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                <title>Spätrot.Rosen im Schnee. Schweizer Novellen: ELTeC ausgabe</title>
                <author ref="viaf:64750310 wikidata:Q1895904">von Berlepsch, Goswina Maria
                    (1845-1916)</author>
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                    <name>Priska Rüegg</name>
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                <p><date>2020-05-18</date></p>
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                    <title>Spätrot. Rosen im Schnee: Schweizer Novellen von G. von Berlepsch</title>
                    <author>von Berlepsch, Goswina Maria</author>
                    <publisher>Jacques Bollmann</publisher>
                    <pubPlace>Zürich</pubPlace>
                    <date>1905</date>
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            <p>Text transcribed from first edition.</p>
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                <language ident="de">German</language>
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            <div type="chapter">
                <head>Spätrot.</head>
                <p><hi>D</hi>as Niederdorf zu Zürich ist ein Teil der alten Stadt, der vor nicht
                    langer Zeit noch sein ganz eignes Gepräge hatte. Es muffelte da immer ein
                    bißchen von fragwürdigen Gerüchen und Existenzen, besonders in den kleinen,
                    engen Nebengäßchen, wo selbst im Sommer tiefer Schatten lag und der Sage nach
                    die Ratten bei Nacht sich wohlgemut Stelldichein gaben. Die vier, fünf, auch
                    sechs Stockwerke hohen Häuser, deren viele übrigens heute noch stehen, oft nur
                    zwei Fenster breit, mit den verzwicktesten Physiognomien, den niedrigen
                    Haustüren. zitterigen Klingeldrähten und Glöckchen an der Außenmauer hinauf, die
                    am Morgen, von Milchmannen, Briefträgern, Hausierern gezogen, ein lustiges Getön
                    straßauf und -ab geben, hockten so eng aufeinander, als hätte man zu ihrer
                    Bauzeit die Gründe mit Gold aufgewogen. Und ebenso waren und sind sie bevölkert,
                    nicht allein von einer sseßhaften, meist Kleingewerbe treibenden Bürgerschaft,
                    die im Rufe steht, das ohnehin nicht sanft klingende Züricherdeutsch noch
                    gröblicher zu sprechen, sondern auch von vielerlei fremden Elementen, welche,
                    weiß Gott wo überall herkommend, in Zürich zeitweilig oder für immer landen.
                    Diese Mischung gab denn von jeher dem Leben hier einen bewegteren Wellenschlag,
                    um so mehr, als fast jedes zweite, dritte Haus eine Gastwirtschaft besitzt,
                    deren Stoffe für die Erwärmung der Geister sorgen. Es geht immer etwas vor, und
                    dazu tönt über die Dächer, vom nahen Limmatquai, noch gar oft, sobald der
                    Frühling ins Land gekommen, lustige Musik, die irgend ein Häuflein Festbesucher
                    oder von einem Feste bereits Heimkehrender anführt. Flugs. beleben sich dann die
                    engen Gäßchen, welche die Häuserreihen wie Durchschlupfe unterbrechen. Man
                    verläßt für ein Weilchen Laden, Wirtshaus, Werkstatt, Wohnstube, um <pb n="4"
                    />das Schauspiel zu sehen und zugleich einen Blick in ssonnigere Weiten flußauf-
                    und abwärts zu tun.</p>
                <p>Das neue Zürich räumte nun zum Teil mit besagter Muffelromantik unbarmherzig auf,
                    natürlich unbarmherzig im Sinne jener zäh Seßhafsten, die bisher ihr Leben
                    unangefochten hier verbracht und vom Wind der Zeit nun hinweggefegt wurden. Wem
                    aber dieses Hinwegfegen noch nicht widerfahren, der fürchtete es wenigstens. Und
                    sonderbar, je älter das Gerümpel, desto steifer hielt seine Einwohnerschaft
                    daran fest und sah mit bangem Grimm die Beglückungen von Luft, Licht, breiten
                    Straßen immer bedrohlicher heranrücken.</p>
                <p>Zwei Käuze, die von diesem Segen ebenfalls nichts wissen wollten - aus guten
                    Gründen —, waren die Schwestern Käther und Gritli Rollenputz. Erstere zwar eine
                    verwitwete Boßhardt, wurde gleichwohl von der Volksstimme samt ihrer Schwester
                    kurzweg die Rollenputzen, und der kleine Kaufladen, den sie seit vielen Jahren
                    schon hatten, das „Goldgrübli“ genannt. Es steckte wie ein Schwalbennest im
                    Gasssenwinkel zweier Häuser, von denen das eine gleichsam einen Buckel, eine
                    Verengerung der Straße bildete. Klein und niedrig war es, dieses Goldgrübli,
                    aber an welcher Lage! An einer geradezu beherrschenden. Demgemäß war denn auch
                    der Zuspruch. Eine fest angestammte Kundschaft von Stadt- und Landleuten
                    erneuerte sich, da schon die Eltern Rollenpuz hier in Ehren gehausst, von
                    Generation auf Generation. Die jetzigen Besitzerinnen hatten jedoch keineswegs
                    bloß auf den alten Lorbeeren geruht, sondern ihre Bekanntheit, ja man kann sagen
                    Berühmtheit, auf eigne Faust und Art erworben. Sie galt den Persönlichkeiten
                    mindestens ebenso wie dem Wert ihrer über jede Kritik erhabenen Waren. Jhre
                    selbstgemachten Nudeln und Fideli!), ihre dito Salben gegen Brandwunden und
                    Gefrörne und so weiter hatten denselben Ruf wie ihre Beredsamkeit, namentlich
                    die Käthers, der verwitweten Boßhardt. Dieser Tapferen mochten bei ihrer
                    ursprünglichen Redebegabung noch zehn stürmische Jahre einer längst
                    überstandenen Ehe zur vollen Lösung der Zunge verholfen haben. Gritli war <pb
                        n="5"/>gegen sie eine schüchterne Schülerin. Wenn es aber sein mußte,
                    stellten beide glänzend ihren Mann. Brauchte nur einer etwa zum Spaß ihre
                    strahlend blanke Frauenehrbarkeit oder, was ihnen ebensoviel galt, die Güte
                    ihrer Verkaufsspezialitäten in Zweifel zu ziehen. Wie Löwinnen verteidigten sie
                    sich, und der Übermütige konnte unfehlbar geschlagen von dannen ziehen.</p>
                <p>Im ganzen jedoch lebten die beiden mit der Welt wie untereinander in schönster
                    Eintracht. Auf letzteres deutete allein schon die Art, wie sie in dem engen
                    Ladenraum geradezu harmonisch sich bewegten, die stattliche Frau Käther und das
                    schmalgebliebene Gritli, das, wenn es sein mußte, sich fast zu einem Nichts
                    zusammenziehen konnte. Außer den Warenvorräten, zwei abgesessenen Lederstühlen
                    und einem braven Öfelein, wo gelegentlich auch gekocht wurde, hatte nur noch das
                    Büsi') Platz, Gritlis geliebtes Schoßkind, sonst nichts. Die Kunden standen
                    draußen auf der Straße unter einem kleinen Vordächlein, wo sie durchs Fenster
                    bedient wurden. Im Sommer war das Jensster ganz ausgehängt und gewährte einen
                    lustigen Einblick in das Allerlei, welches hier mit wahrhaft genialer Ausnuzung
                    des Raumes aufgestapelt war. So wie man in alten Spezereihandlungen manchmal
                    einen Meerfisch, ein Krokodil an der Decke hängen sieht, schwebten hier Besen
                    verschiedenster Art über den Häuptern der Besitzerinnen. Sie sselbst aber
                    standen oder saßen förmlich umdrängt von ihren Handelsartikeln, ihrer winzig
                    kleinen und doch sehr wohlbestellten Welt, die nicht umsonst den Namen
                    Goldgrübli bekommen hatte, und führten angesichts des regen Straßenverkehrs das
                    unterhaltendsste Leben. Die Tagesneuigkeiten flogen ihnen nur so zu.
                    Infolgedessen war hier natürlich auch ein beliebter Ort für Auskünfte und
                    Meinungsdebatten, die am Morgen schon begannen, wenn Kälher als erste das
                    Tagblatt las. Sie kritisierte dabei den Weltlauf im großen und kleinen auf eine
                    ganz gesalzene Art. War ihr Wissensdurst durch diesen ersten Akt befriedigt, so
                    vermochte weiter keine Lektüre sie zu fesseln. Ihr Interesse gehörte vielmehr
                    dem Pulsschlag des Augenblicks. Jede, die kleinste Szene, welche sich auf der
                        <pb n="6"/>Straße abspielte, erregte ihre Aufmerksamkeit. Kam etwas Größeres
                    vor, ein Menschenauflauf, Feuerlärm oder sonst so etwas, dann war sie mit
                    wenigen großen Schritten im Freien, um sich von den Vorkommnissen zu überzeugen.
                    Gritli indessen blieb ruhig auf dem Platze und wartete den Bericht über das
                    Geschehene ab. Sie war die Zurückhaltendere, die überhaupt lieber von ihrem
                    geborgenen Winkel aus die Dinge betrachtete und so von jeher das Leben mehr aus
                    dieser Perspektive, als direkter Erfahrung kennen gelernt hatte. Sie war in
                    allen Beziehungen die zartere Hälfte des Schwesternpaares. Schon in der Jugend
                    stand ihr Käther weit voran durch ihre rotwangige Erscheinung und ein resolutes
                    Wesen. Die hatte sich immer hinausgewagt, sogar in verschiedene Stürme, die sie
                    aufrecht bestanden, während Gritli daheim still das Nudeln- und Fidelimachen
                    geübt und daneben eine einzige, bitter-süße Liebeserinnerung erworben hatte, die
                    heute noch manchmal wie ein fernes Sternlein vor ihr aufschimmerte. Über die
                    kurze Blütezeit ihres Herzens war jäh ein Frost gekommen. Der Gegenstand ihrer
                    Schwärmerei, ein leiblicher Vetter, Namens Rudolf Rollenputz, hatte nämlich
                    einst durch einen Gewaltstreich beim Ringen seinen Kameraden so elendiglich
                    geworfen, daß ihm das Lebenslicht ausgeblasen schien, worauf der Sieger in
                    blinder Verzweiflung und Freiheitsdrang zugleich das Weite suchte und für immer
                    verschwunden blieb. Vor vierundzwanzig Jahren war das geschehen. Sie hatte nie
                    mehr vielleicht bloß aus schnöder Vorsicht seinerseits, obwohl sein Unterlieger
                    weiterlebte – vom Vetter Ruedi gehört, der das reinste Gegenstück zu ihrer
                    Zartheit, ein Herkules, und dabei der gutmütigste Mensch gewesen, dessen tolle
                    Kraftstücke unter den Kameraden ebenso bekannt wie gefürchtet waren. Noch lange
                    nachher, wenn sie ähnliche Gestalten sah, wallte es in ihr auf, und ein eignes
                    Mitleid überkam sie mit dem armen Großen, der sich unter einer eingebildeten
                    Schuld weiß Gott wo in der Welt herumschlug oder vielleicht gar nicht mehr
                    lebte. Allgemach hatte sie ihr Herzeleid aber doch überwunden, gerade so wie
                    Käther den Nachgeschmack vom trügerischen Glück ihrer Ehe. Jetzt lebten sie, als
                    hätte es für sie nie Männer und <pb n="7"/>Enttäuschungen gegeben, im schönsten
                    Seelenfrieden und genossen das Leben eigentlich mehr als in jüngeren Jahren.</p>
                <p>Dazu trugen nicht wenig ihre häuslichen Verhältnisse bei. Wenn sie um acht Uhr
                    abends den Laden schlossen und heimgingen in die nahegelegene Wohnung, das Büsi
                    im Korb, das schon auf diese Art des Transportes dressiert war, dann kamen
                    eigentlich noch die besten Stunden des Tages, das Privatleben, die Erholung.
                    Hierbei spielte eine Familie Wüest, Eltern und Tochter, die auf demselben
                    Stockwerk mit den Rollenputzen wohnten, eine große Rolle. Vater Wüest besorgte
                    für die Schwestern öfters Buchhaltungsgeschäfte und kompliziertere
                    Korrespondenzen. Er war überhaupt in Lagen, wo sie einen Mann brauchten, ihr
                    Beistand und Ratgeber. Alles verstand er, alles konnte er. Das kam von seinem
                    wechselvollen Leben, in dem er Schulmeister, Kaufmann, Bahnbeamter, auch
                    Mitarbeiter eines Bezirksblättchens und noch mehreres gewesen. Endlich hatte er
                    sich in ein kleines Schreiberamt gerettet, neben dem er alles mögliche trieb,
                    was sonst noch Verdienst brachte, Zufalls- und Vermittlungsgeschäfte,
                    Kopierarbeiten, Gelegenheitsdichtereien und dergleichen mehr.</p>
                <p>Seit einer Anzahl von Jahren hausten die Rollenputzen mit diesen Leuten in
                    nächster Nachbarschaft, die beiderseitigen Wohnungen nur durch eine sogenannte
                    Zinne getrennt, eine Art größeren Dachbalkons, der hinüber in die winkeligen
                    Manssarden der Wüessts führte. Hier saßen diese drei –+ ein Sohn, der für sich
                    lebte, stieß zuweilen noch dazu ~, umgeben von den Überresten besserer Tage, in
                    obskurer aber vergnügter Freiheit, zufrieden, wenn sie etwas hatten, unverzagt,
                    wenn es gerade nicht glänzend stand. Trotz allerlei Rissen und Windlöchern hatte
                    der Haushalt etwas Behagliches. Er strömte eine gewisse Nestwärme aus, die das
                    alternde Schwesternpaar anheimelte, zumal dieses mit seinen steiferen Ansichten
                    von Haben und Leben immer wie in ein grünes Gärtchen blickte, wenn drüben die
                    unverwüstliche Hoffnungsfähigkeit einmal wieder siegte. Das Schicksal verfuhr
                    mit den Leutchen, nachdem es sie genugsam gerüttelt, jetzt wirklich gnädig.
                    Stets tat sich im Fall der Not wieder irgendwo ein Spältchen blauer Himmel auf
                    und stimmte ihre Herzen sogleich höher. Das <pb n="8"/>warf seinen Abglanz auch
                    auf Gritli und Käther, die in ihrem sicheren Bestand nie so hochbeschwingt
                    waren. Sie feierten manchen solchen Augenblick mit, wenn sie des Abends gerade
                    dazustießen, führten ihn auch manchmal selbst herbei durch eine
                    freundschaftliche Tat. Denn sie waren in der eignen Geborgenheit wohl sparsam,
                    aber keine Geizhälsse geworden.</p>
                <p>Dann ging es da oben unter den bejahrten Leutchen zu, daß es eine Freude war, mit
                    Disputieren, Erzählen, Deklamieren und Singen. Die Wüests gaben ihren
                    wohlmögenden Nachbarinnen zuiveilen, eine Art Gratisvorstellung, wobei sich
                    diese herrlich unterhielten. Jedes betrieb hier seine eigne Kunst. Die Mutter
                    sang noch zur Guitarre, obwohl sie kaum mehr einen Zahn im Munde hatte. Der
                    Vater dichtete, was man haben wollte; ja, wenn er ein gutes Gläschen hatte,
                    sprach er sogar in Versen. Und die Tochter erst ~ Regula hieß sie ~ besaß in
                    erhöhtem Maße die poetische Ader des Alten, überhaupt einen starken Hang zum
                    „Jdealen“. Sie deklamierte gern eigne Verse, hielt sich für ein verkanntes Genie
                    und putzte sich demgemäß oft ganz phantasstisch heraus. Die Folgen einer
                    langwierigen Krankheit hatten sie bisher verhindert, einen eignen Erwerb zu
                    suchen, dafür aber in die höhere Welt der Gedanken geführt. Verschiedenes war
                    schon von ihr gedruckt erschienen. Sie nahm deshalb ihren Alten gegenüber eine
                    gewisse Resspektstelung ein, führte große Worte im Munde und sprach von ihrer
                    Zukunft mit einem verheißungsvollen: Wartet nur! Auf diese Rechnung ließ sie
                    sich von der Mutter bedienen, hätscheln, die besten Bissen vom Mund absparen.
                    Und diese, in längst verflossenen Zeiten einmal vermögend gewesen, fand die
                    Neigungen ihrer Tochter ganz erklärlich, ein Zeichen des ehemaligen Standes, auf
                    das sie noch stolz war. Kurz, es ging hier alles in Gemütlichkeit zu, und das
                    Kleinste konnte zum Anlaß werden, daß sie bei einem improvisierten Schmäuslein
                    sich des Daseins freuten. Sie schufen sich die Feste ihres Lebens selber. Und
                    dabei weiteten sich die schräg zulaufenden Dachwände oft zu Hallen, durch welche
                    die kühnsten Hoffnungen stolzierten und ein weites blaues Meer voll unbekannter
                    Schätze winkte. Nur wenn der Sohn hie und da erschien, <pb n="9"/>sich mürrisch
                    in eine Ecke setzte und nach den neuesten Narrheiten seiner Schwester fragte,
                    dann konnte die Gemitlichkeit einmal in Aufruhr umschlagen, bei dem das
                    Nachtgevögel einstiger dunkler Begebnisse aufgescheucht wurde. Aber es geschah
                    selten und gab nachher meist wieder Frieden, indem die Alte ihre tief gekränkte
                    Tochter besänftigte, der Herr Vater aber zur Verträglichkeit mahnte unter dem
                    Hinweis, daß Regis Narrheiten zunächst doch ihn angingen, da er der
                    Familienlastesel sei, was er ohne alle Bitterkeit, ja mit Humor
                    konstatierte.</p>
                <p>Schon vor einiger Zeit war bei diesen Abendzusammenkünften von einem Jubiläum die
                    Rede gewesen, das im Frühling gefeiert werden müsse, ein vierzigjähriges
                    Geschäftsjubiläum und zugleich der vierzigste Hochzeitstag der Wüests. Man kam
                    einmal wieder darauf zu sprechen.</p>
                <p>„Ja —~ von welchem Geschäft eigentlich?“ fragte Käther. „Sie haben ja allerhand
                    getrieben."</p>
                <p>Herr Wüesst sschmunzelte. „Vom ~ ersten."</p>
                <p>Eine Papierhandlung war es. Das Papier sei ihm nach dem vorherigen Lehrerberuf
                    der quasi nächste Artikel gewesen. Da habe der Schwiegervater das Geschäft für
                    das junge Paar eingerichtet ~ und wie!</p>
                <p>Und nun wurde von jenen Zeiten berichtet, von den nobelsten Bekannt- und
                    Verwandtschaften, mit denen man ganz intim gestanden. Eine längst gesunkene
                    Sonne stieg strahlend wieder herauf — und ihren jähen Untergang nachher
                    verschwieg man.</p>
                <p>Ja, das mußte gefeiert werden, und zwar wie es sich gehört. Regi beschloß ein
                    Festspielchen zu verfassen, das auf der Zinne draußen gespielt werden sollte, da
                    der Anlaß in den Frühling fiel, wo man die schönen Abende ohnehin auf dieser
                    luftigen Höhe genoß, und wo schon allerlei Grün den Schauplatz schmücken konnte.
                    Wüests und die Rollenputzen hielten hier nämlich ein kleines Gärtchen in
                    Holzkisten, von Vater Wüest das Jungferngärtli genannt, wo Epheu, Winden,
                    Kletterbohnen, aber auch Schnittlauch und Petersilie gezogen wurden für die
                    Küche. Dazu wehten ein paar hochgeschossene dünne Oleander wie einsame Palmen in
                    der Luft. Sogleich stand den phantasievollen Festmachern <pb n="10"/>der
                    Schauplatz vor Augen, wie er sein müßte, mit Laubgewinden, bunten Lampen und so
                    weiter.</p>
                <p>„Nicht übel," sagte Vater Wüest zu seiner Tochter. „Mach's nur einstweilen. Je
                    nachdem es mit den Moneten steht, fallen dann die Dekorationen aus."</p>
                <p>„Etwas Schönes und Sinnreiches mußt du erfinden," eiferte die Dichtermutter das
                    Regi an. „Du kannst's ja!"</p>
                <p>Gritli blickte sinnend zu ihnen hinüber.</p>
                <p>„Es ist etwas Merkwürdiges mit diesem Dichten,“ sagte sie. „Jch könnte lang
                    studieren, und käme Doch nichts heraus."</p>
                <p>„Ja, wenn's nur so mit dem Studieren ginge, haha! Da würde mancher vom Leder
                    ziehn! Das Regi ist leider nicht an seinem Platz in der Welt, es müßte unter die
                    rechten Leute kommen, dann ginge es erst, wie's sein sollte."</p>
                <p>„Was, rechte Leute? Was sssind denn wir?" fragte Käther beleidigt.</p>
                <p>„Pah, unter Dichter und solche, mein’ ich."</p>
                <p>„Ja so," war die ziemlich geringschätzige Antwort.</p>
                <p>Das mit den rechten Leuten ärgerte Käther aber doch, da sie sich, wenn auch nicht
                    zu „Dichtern und solchen“, immerhin zu denen rechnete, die den Verstand auf dem
                    rechten Fleck haben. Und so spielte sie auch einen kleinen Trumpf aus.</p>
                <p>„B'hüetis, wegen so einem Jubiläum, das hätten wir auch schon lang machen
                    können.“</p>
                <p>„Warum habt ihr es nicht getan, zum Donner?" fragte Vater Wüest, in dessen Kopf
                    sogleich eine spekulative Jdee aufstieg.</p>
                <p>„Weil wir solchen Firlefanz nicht brauchen. Wenn ein Geschlecht einmal über
                    fünfzig Jahr am gleichen Ort ist, kennt man's ohne viel Geschrei."</p>
                <p>„Was? Über fünfzig ?"</p>
                <p>„Jawohl! Ist das etwa nicht auch so eine Seltenheit, zu der die rechten Leut’
                    gehören ?" fragte sie mit anzüglichem Spott. „Sogar ins zweiundfünfzigste
                    geht's. Ich hab’ es letzthin erst wieder in unsrer Familienbibel gelesen. Da hat
                    die Mutter selig eingeschrieben: So und so halt, den Datum, Anno 1827, <pb
                        n="11"/>am 3. Aprillen. An Gottes Segen ist alles gelegen. Heute haben wir
                    die erst Losung vom Lädeli heimgebracht. Vier Gulden, drei Böck !), fünfzehn
                    Rappen."</p>
                <p>„Und das habt ihr so im stillen hingehen lassen mit dem halben Jahrhundert,
                    anstatt daß es das ganze Niederdorf gewußt hat? Ich. hätte, bigott, wenn ich im
                    Stadtrat wäre, das Ehrenbürgerrecht für euch angetragen."</p>
                <p>„Wir sind ja sonst Burgerinnen von Zürich.“</p>
                <p>„Oder ein Rollenputzgäßli da irgendwo herum."</p>
                <p>„O Sie Schnörrewagner! ?) Was noch mehr?" lachte Käther wieder versöhnt. „Wir tun
                    zu solchen Zeiten etwas Rechtes in den Kirchensäckel, für die neuen Peterglocken
                    oder sonst einen guten Zweck; das ist gescheiter.“</p>
                <p>„Schön, schön,“ sagte Vater Wüest. „Deshalb braucht man sich selber auch nicht zu
                    vergessen. Wißt ihr was? Wir wollen miteinander ein Gederkfestlein feiern, als
                    gute Nachbarn und Freunde. Wir hätten schon lang einmal so etwas veranstalten
                    sollen.“</p>
                <p>„Zu was ?"</p>
                <p>„Zu was hat Gott der Herr nach sechs Tagen am siebenten geruhet und sich gefreut?
