Spätrot.Rosen im Schnee. Schweizer Novellen: ELTeC ausgabe von Berlepsch, Goswina Maria (1845-1916) ELTeC conversion Priska Rüegg 76 21982

2020-05-18

Transcription UB Basel Scan UB Basel Spätrot. Rosen im Schnee: Schweizer Novellen von G. von Berlepsch von Berlepsch, Goswina Maria Jacques Bollmann Zürich 1905

Text transcribed from first edition.

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Spätrot.

Das Niederdorf zu Zürich ist ein Teil der alten Stadt, der vor nicht langer Zeit noch sein ganz eignes Gepräge hatte. Es muffelte da immer ein bißchen von fragwürdigen Gerüchen und Existenzen, besonders in den kleinen, engen Nebengäßchen, wo selbst im Sommer tiefer Schatten lag und der Sage nach die Ratten bei Nacht sich wohlgemut Stelldichein gaben. Die vier, fünf, auch sechs Stockwerke hohen Häuser, deren viele übrigens heute noch stehen, oft nur zwei Fenster breit, mit den verzwicktesten Physiognomien, den niedrigen Haustüren. zitterigen Klingeldrähten und Glöckchen an der Außenmauer hinauf, die am Morgen, von Milchmannen, Briefträgern, Hausierern gezogen, ein lustiges Getön straßauf und -ab geben, hockten so eng aufeinander, als hätte man zu ihrer Bauzeit die Gründe mit Gold aufgewogen. Und ebenso waren und sind sie bevölkert, nicht allein von einer sseßhaften, meist Kleingewerbe treibenden Bürgerschaft, die im Rufe steht, das ohnehin nicht sanft klingende Züricherdeutsch noch gröblicher zu sprechen, sondern auch von vielerlei fremden Elementen, welche, weiß Gott wo überall herkommend, in Zürich zeitweilig oder für immer landen. Diese Mischung gab denn von jeher dem Leben hier einen bewegteren Wellenschlag, um so mehr, als fast jedes zweite, dritte Haus eine Gastwirtschaft besitzt, deren Stoffe für die Erwärmung der Geister sorgen. Es geht immer etwas vor, und dazu tönt über die Dächer, vom nahen Limmatquai, noch gar oft, sobald der Frühling ins Land gekommen, lustige Musik, die irgend ein Häuflein Festbesucher oder von einem Feste bereits Heimkehrender anführt. Flugs. beleben sich dann die engen Gäßchen, welche die Häuserreihen wie Durchschlupfe unterbrechen. Man verläßt für ein Weilchen Laden, Wirtshaus, Werkstatt, Wohnstube, um das Schauspiel zu sehen und zugleich einen Blick in ssonnigere Weiten flußauf- und abwärts zu tun.

Das neue Zürich räumte nun zum Teil mit besagter Muffelromantik unbarmherzig auf, natürlich unbarmherzig im Sinne jener zäh Seßhafsten, die bisher ihr Leben unangefochten hier verbracht und vom Wind der Zeit nun hinweggefegt wurden. Wem aber dieses Hinwegfegen noch nicht widerfahren, der fürchtete es wenigstens. Und sonderbar, je älter das Gerümpel, desto steifer hielt seine Einwohnerschaft daran fest und sah mit bangem Grimm die Beglückungen von Luft, Licht, breiten Straßen immer bedrohlicher heranrücken.

Zwei Käuze, die von diesem Segen ebenfalls nichts wissen wollten - aus guten Gründen —, waren die Schwestern Käther und Gritli Rollenputz. Erstere zwar eine verwitwete Boßhardt, wurde gleichwohl von der Volksstimme samt ihrer Schwester kurzweg die Rollenputzen, und der kleine Kaufladen, den sie seit vielen Jahren schon hatten, das „Goldgrübli“ genannt. Es steckte wie ein Schwalbennest im Gasssenwinkel zweier Häuser, von denen das eine gleichsam einen Buckel, eine Verengerung der Straße bildete. Klein und niedrig war es, dieses Goldgrübli, aber an welcher Lage! An einer geradezu beherrschenden. Demgemäß war denn auch der Zuspruch. Eine fest angestammte Kundschaft von Stadt- und Landleuten erneuerte sich, da schon die Eltern Rollenpuz hier in Ehren gehausst, von Generation auf Generation. Die jetzigen Besitzerinnen hatten jedoch keineswegs bloß auf den alten Lorbeeren geruht, sondern ihre Bekanntheit, ja man kann sagen Berühmtheit, auf eigne Faust und Art erworben. Sie galt den Persönlichkeiten mindestens ebenso wie dem Wert ihrer über jede Kritik erhabenen Waren. Jhre selbstgemachten Nudeln und Fideli!), ihre dito Salben gegen Brandwunden und Gefrörne und so weiter hatten denselben Ruf wie ihre Beredsamkeit, namentlich die Käthers, der verwitweten Boßhardt. Dieser Tapferen mochten bei ihrer ursprünglichen Redebegabung noch zehn stürmische Jahre einer längst überstandenen Ehe zur vollen Lösung der Zunge verholfen haben. Gritli war gegen sie eine schüchterne Schülerin. Wenn es aber sein mußte, stellten beide glänzend ihren Mann. Brauchte nur einer etwa zum Spaß ihre strahlend blanke Frauenehrbarkeit oder, was ihnen ebensoviel galt, die Güte ihrer Verkaufsspezialitäten in Zweifel zu ziehen. Wie Löwinnen verteidigten sie sich, und der Übermütige konnte unfehlbar geschlagen von dannen ziehen.

Im ganzen jedoch lebten die beiden mit der Welt wie untereinander in schönster Eintracht. Auf letzteres deutete allein schon die Art, wie sie in dem engen Ladenraum geradezu harmonisch sich bewegten, die stattliche Frau Käther und das schmalgebliebene Gritli, das, wenn es sein mußte, sich fast zu einem Nichts zusammenziehen konnte. Außer den Warenvorräten, zwei abgesessenen Lederstühlen und einem braven Öfelein, wo gelegentlich auch gekocht wurde, hatte nur noch das Büsi') Platz, Gritlis geliebtes Schoßkind, sonst nichts. Die Kunden standen draußen auf der Straße unter einem kleinen Vordächlein, wo sie durchs Fenster bedient wurden. Im Sommer war das Jensster ganz ausgehängt und gewährte einen lustigen Einblick in das Allerlei, welches hier mit wahrhaft genialer Ausnuzung des Raumes aufgestapelt war. So wie man in alten Spezereihandlungen manchmal einen Meerfisch, ein Krokodil an der Decke hängen sieht, schwebten hier Besen verschiedenster Art über den Häuptern der Besitzerinnen. Sie sselbst aber standen oder saßen förmlich umdrängt von ihren Handelsartikeln, ihrer winzig kleinen und doch sehr wohlbestellten Welt, die nicht umsonst den Namen Goldgrübli bekommen hatte, und führten angesichts des regen Straßenverkehrs das unterhaltendsste Leben. Die Tagesneuigkeiten flogen ihnen nur so zu. Infolgedessen war hier natürlich auch ein beliebter Ort für Auskünfte und Meinungsdebatten, die am Morgen schon begannen, wenn Kälher als erste das Tagblatt las. Sie kritisierte dabei den Weltlauf im großen und kleinen auf eine ganz gesalzene Art. War ihr Wissensdurst durch diesen ersten Akt befriedigt, so vermochte weiter keine Lektüre sie zu fesseln. Ihr Interesse gehörte vielmehr dem Pulsschlag des Augenblicks. Jede, die kleinste Szene, welche sich auf der Straße abspielte, erregte ihre Aufmerksamkeit. Kam etwas Größeres vor, ein Menschenauflauf, Feuerlärm oder sonst so etwas, dann war sie mit wenigen großen Schritten im Freien, um sich von den Vorkommnissen zu überzeugen. Gritli indessen blieb ruhig auf dem Platze und wartete den Bericht über das Geschehene ab. Sie war die Zurückhaltendere, die überhaupt lieber von ihrem geborgenen Winkel aus die Dinge betrachtete und so von jeher das Leben mehr aus dieser Perspektive, als direkter Erfahrung kennen gelernt hatte. Sie war in allen Beziehungen die zartere Hälfte des Schwesternpaares. Schon in der Jugend stand ihr Käther weit voran durch ihre rotwangige Erscheinung und ein resolutes Wesen. Die hatte sich immer hinausgewagt, sogar in verschiedene Stürme, die sie aufrecht bestanden, während Gritli daheim still das Nudeln- und Fidelimachen geübt und daneben eine einzige, bitter-süße Liebeserinnerung erworben hatte, die heute noch manchmal wie ein fernes Sternlein vor ihr aufschimmerte. Über die kurze Blütezeit ihres Herzens war jäh ein Frost gekommen. Der Gegenstand ihrer Schwärmerei, ein leiblicher Vetter, Namens Rudolf Rollenputz, hatte nämlich einst durch einen Gewaltstreich beim Ringen seinen Kameraden so elendiglich geworfen, daß ihm das Lebenslicht ausgeblasen schien, worauf der Sieger in blinder Verzweiflung und Freiheitsdrang zugleich das Weite suchte und für immer verschwunden blieb. Vor vierundzwanzig Jahren war das geschehen. Sie hatte nie mehr vielleicht bloß aus schnöder Vorsicht seinerseits, obwohl sein Unterlieger weiterlebte – vom Vetter Ruedi gehört, der das reinste Gegenstück zu ihrer Zartheit, ein Herkules, und dabei der gutmütigste Mensch gewesen, dessen tolle Kraftstücke unter den Kameraden ebenso bekannt wie gefürchtet waren. Noch lange nachher, wenn sie ähnliche Gestalten sah, wallte es in ihr auf, und ein eignes Mitleid überkam sie mit dem armen Großen, der sich unter einer eingebildeten Schuld weiß Gott wo in der Welt herumschlug oder vielleicht gar nicht mehr lebte. Allgemach hatte sie ihr Herzeleid aber doch überwunden, gerade so wie Käther den Nachgeschmack vom trügerischen Glück ihrer Ehe. Jetzt lebten sie, als hätte es für sie nie Männer und Enttäuschungen gegeben, im schönsten Seelenfrieden und genossen das Leben eigentlich mehr als in jüngeren Jahren.

Dazu trugen nicht wenig ihre häuslichen Verhältnisse bei. Wenn sie um acht Uhr abends den Laden schlossen und heimgingen in die nahegelegene Wohnung, das Büsi im Korb, das schon auf diese Art des Transportes dressiert war, dann kamen eigentlich noch die besten Stunden des Tages, das Privatleben, die Erholung. Hierbei spielte eine Familie Wüest, Eltern und Tochter, die auf demselben Stockwerk mit den Rollenputzen wohnten, eine große Rolle. Vater Wüest besorgte für die Schwestern öfters Buchhaltungsgeschäfte und kompliziertere Korrespondenzen. Er war überhaupt in Lagen, wo sie einen Mann brauchten, ihr Beistand und Ratgeber. Alles verstand er, alles konnte er. Das kam von seinem wechselvollen Leben, in dem er Schulmeister, Kaufmann, Bahnbeamter, auch Mitarbeiter eines Bezirksblättchens und noch mehreres gewesen. Endlich hatte er sich in ein kleines Schreiberamt gerettet, neben dem er alles mögliche trieb, was sonst noch Verdienst brachte, Zufalls- und Vermittlungsgeschäfte, Kopierarbeiten, Gelegenheitsdichtereien und dergleichen mehr.

Seit einer Anzahl von Jahren hausten die Rollenputzen mit diesen Leuten in nächster Nachbarschaft, die beiderseitigen Wohnungen nur durch eine sogenannte Zinne getrennt, eine Art größeren Dachbalkons, der hinüber in die winkeligen Manssarden der Wüessts führte. Hier saßen diese drei –+ ein Sohn, der für sich lebte, stieß zuweilen noch dazu ~, umgeben von den Überresten besserer Tage, in obskurer aber vergnügter Freiheit, zufrieden, wenn sie etwas hatten, unverzagt, wenn es gerade nicht glänzend stand. Trotz allerlei Rissen und Windlöchern hatte der Haushalt etwas Behagliches. Er strömte eine gewisse Nestwärme aus, die das alternde Schwesternpaar anheimelte, zumal dieses mit seinen steiferen Ansichten von Haben und Leben immer wie in ein grünes Gärtchen blickte, wenn drüben die unverwüstliche Hoffnungsfähigkeit einmal wieder siegte. Das Schicksal verfuhr mit den Leutchen, nachdem es sie genugsam gerüttelt, jetzt wirklich gnädig. Stets tat sich im Fall der Not wieder irgendwo ein Spältchen blauer Himmel auf und stimmte ihre Herzen sogleich höher. Das warf seinen Abglanz auch auf Gritli und Käther, die in ihrem sicheren Bestand nie so hochbeschwingt waren. Sie feierten manchen solchen Augenblick mit, wenn sie des Abends gerade dazustießen, führten ihn auch manchmal selbst herbei durch eine freundschaftliche Tat. Denn sie waren in der eignen Geborgenheit wohl sparsam, aber keine Geizhälsse geworden.

Dann ging es da oben unter den bejahrten Leutchen zu, daß es eine Freude war, mit Disputieren, Erzählen, Deklamieren und Singen. Die Wüests gaben ihren wohlmögenden Nachbarinnen zuiveilen, eine Art Gratisvorstellung, wobei sich diese herrlich unterhielten. Jedes betrieb hier seine eigne Kunst. Die Mutter sang noch zur Guitarre, obwohl sie kaum mehr einen Zahn im Munde hatte. Der Vater dichtete, was man haben wollte; ja, wenn er ein gutes Gläschen hatte, sprach er sogar in Versen. Und die Tochter erst ~ Regula hieß sie ~ besaß in erhöhtem Maße die poetische Ader des Alten, überhaupt einen starken Hang zum „Jdealen“. Sie deklamierte gern eigne Verse, hielt sich für ein verkanntes Genie und putzte sich demgemäß oft ganz phantasstisch heraus. Die Folgen einer langwierigen Krankheit hatten sie bisher verhindert, einen eignen Erwerb zu suchen, dafür aber in die höhere Welt der Gedanken geführt. Verschiedenes war schon von ihr gedruckt erschienen. Sie nahm deshalb ihren Alten gegenüber eine gewisse Resspektstelung ein, führte große Worte im Munde und sprach von ihrer Zukunft mit einem verheißungsvollen: Wartet nur! Auf diese Rechnung ließ sie sich von der Mutter bedienen, hätscheln, die besten Bissen vom Mund absparen. Und diese, in längst verflossenen Zeiten einmal vermögend gewesen, fand die Neigungen ihrer Tochter ganz erklärlich, ein Zeichen des ehemaligen Standes, auf das sie noch stolz war. Kurz, es ging hier alles in Gemütlichkeit zu, und das Kleinste konnte zum Anlaß werden, daß sie bei einem improvisierten Schmäuslein sich des Daseins freuten. Sie schufen sich die Feste ihres Lebens selber. Und dabei weiteten sich die schräg zulaufenden Dachwände oft zu Hallen, durch welche die kühnsten Hoffnungen stolzierten und ein weites blaues Meer voll unbekannter Schätze winkte. Nur wenn der Sohn hie und da erschien, sich mürrisch in eine Ecke setzte und nach den neuesten Narrheiten seiner Schwester fragte, dann konnte die Gemitlichkeit einmal in Aufruhr umschlagen, bei dem das Nachtgevögel einstiger dunkler Begebnisse aufgescheucht wurde. Aber es geschah selten und gab nachher meist wieder Frieden, indem die Alte ihre tief gekränkte Tochter besänftigte, der Herr Vater aber zur Verträglichkeit mahnte unter dem Hinweis, daß Regis Narrheiten zunächst doch ihn angingen, da er der Familienlastesel sei, was er ohne alle Bitterkeit, ja mit Humor konstatierte.

Schon vor einiger Zeit war bei diesen Abendzusammenkünften von einem Jubiläum die Rede gewesen, das im Frühling gefeiert werden müsse, ein vierzigjähriges Geschäftsjubiläum und zugleich der vierzigste Hochzeitstag der Wüests. Man kam einmal wieder darauf zu sprechen.

„Ja —~ von welchem Geschäft eigentlich?“ fragte Käther. „Sie haben ja allerhand getrieben."

Herr Wüesst sschmunzelte. „Vom ~ ersten."

Eine Papierhandlung war es. Das Papier sei ihm nach dem vorherigen Lehrerberuf der quasi nächste Artikel gewesen. Da habe der Schwiegervater das Geschäft für das junge Paar eingerichtet ~ und wie!

Und nun wurde von jenen Zeiten berichtet, von den nobelsten Bekannt- und Verwandtschaften, mit denen man ganz intim gestanden. Eine längst gesunkene Sonne stieg strahlend wieder herauf — und ihren jähen Untergang nachher verschwieg man.

Ja, das mußte gefeiert werden, und zwar wie es sich gehört. Regi beschloß ein Festspielchen zu verfassen, das auf der Zinne draußen gespielt werden sollte, da der Anlaß in den Frühling fiel, wo man die schönen Abende ohnehin auf dieser luftigen Höhe genoß, und wo schon allerlei Grün den Schauplatz schmücken konnte. Wüests und die Rollenputzen hielten hier nämlich ein kleines Gärtchen in Holzkisten, von Vater Wüest das Jungferngärtli genannt, wo Epheu, Winden, Kletterbohnen, aber auch Schnittlauch und Petersilie gezogen wurden für die Küche. Dazu wehten ein paar hochgeschossene dünne Oleander wie einsame Palmen in der Luft. Sogleich stand den phantasievollen Festmachern der Schauplatz vor Augen, wie er sein müßte, mit Laubgewinden, bunten Lampen und so weiter.

„Nicht übel," sagte Vater Wüest zu seiner Tochter. „Mach's nur einstweilen. Je nachdem es mit den Moneten steht, fallen dann die Dekorationen aus."

„Etwas Schönes und Sinnreiches mußt du erfinden," eiferte die Dichtermutter das Regi an. „Du kannst's ja!"

Gritli blickte sinnend zu ihnen hinüber.

„Es ist etwas Merkwürdiges mit diesem Dichten,“ sagte sie. „Jch könnte lang studieren, und käme Doch nichts heraus."

„Ja, wenn's nur so mit dem Studieren ginge, haha! Da würde mancher vom Leder ziehn! Das Regi ist leider nicht an seinem Platz in der Welt, es müßte unter die rechten Leute kommen, dann ginge es erst, wie's sein sollte."

„Was, rechte Leute? Was sssind denn wir?" fragte Käther beleidigt.

„Pah, unter Dichter und solche, mein’ ich."

„Ja so," war die ziemlich geringschätzige Antwort.

Das mit den rechten Leuten ärgerte Käther aber doch, da sie sich, wenn auch nicht zu „Dichtern und solchen“, immerhin zu denen rechnete, die den Verstand auf dem rechten Fleck haben. Und so spielte sie auch einen kleinen Trumpf aus.

„B'hüetis, wegen so einem Jubiläum, das hätten wir auch schon lang machen können.“

„Warum habt ihr es nicht getan, zum Donner?" fragte Vater Wüest, in dessen Kopf sogleich eine spekulative Jdee aufstieg.

„Weil wir solchen Firlefanz nicht brauchen. Wenn ein Geschlecht einmal über fünfzig Jahr am gleichen Ort ist, kennt man's ohne viel Geschrei."

„Was? Über fünfzig ?"

„Jawohl! Ist das etwa nicht auch so eine Seltenheit, zu der die rechten Leut’ gehören ?" fragte sie mit anzüglichem Spott. „Sogar ins zweiundfünfzigste geht's. Ich hab’ es letzthin erst wieder in unsrer Familienbibel gelesen. Da hat die Mutter selig eingeschrieben: So und so halt, den Datum, Anno 1827, am 3. Aprillen. An Gottes Segen ist alles gelegen. Heute haben wir die erst Losung vom Lädeli heimgebracht. Vier Gulden, drei Böck !), fünfzehn Rappen."

„Und das habt ihr so im stillen hingehen lassen mit dem halben Jahrhundert, anstatt daß es das ganze Niederdorf gewußt hat? Ich. hätte, bigott, wenn ich im Stadtrat wäre, das Ehrenbürgerrecht für euch angetragen."

„Wir sind ja sonst Burgerinnen von Zürich.“

„Oder ein Rollenputzgäßli da irgendwo herum."

„O Sie Schnörrewagner! ?) Was noch mehr?" lachte Käther wieder versöhnt. „Wir tun zu solchen Zeiten etwas Rechtes in den Kirchensäckel, für die neuen Peterglocken oder sonst einen guten Zweck; das ist gescheiter.“

„Schön, schön,“ sagte Vater Wüest. „Deshalb braucht man sich selber auch nicht zu vergessen. Wißt ihr was? Wir wollen miteinander ein Gederkfestlein feiern, als gute Nachbarn und Freunde. Wir hätten schon lang einmal so etwas veranstalten sollen.“

„Zu was ?"

