augen des Grossen wie zu den blaustrahlenden des Kleinern, und sie glänzte gleich hell auf beiden blonden Häuptern.

Frau Marga meinte, den feinen Duft der vor Wärme knisternden Haare zu spüren, Wie von reifem Korn bei dem Grossen; aber beim Kleinen lag immer noch etwas anderes darin, etwas Frühlingsmässiges, wie der zarte Atem der Mehlprimeln, und es war bei ihm auch nicht ganz dasselbe Blond; besonders am frühen Morgen hing oft ein Schimmer blauen Silbers daran, Seltsam, dass sie diese blonden Haare ins Jünglingsalter hinübertrugen, Ihr war die helle Farbe viel früher erloschen, Aber sie hatten auch soviel Licht getrunken, diese allzeit unbeschirmten Bubenköpfe, soviel Freiluft und Sonne, Von allem Anfang an, Frau Marga dachte an ihre Stadtwohnung, in der alles sonnenverblasst und mild geworden war mit der Zeit wie bleichschimmernde Septembertage, und sie sah sich wieder, wie sie die kleinen Menschlein der Sonne nachtrug, immer der Sonne nach, Zuerst in den weissen Kissen und dann im Kütschlein, Wenn man den schweren Wagen aus der Stadtenge in den Berg hinaufgeschoben hatte — der Rücken schmerzte wohl, so sehr, dass man die Arbeit der Magd nicht zumuten mochte, aber oben das Glück der sonnigen Weite! Und noch später, wie sie es immer einzurichten wusste, dass die Kinder sonnenhalb gingen und dass ihr eigener Schatten die kleinen Gestalten nicht traf, Auch heute noch tat sie so, gewohnheitsmässig; denn der Schatten der Söhne schlug schon lange über sie hinaus.

In diesem Augenblicke freilich, da die beiden von der Strasse abbiegend über einen staubfreien Feldpfad schritten, huschte er ganz klein und zusammengeduckt hinter ihnen nach, wie das treue Hündlein des Knaben Tobias; denn die Sonne, mit der sie westwärts wanderten, stand noch hoch.

Der Pfad schlüpfte in einen kleinen Wald, Mit heiterer Feierlichkeit, hoch und dicht gebuscht, stand dieser mitten in der glastigen Ebene, Als die Brüder darin verschwanden, horchte Frau Marga unwillkürlich auf, bis sie die verlorenen Töne eines fernen Liedes vernahm, und nun, da sie ihren Augen entschwunden waren, sah sie die beiden doppelt deutlich vor sich, wie sie durch die grünen Hallen dahinschritten, Der Jüngere hatte den Kopf in den Nacken geworfen und sang, und seine ungeduldigen Füsse wurden fast andächtig, Der Grosse aber hielt Kopf und Schultern ein wenig vornüber geneigt wie ein Lauschender, und auch sein Stock traf nun den saniten Boden nicht mehr, sondern ruhte in der hangenden Hand, Doch er lauschte nicht auf des Bruders Gesang, sondern durch diesen hindurch in das Waldweben hinein, das ihm so viel kostbarer war als jegliches Lied. Früher hatte es wohl auch Streit gegeben zwischen ihnen, des Jüngern ewiger Sangesireude wegen, bis der Grosse verstehen lernte, wie gut die runde lautere Stimme des Bruders zur grüngoldenen Waldseele passte.

Die Töne wurden ferner und seltener und versanken endlich ganz in des Waldrandes naher zirpender Grillenstimme. Und plötzlich wurde es Frau Marga bewusst, dass der Weg auf Stunden hin der Deckung jenes Wäldchens nicht mehr entrann und dass nun die beiden fernen Gestalten ihren Augen ganz genommen waren. Diese Erkenntnis überfiel sie wie ein Schreck mit einem sonderbaren Zerren in der Brust; es war nicht Schmerz und tat doch weh, dass sie sich gegen den Stamm der nahen Buche lehnen und die Hände aufs Herz pressen musste; aber gleichzeitig schämte sie sich der Schwäche und lachte ihrer. Was war es denn? Eine Ferienwanderung, wenige Wochen nur, und dass den beiden das Sommerhäuschen auf der Höhe nicht genügte, dessen Frieden und Weitblick ihr und dem Gatten Glück bedeutete, war das nicht recht? Und dass sie der jugendliche Drang in die Ferne trieb? Und war es nicht schön, dass sie so selbständig wanderten und selbander? Immer würden die Wege ja nicht so mitsammen laufen, Sie seufzte: Ja, ja, das war wohl alles recht, denn so musste es sein; aber das war nun eben doch der erste von den vielen, vielen Wegen, die alle nur dieses gemein hatten, dass sie von ihr wegführten.

Und nun spürte sie auch, wie der Glast des weiten Sommerlandes und der unendliche Himmel, dessen Glanz erst in der weichgestrichenen Bläue des fernen Leberberges sich besänftigte, ihre Augen sengte, Es war wie ein Brand darin, dass sie die Lider schliessen und sich in den Schatten des Waldes zurückflüchten musste.

Als Frau Marga die Augen öffnete, hatten sich die ungeheuern, dunkelleuchtenden Wölbungen des alten Waldes schon über ihr geschlossen, und von den efeuverhängten Riesenstämmen rann die grüne Kühlung über sie hin, badete die heissen Augen und durchschauerte tief die sonnenwarmen Glieder, Es war wie ein fremder, junger Rausch, der das Herz beflügelte und die Arme emporzwang, dass sie sich frei und hoch aufwachsen fühlte wie ein Baum, Und sie gab sich der seltsamen, fernvertrauten Bezauberung hin und liess sich widerstandslos von den grünen Hallen einsaugen in immer geheimnisvollere Tiefen.