                    Warum haben wir Sonn- und Feiertage? Damit Leib und Seele sich erholen können,
                    sintemal der Mensch nicht vom Brot allein lebt!" rief Herr Wüest wie ein Pfarrer
                    von der Kanzel jetzt im breitesten Zürihochdeutsch.</p>
                <p>„Unterstützt", sagte seine Tochter Regula.</p>
                <p>„Jhr gönnet euch für eure glänzenden Verhältnisse viel zu wenig. Was wär's,
                    pottausend! wenn ihr aus Dankbarkeit für euer Wohlergehen einmal ein
                    Extrafeiertäglein machen würdet, anstatt dem schnöden Einerlei zu frönen,
                    jahraus, jahrein ? . Die Freude am Leben ist auch ein Hallelujah !“</p>
                <p>Die Rollenputzen sahen ganz verdutzt den Sprecher an.</p>
                <p>„Wir sind ja so auch zufrieden“, wandten sie ein.</p>
                <p>„Ja, ja,“ wollte er fortfahren. Da kam ihm aber Regi dazwischen.</p>
                <pb n="12"/>
                <p>„Bloß wenn die Geister einschlafen, ist man zufrieden! Euch ist es eben immer im
                    gleichen Trott gut gegangen, darum seid ihr mit dem Brosämlein zufrieden, die
                    ihr euch gönnt. Unzufriedenheit ist die Mutter des Aufschwungs und Fortschrittes
                    !"</p>
                <p>„Das Regi wird wieder einmal in so einer roten Versammlung gewesen sein. Dann
                    führt sie allemal solche Reden,“ sagte Käther.</p>
                <p>„Was wissset ihr vom Leben und von den Jdealen und sonstigen schönen Dingen der
                    Welt ?" rief Regi, warm werdend beim bloßen Gedanken an alle vorhandenen
                    Herrlichkeiten, die sie auch noch nicht genossen hatte. „Nicht einmal was
                    hinterm Örlikonertunnel liegt, wißt ihr recht und könntet es so prächtig haben.
                    Da wollte ich's anders machen, bei Gott!“</p>
                <p>„Glaub’'s wohl," lautete die lakonische Antwort.</p>
                <p>So ganz verhallte die Mahnung aber doch nicht, besonders bei dem empfänglicheren
                    Gritli. Es gestand sogar, daß es schon manchmal gern ein bißchen mehr vom Leben
                    gehabt hätte . ..</p>
                <p>Also!</p>
                <p>Das Familientrifolium griff diese Äußerung gleich enthusiastisch auf und brachte
                    es richtig so weit, daß Käther zu dem Vorschlag eines gemeinsamen Festleins
                    nicht mehr gerade nein sagte.</p>
                <p>Es tauchte im Gegenteil wieder auf, wie eine fröhliche und im Grund ganz
                    berechtigte Lockung, dem alltäglichen Leben doch einmal von sich aus ein
                    Freudenlichtchen aufzusetzen, ob nun vierzig oder zweiundfünfzig Jahre dazu
                    Anlaß gaben. Und die Lebenskünstler Wüest taten – aus guten Gründen – das Jhrige
                    zum Gelingen.</p>
                <p>* * *</p>
                <p>Die Jahreszeit rückte nun in jenes Stadium, wo die Morgensonne schon recht
                    eindringlich in das Rollenputzlädeli schien und das Aushängen der Fenster nicht
                    mehr lange auf sich warten ließ.</p>
                <p>An Sonntagen aber konnte man herrlich auf der Zinne droben sitzen, die wie eine
                    Brücke über verschiedene Dachabgründe führte. Die Epheu- und Oleanderbäumchen
                    standen bereits an ihrem Ort, auch die Schnittlauch- und Petersilienpflanzungen.
                    Wenn es gegen Mittag lieblich nach Sonntagsbraten zu duften anfing <pb n="13"
                    />kamen von hüben und drüben die Hausfrauen aus der Küche, um sich ein
                    Büschelein des frischen Gewürzes zu holen, hier Frau Wüest, drüben Frau Käther.
                    Gritli las indessen, umflossen von Ruhe und Sonnenschein, ihre „Abendglocken",
                    ein reformiertes Wochenblättchen, auf das sie abonniert war, während Regi etwas
                    hinkenden Ganges hin und her wanderte, bald nach dem junggrünen Zürichberg, bald
                    über Stadt und See weg nach schimmernden Wolkengebirgen ausschaute, als müßte da
                    irgendwo ein Glück dahergefahren kommen. Denn auf Glück wartete sie immer. Das
                    war überhaupt eine harmlose Familieneigenschaft der Wüests. Regi hatte hier oben
                    im Freien an so einem leuchtenden Sonntagmorgen auch stets dichterische
                    Einfälle, wenn der Schall der Glocken über ihre freie Höhe hinwogte und Ahnungen
                    in ihr wachrief, von einem leichtbeschwingten, schönen Leben voll Liebeswonnen
                    und allerlei Reichtum. Gritli dagegen, die allsonntäglich zur Kirche ging,
                    feierte hier oben eine zweite Andacht und schwelgte jedesmal auf ihre Art, wenn
                    in der Nachbarschaft aus einem unbekannten Raum, fast regelmäßig um dieselbe
                    Stunde, Harmoniumklänge sanft getragen, leise vibrierend herauftönten und ihr
                    von ewigen Seligkeiten zu erzählen schienen.</p>
                <p>Heute, an solch einem Sonntagmorgen, hatte Regi das Huldigungsgedicht für die
                    vierzigste Hochzeitsfeier eben fertig gebracht und schickte sich an, es Gritli
                    im Vertrauen, zwischen ihre Abendglocken hinein, vorzulesen. Sie war von dem
                    Gedanken eines Festspiels abgekommen, indem sich für ihre Idee, Amor und Merkur
                    darin auftreten zu lassen, keine Darsteller fanden. Sie allein konnte beide
                    nicht vereinigen, und Gritli hatte sich energisch gegen eine Männerrolle, noch
                    obendrein mit Taubenslügeln an den Füßen, wie es die Dichterin haben wollte,
                    gewehrt. Den Bruder aber wünschte man, der Gemütlichkeit wegen, lieber nicht
                    dazu. Und so hatte Regi denn einen Prolog ausgedacht, den sie als Muse sprechen
                    wollte. Es war nur noch die Frage, ob gleich am Morgen zum Beginn des festlichen
                    Tages oder erst abends, wenn jedenfalls die gehobenere Stimmung da war.</p>
                <p>Gritli meinte, natürlich am Morgen.</p>
                <pb n="14"/>
                <p>Da mußte sie aber früher aufstehen als die Alten, und das sei ihre Sache nicht,
                    entgegnete Regula. Überdies habe sie mit leerem Magen keine Begeisterung, und in
                    der Stube sei morgens kein würdiger Schauplatz wegen der Unordnung.</p>
                <p>Als die beiden eifrig hierüber berieten, tönte aus der einen Tür: „Regi – zum
                    Essen!“ Und gleich darauf aus der andern: „Gritli, chumm !"</p>
                <p>Da blieb die Dichtung auch für Gritli noch ein Geheimnis, Sie verschwanden ohne
                    Säumen hinter ihren niedrigen Türen, wo der liebe gedeckte Tisch ihrer
                    wartete.</p>
                <p>Die Räuchlein aus den Kaminen verwehten ringsum, und wohlige, sonntägliche
                    Mittagsstille lag über dem Jungferngärtli, den braunen Ziegeldächern und der
                    Frühlingslandschast, die aus Nähen und Fernen herüberschaute.</p>
                <p>* * *</p>
                <p>Die Rollenputz-Schwestern hatten mit den Wüests ausgemacht, daß nicht etwa eine
                    Niederdorf-Öffentlichkeit aus diesem sogenannten Jubiläum gemacht werde,
                    wenigstens was sie betreffe, denn sie kannten ihre Pappenheimer, die immer einen
                    Zug ins Größere hatten. Sie plagte diese Leidenschaft nicht, und darum wollten
                    sie einfach das Jhrige zur Feier des Tages beitragen ~ das war ja doch die
                    Hauptsache ~, aber sonst keine Faxen. Ein Sonntag wäre ihnen am passendsten
                    vorgekommen. Regi jedoch bestand darauf, das Datum einzuhalten; so etwas sei
                    nicht bloß für die reichen Leute; die andern hätten auch das Recht, ihre Feste
                    zu feiern, wie sie fallen. Und so fiel dieses auf einen Mittwoch.</p>
                <p>Es war ein goldener, warmer Tag, einer der letzten. im Mai. Das Jubelpaar machte
                    mit Regi, alle drei, so flott es eben ging, herausstaffiert, eine
                    Dampfschifspartie mit Einkehr in einem bewährten Wirtshaus, damit die Frau
                    Mutter heute nicht kochen mußte. Um sechs Uhr kehrten sie aber prompt zurück,
                    sehr vergnügt und durstig. Frau Wüest band, nachdem sie zuerst für etwas
                    Trinkbares gesorgt, gleich eine zerrissene Küchenschürze über ihr mit kühner
                    Phantasie zusammengestoppeltes Festgewand <pb n="15"/>– ein Stück von ehedem,
                    dessen Verlegenheitsstellen durch allerlei knitterige Falbeln und Schleifen
                    herausgeputzt waren. Sie begann nun das Festplätzchen auf der Zinne
                    herzurichten, während Regi zuerst ein wenig ausruhen zu müssen erklärte.</p>
                <p>Auf der einen Seite dieser Zinne, unter dem schräg herablaufenden Dach, gab es
                    einen Winkel, wo man behaglich sitzen konnte. Hier wurde nun das ganze
                    Jungferngärtli, nämlich alles, was wuchs, auf Kisten und wackeligen Stühlen
                    zusammengesstelt, damit es eine Art Laube bilde. Zur weiteren Dekoration hatten
                    die drei aus Wiesen und Wald noch tüchtig Grün mitgebracht.</p>
                <p>Vater Wüest kam in Hemdärmeln, um der Gattin zu helfen. Sie waren beide in
                    rosigster Laune, ganz der Gegenwart hingegeben, als hätten sie längst vergessen
                    oder, noch besser, überwunden, was ihnen das Leben in diesen vierzig Jahren
                    angehabt, die sie heute feierten. Sie fanden es auch ganz in der Ordnung, daß
                    Regi drinnen auf dem verrutschten Sofa lag, dieweil sie mit unsicheren Füßen
                    stuhlauf und -ab stiegen, Nägel einschlugen, Bindfaden längs der Wand zogen und
                    Zweige dahinter steckten, alles mit behender Munterkeit. Einige Papierlaternen
                    wurden zulezt noch aufgehängt und sogar rechts und links über dem Tisch ein
                    Fähnlein ausgesteckt. Endlich war alles fertig und das Plätzchen wie ein „grünes
                    Stübli" anzuschauen. Das hatten sie zur Überraschung der Schwestern Rollenputz
                    so ausgesonnen und darum jetzt erst gemacht. Wußten sie doch, daß auch von jener
                    Seite eine Überraschung kommen würde.</p>
                <p>Es war noch hell, als die Festteilnehmer auf der Zinne zusammentrafen, die Alten
                    wieder ganz in ihrem Wichs, mit rosigen Gesichtern — sie hatten sich zur
                    Stärkung einstweilen ein Gläschen Wein gegönnt , Regi noch unsichtbar, die
                    Rolleputzen aber wie die Könige aus Morgenland, jede eine Gabe tragend, Käther
                    eine große Schüssel mit lecker duftendem Inhalt, Gritli einen Krug.</p>
                <p>Das Jubelpaar schnupperte freudig der Huldigung entgegen.</p>
                <p>„So, ihr alten Hochzeitsleute," sprach Käther, „da kommt die Ürte. ') Es ist ein
                    Kränzli; aber weil's nicht mehr für die <pb n="16"/>silberne Hochzeit ist und
                    noch nicht für die goldene, so haben wir eins machen lassen, das zwischen hinein
                    paßt, wenn man's auch nicht aufsetzen kann: ein Bratwurstkränzli !). Guten
                    Appetit und Glück dazu!"</p>
                <p>„Ja, potztausend," wollte Vater Wüest, wie höflich überrascht, mit glänzenden
                    Augen eine Gegenrede beginnen - da trat aber schon Gritli mit ihrem Kruge
                    vor.</p>
                <p>„Und ich," sagte sie, „komme mit einem Tröpflein, um den allfällig noch
                    vorhandenen Liebesbrand zu löschen! Was gilt's, es gloset ?) noch da und dort,
                    und ihr könnet was Nasses wohl brauchen, wenn ihr das Kränzli anstatt auf dem
                    Kopf im Leibe habt. Gesundheit! Und wohl bekomm's !"</p>
                <p>Die Rollenputzen hatten diese scherzhafte Anrede so verabredet.</p>
                <p>„O, ihr Frauen," stammelte Mutter Wüest gerührt, als ob sie dies alles gar nicht
                    erwartet hätte; „was für Einfälle und Umstände macht ihr mit uns!"</p>
                <p>Aber auch sie wurde unterbrochen durch das Erscheinen Regis, die richtig als Muse
                    kam, das Haar gelöst, einen Epheukranz auf dem Kopf, in einem weißen
                    Mussselinkleid, das ihr zwar zu eng, aber durch verschiedene Draperien dem
                    heutigen Zwecke dienstbar gemacht worden war. Regi, vom Dufte der Bratwürste
                    angelockt, kam mehr hervorgeschossen als geschwebt. Ihre Augen hingen ebenfalls
                    glänzend an der Schüssel mit dem appetitlichen Wurstgeflecht, da sie viel
                    Empfänglichkeit für leibliche Genüsse hatte. Sie vergaß derart ihre Rolle, daß
                    sie, in die Hände klatschend, rief: „Ah, Bratwürst!"</p>
                <p>Woher kommen Sie?" fragte Käther, Regis Aufzug betrachtend, da sie noch nichts
                    von dem Musentum wußte. „Aus dem Bett ?"</p>
                <p>„Nein, vom Parnaß,“ sprach Regi mit Selbsstgefühl.</p>
                <p>„Wo ist das ?"</p>
                <p>„Ihr werdet's schon hören. Aber ihr müßt absitzen, dort in die Laube. Nur ich
                    will stehen." Und sie schickte sich im Hinblick auf den Wurstkranz, der warm am
                    besten schmeckte, gleich an, den Prolog zu sprechen.</p>
                <pb n="17"/>
                <p>Vater Wüesst verstand aber diesmal die Tochter nicht und neigte wehmütig das
                    Haupt zur Seite.</p>
                <p>Sollen sie kalt werden unterdessen?! Nichts besseres als so eine saftige, warme
                    Bratwurst ! !"</p>
                <p>„So soll 's Regi einfach nachher seine Sach’ aufsagen," entschied Käther.</p>
                <p>Die Muse stutzte über dieses Wort, tat aber in Anbetracht des bevorstehenden
                    Genusses nicht beleidigt.</p>
                <p>Und so ging es unverweilt in bester Harmonie zu Tisch.</p>
                <p>Vater Wüest schenkte Wein ein. Auch er hatte ein ansehnliches Krüglein für diesen
                    Abend herbeigeschafft.</p>
                <p>„Zur Gesundheit, ihr huldreichen Frauen!“ rief er begeistert mit fettem Kinn.
                    „Solche Kränze munden, beim Eid, schier besser als die von Myrten."</p>
                <p>„Die ißt man ja nicht –~ weiß aber doch, daß sie gallenbitter sind, wenn man
                    hinein beißt," lachte Käther, die immer ironisch wurde, wenn von dieser Seite
                    des irdischen Glückes die Rede war.</p>
                <p>„Weswegen ich aber nicht gesagt haben will," fuhr er, in sein breites Hochdeutsch
                    übergehend, fort, „daß die Liebe nicht auch eine schöne Sache sei. Potztausend!
                    Sie ist sogar das hohe Lied –~"</p>
                <p>„Sind Sie still von dem! Mir ist's erst wohl, seit ich nichts mehr davon
                    weiß."</p>
                <p>„Haben's aber doch auch probieren müssen, wie's ist, und denk’ wohl, mehr als
                    einmal ~ haha!"</p>
                <p>Regi lachte mit vollen Backen und stieß Gritli an. „Das mit dem Wohlsein sagen
                    sie immer nachher + vorher nicht!"</p>
                <p>„Man muß es halt erlebt haben, was ein Schlufi !) ist," entgegnete Gritli
                    ernsthaft, „sonst glaubt man's nicht."</p>
                <p>„So, und jetzt hab’ ich grad’ ein Hoch auf die Tage der Rosen bringen wollen,"
                    rief Vater Wüest.</p>
                <p>„Lieber auf die Tage der Bratwürst’," sagte Käther.</p>
                <p>„Bravo! Jugend vergeht, aber 's Goldgrübli besteht!"</p>
                <pb n="18"/>
                <p>„Sonst heißt es: Tugend besteht," warf Gritli ein.</p>
                <p>Vater Wüesst blinzelte sie übermütig an. „Jaaa ~ wenn's nur immer so sicher wär’
                    ~"</p>
                <p>Gritli reckte sich. „Was? Mit der Tugend ?"</p>
                <p>„Mit dem Bestand? Weil auf dieser schönen Erde gar alles so vergänglich ist,"
                    schmunzelte der Spötter.</p>
                <p>„Von dem können Sie mehr reden als ich," gab Gritli prompt zurück. „Jetzt
                    schweigen alle Wälder. Es ist aber nicht immer so still gewesen! Man müßte
                    wahrscheinlich nicht weit in diesen vierzig Jubiläumsjahren zurückwandeln !“</p>
                <p>„Ihr Rollenputzen seid die reinsten Drachentöter mit euerm Mundstück. Woher habt
                    ihr das auch ?"</p>
                <p>„Vom Handel und Wandel."</p>
                <p>Allgemeines sröhliches Gelächter. Der Wurstschmaus nahm nicht bloß allen
                    Sticheleien die Spitze, er verklärte sie sogar zu Zeichen echter Freundschaft,
                    die den Humor und ein bißchen Übermut unempfindlich verträgt.</p>
                <p>„Loset!" !) rief jetzt auf einmal Käther, die Gabel, an welcher gerade ein Stück
                    Bratwursl steckte, emporhaltend. „Heute abend läuten die alten Peterglocken zum
                    letztenmal."</p>
                <p>Alle horchten auf.</p>
                <p>Das Gebetläuten hatte auf einigen Türmen begonnen. Jetzt tönte es über den Fluß
                    vom alten Petersturm, an dem die riesigen Zifferblätter noch vom letzten
                    Abendschein gestreift waren. Die Schwalben schossen durch die laue Luft um die
                    Schallöffnungen. In ganzen Scharen umflogen sie den Turm mit jubilierendem Ruf,
                    als wollten sie den guten alten Stimmen Antwort geben.</p>
                <p>„Lebet . wohl, ihr lieben Glocken," sprach Käther, als sie schwiegen. „Ein gut
                    Teil Leben haben sie uns geläutet. Wer weiß, wie lang die neuen es noch mögen
                    ?"</p>
                <p>„Ja nun, so haben wir doch unser Scherflein zu den neuen beigetragen," antwortete
                    Gritli gehoben; „es ist auch schön, so etwas mit zu erleben."</p>
                <p>„Natürlich! Denket doch," belehrte Vater Wüesst, ,„sie seien älter als die
                    Eidgenossenschaft" .</p>
                <pb n="19"/>
                <p>„Warum nicht gar," rief Käther empört.</p>
                <p>„Ja, ja, älter als das Vaterland."</p>
                <p>Einen Augenblick war Käther wie vor den Kopf geschlagen. Für sie hatte der
                    Begriff Vaterland nämlich so etwas wie: am Anfang war Gott und dann die
                    Eigenossenschaft. Nur mißtrauisch ließ sie sich von Vater Wüest und Regula
                    belehren. Diese beiden vertraten hier alles, was Gelehrtheit und höheres Wissen
                    betraf. Wenn sie so recht die Schleusen zogen, waren die RollenputzSchwestern
                    immer wieder verwundert, daß man so eine Masse von „Sachen“ im Kopf haben könne.
                    Nun wurde vom alten Zürich und seiner Urvergangenheit gesprochen, wobei Regula
                    das Wort ergriff und die Zeit beschrieb, wo die ganze Stadt im Wasser gestanden
                    habe, die Zeit der Pfahlbauer, blondmähnigerwilder Gesellen, die in Tierfellen,
                    sonst nichts, herumgelaufen seien. Und sie erinnerte an einen Festzug beim
                    Sechseläuten !), wo eine Gruppe „derige Wildmannen“ dabeigewesen, mit Steinärten
                    und -Pfeilen, weil man damals noch kein Metall gehabt habe. Das sei erst später
                    aufgekommen, und aus dieser Zeit stammten wahrscheinlich die alten
                    Peterglocken.</p>
                <p>Die Rollenpuzen waren einmal wieder ganz Ohr. Nichtsdestoweniger fragte Käther
                    kritisch, woher man denn das alles wisse.</p>
                <p>„Ha, aus Büchern."</p>
                <p>„Was, Bücher?" entgegnete Käther ungläubig. „Die werden grad’ Bücher geschrieben
                    haben, wenn sie sich noch nicht einmal haben Hosen machen können."</p>
                <p>Daran entspann sich ein lebhafter .Meinungsaustausch über diese dunkeln Dinge,
                    bei dem man von einem ins andre kam, bis endlich allen der Kopf brummte und man
                    zu dem klaren, realen Trost der Bratwürste zurückkehrte.</p>
                <p>Regi zündete dann die Papierlaternen an, die phantastische Farben und Lichter auf
                    die Gesellschaft warfen, besonders auf sie, die Muse selber, in ihrem weißen
                    Kleid und den offenen, rötlich-blonden Haaren. Sie erschien beinahe hübsch, als
                    sich <pb n="20"/>ihre helle Gestalt vom dunkelblauen Spätabendhimmel abhob, an
                    dem schon einige Sterne blinkten.</p>
                <p>Nachdem die Illumination hergestellt war und nun vermutlich der zweite Teil des
                    Festabends gekommen wäre + auch Vater Wüest hatte etwas in petto, einige
                    Schwänke im Züricherdialekt -, klopfte es an die kleine Glastür, welche auf die
                    Zinne führte, und zwei Männer traten heraus. Einer war der Butter- und
                    Eierhändler Schneebeli, ein altbekannter Nachbar, der andre ein junger, fremder
                    Mensch.</p>
                <p>„Ja ~ potz Fahnen und Kanonen! Was ist das für eine Festversammlung ?" rief Herr
                    Schneebeli. „Mir scheint, der Herr ist grad’ am rechten Tag gekommen. Jungfer
                    Rollenputz, da fragt ein junger Herr Rollenput, nach Ihnen."</p>
                <p>Die Gesellschaft blickte verwundert auf die Ankömmlinge, dann auf Gritli, die mit
                    großen, starren Augen dasaß.</p>
                <p>Da ermannte sich Käther, wie immer, zuerst.</p>
                <p>„Es gibt keinen jungen Rollenputz. Wir sind ja die letzten."</p>
                <p>„Reden Sie nur mit dem; der wird Sie anders berichten," sagte Herr Schneebeli mit
                    einer gewissen boshasten Freude. „Drum bin ich mit ihm hergegangen, damit er's
                    Jungfer Gritli auch gewiß findet."</p>
                <p>Der Nachbar Schneebeli hatte vor etwa zehn Jahren als Witwer eine der
                    wohlhabenden Schwestern heiraten wollen, war aber heimgeschicktt worden. Das
                    vergaß er ihnen, bei allem sonstigen guten Einvernehmen nicht. Es machte ihm
                    immer Spaß, sie ein bißchen zu ärgern.</p>
                <p>„Also, was vill er?" fragte Käther.</p>
                <p>Da schob Herr Schneebeli den fremden Jüngling vor, so daß er mehr in den Bereich
                    des Lichtes kam. Es war ein hochaufgeschossener Bursch mit fragenden Augen, in
                    abgenutzter Kleidung, die ihm an allen Enden und Ecken zu kurz geworden schien.