„Zu was hat Gott der Herr nach sechs Tagen am siebenten geruhet und sich gefreut? Warum haben wir Sonn- und Feiertage? Damit Leib und Seele sich erholen können, sintemal der Mensch nicht vom Brot allein lebt!" rief Herr Wüest wie ein Pfarrer von der Kanzel jetzt im breitesten Zürihochdeutsch.

„Unterstützt", sagte seine Tochter Regula.

„Jhr gönnet euch für eure glänzenden Verhältnisse viel zu wenig. Was wär's, pottausend! wenn ihr aus Dankbarkeit für euer Wohlergehen einmal ein Extrafeiertäglein machen würdet, anstatt dem schnöden Einerlei zu frönen, jahraus, jahrein ? . Die Freude am Leben ist auch ein Hallelujah !“

Die Rollenputzen sahen ganz verdutzt den Sprecher an.

„Wir sind ja so auch zufrieden“, wandten sie ein.

„Ja, ja,“ wollte er fortfahren. Da kam ihm aber Regi dazwischen.

„Bloß wenn die Geister einschlafen, ist man zufrieden! Euch ist es eben immer im gleichen Trott gut gegangen, darum seid ihr mit dem Brosämlein zufrieden, die ihr euch gönnt. Unzufriedenheit ist die Mutter des Aufschwungs und Fortschrittes !"

„Das Regi wird wieder einmal in so einer roten Versammlung gewesen sein. Dann führt sie allemal solche Reden,“ sagte Käther.

„Was wissset ihr vom Leben und von den Jdealen und sonstigen schönen Dingen der Welt ?" rief Regi, warm werdend beim bloßen Gedanken an alle vorhandenen Herrlichkeiten, die sie auch noch nicht genossen hatte. „Nicht einmal was hinterm Örlikonertunnel liegt, wißt ihr recht und könntet es so prächtig haben. Da wollte ich's anders machen, bei Gott!“

„Glaub’'s wohl," lautete die lakonische Antwort.

So ganz verhallte die Mahnung aber doch nicht, besonders bei dem empfänglicheren Gritli. Es gestand sogar, daß es schon manchmal gern ein bißchen mehr vom Leben gehabt hätte . ..

Also!

Das Familientrifolium griff diese Äußerung gleich enthusiastisch auf und brachte es richtig so weit, daß Käther zu dem Vorschlag eines gemeinsamen Festleins nicht mehr gerade nein sagte.

Es tauchte im Gegenteil wieder auf, wie eine fröhliche und im Grund ganz berechtigte Lockung, dem alltäglichen Leben doch einmal von sich aus ein Freudenlichtchen aufzusetzen, ob nun vierzig oder zweiundfünfzig Jahre dazu Anlaß gaben. Und die Lebenskünstler Wüest taten – aus guten Gründen – das Jhrige zum Gelingen.

* * *

Die Jahreszeit rückte nun in jenes Stadium, wo die Morgensonne schon recht eindringlich in das Rollenputzlädeli schien und das Aushängen der Fenster nicht mehr lange auf sich warten ließ.

An Sonntagen aber konnte man herrlich auf der Zinne droben sitzen, die wie eine Brücke über verschiedene Dachabgründe führte. Die Epheu- und Oleanderbäumchen standen bereits an ihrem Ort, auch die Schnittlauch- und Petersilienpflanzungen. Wenn es gegen Mittag lieblich nach Sonntagsbraten zu duften anfing kamen von hüben und drüben die Hausfrauen aus der Küche, um sich ein Büschelein des frischen Gewürzes zu holen, hier Frau Wüest, drüben Frau Käther. Gritli las indessen, umflossen von Ruhe und Sonnenschein, ihre „Abendglocken", ein reformiertes Wochenblättchen, auf das sie abonniert war, während Regi etwas hinkenden Ganges hin und her wanderte, bald nach dem junggrünen Zürichberg, bald über Stadt und See weg nach schimmernden Wolkengebirgen ausschaute, als müßte da irgendwo ein Glück dahergefahren kommen. Denn auf Glück wartete sie immer. Das war überhaupt eine harmlose Familieneigenschaft der Wüests. Regi hatte hier oben im Freien an so einem leuchtenden Sonntagmorgen auch stets dichterische Einfälle, wenn der Schall der Glocken über ihre freie Höhe hinwogte und Ahnungen in ihr wachrief, von einem leichtbeschwingten, schönen Leben voll Liebeswonnen und allerlei Reichtum. Gritli dagegen, die allsonntäglich zur Kirche ging, feierte hier oben eine zweite Andacht und schwelgte jedesmal auf ihre Art, wenn in der Nachbarschaft aus einem unbekannten Raum, fast regelmäßig um dieselbe Stunde, Harmoniumklänge sanft getragen, leise vibrierend herauftönten und ihr von ewigen Seligkeiten zu erzählen schienen.

Heute, an solch einem Sonntagmorgen, hatte Regi das Huldigungsgedicht für die vierzigste Hochzeitsfeier eben fertig gebracht und schickte sich an, es Gritli im Vertrauen, zwischen ihre Abendglocken hinein, vorzulesen. Sie war von dem Gedanken eines Festspiels abgekommen, indem sich für ihre Idee, Amor und Merkur darin auftreten zu lassen, keine Darsteller fanden. Sie allein konnte beide nicht vereinigen, und Gritli hatte sich energisch gegen eine Männerrolle, noch obendrein mit Taubenslügeln an den Füßen, wie es die Dichterin haben wollte, gewehrt. Den Bruder aber wünschte man, der Gemütlichkeit wegen, lieber nicht dazu. Und so hatte Regi denn einen Prolog ausgedacht, den sie als Muse sprechen wollte. Es war nur noch die Frage, ob gleich am Morgen zum Beginn des festlichen Tages oder erst abends, wenn jedenfalls die gehobenere Stimmung da war.

Gritli meinte, natürlich am Morgen.

Da mußte sie aber früher aufstehen als die Alten, und das sei ihre Sache nicht, entgegnete Regula. Überdies habe sie mit leerem Magen keine Begeisterung, und in der Stube sei morgens kein würdiger Schauplatz wegen der Unordnung.

Als die beiden eifrig hierüber berieten, tönte aus der einen Tür: „Regi – zum Essen!“ Und gleich darauf aus der andern: „Gritli, chumm !"

Da blieb die Dichtung auch für Gritli noch ein Geheimnis, Sie verschwanden ohne Säumen hinter ihren niedrigen Türen, wo der liebe gedeckte Tisch ihrer wartete.

Die Räuchlein aus den Kaminen verwehten ringsum, und wohlige, sonntägliche Mittagsstille lag über dem Jungferngärtli, den braunen Ziegeldächern und der Frühlingslandschast, die aus Nähen und Fernen herüberschaute.

* * *

Die Rollenputz-Schwestern hatten mit den Wüests ausgemacht, daß nicht etwa eine Niederdorf-Öffentlichkeit aus diesem sogenannten Jubiläum gemacht werde, wenigstens was sie betreffe, denn sie kannten ihre Pappenheimer, die immer einen Zug ins Größere hatten. Sie plagte diese Leidenschaft nicht, und darum wollten sie einfach das Jhrige zur Feier des Tages beitragen ~ das war ja doch die Hauptsache ~, aber sonst keine Faxen. Ein Sonntag wäre ihnen am passendsten vorgekommen. Regi jedoch bestand darauf, das Datum einzuhalten; so etwas sei nicht bloß für die reichen Leute; die andern hätten auch das Recht, ihre Feste zu feiern, wie sie fallen. Und so fiel dieses auf einen Mittwoch.

Es war ein goldener, warmer Tag, einer der letzten. im Mai. Das Jubelpaar machte mit Regi, alle drei, so flott es eben ging, herausstaffiert, eine Dampfschifspartie mit Einkehr in einem bewährten Wirtshaus, damit die Frau Mutter heute nicht kochen mußte. Um sechs Uhr kehrten sie aber prompt zurück, sehr vergnügt und durstig. Frau Wüest band, nachdem sie zuerst für etwas Trinkbares gesorgt, gleich eine zerrissene Küchenschürze über ihr mit kühner Phantasie zusammengestoppeltes Festgewand – ein Stück von ehedem, dessen Verlegenheitsstellen durch allerlei knitterige Falbeln und Schleifen herausgeputzt waren. Sie begann nun das Festplätzchen auf der Zinne herzurichten, während Regi zuerst ein wenig ausruhen zu müssen erklärte.

Auf der einen Seite dieser Zinne, unter dem schräg herablaufenden Dach, gab es einen Winkel, wo man behaglich sitzen konnte. Hier wurde nun das ganze Jungferngärtli, nämlich alles, was wuchs, auf Kisten und wackeligen Stühlen zusammengesstelt, damit es eine Art Laube bilde. Zur weiteren Dekoration hatten die drei aus Wiesen und Wald noch tüchtig Grün mitgebracht.

Vater Wüest kam in Hemdärmeln, um der Gattin zu helfen. Sie waren beide in rosigster Laune, ganz der Gegenwart hingegeben, als hätten sie längst vergessen oder, noch besser, überwunden, was ihnen das Leben in diesen vierzig Jahren angehabt, die sie heute feierten. Sie fanden es auch ganz in der Ordnung, daß Regi drinnen auf dem verrutschten Sofa lag, dieweil sie mit unsicheren Füßen stuhlauf und -ab stiegen, Nägel einschlugen, Bindfaden längs der Wand zogen und Zweige dahinter steckten, alles mit behender Munterkeit. Einige Papierlaternen wurden zulezt noch aufgehängt und sogar rechts und links über dem Tisch ein Fähnlein ausgesteckt. Endlich war alles fertig und das Plätzchen wie ein „grünes Stübli" anzuschauen. Das hatten sie zur Überraschung der Schwestern Rollenputz so ausgesonnen und darum jetzt erst gemacht. Wußten sie doch, daß auch von jener Seite eine Überraschung kommen würde.

Es war noch hell, als die Festteilnehmer auf der Zinne zusammentrafen, die Alten wieder ganz in ihrem Wichs, mit rosigen Gesichtern — sie hatten sich zur Stärkung einstweilen ein Gläschen Wein gegönnt , Regi noch unsichtbar, die Rolleputzen aber wie die Könige aus Morgenland, jede eine Gabe tragend, Käther eine große Schüssel mit lecker duftendem Inhalt, Gritli einen Krug.

Das Jubelpaar schnupperte freudig der Huldigung entgegen.

„So, ihr alten Hochzeitsleute," sprach Käther, „da kommt die Ürte. ') Es ist ein Kränzli; aber weil's nicht mehr für die silberne Hochzeit ist und noch nicht für die goldene, so haben wir eins machen lassen, das zwischen hinein paßt, wenn man's auch nicht aufsetzen kann: ein Bratwurstkränzli !). Guten Appetit und Glück dazu!"

„Ja, potztausend," wollte Vater Wüest, wie höflich überrascht, mit glänzenden Augen eine Gegenrede beginnen - da trat aber schon Gritli mit ihrem Kruge vor.

„Und ich," sagte sie, „komme mit einem Tröpflein, um den allfällig noch vorhandenen Liebesbrand zu löschen! Was gilt's, es gloset ?) noch da und dort, und ihr könnet was Nasses wohl brauchen, wenn ihr das Kränzli anstatt auf dem Kopf im Leibe habt. Gesundheit! Und wohl bekomm's !"

Die Rollenputzen hatten diese scherzhafte Anrede so verabredet.

„O, ihr Frauen," stammelte Mutter Wüest gerührt, als ob sie dies alles gar nicht erwartet hätte; „was für Einfälle und Umstände macht ihr mit uns!"

Aber auch sie wurde unterbrochen durch das Erscheinen Regis, die richtig als Muse kam, das Haar gelöst, einen Epheukranz auf dem Kopf, in einem weißen Mussselinkleid, das ihr zwar zu eng, aber durch verschiedene Draperien dem heutigen Zwecke dienstbar gemacht worden war. Regi, vom Dufte der Bratwürste angelockt, kam mehr hervorgeschossen als geschwebt. Ihre Augen hingen ebenfalls glänzend an der Schüssel mit dem appetitlichen Wurstgeflecht, da sie viel Empfänglichkeit für leibliche Genüsse hatte. Sie vergaß derart ihre Rolle, daß sie, in die Hände klatschend, rief: „Ah, Bratwürst!"

Woher kommen Sie?" fragte Käther, Regis Aufzug betrachtend, da sie noch nichts von dem Musentum wußte. „Aus dem Bett ?"

„Nein, vom Parnaß,“ sprach Regi mit Selbsstgefühl.

„Wo ist das ?"

„Ihr werdet's schon hören. Aber ihr müßt absitzen, dort in die Laube. Nur ich will stehen." Und sie schickte sich im Hinblick auf den Wurstkranz, der warm am besten schmeckte, gleich an, den Prolog zu sprechen.

Vater Wüesst verstand aber diesmal die Tochter nicht und neigte wehmütig das Haupt zur Seite.

Sollen sie kalt werden unterdessen?! Nichts besseres als so eine saftige, warme Bratwurst ! !"

„So soll 's Regi einfach nachher seine Sach’ aufsagen," entschied Käther.

Die Muse stutzte über dieses Wort, tat aber in Anbetracht des bevorstehenden Genusses nicht beleidigt.

Und so ging es unverweilt in bester Harmonie zu Tisch.

Vater Wüest schenkte Wein ein. Auch er hatte ein ansehnliches Krüglein für diesen Abend herbeigeschafft.

„Zur Gesundheit, ihr huldreichen Frauen!“ rief er begeistert mit fettem Kinn. „Solche Kränze munden, beim Eid, schier besser als die von Myrten."

„Die ißt man ja nicht –~ weiß aber doch, daß sie gallenbitter sind, wenn man hinein beißt," lachte Käther, die immer ironisch wurde, wenn von dieser Seite des irdischen Glückes die Rede war.

„Weswegen ich aber nicht gesagt haben will," fuhr er, in sein breites Hochdeutsch übergehend, fort, „daß die Liebe nicht auch eine schöne Sache sei. Potztausend! Sie ist sogar das hohe Lied –~"

„Sind Sie still von dem! Mir ist's erst wohl, seit ich nichts mehr davon weiß."

„Haben's aber doch auch probieren müssen, wie's ist, und denk’ wohl, mehr als einmal ~ haha!"

Regi lachte mit vollen Backen und stieß Gritli an. „Das mit dem Wohlsein sagen sie immer nachher + vorher nicht!"

„Man muß es halt erlebt haben, was ein Schlufi !) ist," entgegnete Gritli ernsthaft, „sonst glaubt man's nicht."

„So, und jetzt hab’ ich grad’ ein Hoch auf die Tage der Rosen bringen wollen," rief Vater Wüest.

„Lieber auf die Tage der Bratwürst’," sagte Käther.

„Bravo! Jugend vergeht, aber 's Goldgrübli besteht!"

„Sonst heißt es: Tugend besteht," warf Gritli ein.

Vater Wüesst blinzelte sie übermütig an. „Jaaa ~ wenn's nur immer so sicher wär’ ~"

Gritli reckte sich. „Was? Mit der Tugend ?"

„Mit dem Bestand? Weil auf dieser schönen Erde gar alles so vergänglich ist," schmunzelte der Spötter.

„Von dem können Sie mehr reden als ich," gab Gritli prompt zurück. „Jetzt schweigen alle Wälder. Es ist aber nicht immer so still gewesen! Man müßte wahrscheinlich nicht weit in diesen vierzig Jubiläumsjahren zurückwandeln !“

„Ihr Rollenputzen seid die reinsten Drachentöter mit euerm Mundstück. Woher habt ihr das auch ?"

„Vom Handel und Wandel."

Allgemeines sröhliches Gelächter. Der Wurstschmaus nahm nicht bloß allen Sticheleien die Spitze, er verklärte sie sogar zu Zeichen echter Freundschaft, die den Humor und ein bißchen Übermut unempfindlich verträgt.

„Loset!" !) rief jetzt auf einmal Käther, die Gabel, an welcher gerade ein Stück Bratwursl steckte, emporhaltend. „Heute abend läuten die alten Peterglocken zum letztenmal."

Alle horchten auf.

Das Gebetläuten hatte auf einigen Türmen begonnen. Jetzt tönte es über den Fluß vom alten Petersturm, an dem die riesigen Zifferblätter noch vom letzten Abendschein gestreift waren. Die Schwalben schossen durch die laue Luft um die Schallöffnungen. In ganzen Scharen umflogen sie den Turm mit jubilierendem Ruf, als wollten sie den guten alten Stimmen Antwort geben.

„Lebet . wohl, ihr lieben Glocken," sprach Käther, als sie schwiegen. „Ein gut Teil Leben haben sie uns geläutet. Wer weiß, wie lang die neuen es noch mögen ?"

„Ja nun, so haben wir doch unser Scherflein zu den neuen beigetragen," antwortete Gritli gehoben; „es ist auch schön, so etwas mit zu erleben."

„Natürlich! Denket doch," belehrte Vater Wüesst, ,„sie seien älter als die Eidgenossenschaft" .

„Warum nicht gar," rief Käther empört.

„Ja, ja, älter als das Vaterland."

Einen Augenblick war Käther wie vor den Kopf geschlagen. Für sie hatte der Begriff Vaterland nämlich so etwas wie: am Anfang war Gott und dann die Eigenossenschaft. Nur mißtrauisch ließ sie sich von Vater Wüest und Regula belehren. Diese beiden vertraten hier alles, was Gelehrtheit und höheres Wissen betraf. Wenn sie so recht die Schleusen zogen, waren die RollenputzSchwestern immer wieder verwundert, daß man so eine Masse von „Sachen“ im Kopf haben könne. Nun wurde vom alten Zürich und seiner Urvergangenheit gesprochen, wobei Regula das Wort ergriff und die Zeit beschrieb, wo die ganze Stadt im Wasser gestanden habe, die Zeit der Pfahlbauer, blondmähnigerwilder Gesellen, die in Tierfellen, sonst nichts, herumgelaufen seien. Und sie erinnerte an einen Festzug beim Sechseläuten !), wo eine Gruppe „derige Wildmannen“ dabeigewesen, mit Steinärten und -Pfeilen, weil man damals noch kein Metall gehabt habe. Das sei erst später aufgekommen, und aus dieser Zeit stammten wahrscheinlich die alten Peterglocken.

Die Rollenpuzen waren einmal wieder ganz Ohr. Nichtsdestoweniger fragte Käther kritisch, woher man denn das alles wisse.

„Ha, aus Büchern."

„Was, Bücher?" entgegnete Käther ungläubig. „Die werden grad’ Bücher geschrieben haben, wenn sie sich noch nicht einmal haben Hosen machen können."

Daran entspann sich ein lebhafter .Meinungsaustausch über diese dunkeln Dinge, bei dem man von einem ins andre kam, bis endlich allen der Kopf brummte und man zu dem klaren, realen Trost der Bratwürste zurückkehrte.

Regi zündete dann die Papierlaternen an, die phantastische Farben und Lichter auf die Gesellschaft warfen, besonders auf sie, die Muse selber, in ihrem weißen Kleid und den offenen, rötlich-blonden Haaren. Sie erschien beinahe hübsch, als sich ihre helle Gestalt vom dunkelblauen Spätabendhimmel abhob, an dem schon einige Sterne blinkten.

Nachdem die Illumination hergestellt war und nun vermutlich der zweite Teil des Festabends gekommen wäre + auch Vater Wüest hatte etwas in petto, einige Schwänke im Züricherdialekt -, klopfte es an die kleine Glastür, welche auf die Zinne führte, und zwei Männer traten heraus. Einer war der Butter- und Eierhändler Schneebeli, ein altbekannter Nachbar, der andre ein junger, fremder Mensch.

„Ja ~ potz Fahnen und Kanonen! Was ist das für eine Festversammlung ?" rief Herr Schneebeli. „Mir scheint, der Herr ist grad’ am rechten Tag gekommen. Jungfer Rollenputz, da fragt ein junger Herr Rollenput, nach Ihnen."

Die Gesellschaft blickte verwundert auf die Ankömmlinge, dann auf Gritli, die mit großen, starren Augen dasaß.

Da ermannte sich Käther, wie immer, zuerst.

„Es gibt keinen jungen Rollenputz. Wir sind ja die letzten."

„Reden Sie nur mit dem; der wird Sie anders berichten," sagte Herr Schneebeli mit einer gewissen boshasten Freude. „Drum bin ich mit ihm hergegangen, damit er's Jungfer Gritli auch gewiß findet."

