Imago : ELTeC Ausgabe Spitteler, Carl (1845-1924) ELTeC conversion Johanna Meyer 229 47104

2020-05-18

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Die Heimkehr des Richters

Warten mit dem Aussteigen! Warten denn, bis der Zug hält!» – «Dienstmann gefällig? Dienstmann?» So, das wäre jetzt also die Heimat, nach welcher man sich das Herz aus dem Leibe gesehnt hat! Dem Landjäger, der dort in der Halle lungert, würde man's auch nicht ansehen. Ich glaube gar, er gähnt. Heimat und Gähnen!

«Haben Sie noch Großgepäck?»

Ein Bahnhofplatz wie ein anderer; starre Häuser, hart und grau wie überall; nichts von Purpurschein und Goldschimmer. Waren denn eigentlich früher die Gassen auch so zugig und leer? Puh, diese Staubwolken! Und was für ein eiskalter Wind, anfangs September! Vor einem jedenfalls, Viktor, bist du in dieser steinernen Nüchternheit sicher: vor Liebesanfechtungen. Oh, keine Gefahr!

Allein der täppische Dienstmann mit seinem zudringlichen Geschwätz erlaubte keine Besinnung. «Würden Sie mir vielleicht eine große Gefälligkeit erweisen?» ersuchte ihn Viktor. «Dann gehen Sie, bitte, langsam, aber ja recht langsam, um diesen Pfeiler, und zählen Sie genau die Schritte. – Wieviel? Sechs? Gut, ich danke; und jetzt, wenn Sie einverstanden sind, ziehen wir weiter.» Da fiel dem Männlein vor Verblüffung der Unterkiefer herunter, daß er auf dem ganzen Wege kein Wort mehr hervorbrachte.

Kaum im Gasthof angekommen, verlangte Viktor das Adreßbuch. Wie heißt sie doch gleich, gegenwärtig, die Treulose, mit ihrem angeheirateten Namen? Wyß, glaube ich, Frau Direktor Wyß. Aber wovon Direktor? Es gibt Eisenbahn-, Bank-, Gas-, Zement-, Gummi-, alle möglichen und unmöglichen Direktoren. Nun, wir werden's ja gleich lesen. Richtig, da steht sie; natürlich vorsichtig hinter ihrem Manne versteckt: Dr. Treugott Wyß, Professor, Direktor des städtischen Museums und der Kunstschule, Vorstand der kantonalen Bibliothek, Mitglied der Waisenhauskommission, Münstergasse 6.

Hu, wieviel Weisheit! was für ein Haufe voll Würden! Eigentümlich, ein Bankdirektor wäre mir fast lieber gewesen. Zwar also jedenfalls ein hochgebildeter Herr. Trotzdem – ich weiß nicht warum, es ist nicht meine Schuld –, ich kann mir diesen braven Ehefriedrich nicht anders als klein, unansehnlich und ein bißchen unbeholfen vorstellen, ich will nicht gerade sagen komisch.

Also morgen vormittag Münstergasse sechs. Gelt, schöne Dame, das sagt dir dein kleiner Finger auch nicht, daß morgen dein Richter naht.

Und am folgenden Morgen zur Besuchsstunde machte er sich nach der Münstergasse auf den Weg.

Wie sie wohl meinen Anblick bestehen wird? Zweierlei ist möglich. Entweder sie erbleicht und wankt aus dem Zimmer, oder sie errötet, faßt sich, trotzt mir und sieht mir dreist ins Gesicht. In diesem Falle werde ich meinen Blick mit Erinnerung laden und sie zwingen, die Augen vor mir niederzuschlagen. Hernach wende ich mich zu ihm, dem Friedrich: «Hochgeehrter Herr, die rätselhafte Pantomime, die wir soeben vor Ihren erstaunten Augen aufgeführt haben, Ihre Frau und ich, verlangt eine Erklärung. Selbstverständlich bin ich bereit, sie Ihnen zu geben, halte es aber für ritterlicher, das Wort Ihrer Frau zu überlassen. Denn ob ich schon ihr Gläubiger bin, ihren Ankläger will ich nicht spielen. Von ihr also mögen Sie sich erzählen lassen, warum und wieso ich der rechtmäßige Eigentümer Ihrer Gattin bin und Sie, mein Herr, bloß mein Stellvertreter und getreuer Statthalter, dank meiner Erlaubnis. Entschlagen Sie sich indessen aller Besorgnisse; nachdem ich Sie stillschweigend als meinen Ehestatthalter anerkannt, bin ich mir bewußt, die Anstandspflicht übernommen zu haben, Ihre Ehe, Ihren Frieden, Ihr Glück in keiner Weise zu stören. Ihr Herd ist mir heilig, und meine klare Aufgabe lautet, mich zu verneigen und zu verschwinden; Sie werden an mir, Herr Direktor, die Tugend der Unsichtbarkeit schätzen lernen. Wie ich denn auch zum ersten und zum letzten Male Ihre Schwelle übertreten habe; und wenn ich heute erschienen bin, so geschah das bloß, um einmal in meinem Leben, ein einziges Mal und nie wieder, Ihrer geehrten Frau Gemahlin ergebenst meinen Mangel an Hochachtung auszudrücken. Dort liegt sie, das fleischgewordene Schuldgeständnis. Das genügt mir. Falls es Ihnen nicht genügen sollte, so wohne ich da und da und stehe jederzeit vom Morgen bis zum Abend zu Ihrer Verfügung.» So ungefähr werde ich zu ihm sprechen. – Hausnummer vierzehn; da bin ich in Gedanken vorübergegangen. Rückwärts denn: Nummer zwölf, zehn; jetzt kommt es näher; acht – also das nächste Haus. Nicht übel, das Häuschen; wie reinlich, wie wohnlich mit den weißen Spitzenvorhängen und dem weit ausladenden Erker; wer würde ihm von außen die Falschheit ansehen, die es birgt? Einen Kanarienvogel hört man auch; und Kinderlachen. Ein Kind? Wie kommt ein Kind da hinein? sollte ich mich in der Hausnummer getäuscht haben? Nein, es ist richtig Nummer sechs. Nun, es können ja mehrere Familien in einem Hause wohnen.

Als er an der Tür den Namen Wyß las, begannen urplötzlich seine Pulse ein Wettrennen im Galopp. «Ruhig dort innen!» herrschte er, «Beklemmung geziemt ihr, nicht mir, dem Richter!» Zog die Klingel und eilte die Treppe hinauf, die Stufen überspringend.

Es tue ihr leid, flötete das Dienstmädchen mit süßlicher Miene, Herr und Frau Direktor wären ausgegangen.

Darob knirschte sein Unwille. Auf jeden Empfang war er gefaßt gewesen, nur nicht auf keinen. Überhaupt liebte er nicht, wenn jemand, den er besuchen wollte, nicht zu Hause war. «Ausgegangen!» Die geht also am hellen, lichten Tage mit jenem aus?! Freilich, das Recht dazu hatte sie, allein es gibt nicht bloß ein Recht, es gibt auch eine Scham. «Hier meine Karte, und ich würde um drei Uhr nachmittag wieder vorsprechen.»

«Frau Direktor werden schwerlich heute nachmittag zu Hause sein», wagte das Dienstmädchen.

«Sie wird zu Hause sein!» befahl er, kehrte sich und ging. Was für eine boshafte Person, dieses Dienstmädchen! Wie giftig sie das Wort «Frau Direktor» betont hatte, beinahe höhnisch. Auf der Treppe begegnete ihm der Briefträger. «Eine Postkarte für Frau Direktor», meldete er nach oben. Der auch! feiges Volk! Tatsachenknechte! Hätte ich sie geheiratet, so würden sie sie heute wahrscheinlich mit meinem Namen nennen.

Auf der Straße zog er die Uhr: «Halb zwölf; reicht zur Not gerade noch zu Frau Steinbach vor dem Mittagessen. Ein wenig weit zwar von der Münstergasse ins Rosental, allein wenn man ein bißchen auszieht...» – und das trauliche Gärtchen mit den Astern im Herbstsonnenschein leuchtete ihm ins Gedächtnis. Rüstig machte er sich auf den Weg, glücklächelnd ob der Vorstellung, die Freundin wiederzusehen. Und je länger, desto rascher trieb ihn das Verlangen. Vor dem Gartentürchen jedoch stutzte er: «Natürlich wahrscheinlich ebenfalls nicht zu Hause, denn wenn das einmal anfängt, so geht es wie eine Seuche.» Doch nein, Wunder! ein Freudenruf erscholl oben aus dem Fenster, und freundschaftstrahlend eilte sie ihm entgegen, die Treppe herab. Wenig fehlte, so wären sie sich um den Hals gefallen. An beiden Händen zog sie ihn mit sich: «Sind Sie's auch wirklich? – Und nun setzen Sie sich und erzählen Sie mir! Vor allem, lieber Freund, wie geht es Ihnen?»

«Wie soll ich das wissen?»

Laut auf lachte sie vor Vergnügen: «Daran erkenne ich Sie wieder! Also: reden Sie, sprechen Sie, einerlei was! Nur daß man Ihre Stimme hört! Damit man auch ganz sicher weiß, Sie sind es leibhaftig, und es ist nicht etwa bloß ein schönes Märchen. Denn bei Ihnen, mein Herr, geht ja Phantasie und Wirklichkeit derart durcheinander, daß man sich nicht wundern würde, wenn Sie einem plötzlich wieder unter den Augen verschwänden.»

«Ein bißchen aus dem Geleise, der Gedankenzug», scherzte er, «nicht ganz tadellos gekuppelt. Befehlen Sie übrigens, daß ich mich rundherum drehe, um Sie von meiner Leibhaftigkeit zu überzeugen?»

«Nein, geben Sie mir lieber noch einmal die Hand. – So! Nun halte ich Sie aber fest. – Nein, diese Überraschung! Wann sind Sie denn eigentlich angekommen?»

«Gestern abend. – Aber wissen Sie auch, daß Sie je länger, je jünger und hübscher werden? Und – natürlich, das fehlt nicht, immer mit dem erlesensten Geschmack gekleidet!»

«O lala! Schweigen Sie! Eine alte dreiunddreißigjährige Witwe! Und Sie – etwas kräftiger und männlicher, scheint mir, als vor vier Jahren; wie soll ich sagen – sicherer, mutiger!»

«Übermütig sogar, unternehmend, angriffslustig!»

«Möge es so bleiben. Dann darf man also bald etwas Großes, Schönes von Ihnen erwarten? Sie wissen, wie ich darauf zähle.»

«Ach Gott, was das betrifft», seufzte er und sann sorgenvoll vor sich hin.

«Und wenn Sie noch so ein kummervolles Gesicht machen», lachte sie, «so habe ich doch kein Mitleid mit Ihnen, nicht das mindeste. Vollendungswehen, Siegessorgen!»

Da summte vom Münster drüben die Mittagsglocke ihren tiefen Sang. «Wissen Sie was», schmeichelte sie, während er sich erhob, «kommen Sie diesen Nachmittag zu einer Tasse Tee, ganz allein unter uns.»

Schon wollte er freudig zusagen, da erinnerte er sich: «Leider schon anderswo verpflichtet», bedauerte er verstimmt.

«Ei, sieh doch! Gestern abend erst angekommen und heute schon vergeben? Indessen, ich will mich nicht in Ihre Geheimnisse drängen.»

Ungern gestand er, doch gerade deshalb tat er's, denn er gestattete sich keine Feigheitchen. «Es ist kein Geheimnis», sagte er, «für niemand, geschweige denn für Sie. Ich habe mich nämlich auf drei Uhr nachmittag bei Direktor Wyß angemeldet.»

Befremdet schaute sie ihn an: «Was in aller Welt haben Sie in dem demokratischen Tugendtempel verloren? Kennen Sie denn den Herrn Direktor?»

«Ihn nicht, hingegen sie.»

Jetzt verwandelte sich ihr Gesicht und nahm einen kalten Ausdruck an. «Ich weiß, ich weiß», sagte sie, sich abwendend, «Sie haben sie vor vier Jahren einmal flüchtig an einem Kurorte getroffen. Ein oder zwei Tage, glaub' ich.»

«Flüchtig!» rief er empört, «flüchtig? Das sagen Sie, die Sie es doch besser wissen? ‹Ein oder zwei Tage?›, was heißt das: ‹Tage?› Mißt man den Wert des Lebens mit dem Kalender? Ich denke, es gibt Stunden, die schwerer wiegen als dreißig Jahre der Gewöhnlichkeit; Stunden, die ewig leben, so gewiß wie irgendein Kunstwerk, gewisser sogar; denn der Künstler, der sie schuf, ist der heilige Weltgeist der Schönheit!»

«Was sie leider nicht davor schützt, zu vergehen und vergessen zu werden.»

«Ich kenne kein Vergessen, ich dulde keine Vergangenheit.»

«Sie mit Ihrer Phantasie nicht; dafür andere Leute; namentlich wenn die Gegenwart alle ihre Wünsche befriedigt. Glauben Sie wirklich, daß Frau Direktor Wyß Ihren Besuch erwartet oder ihn sonderlich vermissen würde, wenn er ausbliebe?»

«Das glaube ich allerdings nicht, bezwecke auch mit meinem Besuche keineswegs ihr Vergnügen.»

Frau Steinbach schwieg eine Weile, dann redete sie wie für sich selber, doch laut und nachdrücklich: «Die schöne Theuda Neukomm ist jetzt ein abgeschnitten Stück Brot; zufrieden in glücklicher Ehe. Ein gebildeter, angesehener und hochachtungswerter Mann, den sie liebt und der ihre Liebe auch wert ist; ein reizendes Kind (ein wahrer Engel von einem Buben, sage ich Ihnen; ein kecker, schwarzlockiger Trotzkopf wie seine Mutter; fängt sogar schon zu sprechen an. – Ja, machen Sie nur ein Gesicht, als ob Sie mit der Achsel zuckten. Ihnen mag das Nebensache sein, der Mutter aber nicht!) – dazu ein reicher Sippschaftssegen von Freunden und Verwandten, in denen ihre Wonne schwimmt; allen voran ihr Bruder Kurt, der Wundermensch, das große Genie, ihr Abgott.» Hier unterbrach sie sich und lächelte ein wenig vor sich hin. «Übrigens, da fällt mir eben ein, sie ist ja diesen Nachmittag gar nicht einmal zu Hause; sie fährt mit dem Gesangverein über Land.»