Ihre Füsse wandelten weich, pfadlos selig, und alles Denken schwieg. Nur wundervolle, nie vernommene Töne gingen durch sie und feine, närrisch zusammenhangslose Worte, und alles in ihr von den weit offenen Augen bis in die selig tastenden Füsse war Gefühl, das Empfinden eines Glückes ohne Zeit und ohne Grenzen.

War sie jung? Und das Leben kam erst? Oder lag schon alles zurück und ihre Lieben waren tot und sie einzig? Sie wusste es nicht, wusste nur, dass sie war und alles in ihr leicht, leicht, unendlich frei und alles in ihr Leben und eins, Etwas war von ihr abgefallen, ob Glück, ob Qual? Aber was blieb, war selige Unbedingtheit.

Das war kein Wandel mehr, Die sanften grünen Ströme trugen sie, und goldene Bänder wehten durch ihre Seele, dass ihre Geheimnisse durchsichtig wurden wie die Waldestiefe. Und plötzlich floss all das schwebende unermessene Glück in einer einzigen Empfindung zusammen und stürzte sich in das eine Wort, das gross und in unendlicher Wiederholung sie durchklang: «Allein — allein mit mir ...»

Der helle Aufschlag einer kleinen Waldlichtung brach den seligen Bann, Der unbemooste spröde Boden stillte den schwebenden Fuss, die violette Seide der leise gebogenen Waldgräser schmeichelte die fernen Blicke zu sich nieder, und das tiefe nachmittägliche Summen der Höhe verhüllte den Gesang des Innern.

Frau Marga liess sich am Fuss einer hochwipfligen Eiche nieder und sank in den breiten Schatten des astlosen Stammes, wie erschöpft von der Gewalt der vergangenen Stunde, Und wie vorher das Wunder der Waldesstille, so überwältigte sie jetzt das Gefühl der Ruhe, dass ihre Augen feucht wurden, Und während sie so dasass, vom warmen, sommerlich vollen Duft der Lichtung ganz eingedeckt und ihre von Erregung kalten Hände die mild gedämpfte Wärme wohlig empfanden, gewannen die Gedanken wieder Raum. Zuerst war es die beglückende Feststellung, dass ihr ungepfadeter Weg sie an den einsamsten Winkel des einsamen Waldes geführt hatte, wo keines Menschen Tritt zu befürchten war, und dass sie hier bleiben durfte bis am Abend; denn keiner wartete auf sie, Und dann das Staunen über das Wunder des Erlebten, Sie fühlte, dass es etwas Grosses gewesen war, etwas Einschneidendes und Entschleierndes, Das Wort Damaskus ging ihr durch den Sinn, und während sie beschämt das hohe Gleichnis ablehnte, spürte sie innerlichst, dass in dem ungewollten Vergleich eine Wahrheit lag. Und doch wusste sie nicht, was dieser Taumel wollte, und etwas war, das ihre Mütterlichkeit quälte in der Erinnerung, wie jäh der Abschiedsschmerz in den fremden Einsamkeitsjubel umgeschlagen hatte.

Sie dachte zurück, wie sie zuerst mit den Söhnen durch diesen selben Wald gegangen war, Ihre Erinnerung zeigte ihr die beiden, die hell und glücklich zwischen den Bäumen wandelten, und wie die Sonnenlichter über die schlanken Gestalten flockten und in den Haaren leuchteten, und sie sah das Blitzen der Augen und hörte die muntern Reden; vom Walde hatte sich ihr nichts eingeprägt als die vage Beglückung seiner grünen Schönheit, Und jetzt? Was war es, dass er sie so gewaltig erfasste?

Wie eine Antwort stand plötzlich ihre Vergangenheit vor ihr und liess unzusammenhängende Bilder auftauchen, hell und rasch verschwindend wie in Blitzlichtbeleuchtung. Sie sah sich mit ihrem Geliebten, mit den Kindern, in den tausendfachen süssen und schmerzhaften Verknüpfungen des Glücks, der Sorge, des Schmerzes, der Liebe und der Arbeit, und auf einmal wusste sie, dass sie seit so vielen Jahren niemals mehr wirklich einsam gewesen war, allein mit sich und in sich — seitdem das Leben ihres ersten Kindes sie aufgenommen hatte.

Denn sie hatte sich aufnehmen, hatte sich aufsaugen lassen in dem sichern Instinkt, dass sich von der Mutterpflicht kein Quentlein abmarkten liess, ohne dass auch etwas vom Grössten und Besten dahinging, Ach, man redete heute so viel um das Wunder der Geburt, Gewiss an sich etwas Grosses, ewig Unfassbares; doch vielleicht nur die erste Geburt, die die Tore der Ewigkeit ein wenig öffnete, im übrigen ein natürlich körperlicher Vorgang, der mit dem Muittergefühl wenig zu tun hatte, Mutter wurde man erst im Kampf um das Leben des Kindes, und die tausend Schmerzen schmiedeten das Band, das unzerreissbar wurde, Ah, man sah es der Mutter wohl an, welcher Art ihre Mutterschaft war, ob zufällig oder innerlich errungen. Irgendwie am Blick, an der Stimme, an der Art, wie sie die Hand ihres Kindes fasste, erriet man es, dass sie nicht bloss geboren hatte und erzogen, dass sie dieses Wesen gepflegt und jeden Atemzug belauscht, dass ihre Arme sich an dem Körper müde getragen hatten, dass ihre Augen in durchwachten Nächten sehend geworden waren und ihr Herz in durchbangten Stunden den Herzschlag des Kindes aufgenommen hatte, Dass sie so viele Jahre hin ihr eigenstes Wesen auf gelöst hatte im Kinde.