Der Nachbar Schneebeli hatte vor etwa zehn Jahren als Witwer eine der wohlhabenden Schwestern heiraten wollen, war aber heimgeschicktt worden. Das vergaß er ihnen, bei allem sonstigen guten Einvernehmen nicht. Es machte ihm immer Spaß, sie ein bißchen zu ärgern.

„Also, was vill er?" fragte Käther.

Da schob Herr Schneebeli den fremden Jüngling vor, so daß er mehr in den Bereich des Lichtes kam. Es war ein hochaufgeschossener Bursch mit fragenden Augen, in abgenutzter Kleidung, die ihm an allen Enden und Ecken zu kurz geworden schien. Er zog aus der Innentasche seines Rocks Papiere hervor und unter diesen einen ziemlich abgegriffenen, dreifach versiegelten Brief mit der Adresse: Fräulein Gritli Rollenpuyt, Niederdorf, Zürich. ~ Er reichte ihn Käther. Diese aber wies ihn an ihre Schwester.

„Um Himmels willen,“ sprach Gritli verwirrt, „es wird doch nicht –~"

„Eben das," triumphierte Herr Schneebeli. „Eine alte Liebschaft meldet sich. Der Junge hat mir's erzählt. Lesen Sie jetzt nur."

Gritli zögerte, den Umschlag zu öffnen. Erst auf Käthers Zureden tat sie es.

In dem Brief stand geschrieben :

„Liebes Gritli!

Ich weiß nicht, ob Du noch lebst. Aber ich will Dir auf jeden Fall einen Gruß schicken, bevor ich ins Jenseits abgehe, denn mit mir steht es glaub’ ich, Matthäus am letzten. Wie und was, ist eine lange Geschichte. Dieses diktiere ich einem Schweizer Landsmann, Heinrich Merihofer von Schaffhausen, welcher auch hier in Buenos Aires ist und Auskunft über mich geben kann. Mein ehelicher Sohn Rudolf soll es Dir auf meinen letzten Wunsch hin überbringen. Ich habe ihm anempfohlen, wenn ich sterben muß, daß er heimkehre, denn er hat dann hier niemand mehr, und dort ist er zuständig. Und wenn Du noch lebst, was Deinem Alter nach ja wohl anzunehmen ist, so wirst Du ihm hoffentlich auch ein wenig auf die Beine helfen. Er ist noch jung und gesund und ein ordentlicher Bursch. Seine Mutter ist beim dritten Kind samt diesem gestorben. Das zweite auch. Der Ruedi bleibt allein übrig, wenn ich von hinnen gehe. Wie es uns herumgeschlagen hat, soll er Dir erzählen. Es war manchmal nicht schön, und ich habe oft elend Heimweh auf Zürich gehabt. Aber zurückkehren und mich etwa noch ins Loch stecken lassen wegen dem Streich, den ich, weiß Gott, ohne böse Absicht verübt habe, nein. Hier war ich doch ein ehrlicher Mensch und kein Zuchthäusler. Es weiß niemand von dem, was ich auf dem Gewissen herumgetragen habe, als jetzt der Merihofer, dem ich alles sagte. Ich habe es gewiß schon lang abgebüßt. Dafür soll der Rudolf in sein Vaterland zurück und ein Gewerbe lernen und seinen Militärdienst machen, wie es sich gehört. Er spricht ganz gut deutsch, sogar etwas zürich-deutsch, weil ich es ihm gelehrt habe, nebst englisch und spanisch, was man hierzulande im Norden und Süden können muß. Meine Frau selig war auch von einer ausgewanderten Schweizerfamilie, eine Bernerin; aber wir haben kein Glück gehabt. Du mußt aber nicht meinen, daß ich Dich deswegen vergessen habe, im Gegenteil. Ich dachte oft ans Niederdorf und an Dich, Gritli, und ob Du vielleicht auch einen andern genommen habest. Das waren schöne Zeiten. Es geht mir oft das Lied im Kopf herum, welches wir damals und viele andre gesungen haben: Zu Straßburg auf der Schanz’! Ich bin auch so einer, nur daß ich nicht hinüberschwimmen kann. Ich gäbe elwas drum, wenn ich es könnte.

Lebe wohl und gedenke meiner, wenn Du diesen Brief erhältst. Denn dann bin ich unterm Boden. Aber der Rudolf kommt hoffentlich drüben an, und willst Du an ihm ein gutes Werk tun, so danke ich Dir in der Ewigkeit dafür.

Dein Vetter

Rudolf Rollenputz.

Diktiert im Hospital in Buenos Aires am 12. September 1879. Mit Unterschrift des Schreibers Heinrich Merihofer und des Arztes."

Gritli las andächtig und langsam. Das Blatt zitterte in ihrer Hand. Zuletzt gingen ihr jäh die Augen über.

„No, was ist's?" fragte sie Käther.

„Das wär’ also" - es zuckte um Gritlis Mund, denn sie war eigentümlich ergriffen von dem Bries ~ „dem Ruedi Rollenputz sein Sohn, und er selber ist, scheint's, gestorben nach dem, was er da schreibt "

„Red, nicht so dumm! Wie kann er das schreiben ?"

„Lies nur."

„Seit acht Monaten ist der Vater tot," erklärte der Jüngling, der immer noch mit dem Hut in der Hand dastand, während Herr Schneebeli, ein rundlicher Mann mit pfiffigem, fettglänzendem Gesicht, es sich auf einer Kiste bereits bequem gemacht hatte.

„Nei verfluemet au! !) Der Ruedi Rollenputz sei Ihr Vater? Da werden Sie ja wohl einen Tauf- und Heimatschein drüber haben?" sagte Käther praktisch gefaßt.

Der junge Mensch holte wieder seine Brieftasche hervor und zeigte mehrere Dokumente.

Käther setzte die Brille auf, gab der Katze, die sich von Gritlis Schoß auf den ihrigen geflüchtet hatte, einen Schubs, daß sie fauchend davonstob, und revidierte die Papiere wie ein Polizeikommissar, obwohl sie die Sprache derselben nicht verstand, sondern nur sah, daß es mit dem Namen seine Richtigkeit hatte.

Alles schwieg unterdessen, höchst gespannt auf das Ergebnis.

„Was ist das für ein Deutsch?" fragte sie mit gerunzelter Stirn. „Da versteht man ja kein Wort."

„Spanisch und englisch," lächelte der Bursch.

Gritli betrachtete ihn wie träumend, und als er nun lächelte, durchfuhr es sie seltsam warm; wie ein Sonnenstrahl rieselte ihr etwas durchs Herz: gerade so hatte ihr einstiger Ruedi Rollenputz gelächelt. Daran erkannte sie, daß dieser sein Sohn war.

Es wird schon richtig sein," sprach Käther, die Brille abnehmend. Sie sah Gritli an, als wollte sie fragen: was nun?

Diese ließ die gefalteten Hände in den Schoß sinken und sagte bloß seufzend: „O Herrgott, was ist der Mensch !“

Während sie ihr Leben lang ruhig im Niederdorf gesessen, hatte es den Liebsten in der Welt herum und auch schon aus der Welt verschlagen. Und da stand jetzt, schier so groß als er einst, sein Sohn, wie ein Vermächtnis vor ihr. So vergehen die Zeiten !

„Das ist ganz romantisch," rief Regi; „so was erlebt man nicht alle Tag’ !“

„Besonders ehrssame Jungfrauen nicht," sspöttelte Herr Schneebeli.

„Schweigen Sie. Da haben Sie nichts drein zu reden, Herr Nachbar," befahl Käther kurzweg. „Machen Sie lieber dem Bursch da Platz, daß er ein bigzli zusitzen kann, wenn er schon ein Ruedi Rollenputz ist. + Oder mag er etwa nichts ?"

„Ich mag schon," war die Antwort des Jungen.

Mit glänzenden Augen schob er sich zwischen die andern an den festlichen Tisch. Es mochte ihm schon lange nicht so gut gegangen sein. Seine roten, langen Hände griffen zögernd nach dem, was die Schwestern ihm hinstellten, aber desto herzhafter schmeckte es ihm dann. Er wurde allgemach gesprächig und erzählte von seinem Vater, von „drüben“ und von seiner langen Seereise, die er, der Billigkeit wegen, per Segelschiff gemacht hatte. Er war auf einmal der Mittelpunkt der Jubiläumsgesellschaft, und man vergaß über dem Erlebnis völlig, warum Regula mit dem Epheukranz und dem ungesprochenen Prolog dasaß.

Als es elf Uhr von den Türmen schlug, erbot sich Herr Schneebeli, den Burschen in seine Herberge zu bringen, die nicht weit entfernt war. Käther aber fragte ihn, was er nun morgen tun wolle.

„Etwas verdienen," sagte er.

„Ja, das geht bei uns nicht so im Handumtkehren," lachte sie, aber es gefiel ihr. Und daraufhin erlaubte sie ihm, daß er morgen wiederkommen dürfe; es werde dann eine von ihnen auf die Polizei mit ihm gehen wegen der Schriften.

Gritli, die eigentliche Beteiligte, stand in Gedanken verloren dabei. Es kam ihr alles wie ein Traum vor, zumal in dieser schönen Mainachtsstille, die jetzt über der ganzen Stadt lag Der Mond war aufgegangen und warf eine silberne Bahn über den See, und vom Zürichberg her wehte ein lauer Nachtwind Düfte blühender Wiesen.

Sie horchte auf die Schritte der beiden Männer unten auf der Straße, bis sie verhallten.

„Ich glaub's, daß es ihn oft gehabt hat mit dem Heimweh," sagte sie, den Bries noch einmal betrachtend, „der arme Ruedi!"

„Warum ist er so ein dummer Kerli g'ssy und hat nie geschrieben ?“" raisonnierte Käther. „Es könnte ihm in Zürich noch lang gut gehn.“

„Es gibt halt Menschen," sagte Regi pathetisch, khr halb volles Glas in einem Zug austrinkend, „welche –" sie wischte mit der umgekehrten Hand über die sschwellenden, nassen Lippen, „fürs Gutgehen einfach nicht erschaffen sind. Ich gehöre auch dazu, obwohl es mich noch nicht übers Meer verschlagen hat.“

„Machet jetzt, daß wir ins Bett kommen. Es ist drei Viertel auf zwölf," mahnte Käther.

Da tönte von unten, ganz in der Nähe, Männergesang.

„Ist das etwa uns zu Ehren?" fragte Frau Wüest ihren Gatten, der noch bei verschiedenen Vereinen war, trotz seiner Jahre.

„Ist schon möglich.“

„Nein, nein! Das gilt der Jungfer Grüter, die morgen Hochzeit hat. Der Bräutigam ist bei der „Harmonie", berichtigte Käther.

Junge Männerstimmen sangen:

Verstohlen geht der Mond jetzt auf, Blau, blau Blümelein. Durch Silberwölkchen führt sein Lauf. Rosen im Tal, Mädchen im Saal. O schönste Rosa!

Regi trat ans Geländer und schaute schmachtend zum gestirnten Himmel auf. Wann kam für sie einmal solch ein Vorabend ?!

Und Gritli stand lauschend neben ihr und sah auch nach den Sternen.

Er steigt die blaue Luft hindurch Blau, blau Blümelein, Bis daß er schaut auf Löwenburg. O schönste Rosa! ~

Für sie wurde der Liebste ihrer Jugend bei den sanften Klängen wieder lebendig, jung wie damals – nur nicht hier, sondern auf einem der Sterne dort oben, und wie ein Gruß aus jener andern Welt kam ihr sein Brief jetzt vor.

Als der Gesang schwieg, riß Regi plötzlich den Epheukranz vom Kopfe und schwang ihn in der Richtung, wo die Sänger waren.

„Was machst denn?" fragte ihre Mutter. „Du hast ja dein Gedicht noch alleweil nicht deklamiert !"

„Ach was, Gedicht! Hätt’ ich lieber auch einen Hochzeiter !" – Damit hinkte sie grollend ab, in die Stube.

* * *

Einige Zeit nachher, als die Einkaufsstunden des Morgens vorüber waren, so gegen elf Uhr, kam Herr Schneebeli aus seinem Butterladen, der schräg gegenüber vom Goldgrübli lag, um sich ein wenig mit den Rollenputzen zu unterhalten. Er trug eine schneeweiße Schürze, ein rundes Käppchen auf seiner fröhlich leuchtenden Glatze und war, wie immer, das verkörperte Behagen.

„Guten Tag, ihr Frauen," sagte er, aus der großen Dose schnupfend, die zum Gratisgebrauch für jedermann auf dem Ladentisch stand.

„Gott grüeßi, Herr Schneebeli."

„Was macht die Familie?"

„Was für eine?"

„Die Jhrige." – Er nieste überlaut. „Der Ruedeli."

„Helf’ Gott," sagte Gritli.

„O du! So einem noch helf! Gott wünschen,“ schalt Käther.

„'s Gritli ist halt die Bränere," schmunzelte er. „Kein Wunder, daß man so zärtliche Sachen von ihr sagt."

„Was für Sachen?"

„Ha — wie die Leut’ halt reden. Es weiß nicht jeder vom alten Ruedi Rollenputz; ich weiß ja auch nichts von ihm –"

„Und? – Was noch mehr?" Käther gab der Brille, die sie eben auf der Nase hatte, einen aufgeregten Stoß, während sie die Rechte kampfbereit auf die Hüfte stützte.

Der Nachbar lachte. „Und jetzt halten sie sich dafür ans Gritli, weil sie den Jungen auf einmal bei ihr sehen. Eine Herkunft muß der Mensch doch haben."

„O, die Thorenbuben! – Siehst du, Gritli, das hat man von der Barmherzigkeit."

Gritli aber lächelte. „Du mußt nicht alles glauben, was der Herr Schneebeli sagt."

„Das läßt du dir gefallen?"

„Man muß auch etwas leiden können für eine Sache, die einem lieb ist."

„Aha, das tönt anders, Frau Boßhardt," triumphierte der Nachbar. „Sehen Sie, sie wehrt sich nich. Wär’ auch dumm. So zwei vermögliche Frauen müssen doch jemand haben, der sie beerben kann."

„Und eine schlechte Nachred' dazu," eiferte Käther erbost. „Glücklicherweise kennt man uns zeitlebens im Niederdorf. Bei andern muß man aber in verschiedenen Gegenden nachfragen, wenn man etwas von ihrem Jugendleumund wissen will!!"

Der Butterhändler schlug vergnügt aufs Bein. Das Gespräch wurde aber unterbrochen, weil er seine Ladentür klingeln hörte und davon mußte.

Als er jenseits der sonnigen Straße verschwunden war, kehrte sich Käthers Zorn gegen die Schwester.

„Was ist das eigentlich mit dir, Himmelsterne! daß du dich gegen solche Unverschämtheiten nicht wehrst?"

„Das sind ja bloß Dummheiten," erwiderte Gritli gelassen.

„Daß du ein uneheliches Kind habest in deinen alten Tagen? So eine Schand’ macht dir nichts ?"

„Ich wollte, der Ruedi wäre in Ehren mein Kind. So wüßte ich doch, für was ich auf der Welt bin.“

Käther stand mit offenem Munde da.

„O du alte Trucke!!) Was dir nicht noch einfällt!" schalt sie empört.

Sie kannte die Schwester nicht mehr.

Gritli hatte, seit der Ruedi Rollenput da war, eine ganz eigne Stimmung, eine sanfte Heiterkeit, ja, wirklich etwas wie heimliche Mutterfreude, wenn der hochaufgeschossene Bursch vor ihr stand und sein neues Leben und Werden so halb und halb aus ihrer Hand empfing. Sie hatte ihn bei allen nötigen und unnötigen Behörden angemeldet, einen ordentlichen Rock, Stiefel und so weiter gekauft und dann ihn in einem Speditionsgeschäft untergebracht, wo man ihn der Sprachen wegen nahm, obwohl er dieselben wie alles andere, was er wußte, durchaus nicht schulgerecht inne hatte. Er war aber anstellig und lernte leicht. Er schlug Wurzel in der Heimat, wie ein gesunder, junger Baum, der in den rechten Boden gekommen. Gritli war schon mehrere Male bei seinem Herrn gewesen, auf Käthers Veranlassung, da man so einem aus fremden Ländern Hergeschneiten nicht trauen könne. Sie bekam jedoch befriedigende Auskunft. Er halte sich ordentlich, hantiere wie ein Herkules unter den Ballen und Kisten in den Magazinen, lieber als bei der Schreiberei. „So so," sagte Gritli etwas ängstlich, unwillkürlich des Vaters gedenkend, der auch so ein Herkules gewesen, daß Gott erbarm'!

Sonntags durfte er bei den Rollenputzen zu Mittag esssen, wo es ihm herrlich schmeckte und er nie nein sagte, wenn ihm Käther noch ein Stück auf den Teller legte. Nachmittags wurde dann ein Spaziergang gemacht, damit der Fremdling seine Vaterstadt kennen lerne. Er ging wie ein an der Leine geführter Löwe neben den zwei ehrbaren Frauen, die eine Vorliebe für Friedhofspaziergänge hatten, wo sie alle bekannten Namen von den Denksteinen lasen und nachher, auf einer der Bänke ausruhend, betrachtungsreiche Gespräche führten. Diese Richtung mundete dem jungen Burschen nicht, und er trachtete, sie auf fröhlichere Ziele zu lenken. Hie und da ging das auch, und sie kehrten abends dann ganz lustig heim, wonach sie bei den Wüests etwa noch ein Stündchen auf der Zinne beisammen saßen. Ruedi unterhielt die Gesellschaft mit Geschichten von „drüben“ der merkwürdigsten Art, die er teils gehört, teils mit seinem Alten selber erlebt haben wollte. Er wurde für die kleine Tafelrunde das reinste Geschichtenbuch, und Regis Phantasie entzündete sich an diesen Fremdartigkeiten dermaßen, daß sie nicht allein einige Prairiebrände und Löwenritte dichtete, sondern für den siebzehnjährigen Weltfahrer selbst zu entbrennen nicht übel Miene machte.

Der Reiz dieser neuen Unterhaltungen wurde aber stark erschüttert durch die Verdächtigungen, welche der Nachbar Schneebeli als Meinung der Leute den Schwestern zugetragen. Käther war um so aufgebrachter, als Gritli, die in solchen Dingen sonst stets eine tapfere Mitstreiterin gewesen, für ihre Person jetzt unbegreiflich lau war, dagegen mit allem Eifer für den Ruedi Rollenputz sorgte, daß der an seinem Platze gedeihe und weiterkomme. Der Ruedi! Das war auf einmal der dritte geworden, der sich zwischen sie hineinschob und in Gritlis Herz immer mehr Boden gewann. Die praktische Käther witterte aber, daß der Junge dies sehr bald merken und sich zunutze machen werde. Dieses Amerikanertum mit seinen sonderbaren Geschichten flößte ihr Mißtrauen ein. Sie lauerte deshalb förmlich auf so einen ersten Streich, um Gritli ein für allemal zu witzigen.

Richtig ließ er nicht lange auf sich warten.

Ruedi bekannte eines Tages, daß er in einen Turnverein eingetreten sei.

Ohne Erlaubnis? Wozu in einen Turnverein ?

Er hatte eben eine Liebhaberei für alle leiblichen Übungen und wollte auch gern ein wenig mit jungen Leuten sein. Das sagte er seinen Schutzpatroninnen offenherzig.

„So, da hast du's!" warf Käther der Schwester hin.

Gritli stand ratlos und wußte nach längerem Besinnen nichts zu sagen, als daß ~ ein Turnverein ja am Ende nichts Schlimmes sei.

Gleich schoß eine helle Freude über ihres Schützlings Gesicht in dem der Bart schon zu sprossen begann, und er griff nach ihrer Hand, wie einer Verbündeten.

Das erboste Käther so sehr, daß sie auf beide ein ausgiebiges Donnerwetter niedergehen ließ.

„Wegen was hat der Alte fortmüssen ?" brach sie los. „Und wegen was sitzest du noch da wie vor fünfundzwanzig Jahren?"

„Schweig !“ bat Gritli, „schweig von dem! – Geh lieber fort", sagte sie mit schwankender Stimme. „Du hast das Kätherli verzürnt –"

Ruedi aber stand mit gespanntem Blick da.

„Was hat sie vom Alten gesagt ~ warum er hat fortmüssen?" fragte er. „Jch lasse den Vater nicht beschimpfen.“

Käther schaute verwundert den Burschen an, der auf einmal, den Mann hervorkehrte.

Gritli aber, in der Angst, daß die Schwester mit weiterem kommen könnte, schob ihn sanft zur Tür.

„Hast recht, Ruedi! Denk an deinen Vater selig und werde ein ordentlicher Mensch, sonst ~ sonst gehst du zu Grund wie ~ "

„Hat der Vater einmal etwas angestellt ?" fragte Ruedi mit gerunzelter Stirn.