«Verzeihen Sie, sie wird zu Hause sein!»

«Ah, wenn Sie das so bestimmt wissen, so füge ich mich natürlich.» Dann plötzlich, ihn ernst anschauend: «Lieber Freund, sagen Sie mir aufrichtig, was wollen Sie von Frau Direktor Wyß?»

«Nichts!» schnitt er unwillig ab.

«Um so besser, sonst würden Sie einer empfindlichen Enttäuschung entgegengehen. – Also dann ein andermal. Wann immer Sie mögen. Bei mir, das wissen Sie ja, sind Sie jeden Tag, zu jeder Stunde willkommen.» – Und während sie ihn hinausgeleitete, sagte sie noch einmal nachdrücklich: «Die schöne Theuda ist jetzt ein abgeschnitten Stück Brot.»

Wie auffällig sie den Spruch vom abgeschnittenen Stück Brot wiederholt hatte! Sie wird doch nicht etwa glauben...? O nein, meine Teuerste, der Bräutigam der hehren Imago ist gegen eine Frau Direktor Wyß gefeit. – Also das ist jetzt ihr neuester Sport: Buben in die Welt zu setzen? Bitte, gnädige Frau, lassen Sie sich ja nicht etwa stören. Zwillinge, Drillinge, meinetwegen Zwölflinge, tun Sie ganz, als wenn ich nicht da wäre. – Doch halt, daß ich antwortete, ich wollte nichts von ihr, war nicht genau; das müssen wir berichtigen. Und ließ ungesäumt durch den Aufzugsknirps Frau Steinbach einen Zettel zustellen. «Liebe Freundin, eine Berichtigung: Nicht ‹nichts› will ich von ihr, sondern daß sie die Augen vor mir niederschlage, das will ich von ihr. Ihr getreuer Viktor.»

Im Speisesaal langweilten sich die Gäste längs den Wänden auf und ab; bald zum Fenster hinausstierend, bald zerstreuten Geistes die Bildertafeln betrachtend, bis das Mittagessen endlich käme.

Vor dem schwarz umränderten Kopfbilde eines Staatsmannes (der Name war natürlich unleserlich) blieb Viktor stehen. Ein kräftiges Gesicht; mit derben, markigen Zügen, wie nach dem Muster eines Holzschnittes geboren. Uneigennützigkeit und Zielbewußtsein im Ausdruck, feurige Überzeugungshaltung, blicklose Vereinsaugen, nicht gewohnt, Mann gegen Mann zu trotzen, sondern gegenstandslos über eine Menge zu gleiten. Des Mannes Kernspruch vermochte er zu buchstabieren: «Alles durch die Volksschule!» Ja, danach sah der gerade geschrobene Herr aus. Die Welt als eine Erziehungsanstalt aufgefaßt; Zweck des Lebens lernen, hernach lehren; keine Wahrheit, sie schmecke denn nach Weisheit, und keine Weisheit, oder sie röche nach Ermahnung. Das Unheil, das der angestiftet hätte, mit seinem wandtafeligen Überzeugungs-Viereck, wenn ihn das Schicksal statt in die unschädliche Abstimmungsschachtel an das Steuer der Weltgeschichte gestellt hätte!

Während er so mit dem Staatsmanne klugäugelte, hatte sich ihm unvermerkt ein Nebenmensch beigesellt, der über seine Schulter weg ebenfalls das Bild betrachtete. «Nicht wahr, ein prächtiger Charakterkopf?» urteilte der Unbekannte bewundernd. Andere Gäste sammelten sich herbei, wie die Fliegen um ein Zuckerstück, und aus der Gruppe kam zum zweiten Mal das ehrfürchtige Urteil: «Ein prächtiger Charakterkopf.» Er mußte wohl ein gewichtiger und volksbeliebter Herr gewesen sein, der Charakterkopf; denn das Gespräch blieb bei ihm hangen, nachdem man sich schon längst zu Tisch gesetzt hatte. Beiläufig verlautete auch sein Name – Neukomm. Halt, hast du gehört? Neukomm? So hatte ja auch sie geheißen. Vielleicht gar ein entfernter Verwandter von ihr?

«Hat er eigentlich Kinder hinterlassen?» munkelte eine Frage. «Zwei», meldete die Antwort; «einen Sohn und eine Tochter. Mit dem Sohne ist nicht viel, er dichtet; die Tochter dagegen ist an den bekannten Herrn Direktor Wyß verheiratet. Ein Prachtweib, sag' ich Euch; alles dreht sich auf der Straße nach ihr um. Groß, stolz, schwarz wie eine Südländerin (ihre Großmutter war eine Italienerin) und hitzig, potzteufel! Übrigens durch und durch brav und sittsam; kein Mensch kann ihr das mindeste nachsagen. Und eine überzeugungseifrige Patriotin wie ihr Vater selig.» – Der Charakterkopf ihr Vater! So wach doch auf, o meine Vernunft, und reg dich, denn daraus folgt ja eine ganze Menge wichtiger Betrachtungen. Nachlässig bewegte sich seine Vernunft, hob ein wenig den Kopf, dann legte sie sich gleichgültig wieder zur Ruhe, wie ein auf der Straße lagernder Hofhund, wenn der Milchmann vorübergeht. «Die Tatsache ist mir zu dumm», erklärte sie.

Nach dem Essen erkundigte sich Viktor beim Oberkellner: «Wohin jetzt, um Zeitungen zu lesen?»

«Da gehen Sie am besten ins ‹Café Scherz› beim Bahnhof; jedes Kind kann Sie weisen.»

Im vollen Saale fand er noch ein Tischlein am Fenster mit zwei unbesetzten Plätzen. Leute gingen, Leute kamen, sahen sich um; doch niemand nahm ihm gegenüber Platz. «Hier wie überall! Entschieden, Viktor, du hast nichts Einladendes, du bist nicht ‹gemütlich›. – Ein fröhlicher Gedanke: Wenn jetzt mitten unter all dem Volk mein getreuer Statthalter säße? warum auch nicht? Er wird sich doch wahrscheinlich auch seine Zeitungen gönnen. Etwa so einer wie der dort hinten, mit den flachsblonden Strähnen und der doppelten Brille im Schafsgesicht? Ein Adonis ist er gerade nicht, das könnte man mit dem besten Willen nicht behaupten; und mehr Geist, als zu einem Herrn Professor unbedingt nötig ist, scheint er auch nicht zu haben. Statthalter, Statthalter, wenn ich dir raten darf, verlaß dich nicht allzusehr auf deine Gelehrtheit, sonst tauft dich eines trüben Morgens deine schöne Juno, auf die du dir so viel einbildest, ‹Doktor Überdruß›. Eigentlich nach den Gesetzen der Schicklichkeit müßte man zu ihm hinüber und ihn ein wenig hänseln. Wenn ich nur ganz sicher wäre, daß er's ist! Nun, wir werden's ja bald erwähren. Zehn Minuten nach zwei Uhr; noch drei Viertelstunden. Wie die Zeit schleicht! – Ha! was für ein stattlicher Mann kommt jetzt hereinspaziert! Brr! Ein Held für Mädchenträume. Etwas zum ‹sich ablehnen›, zum ‹sich emporranken›, ‹eine Stütze fürs Leben›! Könnte ich singen, ich sänge: ‹Er, der Herrlichste von allen!› Und Jupiterlocken hat er auch! An wen erinnert mich doch dieser minnesame Herkules? – Richtig, an den Herzkönig im Kartenspiel. – Wehe, ihr Jungfrauen, weinet! Schauet den Ehering! Sogar bereits Papa, denn so weltzufrieden schreitet bloß, wer Vatergefühle kennt. – Wie sorgsam er seinen Überrock faltet! und die feine, tadellose Wäsche, die jetzt zum Vorschein kommt! Was noch gar! Ich glaube wahrhaftig, er steuert zu mir. Willkommen, Herrlichster von allen!»

Mit einer höflichen Verbeugung ließ sich der Herzkönig nieder; darauf zog er eine Zigarrentasche hervor: «Darf ich mir vielleicht erlauben?» Dankend erwiderte Viktor: «Ich rauche nicht.» Aber hast du die kunstvoll gestickte Zigarrentasche gesehen? Jedenfalls von seiner Frau.

Jetzt griff der Herzkönig – «Ist es gestattet?» – eine illustrierte Zeitung auf und schaute wohlwollend, fast gnädig hinein, mit halber Aufmerksamkeit; dazu trommelte er mit den Fingern auf den Tisch. Was für gepflegte Fingernägel!

Dem Herzkönig schien jedoch nicht sonderlich ums Lesen zu tun; eher ums Plaudern; offenbar hatte ihm das Mittagessen geschmeckt. «Sie als Fremder», begann er mit zögernder Einleitungsstimme die Unterhaltung, als sich die Kehllaute in ihrer Nähe kräftiger vernehmen ließen, «werden wohl auf unseren etwas rauhen Dialekt nicht besonders günstig zu sprechen sein?»

«Nicht Fremder», berichtigte Viktor, kurz ablehnend, «hier geboren und aufgewachsen; bloß viele Jahre in der Fremde gewohnt.»

«Ah, um so besser; dann habe ich also das Vergnügen, einen Landsmann in Ihnen zu begrüßen.»

Hiernach hüllte er sich wieder hinter die Zeitschrift. Doch nur wenige Augenblicke. «Glauben Sie» – hub er nach einigem Zaudern von neuem an, auf ein Werther-Bildnis in der Zeitschrift zeigend – «glauben Sie, daß solch eine leidenschaftliche, schwärmerische Liebe heutzutage noch vorkommen könnte?»

«Natur kommt immer vor», entgegnete Viktor.

Der Herzkönig schmunzelte. «Nicht übel. Es kommt eben alles darauf an, wie eng oder wie weit man den Begriff Natur faßt. Also Sie glauben allen Ernstes, in unserem realistischen Zeitalter...»

«Es gibt keine realistischen Zeitalter.»

«Wenn Sie so wollen, allerdings nicht. Immerhin, es gibt doch, das werden Sie zugeben, verschieden gestimmte Zeitalter; zum Beispiel solche, in welchen gewisse Seelenzustände, die früher beobachtet wurden, einfach undenkbar wären. Oder könnten Sie sich zum Beispiel einen Johannes der Täufer, einen Franz von Assisi oder, um bei unserem Beispiel zu bleiben, einen Werther mit einem hohen, steifen Hemdenkragen vorstellen? – Verzeihen Sie, ich sagte das ohne die mindeste Anzüglichkeit. Nein, wirklich, ich bitte, glauben Sie mir, es war durchaus harmlos gemeint.»

Viktor begütigte lächelnd: «Ich mache keinen Anspruch auf den Titel eines Täufers oder eines Heiligen – ob jedoch der Heilige Geist vom Heuschreckenessen komme oder die Ekstase vom Hemdenkragen abhange, möchte ich bezweifeln. Übrigens pflegte sich der Schöpfer des ‹Werther›, wenn ich nicht falsch berichtet bin, zierlich, sogar geziert zu kleiden.»

Und da nun eine längere Pause entstand, fuhr dem Viktor von der Seite ein Gedanke in den Kopf, den er je länger, je weniger los wurde. «Kennen Sie vielleicht», wagte er endlich unvermittelt, mit banger Stimme, «kennen Sie vielleicht zufällig hier in der Stadt einen gewissen sogenannten Herrn Direktor Wyß?» – Kaum hatte er den Satz draußen, so spürte er, daß er heiß errötete.

Der Herzkönig schaute überrascht auf. «Gewiß; warum?»

«Was ist er für eine Spielart von Mensch? ich meine: wie sieht er aus? groß oder klein? jung oder alt? garstig oder angenehm? jedenfalls ein hochgebildeter Herr, nicht wahr? nach seinen Titeln und Ämtern zu schließen?»

Der Herzkönig zog ein überaus schlaues Gesicht und lächelte belustigt vor sich hin. «Nun, er hat wie jedermann seine zahlreichen Fehler; daneben vielleicht auch, wie ich mir wenigstens schmeichle, einige erträgliche Eigenschaften. – Doch erlauben Sie mir, daß ich mich Ihnen vorstelle: Direktor Wyß ist mein Name.»

Das kam so anmutig, mit so liebenswürdiger Ironie heraus, daß Viktor, der nichts höher schätzte als Gefühlsfeinheit, jählings von Sympathie erfaßt aufsprang und ihm die Hand anbot, welche der andere eifrig ergriff und schüttelte. Es entstand wie ein Freundschaftsbund zwischen den beiden.

Nachdem dann Viktor auch seinen Namen genannt hatte, rief der Direktor hocherfreut: «Da sind Sie also offenbar der Herr, der uns heute morgen die Ehre seines Besuches zugedacht hatte. Wir bedauern aufrichtig; besonders meine Frau, mit der Sie, glaub' ich, wenn ich nicht irre, einmal in einem Meerbade zusammengetroffen sind.»

«Nicht in einem Meerbade», verbesserte Viktor verstimmt, «sondern in einem Bergkurort.»

«Leider muß sie auch diesen Nachmittag auf das Vergnügen verzichten, da sie einen Ausflug mit den Damen des Gesangvereins verabredet hatte; ich komme soeben von der Eisenbahn. Hoffentlich lassen Sie sich indessen dadurch nicht abschrecken, und wenn Sie mir's nicht als eine Zudringlichkeit auslegen wollen, so möchte ich Ihnen vorschlagen, in die Idealia zu kommen; es braucht keinerlei Förmlichkeit; Sie erscheinen ganz einfach als von mir. Zudem ist ja meine Frau Ehrenpräsidentin.»

«Idealia?»

«Ach so, ich vergaß, ich bin zerstreut – Sie können ja natürlich nicht wissen...» Hiernach begann er, weit ausholend, von der Idealia zu erzählen: eine Stiftung seines seligen Schwiegervaters – anspruchslose Zusammenkünfte ohne Zwang und Feierlichkeit – weder Kleiderprunk noch Schmauserei – nur zur Pflege einer etwas gehaltvolleren Geselligkeit, wo die Erhebung Hand in Hand mit der Erholung gehe (eines schließt ja das andere nicht aus), hauptsächlich die Musik empfehle sich zu solchem Zwecke – und dergleichen mehr, mit Aufzählung von Namen der Mitglieder und Daten der Zusammenkünfte und wie die Runde laufe; gewöhnlich Mittwoch, Freitag und Sonntag.