                    Er zog aus der Innentasche seines Rocks Papiere hervor und unter diesen einen
                    ziemlich abgegriffenen, dreifach versiegelten Brief mit der Adresse: Fräulein
                    Gritli Rollenpuyt, Niederdorf, Zürich. ~ Er reichte ihn Käther. Diese aber wies
                    ihn an ihre Schwester.</p>
                <pb n="21"/>
                <p>„Um Himmels willen,“ sprach Gritli verwirrt, „es wird doch nicht –~"</p>
                <p>„Eben das," triumphierte Herr Schneebeli. „Eine alte Liebschaft meldet sich. Der
                    Junge hat mir's erzählt. Lesen Sie jetzt nur."</p>
                <p>Gritli zögerte, den Umschlag zu öffnen. Erst auf Käthers Zureden tat sie es.</p>
                <p>In dem Brief stand geschrieben :</p>
                <p>„Liebes Gritli!</p>
                <p>Ich weiß nicht, ob Du noch lebst. Aber ich will Dir auf jeden Fall einen Gruß
                    schicken, bevor ich ins Jenseits abgehe, denn mit mir steht es glaub’ ich,
                    Matthäus am letzten. Wie und was, ist eine lange Geschichte. Dieses diktiere ich
                    einem Schweizer Landsmann, Heinrich Merihofer von Schaffhausen, welcher auch
                    hier in Buenos Aires ist und Auskunft über mich geben kann. Mein ehelicher Sohn
                    Rudolf soll es Dir auf meinen letzten Wunsch hin überbringen. Ich habe ihm
                    anempfohlen, wenn ich sterben muß, daß er heimkehre, denn er hat dann hier
                    niemand mehr, und dort ist er zuständig. Und wenn Du noch lebst, was Deinem
                    Alter nach ja wohl anzunehmen ist, so wirst Du ihm hoffentlich auch ein wenig
                    auf die Beine helfen. Er ist noch jung und gesund und ein ordentlicher Bursch.
                    Seine Mutter ist beim dritten Kind samt diesem gestorben. Das zweite auch. Der
                    Ruedi bleibt allein übrig, wenn ich von hinnen gehe. Wie es uns herumgeschlagen
                    hat, soll er Dir erzählen. Es war manchmal nicht schön, und ich habe oft elend
                    Heimweh auf Zürich gehabt. Aber zurückkehren und mich etwa noch ins Loch stecken
                    lassen wegen dem Streich, den ich, weiß Gott, ohne böse Absicht verübt habe,
                    nein. Hier war ich doch ein ehrlicher Mensch und kein Zuchthäusler. Es weiß
                    niemand von dem, was ich auf dem Gewissen herumgetragen habe, als jetzt der
                    Merihofer, dem ich alles sagte. Ich habe es gewiß schon lang abgebüßt. Dafür
                    soll der Rudolf in sein Vaterland zurück und ein Gewerbe lernen und seinen
                    Militärdienst machen, wie es sich gehört. Er spricht ganz gut deutsch, sogar
                    etwas zürich-deutsch, weil ich es ihm gelehrt habe, nebst englisch und spanisch,
                    was <pb n="22"/>man hierzulande im Norden und Süden können muß. Meine Frau selig
                    war auch von einer ausgewanderten Schweizerfamilie, eine Bernerin; aber wir
                    haben kein Glück gehabt. Du mußt aber nicht meinen, daß ich Dich deswegen
                    vergessen habe, im Gegenteil. Ich dachte oft ans Niederdorf und an Dich, Gritli,
                    und ob Du vielleicht auch einen andern genommen habest. Das waren schöne Zeiten.
                    Es geht mir oft das Lied im Kopf herum, welches wir damals und viele andre
                    gesungen haben: Zu Straßburg auf der Schanz’! Ich bin auch so einer, nur daß ich
                    nicht hinüberschwimmen kann. Ich gäbe elwas drum, wenn ich es könnte.</p>
                <p>Lebe wohl und gedenke meiner, wenn Du diesen Brief erhältst. Denn dann bin ich
                    unterm Boden. Aber der Rudolf kommt hoffentlich drüben an, und willst Du an ihm
                    ein gutes Werk tun, so danke ich Dir in der Ewigkeit dafür.</p>
                <p>Dein Vetter</p>
                <p>Rudolf Rollenputz.</p>
                <p>Diktiert im Hospital in Buenos Aires am 12. September 1879. Mit Unterschrift des
                    Schreibers Heinrich Merihofer und des Arztes."</p>
                <p>Gritli las andächtig und langsam. Das Blatt zitterte in ihrer Hand. Zuletzt
                    gingen ihr jäh die Augen über.</p>
                <p>„No, was ist's?" fragte sie Käther.</p>
                <p>„Das wär’ also" - es zuckte um Gritlis Mund, denn sie war eigentümlich ergriffen
                    von dem Bries ~ „dem Ruedi Rollenputz sein Sohn, und er selber ist, scheint's,
                    gestorben nach dem, was er da schreibt "</p>
                <p>„Red, nicht so dumm! Wie kann er das schreiben ?"</p>
                <p>„Lies nur."</p>
                <p>„Seit acht Monaten ist der Vater tot," erklärte der Jüngling, der immer noch mit
                    dem Hut in der Hand dastand, während Herr Schneebeli, ein rundlicher Mann mit
                    pfiffigem, fettglänzendem Gesicht, es sich auf einer Kiste bereits bequem
                    gemacht hatte.</p>
                <pb n="23"/>
                <p>„Nei verfluemet au! !) Der Ruedi Rollenputz sei Ihr Vater? Da werden Sie ja wohl
                    einen Tauf- und Heimatschein drüber haben?" sagte Käther praktisch gefaßt.</p>
                <p>Der junge Mensch holte wieder seine Brieftasche hervor und zeigte mehrere
                    Dokumente.</p>
                <p>Käther setzte die Brille auf, gab der Katze, die sich von Gritlis Schoß auf den
                    ihrigen geflüchtet hatte, einen Schubs, daß sie fauchend davonstob, und
                    revidierte die Papiere wie ein Polizeikommissar, obwohl sie die Sprache
                    derselben nicht verstand, sondern nur sah, daß es mit dem Namen seine
                    Richtigkeit hatte.</p>
                <p>Alles schwieg unterdessen, höchst gespannt auf das Ergebnis.</p>
                <p>„Was ist das für ein Deutsch?" fragte sie mit gerunzelter Stirn. „Da versteht man
                    ja kein Wort."</p>
                <p>„Spanisch und englisch," lächelte der Bursch.</p>
                <p>Gritli betrachtete ihn wie träumend, und als er nun lächelte, durchfuhr es sie
                    seltsam warm; wie ein Sonnenstrahl rieselte ihr etwas durchs Herz: gerade so
                    hatte ihr einstiger Ruedi Rollenputz gelächelt. Daran erkannte sie, daß dieser
                    sein Sohn war.</p>
                <p>Es wird schon richtig sein," sprach Käther, die Brille abnehmend. Sie sah Gritli
                    an, als wollte sie fragen: was nun?</p>
                <p>Diese ließ die gefalteten Hände in den Schoß sinken und sagte bloß seufzend: „O
                    Herrgott, was ist der Mensch !“</p>
                <p>Während sie ihr Leben lang ruhig im Niederdorf gesessen, hatte es den Liebsten in
                    der Welt herum und auch schon aus der Welt verschlagen. Und da stand jetzt,
                    schier so groß als er einst, sein Sohn, wie ein Vermächtnis vor ihr. So vergehen
                    die Zeiten !</p>
                <p>„Das ist ganz romantisch," rief Regi; „so was erlebt man nicht alle Tag’ !“</p>
                <p>„Besonders ehrssame Jungfrauen nicht," sspöttelte Herr Schneebeli.</p>
                <p>„Schweigen Sie. Da haben Sie nichts drein zu reden, Herr Nachbar," befahl Käther
                    kurzweg. „Machen Sie lieber dem Bursch da Platz, daß er ein bigzli zusitzen
                    kann, wenn er schon ein Ruedi Rollenputz ist. + Oder mag er etwa nichts ?"</p>
                <pb n="24"/>
                <p>„Ich mag schon," war die Antwort des Jungen.</p>
                <p>Mit glänzenden Augen schob er sich zwischen die andern an den festlichen Tisch.
                    Es mochte ihm schon lange nicht so gut gegangen sein. Seine roten, langen Hände
                    griffen zögernd nach dem, was die Schwestern ihm hinstellten, aber desto
                    herzhafter schmeckte es ihm dann. Er wurde allgemach gesprächig und erzählte von
                    seinem Vater, von „drüben“ und von seiner langen Seereise, die er, der
                    Billigkeit wegen, per Segelschiff gemacht hatte. Er war auf einmal der
                    Mittelpunkt der Jubiläumsgesellschaft, und man vergaß über dem Erlebnis völlig,
                    warum Regula mit dem Epheukranz und dem ungesprochenen Prolog dasaß.</p>
                <p>Als es elf Uhr von den Türmen schlug, erbot sich Herr Schneebeli, den Burschen in
                    seine Herberge zu bringen, die nicht weit entfernt war. Käther aber fragte ihn,
                    was er nun morgen tun wolle.</p>
                <p>„Etwas verdienen," sagte er.</p>
                <p>„Ja, das geht bei uns nicht so im Handumtkehren," lachte sie, aber es gefiel ihr.
                    Und daraufhin erlaubte sie ihm, daß er morgen wiederkommen dürfe; es werde dann
                    eine von ihnen auf die Polizei mit ihm gehen wegen der Schriften.</p>
                <p>Gritli, die eigentliche Beteiligte, stand in Gedanken verloren dabei. Es kam ihr
                    alles wie ein Traum vor, zumal in dieser schönen Mainachtsstille, die jetzt über
                    der ganzen Stadt lag Der Mond war aufgegangen und warf eine silberne Bahn über
                    den See, und vom Zürichberg her wehte ein lauer Nachtwind Düfte blühender
                    Wiesen.</p>
                <p>Sie horchte auf die Schritte der beiden Männer unten auf der Straße, bis sie
                    verhallten.</p>
                <p>„Ich glaub's, daß es ihn oft gehabt hat mit dem Heimweh," sagte sie, den Bries
                    noch einmal betrachtend, „der arme Ruedi!"</p>
                <p>„Warum ist er so ein dummer Kerli g'ssy und hat nie geschrieben ?“" raisonnierte
                    Käther. „Es könnte ihm in Zürich noch lang gut gehn.“</p>
                <p>„Es gibt halt Menschen," sagte Regi pathetisch, khr halb volles Glas in einem Zug
                    austrinkend, „welche –" sie wischte <pb n="25"/>mit der umgekehrten Hand über
                    die sschwellenden, nassen Lippen, „fürs Gutgehen einfach nicht erschaffen sind.
                    Ich gehöre auch dazu, obwohl es mich noch nicht übers Meer verschlagen hat.“</p>
                <p>„Machet jetzt, daß wir ins Bett kommen. Es ist drei Viertel auf zwölf," mahnte
                    Käther.</p>
                <p>Da tönte von unten, ganz in der Nähe, Männergesang.</p>
                <p>„Ist das etwa uns zu Ehren?" fragte Frau Wüest ihren Gatten, der noch bei
                    verschiedenen Vereinen war, trotz seiner Jahre.</p>
                <p>„Ist schon möglich.“</p>
                <p>„Nein, nein! Das gilt der Jungfer Grüter, die morgen Hochzeit hat. Der Bräutigam
                    ist bei der „Harmonie", berichtigte Käther.</p>
                <p>Junge Männerstimmen sangen:</p>
                <l>Verstohlen geht der Mond jetzt auf,</l>
                <l>Blau, blau Blümelein.</l>
                <l>Durch Silberwölkchen führt sein Lauf.</l>
                <l>Rosen im Tal,</l>
                <l>Mädchen im Saal.</l>
                <l>O schönste Rosa!</l>
                <p>Regi trat ans Geländer und schaute schmachtend zum gestirnten Himmel auf. Wann
                    kam für sie einmal solch ein Vorabend ?!</p>
                <p>Und Gritli stand lauschend neben ihr und sah auch nach den Sternen.</p>
                <l>Er steigt die blaue Luft hindurch</l>
                <l>Blau, blau Blümelein,</l>
                <l>Bis daß er schaut auf Löwenburg.</l>
                <l>O schönste Rosa! ~</l>
                <p>Für sie wurde der Liebste ihrer Jugend bei den sanften Klängen wieder lebendig,
                    jung wie damals – nur nicht hier, sondern auf einem der Sterne dort oben, und
                    wie ein Gruß aus jener andern Welt kam ihr sein Brief jetzt vor.</p>
                <p>Als der Gesang schwieg, riß Regi plötzlich den Epheukranz vom Kopfe und schwang
                    ihn in der Richtung, wo die Sänger waren.</p>
                <p>„Was machst denn?" fragte ihre Mutter. „Du hast ja dein Gedicht noch alleweil
                    nicht deklamiert !"</p>
                <pb n="26"/>
                <p>„Ach was, Gedicht! Hätt’ ich lieber auch einen Hochzeiter !" – Damit hinkte sie
                    grollend ab, in die Stube.</p>
                <p>* * *</p>
                <p>Einige Zeit nachher, als die Einkaufsstunden des Morgens vorüber waren, so gegen
                    elf Uhr, kam Herr Schneebeli aus seinem Butterladen, der schräg gegenüber vom
                    Goldgrübli lag, um sich ein wenig mit den Rollenputzen zu unterhalten. Er trug
                    eine schneeweiße Schürze, ein rundes Käppchen auf seiner fröhlich leuchtenden
                    Glatze und war, wie immer, das verkörperte Behagen.</p>
                <p>„Guten Tag, ihr Frauen," sagte er, aus der großen Dose schnupfend, die zum
                    Gratisgebrauch für jedermann auf dem Ladentisch stand.</p>
                <p>„Gott grüeßi, Herr Schneebeli."</p>
                <p>„Was macht die Familie?"</p>
                <p>„Was für eine?"</p>
                <p>„Die Jhrige." – Er nieste überlaut. „Der Ruedeli."</p>
                <p>„Helf’ Gott," sagte Gritli.</p>
                <p>„O du! So einem noch helf! Gott wünschen,“ schalt Käther.</p>
                <p>„'s Gritli ist halt die Bränere," schmunzelte er. „Kein Wunder, daß man so
                    zärtliche Sachen von ihr sagt."</p>
                <p>„Was für Sachen?"</p>
                <p>„Ha — wie die Leut’ halt reden. Es weiß nicht jeder vom alten Ruedi Rollenputz;
                    ich weiß ja auch nichts von ihm –"</p>
                <p>„Und? – Was noch mehr?" Käther gab der Brille, die sie eben auf der Nase hatte,
                    einen aufgeregten Stoß, während sie die Rechte kampfbereit auf die Hüfte
                    stützte.</p>
                <p>Der Nachbar lachte. „Und jetzt halten sie sich dafür ans Gritli, weil sie den
                    Jungen auf einmal bei ihr sehen. Eine Herkunft muß der Mensch doch haben."</p>
                <p>„O, die Thorenbuben! – Siehst du, Gritli, das hat man von der
                    Barmherzigkeit."</p>
                <p>Gritli aber lächelte. „Du mußt nicht alles glauben, was der Herr Schneebeli
                    sagt."</p>
                <p>„Das läßt du dir gefallen?"</p>
                <p>„Man muß auch etwas leiden können für eine Sache, die einem lieb ist."</p>
                <pb n="27"/>
                <p>„Aha, das tönt anders, Frau Boßhardt," triumphierte der Nachbar. „Sehen Sie, sie
                    wehrt sich nich. Wär’ auch dumm. So zwei vermögliche Frauen müssen doch jemand
                    haben, der sie beerben kann."</p>
                <p>„Und eine schlechte Nachred' dazu," eiferte Käther erbost. „Glücklicherweise
                    kennt man uns zeitlebens im Niederdorf. Bei andern muß man aber in verschiedenen
                    Gegenden nachfragen, wenn man etwas von ihrem Jugendleumund wissen will!!"</p>
                <p>Der Butterhändler schlug vergnügt aufs Bein. Das Gespräch wurde aber
                    unterbrochen, weil er seine Ladentür klingeln hörte und davon mußte.</p>
                <p>Als er jenseits der sonnigen Straße verschwunden war, kehrte sich Käthers Zorn
                    gegen die Schwester.</p>
                <p>„Was ist das eigentlich mit dir, Himmelsterne! daß du dich gegen solche
                    Unverschämtheiten nicht wehrst?"</p>
                <p>„Das sind ja bloß Dummheiten," erwiderte Gritli gelassen.</p>
                <p>„Daß du ein uneheliches Kind habest in deinen alten Tagen? So eine Schand’ macht
                    dir nichts ?"</p>
                <p>„Ich wollte, der Ruedi wäre in Ehren mein Kind. So wüßte ich doch, für was ich
                    auf der Welt bin.“</p>
                <p>Käther stand mit offenem Munde da.</p>
                <p>„O du alte Trucke!!) Was dir nicht noch einfällt!" schalt sie empört.</p>
                <p>Sie kannte die Schwester nicht mehr.</p>
                <p>Gritli hatte, seit der Ruedi Rollenput da war, eine ganz eigne Stimmung, eine
                    sanfte Heiterkeit, ja, wirklich etwas wie heimliche Mutterfreude, wenn der
                    hochaufgeschossene Bursch vor ihr stand und sein neues Leben und Werden so halb
                    und halb aus ihrer Hand empfing. Sie hatte ihn bei allen nötigen und unnötigen
                    Behörden angemeldet, einen ordentlichen Rock, Stiefel und so weiter gekauft und
                    dann ihn in einem Speditionsgeschäft untergebracht, wo man ihn der Sprachen
                    wegen nahm, obwohl er dieselben wie alles andere, was er wußte, durchaus nicht
                    schulgerecht inne hatte. Er war aber anstellig und lernte leicht. <pb n="28"/>Er
                    schlug Wurzel in der Heimat, wie ein gesunder, junger Baum, der in den rechten
                    Boden gekommen. Gritli war schon mehrere Male bei seinem Herrn gewesen, auf
                    Käthers Veranlassung, da man so einem aus fremden Ländern Hergeschneiten nicht
                    trauen könne. Sie bekam jedoch befriedigende Auskunft. Er halte sich ordentlich,
                    hantiere wie ein Herkules unter den Ballen und Kisten in den Magazinen, lieber
                    als bei der Schreiberei. „So so," sagte Gritli etwas ängstlich, unwillkürlich
                    des Vaters gedenkend, der auch so ein Herkules gewesen, daß Gott erbarm'!</p>
                <p>Sonntags durfte er bei den Rollenputzen zu Mittag esssen, wo es ihm herrlich
                    schmeckte und er nie nein sagte, wenn ihm Käther noch ein Stück auf den Teller
                    legte. Nachmittags wurde dann ein Spaziergang gemacht, damit der Fremdling seine
                    Vaterstadt kennen lerne. Er ging wie ein an der Leine geführter Löwe neben den
                    zwei ehrbaren Frauen, die eine Vorliebe für Friedhofspaziergänge hatten, wo sie
                    alle bekannten Namen von den Denksteinen lasen und nachher, auf einer der Bänke
                    ausruhend, betrachtungsreiche Gespräche führten. Diese Richtung mundete dem
                    jungen Burschen nicht, und er trachtete, sie auf fröhlichere Ziele zu lenken.
                    Hie und da ging das auch, und sie kehrten abends dann ganz lustig heim, wonach
                    sie bei den Wüests etwa noch ein Stündchen auf der Zinne beisammen saßen. Ruedi
                    unterhielt die Gesellschaft mit Geschichten von „drüben“ der merkwürdigsten Art,
                    die er teils gehört, teils mit seinem Alten selber erlebt haben wollte. Er wurde
                    für die kleine Tafelrunde das reinste Geschichtenbuch, und Regis Phantasie
                    entzündete sich an diesen Fremdartigkeiten dermaßen, daß sie nicht allein einige
                    Prairiebrände und Löwenritte dichtete, sondern für den siebzehnjährigen
                    Weltfahrer selbst zu entbrennen nicht übel Miene machte.</p>
                <p>Der Reiz dieser neuen Unterhaltungen wurde aber stark erschüttert durch die
                    Verdächtigungen, welche der Nachbar Schneebeli als Meinung der Leute den
                    Schwestern zugetragen. Käther war um so aufgebrachter, als Gritli, die in
                    solchen Dingen sonst stets eine tapfere Mitstreiterin gewesen, für ihre Person
                    jetzt unbegreiflich lau war, dagegen mit allem Eifer für den Ruedi Rollenputz
                    sorgte, daß der an seinem Platze gedeihe und weiterkomme. <pb n="29"/>Der Ruedi!