Schau! Da stand der Gelbschnabel, der Hungerleider, der mit zerrissenen Stieseln übers Meer gekommen, als wäre an ihm die Reihe, zu fragen und zu rechten. Und das Gritli wurde noch dunkelrot über seine Fragen und war ganz froh, sagen zu können: nein, Gottlob, es sei alles in Ordnung. Da mußte Käther zeigen, wer Meister sei. Kurz und gut, erklärte sie, man habe jetzt schon Ärger genug gehabt; der Ruedi solle fürderhin mit seinen Turnkameraden gehen, er brauche am Sonntag nicht mehr zum Essen zu kommen.

Gritli warf ihr einen bittenden Blick zu, aber er half nichts. Gesenkten Kopfes zog Ruedi ab. Und als er fort war, kamen die Schwestern ersl recht hintereiander.

„Wahrlich, er hat sich's bequem gemacht, dein Ruedi da drüben, den Buben uns einfach auf den Hals zu schicken! Wenn ein jeder den sitzen. gebliebenen Schätzen seine Kinder zum Andenken vermachen wollte, brauchte man keine Waisenhäuser mehr," höhnte Käther.

Gritli dagegen sprach mit einer gewissen Größe und Fesstigkeit: „Daß ich dem Ruedi noch ein Trost vor dem Sterben gewesen bin, ist mir zu Herzen gegangen als eine Ehre. Ich will daher sein Vertrauen nicht zu Schanden werden lassen."

„Geh mir mit deinen Phantastereien!“ ries Käther. „Du wirst die Früchte schon noch kennen lernen; ich wünsch’' es dir."

Da ging Gritli denn doch die Geduld aus.

„Wer weiß," sagte sie mit hochgezogenen Brauen und vorgestrecktem Halse, „ob du nicht auch ein besseres Andenken an deinen Mann selig haben könntest, wenn du nicht so rauh gegen ihn gewesen wärst!"

„So? Kommst du mir jetzt noch mit dem? Der wird am Ende auch noch schneeweiß in deinem Unverstand, wie der Ruedi Rollenpuz ! - Weißt", sagte sie bündig, „eine alte Jungfer kann von Männern und Ehestreitigkeiten gar nicht reden!"

„Dann hat sie halt," entgegnete Gritli spitz, „ihre Meinung in Herzensangelegenheiten für sich, und es braucht sich auch niemand darein zu mischen.“

Sie standen sich gegenüber mit brennenden Wangen und lebhaft gestikulierenden Händen. Und jetzt auf einmal gab es eine Stille, eine Pause, als merkten sie plötzlich, wie weit sie gekommen. Sie, die sich miteinander in so schöner Harmonie von den Liebesenttäuschungen des Lebens getröstet und erholt hatten, lagen jetzt in hellem Krieg deshalb. .Und was trug an all dem die Schuld?. Dieses Kuckucksei, dieser Turnvereinssünder.

„O Herrgot! Was ist das auf einmal für ein Leben!“ seufzte Gritli verzweifelt und ging aus der Stube, um auf der Zinne draußen Luft zu schöpfen. Es erwürgte sie schier.

Hier saß das Ehepaar Wüesst in heiterer Ruhe und genoß den Abend. Regi war buntbewimpelt ausgezogen; die Eltern, wußten nicht, wohin. Es trieb sie manchmal eine blinde, heiße Sehnsucht unter die Menschen, auf die breiten Straßen, wo das Glück dahinrollte und ja auch ihr einmal begegnen konnte.

„Jungfer Rollenputz," redete Vater Wüest sie an, als er ihre erhitzten Wangen sah, ,„ist Feuer im Oberstübli? Oder nur so eine Jungfernhitz’?"

„Ach Gott," sprach Gritli und ließ sich gebrochen bei ihnen nieder. „Unfrieden wegen dem Ruedi."

„Ja – Kindersegen, Kindersorgen !" antwortete er.

„Was, Kinderssegen?" fuhr Gritli leidenschaftlich auf.

„Der Ruedi ist ja doch ~"

„Nichts ist er! Und wer das behauptet, den nehm’ ich vor Gericht. Was gilt's, ich thu’ ihnen die Mäuler zu. Und deswegen lass’ ich den Ruedi doch nicht fahren. So, jetzt wißt ihr's alle miteinander!“

Gritli verließ hierauf grollenden Angesichts, in höchster Aufregung wieder die Zinne.

Die Wüests sahen ihr betroffen nach, und der Gatte sagte dann humoristisch: „Sie ist halt schon wohl alt für so eine angeflogene Mutterschaft!"

* * *

Die Kunden merkten, daß im Rollenputz-Lädeli etwas Außergewöhnliches los sein mußte. Die Schwestern waren verdrossen, tischten keine Tagesneuigkeiten auf und gaben dem sonst geliebten Büsi, wenn es ihnen einmal in die Quere kam, einen mißmutigen Klaps, daß es davonstob. Beide waren unglücklich. Essen und Schlaf schmeckten ihnen nicht. Der Unfriede zehrte an ihnen. Und doch gab keine von beiden nach. Gritli erwartete im stillen, daß Käther vor dem Sonntagmittag noch sagen werde: ,,Der Ruedi soll kommen.“" Aber das tat sie nicht. Die Antwort darauf war, daß Gritli nach dem Essen allein ausging und mit Ruedi einen Spaziergang auf den Zürichberg machte. Etwas Unerhörtes! Denn sonst waren sie immer zusammen gegangen. Aus Ärger darüber begab sich Käther in eine Nachmittagspredigt, wo sie ihren Unmut verschlief. Gritli aber benutzte die Gelegenheit des Alleinseins mit ihrem Sorgenkind, um selber eine Predigt zu halten, so eindringlich und moralgesalbt, daß Ruedi endlich mit offenen Lippen, wie lechzend neben ihr hertrottete. Sie sagte ihm heute auch aus lehrhaften Absichten den Grund, weshalb sein Vater aus der Heimat geflohen und trotz des Heimwehs, von dem sein Brief berichtete, nicht zurückgekehrt sei. Das machte einen starken Eindruck auf den Jungen. Und als er erfuhr, daß der damals Totgeglaubte, aber noch Lebende Strübi heiße, fiel ihm ein, wie sein Vater in den letzten Tagen seiner Krankheit von diesem Kameraden phantasiert und oft angstvoll seinen Namen gerufen habe.

„Der arm’ Tropf! Ja, ja, so kann's gehen,“ sagte Gritli. Aber trotz dieser traurigen Sachen verlangte es sie, noch mehr von ihm zu hören. Es heimelte sie doch an, und sie wurde nicht satt mit Fragen und Hören.

Da erzählte der Junge denn wieder neue Kapitel, so von den intimeren: wie es ihnen, nachdem die Mutter gestorben, besonders schlecht gegangen, wie sie herumgewandert, Kellner, Straßenkehrer, Eseltreiber, alles mögliche gewesen seien, und er, der Junge, fast auch Artist geworden wäre, wie der Alte am Anfang drüben eine Zeitlang gewesen.

„Was, Artist ?"

„Einer, der Kraftproduktionen gibt."

Gritli starrte den Burschen an ~

„Ein Seiltänzer ?"

„Nein, das nicht, sondern ein Athlet, aber bloß in jungen Jahren. Er sei durch Zufall dazu gekommen, hat er mir erzählt, als es ihm einmal besonders miserabel ging. Dann brach er aber das Bein, und da war's fertig. Nachher ging er nach Kalifornien."

Gritli war außer sich über den einstigen Liebsten wie über diesen da, der in seinem sauberen Sonntagsgewand so anständig aussah und von solchen Dingen berichtete. Pfui Teufel! Einer, der vor den Leuten Stühle und Flaschen auf der Nase tanzen läßt! Der Schweiß brach ihr darüber aus. Sie mußte stehen bleiben und sah ängstlich vor- und rückwärts auf dem Waldweg, wo sie eben gingen, ob auch niemand die Schande gehört habe.

„Ruedi," sprach sie gedämpft, „das darfst du niemand sagen, niemand außer mir - nicht einmal der Käther, ~ sonst ist es aus. Du mußt ein Mensch mit einem ehrlichen Beruf werden, ein Bürgersmann, wie es sich gehört; so will ich dir helfen, deinem Vater selig zulieb’. Denk daran, wie er durch seine unüberlegte Leibesstärke ein elender Mensch geworden ist. Denk dran in deinem Turnverein!! Ja, ja + sonst geht es mit uns so nicht weiter!"

Er schaute sie ungläubig lächelnd an und hielt ihr den Strauß hin, den er während ihrer Predigt gepflückt hatte. Es lag oft etwas von der Treuherzigkeit eines großen jungen Hundes in seinem Blick, etwas Rührendes, das um Gutsein zu betteln schien.

Das ging ihr immer warm durch und durch, weil es sie an den erinnerte, der – ach Gott! sie schämte sich in die Seele hinein – den Leuten fürs Geld hatte Possen vormachen müssen ~ einer, der ehrlich Rollenpuß hieß und Burger von Zürich war. Wie mochte es ihm ergangen sein, daß er, der doch sein Handwerk verstanden, so weit kam ?

Ruedi erklärte ihr, daß man da drüben allerlei treibe, ohne deswegen verachtet zu werden; das sei anders als hier.

Nun, es war ihr ein Trost, daß wenigstens das Weltmeer zwischen hier und diesem vergangenen Athletentum lag – das Weltmeer und nun auch die Ewigkeit.

Bei diesem Gedanken beruhigte sie sich allgemach. Und dann sorgte Ruedi für Zerstreuung, indem er einige Schnurren vom Vater erzählte, die bewiesen, daß doch nicht alles so traurig gewesen, wie Gritli sich vorstellte.

Unter solchen Gesprächen kamen sie aus dem Waldweg hinaus auf eine Wiese, von welcher man eine weite, prächtige Aussicht über die Landschaft hatte. Unweit stand ein altes Bauernwirtshaus, wo man Sonntags Wein und Wähen !) haben konnte. Einige Gäste saßen an den festgezimmerten Tischen, und ein paar junge Leute drehten sich auf dem frischgemähten Boden nach einer Mundharmonika.

„Hast Hunger ?" fragte Gritli.

„O ja," war die freudige Antwort.

So rückten sie denn auch an einen der langen, wettergrauen Tische, deren Bänke so hoch waren, daß Gritlis Füße in der Luft baumelten.

Der saure Seewein und der Böllenwähen ?) schmeckten ihnen nach dem Spaziergang vortrefflich, besonders Ruedi, der immer essen konnte. Sie wurden nach und nach so vergnügt dabei, daß Ruedi die ganze Moralpredigt vergaß, welche der eigentliche Zweck dieses Spaziergangs gewesen, und auch dem Gritli endlich alles in mildem Duft verschwamm, die Stühle und Flaschen, welche sie auf der Nase des armen Herzliebsten tanzen sah, die grollende Käther daheim, überhaupt aller Kummer und Ärger, und sie nur die schöne, leuchtende Sonntagswelt ringsum fühlte.

Auf einmal stand Ruedi bei dem jungen Volk, das jetzt Spiele machte; er sprang und haschte mit. Leicht wie ein Hirsch bewegte er sich.

Gritli sah still von ihrem Platz aus zu, als ob sie träumte. Der Wein war ihr ein wenig in den Kopf und die Füße gegangen. Eine merkwürdige Friedseligkeit hob sie wie in einen blauen Himmel empor. Es summte ihr leis in den Ohren; ein wohliges Lüftchen strich ihr über die Stirn. – Der Ruedi! Zeit und Ewigkeit schienen sanfst ineinander zu fließen und die Gestalten der eignen Jugend da unten auf grüner Wiese sich zu tummeln.

* * *

Was den Rollenputzen bis jetzt in ihrem ruhigen Leben an Mißgeschick widerfahren, war immer an einem Montag geschehen. Sie nannten ihn deshalb ihren Unglückstag. Und das bewahrheitete sich einmal wieder.

Herr Schneebeli kam heute früher, als zu der gewohnten Unterhaltungszeit über die Straße, mit einem Lächeln, aus dem die Hölle wetterleuchtete.

„Also, ihr Frauen," sagte er wie ein Spaßvogel, „jetzt werden auch da die Fledermäus’ ausgetrieben."

„Wieso ?"

„Ihr werdet's ja wohl wissen, daß bei euch gebaut wird und das Goldgrübli fortkommt."

Die Schwestern standen wie versteinert.

Gritli sank, einer Ohnmacht nahe, gegen einen Sack Erbsen.

„Ja, ja, so ists! In aller Stille sind sie einig geworden. Wartet nur, bis es euch der Hausherr selber sagt."

Schon oft war von dieser Möglichkeit die Rede gewesen. Nie aber hatten sie daran geglaubt oder glauben wollen, sondern im Goldgrübli, mit dem Goldgrübli einst von der Erde zu verschwinden gehofft. Sie sahen sich an, als stünden sie nun wirklich vor dem Ende der Dinge.

„Jetzt kommt die neue Zeit halt auch über euch. Lang genug, bei Gott, habt ihr in dem warmen Nest gesessen. Deswegen braucht ihr noch nicht am Hungertuch zu nagen."

„Was nicht ist, kann werden."

„Versündig dich nicht, Käther," bat Gritli schwach.

„Schweig," befahl diese, schon wieder gefaßt und aufrecht wie ein Feldherr. „Du bleibst da, und ich gehe aus der Stelle, um zu erfahren, ob das Unglück wahr ist, das einem die christlichen Mitmenschen so voller Freuden verkündigen."

Herr Schneebeli lachte.

„Auf das hin mach’ ich einer jeden von euch noch einmal einen Heiratsantrag."

Käther wackelte einen Moment sschnaubend mit dem Kopfe.

„Lieber in d' Spanweid’!" !) warf sie ihm unter einem Wutblick zu und war darauf auch schon mit großen Schritten aus dem Laden.

Wie ein Wetter brach sie bei dem Hausherrn ein, der gerade in Hemdärmeln vor einem stärkenden Frühschoppen saß. Er stemmte bei ihrem Anblick die Hände auf den Tisch, als wollte er sich wenigstens dieser Verschanzung versichern. Und da ging es auch gleich los.

Richtig, es war so! Das Unglück war geschehen, das alte Haus mitsamt seinem alten Schwalbennest, dem Goldgrübli, verkauft. Es sollte zu einem neumodischen Restaurant umgebaut werden. Er habe, sagte der Hausherr, weil alles so schnell gegangen sei, die Rollenputz-Schwestern wenigstens noch einen Sonntag in Ruh’ lassen wollen, sonst würden sie es schon gestern erfahren haben.

Käther starrte ihn eine Weile fassungslos an. Auf einmal lachte sie, ohne das blasse Gesicht zu verziehen.

„So, so ~ noch ein Wirtshaus zu den andern? Weil wir noch nicht genug rauschige Leut’ in unsrer Gegend haben? Und dafür die soliden austreiben, die ihr Lebtag pünktlich den Zins bezahlt haben auf Tag und Stunde. Oder ist's etwa nicht so ?"

„Allen Respekt, Frau Boßhardt; dafür kennt man Sie! Es ist mir ja selber leid –"

Da wurde es rot um ihre Augen.

„Wissen Sie eigentlich, wie lange wir da sind? Zweiundfünfzig Jahr'’, in Ehren und Ansehen! Seit Michaeli eintausendachthundertsiebenundzwanzig. Jawohl! Das ist eine schöne Zeit, bigost, die nicht jeder so erlebt heutzutag', wo die größten Herren im Handumkehren verlumpen und die kleinen Leut' unglücklich machen. Wir haben nie jemand übervorteilt oder unglücklich gemacht. Deswegen hätten Sie uns wohl im Lädeli lassen können, bis der lieb' Gott selber ein End’ gemacht hätte. Aber der Spekulativgeist, der läßt halt heutigentags niemand in Ruh'."

„Sitzen Sie doch, Frau Boßhardt,"“ sagte der Hausherr fast schüchtern, um ihre Rede zu unterbrechen.

Aber sie beachtete es nicht. Sie sprach, jammerte, polterte unaufhaltsam weiter, bis der Hausherr, bei allem Respekt vor den zweiundfünfzig Jahren, sich endlich nicht anders zu helfen wußte, als daß er ein bißchen grob wurde, was dann eine Verständigung herbeiführte.

Wie gebrochen kehrte Käther in den Laden zurück und fand Gritli in ähnlichem Zustand vor. Sie wog zu viel und gab zu wenig Geld heraus, langte einen Besen herab, wenn man Schuhwichse haben wollte – sie war wie aus dem Häuschen. Und doch rührte Käther keine Hand dabei, sah stumpf dem Wirrwarr zu. Das war das ärgste und zeigte, wie tief ihr das immer noch Unglaubliche zu Herzen ging. Sie aßen beide nichts zu Mittag, kein Bröselein, keinen Schluck Wein; es war ihnen so elend, daß sie sogar den Laden früher schließen mußten.

Doch das war nur der Anfang. Es kam noch verschiedenes nach. Denn jetzt erst meinten sie das Leben, die Menschen eigentlich kennen zu lernen, den Geschäftsneid, die Bosheit und Schadenfreude gewisser Nachbarkonkurrenten, die ihnen schon längst ihr Goldgrübli mißgönnt, die hinter großen Schaufenstern auf Kundschaften lauern mußten, während sie, die Rollenputzen, das nie nötig gehabt hatten. Wie ein David unter einem Kreis von Goliathen hatte das Goldgrübli siegreich alle Kämpfe bestanden. Seine Besitzerinnen lächellen nur, wenn von dem Schwindel die Rede war, der jetzt gäng und gäbe, ja fast notwendig sei. Sie brauchten das nicht. Sie hatten ihre feste Kundschaft, von welcher manche, die heute noch bei ihnen einsprachen, sie schon in der Blüte ihrer Jahre gekannt, als sie damals schon sich eines wohlbegründeten Rufes erfreuten. Als man nun erfuhr, daß auch diese Feste des Glücks fallen müsse, gab es natürlich viel Anlaß zu Reden und Betrachtungen. Man hatte aber in den guten Tagen der Rollenputzen nicht umsonst die schönsten Grobheiten einstecken müssen, wenn man es einmal gewagt, in die unfehlbare Güte ihrer Handelsspezialitäten Zweifel zu setzen. Jetzt kam die Nachwirkung. Man wollte sehen, wie sie sich jezt, gleichsam als fallende Größen, benahmen, und mancher machte sich einen Spaß daraus, die Löwinnen in ihnen zu reizen. Käther, obgleich ins Lebensmark getroffen, hielt sich aufrecht; ja, sie wurde streitbarer denn je. Grilli dagegen verzehrte sich in Herzeleid und dachte ans Sterben. Handelte es sich doch nicht alleen um den Zusammenbruch der guten, alten Zeit – ach! wie ein verlorenes Paradies erschien ihnen jetzt schon der geliebte enge Gassenwinkel, bevor sie ihn verlassen hatten + ; auch ihr Inneres, ihr Glaube an die Menschen war verbittert. Überall Groll und Streit. Sogar mit den Wüests waren sie überworfen, weil diese ihre Angelegenheit philosophisch beurteilten, als etwas im Jortschritt der Zeit Liegendes, über das man nicht so zetern müsse. Zudem hatten sie, als radikale Freigeister, in der besten Absicht, die Gebeugten aufzuheitern, Käthers Behauptung, daß das Jubiläum schuld an allem sei ~ wenn man sein Glück an die große Glocke hänge, sei es vorbei damit , hell ausgelacht. Da kehrte sie ihnen den Rücken, und seitdem kamen sie des Abends nicht mehr zusammen. Die Rollenputzen blieben in ihrer Stube, ganz verbohrt in Gram. Dieses Alleinsein war aber das schlimmste; denn was sich da Luft machte, sprang immer nur von einem aufs andre, von Käther auf Gritli, von Gritli auf Käther. Die Ärgernisse des ganzen Lebens zogen herauf ; es war eine reine Heerschau. Und den Schluß bildete immer wieder die bittere Gegenwart, für die nun auch der Ruedi noch halb und halb veranwortlich gemacht wurde, indem der Unfriede, das Unglück erst angefangen, seit er da war. Wo würde man den alten Segen wiederfinden? Und was konnte mit dem hergelaufenen Buben noch werden, dem es schon so wohl in der Heimat war, daß er es nicht einmal nötig fand, Käther reumütig zu bitten, ob er des Sonntags wieder zum Essen kommen dürfe. Er blieb richtig aus, der Trotzkopf, der Bettelprinz, der –

Das aber schnitt Gritli am tiefsten ins Herz, wenn es in dieser Tonart ging, und sie hielt der Käther einmal, als der Kelch überfloß, eine glühende Standrede, wie sie eine Heimsuchung eigentlich verdienten, da sie bisher immer nur für sich gelebt und gespart und nie recht an andre gedacht hätten.