Aufmerksam hielt Viktor der Rede sein Ohr hin, mit dem Geiste dagegen schlich er am Gehör vorbei in die Augen: Das der Statthalter! der Herzkönig! der Herrlichste von allen! Und er, der den Adonis für den Statthalter genommen hatte! Warum hatte er eigentlich vorausgesetzt, der Statthalter müsse ein komischer, mindestens unbeholfener Mensch sein? Oh, durchaus nicht komisch, der Herzkönig! durchaus nicht! – Und starrte ihn unverwandt verblüfft, fast erschrocken an. – Nun, so sei doch froh, Viktor! dient es doch auch deinem Stolze, wenn dein Statthalter eine gute Figur macht. Auch das finde ich völlig in der Ordnung, daß sie ihn offenbar liebt; oder habe ich denn jemals etwas anderes gewünscht? Bewahre; im Gegenteil; es müßte mich bekümmern, wenn es nicht so wäre. – Hingegen wieder sie! Diese Herausforderung! Mit einem Gesangverein über Land zu trudeln, nachdem ich meinen Besuch angekündigt! Ohne Frage, der Dame fehlt das Schamgefühl.

«Sie sind doch wahrscheinlich auch musikalisch?» tönte des Statthalters Stimme in seine Gedanken; «oder lieben wenigstens die Musik?»

«Ich glaube, ja; das heißt, ich weiß nicht recht, es kommt darauf an.»

Da schlug drüben vom Kirchturm die Stunde. «Drei Uhr!» entsetzte sich der Statthalter, erschrocken aufspringend, «ich habe mich verplaudert, ich muß schleunigst ins Museum. – Also, nicht wahr, ich zähle darauf, Sie in der Idealia begrüßen zu dürfen?» Reichte ihm hastig die Hand und sputete davon.

Viktor aber zog verstört durch die Gassen. Er mochte sich noch so oft vorsagen: «Viktor, sei froh», es half nichts, er war gedrückt, niedergeschlagen, entmutigt.

Was war ihm denn Schlimmes widerfahren? Nicht das mindeste; und trotzdem war er eben niedergeschlagen. Bis er sich draußen vor der Stadt müde gelaufen hatte. Darauf, zu Hause, wie er die Glieder aufs Ruhbett streckte, wurde ihm wieder leichter. «Zur Gesundheit», wünschte ihm sein Körper.

«Danke, Konrad», erwiderte er freundlich. Er pflegte nämlich, weil er mit ihm so gut auskam, seinen Körper kameradschaftlich Konrad zu nennen.

Nachdem er sich sattsam gedehnt hatte, bemerkte er auf dem Tisch ein Brieflein, welches, nach den Naturgesetzen zu schließen, vermutlich schon geraume Weile dort gelegen hatte. Von Frau Steinbach.

«Sie böser Mensch! Frau Direktor Wyß braucht vor niemand die Augen niederzuschlagen. Augenblicklich kommen Sie zu mir, damit ich Sie schelte.»

Gefaßt, in trotziger Stimmung, gehorchte er der Aufforderung.

«Ich wußte gar nicht, daß Sie solch ein unangenehmer Mensch sein können!» überfiel sie ihn. «Da! setzen Sie sich auf die Anklagebank, und lassen Sie sich verhören. Was haben Sie Frau Direktor Wyß vorzuwerfen?»

«Den Ehebruch.»

«Was heißt das, in vernünftige Sprache übersetzt?»

«Das heißt in vernünftiger Sprache – eine Übersetzung braucht es nicht –, daß sie die Ehe gebrochen hat.»

«Jetzt aber, mein Herr, muß ich ernst und scharf mit Ihnen reden; denn es geht um die Ehre einer unbescholtenen Frau. Ich rufe Ihre Wahrhaftigkeit an, der ich fest vertraue, und frage Sie auf Ihr Gewissen: Hat zwischen Ihnen und Theuda Neukomm ein Verlöbnis bestanden?»

Heftig wehrte er ab: «Wohin denken Sie!»

«Oder dann wenigstens etwas, was einem Verlöbnis gleichkam, was Sie zu der Annahme berechtigte – ein Liebesgeständnis? ein bindendes Wort oder Zeichen? ein Kuß? was weiß ich?»

Wiederum verwahrte er sich eifrig: «Nein, nein, nein! Sie sind auf ganz falscher Fährte; es wurden nur wenige und völlig bedeutungslose Worte gewechselt. Ich saß bei Tische neben ihr, wir taten zusammen ein paar Gänge durch den Garten, dann hat sie mir im Saal ein Lied vorgesungen. Weiter nichts.»

«Dann also Briefe?»

«Warum nicht gar! Dazu war ich viel zu ehrfürchtig, auch zu gewissenhaft; sie wiederum zu vorsichtig. Frauen vergessen sich ja nicht schriftlich, das wissen Sie wohl.»

«Ja, was denn? Bitte helfen Sie meinem armen Verstande.»

Da verwandelte sich plötzlich sein Gesicht zu fremdem, tiefernstem Ausdruck, als ob er ein Gespenst erblickte. «Eine persönliche Zusammenkunft in der fernen Stadt», bebte seine Stimme.

«Verzeihen Sie, daß ich Ihnen rund widerspreche: Ich weiß das Gegenteil von Frau Direktor, und Frau Direktor Wyß lügt nicht.»

«Ich ebenfalls nicht! Wenn ich daher sage: ‹eine persönliche Zusammenkunft›, so meine ich natürlich keine körperliche.»

Unwillkürlich rückte sie mit dem Stuhle und starrte ihn an. «Keine körperliche? Sie werden doch hoffentlich nicht etwa – oder wie soll ich das verstehn?»

«Sie verstehen richtig, es handelt sich um eine Zusammenkunft von Seele zu Seele. – Beruhigen Sie sich; ich bin bei gesundem Verstande und gewahre die äußeren Dinge so scharf wie irgendein anderer. Warum machen Sie so ein ungläubiges Gesicht? Meinen Sie vielleicht, man sähe aus einem möblierten Hause minder deutlich als aus einem leeren? Wenn ich daher von einer Erscheinung rede...»

«Sie glauben an Erscheinungen?» klagte sie.

«Wie jedermann, wie zum Beispiel auch Sie. Oder ein Traum, eine Erinnerung, der Nachglanz eines geliebten Antlitzes, das Aufleuchten einer Vision in der Seele eines Künstlers, sind das etwa keine Erscheinungen?»

«Bitte, keine sophistischen Kunststücklein! sprechen wir ernsthaft. Denn bei einer Erinnerung, bei einer künstlerischen Offenbarung bleibt man sich eben bewußt, daß es sich um ein bloßes Phantasiebild handelt.»

«Dessen bleibe ich mir auch bewußt.»

«Gottlob, Sie heilen mich; ich atme auf Sie hatten sich nämlich vorhin so ausgedrückt, daß ich einen Augenblick meinte, Sie wollten ihrer sogenannten Erscheinung bestimmenden Einfluß auf Ihr wirkliches Leben, auf Ihre Handlungen einräumen.»

«Das tue ich auch in der Tat.»

«Nein, das tun Sie nicht!» rief sie verbieterisch, «das können Sie nicht tun!»

Er verbeugte sich: «Verzeihen Sie mir, daß ich mir erlaube, es doch zu tun.»

«Aber das ist ja Wahnsinn!» schrie sie auf.

Er lächelte: «Was soll Wahnsinn sein, bitte was? Daß ich innere Erlebnisse so hoch werte wie äußere? oder vielmehr unendlich höher? Oder daß ich mich von ihnen bestimmen lasse? – Und das Gewissen? und Gott? Ist es etwa auch Wahnsinn, wenn einer sich von seinem Gewissen oder von seinem Gott in seinen Handlungen beeinflussen läßt?»

Sie stutzte einen Augenblick, betroffen, um Antwort verlegen. Er aber fuhr fort: «Der einzige Unterschied ist der, daß die andern sich mit undeutlichen Erscheinungen begnügen, während ich sie klar sehen muß, wie der Maler Mariens Himmelfahrt. ‹Finger Gottes›, ‹Auge Gottes›, ‹Stimme der Natur›, ‹Wink des Schicksals› – was tue ich mit diesem anatomischen Museum? Ich will immer das ganze Gesicht sehen.»

Mutlos seufzte sie: «Im spitzfindigen Denken sind Sie ja natürlich meinem schwachen Weibesgehirn hundertmal überlegen; auf dieses Gebiet will ich mich indessen gar nicht begeben. Ich kann nur noch bedauern und trauern.»

Da legte er die Hand auf ihre Schulter: «Edle Freundin, nicht wahr, Sie haben niemals begriffen, weshalb ich Ihren wohlgemeinten Wink, mir Theuda durch ein bindendes Verlöbnis zu sichern, unbeachtet ließ? Gestehen Sie, Sie waren und sind der Ansicht, ich hätte mein Lebensglück albernerweise aus gemeiner Ehefeigheit verscherzt. Sehen Sie, Sie nicken.»

«Sagen wir Unentschlossenheit», milderte sie.

«Nein, sagen wir Feigheit; denn Unentschlossenheit ist auch eine Feigheit: Willensfeigheit. Ich aber ertrage es nicht länger, vor Ihrem Urteil in unrichtigem Lichte dazustehen. Ich will Ihnen deshalb meine Gründe mitteilen. Sind Sie bereit zu hören?»

«Ich bin zu allem bereit», flüsterte sie und senkte den Kopf, «obschon ich Ihnen nicht verhehle, daß mir dieses Thema peinlich ist, und daß ich nicht einsehe, was das Aufrühren veralteter Geschichten nützen soll. Indessen, wenn Sie wollen...»

«Nicht, wenn ich will», verbesserte er, «sondern, wenn ich muß!» Und mit veränderter Stimme, in gehobenem Tone fing er an: «Nein, nicht aus feiger Unentschlossenheit, nicht aus alberner Torheit habe ich nicht zugegriffen, als leisen Schrittes das heilige Glück mir nahte, mich mit seinen klaren Augen anschauend und mir zuflüsternd: ‹Nimm mich!›, sondern wissend, was ich tat, wertend, was ich von mir wies, nach schwerer, reifer Wahl habe ich mit männlichem Entschluß entschieden. Und nun will ich Ihnen meine Entscheidungsstunde erzählen.»

Nach diesen Worten machte er eine Pause, wie um Atem zu schöpfen. Als jedoch die Pause nicht enden wollte, schaute sie auf. Da stand er bebend vor ihr, von inneren Stürmen geschüttelt, die Lippen gewaltsam schließend. «Ich kann es Ihnen doch nicht erzählen», brachte er mühsam hervor, «es geht zu tief» – und stemmte sich aufs Klavier.

Geschwind sprang sie auf, um ihn nötigenfalls zu stützen.

Doch er hatte sich bereits wieder aufgerichtet.

«Ich habe recht entschieden!» rief er, «ich weiß, ich habe recht entschieden! Und stände ich nochmals vor der Wahl, ich würde nicht anders entscheiden!» Dann nahm er seinen Hut, verbeugte sich und küßte ihr die Hand. «Ich werde es Ihnen aufschreiben», sagte er. Tief ergriffen begleitete sie ihn bis zur Haustür. «Gut», sagte sie, nur um etwas zu reden, und zwang ihre Stimme zu unbefangenem Ton: «Gut, schreiben Sie mir's auf. Sie wissen, daß alles, was Sie bewegt, auch mir nahegeht; und glauben Sie mir, ob ich Sie schon nicht jederzeit verstand und auch jetzt nicht verstehe, so habe ich doch niemals, auch nur einen Augenblick, an der Lauterkeit und Vornehmheit Ihrer Beweggründe gezweifelt.»

«Dank! treue edle Freundin!» rief er leidenschaftlich, sie mit beiden Händen stürmisch ergreifend. «Sie heilen mich; es tut so weh, so unerträglich weh, wenn jemand an der Vornehmheit meines Charakters zweifelt.»

«Wer hat das jemals getan?» rief sie heftig, fast zornig.

Er erstaunte. «Jedermann», antwortete er zaudernd, «das heißt – eigentlich niemand Bestimmtes.»

Unterdessen hatte sie sich ihm entwunden und flüchtlings einige Stufen nach oben zurückgezogen. «Und eins noch: nicht wahr, Sie sind nicht ungerecht? Sie tun ihr nichts zuleide?»

Er lächelte: «Ich tue keinem Menschen etwas zuleide als höchstens mir selber.» Damit verließ er das Haus.

«Sind Sie ein gefährlicher, ein unerlaubter Mensch!» seufzte sie ihm nach und warf sich erschöpft in den Lehnstuhl, um sich von der Anstrengung zu erholen.

Er aber eilte auf sein Zimmer, das Bekenntnis niederzuschreiben, das er ihr mündlich schuldig geblieben. Und siehe da, während ihn sonst das Schreiben wie Krötengift anwiderte, verspürte er jetzt, nachdem ihm durch das Verhör die Erinnerung aufgewühlt worden war, ein gieriges Verlangen, die Entscheidungsstunde seines Lebens einmal leslich festzubannen, damit sein erhabenes Geheimnis auch außer ihm dastände, unabhängig von seinem Gedächtnis, als feste Wahrheit.

So schrieb er denn, knirschend zwar und gegen den Zwang der nüchternen Denkgesetze schäumend, aber in einem einzigen Zuge, in fieberhafter Eile:

An Frau Martha Steinbach

Fluch und Schmach der kahlen Prosa zuvor, denn sie entweiht! Also, ich erzähle und entweihe:

Meine Stunde

Ihr Brief mit Theudas Bild war am Morgen angekommen, jener Brief, in welchem Sie mir andeuteten, daß ein klares Wort von mir erwartet werde, daß dem Wort eine holde Antwort gewiß wäre, daß dagegen längeres Zaudern als Verzicht ausgelegt würde. Ich verstand: eine Mahnung, verstärkt durch eine Warnung, und ich begriff: dieser Tag ist ernst; heute gilt die Entscheidung. Ich betrachtete das Bild; tausend wonnige Werte schauten mir daraus entgegen; die Reinheit einer auserlesenen, durch Schönheit, Tugend und Erziehung hervorragenden Jungfrau – die Erinnerung an gemeinsam verlebte Stunden, zwar von nichtigem Ereignisgehalt, doch von ewigem Poesiewerte (Parusie nenne ich jene Stunden für mich) – der innige Blick der seelenvollen Augen, die zu mir sprachen: «Dein denkt meine Hoffnung» – die Verheißung einer Unsumme von Seligkeiten jenem, der sie zu erwerben wissen werde. Unter dem Bilde stand in unsichtbarer Schrift zu lesen: «Dies ist der höchste Preis», und die Worte Ihres Briefes flüsterten: «Der Preis ist dein.»