Vielleicht war es die Ahnung dieser Auflösung, eine letzte leise Wehr und Klage des versinkenden Ich, was das holdeste Lebenswunder oft in die Geheimnisse des Schreckens hüllte, Die alten Griechen in ihrer Weisheit wussten wohl um solchen Kampf, deshalb gaben sie der Aphrodite die Göttin der Ueberredung zur Seite, und jene Maler der Verkündigung wussten darum, die der Madonna diesen bangen erschreckenden Schauer auf das Antlitz legten, Wohl war es süss und der Wunder voll in andern untertauchen und Hingabe vielleicht das einzige Glück; denn Hingabe war Vertiefung im andern, war Einheit in einem neuen Sinn, war Einkehr in den Reichtum des Lebens, und sie allein gab uns das Wissen um die Seele des andern; aber sie forderte das Opfer der Einsamkeit, und oft war dies doch qualvoll und so, wie wenn ein Quell in viele Bächlein versickern müsste, der die Kraft in sich hatte, Bäche zu sammeln und zum Strom zu wachsen, Ja, wie ein zerteilter Quell wurde man, vielgestaltig und reich, aber im Reichtum oft wie zerfasert — und Zerfaserung tat so weh ,..— Heute aber, da sie die beiden Wesen, denen so lange ihre beste Kraft zugeströmt war, von sich gehen sah, glänzend von Sonne und Selbständigkeit, als ob sie fürder der Mutter nicht mehr bedürften und keine Sorge und Bangheit mehr das Recht hätte, an sie zu tasten, da waren wohl die gesonderten Bächlein in ihr auf einmal wieder zusammengeströmt, plötzlich und ungestüm wie in einem Wirbel, dass ein solcher Sturm in ihr entstand, eine solche tönende Berauschung, Und so war denn wohl Wunder und Weisheit dieser Stunde die Erkenntnis der Einsamkeit, die Wiedergeburt des gesammelten einen Ich.

Frau Marga legte den Kopf mit dem glücklichsten Lächeln an den Stamm der Eiche zurück, Ihre Augen gingen über die kleine Lichtung hinweg nach dem Walde; aber sie sahen nicht länger dessen grüne Herrlichkeit, sie staunten nach innen; alles in ihr war ganz und hell; die Seelenlandschaft von stillem Licht übergossen, die Horizonte weit und wundervoll gewellt, der Himmel von der verlässlichsten Klarheit und tief durchleuchtet und sicher gebaut wie ein Dom, Und die Erde lebte vom Reichtum der Erscheinung, Bilder wuchsen auf und wandelten sich und gaben andern Raum, Solche Fülle des Vertrauten, des Längstentschwundenen, des Nahen und nie Erschauten, aber alles gebunden in der Kraft des Bekenntnisses, Sie fühlte, zitternd vor demütigem Stolz, wie das alles ihr gehörte, ihr allein, wie das sie selber war, innerlichst und ganz, und fühlte, innig entzückt, wie ihre Einsamkeit aus den Zeiten mütterlicher Auflösung reich emporgetaucht war, wie sie Fülle gewonnen hatte bis zum Genügen.

Sie dachte zurück an die Zeiten vorher, an die erste Einsamkeit ihrer Jugend, wieviel Unruhe darin wühlte, wie sie verarmte unter der Sehnsucht nach dem Erlebnis; denn so war es wohl, dass innerlich arm sein musste, wer nach dem Erlebnis dürstete, wer aber die Fülle des Erlebens besass, den verlangte nach Ruhe, Und das war vielleicht das Höchste und nur den grossen, heissen Herzen beschieden: Reife zur Einsamkeit.

Sie wusste wohl, dass sie dieses Ziel noch nicht erreicht hatte; dazu war sie noch zu jung, in sorgender Liebe noch zu tief verstrickt, noch zu verlangend nach Hingabe, nach Schmerz und Rausch, Das heute war wie Vorprobe, war unter der Gnade einer seltenen Stunde, Vorausnahme und Symbol des Kommenden; aber es hatte gezeigt, dass sie auf dem Wege war. Auch Einsamkeit musste erlernt werden, Sie war nicht Ausgang, sondern Ziel, wie Einfachheit und Bedürfnislosigkeit Ziel waren, die nur dem höchstes Glück bedeuteten, der aus Fülle und Reichtum, bewusst, von Sehnsucht geführt, zu ihnen gelangte, Denn ganz besitzen konnte man ewig nur die Geschöpfe seiner Sehnsucht, und wahrhaft besitzlos war nur der, dem die Mittel zur raschen Erfüllung seiner Wünsche nie fehlten, Es gab ein Epikuräertum der Askese, das vielleicht nicht nur deshalb das süsseste und raffinierteste war, weil Einsamkeit und Kargheit die Sinne erschlossen und den feinsten Reizen zugänglich machten, sondern weil kein anderes so tief aus Sehnsucht erschaffen und in Erkenntnis umfasst wurde; denn Ueberdruss war gewiss kein schwächerer Meister als Not.

Die wandernde Sonne hatte den Schatten der Eiche verschoben und floss nun über Frau Margas ährenfarbenes Kleid, dass dessen lockeres Gewebe glänzte wie geifrorenes Gold. Die Betörung der Farbe zog ihre Blicke aus der Entrückung an sich, Sie fühlte, heiter gerührt, wie sehr dieses gedämpfte Gold zu den Bildern ihres Innern passte, wie so ganz es ihr entsprach; zugleich aber fiel ihr ein wunderfeiner Schatten auf, der sich als zartester Brokat über den Rocksaum legte, Er kam von einem der tausend Gräser, die die Lichtung überwölkten.