„Mein Testament wird's einmal zeigen, ob ich an andre gedacht habe," gab Käther zur Antwort.

„Das ist keine Kunst, wenn man mit dem Geld nichts mehr machen kann. Bei Lebzeiten liebreich sein, wirken, solange es Tag ist! ~ Wer wird uns einmal eine Träne weihen, oder eine schöne Grabschrift setzen?"

„Die mach’ ich selber; dann hat niemand Mühe damit. Und was die Tränen und das Liebreichsein anbetrifft, so weiß ich, daß du nur wieder deinen Ruedi im Kopf hast. Das ist ja schon wie eine Liebschaft, läufst heimlich mit ihm, weil er nicht zu uns kommen darf, — saolltest dich in Grund und Boden schämen!"

„Nein, ich schäme mich nicht. Ich schüttle nicht ab, was mir der Herrgott anferlegt hat. Ich bin nicht so hart wie du!"

Gritli sprach es zitternd, mit Tränen, die ihr hastig über die Wangen liefen, aber tapfer. Es klang eigentümlich entschlossen, wie eine Lossagung, eine Fehde auf immer.

Da spürte Käther plötzlich ein Weh, als hätte sie einen Stich bekommen. Also auch das Gritli, die als jüngere sie wie eine Mutter respektiert, ging jetzt offen andre Wege, hatte etwas für ihr Herz gefunden, nach dem es ssich vielleicht immer in der Stille gesehnt, und brauchte sie nicht mehr.

Der rauhen Käther war, als schwanke der ganze alte Erdboden unter ihr.

Statt aber die verborgene Wehmut laut werden zu lassen, verrannte sie sich in alle möglichen Düsternisse der Zukunft, die sie mit so schwarzen Farben ausmalte, daß es ihr selber, wie Gritli, immer banger wurde, daß sie sich endlich kurzweg den Tod herbeiwünsschten und beide weinend im Dunkeln saßen, sich nicht mehr zu streiten und auch nicht zu trösten wußten.

Da klopfte es an ihre Tür. Der Verbannte, der Ruedi, trat ganz unvermutet herein. Gritli erschrak. Aber trotz allem erschien er wie ein Erlöser.

Sie sahen ihn kaum, so finster war es in der Stube.

Gritli zündete die Lampe an.

Da stand er in seiner siebzehnjährigen Rotwangigkeit vor ihnen, mit seinem hellen, guten Gesicht, und schaute fast mitleidig die zwei vergrämten Frauen an. Die Hoffnung selber schien in der Stube zu stehen.

Er habe heute in seinem Geschäft gehört, sagte er, daß in der Nähe des Goldgrübli durch besondere Umstände ein Laden frei würde; deshalb sei er gekommen, um es sogleich mitzuteilen.

Käther schüttelte den Kopf. Sie kannte den Laden wohl. Das sollten sie, die am Platze waren, nicht eher erfahren als er?

Aber er wußte es zu erklären. Er kam eben aus einer Sphäre des Handels, die über der ihrigen stand, wo man die Geschicke kennt, ehe sie sich vollziehen.

Sie hatten in ihrer Ratlosigkeit noch nicht ernstlich Umschau nach einem neuen Obdach gehalten, und doch hieß es: je eher, je besser. Das war so ein Laden mit großen Fensterscheiben, aus denen der Schwindel schaut, und dahinter die Sorgen stecken! So sollte es nun auch für sie kommen.

Ruedi gab sich redlich Mühe, es den Frauen auszureden. Er tat es mit der Zuversicht seiner Jugend und doch vernünftig, so daß nicht bloß Gritli, auch Käther in anhörte. Gegen die Gestrenge, die ihm den Sonntagsbraten entzogen, trug er keine Spur von Groll, sondern erbot sich im Gegenteil zu allen möglichen Diensten. Er wollte den Auszug besorgen, wenn die Zeit da sein würde; alles wollte er machen, als gehörte er ganz und gar zu ihnen.

Ein frischer Luftzug schien durch die dumpfe Sorgenstube zu streichen. Nach und nach kam wirklich wieder ein Schimmer von Mut in die zerknitterten Seelen. Käther fuhr dem Jungen zwar öfters mit der ganzen Wucht ihrer Erfahrung über den Mund, zeigte aber doch eine gewisse brummende Besänftigung. Beim Fortgehen sagte sie dem Ruedi sogar, er könne, wenn er sonst keine Dummheiten im Kopf habe, am Sonntag zum Essen kommen.

Gritli spitzte die Ohren dabei. Seit Tagen und Nächten zum erstenmal glomm in ihrem Gemüt wieder ein Fünkchen furchtsamer Freude auf.

* * *

Der bedeutsamste Moment im Leben der Rollenpuzen ~ ihr Abschied vom Goldgrübli ~ war überstanden.

Es hatte ihnen schier das Herz abgedrückt und beide um Jahre gealtert. Aber es war ein Akt, an dem nicht bloß das Niederdorf, nein, die Stadt Zürich, nach Käthers Ansicht, teilgenommen. Und das hatte sie erhoben, das Bittere versüßt. In den Zeitungen stand es, als sie den ehrwürdigen Winkel verließen, ihr Name, die lange Zeitdauer, während welcher das aufrechte Schwesternpaar hier gehaust – „ein lebendes Wahrzeichen ihrer Gegend" hatte einer geschrieben. Sogar ein Gedicht kam im Tagblatt, betitelt: „Vergänglichkeit, welches Vater Wüesst als Friedensbrücke hatte einrücken lassen, eine Art Chronik und Hymnus zugleich. Kurz, es gab Ehren, die nicht jeder erlebt.

Seitdem hatte sich der Sommer zur Rüste geneigt. Das Goldgrübli war bereits dem Erdboden gleich gemacht, und alles war schon wieder Vergangenheit.

Die Zeitungsnotizen, sowie das Gedicht hingen als Ehrenzeichen unter Glas und Ramen überm Kanapee, zum „unvergeßlichen“ Andenken. Und die Schwestern saßen geraume Weile schon im neuen Laden. Gritli zog sich aus Gewohnheit noch immer in ein Nichts zusammen, wenn Käther herumhantierte, obgleich sie jetzt Platz genug hatten. Die Raumverhältnisse kamen ihnen am Anfang unheimlich weit vor. Alles war anders, ein neuer Lebensabschnitt angebrochen. Doch die Hauptsache, der Segen der Gerechten, war mit ihnen gezogen :: die alte Kundschaft.

„Haltet sie jetzt nur fest!“ wünschte Herr Schneebeli. ,Die Zeit der selbstgemachten Nudeln und Fideli ist auch vorbei. Da nützt der Schnupf auf dem Ladentisch nichts mehr."

Dunkel fühlten sie, daß der Nachbar recht habe. Die neue Zeit hatte sie aus ihrem Winkelparadies vertrieben. Das war der Anfang. Von allen Seiten blies ein anderer Wind in der Welt.

Herr Schneebeli mußte jetzt in den Laden kommen, um sseine Neckereien loszulassen. Das machte seine Besuche seltener. Wie viel mehr aber vermißten die Rollenputzen selbst den einstigen offenen Posten, von dem man so unterhaltend das Leben der Straße mit erlebt hatte. Sie kamen sich jezt wie Gefangene vor.

Das alles machte sie stiller; ein Hauch von Resignation lag über ihnen. Sie waren nicht mehr so scharf wehrbar wie einst, im Gegenteil, oft auffallend nachdenksam, zum philosophieren aufgelegt. Diese Neigung führte sie aufs neue mit den Wüests zusammen, trotz ihrer verschiedenen Standpunkte. Niemand verstand so auf ihre Gedanken einzugehen, wie dieses Trifolium, das die Höhen und Abgründe des Daseins kennen gelernt und doch mit der Heiterkeit der Weisen über allem stand. So vereinigte sie mancher Abend wieder auf der Zinne oder um den Tisch vor dem verrutschten Ledersofa, wo Regi mit Vorliebe ihre Dichterträume spann. Hier lernten die Rollenputzen, soweit dies möglich war, das Verlorene verschmerzen und wieder mutiger auf kommende Tage schauen.

Ruedi trug dazu aber auch sein Teil bei. Seit dem Auszug war er in Käthers Gunst gestiegen. Seine Behendigkeit, die überall am rechten Platz anzufasssen wußte, hatte ihn in Respekt gesetzt, und das war bei ihr, der Männerverächterin, mehr als Liebe. Er übernahm auch alle möglichen Schreibereien und Rechnereien, die früher Vater Wüesst besorgen mußte. Sie konnten ihn wohl brauchen, seit der Sturm der Ereignisse das Schwesternpaar oft so verzagt und wirr im Kopfe gemacht, daß sie schon daran dachten, in die Pfrund’ gehen zu müssen. Ohne Jederlesens setzte er sich neben Käther aufs Kanapee, nahm ihre primitiv geführten Geschästsbücher her und arbeitete in einer Stunde zusammen, womit sie sich drei Abende plagte. Er hatte das Schnelllernen und Begreifen einer wildwüchsigen Jugend und dazu. die praktische Ader seines Volkes. Käther, mit der Brille auf der Nase, sah ihm staunend zu, wenn seine gesunde, rote Jünglingshand so flink auf dem Papier hinfuhr. Sie traute dieser Geschwindigkeit nicht und behielt sich stets die Kontrolle vor, steckte ihm aber auch manchmal etwas zu, an dem er den Barometerstand ihrer Huld erkannte.

Sein Verhalten hatte sie endlich mit dem Turnverein so weit ausgesöhnt, daß er es eines Tages wagen konnte, sie zu einem Turnfest einzuladen, bei dem er sich einen Preis holen wollte.

„So, gleich einen Preis, du Großhans!" sagte Käther. „Meinst, sie hätten hier nur auf dich gewartet, daß du ihnen die Preise wegschnappst ?"

Sie wollten nicht gleich daran, Gritli schon gar nicht, von wegen der alten Erinnerungen. Da sprach Käther das entscheidende Wort, daß sie doch sehen wolle, was der Bursch könne, wenn es mit dem Preisholen nicht nur eine Prahlerei sei.

Und richtig fuhren sie am nächsten Sonntag Nachmittag ~ das Fest fand in einer der Ortschaften am Zürichsee !statt ~ mit dem Salondampfer von dannen. Es war ein Vergnügen, das sie sich selten gönnten, darum schlug ihnen das Herz wirklich einmal wieder höher auf, als das majestätische Schiff, mit der festlich wehenden eidgenössischen Fahne, an den sonnigen Geländen dahinfuhr.

Die Familie Wüest hatte sich den Rollenputzen angeschlossen, Regi in hellen Gewändern mit langen, weißen Fadenhandschuhen und einem Strohhut, von dem ganze Blumengebüsche winkten. Sie wollte nicht bloß den Triumph Ruedis sehen, sondern selber ein wenig triumphieren.

Der Turnplatz war auf einer halb von Wald umschlossenen Wiese, auf die das Gebirge im vollen Sonnenglanz herüberschimmerte. Es herrschte bereits fröhliches Treiben um denselbenobwohl die Turner noch nicht da waren. Gritli und Käther nahmen ehrbar ihre Zuschauerplätze ein, während die Wüests wie zu Hause taten und von der fliegenden Bierschenke jenseits der Barriere sich gleich einen Trunk reichen ließen. Dann begann eine Blechmusik lustig zu schmettern. Der Plan füllte sich. Die Turner zogen auf.

Zum erstenmal, so alt sie waren, sahen die Rollenputzen solch eine Jünglingsversammlung bei ihren Übungen und Spielen. Der grüne Wiesenplan war plötzlich voll Jugend und Lebenslust. Das sprang und schwang und überschlug sich federleicht und doch nach gemessenen Regeln, als hätten die Körper keine Knochen, so biegsam behende bewegten sie sich. Und dabei leuchteten Augen und Wangen in sprühender Freude an der eigenen Kraft.

Die Schwestern bekamen jetzt eine andere Meinung über Ruedis Leidenschaft. Gritli besonders sah mit einer Mischung von Angst und bangem Stolz Ruedis Künste. „Kein Wunder, daß er's so kann,‘ dachte sie und hatte dabei immer den Alten, wie in verjüngter Gestalt, vor Augen. Was sie hier aber in Lust und Freiheit trieben, hatte er ums Brot getan. Dem Jungen, das schwor sie sich in dieser Stunde, sollte es besser gehen als seinem weltverschlagenen Vater. War er doch das letzte Reis am alten Stamm der Rollenputzen und in seiner Jugend so eine Art Abendschein für das anrückende Alter der zwei Schwestern. Während die Musik die sröhlichsten Weisen spielte, dachte Gritli an die ernsthaftesten Dinge, an Tod und Hinterlassenschaft, und was der alte Ruedi dereinst im Jenseits sagen werde, wenn sie ihm von seinem Jungen berichte. ~

Nachdem Turner und Zuschauer wacker das Jhrige geleistet, kam ein anderes Schauspiel, das Gritli aus ihrem Sinnen weckte. Eine Gruppe Mädchen, weiß gekleidet, mit gesunden, bräunlichen Gesichtern und Händen, trat vor, um den Siegern die Preise zu reichen, allerlei Gaben und Kränze aus Eichenlaub, die sie unter schmetterndem Tusch dem Betreffenden aufs Haupt setzten. Einige beugten ritterlich das Knie, den funkelnden Blick kühn in die Augen der Schönen tauchend ; andre waren durch diese Nähe mit einemmal unbeholfen und blöde. Auch Ruedi empfing unter großer Spannung des Schwesterpaares einen Preis und stand nachher mit dem frischen Eichenkranz, eine Uhr emporhaltend, vor ihnen.

Gritli wurde ganz rot vor Freude, und die Wüests beteiligten sich in vollen Tönen an dieser quasi Familienehre. Regi rief mit erhobener Stimme: „Jetzt ist der Ruedi erst recht ein Schweizer geworden.“

Regula wäre nun gern ein wenig unter diesen Jünglingen gewesen, um sich genial des Lebens zu freuen, das Trinkhorn zu kredenzen und dergleichen mehr. Sie hatte sich nicht umsonst so schön herausgeputzt.

Die Turner zogen aber, geschmückt, wie sie waren, in flottem Marsch davon, einem Fesstessen zu, wo die vaterländische Sappho vermutlich überflüssig geworden wäre. Freilich sollte später am Abend ein Tanzkränzchen folgen. Doch das war für Regi wegen ihres steifen Fußes ein verschlossenes Paradies, und nur zusehen, wie andere sich in die Arme und tanzend davonfliegen, das war ihre Sache nicht. So fuhr sie denn mit ihren Eltern und den Rollenputzen, nachdem sie sich gemeinsam irgendwo gütlich getan, bei Sternenschein träumerisch nach Hause.

* * *

Auf der Peterhofstatt, dem geräumigen Platz vor der St. Peterskirche, sstanden die neuen Glocken, blumengeschmückt, bereit zum Aufzug.

Seit Monaten war kein Ton mehr vom Turm erklungen, seit jenem Frühlingsabend, als die ehrwürdigen alten, die jahrhunderte lang geläutet, zum lettenmal geschwungen worden waren. Nun harrten diese hellschimmernden Erzformen, die wiederum in Jahrhunderte hinein, in unbekannte Fernen der Zukunft läuten sollten, der Weihe.

Das war ein Ereignis, welches die Schwestern Rollenput, wie alles, was ihre liebe Vaterstadt betraf, auf das lebhafteste beschäftigte. Sie gehörten zwar nicht in jene Gemeinde, aber ihre religiöse Richtung, namentlich die Gritlis, die immer einen stillen Zug zur Schönheit hatte, führte sie dorthin. Mit besonderer Erbauung hörten sie da die Predigten, das Spiel der neuen Orgel, die belehrenden Sonntagabendvorträge, aus denen sie den unkirchlichen Wüessts gar manches begeistert, wenn auch oft verkehrt, heimbrachten. St. Peter war für sie der ideale Ort ihrer Sonntagsfeier, die Heimat ihres sonntäglichen Menschen. Demgemäß hatten sie freudig beigesteuert, als es sich um die Mittel für das neue Geläute handelte.

Käther und Gritli lösten sich gegenseitig im Laden ab, um die Glocken zu besichtigen, bevor sie in ihre luftige Höhe kamen. Sie besaßen beide einen gewissen historischen Sinn für solche Ereignisse, die sie sich nicht gern entgehen ließen. Zum Alt des Aufzuges, der festlich unter Beteiligung der Schuljugend, stattfinden sollte, überlegten sie geradezu, ob sie den Laden schließen wollten. Da dies aber auf einen Markttag fiel, also doch nicht anging, so gewährte Käther den Genuß des Schauspiels großmütig dem Gritli, für die so etwas Ambrosia war.

Weit standen die Schallfenster der Glockenstube offen. Der behäbige Petersturm schaute wie erwartend herab auf das Gewimmel der Menge unten, auf die allen Häuser und schattigen Gäßchen, die sich da ringsum drängen und schlängeln, ein Stück alten Zürichs, wo die Schwalben sich noch traulich anbauen, und aus allen Winkeln das Ehedem guckt.

Auf freiem Gerüst standen die Glocken da im festlichen Schmuck der Blumengewinde. Wie Gold glänzte das Metall, leuchteten die ewigen Worte ihrer Inschristen, als schlummerte auch der Ruf goldener Zeiten in ihnen. Und rings umwogte sie das aufblühende Geschlecht, junge, frohe Menschenkinder, die den Augenblick des Zugreifens nicht erwarten konnten.

Gritli hatte eine Freundin auf der Peterhosstatt, ebenfalls unverheiratet, die hinter ihren Geraniumstöcken am Fenster ein beschauliches Leben als Hippenbäckerin führte. Von ihrer Stube im dritten Stock konnte man herrlich die Vorgänge auf dem Kirchenplatz sehen. Auch für sie war das eine Art Feiertag heute, dem zu Ehren sie ihrem Gast von dem selbstfabrizierten Gepäck und dito Nußwasser vorssetzte. Kaum waren die beiden in der einstweiligen Stärkung begriffen, so verstummte das Gesumme unten, und die Feier begann mit Weihespruch und Gesang. Seltsam lieblich klang der Chorus all dieser Kinderstimmen an der altehrwürdigen Stätte. Töne aus Menschenbrust flogen den ehernen Stimmen voraus in die Höhe.

Und dann kam die Arbeit. Die Stränge bewegten sich. Hunderte von Händen, groß und klein, hielten sie fest, zogen an.

Ziehet, ziehet, hebt!

Alles schwieg. Aller Blicke waren auf die Glocke gerichtet.

Langsam hob sich die erste –

Sie bewegt sich, schwebt!

Heller Jubel brauste auf. Die Freude begleitete sie auf ihrem Flug, dem stillen, ruhigen Emporschweben ~ über die Menschen ~ die Stadt ~ ins Blau des Himmels tauchend, bevor sie einzog in ihre Glockenstube.

Gritli sah ernst und ergriffen dem Schauspiel zu. Es schwindelte ihr im Überdenken der Zeit, die vor diesem Augenblick lag, und die nach ihm dahingehen würde, bis hier wiederum einmal Glocken aufgezogen werden. Wie der Morgen einer andern Zeit erschien ihr das alles, der helle Gesang, die Kinderscharen, die alle frohäugig aufblickten in weite, blaue Fernen des Lebens, während sie selber dem Abend, der Zeit zuschritt, wo es über eine Weile heißen wird: Sie ruhen aus von ihrer Arbeit, und ihre Werke folgen ihnen nach. Welche Werke folgten ihr dereinst? Sie wußte keines, als daß sie brav Nudeln, Fideli und Gefrörssalbe gemacht, tapfer gespart und niemand übervorteilt hatte. Es flimmerte vor Gritlis Augen über all dem Nachdenken und Hinaufblicken in die sonnige Höhe, wo nun bald die Glocke an ihrem Ziele war.

Auf einmal kam es wie ein Gesicht über Gritli. Der Ruedi mit seinem Eichenkranze auf dem Kopfe stand vor ihr, rotwangig, lachend, die helle Zukunft in Person. An dem Abend, als die alten Peterglocken das lette Mal geläutet hatten, war er gekommen, mager, ausgehungert, ein armer Fremdling mit dem Geleitbrief des Toten, ein Vermächtnis dessen, der ihr doch einst eine Ahnung von den Wonnen des Daseins gegeben. So bitter die Erinnerung gewesen, jetzt war sie verklärt. Und jetzt auch wußte Gritli plöglich, was ein Werk wäre: aus dem Jungen zu machen, was der alte nicht hatte werden können, etwas Rechtes, ein aufrechter Bürger und Rollenputz, mit eigenem Geschäft und realem Boden unter den Füßen, der, wenn die Zeit gekommen, ohne Leichtsinn einen Hausstand gründen und Kinder haben kann, wie das einmal in der Weltordnung ist, ~ kleine Ruedeli, vielleicht auch ein Gritli – –

Die Glocke war oben angekommen. Hundertstimmiger Jubel brach los.