Solange des Tages Unruhe meine Sinne beschäftigte, behielt ich das Bild im verborgenen, nur flüchtig daran naschend, sei es, um in die wundersamen Rätsel der tiefsinnigen Augen zu tauchen, sei es, um die unerschöpflichen Wunder der weiblichen Schönheit zu kosten. So weidete ich im verstohlenen mein Herz an dem lieben Bilde.

Am späten Abend jedoch, während ich einsam im dunklen Zimmer saß, stellte ich das Bild vor mich auf den Tisch, andächtig nach ihm schauend, ob ich es schon in der Finsternis nicht sehen konnte. Durch das Schweigen der weiten Wohnung, in welcher sämtliche Türen offenstanden, tönten melodische Laute: das weiche Gurren eines Turteltaubenpaares aus dem nachtschwarzen Speisezimmer und drüben, vom kronleuchtererhellten Saale das träumerische Trillerschwirren eines Kanarienvogels, von jenen, welche beim künstlichen Lichte singen.

Da saß ich nun und wog mein Schicksal. Wie zweierlei Odem aus entgegengesetzten Weltgegenden umschauerte es mich; in der Mitte aber drohte die Frage: «Darfst du? Sprießt der Größe mit dem Glück ein Vergleich?» – Traurig vernahm ich die Frage, ahnend, daß die Antwort verneinend ausfallen müsse, sonst hätte ja die Frage nicht verlautet. Mein Herz aber, die Gefahr spürend, begann zu toben: «Deine Größe», schrie es, «der du mich opfern willst, wo ist sie? Zeig her, beweise deine Werke! – Zukunftsgröße? Ei, wer bürgt dir denn, daß du sie nur erlebst, die Zukunft? Es gibt Krankheiten, es gibt einen Tod. Oder wähnst du dich etwa den Nöten der Natur enthoben? Doch gesetzt, du bleibest leben, woher beziehst du es, das Märlein deiner künftigen Größe? Bitte, sage, woher? Aus deinem Selbstbewußtsein? O Jammer! o Fastnacht! Nimm mir's nicht übel, laß mich lachen. Nach Zehntausenden zählt man sie, die Jünglinge, die großwichtig von ruhmwürdigen Taten träumen; mit einem Selbstbewußtsein, so riesig, daß sie zur Weltkugel aufschwellen. Und was wird später aus ihnen? Schau hin: unnütze Wichte, Nullen, mit Bitterkeit gefüllt und mit Selbstkrieg behaftet. Oder meinst du etwa, dein Selbstbewußtsein wäre von besserem Karat? Weswegen? Woher? Weil es größer ist? Um so schlimmer, um so gewisser, daß du ein Tropf bist! Größenwahn, mein Teuerster! gemeiner germanischer Schulbubengrößenwahn! Nur, daß die andern, weniger unbescheiden, weniger verbohrt als du, den bübischen Blast mit dem Staatsexamen abzuwerfen pflegen. Viktor, ich sage dir, dein sogenannter ‹Beruf› mitsamt deiner eingebildeten künftigen Größe ist eitel Wunsch und Wind; das köstliche Geschenk dagegen, das dir die Gunst des Schicksals heute anbietet, ist haltbare, weltwirkliche Seligkeit. Lächerlichkeit über dich und Reue, lebenslängliche höllische Reue, lässest du für ein gaukelndes Irrlicht der Eitelkeit dein Liebes-, dein Lebensglück entgleiten. Nicht einmal Mitleid wird man dir zollen, wenn du elendiglich verendest, sondern statt des erhofften Nachruhms wird über deinem Grabe der Gedenkspruch warnen: ‹Hier platzte eine Blase.›»

Da lernte ich zum ersten Male in meinem Leben den Zweifel. Unsicher erwiderte ich: «Du weißt doch, o mein Herz, daß ich meinen Beruf, meinen Glauben, mein Selbstbewußtsein nicht aus mir selber beziehe, sondern...» – «Sondern von wem?» höhnte das Herz, «gelt, du verstummst? gelt, du schämst dich vor deinem Verstande, deine Torheit mit deutlichen Worten auszusprechen? Weil du, ob du dir's schon nicht gestehst, in deinem Innersten spürst, daß du einen kindischen Götzendienst züchtest, an Stelle eines anständigen, namhaften, weltschöpferischen Gottes ein wesenloses, selbstgeschaffenes Gespenst anbetend, ein luftiges Spiegelbild deiner eigenen Seele, das du mittels Phantasie-Kunststücklein außer dich setzest, in der albernen Hoffnung, daran über dich selber emporzuklettern wie Münchhausen an seinem Zopf. Nicht einmal den Namen deines Götzen wagst du ja ohne Erröten zu bekennen. Was ist das, deine geheimnisvolle ‹Herrin deines Lebens›, die ‹Strenge Frau›, der du mit fanatischer Hingebung dienst wie ein Prophet seinem Jehova? Ich will dir sagen, wer deine ‹Strenge Frau› ist! Jeder Student kennt sie, jeder Pfuscher, jeder Polterabenddichter, jeder Zuckerbäcker: Die Muse ist es, verjährten Angedenkens; die alte abgeschmackte Allegorientante, die Patin der Leblosigkeit, die Schutzpatronin des Nichtkönnens. Und solch einem verstaubten, von der Landstraße aufgelesenen Lehrbegriff soll ich mich von dir Narren verkaufen lassen? Wegen dieses Schulstubentrödels wagst du's und willst meine Seligkeit verschachern? Was schäumst du, was entrüstest du dich? Daß ich deine ‹Strenge Frau› gemeinhin eine Muse nenne? – Wäre sie nur wenigstens eine Muse! – Aber sie ist ja nicht einmal das! Eine Muse lehrt doch einen Gymnasiasten zwei Verse wohl oder übel zusammenreimen. Kannst du das? Und was kannst du denn sonst, du dreißigjähriger Bube? Gar nichts kannst du, nicht einmal einen gerechten Satz auf ein Stück Papier schreiben! Eine Null warst du, eine Null bist du, und eine Null wirst du bleiben; ungefähr wie die übrigen, nur noch um eine Nummer unbedeutender. Die übrigen aber bescheiden sich, und zum Lohne dafür dürfen sie glücklich sein. Bescheide dich, und du darfst es gleichfalls!»

In dieser Not flüchtete ich zu ihr selber, der Herrin meines Lebens, der Strengen Frau: «Siehe, mein Herz versucht mich schwaches Menschenkind; mit Reue mich bedrohend, deinen heiligen Ursprung leugnend, dich eine gemeine Muse schmähend. Darum höre: Ich, der dir ohne Murren alle Hündlein meines Herzens dahingegeben, damit du sie erwürgest, ich heische heute, ehe ich dir das letzte, schwerste Opfer bringe, von dir ein Zeichen, daß du kein täuschend Trugbild bist, ein Pfand, daß du Gewalt und Macht hast, tauglich, mich ans Ziel zu geleiten. Gib mir das Pfand, gewähre mir das Zeichen, und ich gehorche. Wo nicht, verlange nicht von einem schwachen Menschenkinde, daß es sein süßes, seliges Glück für ein Geflüster ohne Unterschrift dahintausche.»

Die strenge Antwort kam: «Ich gewähre weder Pfand noch Zeichen. Willst du mir dienen, so diene mir blindgläubig bis ans Ende!»

«So vergönne mir wenigstens deutlichen Befehl. Befiehl ‹entsage!›, so entsage ich. Nur befiehl deutlich und erlöse mich vom Zweifel.»

Die strenge Antwort kam: «Ich weigere den Befehl. Dein ist der Zweifel, dein ist die Wahl! denn am Scheideweg des Schicksals richtig wählen, ist die Beglaubigung der Größe; doch wäg es wohl, denn wählst du falsch, lohnt dir mein Fluch!»

Zur Linken die Reue, zur Rechten der Fluch! Bekümmert starrte mein Zweifel auf das Zünglein der schlimmen Waage. Da keimte es in den Tiefen meiner bangen Seele, und in die Not der Gegenwart herüber wuchs die Erinnerung an die weihevolle Stunde, da ich zum ersten Male der Strengen Herrin Flüsterhauch vernahm und die inhaltschweren Bilder ihrer überirdischen Sage schaute: die Forderung der kranken Kreatur, als Löwe durch die Felsenkluft dem Erdental entsteigend, das Himmelsvolk erschreckend und den Schöpfer aus den stolzen Hallen seines herrlichen Palastes scheuchend – und was sich alles sonst im Himmelreiche mit dem Löwen außerdem begeben. Diese Stunde schaute ich wieder, und Sehnsucht stärkte meinen Glauben. «Wohlan, es sei! So nimm denn auch dies letzte, größte Opfer. Ein Bettler, steh' ich dann auf Erden; ist nichts mein eigen als du und deines Odems flüsternde Verheißung.» Ich rief's und lud mit gramerfülltem Mut den Willen zum entsagenden Entschluß.

Da tat mein Herz einen letzten verzweifelten Ansprung: «Und sie selber, die auf dich hofft und wartet? Willst du sie gleichfalls opfern? Darf, kann das deine Menschlichkeit? Erlaubt das dein Gewissen?» Kleinmütig spannte ich den Willen wieder ab. Das Herz aber fuhr eifrig fort: «Was wird sie fühlen? was muß sie von dir denken? welch ein Urteil über dich fällen, wenn du sie verschmähst? Sie wird dich für einen zaudernden Schwächling halten, zugleich für einen albernen Toren, unfähig, ihren Wert zu erkennen. Das muß sie von dir denken; und also denkend, wird sie dich verachten.»

Unerträgliche Vorstellung! Das Opfer konnt' ich leisten, nicht aber die schimpfliche Mißdeutung des Opfers ertragen, nicht ihre Verachtung auf mich laden. Nun wußte ich nicht mehr aus und ein, denn erschöpft versagte mein müder Geist den schlichtenden Gedanken.

Da geschah mir die Erscheinung. Sie selbst erschien mir, Theuda, ihre Seele. Ähnlich wie sie mir einst leiblich in der Parusie erschienen war, nur reifer, ernster, mit tiefsinnigen Augen, so wie sie aus dem neuen Bilde blickte. Aus der Finsternis des Speisezimmers trat sie, von dorther, wo die Turteltauben gurrten, blieb auf der Schwelle stehen und sah mich mit traurigen Augen vorwurfsvoll an: «Warum unterschätzest du mich?» sprach sie.

«Ich! dich unterschätzen», schrie ich, «oh, wenn du wüßtest!»

«Doch, du unterschätzest mich», sagte sie. «Indem du mir eine so kleinliche Gesinnung zutraust, ich wäre fähig, als Hindernis zwischen dich und deinen erhabenen Beruf treten zu wollen. Ja, meinst du denn, nur du allein könnest groß fühlen? Nur du wärest edel genug, um deines Herzens Opfer zu bringen? Glaubst du, ich spüre nicht ebensogut wie du den Odem deiner Strengen Frau? ich vermöchte nicht die stolze Auszeichnung zu würdigen, von ihrem auserwählten Hauptmann zum Sinnbild erhöht zu werden? ich begriffe und fehlte nicht, daß es unendlich ehrenvoller und beglückender ist, deine gläubige Begleiterin auf der kühnen Bergstraße des Ruhmes zu sein, als deine geschäftige Gattin und Kinderfrau? Komm, laß uns gemeinsam unsere Herzenswünsche zu den Füßen der ‹Strengen Frau› niederlegen, einen edleren Bund vor ihrem Antlitz schließend als den gemeinen Geschlechterbund vor dem Altar der Menschen, den Bund der Schönheit mit der Größe! Ich will dein Glaube, deine Liebe und dein Trost sein, und du sollst mein Stolz und mein Ruhm sein, der mich erbärmliches vergängliches Geschöpf zum Symbol verklärt, in die Unsterblichkeit hinüberrettet.» – So sprach sie, und voll jubelnden Dankes grüßte ich den Adel ihrer Größe.

Darauf taten wir wie beschlossen. Wir legten unsere Herzenswünsche zu unsern Füßen nieder, dann nahm ich den Brautkranz von ihrem Haupt, hernach streifte sie den Ring von meinem Finger, und wir legten es zu dem übrigen. Und als wir nun leer und kahl dastanden, wie zwei Bäume, die sich selbst entblättert hatten, ohne einen anderen Schmuck als die Hoheit der Seele, da rief ich: «Herrin meines Lebens, du meine Strenge Frau; es ist geschehen! Schau her, das Opfer, das du heischest, ist vollzogen.»

Ihr Odem erschien, und vor dem Schauer ihres Schattens sank meine Geliebte auf die Knie und vergrub zagend ihr Gesicht in meinen Händen. «Wohl dir», begann die Strenge Frau, «o mein getreuer Hauptmann, daß du recht entschieden; nimm drum zum Lohne meinen Segen. Dies ist mein Segen: Mit Pathos bist du nun geprägt und mit Größe gestempelt; ausgezeichnet vor allen, die ohne das schwarze Siegel meiner Berufung ihre Tage dahinstümpern. Ich befehle dir ein Selbstgefühl, das dich in Irrtum und Narrheit, in Schimpf und Mißachtung nicht verläßt, und ich verbiete dir, jemals in deinem Leben unglücklich zu sein. Denn nicht du bist es, den du fortan in dir fühlst, sondern mich fühlst du in dir; also daß, wenn du nicht hochmütig fühlst, du mich beleidigst. – Doch wer ist jene, die an deiner Seite kniet?»

Ich antwortete: «Dies ist meine edle Freundin, deine gläubige Magd, die gleich mir die Wünsche ihres Herzens zum Opfer dir gebracht. Nimm sie an, wie du mich selber angenommen.»