                    Das war auf einmal der dritte geworden, der sich zwischen sie hineinschob und in
                    Gritlis Herz immer mehr Boden gewann. Die praktische Käther witterte aber, daß
                    der Junge dies sehr bald merken und sich zunutze machen werde. Dieses
                    Amerikanertum mit seinen sonderbaren Geschichten flößte ihr Mißtrauen ein. Sie
                    lauerte deshalb förmlich auf so einen ersten Streich, um Gritli ein für allemal
                    zu witzigen.</p>
                <p>Richtig ließ er nicht lange auf sich warten.</p>
                <p>Ruedi bekannte eines Tages, daß er in einen Turnverein eingetreten sei.</p>
                <p>Ohne Erlaubnis? Wozu in einen Turnverein ?</p>
                <p>Er hatte eben eine Liebhaberei für alle leiblichen Übungen und wollte auch gern
                    ein wenig mit jungen Leuten sein. Das sagte er seinen Schutzpatroninnen
                    offenherzig.</p>
                <p>„So, da hast du's!" warf Käther der Schwester hin.</p>
                <p>Gritli stand ratlos und wußte nach längerem Besinnen nichts zu sagen, als daß ~
                    ein Turnverein ja am Ende nichts Schlimmes sei.</p>
                <p>Gleich schoß eine helle Freude über ihres Schützlings Gesicht in dem der Bart
                    schon zu sprossen begann, und er griff nach ihrer Hand, wie einer
                    Verbündeten.</p>
                <p>Das erboste Käther so sehr, daß sie auf beide ein ausgiebiges Donnerwetter
                    niedergehen ließ.</p>
                <p>„Wegen was hat der Alte fortmüssen ?" brach sie los. „Und wegen was sitzest du
                    noch da wie vor fünfundzwanzig Jahren?"</p>
                <p>„Schweig !“ bat Gritli, „schweig von dem! – Geh lieber fort", sagte sie mit
                    schwankender Stimme. „Du hast das Kätherli verzürnt –"</p>
                <p>Ruedi aber stand mit gespanntem Blick da.</p>
                <p>„Was hat sie vom Alten gesagt ~ warum er hat fortmüssen?" fragte er. „Jch lasse
                    den Vater nicht beschimpfen.“</p>
                <p>Käther schaute verwundert den Burschen an, der auf einmal, den Mann
                    hervorkehrte.</p>
                <p>Gritli aber, in der Angst, daß die Schwester mit weiterem kommen könnte, schob
                    ihn sanft zur Tür.</p>
                <pb n="30"/>
                <p>„Hast recht, Ruedi! Denk an deinen Vater selig und werde ein ordentlicher Mensch,
                    sonst ~ sonst gehst du zu Grund wie ~ "</p>
                <p>„Hat der Vater einmal etwas angestellt ?" fragte Ruedi mit gerunzelter Stirn.</p>
                <p>Schau! Da stand der Gelbschnabel, der Hungerleider, der mit zerrissenen Stieseln
                    übers Meer gekommen, als wäre an ihm die Reihe, zu fragen und zu rechten. Und
                    das Gritli wurde noch dunkelrot über seine Fragen und war ganz froh, sagen zu
                    können: nein, Gottlob, es sei alles in Ordnung. Da mußte Käther zeigen, wer
                    Meister sei. Kurz und gut, erklärte sie, man habe jetzt schon Ärger genug
                    gehabt; der Ruedi solle fürderhin mit seinen Turnkameraden gehen, er brauche am
                    Sonntag nicht mehr zum Essen zu kommen.</p>
                <p>Gritli warf ihr einen bittenden Blick zu, aber er half nichts. Gesenkten Kopfes
                    zog Ruedi ab. Und als er fort war, kamen die Schwestern ersl recht
                    hintereiander.</p>
                <p>„Wahrlich, er hat sich's bequem gemacht, dein Ruedi da drüben, den Buben uns
                    einfach auf den Hals zu schicken! Wenn ein jeder den sitzen. gebliebenen
                    Schätzen seine Kinder zum Andenken vermachen wollte, brauchte man keine
                    Waisenhäuser mehr," höhnte Käther.</p>
                <p>Gritli dagegen sprach mit einer gewissen Größe und Fesstigkeit: „Daß ich dem
                    Ruedi noch ein Trost vor dem Sterben gewesen bin, ist mir zu Herzen gegangen als
                    eine Ehre. Ich will daher sein Vertrauen nicht zu Schanden werden lassen."</p>
                <p>„Geh mir mit deinen Phantastereien!“ ries Käther. „Du wirst die Früchte schon
                    noch kennen lernen; ich wünsch’' es dir."</p>
                <p>Da ging Gritli denn doch die Geduld aus.</p>
                <p>„Wer weiß," sagte sie mit hochgezogenen Brauen und vorgestrecktem Halse, „ob du
                    nicht auch ein besseres Andenken an deinen Mann selig haben könntest, wenn du
                    nicht so rauh gegen ihn gewesen wärst!"</p>
                <p>„So? Kommst du mir jetzt noch mit dem? Der wird am Ende auch noch schneeweiß in
                    deinem Unverstand, wie der Ruedi Rollenpuz ! - Weißt", sagte sie bündig, „eine
                    alte Jungfer kann von Männern und Ehestreitigkeiten gar nicht reden!"</p>
                <pb n="31"/>
                <p>„Dann hat sie halt," entgegnete Gritli spitz, „ihre Meinung in
                    Herzensangelegenheiten für sich, und es braucht sich auch niemand darein zu
                    mischen.“</p>
                <p>Sie standen sich gegenüber mit brennenden Wangen und lebhaft gestikulierenden
                    Händen. Und jetzt auf einmal gab es eine Stille, eine Pause, als merkten sie
                    plötzlich, wie weit sie gekommen. Sie, die sich miteinander in so schöner
                    Harmonie von den Liebesenttäuschungen des Lebens getröstet und erholt hatten,
                    lagen jetzt in hellem Krieg deshalb. .Und was trug an all dem die Schuld?.
                    Dieses Kuckucksei, dieser Turnvereinssünder.</p>
                <p>„O Herrgot! Was ist das auf einmal für ein Leben!“ seufzte Gritli verzweifelt und
                    ging aus der Stube, um auf der Zinne draußen Luft zu schöpfen. Es erwürgte sie
                    schier.</p>
                <p>Hier saß das Ehepaar Wüesst in heiterer Ruhe und genoß den Abend. Regi war
                    buntbewimpelt ausgezogen; die Eltern, wußten nicht, wohin. Es trieb sie manchmal
                    eine blinde, heiße Sehnsucht unter die Menschen, auf die breiten Straßen, wo das
                    Glück dahinrollte und ja auch ihr einmal begegnen konnte.</p>
                <p>„Jungfer Rollenputz," redete Vater Wüest sie an, als er ihre erhitzten Wangen
                    sah, ,„ist Feuer im Oberstübli? Oder nur so eine Jungfernhitz’?"</p>
                <p>„Ach Gott," sprach Gritli und ließ sich gebrochen bei ihnen nieder. „Unfrieden
                    wegen dem Ruedi."</p>
                <p>„Ja – Kindersegen, Kindersorgen !" antwortete er.</p>
                <p>„Was, Kinderssegen?" fuhr Gritli leidenschaftlich auf.</p>
                <p>„Der Ruedi ist ja doch ~"</p>
                <p>„Nichts ist er! Und wer das behauptet, den nehm’ ich vor Gericht. Was gilt's, ich
                    thu’ ihnen die Mäuler zu. Und deswegen lass’ ich den Ruedi doch nicht fahren.
                    So, jetzt wißt ihr's alle miteinander!“</p>
                <p>Gritli verließ hierauf grollenden Angesichts, in höchster Aufregung wieder die
                    Zinne.</p>
                <p>Die Wüests sahen ihr betroffen nach, und der Gatte sagte dann humoristisch: „Sie
                    ist halt schon wohl alt für so eine angeflogene Mutterschaft!"</p>
                <p>* * *</p>
                <pb n="32"/>
                <p>Die Kunden merkten, daß im Rollenputz-Lädeli etwas Außergewöhnliches los sein
                    mußte. Die Schwestern waren verdrossen, tischten keine Tagesneuigkeiten auf und
                    gaben dem sonst geliebten Büsi, wenn es ihnen einmal in die Quere kam, einen
                    mißmutigen Klaps, daß es davonstob. Beide waren unglücklich. Essen und Schlaf
                    schmeckten ihnen nicht. Der Unfriede zehrte an ihnen. Und doch gab keine von
                    beiden nach. Gritli erwartete im stillen, daß Käther vor dem Sonntagmittag noch
                    sagen werde: ,,Der Ruedi soll kommen.“" Aber das tat sie nicht. Die Antwort
                    darauf war, daß Gritli nach dem Essen allein ausging und mit Ruedi einen
                    Spaziergang auf den Zürichberg machte. Etwas Unerhörtes! Denn sonst waren sie
                    immer zusammen gegangen. Aus Ärger darüber begab sich Käther in eine
                    Nachmittagspredigt, wo sie ihren Unmut verschlief. Gritli aber benutzte die
                    Gelegenheit des Alleinseins mit ihrem Sorgenkind, um selber eine Predigt zu
                    halten, so eindringlich und moralgesalbt, daß Ruedi endlich mit offenen Lippen,
                    wie lechzend neben ihr hertrottete. Sie sagte ihm heute auch aus lehrhaften
                    Absichten den Grund, weshalb sein Vater aus der Heimat geflohen und trotz des
                    Heimwehs, von dem sein Brief berichtete, nicht zurückgekehrt sei. Das machte
                    einen starken Eindruck auf den Jungen. Und als er erfuhr, daß der damals
                    Totgeglaubte, aber noch Lebende Strübi heiße, fiel ihm ein, wie sein Vater in
                    den letzten Tagen seiner Krankheit von diesem Kameraden phantasiert und oft
                    angstvoll seinen Namen gerufen habe.</p>
                <p>„Der arm’ Tropf! Ja, ja, so kann's gehen,“ sagte Gritli. Aber trotz dieser
                    traurigen Sachen verlangte es sie, noch mehr von ihm zu hören. Es heimelte sie
                    doch an, und sie wurde nicht satt mit Fragen und Hören.</p>
                <p>Da erzählte der Junge denn wieder neue Kapitel, so von den intimeren: wie es
                    ihnen, nachdem die Mutter gestorben, besonders schlecht gegangen, wie sie
                    herumgewandert, Kellner, Straßenkehrer, Eseltreiber, alles mögliche gewesen
                    seien, und er, der Junge, fast auch Artist geworden wäre, wie der Alte am Anfang
                    drüben eine Zeitlang gewesen.</p>
                <p>„Was, Artist ?"</p>
                <pb n="33"/>
                <p>„Einer, der Kraftproduktionen gibt."</p>
                <p>Gritli starrte den Burschen an ~</p>
                <p>„Ein Seiltänzer ?"</p>
                <p>„Nein, das nicht, sondern ein Athlet, aber bloß in jungen Jahren. Er sei durch
                    Zufall dazu gekommen, hat er mir erzählt, als es ihm einmal besonders miserabel
                    ging. Dann brach er aber das Bein, und da war's fertig. Nachher ging er nach
                    Kalifornien."</p>
                <p>Gritli war außer sich über den einstigen Liebsten wie über diesen da, der in
                    seinem sauberen Sonntagsgewand so anständig aussah und von solchen Dingen
                    berichtete. Pfui Teufel! Einer, der vor den Leuten Stühle und Flaschen auf der
                    Nase tanzen läßt! Der Schweiß brach ihr darüber aus. Sie mußte stehen bleiben
                    und sah ängstlich vor- und rückwärts auf dem Waldweg, wo sie eben gingen, ob
                    auch niemand die Schande gehört habe.</p>
                <p>„Ruedi," sprach sie gedämpft, „das darfst du niemand sagen, niemand außer mir -
                    nicht einmal der Käther, ~ sonst ist es aus. Du mußt ein Mensch mit einem
                    ehrlichen Beruf werden, ein Bürgersmann, wie es sich gehört; so will ich dir
                    helfen, deinem Vater selig zulieb’. Denk daran, wie er durch seine unüberlegte
                    Leibesstärke ein elender Mensch geworden ist. Denk dran in deinem Turnverein!!
                    Ja, ja + sonst geht es mit uns so nicht weiter!"</p>
                <p>Er schaute sie ungläubig lächelnd an und hielt ihr den Strauß hin, den er während
                    ihrer Predigt gepflückt hatte. Es lag oft etwas von der Treuherzigkeit eines
                    großen jungen Hundes in seinem Blick, etwas Rührendes, das um Gutsein zu betteln
                    schien.</p>
                <p>Das ging ihr immer warm durch und durch, weil es sie an den erinnerte, der – ach
                    Gott! sie schämte sich in die Seele hinein – den Leuten fürs Geld hatte Possen
                    vormachen müssen ~ einer, der ehrlich Rollenpuß hieß und Burger von Zürich war.
                    Wie mochte es ihm ergangen sein, daß er, der doch sein Handwerk verstanden, so
                    weit kam ?</p>
                <p>Ruedi erklärte ihr, daß man da drüben allerlei treibe, ohne deswegen verachtet zu
                    werden; das sei anders als hier.</p>
                <pb n="34"/>
                <p>Nun, es war ihr ein Trost, daß wenigstens das Weltmeer zwischen hier und diesem
                    vergangenen Athletentum lag – das Weltmeer und nun auch die Ewigkeit.</p>
                <p>Bei diesem Gedanken beruhigte sie sich allgemach. Und dann sorgte Ruedi für
                    Zerstreuung, indem er einige Schnurren vom Vater erzählte, die bewiesen, daß
                    doch nicht alles so traurig gewesen, wie Gritli sich vorstellte.</p>
                <p>Unter solchen Gesprächen kamen sie aus dem Waldweg hinaus auf eine Wiese, von
                    welcher man eine weite, prächtige Aussicht über die Landschaft hatte. Unweit
                    stand ein altes Bauernwirtshaus, wo man Sonntags Wein und Wähen !) haben konnte.
                    Einige Gäste saßen an den festgezimmerten Tischen, und ein paar junge Leute
                    drehten sich auf dem frischgemähten Boden nach einer Mundharmonika.</p>
                <p>„Hast Hunger ?" fragte Gritli.</p>
                <p>„O ja," war die freudige Antwort.</p>
                <p>So rückten sie denn auch an einen der langen, wettergrauen Tische, deren Bänke so
                    hoch waren, daß Gritlis Füße in der Luft baumelten.</p>
                <p>Der saure Seewein und der Böllenwähen ?) schmeckten ihnen nach dem Spaziergang
                    vortrefflich, besonders Ruedi, der immer essen konnte. Sie wurden nach und nach
                    so vergnügt dabei, daß Ruedi die ganze Moralpredigt vergaß, welche der
                    eigentliche Zweck dieses Spaziergangs gewesen, und auch dem Gritli endlich alles
                    in mildem Duft verschwamm, die Stühle und Flaschen, welche sie auf der Nase des
                    armen Herzliebsten tanzen sah, die grollende Käther daheim, überhaupt aller
                    Kummer und Ärger, und sie nur die schöne, leuchtende Sonntagswelt ringsum
                    fühlte.</p>
                <p>Auf einmal stand Ruedi bei dem jungen Volk, das jetzt Spiele machte; er sprang
                    und haschte mit. Leicht wie ein Hirsch bewegte er sich.</p>
                <p>Gritli sah still von ihrem Platz aus zu, als ob sie träumte. Der Wein war ihr ein
                    wenig in den Kopf und die Füße gegangen. Eine merkwürdige Friedseligkeit hob sie
                    wie in einen <pb n="35"/>blauen Himmel empor. Es summte ihr leis in den Ohren;
                    ein wohliges Lüftchen strich ihr über die Stirn. – Der Ruedi! Zeit und Ewigkeit
                    schienen sanfst ineinander zu fließen und die Gestalten der eignen Jugend da
                    unten auf grüner Wiese sich zu tummeln.</p>
                <p>* * *</p>
                <p>Was den Rollenputzen bis jetzt in ihrem ruhigen Leben an Mißgeschick widerfahren,
                    war immer an einem Montag geschehen. Sie nannten ihn deshalb ihren Unglückstag.
                    Und das bewahrheitete sich einmal wieder.</p>
                <p>Herr Schneebeli kam heute früher, als zu der gewohnten Unterhaltungszeit über die
                    Straße, mit einem Lächeln, aus dem die Hölle wetterleuchtete.</p>
                <p>„Also, ihr Frauen," sagte er wie ein Spaßvogel, „jetzt werden auch da die
                    Fledermäus’ ausgetrieben."</p>
                <p>„Wieso ?"</p>
                <p>„Ihr werdet's ja wohl wissen, daß bei euch gebaut wird und das Goldgrübli
                    fortkommt."</p>
                <p>Die Schwestern standen wie versteinert.</p>
                <p>Gritli sank, einer Ohnmacht nahe, gegen einen Sack Erbsen.</p>
                <p>„Ja, ja, so ists! In aller Stille sind sie einig geworden. Wartet nur, bis es
                    euch der Hausherr selber sagt."</p>
                <p>Schon oft war von dieser Möglichkeit die Rede gewesen. Nie aber hatten sie daran
                    geglaubt oder glauben wollen, sondern im Goldgrübli, mit dem Goldgrübli einst
                    von der Erde zu verschwinden gehofft. Sie sahen sich an, als stünden sie nun
                    wirklich vor dem Ende der Dinge.</p>
                <p>„Jetzt kommt die neue Zeit halt auch über euch. Lang genug, bei Gott, habt ihr in
                    dem warmen Nest gesessen. Deswegen braucht ihr noch nicht am Hungertuch zu
                    nagen."</p>
                <p>„Was nicht ist, kann werden."</p>
                <p>„Versündig dich nicht, Käther," bat Gritli schwach.</p>
                <p>„Schweig," befahl diese, schon wieder gefaßt und aufrecht wie ein Feldherr. „Du
                    bleibst da, und ich gehe aus der Stelle, um zu erfahren, ob das Unglück wahr
                    ist, das einem die christlichen Mitmenschen so voller Freuden verkündigen."</p>
                <pb n="36"/>
                <p>Herr Schneebeli lachte.</p>
                <p>„Auf das hin mach’ ich einer jeden von euch noch einmal einen Heiratsantrag."</p>
                <p>Käther wackelte einen Moment sschnaubend mit dem Kopfe.</p>
                <p>„Lieber in d' Spanweid’!" !) warf sie ihm unter einem Wutblick zu und war darauf
                    auch schon mit großen Schritten aus dem Laden.</p>
                <p>Wie ein Wetter brach sie bei dem Hausherrn ein, der gerade in Hemdärmeln vor
                    einem stärkenden Frühschoppen saß. Er stemmte bei ihrem Anblick die Hände auf
                    den Tisch, als wollte er sich wenigstens dieser Verschanzung versichern. Und da
                    ging es auch gleich los.</p>
                <p>Richtig, es war so! Das Unglück war geschehen, das alte Haus mitsamt seinem alten
                    Schwalbennest, dem Goldgrübli, verkauft. Es sollte zu einem neumodischen
                    Restaurant umgebaut werden. Er habe, sagte der Hausherr, weil alles so schnell
                    gegangen sei, die Rollenputz-Schwestern wenigstens noch einen Sonntag in Ruh’
                    lassen wollen, sonst würden sie es schon gestern erfahren haben.</p>
                <p>Käther starrte ihn eine Weile fassungslos an. Auf einmal lachte sie, ohne das
                    blasse Gesicht zu verziehen.</p>
                <p>„So, so ~ noch ein Wirtshaus zu den andern? Weil wir noch nicht genug rauschige
                    Leut’ in unsrer Gegend haben? Und dafür die soliden austreiben, die ihr Lebtag
                    pünktlich den Zins bezahlt haben auf Tag und Stunde. Oder ist's etwa nicht so
                    ?"</p>
                <p>„Allen Respekt, Frau Boßhardt; dafür kennt man Sie! Es ist mir ja selber leid
                    –"</p>
                <p>Da wurde es rot um ihre Augen.</p>
                <p>„Wissen Sie eigentlich, wie lange wir da sind? <hi>Zweiundfünfzig Jahr'’</hi>, in
                    Ehren und Ansehen! Seit Michaeli eintausendachthundertsiebenundzwanzig. Jawohl!
                    Das ist eine schöne Zeit, bigost, die nicht jeder so erlebt heutzutag', wo die
                    größten Herren im Handumkehren verlumpen und die kleinen Leut' unglücklich
                    machen. Wir haben nie jemand übervorteilt <pb n="37"/>oder unglücklich gemacht.
                    Deswegen hätten Sie uns wohl im Lädeli lassen können, bis der lieb' Gott selber
                    ein End’ gemacht hätte. Aber der Spekulativgeist, der läßt halt heutigentags
                    niemand in Ruh'."</p>
                <p>„Sitzen Sie doch, Frau Boßhardt,"“ sagte der Hausherr fast schüchtern, um ihre
                    Rede zu unterbrechen.</p>
                <p>Aber sie beachtete es nicht. Sie sprach, jammerte, polterte unaufhaltsam weiter,
                    bis der Hausherr, bei allem Respekt vor den zweiundfünfzig Jahren, sich endlich
                    nicht anders zu helfen wußte, als daß er ein bißchen grob wurde, was dann eine
                    Verständigung herbeiführte.</p>
                <p>Wie gebrochen kehrte Käther in den Laden zurück und fand Gritli in ähnlichem
                    Zustand vor. Sie wog zu viel und gab zu wenig Geld heraus, langte einen Besen
                    herab, wenn man Schuhwichse haben wollte – sie war wie aus dem Häuschen. Und
                    doch rührte Käther keine Hand dabei, sah stumpf dem Wirrwarr zu. Das war das
                    ärgste und zeigte, wie tief ihr das immer noch Unglaubliche zu Herzen ging. Sie
                    aßen beide nichts zu Mittag, kein Bröselein, keinen Schluck Wein; es war ihnen
                    so elend, daß sie sogar den Laden früher schließen mußten.</p>
                <p>Doch das war nur der Anfang. Es kam noch verschiedenes nach. Denn jetzt erst
                    meinten sie das Leben, die Menschen eigentlich kennen zu lernen, den
                    Geschäftsneid, die Bosheit und Schadenfreude gewisser Nachbarkonkurrenten, die
                    ihnen schon längst ihr Goldgrübli mißgönnt, die hinter großen Schaufenstern auf
                    Kundschaften lauern mußten, während sie, die Rollenputzen, das nie nötig gehabt
                    hatten. Wie ein David unter einem Kreis von Goliathen hatte das Goldgrübli
                    siegreich alle Kämpfe bestanden. Seine Besitzerinnen lächellen nur, wenn von dem
                    Schwindel die Rede war, der jetzt gäng und gäbe, ja fast notwendig sei. Sie
                    brauchten das nicht. Sie hatten ihre feste Kundschaft, von welcher manche, die
                    heute noch bei ihnen einsprachen, sie schon in der Blüte ihrer Jahre gekannt,
                    als sie damals schon sich eines wohlbegründeten Rufes erfreuten. Als man nun
                    erfuhr, daß auch diese Feste des Glücks fallen müsse, gab es natürlich viel
                    Anlaß zu Reden und Betrachtungen. Man <pb n="38"/>hatte aber in den guten Tagen
                    der Rollenputzen nicht umsonst die schönsten Grobheiten einstecken müssen, wenn
                    man es einmal gewagt, in die unfehlbare Güte ihrer Handelsspezialitäten Zweifel
                    zu setzen. Jetzt kam die Nachwirkung. Man wollte sehen, wie sie sich jezt,
                    gleichsam als fallende Größen, benahmen, und mancher machte sich einen Spaß
                    daraus, die Löwinnen in ihnen zu reizen. Käther, obgleich ins Lebensmark
                    getroffen, hielt sich aufrecht; ja, sie wurde streitbarer denn je. Grilli
                    dagegen verzehrte sich in Herzeleid und dachte ans Sterben. Handelte es sich
                    doch nicht alleen um den Zusammenbruch der guten, alten Zeit – ach! wie ein
                    verlorenes Paradies erschien ihnen jetzt schon der geliebte enge Gassenwinkel,
                    bevor sie ihn verlassen hatten + ; auch ihr Inneres, ihr Glaube an die Menschen
                    war verbittert. Überall Groll und Streit. Sogar mit den Wüests waren sie
                    überworfen, weil diese ihre Angelegenheit philosophisch beurteilten, als etwas
                    im Jortschritt der Zeit Liegendes, über das man nicht so zetern müsse. Zudem
                    hatten sie, als radikale Freigeister, in der besten Absicht, die Gebeugten
                    aufzuheitern, Käthers Behauptung, daß das Jubiläum schuld an allem sei ~ wenn
                    man sein Glück an die große Glocke hänge, sei es vorbei damit , hell ausgelacht.