Frau Marga wandte sich zur Seite und pflückte eines der blühenden Sträusschen, Es war so fein gebaut, dass man mit den behutsamsten Fingern zugreifen musste, wenn man den zarten Schaft ungeknickt dem Stäudlein entziehen wollte und ohne dessen wundervollen Schlankwuchs zu lähmen. Sie betrachtete das Pflänzchen und fühlte sich von seinem Anblick ergriffen, Das schien so unbedeutend, so wesenlos, ein Rosawölklein über fadendünnem Stengel, und nun enthüllte es dem aufmerksamen Auge solche Schönheit, eine ganze kleine, herrlich geordnete Welt, So reich und vielfach die unglaublich feinen Verzweigungen, und jedes der Aestchen hängte sein rosa und violettes Seidenwimpelchen heraus, dem die zartesten Goldfäden entrannen, Welche Farbenstufung vom kupferigen Gold zum blassen Violett, wieviel Schmelz und durchscheinende Zartheit! Und doch alles streng und massvoll gefügt, und jedes diente demselben strebenden Willen, der die feinspriessenden Halme und schlankaufzüngelnden Gräser gestaltete. Und dann dieser Duft, der so durchsichtig fein war und in dem doch alle Geheimnisse des Waldbodens hingen, die Wunder der tauigen Morgenfrische und die knisternden Bezauberungen der mittäglichen Sonne, Sie musste unwillkürlich an den Geruch dunkelroter Rosen denken, der ganze Zimmer {füllte und den Kopf umschwelte, und er erschien ihr auf einmal als etwas Zudringliches, plump, ölig und schwer, und zugleich fiel ihr ein, wie sie als Kind diesen heissatmigen Blumen, die sie später so leidenschaftlich liebte, fast feindselig gewesen war: wie kleine rotsamtne Kohlköpfe waren sie ihr erschienen, aber heimtückisch, mit einem Atem, der einem bang machte und weh tat, Nur den dünnen Hagrosen war sie damals mit Inbrunst nachgegangen und dann vor allem solchen blühenden Gräsern und jenen zartesten Blümchen: Hirtentäschlein, Blutströpifchen, Hungerblume und Erdrauch, die die Grossen gar nicht beachtet hätten, hätte nicht das eine oder andere als schädliches Unkraut gegolten, So war es: Kinder liebten das Kleine, das Zarte, das unaufdringlich Schöne wohl am meisten, ihre unverbrauchten Sinne waren noch so fein, und die grossen Leute, die ihnen die Stuben und Bücher mit lauten Farben und plumpen Linien füllten, die wussten so wenig von Kinderart, Alles Laute und Aufdringliche, die Kunst der starken Reize und des Ueberschwanges entsprach einem andern Alter — der Menschen wie der Völker — gehörte in die Zeiten der sehnsüchtig aufgewühlten Halbreife oder der ungestillten Ueberreife, vielleicht weniger, weil dies auch die Zeiten des Blutes und der Kraft sein konnten, als weil die Unsicherheit darin war, der innere Riss, Pfadlosigkeit oder Entgleisung. Denn das Unsichere und Unfreie, auch wenn ihm Roheit fernlag, suchte die laute sichere Gebärde der Ueberkraft, und Ueppigkeit deckte am besten zwiespältige Schwäche, Aber innerlich gesunde Kindheit besass den Adel der Sicherheit, wie ihn die beschwichtigte Reife und das geklärte Alter besass: Frühling und Herbst kam es gleichermassen zu, die Schönheit der reinen Form und die Kraft der Linie zu offenbaren, wenn sie die Erde vom verdeckenden Schwall winterlicher Schneelast und sommerlicher Ueppigkeit befreiten ,. , Frau Marga lächelte dem Sträusslein in ihrer Hand zu: war seine ihr plötzlich wieder verständlich gewordene Schönheit nicht Zeuge davon, wie ihr Weg sich langsam nach den Anfängen zurückzubiegen begann?

Als der Glanz des Himmels mählich tiefer ward, erhob sie sich und trat den Heimweg an, Er führte sie abermals durch den Wald, und ihr Wandel war immer noch selig beschwingt; aber die Füsse gingen taumellos und fanden bald den sichern Pfad. Auch der Wald schwelgte nicht mehr in mittäglicher Feier, Ueberall regte sich das raschere Leben, das dem Abend zudrängte, und die Sonne erwärmte mit rötlichen Lichtern das kühle Grün, Ueber engern und geduckten Hallen schlossen sich die Bäume hier näher zusammen. Nur einmal, dem Waldende nicht mehr fern, öffnete sich über dem Weg eine hochatmige Weitung. Ein paar Bäume waren hier vor Zeiten gefällt worden; einer davon lag noch am Boden, blass schimmernd mit entrindetem Riesenleib, wie ein armer geschundener Marsyas, Aber dem Tod der Brüder verdankte der Ahorn, der mit gewaltiger Krone das Himmelsauge füllte, seinen völligen Freiwuchs.

Frau Marga blieb stehen und betrachtete beglückt den mächtigen Baum, wie er in ungeheurer Strebung vom dunkeln Boden in den hellen Himmel hineinströmte, in tausendfältiger Gestalt dem Sturm nach oben folgend, Es war eine ähnliche Erscheinung wie bei dem zarten Waldsträusschen, dieselbe Bezwingung vielfachen Lebens durch einen Gesamtwillen; aber während das Wunder dort für sie beglückende Anschauung geblieben war, wurde es hier zum mitreissenden Erlebnis, Sie stand nicht mehr betrachtend vor diesem Baum, sie war in ihm, spürte den Urtrieb des aufspriessenden Stammes, strebte in tausend strammen Aesten dem Himmel zu, jubelte mit dem unendlichen Wald lebendiger Blätter im rosig durchstrahlten Licht und fühlte der tiefen Aeste und äussersten Zweige lichtsatte Schwermut und den süssen er denwärts gerichteten Drang. Und sie fühlte das Glück der freien Einzigkeit zwischen der unermesslichen Verstrickung des Waldganzen.