«Steh auf», befahl meiner Freundin die Strenge Frau, «und zeige mir dein Angesicht! Dein Angesicht ist schön und wahr; wohlan, ich nehme dich an, nicht als meine Magd, sondern als meine Tochter. Neige dein Haupt, o meine Tochter, damit ich dich taufe!»

Da neigte meine Freundin ihr Haupt, und meine Herrin taufte sie mit dem Namen Imago.

«Und nun», schloß die Strenge Frau, «reicht euch die Hände, damit ich euern Bund segne.» Nachdem wir uns die Hände gereicht, sprach sie den Segen: «Im Namen des Geistes, der da höher ist als die Ordnung der Natur, im Namen der Ewigkeit, die heiliger ist als das vergängliche Gesetz der Menschen, erkläre ich euch hiermit als Braut und Bräutigam verbunden, lebenslänglich, untrennbar, durch Glück und Unglück, mit der Seele in steter Hochzeit beieinander wohnend. Du sollst ihr Ruhm und ihre Herrlichkeit sein, und sie soll deine Wonne und deine Süßigkeit sein.» – Nach diesen Worten verschwand die Strenge Frau, und wir waren wieder zu zweien allein.

«Ward dir das Opfer schwer?» lächelte Imago.

Ich jauchzte: «O Krönung meines Lebens, o Verschwendung der Gnade!»

Darauf grüßte Imago den Abschied: «Du bist nun müde, und ich habe einen weiten Weg; doch morgen kehre ich zurück, denn wir weilen ja nun in ewiger Hochzeit täglich beisammen.»

Nach diesen Worten schieden wir in Hoheit und Seligkeit. Aber noch lange blieb ich, dem schweren Nachhall des Ereignisses lauschend, am dunklen Schreibtisch gebannt; denn wie ein Ozean rauschte es durch meinen Geist, und ein feierlicher Gesang umtönte mich wie nach einem Gottesdienste.

Und am folgenden Morgen begann in Wahrheit, wie uns verkündet worden, unser stetes Beisammensein. Eine fliegende Hochzeit, ein jauchzendes Duett, mit vereintem Siegesmunde gesungen. Doch ihre Stimme klang höher als die meinige, so daß ich öfter innehielt, um ihrem Gesang zu lauschen. Wenn ich an ihrer Seite über die Hügel der Erde in das Reich meiner Strengen Frau sprengte, welches reiner ist als das Reich der Wirklichkeit, aber wesenhafter als das Reich der Träume, also daß die Wirklichkeit sich zu ihm verhält wie das Getier zum Menschen, aber der Traum zu ihm sich verhält wie der Geruch zur Blume, und welches sich bis zu den Gefilden der Erinnerungen und Ahnungen erstreckt, da jubelte Imago: «O mein Geliebter, in was für neue, weite Welten führst du mich die Straße? Mein überraschtes Auge nennt sie fremd, doch mein beglücktes Herz begrüßt sie ‹Heimat›.» – Und gute Völker, freundlicher als der Menschen Völker, hießen an den Pforten der Täler uns brüderlich willkommen.

Wenn ich unter sorgenschwerer Arbeit, während welcher sie bescheiden ihre Gegenwart verhehlte, hin und wieder rastete und seufzend aufschaute, traf mich Imagos andächtiger Blick: «Wie beglückt mich der Stolz», erwiderte ihr Blick, «Mich von einem solchen geliebt zu wissen.» Wenn ich nach redlich erworbenem Ruherecht mit ihr in das Außenleben hinunterstieg, mit ihr scherzend wie mit einer menschlichen Ehefrau, sie mit törichten Kosenamen nennend, ihr beim Essen einen Teller und ein Besteck hinstellend, als säße sie körperlich neben mir, lachte Imago vergnügt: «Was sind wir Kinder! Wie aber vollbringst du Tiefer das Wunder, daß du mich so fröhlich lachen lässest, wie ich nie zuvor so fröhlich lachen konnte?»

Darüber wurde ich reich und freundlich, so daß die Menschen verwundert zu mir sprachen: «Angenehm; wie hast du dich lieblich verwandelt.» Wie ein Baum auf freier, sonniger Wiese, der den Wipfel nach allen Seiten entfalten darf und dem die Früchte sämtlich reifen.

Und das währte so weiter, eine unendliche Seligkeit, jenseits von Zeit und Raum, bis zu dem Tage, da die Schnauze des Verrates in die goldige Wonne hereinfuhr wie ein Wildschwein durch eine Tapete. Eine gedruckte Verlobungsanzeige mit einem Fremden; ohne ein Wort der Freundschaft, ohne ein Zeichen der Erinnerung; nichts als die rohe Tatsache. Das Ganze eine stumme Frechheit!

Verächtlich warf ich den Wisch in den Winkel. Nicht der mindeste Schmerz, bloß Empörung über den Verrat, gemischt mit Trauer über die Offenbarung ungeahnter Kleinheit. Etwa so, wie wenn man berauschenden Herzens ein herrliches Klavierstück spielt und plötzlich läge vor einem an Stelle der Noten eine Kröte. Es ist also menschenmöglich, daß ein weibliches Geschöpf, dem das Schicksal die Gunst anbot, als Liebesgenossin eines Berufenen Ewigkeitsluft zu atmen, vorzieht, mit dem ersten besten Bärtling in den Sumpf der Familie zu waten. Verblüfft staunte ich dem wunderlichen Phänomen der Kleinheit nach, wie einst in der Kinderzeit, als ich einen Krebs betrachtete. «Wie kann man ein Krebs sein!» hatte ich damals gerufen. Heute rief ich: «Wie kann jemand nicht groß sein!»

Und durch ihren schmählichen Abfall soll jetzt meine schöne Seligkeit elendiglich verwesen? Plötzlich lachte ich laut auf Fasching und Fabel! Das hattest du ja alles nur in sie hineingedichtet: die Schicksalsstunde der Verlobung, ihre Hoheit, ihre Größe, ihren Seelenadel, ihre Liebe, ihre Freundschaft. Imago lebt nicht als einzige in dir; die menschliche, leibliche Theuda aber ist eine Verschiedene, eine Fremde, namens Ix; und zwar ein unbedeutendes Vögelein, wie deren in jeder Stadt zu Hunderten piepsen. Ich hob die schamlose Karte wieder auf und roch daran. Kein Zweifel, ganz deutlich, sie roch nach Gewöhnlichkeit. Genau wie die andern: war entschlossen, überhaupt zu heiraten (vermutlich nach einer unglücklichen Liebe – der Weg zum Altar führt ja bei den Frauen meistens über das Grab des Herzens), von einem Schwarm verhaßter Bewerber bedrängt, sieht sie in mir, dem fremden Neuling, einen Erlöser, findet mich annehmbar – glaube schon –, erhält mich nicht, um so schlimmer, so nimmt sie eben in Gottes Namen einen andern. So geht es gewöhnlich, so ging es auch mit ihr, der Gewöhnlichen. Fort mit ihr! Jüngferlein Ix, dein Name lautet: «Nicht vorhanden!» Zum Beweis dafür, schau her, was ich mit dir mache. So mache ich mit dir! Zerriß die Karte und warf die Fetzen in den Papierkorb. Und jetzt wollen wir mit deinem hübschen Lügenlärvlein also tun. Nahm das Bild hervor, um es gleichfalls zu zerstückeln. Zum Abschied aber mochte ich es vorher noch einmal anschauen. Also diese tiefsinnigen schwermütigen Augen trügen; der ganze Adel dieses Schönheitsfrühlings ist gemeiner Jugendspeck! Da fing das Bild bitterlich an zu weinen: «Nein, ich lüge nicht», weinte es, «denn damals, als dieses Bild mich spiegelte, dürstete meine Seele wahrhaftig nach Hoheit; diese Augen, die dich anblicken, schauten einst nach dir; dein dachte mein Wunsch, dein sehnte meine Hoffnung. Eine andere, spätere, mit deren Taten ich keine Gemeinschaft habe, hat dich verraten. Jedoch nicht aus niedriger Gesinnung, sondern eitel aus Schwäche und Kleinheit. Und wer weiß, vielleicht kommt später einmal eine Stunde, da sie sich besinnt, sich erinnert, sich ihres Abfalls schämt und zu dir zurückkehrt, mein Angesicht entsühnend, damit es nicht mit gebrandmarkter Schönheit schmachvoll in die Welt schaue wie ein gefallener Engel.»

Da erbarmte ich mich des Bildes und hob es andächtig auf, wie das Bild einer Verstorbenen. Der andern aber, der Neuen, der Treulosen, erkannte ich den lieben Namen Theuda ab und nannte sie fortan Pseuda, das heißt: die Falsche.

Jenen Abend, als ich wie gewöhnlich spazieren ritt (wohlverstanden, auf einem wirklichen, leibhaftigen Pferde), hörte ich jemand hinter mir reiten. Ich wußte, wer es war, denn ich hatte sie erwartet. «Imago», mahnte ich, «was reitest du hinter mir? und kommst nicht an meine Seite?»

Sie antwortete: «Weil ich jetzt deiner unwürdig bin, da ich die Gesichtszüge einer Treulosen trage.»

Ich sprach: «Imago, meine Braut, du trägst nicht ihre Gesichtszüge, sondern jene trägt fälschlich die deinigen. Darum komm an meine Seite, dein Antlitz sei mir gesegnet!»

Da ritt sie an meine Seite, verbarg jedoch ihr Gesicht mit den Händen. Ich aber entfernte ihr sanft die Hände vom Gesicht. «Siehst du, wie du schön bist und groß und seelenvoll! Darum schaue mich frei offen an, unbekümmert um dein unwürdig Urbild, so wie auch ich mich nicht darum bekümmere.»

Jetzt schaute sie mich offen an, dankend mit den Augen, und wir begannen wieder zu singen wie vordem. Und ihre Stimme klang noch schöner als zuvor; allein mit wehmütigem Ton, wie wenn ein Unschuldiger leidet; so daß es einen zu Tränen hätte erbarmen mögen. Plötzlich jedoch, mitten im Singen, brach sie ab, mit einem gurgelnden Schrei, preßte die Lippen zusammen wie ein sterbender Engel und wankte im Sattel. «O wehe mir!» klagte sie, «es hat mir jemand einen häßlichen Stoß versetzt, so daß ich krank bin und die Stimme nicht mehr schwinge. Darum laß nun ab von mir, Viktor, und suche dir eine frische Imago; eine, die da gesund und kräftig ist und ein unbescholtenes Gesicht hat, damit sie dir jauchze und singe, dir zur Süßigkeit und zum verdienten Lohne.»

Ich rief. «Imago, meine angelobte Braut, man läßt nicht von der Freundin, weil sie krank ist. Denn ich habe einen Bund mit dir vor dem Odem meiner Strengen Herrin geschlossen, also, daß mir dein Antlitz das Sinnbild alles Edlen und Hohen bedeutet. Darum höre, was ich dir verkünde: Dafür, daß du krank und traurig bist, dafür ist meine Liebe zu dir noch vielmal größer als ehedem, als du in Freuden und Seligkeit an meiner Seite jauchztest.»

Sie sprach: «O wehe dir, Viktor, daß du nicht von mir lässest! denn ich kann dir fortan nichts mehr bringen als Herzeleid.»

Ich erwiderte: «So bring mir Herzeleid, Imago, meine edle Braut. Ich aber lasse nicht von dir.»

Also erneuerte ich den Bund mit der kranken Imago; und war alles wie vorher, nur daß ihre Stimme verstummt war und ihre Augen schmerzlich blickten. –

Und also ist es geblieben bis auf den heutigen Tag. Und sie ist meine Braut, und ich lasse nicht von ihr, und sie ist mir tröstlicher als alle Reichtümer der Welt, ob sie gleich stumm und krank ist. – Heida! Mut, Trotz und Freiheit! Mein ist die Strenge Frau, mein ist Imago; jene für mein Werk, meinen Beruf, meine Größe, diese für meine süße Liebe; der Rest ist Unrat. Der irdischen Weiber scherz' ich; ein Trunk am Wege, genossen, verdankt und vergessen. Ich sehe ihrer mancherlei, lichte und dunkle. O lecker die lichten, o Wollust die dunklen! doch ihren Namen unterscheide ich nicht. Nur einen einzigen Namen habe ich mir gemerkt: das ist Pseuda, namens Ix, die Kleine, die Abtrünnige, die mir Theuda betrübte und Imago kränkte. Unter mir die Rache! Eines bloß begehr' ich von ihr zum Entgelt: sie einmal, nur ein einziges Mal wiederzusehen, um zu erfahren, wie eine Treulose in den sauberen Tag schaut, um zu erleben, daß sie die Augen vor mir niederschlägt. Dies ist mein gutes Recht, das sei ihre verdiente Strafe. Damit genug; wohl bekomm ihr der Sumpf, Gott segne ihre Ehe.