                    Da kehrte sie ihnen den Rücken, und seitdem kamen sie des Abends nicht mehr
                    zusammen. Die Rollenputzen blieben in ihrer Stube, ganz verbohrt in Gram. Dieses
                    Alleinsein war aber das schlimmste; denn was sich da Luft machte, sprang immer
                    nur von einem aufs andre, von Käther auf Gritli, von Gritli auf Käther. Die
                    Ärgernisse des ganzen Lebens zogen herauf ; es war eine reine Heerschau. Und den
                    Schluß bildete immer wieder die bittere Gegenwart, für die nun auch der Ruedi
                    noch halb und halb veranwortlich gemacht wurde, indem der Unfriede, das Unglück
                    erst angefangen, seit er da war. Wo würde man den alten Segen wiederfinden? Und
                    was konnte mit dem hergelaufenen Buben noch werden, dem es schon so wohl in der
                    Heimat war, daß er es nicht einmal nötig fand, Käther reumütig zu bitten, ob er
                    des Sonntags wieder zum Essen kommen dürfe. Er blieb richtig aus, der Trotzkopf,
                    der Bettelprinz, der –</p>
                <pb n="39"/>
                <p>Das aber schnitt Gritli am tiefsten ins Herz, wenn es in dieser Tonart ging, und
                    sie hielt der Käther einmal, als der Kelch überfloß, eine glühende Standrede,
                    wie sie eine Heimsuchung eigentlich verdienten, da sie bisher immer nur für sich
                    gelebt und gespart und nie recht an andre gedacht hätten.</p>
                <p>„Mein Testament wird's einmal zeigen, ob ich an andre gedacht habe," gab Käther
                    zur Antwort.</p>
                <p>„Das ist keine Kunst, wenn man mit dem Geld nichts mehr machen kann. Bei
                    Lebzeiten liebreich sein, wirken, solange es Tag ist! ~ Wer wird uns einmal eine
                    Träne weihen, oder eine schöne Grabschrift setzen?"</p>
                <p>„Die mach’ ich selber; dann hat niemand Mühe damit. Und was die Tränen und das
                    Liebreichsein anbetrifft, so weiß ich, daß du nur wieder deinen Ruedi im Kopf
                    hast. Das ist ja schon wie eine Liebschaft, läufst heimlich mit ihm, weil er
                    nicht zu uns kommen darf, — saolltest dich in Grund und Boden schämen!"</p>
                <p>„Nein, ich schäme mich nicht. Ich schüttle nicht ab, was mir der Herrgott
                    anferlegt hat. Ich bin nicht so hart wie du!"</p>
                <p>Gritli sprach es zitternd, mit Tränen, die ihr hastig über die Wangen liefen,
                    aber tapfer. Es klang eigentümlich entschlossen, wie eine Lossagung, eine Fehde
                    auf immer.</p>
                <p>Da spürte Käther plötzlich ein Weh, als hätte sie einen Stich bekommen. Also auch
                    das Gritli, die als jüngere sie wie eine Mutter respektiert, ging jetzt offen
                    andre Wege, hatte etwas für ihr Herz gefunden, nach dem es ssich vielleicht
                    immer in der Stille gesehnt, und brauchte sie nicht mehr.</p>
                <p>Der rauhen Käther war, als schwanke der ganze alte Erdboden unter ihr.</p>
                <p>Statt aber die verborgene Wehmut laut werden zu lassen, verrannte sie sich in
                    alle möglichen Düsternisse der Zukunft, die sie mit so schwarzen Farben
                    ausmalte, daß es ihr selber, wie Gritli, immer banger wurde, daß sie sich
                    endlich kurzweg den Tod herbeiwünsschten und beide weinend im Dunkeln saßen,
                    sich nicht mehr zu streiten und auch nicht zu trösten wußten.</p>
                <pb n="40"/>
                <p>Da klopfte es an ihre Tür. Der Verbannte, der Ruedi, trat ganz unvermutet herein.
                    Gritli erschrak. Aber trotz allem erschien er wie ein Erlöser.</p>
                <p>Sie sahen ihn kaum, so finster war es in der Stube.</p>
                <p>Gritli zündete die Lampe an.</p>
                <p>Da stand er in seiner siebzehnjährigen Rotwangigkeit vor ihnen, mit seinem
                    hellen, guten Gesicht, und schaute fast mitleidig die zwei vergrämten Frauen an.
                    Die Hoffnung selber schien in der Stube zu stehen.</p>
                <p>Er habe heute in seinem Geschäft gehört, sagte er, daß in der Nähe des Goldgrübli
                    durch besondere Umstände ein Laden frei würde; deshalb sei er gekommen, um es
                    sogleich mitzuteilen.</p>
                <p>Käther schüttelte den Kopf. Sie kannte den Laden wohl. Das sollten sie, die am
                    Platze waren, nicht eher erfahren als er?</p>
                <p>Aber er wußte es zu erklären. Er kam eben aus einer Sphäre des Handels, die über
                    der ihrigen stand, wo man die Geschicke kennt, ehe sie sich vollziehen.</p>
                <p>Sie hatten in ihrer Ratlosigkeit noch nicht ernstlich Umschau nach einem neuen
                    Obdach gehalten, und doch hieß es: je eher, je besser. Das war so ein Laden mit
                    großen Fensterscheiben, aus denen der Schwindel schaut, und dahinter die Sorgen
                    stecken! So sollte es nun auch für sie kommen.</p>
                <p>Ruedi gab sich redlich Mühe, es den Frauen auszureden. Er tat es mit der
                    Zuversicht seiner Jugend und doch vernünftig, so daß nicht bloß Gritli, auch
                    Käther in anhörte. Gegen die Gestrenge, die ihm den Sonntagsbraten entzogen,
                    trug er keine Spur von Groll, sondern erbot sich im Gegenteil zu allen möglichen
                    Diensten. Er wollte den Auszug besorgen, wenn die Zeit da sein würde; alles
                    wollte er machen, als gehörte er ganz und gar zu ihnen.</p>
                <p>Ein frischer Luftzug schien durch die dumpfe Sorgenstube zu streichen. Nach und
                    nach kam wirklich wieder ein Schimmer von Mut in die zerknitterten Seelen.
                    Käther fuhr dem Jungen zwar öfters mit der ganzen Wucht ihrer Erfahrung über den
                    Mund, zeigte aber doch eine gewisse brummende Besänftigung. Beim <pb n="41"
                    />Fortgehen sagte sie dem Ruedi sogar, er könne, wenn er sonst keine Dummheiten
                    im Kopf habe, am Sonntag zum Essen kommen.</p>
                <p>Gritli spitzte die Ohren dabei. Seit Tagen und Nächten zum erstenmal glomm in
                    ihrem Gemüt wieder ein Fünkchen furchtsamer Freude auf.</p>
                <p>* * *</p>
                <p>Der bedeutsamste Moment im Leben der Rollenpuzen ~ ihr Abschied vom Goldgrübli ~
                    war überstanden.</p>
                <p>Es hatte ihnen schier das Herz abgedrückt und beide um Jahre gealtert. Aber es
                    war ein Akt, an dem nicht bloß das Niederdorf, nein, die Stadt Zürich, nach
                    Käthers Ansicht, teilgenommen. Und das hatte sie erhoben, das Bittere versüßt.
                    In den Zeitungen stand es, als sie den ehrwürdigen Winkel verließen, ihr Name,
                    die lange Zeitdauer, während welcher das aufrechte Schwesternpaar hier gehaust –
                    „ein lebendes Wahrzeichen ihrer Gegend" hatte einer geschrieben. Sogar ein
                    Gedicht kam im Tagblatt, betitelt: „Vergänglichkeit, welches Vater Wüesst als
                    Friedensbrücke hatte einrücken lassen, eine Art Chronik und Hymnus zugleich.
                    Kurz, es gab Ehren, die nicht jeder erlebt.</p>
                <p>Seitdem hatte sich der Sommer zur Rüste geneigt. Das Goldgrübli war bereits dem
                    Erdboden gleich gemacht, und alles war schon wieder Vergangenheit.</p>
                <p>Die Zeitungsnotizen, sowie das Gedicht hingen als Ehrenzeichen unter Glas und
                    Ramen überm Kanapee, zum „unvergeßlichen“ Andenken. Und die Schwestern saßen
                    geraume Weile schon im neuen Laden. Gritli zog sich aus Gewohnheit noch immer in
                    ein Nichts zusammen, wenn Käther herumhantierte, obgleich sie jetzt Platz genug
                    hatten. Die Raumverhältnisse kamen ihnen am Anfang unheimlich weit vor. Alles
                    war anders, ein neuer Lebensabschnitt angebrochen. Doch die Hauptsache, der
                    Segen der Gerechten, war mit ihnen gezogen :: die alte Kundschaft.</p>
                <p>„Haltet sie jetzt nur fest!“ wünschte Herr Schneebeli. ,Die Zeit der
                    selbstgemachten Nudeln und Fideli ist auch vorbei. Da nützt der Schnupf auf dem
                    Ladentisch nichts mehr."</p>
                <pb n="42"/>
                <p>Dunkel fühlten sie, daß der Nachbar recht habe. Die neue Zeit hatte sie aus ihrem
                    Winkelparadies vertrieben. Das war der Anfang. Von allen Seiten blies ein
                    anderer Wind in der Welt.</p>
                <p>Herr Schneebeli mußte jetzt in den Laden kommen, um sseine Neckereien
                    loszulassen. Das machte seine Besuche seltener. Wie viel mehr aber vermißten die
                    Rollenputzen selbst den einstigen offenen Posten, von dem man so unterhaltend
                    das Leben der Straße mit erlebt hatte. Sie kamen sich jezt wie Gefangene
                    vor.</p>
                <p>Das alles machte sie stiller; ein Hauch von Resignation lag über ihnen. Sie waren
                    nicht mehr so scharf wehrbar wie einst, im Gegenteil, oft auffallend
                    nachdenksam, zum philosophieren aufgelegt. Diese Neigung führte sie aufs neue
                    mit den Wüests zusammen, trotz ihrer verschiedenen Standpunkte. Niemand verstand
                    so auf ihre Gedanken einzugehen, wie dieses Trifolium, das die Höhen und
                    Abgründe des Daseins kennen gelernt und doch mit der Heiterkeit der Weisen über
                    allem stand. So vereinigte sie mancher Abend wieder auf der Zinne oder um den
                    Tisch vor dem verrutschten Ledersofa, wo Regi mit Vorliebe ihre Dichterträume
                    spann. Hier lernten die Rollenputzen, soweit dies möglich war, das Verlorene
                    verschmerzen und wieder mutiger auf kommende Tage schauen.</p>
                <p>Ruedi trug dazu aber auch sein Teil bei. Seit dem Auszug war er in Käthers Gunst
                    gestiegen. Seine Behendigkeit, die überall am rechten Platz anzufasssen wußte,
                    hatte ihn in Respekt gesetzt, und das war bei ihr, der Männerverächterin, mehr
                    als Liebe. Er übernahm auch alle möglichen Schreibereien und Rechnereien, die
                    früher Vater Wüesst besorgen mußte. Sie konnten ihn wohl brauchen, seit der
                    Sturm der Ereignisse das Schwesternpaar oft so verzagt und wirr im Kopfe
                    gemacht, daß sie schon daran dachten, in die Pfrund’ gehen zu müssen. Ohne
                    Jederlesens setzte er sich neben Käther aufs Kanapee, nahm ihre primitiv
                    geführten Geschästsbücher her und arbeitete in einer Stunde zusammen, womit sie
                    sich drei Abende plagte. Er hatte das Schnelllernen und Begreifen einer
                    wildwüchsigen Jugend und dazu. die praktische Ader seines Volkes. Käther, mit
                    der Brille <pb n="43"/>auf der Nase, sah ihm staunend zu, wenn seine gesunde,
                    rote Jünglingshand so flink auf dem Papier hinfuhr. Sie traute dieser
                    Geschwindigkeit nicht und behielt sich stets die Kontrolle vor, steckte ihm aber
                    auch manchmal etwas zu, an dem er den Barometerstand ihrer Huld erkannte.</p>
                <p>Sein Verhalten hatte sie endlich mit dem Turnverein so weit ausgesöhnt, daß er es
                    eines Tages wagen konnte, sie zu einem Turnfest einzuladen, bei dem er sich
                    einen Preis holen wollte.</p>
                <p>„So, gleich einen Preis, du Großhans!" sagte Käther. „Meinst, sie hätten hier nur
                    auf dich gewartet, daß du ihnen die Preise wegschnappst ?"</p>
                <p>Sie wollten nicht gleich daran, Gritli schon gar nicht, von wegen der alten
                    Erinnerungen. Da sprach Käther das entscheidende Wort, daß sie doch sehen wolle,
                    was der Bursch könne, wenn es mit dem Preisholen nicht nur eine Prahlerei
                    sei.</p>
                <p>Und richtig fuhren sie am nächsten Sonntag Nachmittag ~ das Fest fand in einer
                    der Ortschaften am Zürichsee !statt ~ mit dem Salondampfer von dannen. Es war
                    ein Vergnügen, das sie sich selten gönnten, darum schlug ihnen das Herz wirklich
                    einmal wieder höher auf, als das majestätische Schiff, mit der festlich wehenden
                    eidgenössischen Fahne, an den sonnigen Geländen dahinfuhr.</p>
                <p>Die Familie Wüest hatte sich den Rollenputzen angeschlossen, Regi in hellen
                    Gewändern mit langen, weißen Fadenhandschuhen und einem Strohhut, von dem ganze
                    Blumengebüsche winkten. Sie wollte nicht bloß den Triumph Ruedis sehen, sondern
                    selber ein wenig triumphieren.</p>
                <p>Der Turnplatz war auf einer halb von Wald umschlossenen Wiese, auf die das
                    Gebirge im vollen Sonnenglanz herüberschimmerte. Es herrschte bereits fröhliches
                    Treiben um denselbenobwohl die Turner noch nicht da waren. Gritli und Käther
                    nahmen ehrbar ihre Zuschauerplätze ein, während die Wüests wie zu Hause taten
                    und von der fliegenden Bierschenke jenseits der Barriere sich gleich einen Trunk
                    reichen ließen. Dann begann eine Blechmusik lustig zu schmettern. Der Plan
                    füllte sich. Die Turner zogen auf.</p>
                <pb n="44"/>
                <p>Zum erstenmal, so alt sie waren, sahen die Rollenputzen solch eine
                    Jünglingsversammlung bei ihren Übungen und Spielen. Der grüne Wiesenplan war
                    plötzlich voll Jugend und Lebenslust. Das sprang und schwang und überschlug sich
                    federleicht und doch nach gemessenen Regeln, als hätten die Körper keine
                    Knochen, so biegsam behende bewegten sie sich. Und dabei leuchteten Augen und
                    Wangen in sprühender Freude an der eigenen Kraft.</p>
                <p>Die Schwestern bekamen jetzt eine andere Meinung über Ruedis Leidenschaft. Gritli
                    besonders sah mit einer Mischung von Angst und bangem Stolz Ruedis Künste. „Kein
                    Wunder, daß er's so kann,‘ dachte sie und hatte dabei immer den Alten, wie in
                    verjüngter Gestalt, vor Augen. Was sie hier aber in Lust und Freiheit trieben,
                    hatte er ums Brot getan. Dem Jungen, das schwor sie sich in dieser Stunde,
                    sollte es besser gehen als seinem weltverschlagenen Vater. War er doch das
                    letzte Reis am alten Stamm der Rollenputzen und in seiner Jugend so eine Art
                    Abendschein für das anrückende Alter der zwei Schwestern. Während die Musik die
                    sröhlichsten Weisen spielte, dachte Gritli an die ernsthaftesten Dinge, an Tod
                    und Hinterlassenschaft, und was der alte Ruedi dereinst im Jenseits sagen werde,
                    wenn sie ihm von seinem Jungen berichte. ~</p>
                <p>Nachdem Turner und Zuschauer wacker das Jhrige geleistet, kam ein anderes
                    Schauspiel, das Gritli aus ihrem Sinnen weckte. Eine Gruppe Mädchen, weiß
                    gekleidet, mit gesunden, bräunlichen Gesichtern und Händen, trat vor, um den
                    Siegern die Preise zu reichen, allerlei Gaben und Kränze aus Eichenlaub, die sie
                    unter schmetterndem Tusch dem Betreffenden aufs Haupt setzten. Einige beugten
                    ritterlich das Knie, den funkelnden Blick kühn in die Augen der Schönen tauchend
                    ; andre waren durch diese Nähe mit einemmal unbeholfen und blöde. Auch Ruedi
                    empfing unter großer Spannung des Schwesterpaares einen Preis und stand nachher
                    mit dem frischen Eichenkranz, eine Uhr emporhaltend, vor ihnen.</p>
                <p>Gritli wurde ganz rot vor Freude, und die Wüests beteiligten sich in vollen Tönen
                    an dieser quasi Familienehre. Regi rief mit erhobener Stimme: „Jetzt ist der
                    Ruedi erst recht ein Schweizer geworden.“</p>
                <pb n="45"/>
                <p>Regula wäre nun gern ein wenig unter diesen Jünglingen gewesen, um sich genial
                    des Lebens zu freuen, das Trinkhorn zu kredenzen und dergleichen mehr. Sie hatte
                    sich nicht umsonst so schön herausgeputzt.</p>
                <p>Die Turner zogen aber, geschmückt, wie sie waren, in flottem Marsch davon, einem
                    Fesstessen zu, wo die vaterländische Sappho vermutlich überflüssig geworden
                    wäre. Freilich sollte später am Abend ein Tanzkränzchen folgen. Doch das war für
                    Regi wegen ihres steifen Fußes ein verschlossenes Paradies, und nur zusehen, wie
                    andere sich in die Arme und tanzend davonfliegen, das war ihre Sache nicht. So
                    fuhr sie denn mit ihren Eltern und den Rollenputzen, nachdem sie sich gemeinsam
                    irgendwo gütlich getan, bei Sternenschein träumerisch nach Hause.</p>
                <p>* * *</p>
                <p>Auf der Peterhofstatt, dem geräumigen Platz vor der St. Peterskirche, sstanden
                    die neuen Glocken, blumengeschmückt, bereit zum Aufzug.</p>
                <p>Seit Monaten war kein Ton mehr vom Turm erklungen, seit jenem Frühlingsabend, als
                    die ehrwürdigen alten, die jahrhunderte lang geläutet, zum lettenmal geschwungen
                    worden waren. Nun harrten diese hellschimmernden Erzformen, die wiederum in
                    Jahrhunderte hinein, in unbekannte Fernen der Zukunft läuten sollten, der
                    Weihe.</p>
                <p>Das war ein Ereignis, welches die Schwestern Rollenput, wie alles, was ihre liebe
                    Vaterstadt betraf, auf das lebhafteste beschäftigte. Sie gehörten zwar nicht in
                    jene Gemeinde, aber ihre religiöse Richtung, namentlich die Gritlis, die immer
                    einen stillen Zug zur Schönheit hatte, führte sie dorthin. Mit besonderer
                    Erbauung hörten sie da die Predigten, das Spiel der neuen Orgel, die belehrenden
                    Sonntagabendvorträge, aus denen sie den unkirchlichen Wüessts gar manches
                    begeistert, wenn auch oft verkehrt, heimbrachten. St. Peter war für sie der
                    ideale Ort ihrer Sonntagsfeier, die Heimat ihres sonntäglichen Menschen.
                    Demgemäß hatten sie freudig beigesteuert, als es sich um die Mittel für das neue
                    Geläute handelte.</p>
                <pb n="46"/>
                <p>Käther und Gritli lösten sich gegenseitig im Laden ab, um die Glocken zu
                    besichtigen, bevor sie in ihre luftige Höhe kamen. Sie besaßen beide einen
                    gewissen historischen Sinn für solche Ereignisse, die sie sich nicht gern
                    entgehen ließen. Zum Alt des Aufzuges, der festlich unter Beteiligung der
                    Schuljugend, stattfinden sollte, überlegten sie geradezu, ob sie den Laden
                    schließen wollten. Da dies aber auf einen Markttag fiel, also doch nicht anging,
                    so gewährte Käther den Genuß des Schauspiels großmütig dem Gritli, für die so
                    etwas Ambrosia war.</p>
                <p>Weit standen die Schallfenster der Glockenstube offen. Der behäbige Petersturm
                    schaute wie erwartend herab auf das Gewimmel der Menge unten, auf die allen
                    Häuser und schattigen Gäßchen, die sich da ringsum drängen und schlängeln, ein
                    Stück alten Zürichs, wo die Schwalben sich noch traulich anbauen, und aus allen
                    Winkeln das Ehedem guckt.</p>
                <p>Auf freiem Gerüst standen die Glocken da im festlichen Schmuck der Blumengewinde.
                    Wie Gold glänzte das Metall, leuchteten die ewigen Worte ihrer Inschristen, als
                    schlummerte auch der Ruf goldener Zeiten in ihnen. Und rings umwogte sie das
                    aufblühende Geschlecht, junge, frohe Menschenkinder, die den Augenblick des
                    Zugreifens nicht erwarten konnten.</p>
                <p>Gritli hatte eine Freundin auf der Peterhosstatt, ebenfalls unverheiratet, die
                    hinter ihren Geraniumstöcken am Fenster ein beschauliches Leben als
                    Hippenbäckerin führte. Von ihrer Stube im dritten Stock konnte man herrlich die
                    Vorgänge auf dem Kirchenplatz sehen. Auch für sie war das eine Art Feiertag
                    heute, dem zu Ehren sie ihrem Gast von dem selbstfabrizierten Gepäck und dito
                    Nußwasser vorssetzte. Kaum waren die beiden in der einstweiligen Stärkung
                    begriffen, so verstummte das Gesumme unten, und die Feier begann mit Weihespruch
                    und Gesang. Seltsam lieblich klang der Chorus all dieser Kinderstimmen an der
                    altehrwürdigen Stätte. Töne aus Menschenbrust flogen den ehernen Stimmen voraus
                    in die Höhe.</p>
                <p>Und dann kam die Arbeit. Die Stränge bewegten sich. Hunderte von Händen, groß und
                    klein, hielten sie fest, zogen an.</p>
                <p>Ziehet, ziehet, hebt!</p>
                <pb n="47"/>
                <p>Alles schwieg. Aller Blicke waren auf die Glocke gerichtet.</p>
                <p>Langsam hob sich die erste –</p>
                <p>Sie bewegt sich, schwebt!</p>
                <p>Heller Jubel brauste auf. Die Freude begleitete sie auf ihrem Flug, dem stillen,
                    ruhigen Emporschweben ~ über die Menschen ~ die Stadt ~ ins Blau des Himmels
                    tauchend, bevor sie einzog in ihre Glockenstube.</p>
                <p>Gritli sah ernst und ergriffen dem Schauspiel zu. Es schwindelte ihr im
                    Überdenken der Zeit, die vor diesem Augenblick lag, und die nach ihm dahingehen
                    würde, bis hier wiederum einmal Glocken aufgezogen werden. Wie der Morgen einer
                    andern Zeit erschien ihr das alles, der helle Gesang, die Kinderscharen, die
                    alle frohäugig aufblickten in weite, blaue Fernen des Lebens, während sie selber
                    dem Abend, der Zeit zuschritt, wo es über eine Weile heißen wird: Sie ruhen aus
                    von ihrer Arbeit, und ihre Werke folgen ihnen nach. Welche Werke folgten ihr
                    dereinst? Sie wußte keines, als daß sie brav Nudeln, Fideli und Gefrörssalbe
                    gemacht, tapfer gespart und niemand übervorteilt hatte. Es flimmerte vor Gritlis
                    Augen über all dem Nachdenken und Hinaufblicken in die sonnige Höhe, wo nun bald
                    die Glocke an ihrem Ziele war.</p>
                <p>Auf einmal kam es wie ein Gesicht über Gritli. Der Ruedi mit seinem Eichenkranze
                    auf dem Kopfe stand vor ihr, rotwangig, lachend, die helle Zukunft in Person. An
                    dem Abend, als die alten Peterglocken das lette Mal geläutet hatten, war er
                    gekommen, mager, ausgehungert, ein armer Fremdling mit dem Geleitbrief des
                    Toten, ein Vermächtnis dessen, der ihr doch einst eine Ahnung von den Wonnen des
                    Daseins gegeben. So bitter die Erinnerung gewesen, jetzt war sie verklärt. Und
                    jetzt auch wußte Gritli plöglich, was ein Werk wäre: aus dem Jungen zu machen,
                    was der alte nicht hatte werden können, etwas Rechtes, ein aufrechter Bürger und
                    Rollenputz, mit eigenem Geschäft und realem Boden unter den Füßen, der, wenn die
                    Zeit gekommen, ohne Leichtsinn einen Hausstand gründen und Kinder haben kann,
                    wie das einmal in der Weltordnung ist, ~ kleine Ruedeli, vielleicht auch ein
                    Gritli – –</p>
                <pb n="48"/>
                <p>Die Glocke war oben angekommen. Hundertstimmiger Jubel brach los.</p>
                <p>Gritli erschrak darob, wie jemand, der jäh aus dem Schlaf geweckt wird, und ihr
                    war, als fiele sie aus einem Himmel voll kosender und musizierender Engelein zur
                    Erde zurück. Ein Schwindel befiel sie, aber es war ein wohliger, der wie ein
                    lichtes Wölkchen ihre Sinne umnebelte. Sie lächelte ganz eigen, fuhr nach der
                    Stirn und glitt auf den nächsten Stuhl.</p>
                <p>„Was hast du?" fragte die Freundin und holte sogleich das Nußwassser herbei.</p>
                <p>„Es ist nur vom Hinaufsschauen,“" sagte Gritli, „und von dem Merkwürdigen,
                    welches man da mit erlebt. – Man macht doch so seine Betrachtungen –"</p>
                <p>„Natürlich, wenn man ein rechter Christ ist," bekräftigte die Hippenbäckerin mit
                    einer Baßstimme, die jedem Mann Ehre gemacht hätte. „Trink einmal."</p>
                <p>Gritli folgte und aß auch etwas, aber zerstreut, in Gedanken.</p>
                <p>Schon wurden Anstalten zum Aufzug der zweiten Glocke gemacht. Gleichzeitig
                    schwankte von einem der Gäßchen her eine verheißungsvolle Ladung für Trunk und
                    Imbiß nach getaner Arbeit.</p>
                <p>Wieder wurden die Stränge gezogen, rührten sich alle die Hände, bis das
                    denkwürdige Geschäft vollbracht war.</p>
                <p>Dann gab es eine fröhliche Stärkung, woran jung und alt teilnahm. Und während die
                    Rufer der kommenden Zeit nun still in ihrer Höhe tronten, summte und schallte es
                    unten von den Kinderscharen, den Bürgern dieser kommenden Zeit, die das Heute
                    und Morgen, Vergangenheit und Zukunft verbanden.</p>
                <p>Gritli spürte auf einmal etwas wie Gemeinschaft mit ihnen, und ihr Herz war
                    erfüllt von Plänen und einer geheimnisvollen Freude, als sie dann nach Hause
                    ging, um Käther das Erlebte zu berichten.</p>
                <p>* * *</p>
                <p>Den ersten Sonntag, den ersten Gottesdienst hatten die neuen Glocken eingeläutet
                    in wundervoll mächtiger Harmonie. Alles lauschte auf, als sie ertönten. Eine
                    Botschaft des Himmels schien durch die Lüfte zu hallen.</p>
                <pb n="49"/>
                <p>Käther und Gritli waren in ihren ernsten schwarzen Kirchenkleidern, den besten,
                    die sie sonst nur an den Festtagen trugen, nach St. Peter gegangen, um dem
                    Weihgottesdienst beizuwohnen. Sie betrachteten diesen Tag als einen besonderen
                    in der Geschichte ihrer Vaterstadt und schier auch ihres eignen Lebens.</p>
                <p>Abends gingen sie auf die hohe Promenade, um von diesem schönen Punkt das erste
                    Betläuten zu hören. Ruedi hatte sie auf den See hinausrudern wollen; aber sie
                    zogen diesen beschaulichen Abendgang vor.</p>
                <p>Es war still unter den alten Bäumen, fast feierlich. Wenig Menschen nur saßen da
                    und dort auf den Bänken, schweigsam in die Landschaft blickend, die in ihrer
                    ganzen Schönheit hier ausgebreitet liegt. Auch die Schwestern ließen sich nieder
                    und betrachteten wieder einmal ihr liebes Zürich mit jenem Sonntagsgefühl, das
                    sich immer einstellte, wenn sie aus ihrem engen Niederdorf hinaus in die Weite
                    kamen. Stolz und eine Art Andacht, aber auch Wehmut und Herzensgroll lagen
                    darin. Dieses reich aufblühende Wesen allerorten verschlang fast unheimlich das
                    Zürich ihr er Erinnerung. Es wurde immer prächtiger und immer fremder. In der
                    Woche schimpften sie weidlich über all das Einreißen und Neubauen, aber am
                    Sonntag sahen sie dann doch mit Gehobenheit, was daraus entstand, und was schön
                    war. Und ihre Kritik erschwieg vollends, wenn sie die Berge, den See einmal
                    wieder so recht im Glanze vor sich sahen – „das Ebige halt", wie Gritli
                    sagte.</p>
                <p>Auch heute war das so ein Abendglänzen, die Lüfte herbstlich rein und kühl.