Gritli erschrak darob, wie jemand, der jäh aus dem Schlaf geweckt wird, und ihr war, als fiele sie aus einem Himmel voll kosender und musizierender Engelein zur Erde zurück. Ein Schwindel befiel sie, aber es war ein wohliger, der wie ein lichtes Wölkchen ihre Sinne umnebelte. Sie lächelte ganz eigen, fuhr nach der Stirn und glitt auf den nächsten Stuhl.

„Was hast du?" fragte die Freundin und holte sogleich das Nußwassser herbei.

„Es ist nur vom Hinaufsschauen,“" sagte Gritli, „und von dem Merkwürdigen, welches man da mit erlebt. – Man macht doch so seine Betrachtungen –"

„Natürlich, wenn man ein rechter Christ ist," bekräftigte die Hippenbäckerin mit einer Baßstimme, die jedem Mann Ehre gemacht hätte. „Trink einmal."

Gritli folgte und aß auch etwas, aber zerstreut, in Gedanken.

Schon wurden Anstalten zum Aufzug der zweiten Glocke gemacht. Gleichzeitig schwankte von einem der Gäßchen her eine verheißungsvolle Ladung für Trunk und Imbiß nach getaner Arbeit.

Wieder wurden die Stränge gezogen, rührten sich alle die Hände, bis das denkwürdige Geschäft vollbracht war.

Dann gab es eine fröhliche Stärkung, woran jung und alt teilnahm. Und während die Rufer der kommenden Zeit nun still in ihrer Höhe tronten, summte und schallte es unten von den Kinderscharen, den Bürgern dieser kommenden Zeit, die das Heute und Morgen, Vergangenheit und Zukunft verbanden.

Gritli spürte auf einmal etwas wie Gemeinschaft mit ihnen, und ihr Herz war erfüllt von Plänen und einer geheimnisvollen Freude, als sie dann nach Hause ging, um Käther das Erlebte zu berichten.

* * *

Den ersten Sonntag, den ersten Gottesdienst hatten die neuen Glocken eingeläutet in wundervoll mächtiger Harmonie. Alles lauschte auf, als sie ertönten. Eine Botschaft des Himmels schien durch die Lüfte zu hallen.

Käther und Gritli waren in ihren ernsten schwarzen Kirchenkleidern, den besten, die sie sonst nur an den Festtagen trugen, nach St. Peter gegangen, um dem Weihgottesdienst beizuwohnen. Sie betrachteten diesen Tag als einen besonderen in der Geschichte ihrer Vaterstadt und schier auch ihres eignen Lebens.

Abends gingen sie auf die hohe Promenade, um von diesem schönen Punkt das erste Betläuten zu hören. Ruedi hatte sie auf den See hinausrudern wollen; aber sie zogen diesen beschaulichen Abendgang vor.

Es war still unter den alten Bäumen, fast feierlich. Wenig Menschen nur saßen da und dort auf den Bänken, schweigsam in die Landschaft blickend, die in ihrer ganzen Schönheit hier ausgebreitet liegt. Auch die Schwestern ließen sich nieder und betrachteten wieder einmal ihr liebes Zürich mit jenem Sonntagsgefühl, das sich immer einstellte, wenn sie aus ihrem engen Niederdorf hinaus in die Weite kamen. Stolz und eine Art Andacht, aber auch Wehmut und Herzensgroll lagen darin. Dieses reich aufblühende Wesen allerorten verschlang fast unheimlich das Zürich ihr er Erinnerung. Es wurde immer prächtiger und immer fremder. In der Woche schimpften sie weidlich über all das Einreißen und Neubauen, aber am Sonntag sahen sie dann doch mit Gehobenheit, was daraus entstand, und was schön war. Und ihre Kritik erschwieg vollends, wenn sie die Berge, den See einmal wieder so recht im Glanze vor sich sahen – „das Ebige halt", wie Gritli sagte.

Auch heute war das so ein Abendglänzen, die Lüfte herbstlich rein und kühl. Hinter dem Ütli ging die Sonne unter. Die Stadt versank in weiche, blaue Schatten. Aber das Limmattal und einzelne Partien der Seegelände lagen noch im vollen Gold der letzten Strahlen. Und über allem + eine andere Welt und doch so ganz zum Vaterland gehörig + zog ssich in hehrem Leuchten die Alpenkette vom Aufgang bis zum Niedergang der Sonne.

„Käther", hob Gritli nach längerem Schweigen an, „mir geht etwas im Kopf herum, und jetzt möcht' ich es sagen."

„Was?"

Alle Herrlichkeit des Menschen ist wie Gras und wie die Blumen des Feldes –"

„Was predigsst du da?"

„Ich meine nur, daß es so ist, und daß ich etwas abfasssen möchte für meinen Teil – etwas Schriftliches, mit dem du aber auch einverstanden sein mußt. Das schönste Denkmal ist ja doch in den Herzen der Menschen + und wer weiß, wie lange wir noch leben . . ."

Käther tat einen Ruck, um die Schwester von oben bis unten zu betrachten.

Diese saß mit einem merkwürdig sanften, hellen Ausdruck da.

„Aha“, sagte Käther, „jezt kommt der Ruedi wieder aufs Tapet! Ich merk's an deinem Gesicht. ~ Was Schriftliches!

Was Denkmal!"

Gritli lächelte sinnend.

„Ich will machen, daß der Ruedi einmal auf eigenen Füßen stehen kann. Weil ich ledig geblieben bin und seinen Vater nicht haben konnte, so soll es ih m einmal zu gut kommen. Und dieses will ich heute noch aufsetzen, zum Andenken an diesen schönen Sonntag, wo die neuen Glocken zum erstenmal geläutet haben. Es ist mir in den Sinn gekommen, als ich sie aufziehen sah, an dem Platz, wo die alten geläutet haben: Das Goldgrübli ist vom Erdboden verschwunden, als wär’ es nie dagewesen. Also werden auch wir verschwinden! Und das Junge kommt nach, auch auf den Platz, wo wir gewesen sind. Sollen wir ihm nicht so gut als möglich bei Lebzeiten die Stätte bereiten, wo es dann fortgedeihen kann ?"

„Das sollen die, welche Kinder haben," erwiderte Käther trocken. „Mach, was du willst. Ich bleibe bei meinen Legaten, die ich aufgesetzt habe. Potztausend! Meinst du, es sei mir gleich, daß es im Tagblatt gekommen ist, als wir aus dem Goldgrübli haben fort müssen? Das schreibt man nicht von jedermann! Und drum soll die Stadt Zürich dann noch einmal die Käther Rollenputz kennen lernen, wenn sie von hinnen gegangen iste. Jetzt weißt du meine Meinung."

Als sie mit ihren verschiedenen Beglückungsideen so gegeneinander losrückten und, wie das meist geschah, in allem Eifer sich warm stritten, ertönte vom Peterturm her voll und tief und unendlich weich das Geläute der großen Glocke.

Da versstummten sie und horchten andächtig auf. Kein Wort kam weiter von ihren beredten Lippen.

Es klang wie ein Gebet in die tiefe Stille hier oben. Das Blättergeflüster in den alten Baumkronen schien inne zu halten; die Natur selber schien zu lauschen und im Schweigen des Abendrotes der Himmel seine Pforten aufzutun.

* * *

Als die Schwestern heimgekehrt waren, zündeten sie sogleich die Lampe an, nahmen Papier und Schreibzeug vor, alles mit Feierlichkeit. Dann setzte jede ihre Brille auf ~ Gritli hatte bei Licht auch schon schwache Augen , und sie schrieben.

Gritli:

„Zum Angedenken an diesen denkwürdigen, gesegneten Tag, da zum erstenmal die neuen Peterglocken geläutet worden sind, und auch zum Angedenken des Rudolf Rollenpuyt selig, verstorben in Buenos Aires, welcher mir einstens in Ehrbarkeit die Ehe angetragen hat, jedoch nicht einlösen konnte, wegen peinlicher Verhinderung, so vermache ich seinem Sohne Rudolf Rollenputz ohne Kenntnis, bis daß die Zeit erfüllet ist, mein bescheidenes Vermögelein, wie es auf einem Extrabogen aufgeschrieben ist, welchen ich hier beifüge. Gott führe ihn den rechten Weg und lasse ihn einen braven, währsschaften Bürgersmann werden.

Dieses wünschet in Liebe für sein Wohlergehen

Gritli Rollenputz,

Burgerin von Zürichund zeitlebens wohnhaft im Niederdorf."

Käther dagegen setzte auf einem Schriftstück, welches sie unter ihren wichtigsten Papieren hervorholte, bloß kategorisch folgendes hinzu:

„Es bleibt dabei, was ich hier aufgeschrieben habe, bloß daß ich dem Rudolf Rollenputß Jünger bis auf Wiederruf ein Legat von eintausend Franken vermache in Anbetracht er der Letzte von unserm Geschlecht ist, falls er in späterer Ehe nichl noch Buben bekommt, was die Herren bei der Erbschaft dann schon reglieren werden.

Mit Achtung

Katharina Rollenputz,verwitwete Boßhardt."

Sie hatten beide rote Backen, als sie ihre Federn wieder säuberlich auswischten, denn so leicht war es doch nicht gegangen, ein Schriftstück aufzusetzen, das einmal in die Hände von allerlei gelehrten Herren kam und seinen Verfasserinnen Ehre machen sollte. Gritli war dann nach getaner Arbeit aber auch ganz gehoben. Denn zum erstenmal hatte sie das Gefühl, etwas vollbracht zu haben aus dem Liebesreichtum ihres Herzens, der, scheinbar verschüttet gewesen, nun noch einmal wie mit Jugendmacht ans Licht drang.

Später gingen die Schwestern noch zu den Wüests, wo auch Ruedi war, den sie des geheimnisvollen Aktes wegen aus der Stube geschickt hatten, als er kam.

Bei den Wüests ging es recht vergnüglich und lehrreich zu. Ein Dichterfreund Regis saß auf dem Sofa, das Weinglas vor sich, und führte mit ihr große Reden über Literatur, Genie und allerlei Erbärmlichkeiten des Lebens. Er war nämlich sechs Tage der Woche Buchhalter in einer Senf- und Esssigfabrik, am siebenten aber ruhte er aus bei den Musen. Auf diese Bekanntschaft, eine Eroberung neuesten Datums, baute Regi einmal wieder rosige Hoffnungen. Sie trug deshalb ein helles Band lose durchs Haar geschlungen, was ihr einen idealischen Anstrich gab, und deklamierte, um ihr Licht leuchten zu lassen, eine Reihe eigner Gedichte, zuerst düstere, revolutionäre, dann solche, die die Liebe verherrlichten.

Die Alten sahen erwartungsvoll den Dichterfreund an, der sich indessen wohlgemut den Wein schmecken ließ. Käther fand das Zeug einfach langweilig. Ruedi und Gritli aber hörten aufmerksam zu, und manchmal ging beim einen oder andern ein stilles Glänzen durch ihre Augen. Bei dem Jungen war es vielleicht der Vorgeschmack von allerlei Geheimnissen des Lebens ~ bei ihr das Spätrot einer Sonne, die erst nach ihrem Untergang noch einmal für sie aufleuchtete und Rudolf Rollenputz der Ältere hieß.

Rosen im Schnee.

Es klopfte an des Herrn Doktors Tür auf die bekannte vorlauschende Art. Das war natürlich wieder das Vreneli. Was wollte es schon wieder – zum Donner – ~

„Herein !"

„Gott grüeßi Herr Dokter!“ ~ Damit eröffnete das hübsche rotbackige Wehnthaler Maitli jedesmal seine Rede, wenn es dem „Herein“" mehr eine Weisung „Hinaus" anmerkte. – „D’ Fräulein Hedwig lat frage, ob Sie hüt z’Abig daheim seied – nur wege dem Esse."

O Weiber! Nur wegen dem Essen –~ am Sylvesterabend!

„Nein," sagte er mit abgewendetem Gesicht, fast ein wenig verlegen, – „ich fahre nach Zürich."

„So — ?"

Ohne hinzublicken sah er ihre Verwunderung.

Eine Pause.

Das Vreneli blieb bei der Tür stehen – weshalb noch? –~

Da tat er einen ungeduldigen Ruck auf seinem Stuhl. Er saß nämlich am Schreibtisch, um an seine Eltern einen Neujahrsbrief zu verfassen, was für ihn immer eine Schweißarbeit war. Er liebte das Briesschreiben nicht, am wenigsten zur Zeit dieser Allerweltsglückwünsscherei. Aber einige mußten geschrieben werden. Bis heute, am Sylvestertag, hatte er sie hinausgeschoben; jetzt half kein Zögern mehr.

„Ja ~ was gibt's sonst noch?" fuhr es ihm barsch heraus.

„Ich han nu glaubt, Sie welled no öppis säge ."

Schau! Sie will wissen, wohin er geht am heutigen Abend. Entschuldigen soll er sich. Höflichkeit lehren will ihn dieses Bauernkind !

Mit unwirscher Miene sah er sie an, doch im selben Moment zerfloß sein Grimm auch schon. ~ Dieses enttäuschte Gesicht ! Und dasselbe wird sicherlich bei ihrer Herrin der Fall sein wenn sie erfährt, daß er heute abend fortgeht.

Herrgott! In einem solchen Gehege von Weiblichkeit, von Güte, Liebe und Fürsorge stecken! Tausende würden ihn darum beneiden, und er – so gewöhnt man sich an das Gute — gibt sich nicht einmal Mühe, eine ordentliche plausible Ausrede zu ersinnen für diesen verzwickten Fall, denn — aber das braucht das schlaue Vreneli ihm jezt nicht noch vom Gesicht abzulesen. Diese Frauenzimmer haben ohnehin einen Spürsinn, eine Kombinationsgabe, die ihnen unter andern Umständen alle Ehre machen würde.

~ „Mit dem Fräulein Hedwig werde ich selbst reden," sagte er nun schon sanfter; „aber vorher, Vreneli, wohlgemerkt! will ich eine Stunde Ruh’ haben. Also jezt abtreten !“

Er hatte bereits wieder sein freundliches Gesicht. Da lachte auch sie wieder, denn diese Tonart war die gemütliche, und darauf verschwand sie, wie ihr geheißen.

Nun war wieder eine Ruhe um den Schreibenden, so tief, wie kein Poet zum Dichten, kein Pfarrer zum studieren der Neujahrspredigt sie herrlicher wünschen konnte. Vor den Fenstern die stille weite Schneelandschaft, unten ein Stück Zürichsee, darüber der Höhenzug des Albis, im Duft des Wintertages sich verlierend; im Vordergrund weißes Hügelland, da und dort ein Dachfirst, regungslose Bäume, der verschneite Garten. Und dazu eine urbehagliche große Stube, in welcher die Wanduhr tickt und ein respektables Gebäude von einem Kachelofen Wärme spendet, jene gleichmäßige, Tag und Nacht anhaltende Wärme, die einst unsere Vorväter sorglos genossen, als es in der Welt noch genug Brennholz und keine sozialen Fragen gab.

Nur ein paar Stunden von Zürich entfernt ist das ' Dorf, wo das Doktorhaus liegt, aber in einer Gegend, durch die bis dato keine Bahn, kein Bähnchen führt, sondern die Poströßlein noch allein und gelassen die Bergstraße hinan und heruntertraben. Darum war auch der junge Doktor nach dem Tode des alten leicht hierher gekommen. Er hatte keine große Konkurrenz gehabt. Man strebt mehr den Ortschaften mit Bahnverbindung, mit Industrie und Wohlhabenheit zu. Nun, was diese letztere für s einen Fall betraf, so betteten ihn freundliche Schicksalsmächte gleich in das wärmste Nest, nämlich in das Haus seines verstorbenen Vorgängers, dessen Tochter und einzige Erbin, Fräulein Hedwig + ein „Frauenzimmer von bestandenem Alter,“ + den Unverheirateten, der sonst nirgends im Dorf eine recht doktorswürdige Wohnung gefunden hätte, fürsorglich aufnahm. Er, das Fräulein und Vreneli, das Mägdlein, haussten nun schon über zwei Jahre in schönster Eintracht miteinander, und der Glücksmensch hatte sich bald dermaßen in die Gunst dieser beiden Schutzgeister hineingelebt, daß er eigentlich der Herr im Hause, zum mindesten der Wettermacher darin war. Es ging ihm so gut, daß er sich manchmal gefragt hatte: Kann man besser bestellt sein? Werd’ ich am Ende zwischen dem Butterblümchen Vreneli und meiner verehrten Spätsommerrose, Fräulein Hedwig, so allgemach ein wohlgenährter alter Knabe werden, der auf seinem Schimmel über Land reitet, die Patienten anknurrt, zweimal die Woche ins Wirtshaus geht und um andere annehmbare Dinge des Lebens sich keinen Teufel mehr schert ?

Bis vor drei Monaten hatte ihn diese Frage zuweilen in müßigen Momenten beschäftigt, seither nicht mehr. Denn zu jener Zeit tauchte, – man sollte es in dieser Dorfstille kaum glauben — bereits die dritte seiner Schicksalsgöttinnen auf.

In den letzten Septembertagen war dem wohlhabenden Landwirt Karrer ein Büblein geboren worden. Mutter und Kind schwebten in höchster Gefahr. Der Doktor rettete sie; er vollbrachte damals das erste wirkliche Meisterstück seiner ärztlichen Kunst. Dadurch erwarb er einen Ruhm, der sich über mindestens vier Gemeinden verbreitete, in der jungen Familie selbst aber eine Verehrung, besonders von weiblicher Seite, die ihn über die Wolken erhob. Dies war nicht allein bei der Patientin der Fall, in gehörigem Maß und Abstand auch bei dem besonnenen Gatten. Am hitzigsten trieben es die beiden allerliebsten drei- und vierjährigen Töchterchen, Anneli und Selineli, die den Doktor gleich so zärtlich in ihre kleinen Herzchen schlossen, daß sie ihm überall nachliefen, wo sie seiner habhaft werden konnten, und dadurch oft dem ,„Tanteli" das Blut in die Wangen jagten, wenn es gerade um die Wege war.

Ja, dieses Tanteli ~ vorübergehend die Mutter-Stellvertreterin –!

Bertha hieß sie, war die jüngere Schwester der Frau Karrer, zweiundzwanzig Jahr alt und „halt donnersnett zum anlvegen“. Dazu sprach sie den hellautigen feiner klingenden Dialekt des Kantons St. Gallen, was ihr etwas vom Reiz des Mädchens aus der Fremde gab, obgleich diese Fremde nur ein paar Stunden weit lag. Kurz, das ganze Dorf war einig über ihre Vorzüge, sogar, mit etwelcher Reserve, Fräulein Hedwig, die hoch über dem Dorfgeschmack stand.

Wie besagte Vorzüge binnen kurzem wirkten, blieb ihr nicht unbekannt, dem Vreneli natürlich noch weniger. Aber weit entfernt von kleinlichem Neid —~ Fräulein Hedwig war eine Idealistin, eine schöne Seele, die sich viel mit Büchern, Gedanken, Selbstbildung befaßte, ~ empfand sie bloß eine gewisse liebevolle Eifersucht, nicht mehr allein das Wohl ihres Herrn Doktors in Händen zu haben. Er brachte jezt manche Stunde, die er früher daheim gewesen, wenn er nicht auf der Praxis war, drüben in dem Karrer'schen Hause zu, wo es ihm zur Winterszeit schier noch gemütlicher dünkte als im Herbst, da hinter'm Gartenzaun zuweilen jemand sichtbar geworden war, mit dem man ein Gespräch anknüpfte, das nichtssagendste Zeug oft, und doch den innern Menschen merkwürdig belebend, wie ein Glas Veltlinerwein. Hier saß der herkulische Jünger Äskulaps nun öfter, wenn ihn das Gedeihen des Stammhalters gerade wieder einmal besonders interessierte, in der großen Parterrestube, wo zwischen den Fenstern Geranium blühte und Monatsrosen winzige Knösplein trugen, und immer alles wohlgemut beisammen war, die Großen und die Kleinen. Man unterhielt sich von Weltwie Dorfereignissen, auch von andern Dingen, und ging der Stoff aus, so spielte er mit den zwei kirschäugigen kleinen Dingern, Anneli und Selineli, und schaute dabei nach Herzenslust das „Tanteli" an.

Jedesmal, wenn er dann heimkamin das stille blanke Doktorhaus, demnur das Vreneli einige Jugendfarbe verlieh, war ihm, als träte er in ein Kloster, wo er bereits zum hoffnungsvollen Novizen geworden.