So hatte sie einen Baum noch niemals empfunden, und doch hatte sie die Bäume geliebt von Kindheit auf, wirklich geliebt, wie man Freunde liebt, und manchem von ihnen war es zu danken, wenn sie das Leben in der Stadt ertragen lernte. Noch heute konnte sie die kindische Vorstellung, dass Bäume sich selbstwillig bewegten, nicht loswerden, sobald sie jene im Winde betrachtete und sah, wie der eine in tausendfachen Schauern erlebte, was bei dem andern jubelndes Rauschen wurde und hartes widerspenstiges Aechzen bei dem dritten, Man sagte doch auch von Menschen nicht immer, dass sie vom Schicksal bewegt würden, und taten sie anders als Bäume? Es geschah, und jeder trug es nach seiner Weise .., Ach, wieviel Kinderzeit hatte sie im Schutz der grünen Lieblinge verbracht und im Verkehr mit ihnen, und später, wenn sie die grosse Sehnsucht, das grosse Glück und die vielen Schmerzen zu ihnen trug, wie hatten sie sich ihr gütig geneigt, in der Mitfreude heiter und gross im Trost.

Doch heute war das anders, Dieser Mächtige kümmerte sich nicht um sie, Er war und lebte sein grossartiges Leben, und ihre Liebe musste zu ihm hin, sich in ihm auflösen, Aber war nun diese Einkehr nicht tausendmal tröstlicher als alle liebende Gegenseitigkeit und hatte sie sich jemals so ganz im Besitz der freiesten Kraft gefühlt wie jetzt, da dieser Freie sie besass? Gab es vielleicht etwas, das noch herrlicher war als Einsamkeit, eine Einheit in höherm Sinne als die Einheit in sich bedeutete? Und wenn nun die reiche Einsamkeit der liebenden Hingabe entwuchs, trug vielleicht auch sie wieder eine bessere Frucht? War am Ende auch die Einsamkeit nicht Ziel, sondern Weg zu einem Höchsten? Das Glück, das sie jetzt empfand, nicht Vorahnung der letzten Einkehr?

Als Frau Marga den Waid mit den schon langgestreckten Schatten verliess, leuchtete das bebaute Ländchen vor ihr in den sattesten Tönen, und der Hügel, der jenseits des Grundes mit samtnen Bühlen in den violetten Himmel aufschwoll, war von unwirklichem, fast smaragdenem Grün; aber in den Fensterchen ihres zuhöchst kauernden Häuschens brannte eine rote Sonne, Nur die beiden Bauernhäuser am Fusse des Hügels standen mit gewaltigem Ernst in der feierlichen Heiterkeit der gesegneten kleinen Landschaft, Da sie ihre Gesichter mit dem reizenden Willkomm der bogenüberwölbten Lauben und hellen Fenster mehr hügelwärts richteten, waren von hier aus nur die ungeheuern, bis zum Boden reichenden Dächer sichtbar, die als düstere Pyramiden in die goldene Luft ragten.

Der Anblick der beiden Häuser gab Frau Marga ein kleines schmerzliches Unbehagen, Sie wusste, dass Feindschaft zwischen den Nahgerückten lag, und gedachte zum sovielten Mal des Auftrages einer wohltätigkeitsbegierigen Freundin, die Sommermonate zur Friedensstiftung zwischen den Getrennten zu benutzen. Und zum sovielten Mal kam sie bei diesem Gedanken ein halb beschämtes, halb mutwilliges Lächeln an, Wie schlecht die Freundin Menschenkennerin sie kannte — sie und die Bauern! Sie besass ja so gar kein Talent zur Einmischung, Dafür hatte sie zu wenig Selbstsicherheit und zu viel Achtung vor der Art der andern, Wie wenig klar musste man über sich selber sein, um den Mut zu besitzen, andere aufklären zu wollen! Denn wer sich auch nur ein wenig kannte, dem musste doch vor jedes Mahnerwort das Bewusstsein eigener Unzulänglichkeit treten, der konnte kein einziges «Du sollst» aussprechen, ohne über hundert «Ich sollte» zu stolpern. Und vor allem, wie konnte einer, dem das Leben gezeigt hatte, dass wir so durchaus zu Täuschung und Irrtum im Eigensten geneigt sind, sich das gewisse Urteil in fremden Dingen anmassen? Ja, wenn man noch jung war und von glücklicher Unwissenheit strotzte — Oder gab es wirklich Menschen, die durch ein Leben wandern konnten, ohne wenigstens die Ahnung von der Existenz einer Gegenwahrheit jeglicher Wahrheit zu besitzen? Vielleicht war ihre Anschauung Schwäche; dann aber war es auch die Bescheidenheit, und Anmassung hätte dann Kraft sein müssen und naive Selbstverblendung Stärke , , , Einerlei, welchen Namen es trug, Sie war nun einmal so, und jeder Erziehereifer und Verbesserungstrieb — auf andere angewendet — fehlten ihr; deshalb hatte sie auch für alles Predigertum, wo und unter welchem Namen es sich immer betätigte, bei jenem gewissen Respekt, den man immer dem schuldet, was man selbst nicht kann — im hintersten Herzwinkel — ein wenig Verachtung, Und zwar nicht einmal eine gutmütige, mit Erbarmen umwickelte, sondern eine fast boshafte Verachtung, die mit eigentlicher Tücke auf den Augenblick wartete, wo die Entdeckung eigenen Irrtums dem Prediger-Ermahner die Schamröte ins besserwissende Ueberzeugungsgesicht jagte, Aber die Tücke war ungefährlich; jener Augenblick erschien ja doch nie.