                    Hinter dem Ütli ging die Sonne unter. Die Stadt versank in weiche, blaue
                    Schatten. Aber das Limmattal und einzelne Partien der Seegelände lagen noch im
                    vollen Gold der letzten Strahlen. Und über allem + eine andere Welt und doch so
                    ganz zum Vaterland gehörig + zog ssich in hehrem Leuchten die Alpenkette vom
                    Aufgang bis zum Niedergang der Sonne.</p>
                <p>„Käther", hob Gritli nach längerem Schweigen an, „mir geht etwas im Kopf herum,
                    und jetzt möcht' ich es sagen."</p>
                <p>„Was?"</p>
                <pb n="50"/>
                <p>Alle Herrlichkeit des Menschen ist wie Gras und wie die Blumen des Feldes –"</p>
                <p>„Was predigsst du da?"</p>
                <p>„Ich meine nur, daß es so ist, und daß ich etwas abfasssen möchte für meinen Teil
                    – etwas Schriftliches, mit dem du aber auch einverstanden sein mußt. Das
                    schönste Denkmal ist ja doch in den Herzen der Menschen + und wer weiß, wie
                    lange wir noch leben . . ."</p>
                <p>Käther tat einen Ruck, um die Schwester von oben bis unten zu betrachten.</p>
                <p>Diese saß mit einem merkwürdig sanften, hellen Ausdruck da.</p>
                <p>„Aha“, sagte Käther, „jezt kommt der Ruedi wieder aufs Tapet! Ich merk's an
                    deinem Gesicht. ~ Was Schriftliches!</p>
                <p>Was Denkmal!"</p>
                <p>Gritli lächelte sinnend.</p>
                <p>„Ich will machen, daß der Ruedi einmal auf eigenen Füßen stehen kann. Weil ich
                    ledig geblieben bin und seinen Vater nicht haben konnte, so soll es ih m einmal
                    zu gut kommen. Und dieses will ich heute noch aufsetzen, zum Andenken an diesen
                    schönen Sonntag, wo die neuen Glocken zum erstenmal geläutet haben. Es ist mir
                    in den Sinn gekommen, als ich sie aufziehen sah, an dem Platz, wo die alten
                    geläutet haben: Das Goldgrübli ist vom Erdboden verschwunden, als wär’ es nie
                    dagewesen. Also werden auch wir verschwinden! Und das Junge kommt nach, auch auf
                    den Platz, wo wir gewesen sind. Sollen wir ihm nicht so gut als möglich bei
                    Lebzeiten die Stätte bereiten, wo es dann fortgedeihen kann ?"</p>
                <p>„Das sollen die, welche Kinder haben," erwiderte Käther trocken. „Mach, was du
                    willst. Ich bleibe bei meinen Legaten, die ich aufgesetzt habe. Potztausend!
                    Meinst du, es sei mir gleich, daß es im Tagblatt gekommen ist, als wir aus dem
                    Goldgrübli haben fort müssen? Das schreibt man nicht von jedermann! Und drum
                    soll die Stadt Zürich dann noch einmal die Käther Rollenputz kennen lernen, wenn
                    sie von hinnen gegangen iste. Jetzt weißt du meine Meinung."</p>
                <pb n="51"/>
                <p>Als sie mit ihren verschiedenen Beglückungsideen so gegeneinander losrückten und,
                    wie das meist geschah, in allem Eifer sich warm stritten, ertönte vom Peterturm
                    her voll und tief und unendlich weich das Geläute der großen Glocke.</p>
                <p>Da versstummten sie und horchten andächtig auf. Kein Wort kam weiter von ihren
                    beredten Lippen.</p>
                <p>Es klang wie ein Gebet in die tiefe Stille hier oben. Das Blättergeflüster in den
                    alten Baumkronen schien inne zu halten; die Natur selber schien zu lauschen und
                    im Schweigen des Abendrotes der Himmel seine Pforten aufzutun.</p>
                <p>* * *</p>
                <p>Als die Schwestern heimgekehrt waren, zündeten sie sogleich die Lampe an, nahmen
                    Papier und Schreibzeug vor, alles mit Feierlichkeit. Dann setzte jede ihre
                    Brille auf ~ Gritli hatte bei Licht auch schon schwache Augen , und sie
                    schrieben.</p>
                <p>Gritli:</p>
                <p>„Zum Angedenken an diesen denkwürdigen, gesegneten Tag, da zum erstenmal die
                    neuen Peterglocken geläutet worden sind, und auch zum Angedenken des Rudolf
                    Rollenpuyt selig, verstorben in Buenos Aires, welcher mir einstens in Ehrbarkeit
                    die Ehe angetragen hat, jedoch nicht einlösen konnte, wegen peinlicher
                    Verhinderung, so vermache ich seinem Sohne Rudolf Rollenputz ohne Kenntnis, bis
                    daß die Zeit erfüllet ist, mein bescheidenes Vermögelein, wie es auf einem
                    Extrabogen aufgeschrieben ist, welchen ich hier beifüge. Gott führe ihn den
                    rechten Weg und lasse ihn einen braven, währsschaften Bürgersmann werden.</p>
                <p>Dieses wünschet in Liebe für sein Wohlergehen</p>
                <p>Gritli Rollenputz,</p>
                <p>Burgerin von Zürichund zeitlebens wohnhaft im Niederdorf."</p>
                <p>Käther dagegen setzte auf einem Schriftstück, welches sie unter ihren wichtigsten
                    Papieren hervorholte, bloß kategorisch folgendes hinzu:</p>
                <pb n="52"/>
                <p>„Es bleibt dabei, was ich hier aufgeschrieben habe, bloß daß ich dem Rudolf
                    Rollenputß Jünger bis auf Wiederruf ein Legat von eintausend Franken vermache in
                    Anbetracht er der Letzte von unserm Geschlecht ist, falls er in späterer Ehe
                    nichl noch Buben bekommt, was die Herren bei der Erbschaft dann schon reglieren
                    werden.</p>
                <p>Mit Achtung</p>
                <p>Katharina Rollenputz,verwitwete Boßhardt."</p>
                <p>Sie hatten beide rote Backen, als sie ihre Federn wieder säuberlich auswischten,
                    denn so leicht war es doch nicht gegangen, ein Schriftstück aufzusetzen, das
                    einmal in die Hände von allerlei gelehrten Herren kam und seinen Verfasserinnen
                    Ehre machen sollte. Gritli war dann nach getaner Arbeit aber auch ganz gehoben.
                    Denn zum erstenmal hatte sie das Gefühl, etwas vollbracht zu haben aus dem
                    Liebesreichtum ihres Herzens, der, scheinbar verschüttet gewesen, nun noch
                    einmal wie mit Jugendmacht ans Licht drang.</p>
                <p>Später gingen die Schwestern noch zu den Wüests, wo auch Ruedi war, den sie des
                    geheimnisvollen Aktes wegen aus der Stube geschickt hatten, als er kam.</p>
                <p>Bei den Wüests ging es recht vergnüglich und lehrreich zu. Ein Dichterfreund
                    Regis saß auf dem Sofa, das Weinglas vor sich, und führte mit ihr große Reden
                    über Literatur, Genie und allerlei Erbärmlichkeiten des Lebens. Er war nämlich
                    sechs Tage der Woche Buchhalter in einer Senf- und Esssigfabrik, am siebenten
                    aber ruhte er aus bei den Musen. Auf diese Bekanntschaft, eine Eroberung
                    neuesten Datums, baute Regi einmal wieder rosige Hoffnungen. Sie trug deshalb
                    ein helles Band lose durchs Haar geschlungen, was ihr einen idealischen Anstrich
                    gab, und deklamierte, um ihr Licht leuchten zu lassen, eine Reihe eigner
                    Gedichte, zuerst düstere, revolutionäre, dann solche, die die Liebe
                    verherrlichten.</p>
                <pb n="53"/>
                <p>Die Alten sahen erwartungsvoll den Dichterfreund an, der sich indessen wohlgemut
                    den Wein schmecken ließ. Käther fand das Zeug einfach langweilig. Ruedi und
                    Gritli aber hörten aufmerksam zu, und manchmal ging beim einen oder andern ein
                    stilles Glänzen durch ihre Augen. Bei dem Jungen war es vielleicht der
                    Vorgeschmack von allerlei Geheimnissen des Lebens ~ bei ihr das Spätrot einer
                    Sonne, die erst nach ihrem Untergang noch einmal für sie aufleuchtete und Rudolf
                    Rollenputz der Ältere hieß.</p>
            </div>
            <pb n="54"/>
            <div type="chapter">
                <head>Rosen im Schnee.</head>
                <p><hi>E</hi>s klopfte an des Herrn Doktors Tür auf die bekannte vorlauschende Art.
                    Das war natürlich wieder das Vreneli. Was wollte es schon wieder – zum Donner –
                    ~</p>
                <p>„Herein !"</p>
                <p>„Gott grüeßi Herr Dokter!“ ~ Damit eröffnete das hübsche rotbackige Wehnthaler
                    Maitli jedesmal seine Rede, wenn es dem „Herein“" mehr eine Weisung „Hinaus"
                    anmerkte. – „D’ Fräulein Hedwig lat frage, ob Sie hüt z’Abig daheim seied – nur
                    wege dem Esse."</p>
                <p>O Weiber! Nur wegen dem Essen –~ am Sylvesterabend!</p>
                <p>„Nein," sagte er mit abgewendetem Gesicht, fast ein wenig verlegen, – „ich fahre
                    nach Zürich."</p>
                <p>„So — ?"</p>
                <p>Ohne hinzublicken sah er ihre Verwunderung.</p>
                <p>Eine Pause.</p>
                <p>Das Vreneli blieb bei der Tür stehen – weshalb noch? –~</p>
                <p>Da tat er einen ungeduldigen Ruck auf seinem Stuhl. Er saß nämlich am
                    Schreibtisch, um an seine Eltern einen Neujahrsbrief zu verfassen, was für ihn
                    immer eine Schweißarbeit war. Er liebte das Briesschreiben nicht, am wenigsten
                    zur Zeit dieser Allerweltsglückwünsscherei. Aber einige mußten geschrieben
                    werden. Bis heute, am Sylvestertag, hatte er sie hinausgeschoben; jetzt half
                    kein Zögern mehr.</p>
                <p>„Ja ~ was gibt's sonst noch?" fuhr es ihm barsch heraus.</p>
                <p>„Ich han nu glaubt, Sie welled no öppis säge ."</p>
                <p>Schau! Sie will wissen, wohin er geht am heutigen Abend. Entschuldigen soll er
                    sich. Höflichkeit lehren will ihn dieses Bauernkind !</p>
                <pb n="55"/>
                <p>Mit unwirscher Miene sah er sie an, doch im selben Moment zerfloß sein Grimm auch
                    schon. ~ Dieses enttäuschte Gesicht ! Und dasselbe wird sicherlich bei ihrer
                    Herrin der Fall sein wenn sie erfährt, daß er heute abend fortgeht.</p>
                <p>Herrgott! In einem solchen Gehege von Weiblichkeit, von Güte, Liebe und Fürsorge
                    stecken! Tausende würden ihn darum beneiden, und er – so gewöhnt man sich an das
                    Gute — gibt sich nicht einmal Mühe, eine ordentliche plausible Ausrede zu
                    ersinnen für diesen verzwickten Fall, denn — aber das braucht das schlaue
                    Vreneli ihm jezt nicht noch vom Gesicht abzulesen. Diese Frauenzimmer haben
                    ohnehin einen Spürsinn, eine Kombinationsgabe, die ihnen unter andern Umständen
                    alle Ehre machen würde.</p>
                <p>~ „Mit dem Fräulein Hedwig werde ich selbst reden," sagte er nun schon sanfter;
                    „aber vorher, Vreneli, wohlgemerkt! will ich eine Stunde Ruh’ haben. Also jezt
                    abtreten !“</p>
                <p>Er hatte bereits wieder sein freundliches Gesicht. Da lachte auch sie wieder,
                    denn diese Tonart war die gemütliche, und darauf verschwand sie, wie ihr
                    geheißen.</p>
                <p>Nun war wieder eine Ruhe um den Schreibenden, so tief, wie kein Poet zum Dichten,
                    kein Pfarrer zum studieren der Neujahrspredigt sie herrlicher wünschen konnte.
                    Vor den Fenstern die stille weite Schneelandschaft, unten ein Stück Zürichsee,
                    darüber der Höhenzug des Albis, im Duft des Wintertages sich verlierend; im
                    Vordergrund weißes Hügelland, da und dort ein Dachfirst, regungslose Bäume, der
                    verschneite Garten. Und dazu eine urbehagliche große Stube, in welcher die
                    Wanduhr tickt und ein respektables Gebäude von einem Kachelofen Wärme spendet,
                    jene gleichmäßige, Tag und Nacht anhaltende Wärme, die einst unsere Vorväter
                    sorglos genossen, als es in der Welt noch genug Brennholz und keine sozialen
                    Fragen gab.</p>
                <p>Nur ein paar Stunden von Zürich entfernt ist das ' Dorf, wo das Doktorhaus liegt,
                    aber in einer Gegend, durch die bis dato keine Bahn, kein Bähnchen führt,
                    sondern die Poströßlein noch allein und gelassen die Bergstraße hinan und
                    heruntertraben. Darum war auch der junge Doktor nach dem Tode des alten <pb
                        n="56"/>leicht hierher gekommen. Er hatte keine große Konkurrenz gehabt. Man
                    strebt mehr den Ortschaften mit Bahnverbindung, mit Industrie und Wohlhabenheit
                    zu. Nun, was diese letztere für s einen Fall betraf, so betteten ihn freundliche
                    Schicksalsmächte gleich in das wärmste Nest, nämlich in das Haus seines
                    verstorbenen Vorgängers, dessen Tochter und einzige Erbin, Fräulein Hedwig + ein
                    „Frauenzimmer von bestandenem Alter,“ + den Unverheirateten, der sonst nirgends
                    im Dorf eine recht doktorswürdige Wohnung gefunden hätte, fürsorglich aufnahm.
                    Er, das Fräulein und Vreneli, das Mägdlein, haussten nun schon über zwei Jahre
                    in schönster Eintracht miteinander, und der Glücksmensch hatte sich bald
                    dermaßen in die Gunst dieser beiden Schutzgeister hineingelebt, daß er
                    eigentlich der Herr im Hause, zum mindesten der Wettermacher darin war. Es ging
                    ihm so gut, daß er sich manchmal gefragt hatte: Kann man besser bestellt sein?
                    Werd’ ich am Ende zwischen dem Butterblümchen Vreneli und meiner verehrten
                    Spätsommerrose, Fräulein Hedwig, so allgemach ein wohlgenährter alter Knabe
                    werden, der auf seinem Schimmel über Land reitet, die Patienten anknurrt,
                    zweimal die Woche ins Wirtshaus geht und um andere annehmbare Dinge des Lebens
                    sich keinen Teufel mehr schert ?</p>
                <p>Bis vor drei Monaten hatte ihn diese Frage zuweilen in müßigen Momenten
                    beschäftigt, seither nicht mehr. Denn zu jener Zeit tauchte, – man sollte es in
                    dieser Dorfstille kaum glauben — bereits die dritte seiner Schicksalsgöttinnen
                    auf.</p>
                <p>In den letzten Septembertagen war dem wohlhabenden Landwirt Karrer ein Büblein
                    geboren worden. Mutter und Kind schwebten in höchster Gefahr. Der Doktor rettete
                    sie; er vollbrachte damals das erste wirkliche Meisterstück seiner ärztlichen
                    Kunst. Dadurch erwarb er einen Ruhm, der sich über mindestens vier Gemeinden
                    verbreitete, in der jungen Familie selbst aber eine Verehrung, besonders von
                    weiblicher Seite, die ihn über die Wolken erhob. Dies war nicht allein bei der
                    Patientin der Fall, in gehörigem Maß und Abstand auch bei dem besonnenen Gatten.
                    Am hitzigsten trieben es die beiden allerliebsten drei- und vierjährigen
                    Töchterchen, Anneli und Selineli, die den Doktor <pb n="57"/>gleich so zärtlich
                    in ihre kleinen Herzchen schlossen, daß sie ihm überall nachliefen, wo sie
                    seiner habhaft werden konnten, und dadurch oft dem ,„Tanteli" das Blut in die
                    Wangen jagten, wenn es gerade um die Wege war.</p>
                <p>Ja, dieses Tanteli ~ vorübergehend die Mutter-Stellvertreterin –!</p>
                <p>Bertha hieß sie, war die jüngere Schwester der Frau Karrer, zweiundzwanzig Jahr
                    alt und „halt donnersnett zum anlvegen“. Dazu sprach sie den hellautigen feiner
                    klingenden Dialekt des Kantons St. Gallen, was ihr etwas vom Reiz des Mädchens
                    aus der Fremde gab, obgleich diese Fremde nur ein paar Stunden weit lag. Kurz,
                    das ganze Dorf war einig über ihre Vorzüge, sogar, mit etwelcher Reserve,
                    Fräulein Hedwig, die hoch über dem Dorfgeschmack stand.</p>
                <p>Wie besagte Vorzüge binnen kurzem wirkten, blieb ihr nicht unbekannt, dem Vreneli
                    natürlich noch weniger. Aber weit entfernt von kleinlichem Neid —~ Fräulein
                    Hedwig war eine Idealistin, eine schöne Seele, die sich viel mit Büchern,
                    Gedanken, Selbstbildung befaßte, ~ empfand sie bloß eine gewisse liebevolle
                    Eifersucht, nicht mehr allein das Wohl ihres Herrn Doktors in Händen zu haben.
                    Er brachte jezt manche Stunde, die er früher daheim gewesen, wenn er nicht auf
                    der Praxis war, drüben in dem Karrer'schen Hause zu, wo es ihm zur Winterszeit
                    schier noch gemütlicher dünkte als im Herbst, da hinter'm Gartenzaun zuweilen
                    jemand sichtbar geworden war, mit dem man ein Gespräch anknüpfte, das
                    nichtssagendste Zeug oft, und doch den innern Menschen merkwürdig belebend, wie
                    ein Glas Veltlinerwein. Hier saß der herkulische Jünger Äskulaps nun öfter, wenn
                    ihn das Gedeihen des Stammhalters gerade wieder einmal besonders interessierte,
                    in der großen Parterrestube, wo zwischen den Fenstern Geranium blühte und
                    Monatsrosen winzige Knösplein trugen, und immer alles wohlgemut beisammen war,
                    die Großen und die Kleinen. Man unterhielt sich von Weltwie Dorfereignissen,
                    auch von andern Dingen, und ging der Stoff aus, so spielte er mit den zwei
                    kirschäugigen kleinen Dingern, <pb n="58"/>Anneli und Selineli, und schaute
                    dabei nach Herzenslust das „Tanteli" an.</p>
                <p>Jedesmal, wenn er dann heimkamin das stille blanke Doktorhaus, demnur das Vreneli
                    einige Jugendfarbe verlieh, war ihm, als träte er in ein Kloster, wo er bereits
                    zum hoffnungsvollen Novizen geworden.</p>
                <p>Der heutige Sylvesterabend hatte ihm unter diesen Umständen geraume Zeit schon
                    Kopfzerbrechen gemacht. Fräulein Hedwig erwartete natürlich, daß er ihn wie
                    voriges und vorvoriges Jahr mit ihr verbringe; doch delikat, wie sie war, sagte
                    sie nichts. Und drüben im Karrer'schen Hause erwarteten sie ihn auch; sie hatten
                    schon längst gefragt, ob er komme. Seine Antwort ließ noch alle Wege offen, aber
                    der eigentliche Entscheid hatte ihn letzte Nacht eine Stunde Schlaf gekostet.