Der heutige Sylvesterabend hatte ihm unter diesen Umständen geraume Zeit schon Kopfzerbrechen gemacht. Fräulein Hedwig erwartete natürlich, daß er ihn wie voriges und vorvoriges Jahr mit ihr verbringe; doch delikat, wie sie war, sagte sie nichts. Und drüben im Karrer'schen Hause erwarteten sie ihn auch; sie hatten schon längst gefragt, ob er komme. Seine Antwort ließ noch alle Wege offen, aber der eigentliche Entscheid hatte ihn letzte Nacht eine Stunde Schlaf gekostet. Nun war er entschlossen: er fuhr nach Zürich, obschon er tausendmal lieber dageblieben wäre. Niemand sollte vorgezogen, niemand gekränkt werden. Aber: O Pantoffel! Der du in allen Formen und Größen die Welt regierst! dachte er mit grimmigem Humor und ließ dann in aller Frühe gleich durch den Botenmann einige seiner Zürcherfreunde benachrichtigen, daß er komme und daß sie im alten Café Orsini am Fraumünsterplat, wo sie als Studenten beisammen gesessen, das neue Jahr begrüßen wollten.

* * *

Als die Briefe geschrieben waren, kam der Doktor mit noch erhitztem Kopf von der Anstrengung, die sie ihn gekostet, ins Wohnzimmer zu Fräulein Hedwig.

„Ja, also –~" begann er gleich herauspolternd, um seine Verlegenheit nicht merken zu lassen, „ich fahre also heute abend nach Zürich + weil Sie wegen des Essens fragen ließen "

Sie sah von ihrer Arbeit auf und lächelte ein wenig, fast wehmütig. „Ich dachte mir's."

Er hustete. „Es sind ein paar Freunde, die ich wieder einmal sehen möchte ~ der Schlittweg ist gut ~ ich glaube, sogar Mondschein im Kalender."

„Und hoffentlich braucht ~+ oder vermißt Sie niemand bis morgen."

Aha, eine Anspielung !

„Kaum!“ lachte er. „Es ist ja auf vier Stunden Umkreis momentan alles gesund. Übrigens ich fahre in der Nacht zurück.“

„Tun Sie das nicht. In der Neujahrsnacht, wo allerlei Volk unterwegs ist.“

„Pah, ein paar angesäuselte Ehrenmänner.“’

„Dann nehmen Sie wenigstens eine Pistole mit."

„In unserm guten Kanton Zürich bew affnet reisen? Aber hochverehrte Schutzpatronin!‘’ ~ Er legte seine hübsche, wohlgeformte Hand auf ihre Schulter, worüber ihr, wie immer, wenn er sie so à la Matrone behandelte, die Wangen ein bißchen röter wurden.

Sie beugte sich über ihre Arbeit. „Jch könnte ihnen etwas erzählen, was mein Vater in der Neujahrsnacht erlebt hat, auf der gleichen Straße, wo Sie fahren müssen, dort hinterm Stocktobel, wo man in den Wald kommt ~

„So ? Wie war das denn?“ Er nahm einen Stuhl und ssetzte sich ritllings, die Arme auf die Lehne verschränkt, zu ihr. Er wollte ihr so eine Art Abschlagszahlung von Gemütlichkeit machen.

„Lieber ein andermal.“

„Dann hat es keinen Zweck mehr. Warum heute nicht?“

„Weil es Tage gibt, wo man nicht von alten Zeiten reden mag.“

„An den sentimentalen, den Fest- und Familientagen, nicht wahr? – Jch kann mir das ganz gut denken.“

Sie schwieg eine Weile.

„Aber da fällt mir gerade ein – warten Sie, ich will Ihnen etwas bringen.’

Sie stand auf und ging aus dem Zimmer. Er aber saß da, erleichterten Herzens, daß das Geständnis seiner heutigen Flucht heraus war, und doch ein wenig gedrückt von seiner Untreue. In Gedanken betrachtete er den leeren Lehnstuhl, in dem sie eben gesessen, ein uraltes gesticktes Kissen an der Rücklehne; weiß Gott, wie lange das schon so hier war, – dann das Nähtischchen davor, die vielen kleinen und größeren Familienbilder, meistens Verstorbener, in der Fensternische. Lauter Andenken, Erinnerungen. Und dazu diese Einsamkeit, und Sylvesterabend - und doch noch nicht alt sein ~J nicht vierzig Jahre! – –

Da kam sie wieder zurück, einen großen Pelzmantel auf den Armen.

„So ~ den müssen Sie für die heutige Fahrt über sich nehmen. Er riecht zwar ein wenig nach Kampfer, aber das verfliegt bald. Wir haben jetzt schon sechs Grad unter Null; es wird heute Nacht noch ordentlich sinken. Das neue Jahr kommt über einen klingenden Boden.''

„Wie schön Sie so etwas sagen können: es kommt über einen klingenden Boden! Das tönt wie lauter Hoffnung.“

„Spotten Sie nicht.“

„Nein, nein, im Ernst! Sie sagen oft merkwürdig hübsche Sachen. Woher nehmen Sie das nur bei diesem stillen Leben ?““

„Vielleicht ~ gerade daher. Da geht alles nach innen, was andere nach außen hin verbrauchen.‘

„Sie sollten sich's doch ein wenig srohmütiger einrichten auf der Welt; Sie hätten das Zeug dazu!‘

„Wieso ?"

„Einen hellen Verstand, ein famoses Herz –*

„Still, still! Was reden Sie da ? Meinen Sie, Sie müssen jetzt gleich Vergeltung üben für diesen alten Pelz ?““

„Auf Vergeltung habe ich überhaupt schon lange verzichtet, denn Sie sind ein so ausgezeichnetes Menschenexemplar –*

„Gehen Sie ~ es ist jetzt genug. Glückliche Reise nach Zürich !‘“

„Und wenn ich nun da bliebe? Und Ihnen Gesellschaft leisten möchte ?" Er sah sie gut, fast zärtlich an, so wie ein Bruder die ältere Schwester.

„Nein, nein ~' Es zuckte kaum merkbar um ihren Mund; sie wandte den Kopf beiseite. ~ „Seien Sie nur recht fröhlich. Und wenn es um zwölf Uhr in der Stadt zu läuten anfängt, dann grüßen Sie mir die Glocken vom Peter und Fraumünster. Die tönen so schön zusammen.“

„Ja, das will ich.“ –~ Er gab ihr die Hand. „Und jetzt danke ich Ihnen einstweilen für alle Guttaten im alten Jahr –

„Da gibt es nichts zu danken.“

„O doch, sehr viel! – Das Glück fürs neue wollen wir einander morgen wünschen.'’

Sie nickte und lächelte und ließ einen Moment wie vergessen ihre Hand in der seinen.

* * *

In der frühen Dämmerung kam der Schlitten, mit einem wohlgenährten Bauernrößlein bespannt, vors Haus. Das Tier wieherte und spitzte unternehmungslustig die Ohren, als der Doktor, den es schon öfter gefahren, mit seinem mächtigen Pelz herauskam. Er sah so statilich aus, daß Vreneli ihm völlig stolz nachblickte. Und die Pistole hatte er richtig in eine der Taschen gesteckt, wie immer, wenn er sich zuerst gegen einen Rat Fräulein Hedwigs auflehnte.

Er grüßte die am Fenster Stehende noch einmal mit dem hellen, jungen Ausdruck, den sein Gesicht oft hatte. Dann nahm er die Zügel, und fort ging's, pfeilschnell in den Nebel hinaus, daß dem Rößlein Schweif und Mähne nur so flogen.

Eine Weile stand das Fräulein noch und sah in der Richtung, wie einer Erscheinung nach, einem Phantom der Jugend, des Glückes – –

Dann hieß sie Vreneli sich zum Sylvestergottesdienst rüsten.

Die Glocken der kleinen Kirche bimmelten schon, soviel sie konnten; es sschallte von dem Hügel weit über das nächtige Schneeland hinaus. Als sie verstummten und die Gemeinde versammelt war, wehte von unten noch aus den Ortschaften am See das Geläute herauf. Drinnen im Kirchlein hob der Töchterchor zu singen an, und dann hielt der Pfarrer dem scheidenden Jahr einen Nachruf, mit Dank gegen Gott und etlichen mahnungsvollen Anspielungen auf politische und soziale Vorkommnisse im lieben Vaterland.

* * *

Die Freunde des Doktors fanden sich nicht gerade vollzählig im Orsini ein. Der eine und andere hatte eben heute auch seine wichtige oder geheimnisvolle Abhaltung. Dafür stießen ein paar neue dazu, welche die Lücken ersetzten. Man unterhielt sich ausgezeichnet. Der Landdoktor spürte wieder einmal, daß er in der Stadt war. Der alte Student wachte in ihm auf. Warum auch nicht? Ja, Herrgott! Es ist eben doch eine heilsame Abwechslung gegen die Atmosphäre da oben unter den „Kühbuben“, deren einer ihm einmal, ein würdiger Herr Gemeindrat, als sie festlich im Gemeindwirtshausse tagten, im Rundgesang bei der Stelle: Bruder, deine Schöne heißt? –~ Jakob antwortete! Von Zeit zu Zeit muß man unter seinesgleichen sein. Er freute sich, daß dies gerade heute der Fall war, wurde immer vergnügter, immer lebhafter, fing an zu singen und auch mannhaft zu kneipen, wie ehedem. Und als um Mitternacht in der wie bei Tage belebten Stadt das Umherziehen, Feuerwerken und Musizieren anhob, da kam die süße Torheit von einst auch über ihn. Er schloß sich samt seiner Gesellschaft einem Lampions tragenden Zug junger Studenten an, der im Gänsemarssch sämtliche Brücken beschritt und in dem alle Weltsprachen geredet wurden. Hernach versammelte man sich noch einmal zu einem Punsch, um das junge Jahr gehörig zu begrüßen, und dann ~ es war inzwischen drei Uhr morgens geworden ~ kam der Herr Doktor in angeregtester Stimmung zu seinem Schlitten, vor dem das Bauernrößlein schon geraume Zeit gewartet hatte.

Er klopfte dem braven Kameraden seiner Nachtfahrt den Hals. „So, Hansli, jetzt geht's heim. Jetzt wollen wir vernünstig miteinander kutschieren. Den Weg wissen wir ja beide. ~ ~ Ja halt! Zuerst noch eine Zigarre, – = ohne dies Lichtlein keine Erleuchtunn. – –~ Sol!“

Er lohnte den Knecht, der sein Fuhrwerk gehütet, königlich. Hierauf stieg er bedächtig ein, hüllte den Pelzmantel fest um sich und ließ den Hansli traben.

Sapperlot, — ja, eisig kalt war's. Das pfiff ins Gesicht. Wenn er den Pelz jetzt nicht hätte! –~ Die gute Fräulein Hedwig —~ wirklich ein —~ ein famoses Frauenzimmer: an alles denkt sie. –à – Wenn sie zwanzig Jahre jünger wäre – ~ na, das ist sie also nicht – und so eine mütterliche Freundschast ist auch schön. Überdies !– haha! – was würde sie dazu sagen, die Holde, die Eine mit den lieben, braunen, den waldfrischen Rehaugen + das herzige Geschöpf! ~ Ganz warm wird einem, wenn man an sie denkt, wahrhaftig! –~ Wie heißt's im Hebel? – –

Minen Auge gfallt Herischried im Wald. Woni gang, so denk’ i dra, 's chunnt mer nüt auf d’Gegnig a Z'Herischried im Wald. Imme chleine Hus Wandlet i und us ~ Gelt, de meinsch, i sag’ der, wer ? 's isch e Sie, es isch kei Er!

Ja, das ist die Tonart und die Melodie, welche zu ihr passen. Das ist noch Weiblichkeit nach dem Herzen Gottes, wie sie seit Adam und Eva existierte und heute auch noch ~ obgleich rar geworden. Was modern, = (in Beziehung auf Frauen ein unleidliches Wort!) nervös ~ studieren ~ praktizieren! ~ alle bösen Geister fallen einem ein. Sie weiß nichts davon und ist doch gescheit – hoho! und wie! – ~ Ob fie bös war, daß er nicht kam? Das ging nun einmal einfach nicht – nein. –~ Da hieß es, eine salo ~salomonische Entscheidung treffen ~ und sie war salomonisch ausgefallen. – ~ Freilich, wie mag Fräulein Hedwig den heutigen, respektive gestrigen Abend zugebracht haben? Er hatte sie herzloserweise gar nicht gefragt. Zum erstenmal ganz allein, was ihm unterwegs erst eingefallen war. Und sie hatte ihn oh ne Groll ziehen lassen!! Ja ja, „z’Herischried im Wald", da gibt's noch Frauenzimmer, um die ihn ganz Zürich beneiden kann. ~ Voriges Jahr — wie war das gleich ~? Da war er daheim geblieben, der Pfarrer mit seiner Frau dabei — ein ziemlich öder Herr. Aber der Wein damals war fein, alter Sasella, den der verstorbene Doktor noch in seinem Kellerlein gepflegt. Der verstand’'s! – Dann ging man nach zwölf Uhr ins Bett; insofern nicht übel, als einem diese Nachtfahrt erspart war, bei solcher Bärenkälte –~ Teufel! Wenn das so fortgeht, gefriert der See wieder. ~ Aber schön war's, brillant unterhalten. Was der eine, der Ingenieur, da von seiner Amerikareise erzählte ~ fabelhaft! Das sind Kerle da drüben ~ alles gleich riesenmäßig in der Anlage. Da sind wir noch die reinen – die reinen – — no, Hansli? Was ist los? –~ ~–

Man befand sich vor einer Straßengabelung, wo der Herr nach anderer Richtung wollte als sein Roß.

„Ja so! ~ ~ Hast recht, Hansli – hü!" ~

Das Selbstgespräch war unterbrochen, die Pistole sogleich dem Doktor eingefallen. Immerhin griff er danach. Richtig, da war sie, die stumme Begleiterin, die jeden Augenblick reden kann, wenn es nötig iste. Man kam ja nun bald an das Tobel, von dem die gute Hedwig gestern eine Räubergeschichte erzählen wollte. Pah! Es ist hell, der Mond hoch am Himmel und eine Stille, daß man meint, die Sterne droben knistern zu hören. Das junge Jahr schläft wie ein neugebornes Kindlein. – –~

„Hü, Hansli! Je schneller du läufst, desto balder sind wir daheim."

Und Hansli, der die laute Anrede aus der landwirtschaftlichen Praxis her gewöhnt war, ließ sich das nicht zweimal sagen, schlug plötzlich ein ganz wildes Tempo an, so daß ihm und seinem Lenker darob warm wurde und sie in verhältnismäßig sehr kurzer Zeit das heimatliche Dorf erreichten.

Leise steckte der Doktor dann den großen Hausschlüssel ein und schlich wie ein Dieb nach seinen zwei links, gleich neben dem Eingang liegenden Zimmern. Die Frauensleute sollten nicht hören, daß er erst nach fünf Uhr heim kam.

Ah! wie wohlig warm ! ~ Und, schau – der Tisch gedeckt, Theemaschine, Rum, Spiritus, alles bereit, wenn er durchfroren ankäme. Und dort, was noch mehr? Ein großes Ding mit einer Stickerei. Ein Fußsack, eine Bescherung !*) O Edelmut, o Haduwig! – Weiße Rosen + oder sind es Ranunkeln oder Sternenblumen, ~ ganz gleich, rührend, wirklich rührend!

Thee? Nein, keinen mehr. Lieber schlafen jezt. – Es wird köstlich schmecken in dem guten behäbigen Bett.

Ah! Wie ein Gerechter nach heißem Tagewerk streckte er sich, blies das Licht aus und tat einen tiefen, grundzufriedenen Atemzug. – – Eine edle Seele ~ diese Haduwig — wirklich! – Man muß ihr morgen – ein bißchen den Hof machen. – – Oder ~ sollte am Ende – Berta ? ~ Ales möglich, wenn man sich – ~ diese lieben braunen Augen –~ ~ z'Herischried im Wald – –

Ein halblautes vergnügtes Lachen, wie im Traum, unterbricht den Monolog.

Weiße Rosen? – Immerhin Rosen – ~ Neujahrstag morgen. – Wie schreibt man jezt ? – Neunzehn ~ hundert – ~

* * *

Es war noch alles mäuschenstill, als Vreneli an des Doktors Tür horchte, bevor sie mit dem Fräulein zur Kirche ging. Draußen die Holzladen vor seinen Fenstern waren auch noch geschlossen.

Das rotbackige Wehntaler Kind lachte: „Dem wird's hüt nid pressiere !"

Und so schlossen sie das Haus ab und überließen den Langschläfer drinnen seinen guten Geistern.

Der schlief wie ein Gott. Er träumte die buntesten Dinge, machte Reisen in merkwürdige Gegenden, wo Elephanten gemütlich spazieren gingen und Löwen wie Haushunde vor ihm schwänzelten. Dann übersetzte er mit Leichtigkeit Wasserfälle, flog von einer Bergspitze zur anderen, und unten stand Fräulein Hedwig mit ausgestreckten Händen, da sie sich ja, wie ihm nebenbei einfiel, auf der Hochzeitsreise befanden. Jetzt eben, jetzt träumte er, es werde bei ihm eingebrochen. Er hörte deutlich das leise Geräusch des Feilens und Bohrens. Das sind die Schelme, die im Tobel den alten Doktor überfallen wollten. Halt, die Pistole! Wo ist sie? Nirgends zu finden. Und das Bohren, das Feilen wird immer deutlicher, gleich werden sie im Hause sein. – –

Der Schläfer erwachte aus einem schweren tiefen Schlaf. Was war los ? Einbrecher – ? Mit einem Ruck saß er aufrecht im Bette und lauschte. Tiefe Nacht, tiese Stille. Doch nein, es begann wieder. An einem der Fenster wird richtig gearbeitet – er hat es nicht bloß geträumt.

Jetzt in einem Satz aus dem Bett, nach der Pistole getasstet. Aus dem Kästchen, wo sie immer ist, will er sie nehmen J oder, wie ist das gleich? Nein, er hatte sie ja mit auf seiner Fahrt. Draußen im anderen Zimmer, im Pelzmantel muß sie noch sein. Richtig, er hat sie! Jetzt ist er ganz wach, ganz klar. Er zündet Licht an. Und nun schleicht er, aufgeregt, das Blut pocht ihm in den Adern, von einem Fenster zum anderen.

Hier – hier sind sie! ~ Horch ein merkwürdiges Streichen und leises Patschen, ein Probieren jedenfalls –~ -

„Wartet ihr Schufte! ' Er spannte den Hahn. „Jhr sollt eueren Mann finden." ~

Und nun die Fenster auf, Doppelfenster, dann die festen eisenbeschlagenen Holzladen – –

Er prallte zurück –~ was ist das?

Tag — weißer Nebel - zwei Kindergesichter mit roten Näschen, dicht vor ihm, erschrocken, stumm, dann plötzlich laut lachend: „A glückselig's neu's Jahr!“ Die zwei Stimmchen rufen es wie aus einem Munde, und kleine Hände in Fäustlingen strecken jedes ein dunkelrotes Röslein empor.

Der Doktor ist wie vor den Kopf geschlagen, sich selber unheimlich. ~ Alkoholvergiftung? + Halluzination? –

Zum ersten legt er vorsichtig die Pistole weg und holt einen Rock, denn es ist bitter kalt.

Anneli und Selineli gucken ihm mit großen Augen nach, krabbeln allssogleich wieder auf den Schiebkarren, der umgestülpt vor dem Fenster liegt, und schlagen das Rütlein mutwillig ans Fensterbrett, mit dem sie sich zuvor bemerkbar machen und Eingang verschaffen wollten. ~ „A glückselig's neu's Jahr !‘ tönt es wie Vogelgezwitscher in die Siube, bis der Doktor, einigermaßen gesammelt, gekämmt, in Pantoffeln und Schlafrock zurück ans Fenster kommt.

„Wer schickt mir die Rösli ?“’ fragte er jetzt mit so viel Würde, als ihm augenblicklich zu Gebote stand.

Sie zogen die Köpfe ein, sahen sich gegenseitig an und kicherten.

„Die Mutter?‘

Kopfschütteln.

„Das Tanteli?‘'

„Mir dürfet's nid säge. 's Tanteli hät g'seit, mir sölled gli wieder heim cho, wil de Vater und d'Mutter in der Chille *) sind.“’

„So ?“’ sprach der Herr Doktor, indem es ihm auf einmal rosenrot an den Augen vorüberzog. „„Ja, dann müßt ihr dem Tanteli freilich folgen.'’

Er holte das Körbchen mit Näscherei, welches Fräulein Hedwig ihm gespendet hatte, und ließ die zwei kleinen Rosenboten nach Herzenslust ihre Taschen füllen, worauf sie eilig davonsprangen ~ und er nun bei Tageslicht, aber noch immer wie aus einem verwirrenden Traum, auf die Uhr sah.

Zehn!