Hiermit bin ich fertig, und da ich fertig bin, höre ich auf

Ihr getreuer

Viktor

Dies Bekenntnis schob er noch in der nämlichen Nacht eigenhändig in die Brieflade. Und am folgenden Morgen schon, mit der Elfuhrpost, erhielt er der Freundin Antwort:

Verehrter Freund! Ich habe Ihr erstaunliches Bekenntnis, dessen Mitteilung ich Ihnen als einen Beweis des Vertrauens verdanke, mit der gebührenden Andacht gelesen. Ehe ich indessen auf den Inhalt eingehe, lassen Sie mich zuerst etwas Störendes beseitigen; es brennt mich auf der Zunge, ich will es daher gleich erledigen: Nicht wahr, es ist nicht Ihr Ernst, eine Frau durch einen Vorgang gebunden zu glauben, von dem sie nichts weiß und auch nichts wissen kann; einen Vorgang, der einzig in Ihrer Phantasie geschah: durch ein erträumtes Verlöbnis, mit einem Wort. Das tun Sie nicht, das können Sie nicht tun, weil es ebenso unvernünftig wie unbillig wäre. Den häßlichen Namen Pseuda, lieber Freund, verdient Frau Direktor Wyß nicht; denn wenn es eine Frau auf Erden gibt, die offen und wahr ist, so ist sie's. Zur Größe wollten Sie sie verpflichten? Ich weiß nicht, ob Frauen überhaupt der Größe fähig sind – wir haben andere Eigenschaften –, aber gesetzt, sie wären dessen fähig, wer ist denn zur Größe verpflichtet? Die bedauernswerte Menschheit, wenn Größe Pflicht wäre! Frau Direktor Wyß ist wie jede andere, wie ich, wie wir alle, dazu erzogen worden, einem braven Manne eine treue Gefährtin zu sein, und diesen Beruf erfüllt sie aufs beste, sich zum Frieden, ihren Nächsten zum Glück, den übrigen zur Erbauung. Ich kenne in der ganzen Stadt keine tugendhaftere, treuere, selbstlosere Gattin und bessere Mutter. Ich muß mich daher nochmals dagegen verwahren, daß jemand ihr zumutete, die Augen niederzuschlagen. Das braucht sie nicht zu tun, und, beiläufig bemerkt, das wird sie auch nicht tun; verlassen Sie sich darauf. Zugegeben, daß vielleicht eine andere Frau den Zauber der Parusie mitgefühlt hätte – es müßte freilich eine Frau von seltenen Eigenschaften sein, und sie müßte Sie mit allen Fasern ihres Herzens geliebt haben. Allein sie hat nun einmal die Parusie nicht gefühlt, und es war auch keineswegs ihre Pflicht, sie zu fühlen. Dies vorausgeschickt, fange ich nochmals von vorne an.

Ja, mit wahrer Andacht habe ich Ihr Geständnis gelesen; ergriffen und verwirrt, erschrocken und erhoben. Ich besitze nicht die gehörige Gabe von nüchterner Vernunft, auch nicht das nötige Maß von Verständnislosigkeit, um mich über die ungeheuerliche Vermengung von Phantasie und Wirklichkeit aufzuregen. Obschon! was sind das für Sachen: «Theuda», «Pseuda», «Imago» (Fräulein Ix will ich Ihnen noch schenken), drei Personen mit einem einzigen Gesicht! Die eine existiert nicht, die andere ist tot, die dritte ist «nicht vorhanden», und jene, die nicht existiert, ist krank! Wenn nur das Herz nicht Mus macht!! Mir stockt einfach der Atem; ich weiß nicht recht, ob mehr vor Furcht oder vor Ehrfurcht. Sie sind – verzeihen Sie, ich weiß, Sie hassen den Namen, aber ich kann Sie doch nicht Rabbi nennen –, Sie sind, ob Sie sich noch so sehr dagegen sträuben, ein Dichter. Wenn Sie übrigens lieber ein Seher oder Prophet heißen wollen... Ich habe Ihr Hohelied von Imago mit dem frohen Staunen gelesen, wie man ein Großwerk der Poesie anhört, bin auch im Innersten davon überzeugt, der Dämon, von welchem Sie besessen sind, mögen Sie ihn nennen, wie Sie wollen, «Imago» oder «Strenge Frau» oder sonst wie (er wird wohl ein naher Verwandter des Genius sein), ist heiligen Ursprungs. Denn das steht bei mir fest: etwas, dem ein erwachsener Mann, so überlegen gescheit und verständig wie Sie, sein Liebesglück zum Opfer bringt, ist kein Irrwisch. Kurz, ich glaube an Ihre «Strenge Frau» und auch an Sie, mein lieber Freund, an Ihr Werk, an Ihre künftige Größe, die ich bisher bloß gehofft und ahnend vermutet hatte. So sehr glaube ich daran, daß mich Ihre Erzählung mit reinern Seelenglück erfüllen würde, wie das Erlebnis eines unsterblichen Kunstwerkes, wenn ich nicht zugleich Ihre Freundin wäre, wenn ich nicht durch meine herzliche Teilnahme gezwungen würde, auch an Ihr menschliches Heil oder Unheil zu denken. Schrecken aber erfaßt mich bei dem Gedanken, was Sie leiden werden, wenn Sie mit Ihrer schönen Phantasiewelt (verzeihen Sie einer Frau den Romanausdruck) an die harte Wirklichkeit stoßen (o weh, aber ich finde kein anderes Wort); und nur eines wundert mich, daß der grausame Stoß nicht schon längst erfolgt ist. Müssen das seltene Menschen von zarter Seelenfeinheit gewesen sein, unter denen Sie in der Fremde wohnen durften, daß Ihnen vergönnt war, sich dermaßen ungehindert und ungestraft in eine Idealwelt einzuträumen, zumal im Gewühl einer großen Stadt! Schwerlich rate ich fehl, daß es eine Frau war, und zwar eine hochsinnige Frau von außerordentlichen Eigenschaften, deren Sorge über Ihren Weg wachte. Ich würde solch ein dauerndes Phantasieglück mitten unter den Menschen überhaupt nicht für möglich gehalten haben, wenn Ihre Schilderung mir's nicht bezeugte.

Ich bewundere die Willenskraft, die Treffsicherheit, mit welcher Sie unter der Leitung der «Strengen Frau» Ihren Lebensweg im verworrensten Dickicht zurechtfinden; allein, verzeihen Sie, ein Fehler läuft doch mit unter. Sie sind hier, und Sie sollten nicht hier sein. (Nicht wahr, Sie mißverstehen mich nicht? Ich denke eben nicht an mich, sondern an Sie.) Gestatten Sie mir, daß ich mich durch die Miggimaggi Ihres Herzens nicht täuschen lasse: Sie wollen Frau Direktor Wyß einfach wiedersehen. Und warum wollen Sie sie wiedersehen? Weil Sie sie nicht vergessen können. Das ist bedauerlich; ich hätte Ihnen gewünscht, Sie könnten's; denn das Nachsehen nach etwas, was man endgültig weggegeben hat – Sie sehen, ich unterstreiche das Wort «endgültig» –, bringt nur unnützes Augenweh. Allein es ist wahrlich nicht die Rolle einer Frau, Sie deswegen zu tadeln; denn daß man seinem Herzen nicht gebieten kann, wer wüßte das besser als wir? Nur möchte ich Sie eben davor bewahren, daß Sie sich durch vergebliche Hoffnungen grausame Enttäuschungen zuziehen. Wollen Sie von Ihrer alten Freundin eine wohlgemeinte Warnung annehmen? – es wird zwar nichts nützen, allein ich muß es trotzdem tun, weil ich mir's nicht verzeihen könnte, es nicht getan zu haben: Sehen Sie sie nicht wieder; verlassen Sie so schnell wie möglich diesen gefährlichen Boden, und singen Sie Ihr herrliches Duett mit Imago weiter, aber in sicherer Ferne. Imago wird mit der Zeit genesen und ihre Stimme wiederfinden, darum ist mir nicht bange. Hier dagegen ist nichts für Sie zu holen als Unfriede. Merken Sie wohl, was ich Ihnen sage, ich, die ich Frau Direktor Wyß kenne – sie war ja sozusagen in gewissem Sinne meine Schülerin (wenn auch nur vorübergehend) und hat mich eine Zeitlang mit ihrem Vertrauen beehrt –, merken Sie wohl, was ich Ihnen sage: sämtliche Fächlein ihres Herzens sind besetzt. Liebe suchen Sie ja nicht bei ihr, nicht wahr? Dazu sind Sie zu gewissenhaft; Freundschaft aber werden Sie nicht erhalten, denn zur gemeinen Konzert- und Hausfreundschaft kommen Sie zu spät, und zur hohen Seelenfreundschaft, wie Sie sie meinen, zu früh. Dazu ist sie viel zu jung, zu ungequetscht, zu glücklich. Und daß Sie sich ja nicht etwa auf Ihre geistigen Eigenschaften verlassen! Sie ißt nicht von dieser Konfitüre. Wer den Hauch der Parusie nicht gespürt hat, wird auch den Odem der «Strengen Frau» und den Tritt des himmelstürmenden Löwen nicht spüren. Ich sage das, ohne den Wert der Dame im mindesten herabzusetzen, den ich wahrlich hoch genug anschlage, da ich sie zu Ihrer Frau berufen glaubte. Allein wenn ich sie für würdig hielt, Ihre Frau zu werden, so halte ich sie darum noch nicht für fähig, Ihre Freundin zu sein. Beides verlangt ganz verschiedene Eigenschaften. Also noch einmal: verlassen Sie diesen gefährlichen Boden, denn Sie sehen mir stark danach aus, große Torheiten begehen zu wollen; zur Belästigung anderer und zu Ihrer eigenen bitteren Enttäuschung.

So, nun habe ich meine Seele gerettet. Jetzt tun Sie, was Sie wollen, oder vielmehr, was Sie müssen; denn das Schicksal wird schon wissen, was es mit Ihnen vorhat. Ich schwaches Menschenkind vermag nicht mehr, als Ihnen meinen Herzenswunsch auf den Weg mitzugeben: Sie möchten Ihr hohes Lebensziel, das Sie ganz sicher erreichen werden, nicht mit allzu grausamen Wunden erkaufen müssen. Also ich hoffe, Sie nicht wiederzusehen. Und grüßen Sie mir Ihre herrliche Imago.

Ihre Ihnen in Freundschaft und Ehrerbietung ergebene

Martha Steinbach

Nachschrift: Und geben Sie acht, daß die irdischen Weiber nicht Ihrer «scherzen»!

«Nichts nützen?» wiederholte Viktor, nachdem er den Brief gelesen hatte. «Warum nichts nützen? Dadurch unterscheidet sich doch der Mensch vom Maultier, daß er einen gescheiten Rat annimmt. Liebe Freundin, Sie haben einfach recht. Was tue ich hier? was geht mich überhaupt das ganze verpfuschte, verheiratete Dämchen an? Fertig! beschlossen! bleibt's dabei: ich will sie meiden, ich will abreisen. Das heißt natürlich, sobald ich meinen alten Freunden und Schulgenossen den schuldigen Gruß werde abgestattet haben. Denn ob ich die Dame schon meiden will, flüchten vor ihr, angstvoll flüchten wie ein christlicher Jüngling vor der Versuchung, das denn doch nicht; dazu habe ich denn doch wahrlich keine Ursache. Sollte also vielleicht der Zufall es fügen, daß ich ohne mein Zutun mit ihr zusammentreffe, um so schlimmer für sie.»

Und ein kleines, krummes Wünschlein wurmte zuunterst in seiner Seele, der Zufall möchte es fügen.

Eine schlimme Enttäuschung

Wie sie sich sämtlich ein behagliches Plätzlein im Staat erarbeitet hatten, seine alten Schulkameraden! Der eine Professor, der andere Hauptmann im Generalstab, der dritte Gasröhrenfabrikant, wieder einer Kantonsförster, und ähnlich weiter; die meisten überdies zur Ruhe geheiratet, rund und zufrieden; alle ohne Ausnahme nützlich und angesehen. Dagegen er, mit seinen vierunddreißig Jahren! ohne Beruf und Stand, ohne Namen und Wohnsitz, ohne Verdienst und Werke, nichts. Und die grausamen Bisse, wenn sie ihn an die verlorenen Reichtümer seiner natürlichen Gaben erinnerten! «Kannst du noch so schön zeichnen wie damals?» – «Und was macht denn die Musik?» – Ach, seine armen Talente! verkümmert, verschmachtet im Dienste seiner Strengen Herrin! Und wofür? Für einen Wechsel auf die Zukunft. Immer und immer nur Zukunft, niemals Gegenwart! Es wäre bald Zeit, dünkte ihn, daß sie endlich anlangte, die Zukunft, mit vierunddreißig Jahren!

«Erinnerst du dich noch, Viktor», fragte ihn Vital, der Polizeileutnant, «an unseren gutmütigen Deutschlehrer, den Fritzli? Aus dem machen sie jetzt eine gewaltige Geschichte in den Zeitungen wegen seiner Bücher. Ach Gott erbarm, es hilft ihm wenig mehr, dem Schlucker, alt und krank, wie er ist!» Dem Fritzli trug Viktor einen alten Dank nach, weil der ihn einst in der Lehrerversammlung vor der Ausweisung aus der Schule gerettet hatte – «wegen schlechten Betragens»; das wollte sagen wegen Auflehnung. Den aufzusuchen mahnte ihn das Herz.

Er traf ihn gekrümmt im Bette liegend, ein gebrochenes, ächzendes Geschöpf.

Mühsam kehrte der Kranke den Kopf nach dem Besucher, mit gleichgültigem, leidbefangenem Blick. Allmählich aber schaute er den Viktor aufmerksam an, in seinen Zügen forschend, eine lange Zeit; übrigens ohne Unfreundlichkeit, bloß gefesselt und erstaunt, ungefähr wie ein Naturforscher, der eine seltene Raupe betrachtet. Während dann Viktor seinen Dank vorbrachte – in stammelnden Worten, denn er war ein schlechter Sprecher –, hörte der Fritzli gar nicht zu, sondern las nur immer weiter in seinem Gesichte. Endlich hub er wehmütig an: «Sie also auch! Ich weiß nicht, soll ich Ihnen Glück dazu wünschen oder Sie beklagen? Wie sagten Sie doch gleich, daß Sie heißen? Den Namen wird man aussprechen lernen.» Darauf schenkte er ihm mit erhobener Stimme und nachdrücklicher Betonung einen rätselhaften Gedenkspruch: «Nicht die Alten, die glauben's nicht; nicht die Zeitgenossen, die leiden's nicht; nicht die Frauen, die folgen dem Erfolg; sondern einzig und allein die auserlesene Mannschaft eines nachkommenden Geschlechts. – Gehen Sie jetzt, lieber Freund, Ihr Platz ist nicht neben dem Leichnam eines garstigen Greises, Sie haben genugsam mit eigenen Nöten zu schaffen; möge es gnädig ablaufen. Übrigens Dank, daß Sie gekommen sind, es war mir ein großer Trost; ich sagte Ihnen ja: einzig die auserlesene Mannschaft eines jüngeren Geschlechts. Doch gehen Sie jetzt, gehen Sie, ich bitte Sie darum.» Und als Viktor seine Besuche erneuern wollte, wurde er nicht mehr vorgelassen.