                    Nun war er entschlossen: er fuhr nach Zürich, obschon er tausendmal lieber
                    dageblieben wäre. Niemand sollte vorgezogen, niemand gekränkt werden. Aber: O
                    Pantoffel! Der du in allen Formen und Größen die Welt regierst! dachte er mit
                    grimmigem Humor und ließ dann in aller Frühe gleich durch den Botenmann einige
                    seiner Zürcherfreunde benachrichtigen, daß er komme und daß sie im alten Café
                    Orsini am Fraumünsterplat, wo sie als Studenten beisammen gesessen, das neue
                    Jahr begrüßen wollten.</p>
                <p>* * *</p>
                <p>Als die Briefe geschrieben waren, kam der Doktor mit noch erhitztem Kopf von der
                    Anstrengung, die sie ihn gekostet, ins Wohnzimmer zu Fräulein Hedwig.</p>
                <p>„Ja, also –~" begann er gleich herauspolternd, um seine Verlegenheit nicht merken
                    zu lassen, „ich fahre also heute abend nach Zürich + weil Sie wegen des Essens
                    fragen ließen "</p>
                <p>Sie sah von ihrer Arbeit auf und lächelte ein wenig, fast wehmütig. „Ich dachte
                    mir's."</p>
                <p>Er hustete. „Es sind ein paar Freunde, die ich wieder einmal sehen möchte ~ der
                    Schlittweg ist gut ~ ich glaube, sogar Mondschein im Kalender."</p>
                <p>„Und hoffentlich braucht ~+ oder vermißt Sie niemand bis morgen."</p>
                <pb n="59"/>
                <p>Aha, eine Anspielung !</p>
                <p>„Kaum!“ lachte er. „Es ist ja auf vier Stunden Umkreis momentan alles gesund.
                    Übrigens ich fahre in der Nacht zurück.“</p>
                <p>„Tun Sie das nicht. In der Neujahrsnacht, wo allerlei Volk unterwegs ist.“</p>
                <p>„Pah, ein paar angesäuselte Ehrenmänner.“’</p>
                <p>„Dann nehmen Sie wenigstens eine Pistole mit."</p>
                <p>„In unserm guten Kanton Zürich bew affnet reisen? Aber hochverehrte
                    Schutzpatronin!‘’ ~ Er legte seine hübsche, wohlgeformte Hand auf ihre Schulter,
                    worüber ihr, wie immer, wenn er sie so à la Matrone behandelte, die Wangen ein
                    bißchen röter wurden.</p>
                <p>Sie beugte sich über ihre Arbeit. „Jch könnte ihnen etwas erzählen, was mein
                    Vater in der Neujahrsnacht erlebt hat, auf der gleichen Straße, wo Sie fahren
                    müssen, dort hinterm Stocktobel, wo man in den Wald kommt ~</p>
                <p>„So ? Wie war das denn?“ Er nahm einen Stuhl und ssetzte sich ritllings, die Arme
                    auf die Lehne verschränkt, zu ihr. Er wollte ihr so eine Art Abschlagszahlung
                    von Gemütlichkeit machen.</p>
                <p>„Lieber ein andermal.“</p>
                <p>„Dann hat es keinen Zweck mehr. Warum heute nicht?“</p>
                <p>„Weil es Tage gibt, wo man nicht von alten Zeiten reden mag.“</p>
                <p>„An den sentimentalen, den Fest- und Familientagen, nicht wahr? – Jch kann mir
                    das ganz gut denken.“</p>
                <p>Sie schwieg eine Weile.</p>
                <p>„Aber da fällt mir gerade ein – warten Sie, ich will Ihnen etwas bringen.’</p>
                <p>Sie stand auf und ging aus dem Zimmer. Er aber saß da, erleichterten Herzens, daß
                    das Geständnis seiner heutigen Flucht heraus war, und doch ein wenig gedrückt
                    von seiner Untreue. In Gedanken betrachtete er den leeren Lehnstuhl, in dem sie
                    eben gesessen, ein uraltes gesticktes Kissen an der Rücklehne; weiß Gott, wie
                    lange das schon so hier war, – dann das Nähtischchen davor, die vielen kleinen
                    und größeren Familienbilder, meistens Verstorbener, in der Fensternische. Lauter
                    Andenken, Erinnerungen. Und dazu diese Einsamkeit, und Sylvesterabend - und doch
                    noch nicht alt sein ~J nicht vierzig Jahre! – –</p>
                <pb n="60"/>
                <p>Da kam sie wieder zurück, einen großen Pelzmantel auf den Armen.</p>
                <p>„So ~ den müssen Sie für die heutige Fahrt über sich nehmen. Er riecht zwar ein
                    wenig nach Kampfer, aber das verfliegt bald. Wir haben jetzt schon sechs Grad
                    unter Null; es wird heute Nacht noch ordentlich sinken. Das neue Jahr kommt über
                    einen klingenden Boden.''</p>
                <p>„Wie schön Sie so etwas sagen können: es kommt über einen klingenden Boden! Das
                    tönt wie lauter Hoffnung.“</p>
                <p>„Spotten Sie nicht.“</p>
                <p>„Nein, nein, im Ernst! Sie sagen oft merkwürdig hübsche Sachen. Woher nehmen Sie
                    das nur bei diesem stillen Leben ?““</p>
                <p>„Vielleicht ~ gerade daher. Da geht alles nach innen, was andere nach außen hin
                    verbrauchen.‘</p>
                <p>„Sie sollten sich's doch ein wenig srohmütiger einrichten auf der Welt; Sie
                    hätten das Zeug dazu!‘</p>
                <p>„Wieso ?"</p>
                <p>„Einen hellen Verstand, ein famoses Herz –*</p>
                <p>„Still, still! Was reden Sie da ? Meinen Sie, Sie müssen jetzt gleich Vergeltung
                    üben für diesen alten Pelz ?““</p>
                <p>„Auf Vergeltung habe ich überhaupt schon lange verzichtet, denn Sie sind ein so
                    ausgezeichnetes Menschenexemplar –*</p>
                <p>„Gehen Sie ~ es ist jetzt genug. Glückliche Reise nach Zürich !‘“</p>
                <p>„Und wenn ich nun da bliebe? Und Ihnen Gesellschaft leisten möchte ?" Er sah sie
                    gut, fast zärtlich an, so wie ein Bruder die ältere Schwester.</p>
                <p>„Nein, nein ~' Es zuckte kaum merkbar um ihren Mund; sie wandte den Kopf
                    beiseite. ~ „Seien Sie nur recht fröhlich. Und wenn es um zwölf Uhr in der Stadt
                    zu läuten anfängt, dann grüßen Sie mir die Glocken vom Peter und Fraumünster.
                    Die tönen so schön zusammen.“</p>
                <p>„Ja, das will ich.“ –~ Er gab ihr die Hand. „Und jetzt danke ich Ihnen
                    einstweilen für alle Guttaten im alten Jahr –</p>
                <p>„Da gibt es nichts zu danken.“</p>
                <pb n="61"/>
                <p>„O doch, sehr viel! – Das Glück fürs neue wollen wir einander morgen
                    wünschen.'’</p>
                <p>Sie nickte und lächelte und ließ einen Moment wie vergessen ihre Hand in der
                    seinen.</p>
                <p>* * *</p>
                <p>In der frühen Dämmerung kam der Schlitten, mit einem wohlgenährten Bauernrößlein
                    bespannt, vors Haus. Das Tier wieherte und spitzte unternehmungslustig die
                    Ohren, als der Doktor, den es schon öfter gefahren, mit seinem mächtigen Pelz
                    herauskam. Er sah so statilich aus, daß Vreneli ihm völlig stolz nachblickte.
                    Und die Pistole hatte er richtig in eine der Taschen gesteckt, wie immer, wenn
                    er sich zuerst gegen einen Rat Fräulein Hedwigs auflehnte.</p>
                <p>Er grüßte die am Fenster Stehende noch einmal mit dem hellen, jungen Ausdruck,
                    den sein Gesicht oft hatte. Dann nahm er die Zügel, und fort ging's,
                    pfeilschnell in den Nebel hinaus, daß dem Rößlein Schweif und Mähne nur so
                    flogen.</p>
                <p>Eine Weile stand das Fräulein noch und sah in der Richtung, wie einer Erscheinung
                    nach, einem Phantom der Jugend, des Glückes – –</p>
                <p>Dann hieß sie Vreneli sich zum Sylvestergottesdienst rüsten.</p>
                <p>Die Glocken der kleinen Kirche bimmelten schon, soviel sie konnten; es sschallte
                    von dem Hügel weit über das nächtige Schneeland hinaus. Als sie verstummten und
                    die Gemeinde versammelt war, wehte von unten noch aus den Ortschaften am See das
                    Geläute herauf. Drinnen im Kirchlein hob der Töchterchor zu singen an, und dann
                    hielt der Pfarrer dem scheidenden Jahr einen Nachruf, mit Dank gegen Gott und
                    etlichen mahnungsvollen Anspielungen auf politische und soziale Vorkommnisse im
                    lieben Vaterland.</p>
                <p>* * *</p>
                <p>Die Freunde des Doktors fanden sich nicht gerade vollzählig im Orsini ein. Der
                    eine und andere hatte eben heute auch seine wichtige oder geheimnisvolle
                    Abhaltung. Dafür stießen ein paar <pb n="62"/>neue dazu, welche die Lücken
                    ersetzten. Man unterhielt sich ausgezeichnet. Der Landdoktor spürte wieder
                    einmal, daß er in der Stadt war. Der alte Student wachte in ihm auf. Warum auch
                    nicht? Ja, Herrgott! Es ist eben doch eine heilsame Abwechslung gegen die
                    Atmosphäre da oben unter den „Kühbuben“, deren einer ihm einmal, ein würdiger
                    Herr Gemeindrat, als sie festlich im Gemeindwirtshausse tagten, im Rundgesang
                    bei der Stelle: Bruder, deine Schöne heißt? –~ Jakob antwortete! Von Zeit zu
                    Zeit muß man unter seinesgleichen sein. Er freute sich, daß dies gerade heute
                    der Fall war, wurde immer vergnügter, immer lebhafter, fing an zu singen und
                    auch mannhaft zu kneipen, wie ehedem. Und als um Mitternacht in der wie bei Tage
                    belebten Stadt das Umherziehen, Feuerwerken und Musizieren anhob, da kam die
                    süße Torheit von einst auch über ihn. Er schloß sich samt seiner Gesellschaft
                    einem Lampions tragenden Zug junger Studenten an, der im Gänsemarssch sämtliche
                    Brücken beschritt und in dem alle Weltsprachen geredet wurden. Hernach
                    versammelte man sich noch einmal zu einem Punsch, um das junge Jahr gehörig zu
                    begrüßen, und dann ~ es war inzwischen drei Uhr morgens geworden ~ kam der Herr
                    Doktor in angeregtester Stimmung zu seinem Schlitten, vor dem das Bauernrößlein
                    schon geraume Zeit gewartet hatte.</p>
                <p>Er klopfte dem braven Kameraden seiner Nachtfahrt den Hals. „So, Hansli, jetzt
                    geht's heim. Jetzt wollen wir vernünstig miteinander kutschieren. Den Weg wissen
                    wir ja beide. ~ ~ Ja halt! Zuerst noch eine Zigarre, – = ohne dies Lichtlein
                    keine Erleuchtunn. – –~ Sol!“</p>
                <p>Er lohnte den Knecht, der sein Fuhrwerk gehütet, königlich. Hierauf stieg er
                    bedächtig ein, hüllte den Pelzmantel fest um sich und ließ den Hansli
                    traben.</p>
                <p>Sapperlot, — ja, eisig kalt war's. Das pfiff ins Gesicht. Wenn er den Pelz jetzt
                    nicht hätte! –~ Die gute Fräulein Hedwig —~ wirklich ein —~ ein famoses
                    Frauenzimmer: an alles denkt sie. –à – Wenn sie zwanzig Jahre jünger wäre – ~
                    na, das ist sie also nicht – und so eine mütterliche Freundschast ist auch
                    schön. Überdies !– haha! – was würde sie dazu <pb n="63"/>sagen, die Holde, die
                    Eine mit den lieben, braunen, den waldfrischen Rehaugen + das herzige Geschöpf!
                    ~ Ganz warm wird einem, wenn man an sie denkt, wahrhaftig! –~ Wie heißt's im
                    Hebel? – –</p>
                <l>Minen Auge gfallt</l>
                <l>Herischried im Wald.</l>
                <l>Woni gang, so denk’ i dra,</l>
                <l>'s chunnt mer nüt auf d’Gegnig a</l>
                <l>Z'Herischried im Wald.</l>
                <l>Imme chleine Hus</l>
                <l>Wandlet i und us ~</l>
                <l>Gelt, de meinsch, i sag’ der, wer ?</l>
                <l>'s isch e Sie, es isch kei Er!</l>
                <p>Ja, das ist die Tonart und die Melodie, welche zu ihr passen. Das ist noch
                    Weiblichkeit nach dem Herzen Gottes, wie sie seit Adam und Eva existierte und
                    heute auch noch ~ obgleich rar geworden. Was modern, = (in Beziehung auf Frauen
                    ein unleidliches Wort!) nervös ~ studieren ~ praktizieren! ~ alle bösen Geister
                    fallen einem ein. Sie weiß nichts davon und ist doch gescheit – hoho! und wie! –
                    ~ Ob fie bös war, daß er nicht kam? Das ging nun einmal einfach nicht – nein. –~
                    Da hieß es, eine salo ~salomonische Entscheidung treffen ~ und sie war
                    salomonisch ausgefallen. – ~ Freilich, wie mag Fräulein Hedwig den heutigen,
                    respektive gestrigen Abend zugebracht haben? Er hatte sie herzloserweise gar
                    nicht gefragt. Zum erstenmal ganz allein, was ihm unterwegs erst eingefallen
                    war. Und sie hatte ihn oh ne Groll ziehen lassen!! Ja ja, „z’Herischried im
                    Wald", da gibt's noch Frauenzimmer, um die ihn ganz Zürich beneiden kann. ~
                    Voriges Jahr — wie war das gleich ~? Da war er daheim geblieben, der Pfarrer mit
                    seiner Frau dabei — ein ziemlich öder Herr. Aber der Wein damals war fein, alter
                    Sasella, den der verstorbene Doktor noch in seinem Kellerlein gepflegt. Der
                    verstand’'s! – Dann ging man nach zwölf Uhr ins Bett; insofern nicht übel, als
                    einem diese Nachtfahrt erspart war, bei solcher Bärenkälte –~ Teufel! Wenn das
                    so fortgeht, gefriert der See wieder. ~ Aber schön war's, brillant <pb n="64"
                    />unterhalten. Was der eine, der Ingenieur, da von seiner Amerikareise erzählte
                    ~ fabelhaft! Das sind Kerle da drüben ~ alles gleich riesenmäßig in der Anlage.
                    Da sind wir noch die reinen – die reinen – — no, Hansli? Was ist los? –~ ~–</p>
                <p>Man befand sich vor einer Straßengabelung, wo der Herr nach anderer Richtung
                    wollte als sein Roß.</p>
                <p>„Ja so! ~ ~ Hast recht, Hansli – hü!" ~</p>
                <p>Das Selbstgespräch war unterbrochen, die Pistole sogleich dem Doktor eingefallen.
                    Immerhin griff er danach. Richtig, da war sie, die stumme Begleiterin, die jeden
                    Augenblick reden kann, wenn es nötig iste. Man kam ja nun bald an das Tobel, von
                    dem die gute Hedwig gestern eine Räubergeschichte erzählen wollte. Pah! Es ist
                    hell, der Mond hoch am Himmel und eine Stille, daß man meint, die Sterne droben
                    knistern zu hören. Das junge Jahr schläft wie ein neugebornes Kindlein. – –~</p>
                <p>„Hü, Hansli! Je schneller du läufst, desto balder sind wir daheim."</p>
                <p>Und Hansli, der die laute Anrede aus der landwirtschaftlichen Praxis her gewöhnt
                    war, ließ sich das nicht zweimal sagen, schlug plötzlich ein ganz wildes Tempo
                    an, so daß ihm und seinem Lenker darob warm wurde und sie in verhältnismäßig
                    sehr kurzer Zeit das heimatliche Dorf erreichten.</p>
                <p>Leise steckte der Doktor dann den großen Hausschlüssel ein und schlich wie ein
                    Dieb nach seinen zwei links, gleich neben dem Eingang liegenden Zimmern. Die
                    Frauensleute sollten nicht hören, daß er erst nach fünf Uhr heim kam.</p>
                <p>Ah! wie wohlig warm ! ~ Und, schau – der Tisch gedeckt, Theemaschine, Rum,
                    Spiritus, alles bereit, wenn er durchfroren ankäme. Und dort, was noch mehr? Ein
                    großes Ding mit einer Stickerei. Ein Fußsack, eine Bescherung !*) O Edelmut, o
                    Haduwig! – Weiße Rosen + oder sind es Ranunkeln oder Sternenblumen, ~ ganz
                    gleich, rührend, wirklich rührend!</p>
                <p>Thee? Nein, keinen mehr. Lieber schlafen jezt. – Es wird köstlich schmecken in
                    dem guten behäbigen Bett.</p>
                <pb n="65"/>
                <p>Ah! Wie ein Gerechter nach heißem Tagewerk streckte er sich, blies das Licht aus
                    und tat einen tiefen, grundzufriedenen Atemzug. – – Eine edle Seele ~ diese
                    Haduwig — wirklich! – Man muß ihr morgen – ein bißchen den Hof machen. – – Oder
                    ~ sollte am Ende – Berta ? ~ Ales möglich, wenn man sich – ~ diese lieben
                    braunen Augen –~ ~ z'Herischried im Wald – –</p>
                <p>Ein halblautes vergnügtes Lachen, wie im Traum, unterbricht den Monolog.</p>
                <p>Weiße Rosen? – Immerhin Rosen – ~ Neujahrstag morgen. – Wie schreibt man jezt ? –
                    Neunzehn ~ hundert – ~</p>
                <p>* * *</p>
                <p>Es war noch alles mäuschenstill, als Vreneli an des Doktors Tür horchte, bevor
                    sie mit dem Fräulein zur Kirche ging. Draußen die Holzladen vor seinen Fenstern
                    waren auch noch geschlossen.</p>
                <p>Das rotbackige Wehntaler Kind lachte: „Dem wird's hüt nid pressiere !"</p>
                <p>Und so schlossen sie das Haus ab und überließen den Langschläfer drinnen seinen
                    guten Geistern.</p>
                <p>Der schlief wie ein Gott. Er träumte die buntesten Dinge, machte Reisen in
                    merkwürdige Gegenden, wo Elephanten gemütlich spazieren gingen und Löwen wie
                    Haushunde vor ihm schwänzelten. Dann übersetzte er mit Leichtigkeit Wasserfälle,
                    flog von einer Bergspitze zur anderen, und unten stand Fräulein Hedwig mit
                    ausgestreckten Händen, da sie sich ja, wie ihm nebenbei einfiel, auf der
                    Hochzeitsreise befanden. Jetzt eben, jetzt träumte er, es werde bei ihm
                    eingebrochen. Er hörte deutlich das leise Geräusch des Feilens und Bohrens. Das
                    sind die Schelme, die im Tobel den alten Doktor überfallen wollten. Halt, die
                    Pistole! Wo ist sie? Nirgends zu finden. Und das Bohren, das Feilen wird immer
                    deutlicher, gleich werden sie im Hause sein. – –</p>
                <p>Der Schläfer erwachte aus einem schweren tiefen Schlaf. Was war los ? Einbrecher
                    – ? Mit einem Ruck saß er aufrecht im Bette und lauschte. Tiefe Nacht, tiese
                    Stille. Doch nein, es <pb n="66"/>begann wieder. An einem der Fenster wird
                    richtig gearbeitet – er hat es nicht bloß geträumt.</p>
                <p>Jetzt in einem Satz aus dem Bett, nach der Pistole getasstet. Aus dem Kästchen,
                    wo sie immer ist, will er sie nehmen J oder, wie ist das gleich? Nein, er hatte
                    sie ja mit auf seiner Fahrt. Draußen im anderen Zimmer, im Pelzmantel muß sie
                    noch sein. Richtig, er hat sie! Jetzt ist er ganz wach, ganz klar. Er zündet
                    Licht an. Und nun schleicht er, aufgeregt, das Blut pocht ihm in den Adern, von
                    einem Fenster zum anderen.</p>
                <p>Hier – hier sind sie! ~ Horch ein merkwürdiges Streichen und leises Patschen, ein
                    Probieren jedenfalls –~ -</p>
                <p>„Wartet ihr Schufte! ' Er spannte den Hahn. „Jhr sollt eueren Mann finden." ~</p>
                <p>Und nun die Fenster auf, Doppelfenster, dann die festen eisenbeschlagenen
                    Holzladen – –</p>
                <p>Er prallte zurück –~ was ist das?</p>
                <p>Tag — weißer Nebel - zwei Kindergesichter mit roten Näschen, dicht vor ihm,
                    erschrocken, stumm, dann plötzlich laut lachend: „A glückselig's neu's Jahr!“
                    Die zwei Stimmchen rufen es wie aus einem Munde, und kleine Hände in Fäustlingen
                    strecken jedes ein dunkelrotes Röslein empor.</p>
                <p>Der Doktor ist wie vor den Kopf geschlagen, sich selber unheimlich. ~
                    Alkoholvergiftung? + Halluzination? –</p>
                <p>Zum ersten legt er vorsichtig die Pistole weg und holt einen Rock, denn es ist
                    bitter kalt.</p>
                <p>Anneli und Selineli gucken ihm mit großen Augen nach, krabbeln allssogleich
                    wieder auf den Schiebkarren, der umgestülpt vor dem Fenster liegt, und schlagen
                    das Rütlein mutwillig ans Fensterbrett, mit dem sie sich zuvor bemerkbar machen
                    und Eingang verschaffen wollten. ~ „A glückselig's neu's Jahr !‘ tönt es wie
                    Vogelgezwitscher in die Siube, bis der Doktor, einigermaßen gesammelt, gekämmt,
                    in Pantoffeln und Schlafrock zurück ans Fenster kommt.</p>
                <p>„Wer schickt mir die Rösli ?“’ fragte er jetzt mit so viel Würde, als ihm
                    augenblicklich zu Gebote stand.</p>
                <p>Sie zogen die Köpfe ein, sahen sich gegenseitig an und kicherten.</p>
                <pb n="67"/>
                <p>„Die Mutter?‘</p>
                <p>Kopfschütteln.</p>
                <p>„Das Tanteli?‘'</p>
                <p>„Mir dürfet's nid säge. 's Tanteli hät g'seit, mir sölled gli wieder heim cho,
                    wil de Vater und d'Mutter in der Chille *) sind.“’</p>
                <p>„So ?“’ sprach der Herr Doktor, indem es ihm auf einmal rosenrot an den Augen
                    vorüberzog. „„Ja, dann müßt ihr dem Tanteli freilich folgen.'’</p>
                <p>Er holte das Körbchen mit Näscherei, welches Fräulein Hedwig ihm gespendet hatte,
                    und ließ die zwei kleinen Rosenboten nach Herzenslust ihre Taschen füllen,
                    worauf sie eilig davonsprangen ~ und er nun bei Tageslicht, aber noch immer wie
                    aus einem verwirrenden Traum, auf die Uhr sah.</p>
                <p>Zehn!</p>
                <p>* * *</p>
                <p>Anstatt nun mit hellem Kopf die Ereignisse sich zurecht legen, eine schöne
                    Kravatte nehmen und den Huldinnen danken zu können, die ihn an der Schwelle des
                    neuen Jahres so stummberedt mit dem Sinnbild der süßesten Empfindung begrüßt
                    hatten, wurde der Doktor kaum, daß er angekleidet war, zu einem Bauer geholt,
                    der in der Nacht in einen Bach gefallen war und dabei das Bein gebrochen
                    hatte.</p>
                <p>Das Kütschlein stand schon draußen und sollte den Arzt gleich mitnehmen.</p>
                <p>Da gab es kein Murren. Das alles war ja Segen, auch das gebrochene Bein. Und so
                    schenkte er sich denn, vorläufig resigniert, ein Gläschen Kognak auf den Weg
                    ein, obwohl ihm innerlich bereits recht warm war. Es galt wieder eine Fahrt über
                    Berg und Tal. Vorher aber nahm er noch die zwei kleinen Röslein, denen er mit
                    der Pistole entgegengegangen war, ~ jetzt lachte er darob und dachte: umgek ehrt
                    ist der Schuß gegangen! ~ betrachtete sie liebe- und gedankenvoll, und stellte
                    sie dann behutsam in einem Glas auf seinen Schreibtisch.</p>
                <pb n="68"/>
                <p>Dem inzwischen heimgekehrten Vreneli trug er einen Gruß an Fräulein Martha auf,
                    die im Pfarrhaus war, und sie möge in Anbetracht seines weiten Weges nicht mit
                    dem Esssen auf ihn warten: er werde wohl erst gegen Abend zurückkommen.</p>
                <p>„Herrje,“ rief sie bedauernd, „hüt au wieder ?“ Aber gleich darauf mit
                    verschmittem Gesicht: „Die frisch Luft wird Ihne wohl tue!“</p>
                <p>Sah ihm das fürwitzige Ding etwas an? Sie lachte!</p>
                <p>Alles lachte heute oder schien ihm wenigstens zu lachen, der Himmel, an dem sich
                    plöglich, wie vor einer großen Lichtgewalt, die Nebel teilten; die weiße,
                    glitzernde Welt und vor allem etwas in des Doktors Jnnerem selber, das er einst
                    kaltblütig Muskel genannt. Haha —~ Muskel! –~ Jn seinem Kopf allein war noch
                    eine etwas dunkle drückende Stelle. Die aber hatte mit dem übrigen nichts zu tun
                    und verlor sich mehr und mehr, je weiter der Schlitten über den knarrenden
                    Schnee flog.</p>
                <p>War das ein Neujahrstag heute! Die ganze Gebirgskette vom Säntis bis
                    Finsteraarhorn und Jungfrau klar, das letzte Spitzchen scharf ins Blau
                    gezeichnet, eine weite stille Welt. Jn den Nähen alles dicht bereift, jeder
                    Stein und Busch am Wege, die Wälder märchenhaft zu schauen. Wie Schleier stäubt
                    es nieder, wenn eine Krähe auffliegt. Und in dieser Lichtstille zuweilen ein
                    Geläute, weiß Gott woher und –~ = zwei frische dunkelrote Röslein daheim auf dem
                    Schreibtisch ~</p>
                <p>Der Bauer lag ächzend im Bett, eine schwere Federdecke bis zur Nasenspitze und
                    warme Umschläge auf dem Fuß. Dazu trank er literweise noch irgend einen
                    Kräuterthee. Es roch wie in einem Heugaden.</p>
                <p>Der Doktor schalt über die Roßkur, welche das Weib einsstweilen auf eigene Faust
                    mit ihrem Mann begonnen, öffnete zuallererst das Fenster, ließ das Bettzeug
                    wegschaffen und untersuchte dann. Richtig ein Beinbruch.</p>
                <p>Da gab es eine Stunde heißer Arbeit, bei welcher der Doktor gleich zu Anfang, wie
                    weiland Doktor Faust, einen kleinen Flug durch die Luft tat, aber nicht mit dem
                    Zaubermantel, sondern viel einfacher, durch einen verzweifelten Tritt seines
                    Patienten, <pb n="69"/>der sich mit dem gesunden Bein gegen die Qualen, die ihm
                    das kranke verursachte, schadlos hielt und dabei halt den Herrn Doktor an der
                    Rückseite traf, dermaßen, daß er mehrere Schritte weit gegen den grünen
                    Kachelofen flog, an dessen glatter Fläche er wahrscheinlich abgerutscht wäre,
                    wenn das Weib ihn nicht aufgefangen hätte. Hernach ging aber alles gut. Der
                    Patient war jezt zahm wie ein Lamm, und zum Schluß tischte seine Ehehälfte auf,
                    was sie an Leckerbissen im Haus hatte, Sauerkraut, Schweinefleisch, Birnweggen,
                    Nußwasser und Wein, einen Züricher, den man ordentlich im Gaumen spürte.</p>
                <p>Der Doktor hatte Hunger bekommen und ließ sich einen kleinen Imbiß schmecken.