Und wenn es nun auch ein schmerzliches Denken war, wie diese beiden in der Einsamkeit aufeinander gewiesenen Häuser sich befeindeten, statt sich in Liebe zu bereichern, so war ihr dieser Bauernhass, just weil er ihrem Wesen unverständlich und rätselhaft blieb, doppelt unzugänslich und vielleicht fast ehrfürchtig; denn sie ahnte, dass eine Liebe dahinter stehen musste. Sonst. hätte er sich ja längst in Verachtung lösen müssen, und Verachtung mündete so bald in Gleichgültigkeit; die aber endete alles, und vielleicht war sie selbst nur deshalb so ganz unfähig zu hassen, weil Gleichgültigkeit ihr so nahe lag, weil sie so gar nicht zum Wichtignehmen taugte, Für sie gab nur die Liebe den Dingen und Menschen Gewicht, über allem andern stand ein kühllauteres Lascia fare, Auch solch währschaften ausgewachsenen Bauernhass musste man machen lassen; ihn mit Worten beschwichtigen zu wollen wäre ein so törichtes Unterfangen wie Felsspalten mit Salben zudecken. Warten, bis irgend eine andere Liebe aufwuchs, die stärker war als jene erste, darin der Hass wurzelte.

Ihre Augen wurden durch einen mächtigen, feierlich getürmten Birnbaum angezogen, der an der Hügellehne zu Häupten der beiden Häuser stand, Wie eine grünselbe milde Riesenflamme lohte er zwischen den dunkeln Pyramiden auf; denn das Abendgold glänzte über den tausend Frühbirnen, die wie schwere Honigtropfen im feinen Geräuch der blassen Blätter hingen, Und da fiel ihr ein, dass es eben dieser Baum sein sollte, um dessen Besitz der Streit entstanden war, und auf einmal wurde ihr alles verständlicher, Ja, der war eine Liebe wert und also auch einen Hass, Und die Liebe galt sicher nicht allein der gewinnbringenden Frucht — die Hofstatten rings waren so überreich an Obst — die galt der Herrlichkeit des Baumes, und so war sie etwas Grosses und Wichtiges, Wo mochte eine grössere herkommen?

Der Weg führte Frau Marga neben einer niedern überstrauchten Böschung nahe am Baum vorüber. Als sie unter seinen Aesten durchschritt, vernahm sie aus dem Gebüsch eine feste herrische Bubenstimme, und der deutliche Satz blieb an ihr hangen; «Allweg sollst davon essen, und zur Hochzeit schenk ich dir den ganzen Baum.» Ihr überraschter Blick fand zwischen den Büschen ein kleines Pärchen, und eben hielt der grössere Bub dem Mädchen eine der honiggelben kleinen Birnen vor den Mund, Jetzt wurden die beiden auch ihrer gewahr und wandten sich ihr ein wenig erschreckt zu, es waren die Kinder der feindlichen Bauern; aber während des Mädchens braunes Gesicht unter einem verlegenen Lächeln rot überlief, blieb der Junge unbewegt und sah sie bloss aus stahlblauen Augen grimmig und schier überlegen an. In seiner langen Bauernhose stand er protzig da wie ein kleiner Mann, und die frühreif gekantete Stirn drohte so eigenwillig, dass es in Frau Marga warm aufquoll: Wohl, der war nicht vom Stamm der Romeo: der wusste, was er wollte, und setzte es durch, aller väterlichen Feindschaft zum Trotz, Und das warmäugige Mädchen mit seinen zerarbeiteten Kinderhänden würde schon dafür sorgen, dass die Liebe wuchs, bis sie ihren Hals über der Väter Hass hinausstreckte, Wachsen lassen, das war die Weisheit, und das Gewachsene behielt immer recht.

Sie nickte den beiden herzlich zu und grüsste sie mit freundlichem Wort und begann den steilen Aufstieg so leicht, dass ihr langer schlanker Schatten vor ihr herzuflattern schien.

Aber plötzlich musste sie anhalten, Das Herz kam ihr vor den Atem, Mit Staunen nahm sie dessen ungestümes Pochen wahr, und sie dachte, wie sie früher solche Steigungen im Flug genommen hatte, nicht bloss als Kind, auch später noch, als schon ihre beiden Buben hinter ihr herjagten. Das war nun also vorbei, Sie lächelte beinahe wehmütig: solches nannte man wohl «ein Mahnen», Was aber wollte das Herz mit seiner Mahnung? Doch nicht einfach ein kläglich besorgtes «Schone mich!», so selbstisch bang war ihr Herz nicht, Es meinte gewiss Wichtigeres, Und da fiel ihr ein Wort ihres Vaters ein, der nach einem arbeitserfüllten und doch ganz innerlich erfassten Leben mit den Augen eines Forschers und eines Sehers zugleich bewusst und gross an das Alter herantrat: «Was reden sie von der Gnade, in den Sielen sterben zu dürfen! Das heisst doch zumeist, im unentbehrlich gewordenen Joch der Geschäfte und unter der Peitsche der Pflicht und des Ehrgeizes verenden, Stillstand und Anschauung, das ist Gnade des Alters; denn es macht uns heimisch in der Welt, mit der wir eins werden sollen, und gewährt die letzte Läuterung, wo sich der reine Gedanke löst.»