Bis jetzt war er Pseuda nirgends begegnet, und nur ein einziger Gang noch blieb zu erledigen: Frau Regierungsrat Keller. Nachher konnte er reisen – «sagen wir Montag, spätestens Dienstag». Zweimal schon hatte er bei ihr vorgesprochen und sie nicht zu Hause getroffen, jetzt versuchte er's zum dritten Mal und fand sie wieder nicht daheim. Es scheint, es soll nicht sein! «Gut, dann fahr' ich also Montag.» Da erhielt er von ihr eine schriftliche Einladung auf nächsten Mittwochnachmittag zum Tee. «Ich habe am Mittwochnachmittag die Idealia, Sie werden einige interessante Menschen vorfinden, und wahrscheinlich gibt es sogar Musik.» – «Sogar Musik», wiederholte er, «Musik als Unterhaltungsgipfel! Interessante Menschen, Idealia!» – das Programm hatte nichts Verlockendes, und spätestens Dienstag hatte er ja reisen wollen. Anderseits mochte er der verehrten Dame, der er von früher her zu Dank verpflichtet war, keine abschlägige Antwort erteilen. «Sei's darum! was habe ich schließlich zu versäumen?» und sagte zu, obgleich nur halbwillig.

Die Regierungsrätin empfing ihn mit alter Herzlichkeit, wiewohl etwas flüchtig und zerstreut. «Wir erwarten den Kurt», meldete sie glückstrahlend, mit gedämpfter Stimme, als verriete sie ihm ein Osterei.

Kurt? wo hatte er doch den Namen schon gehört?

Nicht möglich – ereiferte sie sich –, daß er den Kurt nicht kenne! Allerdings von jemand, der frisch aus der Fremde komme, lasse sich's entschuldigen. Und fing an, ihm das Lob des Kurt zu preisen, wie es nur eine Frau vermag, wenn sie mit dem Herzen urteilt. Alle erdenklichen Tugenden und Gaben; und in der Mitte der siebenfachen Perlenschnur leuchtete eine Spange, die das Ganze zusammenheftete: «Mit einem Wort ein Genie! Und zwar ein solches Genie und so weiter.» – «Und dabei von einer wahrhaft rührenden Bescheidenheit.» –

«Und fein! und liebenswürdig!» – Und also fort. Viktor lächelte. Noch immer die nämliche, die Regierungsrätin, immer gleich in den höchsten Tönen, wenn sie jemand mochte. Freilich erriet er nun auch, daß er hier nur ein Stück Volk für den Wundermann Kurt bedeuten sollte; was ihn ein wenig verstimmte, so daß ihn beinahe reute, hergekommen zu sein.

Mit verändertem Ton, wie wenn eine Opernsängerin in die Sprechweise verfällt, fügte sie nachlässig hinzu: «Seine Schwester ist ebenfalls da; ich glaube, Sie haben sie schon einmal gesehen, Frau Direktor Wyß.»

Ah, also jetzt! Mit einem tiefen Atemzug rüstete er seine Rache. «Nur ja keine Verwechslung! halt scharf auseinander: nicht Imago, nicht einmal Theuda, sondern bloß Pseuda die Verräterin! Und daß du mir nicht etwa wieder mit den Pulsen hämmerst, du dort drinnen!» Also gewappnet trat er ein.

Richtig, wahrhaftig! Dort saß sie, die Falsche! über ein Notenheft gebückt, im Glanz ihrer gestohlenen Schönheit, der Schönheit Theudas, umjauchzt von der Poesie der verratenen Erinnerungen. Aber wie sie Imago gleichsah! Kann sie denn das? Ob diesem Anblick jagte sein Blut herum wie ein Eichhörnchen in der Drille; und in seinen Ohren tobte ein Lärm, als ob eine vom Nachttisch gefallene Weckeruhr auf dem Boden abschnurrte. «Alle gescheiten Geister, kommt mir zu Hilfe!» betete er angstvoll. Allein, wehe, wo sind sie? Nichts Gescheites kam.

Blindlings überstand er die Vorstellungen, erledigte er die Verbeugungen. Wie wohl sie ihn begrüßen wird? Siehe, jetzt streift ihn ihr Blick! Ein gleichgültiger Blick wie gegen einen Fremden. Sie erhebt sich ein klein wenig zur Form, dann guckt sie gelassen wieder in ihr Notenheft.

«Ist das alles?» fragte er sich, erstarrt.

Nein, es war nicht alles. Eine Schale voll Schlagsahne stand vor ihr; die äugelte sie mit liebevoller Zärtlichkeit an, sah sich ein paarmal scheu um, ob niemand sie beobachte, dann gönnte sie sich davon ein verschämtes halbes Löffelchen; endlich mit kühnerem Mut volle zwei und drei.

Solch ein Empfang! ihm! sie! Schmach und Empörung! Ingrimmig bohrte er ihr verdammende Blicke ins Antlitz. Bis ihn der Verstand am Ärmel zupfte: «Du, Viktor, falls du dir etwa einbildest, daß sie deine erhabenen Grimassen bemerkt, so täuschest du dich.» Da ließ er's bleiben und stierte sie sinnlos an, verstört wie in einem Operationsstuhl, gewärtig, was wohl zweitens anreisen werde, eine Schere oder ein Messerchen.

Während er so betäubt dasaß, drang ohne seinen Willen das Geräusch der Gespräche an sein Ohr; Brocken ohne Zusammenhang: «Protestantische Landstraßen besser gepflegt als die katholischen.» – «Im dritten Akt wird der Held unschuldig schuldig.» – «War der Kurt auch dabei?» – «Genie bricht sich immer Bahn.» – «Hatte der Kurt seinen guten Tag?»

Was jedoch wohl sie zuerst für einen Spruch tun wird? Mit dem seelenvollen Ton ihrer trautheiligen Stimme von damals? Lange Zeit wartete er umsonst. Doch halt, still! jetzt lauscht sie in die Unterhaltung herüber. Sie runzelt die Brauen, ihre schwarzen Augen blitzen, sie öffnet die Lippen: «Ach was!» rief sie, «die höflichen Menschen sind alle mehr oder weniger falsch!»

Das kam dermaßen unversehens daß er hellauf lachen mußte.

Da drehte sie langsam den Kopf nach seiner Richtung und schickte ihm einen Seitenblick: «Du, was dich betrifft», sagte der Blick, «mit dir bin ich fertig!» Und während sie den Kopf wieder abwendete, gewährte sie ihm auf geistigem Wege noch ein paar Nachtragsätze mit kleinen Buchstaben, die er deutlicher zu lesen vermochte, als ihm lieb war. «Mein Herr, was wollen Sie von mir? warum weisen Sie mir solch eine wichtige inhaltsvolle Erinnerungsmiene? Falls Sie etwa von früher her etwas wurmt, um so schlimmer für Sie; klagen Sie sich selbst an; mich aber lassen Sie gefälligst in Frieden, sonst holla! Heute gilt die Gegenwart, morgen die Zukunft; mein Mann und mein Kind sind mir alles, und Sie sind mir gar nichts.»

Es war weder ein Messerchen noch eine Schere, es war eine fürchterliche Säge. Und Schmerz und Zorn stürmten vereint wider seine mühsam verteidigte Fassung. «Sie wagt es! Mit den gemeinen Anhängseln ihrer nichtsnutzigen Ehe – Mann, Kind und dergleichen Hausrat mehr – möchte sie das unsterbliche Gemälde der Parusie auslöschen?!»

Und wiederum tönte in seinen Ohren die Raspel der Gespräche. Von links her: «Glauben Sie wirklich, daß der Kurt noch kommen wird?» – «Schon vier Uhr! fertig, er kommt wieder einmal nicht!» – «Und ich behaupte: er kommt.» – Zur Rechten: «Glatte Höflinge.» – «Freudloses Familienleben der Großstädter.» – «Geistlose Unterhaltung der sogenannten vornehmen Welt.» – «Steifes, lächerliches Zeremoniell in den Palästen der Großen.» – Ihm war, er hätte in zehn Jahren nicht so viele Albernheiten gehört wie in dieser Viertelstunde. Überhaupt gesellte sich zu seiner Beschämung mehr und mehr der Unwille. Warum kümmert sich denn niemand um mich? Wie lange soll ich noch einsam auf meinem Stuhl sitzen wie Robinson auf der Klippe?

Da, mit einem Male lief eine freudige Erregung durch die Versammlung, begleitet von Geflüster und unterdrückten Jubelrufen, als nahte ein Festzug. Während er sich trägen Geistes – denn was galt ihm die Umgebung? – nach der Ursache der plötzlichen Glückseligkeit umdrehte, stürzte ein Mannsbild durchs Zimmer, ohne Gruß noch Vorstellung, im Vorbeistürmen ihn, den Viktor, mit dem Ärmel streifend, ohne sich zu entschuldigen; pflanzte sich ohne weiteres vors Klavier, legte ein Notenbuch bereit – er wird doch etwa nicht...? Doch, weiß Gott, er fängt an zu singen, mitten in der Versammlung, ohne Aufforderung noch Erlaubnis, wie ein Schnapsbruder im Wirtshaus. Eins, zwei war Viktor neben ihm, klappte ihm das Notenbuch zu und warf es ihm auf die Knie, worauf der Einbrecher ohne einen Mucks wieder aus dem Zimmer stürzte. Das Ganze war so schnell verlaufen, wie wenn eine Fledermaus zum Fenster hereinflattert und wieder hinaus.

«Was war das für ein Individuum?» fragte Viktor belustigt, gegen die Regierungsrätin gewandt, in der Meinung, ihren Dank für die schlanke Hinausbeförderung zu ernten.

Doch siehe da: Verwirrung und Aufstand ringsum, Bestürzung auf allen Gesichtern. «Durchaus kein Individuum», brauste Pseuda mit zornrotem Gesicht auf, feindliches Schnellfeuer aus ihren funkelnden Augen schießend. Die Regierungsrätin aber, Tränen in den Augen, zischte ihm vorwurfsvoll ins Ohr: «Das war ja ihr Bruder, der Kurt!»

Jetzt verbeugte sich Viktor mit spöttischer Ehrerbietung vor Pseuda: «Gnädige Frau, mein aufrichtiges, tiefgefühltes Beileid!»

«Es braucht kein Beileid!» herrschte sie, «ich bin stolz auf meinen Bruder und darf es sein!»

Hiermit verließ sie geräuschvoll das Zimmer, und alles rüstete sich zum Aufbruch.

«Ach, mein schöner musikalischer Abend!» jammerte mit trostloser Miene die Regierungsrätin. Und als Viktor sich angelegentlich bei ihr entschuldigte, beteuernd, wie er doch unmöglich habe ahnen können, daß ein ungezogener Mensch, der ohne Gruß noch Vorstellung durch eine Versammlung stürmt und dabei die Anwesenden mit den Ellenbogen stößt – «Zeremonienmeister!» –, unterbrach sie ihn erbittert: «Er ist eben ein Original, ein Genie» – und schlich betrübt von dannen.

Lehmann aber, der Förster, Viktors Schulkamerad, klopfte ihm lachend auf die Schulter: «Viktor, Viktor, das war ein schlimmes Versehen!»

«Entschuldige, lieber Freund, das war kein Versehen, sondern eine Züchtigung.»

«Nenne es, wie du willst, jedenfalls mit Frau Direktor Wyß hast du es jetzt auf ewige Zeiten verdorben.»

«Das werden wir sehen!» trotzte Viktor furchtlos.

Draußen auf der Straße war ihm, als käme er aus einer närrischen Posse. Das also war der gepriesene Kurt gewesen! «Fein, liebenswürdig, bescheiden!» Haben denn hier die Wörter der deutschen Sprache einen anderen Sinn als sonst auf Erden? Der, und ein Genie?! Ja, eines von den zehntausend Werdenichts-Genies, von denen jede Familie eins auf Lager hat; in schwesterlicher Verhimmelung verzuckert, garniert mit einem Kranz schmachtender Basen. – Überhaupt, in was für eine Grube war er gefallen! Was für Gespräche! Verfaulte Gemeinplätze, die man anderswo mit keinem Stöcklein mehr anzurühren wagt, Urteilsmißgeburten, wert, in Weingeist aufbewahrt zu werden. «Steifes, lächerliches Zeremoniell in den Palästen der Großen!» Die glauben offenbar, es gehe in den «Palästen der Großen» so feierlich zu wie bei der Eröffnung einer Zuchtstierausstellung. «Glatte Höflinge!» Was die sich wohl unter einem Höfling vorstellen mochten? Vermutlich einen staatlich geeichten Ränkeschmied, der von Morgen bis Abend den Thron umschleicht wie ein Bühnenbösewicht den Souffleurkasten. «Freudloses Familienleben der Großstädter!» Wahrscheinlich, weil sie ihre Buben nicht prügeln! «Geistlose Unterhaltung der sogenannten vornehmen Welt!» Allerdings, von «unschuldig schuldig» redet man dort nicht. – Freilich, was den geistigen Horizont betrifft, scheint sie selber auch nicht gerade sonderlich... nun, kein Wunder, in solch einer Sippschaft! Mit einem Charakterkopf zum Vater und einem Genie zum Bruder! «Die höflichen Menschen sind alle mehr oder weniger falsch» – aus was für einem Demokratenkübel sie das elende Sprüchlein wohl aufgelesen haben mag; Aber hübsch hat sie's aufgesagt; sicher und beifallsbewußt wie eine Jahreszahl im Examen. «Schlacht bei Salamis? – Ich weiß», triumphierend den Zeigefinger in die Höhe. Soll ich dir sagen, was sie ist, Viktor? Ein unreifes Kind ist sie, auf der Schnellbleiche geheiratet; noch die Puppe auf dem Arm, und wupp! ohne daß sie merkt woher, ein Büblein auf dem Schoß. Dieses gilt ihr dann so für eine Art Fortbildungspuppe. Hast du gesehen, wie verliebt sie die Schlagsahne schleckte? Um ein weniges (schade, daß sich's für Erwachsene nicht schickt), so hätte sie sich den Magen gestreichelt wie der Clown im Zirkus. Aber war sie schön! Fast wäre man versucht, der Schöpfung eine bessere Note zu erteilen, ihretwegen; womöglich noch schöner als damals in der Parusie. Nichts verloren und mehreres dazugewachsen; «aufgebläht», mit einem Wort, wie die Romanschreiber sagen. Und wie tapfer sie ihren Hanswurst von Bruder verteidigte! Pseuda, du gefällst mir. Sie schlägt zwar noch ein bißchen aus wie ein wildes Rößlein; um so besser, Beweis, daß sie Rasse hat; ich sehe es gar nicht ungern, wenn sie zornig ist; im Gegenteil, das steht ihr gut, es paßt zu ihrer schwarzhaarigen Verfassung. Pseuda, wir werden noch gute Freunde werden. – Und fröhlich trällernd schritt er die Straße.