                    Darauf zündete er eine Zigarre an, gab noch einige kategorische
                    Verhaltungsmaßregeln und schied im besten Einvernehmen.</p>
                <p>Es war sonniger Nachmittag, als er in dem primitiven Bauernschlitten wieder
                    heimfuhr. Sein Tagwerk hatte er vermutlich für heute getan, wenn nicht noch
                    einer in der Sylvesternacht irgendwo zu viel links oder rechts abgeschwenkt war.
                    Jetzt kam ein tiefgründiges Wohlgefühl über ihn, ein Behagen und Erwarten der
                    schönsten Dinge, die der Rest dieses Tages noch bringen konnte. Denn was so
                    anfängt, pflegt auch außergewöhnlich zu schließen. Und der Doktor hatte das
                    Beste ja noch vor sich.</p>
                <p>Die Schneeschatten wurden immer tiefer blau, die Lichter allmählich rötlich und
                    rot, bis die Sonne hinter dem Uetliberg hinabgesunken war, und jede Farbe jäh
                    erblaßte.</p>
                <p>Weite Strecken begegnete dem Heimkehrenden kein Mensch auf der einsamen Straße.
                    Alles hielt sich heute in den Häusern und Dörfern zusammen. Der Doktor schlug
                    den Mantelkragen hoch auf und dachte vergnügt: auch wir kommen bald in eine
                    gemütliche warme Stube, es fragt sich nur, in welche zuerst –?</p>
                <p>Darüber verlor er sich in so angenehme Vorstellungen, daß er aufschrack, als der
                    lange Knecht, der mit seinen ausgiebigen Beinen wie ein Nußknacker über der
                    Deichsel hockte, plötzlich ein rauhes Öha! rief.</p>
                <p>Da vorn schritt jemand eiligen Ganges, der den Schlitten nicht zu bemerken
                    schien. Der Doktor beugte sich hinaus.</p>
                <pb n="70"/>
                <p>Eine Frauengesstalt. Rechts am Wege blieb sie stehen, um das Fuhrwerk
                    vorbeizulassen.</p>
                <p>Ja ~ ~ bis j etzt konnte der heimtückische Punsch von dieser Nacht doch nicht
                    mehr wirken – das ist ja – –</p>
                <p>„Halt, Freund!“ rief der Doktor den Langen an. = ,,Stillstehen, bigott !‘’”
                    wiederholte er aufgeregt.</p>
                <p>Das Rößlein schien indessen keine Lust zu einer Unterbrechung ohne Wirtshaus zu
                    haben.</p>
                <p>„Wenn's halt einmal recht im laufen ist ~'’ grinste der Lange.</p>
                <p>Aber sein Insasse hörte nicht, sondern war bereits mit einem Satz aus dem
                    Schlitten.</p>
                <p>„~ Sind Sie's oder sind Sie's nicht ?“’ rief er. – „Guten Abend !‘</p>
                <p>„Guten Abend !‘</p>
                <p>„Wie ein Phantom wandeln Sie da in der Einöde!“</p>
                <p>Unter einem weißen Capuchon, der ein ganzes Schneegewölk von luftigen Maschen
                    über der Stirn bildete, schaute ein frisches Mädchenangesicht mit ein paar
                    großen braunen Augen hervor.</p>
                <p>„Was ist ein Phantom ?“</p>
                <p>„Zuerst steigen Sie einmal in den Schlitten, dann will ich es Ihnen
                    erklären.“</p>
                <p>„Nein, merci."</p>
                <p>„Warum nicht ?!</p>
                <p>„Ich geh’ lieber.“</p>
                <p>„Dann begleite ich Sie.“</p>
                <p>„Allein käm’ ich auch heim.“</p>
                <p>„Das glaub’ ich schon. Da wir aber die gleiche Richtung haben und ich überdies ~
                    à propos: ein gücksseliges neues Jahr! Wir haben uns ja noch nicht gesehen seit
                    heute morgen, seit ~</p>
                <p>Sie lachte verlegen und reichte ihm die Hand. ,, Also - ein glückliches Neujahr!
                    Und = jetzt steigen Sie nur wieder in Ihren Schlitten – und dann –“</p>
                <p>„Was dann ?“</p>
                <p>„Sie waren gewiß auf der Praxis ?‘</p>
                <p>„Eben drum fängt erst jezt der Feiertag für mich an. Rasch griff er nach einem
                    Trinkgeld für den Rossselenker. „Da, <pb n="71"/>Freund und Ehrenmann, trinkt
                    ein Schöppli und gebt meine Tasche im Gemeindewirtshaus ab.“</p>
                <p>„So, adies‘’, sagte der Lange, der etwas merkte, fuhr davon und kehrte sich, als
                    er eine Strecke weit war, noch einmal nach den beiden um.</p>
                <p>Die schienen sich jezt Zeit zu lassen.</p>
                <p>– – „Soll ich Sie etwa ~ führen?“ —</p>
                <p>„Nein, b'hüetis !“</p>
                <p>„Im gleichen Schritt und Tritt ließe sich's sonst besser spröchlen*). Aber wie
                    Sie wollen ~ “</p>
                <p>Er besann sich jetzt auf etwas feines, womit das Gespräch ohne Zeitverlust gleich
                    in die gehörige Richtung zu bringen wäre, denn sie näherten sich bereits dem
                    Dorfe. Die Kunst der Rede gehörte aber nicht zu seinen starken Seiten. Und der
                    Gedanke an die kleine Strecke, welche ihm blieb, schlug einige vorüberhuschende
                    Einfälle noch vollends in die Flucht. Da dachte er: Helfe, was helfen mag, gehe
                    es jetzt gerade oder krumm!</p>
                <p>„Haben Sie auch schon Wunder erlebt?’ fragte er plötzlich, wie aus dem
                    Stegreif.</p>
                <p>„Wunder ? – Was für welche zum Beispiel?“</p>
                <p>„Erscheinungen am hellichten Tag. Das passiert mir jetz manchmal."</p>
                <p>„Wenn Sie zu lang in Zürich bleiben, wahrscheinlich !‘ spöttelte sie.</p>
                <p>Er blieb stehen, „„Wie ist das gemeint ?“</p>
                <p>„Auf dem Heimweg halt — oder so wie jetzt.“</p>
                <p>„Richtig! Gerad’ so wie jetzt!“ rief er frohlockend, da er sich auf einmal im
                    Fahrwasser fühlte. „„Sehen Sie — so eine Erscheinung sind Sie!“</p>
                <p>„Aber ohne Wunder.“</p>
                <p>„Wie man's nimmt. – Woher kommen Sie?“</p>
                <p>„Von der Großmutter im Sonnenbühl.“</p>
                <p>„Und da müssen wir just so zusammentreffen! Das ist mir. <pb n="72"
                    />wunderbarlich, gerade so wie Rosen, die im Schnee wachsen. Ist Ihnen das schon
                    vorgekommen ?“</p>
                <p>„Nein.“</p>
                <p>„Kleine dunkelrote. Haben Sie das nie gesehen ?</p>
                <p>„Nein.“</p>
                <p>„Nun wird's mir unheimlich!“ sprach er feierlich. „Schon wieder geschieht ein
                    Zeichen! – ~ Eben war ich im Begriff, etwas Verwegenes zu tun, — es soll nicht
                    sein, wie es scheint.“</p>
                <p>Natürlich erwartete er ihre Frage, was das „Verwegenes“ sei, aber sie ließ ihn
                    ganz schön ein Weilchen schweigen. Jetzt gab's kein Zögern mehr, nur ein
                    entweder – oder –</p>
                <p>„Ich wollte Ihnen nämlich etwas sagen, kurz und gut, Ihnen, die sich so prächtig
                    verstellen kann –</p>
                <p>Sie lachte hell, aber es klang auch ein wenig Ängstlichkeit heraus. „Das hätt’
                    ich doch nicht ernst genommen."</p>
                <p>„Aha, Sie wollen mir meine grobe Ehrlichkeit zurückgeben. ~ Warum übrigens nicht
                    ernst genommen ?"</p>
                <p>„Wenn ein Doktor von Wundern redet, – am Neujahrstag, wenn er den Sylvessterabend
                    in Zürich war!“</p>
                <p>Er schaute sie voll Wohlgefallen und Freude an. „Recht haben Sie, bei Gott !‘“
                    sagte er langsam. „„Das kommt von der Schönrederei, wenn man einmal etwas
                    besonders fein sagen möchte. ~ ~ Jetzt aber eins — ohne Blume: was ist mit den
                    zwei dunkelroten Röslein, die mir heute früh unter den merkwürdigsten Umständen
                    –</p>
                <p>„Die sind zwischen den Vorfenstern, nicht im Schnee gewachsen.“</p>
                <p>„Und von wem kamen sie?"</p>
                <p>Von mir."</p>
                <p>„Potz tausend! Auf einmal die strikte Wahrheit. Und " fragte er angelegentlicher,
                    „was sollte die Botschaft ?</p>
                <p>Eine kurze Pause.</p>
                <p>„Dank sagen, daß die Kinder ihre Mutter noch haben, es fiel mir ein, weil die
                    Rösli gerad’ aufgeblüht waren.“</p>
                <p>„Weiter nichts ?‘</p>
                <p>„Und halt so -~ zum Spaß für die Kleinen.“</p>
                <p>„Wirklich weiter nichts ?‘</p>
                <pb n="73"/>
                <p>„Gehen Sie! Sie fragen mich aus, als ob ich eine Patientin wäre.‘</p>
                <p>Nun lachte auch er hell auf. „Weil es allerlei Diagnosen gibt! Nein, meine
                    Patientin sind Sie nicht, keine Spur, und ich bin ebenso wenig patiens. Drum
                    fahr’ wohl, alles was Patientia heißt! Wir sind gesund und jung und wollen die
                    Zeit nicht länger vergeuden.“</p>
                <p>„Bitte –~ da kommt jemand.“</p>
                <p>– „Berta + bisch es Du?‘’ rief eine Stimme durch die Dämmerung ihnen
                    entgegen.</p>
                <p>„Ja."</p>
                <p>„O Himmel '’ murmelte der Doktor.</p>
                <p>Es war der Schwager Karrer, der bei zunehmender Dunkelheit es für gut fand, dem
                    hübschen Tanteli entgegenzugehen.</p>
                <p>„So, so,“ sagte er ein bischen anzüglich, „Du hast schon Schutzmannschaft bei Dir
                    ?“‘</p>
                <p>„„Der Herr Doktor hat einem da oben das Bein einrichten müssen.‘</p>
                <p>„Wo ?“</p>
                <p>Der Doktor überhörte die Frage. Erst beim zweitenmale fuhr er auf: „Jn Nänikon ~
                    heißt das nein, in Zollikon.“</p>
                <p>„Das ist zwar bei Zürich unten.“</p>
                <p>„Was sag’ ich – in – in.“</p>
                <p>„Macht nüt, Herr Doktor,“ sagte der Schwager, der gleich merkte, was hier
                    vorgegangen, mit trockenem Humor, „wenn nur das Bein wieder beieinander
                    ist.''</p>
                <p>Nach kurzer Strecke waren sie beim Karrerschen Haus. Die Lampe in der Wohnstube
                    blinkte traulich zwischen den Blumenstöcken durchs Fenster. Man hörte die
                    Stimmen der Kinder.</p>
                <p>Der Doktor ging aber nicht mit hinein. Ihm brannte der Kopf von seiner
                    unterbrochenen Liebeserklärung. Wie stand er nun mit Berta? Sollte er ein
                    zweites Mal von vorn anfangen, wo ihm das erste schon Mühe genug gemacht ?</p>
                <p>In einem höchst unbehaglichen und unklaren Aufruhr der Gefühle stapfte er
                    heim.</p>
                <p>Hier grüßte ihn abermals traulicher Lampenschein, der, mild gedämpft von grünen
                    Schleiern, in die Dunkelheit hinausleuchtete.</p>
                <pb n="74"/>
                <p>Jetzt auch noch zu ihr müssen, zu Fräulein Hedwig ! Ach hätte sie doch Zahnweh
                    oder Kopfweh, oder wartete seinetwegen n o ch einer mit einem Beinbruch auf ihn.
                    Nur jetzt kein ruhiges, sinniges Gespräch führen müssen!</p>
                <p>Vorerst ging er einmal wenigstens in sein Zimmer.</p>
                <p>Alles schön aufgeräumt, still, warm, kalmierend ; der Fußsack schon bescheiden
                    unter den Schreibtisch geschoben, damit er die Füße nur gleich hineinstecken
                    könne. Und die Rotröselein nicht mehr im Wasserglas von heute morgen, sondern in
                    einem schlanken zierlichen Kelch. Hedwig wußte sicherlich, woher sie stammten,
                    und tat ihnen diese Ehre an! Liegt nicht Größe in solch’ einem kleinen Zug ?</p>
                <p>Nein, er will doch gleich zu ihr hinüber.</p>
                <p>Er klopfte.</p>
                <p>„Herein !‘</p>
                <p>Da saß sie wie gewohnt an ihrem Abendplätzchen, ganz allein, mit einem Buch.</p>
                <p>Vreneli hatte ihren freien Tag heute.</p>
                <p>Es überkam ihn etwas wie Rührung bei ihrem Anblick, dem bläßlichen, verwelkten
                    Jugendantliz. – Wenn sie wüßte! —</p>
                <p>„Endlich komme ich zu Ihnen, Fräulein Hedwig,“ sagte er, lebhaft einen Stuhl in
                    ihre Nähe rückend.</p>
                <p>Sie gab ihm die Hand, und ein stilles, nicht zu verbergendes Leuchten ging, wie
                    jedesmal, wenn er sich so gemütlich zu ihr sette, über ihre Züge. Sie bemerkte
                    gleich das Feuer, welches in seinen Wangen und Augen sprühte.</p>
                <p>„Jetzt haben Sie mir aber auch Schönes zu erzählen.“ Sie schob das Buch beiseite
                    und lehnte sich in den Schatten zurück.</p>
                <p>„Wieso?“'</p>
                <p>„Ich sehe es Ihnen an; so sieht jemand aus, der allerlei erlebt hat.“</p>
                <p>Er war beiroffen. Dieses milde, verständige Wesen sah ihm richtig wieder seine
                    Verfassung an. Aber es verletzte ihn nicht, im Gegenteil, es tat ihm wohl. Wie
                    ein ruhiges Licht drang ihr Blick in seine Seele und weckte das Bedürssnis nach
                    Mitteilung, nach offener Wahrheit. Er wurde plötzlich ganz weich.</p>
                <pb n="75"/>
                <p>„Ach ja, Fräulein Hedwig," sagte er, „allerlei, Schönes und Verzwicktes. Aber vor
                    allem kommen Sie dran. Sie wissen ja gar nicht, welch! ein Segen Sie für mich
                    sind, in Ihrer Liebe und Güte. Ja, weiß Gott! Sie krönen Ihr ganzes Geschlecht
                    in meinen Augen. Früher hielt ich meine Mutter für die beste Frau auf der Welt;
                    ~ seit ich Sie kenne, hat sie eine gefährliche Konkurrenz bekommen –~"</p>
                <p>Fräulein Hedwig lehnte sich noch weiter in den Schatten zurück, denn fie fühlte,
                    wie es ihr heiß ins Gesicht stieg.</p>
                <p>„Das wäre also der Prolog,“ sagte sie scherzhaft, „jetzt weiter."</p>
                <p>„Nein, noch lange nicht! ~ ~ Seit ich in Ihrem Hause bin, geht es mir ja so gut,
                    daß ich ~ gar nicht an anderes dachte, an gewisse Lebensveränderungen –~
                    heiraten zum Beispiel. Jetzt aber stehe ich an einem Scheideweg. Ich bin kein
                    Mensch, der lange zaudert. ~ Als ich diese Nacht heimkam und Ihre liebe
                    Bescherung vorfand, die schönen weißen Rosen, die Sie da für mich gestickt haben
                    -~"</p>
                <p>„Es sind keine Rosen," unterbrach sie leise.</p>
                <p>„Was denn ?"</p>
                <p>„Nur Schneerösli – Helleborus niger –~"</p>
                <p>„Meinetwegen, das ändert nichts an der Sache. Lieb ist's doch, und riesig gefreut
                    hat's mich auch. Ich merkte daraus, daß Sie mir wirklich gut sind. Und das
                    ist's, sehen Sie, was mich einmal ganz offen zu Ihnen reden läßt, wie zu ~- =
                    ach, es braucht ja keinen Namen“ – Er griff nach ihrer Hand. ~ „Liebes Fräulein
                    Hedwig + ich muß Sie etwas fragen, Ihnen etwas beichten – ~ werden Sie mich
                    nicht auslachen ?"</p>
                <p>„Nein."</p>
                <p>„Mir offen Antwort und Meinung sagen ?"</p>
                <p>„So offen," lächelte sie, – „wie es sich für mich schickt."</p>
                <p>Sie war ihrer Stimme nicht recht mächtig; das Herz klopfte ihr unsinnig auf. Aber
                    sie wollte tapfer sein.</p>
                <p>Er blickte auf ihre Hand nieder, die er in seinen beiden hielt, dann rasch empor,
                    ihr in die Augen, klar und fröhlich. ~ „Jch habe mich verliebt. Ist's ein dummer
                    Streich, wenn ich dabei gleich ans heiraten denke ?"</p>
                <pb n="76"/>
                <p>„Es kommt auf die Person an."</p>
                <p>„Sie kennen sie ja ~ das Tanteli im Karrerschen Hause ~ ein herziges Geschöpf
                    !"</p>
                <p>Es gab ihr einen Stich. Doch nur im ersten Augenblick benahm er ihr den Atem.
                    ~</p>
                <p>„Und jung und leb ensfro h!“ — Sie flüsterte das, wie man von Wunderbarem
                    spricht. – „Das ist die Rechte!"</p>
                <p>„Wirklich? Finden Sie das auch? rief er glückselig. „O, Sie Liebe, Gute, Edle,
                    daß Sie eines Sinnes mit mir sind!“ ~ Er sprang auf. „„Nun sollen mir aber nicht
                    umsonst heute Rosen geblüht haben, Rosen im Schnee! Ich will sie auch heute noch
                    pflücken. + Geben Sie mir Jhren Segen dazu, Fräulein Hedwig!“</p>
                <p>„Wenn gute Wünsche Segen bedeuten .'</p>
                <p>„Wünsche von Jh nen ganz gewiß.“</p>
                <p>Auch sie war aufgestanden.</p>
                <p>Sie schüttelten einander die Hände. Er war auf einmal wie aus dem Häuschen.</p>
                <p>„Jetzt gehe ich hinüber, und dann komme ich zurück mit ihr! Sie müssen die Erste
                    sein, die auch ihr Glück wünscht. Und dann plaudern wir, dann erzähle ich Ihnen
                    das Weitere. Ich habe allerlei erlebt seit gestern –*</p>
                <p>Stumm lächelnd ließ sie ihn gehen.</p>
                <p>Er stürmte fort.</p>
                <p>Gleich hernach fiel die Haustür zu, und tiefe Stille herrschte wie zuvor in dem
                    altväterischen Zimmer.</p>
                <p>Der Stuhl, den der Doktor so nahe hergerückt ~ wie beredt er noch dastand, ~
                    alles rekapitulierte er – –</p>
                <p>Sie blickte eine Weile nach der Stelle.</p>
                <p>„Rosen im Schnee ~“ summte es ihr im Ohr, als sie sich dann wieder zu ihrem Buch
                    und der verschleierten Lampe setzte.</p>
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