* * *

Anstatt nun mit hellem Kopf die Ereignisse sich zurecht legen, eine schöne Kravatte nehmen und den Huldinnen danken zu können, die ihn an der Schwelle des neuen Jahres so stummberedt mit dem Sinnbild der süßesten Empfindung begrüßt hatten, wurde der Doktor kaum, daß er angekleidet war, zu einem Bauer geholt, der in der Nacht in einen Bach gefallen war und dabei das Bein gebrochen hatte.

Das Kütschlein stand schon draußen und sollte den Arzt gleich mitnehmen.

Da gab es kein Murren. Das alles war ja Segen, auch das gebrochene Bein. Und so schenkte er sich denn, vorläufig resigniert, ein Gläschen Kognak auf den Weg ein, obwohl ihm innerlich bereits recht warm war. Es galt wieder eine Fahrt über Berg und Tal. Vorher aber nahm er noch die zwei kleinen Röslein, denen er mit der Pistole entgegengegangen war, ~ jetzt lachte er darob und dachte: umgek ehrt ist der Schuß gegangen! ~ betrachtete sie liebe- und gedankenvoll, und stellte sie dann behutsam in einem Glas auf seinen Schreibtisch.

Dem inzwischen heimgekehrten Vreneli trug er einen Gruß an Fräulein Martha auf, die im Pfarrhaus war, und sie möge in Anbetracht seines weiten Weges nicht mit dem Esssen auf ihn warten: er werde wohl erst gegen Abend zurückkommen.

„Herrje,“ rief sie bedauernd, „hüt au wieder ?“ Aber gleich darauf mit verschmittem Gesicht: „Die frisch Luft wird Ihne wohl tue!“

Sah ihm das fürwitzige Ding etwas an? Sie lachte!

Alles lachte heute oder schien ihm wenigstens zu lachen, der Himmel, an dem sich plöglich, wie vor einer großen Lichtgewalt, die Nebel teilten; die weiße, glitzernde Welt und vor allem etwas in des Doktors Jnnerem selber, das er einst kaltblütig Muskel genannt. Haha —~ Muskel! –~ Jn seinem Kopf allein war noch eine etwas dunkle drückende Stelle. Die aber hatte mit dem übrigen nichts zu tun und verlor sich mehr und mehr, je weiter der Schlitten über den knarrenden Schnee flog.

War das ein Neujahrstag heute! Die ganze Gebirgskette vom Säntis bis Finsteraarhorn und Jungfrau klar, das letzte Spitzchen scharf ins Blau gezeichnet, eine weite stille Welt. Jn den Nähen alles dicht bereift, jeder Stein und Busch am Wege, die Wälder märchenhaft zu schauen. Wie Schleier stäubt es nieder, wenn eine Krähe auffliegt. Und in dieser Lichtstille zuweilen ein Geläute, weiß Gott woher und –~ = zwei frische dunkelrote Röslein daheim auf dem Schreibtisch ~

Der Bauer lag ächzend im Bett, eine schwere Federdecke bis zur Nasenspitze und warme Umschläge auf dem Fuß. Dazu trank er literweise noch irgend einen Kräuterthee. Es roch wie in einem Heugaden.

Der Doktor schalt über die Roßkur, welche das Weib einsstweilen auf eigene Faust mit ihrem Mann begonnen, öffnete zuallererst das Fenster, ließ das Bettzeug wegschaffen und untersuchte dann. Richtig ein Beinbruch.

Da gab es eine Stunde heißer Arbeit, bei welcher der Doktor gleich zu Anfang, wie weiland Doktor Faust, einen kleinen Flug durch die Luft tat, aber nicht mit dem Zaubermantel, sondern viel einfacher, durch einen verzweifelten Tritt seines Patienten, der sich mit dem gesunden Bein gegen die Qualen, die ihm das kranke verursachte, schadlos hielt und dabei halt den Herrn Doktor an der Rückseite traf, dermaßen, daß er mehrere Schritte weit gegen den grünen Kachelofen flog, an dessen glatter Fläche er wahrscheinlich abgerutscht wäre, wenn das Weib ihn nicht aufgefangen hätte. Hernach ging aber alles gut. Der Patient war jezt zahm wie ein Lamm, und zum Schluß tischte seine Ehehälfte auf, was sie an Leckerbissen im Haus hatte, Sauerkraut, Schweinefleisch, Birnweggen, Nußwasser und Wein, einen Züricher, den man ordentlich im Gaumen spürte.

Der Doktor hatte Hunger bekommen und ließ sich einen kleinen Imbiß schmecken. Darauf zündete er eine Zigarre an, gab noch einige kategorische Verhaltungsmaßregeln und schied im besten Einvernehmen.

Es war sonniger Nachmittag, als er in dem primitiven Bauernschlitten wieder heimfuhr. Sein Tagwerk hatte er vermutlich für heute getan, wenn nicht noch einer in der Sylvesternacht irgendwo zu viel links oder rechts abgeschwenkt war. Jetzt kam ein tiefgründiges Wohlgefühl über ihn, ein Behagen und Erwarten der schönsten Dinge, die der Rest dieses Tages noch bringen konnte. Denn was so anfängt, pflegt auch außergewöhnlich zu schließen. Und der Doktor hatte das Beste ja noch vor sich.

Die Schneeschatten wurden immer tiefer blau, die Lichter allmählich rötlich und rot, bis die Sonne hinter dem Uetliberg hinabgesunken war, und jede Farbe jäh erblaßte.

Weite Strecken begegnete dem Heimkehrenden kein Mensch auf der einsamen Straße. Alles hielt sich heute in den Häusern und Dörfern zusammen. Der Doktor schlug den Mantelkragen hoch auf und dachte vergnügt: auch wir kommen bald in eine gemütliche warme Stube, es fragt sich nur, in welche zuerst –?

Darüber verlor er sich in so angenehme Vorstellungen, daß er aufschrack, als der lange Knecht, der mit seinen ausgiebigen Beinen wie ein Nußknacker über der Deichsel hockte, plötzlich ein rauhes Öha! rief.

Da vorn schritt jemand eiligen Ganges, der den Schlitten nicht zu bemerken schien. Der Doktor beugte sich hinaus.

Eine Frauengesstalt. Rechts am Wege blieb sie stehen, um das Fuhrwerk vorbeizulassen.

Ja ~ ~ bis j etzt konnte der heimtückische Punsch von dieser Nacht doch nicht mehr wirken – das ist ja – –

„Halt, Freund!“ rief der Doktor den Langen an. = ,,Stillstehen, bigott !‘’” wiederholte er aufgeregt.

Das Rößlein schien indessen keine Lust zu einer Unterbrechung ohne Wirtshaus zu haben.

„Wenn's halt einmal recht im laufen ist ~'’ grinste der Lange.

Aber sein Insasse hörte nicht, sondern war bereits mit einem Satz aus dem Schlitten.

„~ Sind Sie's oder sind Sie's nicht ?“’ rief er. – „Guten Abend !‘

„Guten Abend !‘

„Wie ein Phantom wandeln Sie da in der Einöde!“

Unter einem weißen Capuchon, der ein ganzes Schneegewölk von luftigen Maschen über der Stirn bildete, schaute ein frisches Mädchenangesicht mit ein paar großen braunen Augen hervor.

„Was ist ein Phantom ?“

„Zuerst steigen Sie einmal in den Schlitten, dann will ich es Ihnen erklären.“

„Nein, merci."

„Warum nicht ?!

„Ich geh’ lieber.“

„Dann begleite ich Sie.“

„Allein käm’ ich auch heim.“

„Das glaub’ ich schon. Da wir aber die gleiche Richtung haben und ich überdies ~ à propos: ein gücksseliges neues Jahr! Wir haben uns ja noch nicht gesehen seit heute morgen, seit ~

Sie lachte verlegen und reichte ihm die Hand. ,, Also - ein glückliches Neujahr! Und = jetzt steigen Sie nur wieder in Ihren Schlitten – und dann –“

„Was dann ?“

„Sie waren gewiß auf der Praxis ?‘

„Eben drum fängt erst jezt der Feiertag für mich an. Rasch griff er nach einem Trinkgeld für den Rossselenker. „Da, Freund und Ehrenmann, trinkt ein Schöppli und gebt meine Tasche im Gemeindewirtshaus ab.“

„So, adies‘’, sagte der Lange, der etwas merkte, fuhr davon und kehrte sich, als er eine Strecke weit war, noch einmal nach den beiden um.

Die schienen sich jezt Zeit zu lassen.

– – „Soll ich Sie etwa ~ führen?“ —

„Nein, b'hüetis !“

„Im gleichen Schritt und Tritt ließe sich's sonst besser spröchlen*). Aber wie Sie wollen ~ “

Er besann sich jetzt auf etwas feines, womit das Gespräch ohne Zeitverlust gleich in die gehörige Richtung zu bringen wäre, denn sie näherten sich bereits dem Dorfe. Die Kunst der Rede gehörte aber nicht zu seinen starken Seiten. Und der Gedanke an die kleine Strecke, welche ihm blieb, schlug einige vorüberhuschende Einfälle noch vollends in die Flucht. Da dachte er: Helfe, was helfen mag, gehe es jetzt gerade oder krumm!

„Haben Sie auch schon Wunder erlebt?’ fragte er plötzlich, wie aus dem Stegreif.

„Wunder ? – Was für welche zum Beispiel?“

„Erscheinungen am hellichten Tag. Das passiert mir jetz manchmal."

„Wenn Sie zu lang in Zürich bleiben, wahrscheinlich !‘ spöttelte sie.

Er blieb stehen, „„Wie ist das gemeint ?“

„Auf dem Heimweg halt — oder so wie jetzt.“

„Richtig! Gerad’ so wie jetzt!“ rief er frohlockend, da er sich auf einmal im Fahrwasser fühlte. „„Sehen Sie — so eine Erscheinung sind Sie!“

„Aber ohne Wunder.“

„Wie man's nimmt. – Woher kommen Sie?“

„Von der Großmutter im Sonnenbühl.“

„Und da müssen wir just so zusammentreffen! Das ist mir. wunderbarlich, gerade so wie Rosen, die im Schnee wachsen. Ist Ihnen das schon vorgekommen ?“

„Nein.“

„Kleine dunkelrote. Haben Sie das nie gesehen ?

„Nein.“

„Nun wird's mir unheimlich!“ sprach er feierlich. „Schon wieder geschieht ein Zeichen! – ~ Eben war ich im Begriff, etwas Verwegenes zu tun, — es soll nicht sein, wie es scheint.“

Natürlich erwartete er ihre Frage, was das „Verwegenes“ sei, aber sie ließ ihn ganz schön ein Weilchen schweigen. Jetzt gab's kein Zögern mehr, nur ein entweder – oder –

„Ich wollte Ihnen nämlich etwas sagen, kurz und gut, Ihnen, die sich so prächtig verstellen kann –

Sie lachte hell, aber es klang auch ein wenig Ängstlichkeit heraus. „Das hätt’ ich doch nicht ernst genommen."

„Aha, Sie wollen mir meine grobe Ehrlichkeit zurückgeben. ~ Warum übrigens nicht ernst genommen ?"

„Wenn ein Doktor von Wundern redet, – am Neujahrstag, wenn er den Sylvessterabend in Zürich war!“

Er schaute sie voll Wohlgefallen und Freude an. „Recht haben Sie, bei Gott !‘“ sagte er langsam. „„Das kommt von der Schönrederei, wenn man einmal etwas besonders fein sagen möchte. ~ ~ Jetzt aber eins — ohne Blume: was ist mit den zwei dunkelroten Röslein, die mir heute früh unter den merkwürdigsten Umständen –

„Die sind zwischen den Vorfenstern, nicht im Schnee gewachsen.“

„Und von wem kamen sie?"

Von mir."

„Potz tausend! Auf einmal die strikte Wahrheit. Und " fragte er angelegentlicher, „was sollte die Botschaft ?

Eine kurze Pause.

„Dank sagen, daß die Kinder ihre Mutter noch haben, es fiel mir ein, weil die Rösli gerad’ aufgeblüht waren.“

„Weiter nichts ?‘

„Und halt so -~ zum Spaß für die Kleinen.“

„Wirklich weiter nichts ?‘

„Gehen Sie! Sie fragen mich aus, als ob ich eine Patientin wäre.‘

Nun lachte auch er hell auf. „Weil es allerlei Diagnosen gibt! Nein, meine Patientin sind Sie nicht, keine Spur, und ich bin ebenso wenig patiens. Drum fahr’ wohl, alles was Patientia heißt! Wir sind gesund und jung und wollen die Zeit nicht länger vergeuden.“

„Bitte –~ da kommt jemand.“

– „Berta + bisch es Du?‘’ rief eine Stimme durch die Dämmerung ihnen entgegen.

„Ja."

„O Himmel '’ murmelte der Doktor.

Es war der Schwager Karrer, der bei zunehmender Dunkelheit es für gut fand, dem hübschen Tanteli entgegenzugehen.

„So, so,“ sagte er ein bischen anzüglich, „Du hast schon Schutzmannschaft bei Dir ?“‘

„„Der Herr Doktor hat einem da oben das Bein einrichten müssen.‘

„Wo ?“

Der Doktor überhörte die Frage. Erst beim zweitenmale fuhr er auf: „Jn Nänikon ~ heißt das nein, in Zollikon.“

„Das ist zwar bei Zürich unten.“

„Was sag’ ich – in – in.“

„Macht nüt, Herr Doktor,“ sagte der Schwager, der gleich merkte, was hier vorgegangen, mit trockenem Humor, „wenn nur das Bein wieder beieinander ist.''

Nach kurzer Strecke waren sie beim Karrerschen Haus. Die Lampe in der Wohnstube blinkte traulich zwischen den Blumenstöcken durchs Fenster. Man hörte die Stimmen der Kinder.

Der Doktor ging aber nicht mit hinein. Ihm brannte der Kopf von seiner unterbrochenen Liebeserklärung. Wie stand er nun mit Berta? Sollte er ein zweites Mal von vorn anfangen, wo ihm das erste schon Mühe genug gemacht ?

In einem höchst unbehaglichen und unklaren Aufruhr der Gefühle stapfte er heim.

Hier grüßte ihn abermals traulicher Lampenschein, der, mild gedämpft von grünen Schleiern, in die Dunkelheit hinausleuchtete.

Jetzt auch noch zu ihr müssen, zu Fräulein Hedwig ! Ach hätte sie doch Zahnweh oder Kopfweh, oder wartete seinetwegen n o ch einer mit einem Beinbruch auf ihn. Nur jetzt kein ruhiges, sinniges Gespräch führen müssen!

Vorerst ging er einmal wenigstens in sein Zimmer.

Alles schön aufgeräumt, still, warm, kalmierend ; der Fußsack schon bescheiden unter den Schreibtisch geschoben, damit er die Füße nur gleich hineinstecken könne. Und die Rotröselein nicht mehr im Wasserglas von heute morgen, sondern in einem schlanken zierlichen Kelch. Hedwig wußte sicherlich, woher sie stammten, und tat ihnen diese Ehre an! Liegt nicht Größe in solch’ einem kleinen Zug ?

Nein, er will doch gleich zu ihr hinüber.

Er klopfte.

„Herein !‘

Da saß sie wie gewohnt an ihrem Abendplätzchen, ganz allein, mit einem Buch.

Vreneli hatte ihren freien Tag heute.

Es überkam ihn etwas wie Rührung bei ihrem Anblick, dem bläßlichen, verwelkten Jugendantliz. – Wenn sie wüßte! —

„Endlich komme ich zu Ihnen, Fräulein Hedwig,“ sagte er, lebhaft einen Stuhl in ihre Nähe rückend.

Sie gab ihm die Hand, und ein stilles, nicht zu verbergendes Leuchten ging, wie jedesmal, wenn er sich so gemütlich zu ihr sette, über ihre Züge. Sie bemerkte gleich das Feuer, welches in seinen Wangen und Augen sprühte.

„Jetzt haben Sie mir aber auch Schönes zu erzählen.“ Sie schob das Buch beiseite und lehnte sich in den Schatten zurück.

„Wieso?“'

„Ich sehe es Ihnen an; so sieht jemand aus, der allerlei erlebt hat.“

Er war beiroffen. Dieses milde, verständige Wesen sah ihm richtig wieder seine Verfassung an. Aber es verletzte ihn nicht, im Gegenteil, es tat ihm wohl. Wie ein ruhiges Licht drang ihr Blick in seine Seele und weckte das Bedürssnis nach Mitteilung, nach offener Wahrheit. Er wurde plötzlich ganz weich.

„Ach ja, Fräulein Hedwig," sagte er, „allerlei, Schönes und Verzwicktes. Aber vor allem kommen Sie dran. Sie wissen ja gar nicht, welch! ein Segen Sie für mich sind, in Ihrer Liebe und Güte. Ja, weiß Gott! Sie krönen Ihr ganzes Geschlecht in meinen Augen. Früher hielt ich meine Mutter für die beste Frau auf der Welt; ~ seit ich Sie kenne, hat sie eine gefährliche Konkurrenz bekommen –~"

Fräulein Hedwig lehnte sich noch weiter in den Schatten zurück, denn fie fühlte, wie es ihr heiß ins Gesicht stieg.

„Das wäre also der Prolog,“ sagte sie scherzhaft, „jetzt weiter."

„Nein, noch lange nicht! ~ ~ Seit ich in Ihrem Hause bin, geht es mir ja so gut, daß ich ~ gar nicht an anderes dachte, an gewisse Lebensveränderungen –~ heiraten zum Beispiel. Jetzt aber stehe ich an einem Scheideweg. Ich bin kein Mensch, der lange zaudert. ~ Als ich diese Nacht heimkam und Ihre liebe Bescherung vorfand, die schönen weißen Rosen, die Sie da für mich gestickt haben -~"

„Es sind keine Rosen," unterbrach sie leise.

„Was denn ?"

„Nur Schneerösli – Helleborus niger –~"

„Meinetwegen, das ändert nichts an der Sache. Lieb ist's doch, und riesig gefreut hat's mich auch. Ich merkte daraus, daß Sie mir wirklich gut sind. Und das ist's, sehen Sie, was mich einmal ganz offen zu Ihnen reden läßt, wie zu ~- = ach, es braucht ja keinen Namen“ – Er griff nach ihrer Hand. ~ „Liebes Fräulein Hedwig + ich muß Sie etwas fragen, Ihnen etwas beichten – ~ werden Sie mich nicht auslachen ?"

„Nein."

„Mir offen Antwort und Meinung sagen ?"

„So offen," lächelte sie, – „wie es sich für mich schickt."

Sie war ihrer Stimme nicht recht mächtig; das Herz klopfte ihr unsinnig auf. Aber sie wollte tapfer sein.

Er blickte auf ihre Hand nieder, die er in seinen beiden hielt, dann rasch empor, ihr in die Augen, klar und fröhlich. ~ „Jch habe mich verliebt. Ist's ein dummer Streich, wenn ich dabei gleich ans heiraten denke ?"

„Es kommt auf die Person an."

„Sie kennen sie ja ~ das Tanteli im Karrerschen Hause ~ ein herziges Geschöpf !"

Es gab ihr einen Stich. Doch nur im ersten Augenblick benahm er ihr den Atem. ~

„Und jung und leb ensfro h!“ — Sie flüsterte das, wie man von Wunderbarem spricht. – „Das ist die Rechte!"

„Wirklich? Finden Sie das auch? rief er glückselig. „O, Sie Liebe, Gute, Edle, daß Sie eines Sinnes mit mir sind!“ ~ Er sprang auf. „„Nun sollen mir aber nicht umsonst heute Rosen geblüht haben, Rosen im Schnee! Ich will sie auch heute noch pflücken. + Geben Sie mir Jhren Segen dazu, Fräulein Hedwig!“

„Wenn gute Wünsche Segen bedeuten .'

„Wünsche von Jh nen ganz gewiß.“

Auch sie war aufgestanden.

Sie schüttelten einander die Hände. Er war auf einmal wie aus dem Häuschen.

„Jetzt gehe ich hinüber, und dann komme ich zurück mit ihr! Sie müssen die Erste sein, die auch ihr Glück wünscht. Und dann plaudern wir, dann erzähle ich Ihnen das Weitere. Ich habe allerlei erlebt seit gestern –*

Stumm lächelnd ließ sie ihn gehen.

Er stürmte fort.

Gleich hernach fiel die Haustür zu, und tiefe Stille herrschte wie zuvor in dem altväterischen Zimmer.

Der Stuhl, den der Doktor so nahe hergerückt ~ wie beredt er noch dastand, ~ alles rekapitulierte er – –

Sie blickte eine Weile nach der Stelle.

„Rosen im Schnee ~“ summte es ihr im Ohr, als sie sich dann wieder zu ihrem Buch und der verschleierten Lampe setzte.