Stillstand und Anschauung, wollte dazu ihr braves Herz sie mahnen, und dass es nun alsgemach ein Ende haben sollte mit der Lebensjagd und dem Eifer? Sie lächelte und wandte sich und sah um sich in die safranüberwogte Welt, die sich von Gebirg zu Gebirg in weiter wellenreicher Ebene zu ihren Füssen breitete, Ihre Augen zogen das vertraute und doch immer neue Bild in sich, und ihr war, als ob alles, Himmel und Sonne, das Weite und das Nahe zu ihr herandrängte, in sie hinein, und wieder, als ob sie sich selig umloht in die sonnenrote Welt ausströmte und weithin mit den letzten zartgewobenen Fernen golden verklang. Es war ein ähnliches Empfinden innigster Gemeinschaft mit dem Seienden, höchsten Besitzes in ungehemmter Hingabe wie früher unter dem Ahornbaum, nur mächtiger noch, tiefer und grenzenloser . . .

Als Frau Marga droben im braunen Häuschen das Bücherzimmer ihres Gatten betrat, fand sie ihn noch tief über seinen Blättern, Er sah sich überrascht nach ihr um, und seine Augen, die von fern her kamen, grüssten sie mit einem lieben, zerstreuten, ein wenig erstaunten Lächeln: «Bist du schon da?»

Ihre Antwort war ein Lachen, darin die Stimmen der beiden Söhne mitzuklingen schienen, Dann küsste sie ihn auf die hohe, bleiche, gedankenbeschriebene Stirne und führte ihn an das kleine F. enster, das die weite, immer noch kupferig durchleuchtete Abendwelt umfasste: «Die Sonne ist weg, und du hast wieder einmal die ganze Herrlichkeit da draussen verpasst.»

«So spät schon?» Er wechselte die Brillen und sah angelegentlich in die stille verblassenden Lande hinaus: «Ja, es ist schön ...» Das klang seltsam tief und gross, und wie sie ihm jetzt in die Augen sah — der Goldblick ihres ältern Sohnes lag darin, nur etwas tiefer verschleiert und dunkler — wusste sie, dass er von einer ganz andern Schönheit redete, als die da vor Augen lag, und dass auch ihm die Einsamkeit des Nachmittags irgendwie zur Offenbarung geworden war.

Aber als sie nachher am stillen Abendtisch sassen, betrachteten beide mit derselben Betrübnis die leeren Plätze.

«Es wird schwer auszuhalten sein,» meinte er; doch dann nahm er seinen Teller und rückte ihn nahe zu Frau Marga hin, und sie sahen sich mit neuen Augen an und lachten und wurden beinahe übermütig wie in den allerersten Zeiten, Ihre Gespräche aber galten den Söhnen und deren erstem selbständigen Flug in die Welt.

Einmal seufzte sie: «So geht es nun halt uns Bubenmüttern; zu Zeiten, wo die Tochter erst recht der Mutter zuwächst, beginnt für uns die Verlassenheit.»

Er suchte zu trösten: «Dafür bleibt ihr auch länger jung, Von Töchtern umsorgte Mütter wachsen allzubehende ins behagliche Alter hinein.»

«Das weiss ich nicht» — sie schüttelte leise den Kopf — «aber wohl ist es gut, die Einsamkeit früh zu lernen.»

Nach dem Essen traten sie auf die schmale Holzlaube. Es war schon fast Nachtzeit; aber dieser unendlich klare Tag konnte sich immer noch nicht beruhigen, und der jetzt grünlich schimmernde Himmel war von nachklingendem Licht so erfüllt, dass sein Widerschein die Erde noch in Klarheit erhielt, und der Weg der Söhne, den man von hier aus ganz überblickte, blieb jetzt noch erkennbar. Zu gleich verdeutlichten die ersten aufglimmenden Lichtlein die Lage des Städitchens, wo ihre Wanderschaft heute mündete.

Innig und ohne viel Worte nahmen die Eltern jene fernen Lichtgrüsslein auf, Und während Frau Marga noch einmal die kleine Reisepackung überschlug und sich vergewisserte, dass den Brüdern nichts Nötiges fehlte, und während ihre Gedanken sie Schritt für Schritt begleiteten, zum ungewohnten Gasthaustisch, durch die abenteuerlichen Gässlein der alten Stadt und schliesslich in die fremde, etwas heimwehliche und doch reizvoll unbekannte Kammer, durchlebte ihr Gatte seine eigenen ersten jungen Wandertage aufs neue, und beider Herz wurde warm und spürte die Freude.

Dann ging er wieder zu seinen Büchern, Mit einer Entschuldigung heute, weil er sie so ganz allein liess, aber auch mit einem kleinen Scherz; es werde sich nun zeigen, ob sie die Einsamkeitsprobe bestehe, Und sie hörte es dem Knarren der Treppe an, mit welch freudiger Ungeduld er zu seiner Arbeit strebte.

Sie setzte sich auf die Laubenbank an die noch sonnenwarme, harzduftende Holzwand, Der Lichtlein auf der Erde wurden es immer mehr, Ueberall in der weiten Ebene sprossen leuchtende Punkte auf, einzeln und in Gruppen, und das Städtchen wurde zum funkelnden Plejadenhäufchen, Auch die einsamen Bauerngehöfte in den nahen tiefgewellten Hügeln öffneten das rötlichglimmende Auge, und auf der kleinen Wiese vor dem Häuschen erschien als blasses Lichtviereck das erhellte Fenster der Bücherkammer. Langsam wandelte sich die Erde zum dunkelschossigen Sternenland, Und nun fing auch der Himmel an sich zu öffnen, Zuerst war es der Abendstern, Schon lange hatte er als silberner Punkt im erlöschenden Westen gehangen, nun begann er zu leuchten, und Frau Marga sah ihm zu, wie er sich mählich zur mildstrahlenden Sonne auswuchs.

Das war der Stern, der über der Werdezeit und Geburt ihres zweiten Sohnes gestanden hatte, und sein Anblick gab ihr nicht allein das Glück jenes innigsten Jahres wieder, er liess sie mit immer neuem Staunen die geheimnisvolle Verwandtschaft zwischen diesem strahlenwandelnden Liebesstern und dem Wesen ihres wanderseligen Jüngsten empfinden, das von einer herrlich gleichen Heiterkeit allezeit durchstrahlt und durchtönt war und das soviel Liebe spendete, Und weiter dachte sie an das Gestirn ihres grossen Sohnes, die kleine Glutensonne mit ihrem rätselhaften Geflimmer aus Rot und Grün, aus Leidenschaft und Kühle, und wie dies seiner flammenden und keuschen Seele entsprach, Aber sein Stern lag nun mit dem goldstrahlenden ihres Vaters noch tief hinter Mitternacht, und wenn er ihr wieder erschien, war die Sommerherrlichkeit lange zu Ende, und er musste ihre Winternächte weihen, So wechselten die Lichter ihrer Lieben, und jede Jahreszeit hatte ihren besonderen Siern, Nur einer stand unverrückbar über allen Zeiten und allen Nachtstunden, der rotleuchtende Stern ihrer Mutter; denn er hielt die Höhe des Firmaments.

Frau Marga erhob sich und neigte sich über die Laubenlehne hinaus, dem Sterne zu. Und wie nun die stete Glut seines tiefklaren Auges auf ihr ruhte, war es ihr, als ob sie sich vom Wesen der Mutter ganz durchdrungen fühlte, dieser wunderbaren Frau, die sie alle verehrten wie die Erhabenheit und liebten als die vertrauteste Freundin, die mit alttestamentlicher Wucht Leben ordnete und schied und doch ihr eigenes allezeit der Liebe und der Güte folgen liess und deren feine Hand, von allem strengen Lebenswerke unvergröbert, mit derselben beschwichtigenden Liebkosung heute über das still erbleichende Haar der Tochter glitt wie einst über die mutwillig gesträussten Kinderlocken. . .

Was ging nun über die Gnade, seine Eltern dann noch zu besitzen, wenn sich die eigenen Wege schon neigten, und die in Reife und Verständnis noch ganz zu umfassen, die einen umhüllten vom Anfang bis zum Ende der Tage, Wie wurde da das Wesen der Ganzheit offenbar und die Fäden, die Himmel und Erde, die Ewiges und Zeitliches verbinden...

Das Glück einer übermächtigen Dankbarkeit machte Frau Margas Herz gross, dass sie die Enge der Laube nicht mehr ertrug. Leise schritt sie die kleine Vortreppe hinunter und dann gradeswegs über den weichen Grasbühl hinauf nach der letzten Höhe des Hügels.

Nun stand sie frei in der grenzenlosen Welt, und es war ihr zu Mute, als ob sie aus der vertrauten Heiligenkapelle in den weiten Dom getreten wäre, wo Gott selber spricht, Sie dachte nicht länger daran, im ewigen Sternenmantel der Nacht, der rings unermesslich in die tiefen Lande niederrauschte, nach den Gestirnen ihrer Lieben zu suchen, Sie schaute und war und wartete auf das letzte Wunder dieses Tages, Aber was da unendlich zu ihr drängte, das war nicht die Welt eines Baumes, war nicht die Pracht der abendlichen Erde, es war die Ewigkeit, Und sie bot sich dem ungeheuern Ansturm und gab ihre Seele frei, dass sie sich auflöste im All und im Unendlichen verging.

Die Sternenseelein auf der Erde waren schon lange verschwunden, und eben erlosch auch das Lichtviereck auf der Wiese, als Frau Marga langsam vom Hügel niederschritt, Ihr Nacken war gebogen, und die Hände hingen schmal zur Seite, als ob die wiedererwachte Endlichkeit des Körperlichen zur schmerzlichen Last geworden wäre.

Auf der Laube traf sie mit ihrem Gatten zusammen, Er ergriff ihre beiden Hände, und im ungewissen Schein des Sternenhimmels erschienen die seinen fast weiss über ihren sonnverbrannten Fingern: «Hast du die Probe bestanden und war es schlimm in der Einsamkeit?»

Sie lächelte: «Wohl glaube ich, dass ich bestund, und es war nicht schlimm; war Vorahnung des letzten Glückes, wenn unsere Engheit zerbricht und wir frei werden im Unendlichen, Aber Einsamkeit ist wohl nicht der Name, vielleicht: All-Einheit.»

«All-Einheit, Einswerden mit dem Unendlichen?» Er sah ihr in die erhobenen, glitzerigen Augen, und obschon sie in der Dunkelheit die seinen nicht erkannte, fühlte sie deren tiefen Blick, «Seltsam, wir gehen so verschiedene Wege, du und ich, und doch gelangen wir immer zum selben Ziel.»

«Vielleicht ist es da s Ziel, und uns wird die Gnade, dass wir den Weg in der Zeit erkennen.»

Sie wandten sich noch einmal dem ireien Himmel zu, und während er still ihren Arm umfasste, fühlte sie mit inniger Ergriffenheit, wie die Berührung dieser geliebten Hände immer noch dieselben seligen Schauer in ihr weckten wie am Tage der erwachten Liebe.