Allein, die ganze Lustigkeit war nur Kinderball auf dem Verdeck; unten in der Kajüte stöhnte ein gestochener Mann, und das war der Kapitän. Kaum im Gasthof zurück, warf Viktor die gekünstelte Fröhlichkeit weg und ging tiefsinnig in sich. «Viktor, eine Wahrheit hat gesprochen, und an dem Spruch einer Wahrheit soll man nichts abmarkten wollen. Die Wahrheit lautet: Auf Cäsarenmanier, nur so erscheinen und niederschmettern, ist es nicht gegangen; dein Auftritt, dein Blick, deine gerechte Empörung haben versagt, und zwar kläglich. Was war der Grund des Versagens, und wie steht es nach alledem zwischen dir und Pseuda? Denk nach, hernach antworte.»

Viktor dachte nach, hierauf antwortete er: «Der Grund des Versagens ist folgender: Dieses Dämchen ist glücklich und zufrieden; sie bedarf daher nichts und begehrt deshalb nichts, am wenigsten von mir; ich bin ihr einfach überflüssig. Die Vergangenheit aber hat sie begraben, und zwar ohne Denkmal. Das also ist der Grund, daß mein Auftreten versagt hat. Mit meinem künftigen Verhältnis zwischen mir und ihr aber steht es so: Meine geistige Überlegenheit nützt mir hier nicht das mindeste, denn sie vermag sie gar nicht zu ermessen. Sie schadet mir sogar; denn durch meinen Geist gerate ich in Widerspruch zu ihren Überzeugungen, die darum nur um so störrischer sind, daß sie sie aus anderer Leute Köpfen bezieht. Mit einem Wort: ‹Sie ißt nicht von dieser Konfitüre›, um mit Frau Steinbach zu reden. Wer einen Charakterkopf verehrt, wer einen Kurt bewundert, wird niemals einen Viktor hochschätzen; das ist naturunmöglich; denn eines schließt das andere aus. Nun ist aber der Charakterkopf ihr Vater, der Kurt ihr Bruder. Ich mußte demnach einen Kampf gegen ihr eignes Blut und gegen ihre schönste Tugend, die Pietät, beginnen. Folglich...» Hier jedoch stockte sein Gedanke, gegen die Schlußfolgerungen sich sträubend.

Statt seiner ergänzte den Satz eine leise Stimme aus dem dunkelsten Grunde seines Gefühls: «Hoffnungslos», murmelte die Stimme. Und als ob das ein Stichwort gewesen wäre, erhoben sich jetzt plötzlich von allen Seiten Hunderte von Stimmen, die sämtlich das Wort «hoffnungslos» hersagten, in ewiger Wiederholung, mit scharfem Tonschritt, immer lauter und mächtiger, lawinenartig anschwellend, wie die Zuschauer im Zwischenakt, wenn der Vorhang nicht auf will.

Da ließ Viktor den Kopf hangen, überzeugt, aber willenlos.

Ihm tippte der Verstand auf die Schulter: «Viktor, du hörst das Urteil des Volkes, es stimmt zu dem meinigen, und im Grunde auch zu deinem eigenen. Kurz, hier ist kein Klima für dich.»

«Also was denn?»

«Aufpacken und abreisen.»

«Ja, wenn du meinst, es munde meinem Selbstgefühl, mich kleinlaut davonzuschleichen, nachdem ich als zürnender Odysseus dahergefahren, so täuschest du dich.»

«Wird es etwa deinem Selbstgefühl besser munden, dereinst gedemütigt abzuziehen, schimpflich geschlagen, mit schwärenden Wunden, das Herz voll bittrer Galle?»

«Irgendeine Genugtuung, irgendeinen Triumph über die Verräterin ist mir das Schicksal doch schuldig.»

«Das Schicksal ist ein schlechter Zahler. Komm, sei gescheit und renn nicht mit dem Kopf gegen die Mauer.»

Viktor seufzte und schwieg eine Weile. Darauf versetzte er: «Du magst vielleicht recht haben; auch ist ja nicht gesagt, daß ich dir nicht schließlich nachgebe; allein ich möchte zuerst noch ein bißchen die Torheit strampeln lassen; das tut einem so wohl, und ein wenig Trost habe ich doch auch nötig. Morgen früh gebe ich dir dann Bescheid; zunächst laß mich eins darüber schlafen.»

Wie er dann im linden Bette lag und, mit Vorausnahme der nahen Abreise, im Gefühl schon halb ein Abwesender, weich und weh seinem verunglückten Richterrachezuge nachsann, benützte das Herz die mürbe Stimmung: «Schade», zischelte es, «ich hätte dir einen besseren Abschied gegönnt. Mißversteh mich nicht, ich maße mir keineswegs an, deinen Entschluß zu beeinflussen, folge nur gehorsam dem Verstande, er ist bei weitem der Gescheiteste von uns allen – nur ist es halt doch zu bedauern, daß du so in Unfrieden von ihr wegziehen mußt, das Gedächtnis zeitlebens mit einer feindseligen Pseuda behaftet. Denn darüber, denke ich, bist du doch im klaren, daß du sie zeitlebens nie mehr wiedersehen wirst; du kannst mithin das Erinnerungsbild nicht mehr ändern; so, wie du sie heute zuletzt geschaut hast: als eine Fremde und Erzürnte, so mußt du sie fortan ewig vor Augen haben. Ich hätte dir zum Abschied etwas Versöhnliches gewünscht, einen guten Blick, ein herzliches Wort, was weiß ich, kurz irgend etwas Schönes, was man hätte mitnehmen können und was einem in der Fremde nachgeleuchtet hätte. Dir hätte es wohl getan (ich rede nicht von mir, ich bin ja, scheint's, nur zum Entbehren auf der Welt), und für die kranke Imago wäre es Arznei gewesen.»

Und so weiter in schummrigem Verführungsgeflüster, bis er darüber einschlief.

In der Nacht aber, gegen Morgen, träumte ihm ein Märlein. Auf der Insel eines Teiches erblickte er Pseuda als verwunschene Prinzessin zwischen Fröschen und Molchen sitzend, unter denen der Kurt als Froschkönig mit abenteuerlichen Sätzen umherhopste. «Ist denn kein Edler auf Erden, der mich von den Fröschen erlöst?» jammerte ihre Stimme. Und am Ufer, in einem Weidenstrauch, kauerte der Statthalter, die Arme rhythmisch gegen seine Frau bewegend, als ob er mähte. «Hilf ihr», winkte flehentlich seine Miene, indem er die Augäpfel verdrehte. Er selber, Viktor, vermochte sich natürlich nicht zu rühren, weil es ein Traum war.

Als er dann am Morgen aufwachte, gesund und munter, frisch im Geiste, der Leib gestärkt mit Mut und Selbstgefühl, sprang er kriegerisch aus dem Bette: «Getrost, Pseuda», gelobte er gerührt, «ich werde dich von den Fröschen erlösen», kleidete sich an, öffnete das Fenster, schwang seine Seele über die Berge, blitzte mit den Augen und stampfte mit dem Fuße: «Wieso hoffnungslos? Wer behauptet ‹hoffnungslos›? Sie ist ja doch inwendig nicht hohl, sondern hat eine Seele wie jeder Mensch, und in der Seele schlummert ein Kern, und in dem Kern träumt, ob sie's schon selber vielleicht nicht weiß, eine Sehnsucht, und die Sehnsucht dürstet nach etwas Höherem, Edlerem, Schönerem, als was ihre nichtsnutzige alltägliche Umgebung ihr bieten kann. Sie ist bloß verkrustet. Wenn ich indessen in ihrer Nähe bleibe, so muß unfehlbar früher oder später die Magie meiner Persönlichkeit – vielmehr, besser gesagt, der glühende Blick der erhabenen Fremdgestalten, die mich erleuchten – aus meiner Seele in ihre Seele hinüberzünden, die Kruste durchbrechend, so daß sie aufwacht, entblindet, meinen Wert erkennt und meiner hohen selbstlosen Gesinnung huldigt. Seele gegen Gewöhnlichkeit, Geist gegen Trägheit, Person gegen Sippschaft, so gilt jetzt die Fehde; Magie heißt meine Waffe, und die Strenge Frau ist mein gewaltiger Feldherr. Wollen doch wahrlich sehen, wer stärker ist!»

Und denselben Morgen noch suchte er, in der mutmaßlichen Voraussicht, daß die magische Heilkur vielleicht längere Zeit beanspruchen könnte, eine Privatwohnung. «Wohlbekomm's!» rief der Verstand, als er abends spät einzog. Und zwei Gedanken strichen, eifrig miteinander flüsternd, zuäußerst an seinem Geiste vorüber.

Der nähere der beiden Gedanken sagte: «Auch wieder einer, der erst ein Bein abgeschlagen haben will, ehe er Verstand annimmt.»

Der andere Gedanke aber wartete vorsichtig, bis er außer Bereich war, dann höhnte er, zurückschauend, die freche Bemerkung: «Weil er halt einfach verliebt ist», flüchtete jedoch Hals über Kopf, da Viktor jähgrimmig mit Bengeln nach ihm warf.

Den Viktor aber winkte vertraulich die Phantasie beiseite: «Laß sie schwatzen. Komm, ich will dir etwas zeigen», und zog sachte einen Vorhang auseinander, nur etwa drei Finger breit, gerade soviel, daß man durch den Spalt sehen konnte. Und siehe da, auf einer Bühne standen Pseuda und er selber, Viktor. Hand in Hand standen sie und sahen einander innig an. Dann sprach sie zu ihm: «Hoher du, Guter, Selbstloser, alles, was ich dir ohne Sünde gewähren darf, ist dein, nenn's Freundschaft oder nenn's Liebe.»

«Das war nur eine kleine Probe, um dir einen Begriff zu geben», schmunzelte die Phantasie, indem sie den Vorhang wieder zuzog, «später zeige ich dir dann noch viel, viel Schöneres.»

In der Hölle der Gemütlichkeit

Um der widerspenstigen Dame seine Persönlichkeit zu demonstrieren, mußte er vor allem mit ihr zusammentreffen können, und zwar öfters, womöglich regelmäßig, denn persönliche Vorzüge sind keine Fernwaffen. Wo? Diese Frage! Was einfacher? Bei ihr daheim natürlich! Wozu hat man denn sonst einen Statthalter? Der hatte ihn doch eingeladen!

Der Statthalter empfing ihn aufs herzlichste, eine lange Stunde mit ihm über wissenschaftliche Fragen verhandelnd; seine Frau dagegen, auf welche der Besuch gemünzt war, blieb unsichtbar; und als er ihr beim Fortgehen begegnete, bedachte sie ihn mit einem solchen eisigen Gruß, daß er begriff: sie verbat sich seine Besuche.

Auf diesem Wege also ging es nicht. Er mußte versuchen, sie an einem dritten Orte zu fassen. Er erkundigte sich, wo und mit wem sie zu verkehren pflege; übereinstimmend meldeten die Nachrichten, ihr gesellschaftlicher Verkehr beschränke sich fast ausschließlich auf die Idealia. Aus tiefstem Herzen seufzte Viktor: «Idealia!» Er hatte sie bereits gekostet, die Idealia, damals, bei Frau Keller. – «Bah», ermutigte er sich, «es sind im Grunde liebenswürdige, wackere Leute; sogar von seltener Herzenshöflichkeit, trotz ihrem schulbuchdogmatischen Blast, womit sie prahlen. Schon allein, daß mich kein Mensch seine Verstimmung über den Vorfall mit dem Kurt fühlen läßt! – Also mit einigem guten Willen...», und andere Einladungen verschmähend, Frau Steinbach vernachlässigend, schloß er sich den Zusammenkünften der Idealia an, auf die schlimmsten Abenteuer der Gemütlichkeit in Geduld gefaßt.

Auch sie brachten ihm guten Willen entgegen, doch bald spottete die Macht der Gegensätze des künstlichen Harmoniespiels.

Da war vor allem seine angeborene (oder anerfahrene?) Absonderungssucht, die ihm vor jeder Vergruppung der Menschen, heiße sie, wie sie wolle, einen Schauder einflößte; und nun gar ein «Verein»! noch dazu mit dem Namen Idealia! Sie wiederum setzten bei jedem Menschen zwei Haupteigenschaften voraus, die er nicht beibrachte: nämlich einen ewigen Bildungsdurst und einen unersättlichen Musikhunger. Ohne Musik waren diese Leute so hilflos wie Beduinen, denen die Kamele davongelaufen. «Wollen Sie uns denn nicht etwas spielen?» konnten sie einander fragen. Dieses «etwas» jagte ihn vom Stuhl. Sagt man auch: «Wollen Sie uns ‹etwas› sprechen?»

Angesichts der Bildung lautete der Gegensatz noch klarer: sie interessierten sich für alles, er für nichts. (Deshalb für nichts, weil seine mit Gesichten und Gedichten bis zum Überlaufen volle Seele überhaupt jede Aufnahme von außen verweigerte.)

Die Hauptsache aber war: ihm fehlten die Vorbedingungen zu ihrem anspruchslosen Geselligkeitsstil: der strenge Beruf mit seinen Pflichten und Mühen, das Familienleben mit seinen Sorgen, mit einem Wort, das Erholungs- und Erschlaffungsbedürfnis. Kurz, der altehrwürdige Lebensgegensatz zwischen dem Geisteszigeuner und den Familienbenedikten. Auch der Umstand, daß er tatenlos auf etwas wartete (nämlich auf die Bekehrung Pseudas), mußte schon für sich allein sein Lebensgefühl verstimmen; denn auf die Lungerlage ist der Menschengeist nicht eingerichtet.

So ergab sich denn statt der gehofften Anpassung beiderseitiges Unbehagen. Er war ihnen «ungemütlich», und sie wurden ihm unwohl. Freilich gab er sich redliche Mühe, sein Unwohlsein zu verbergen, um nicht den Schwarzpeter im Kartenspiel vorzustellen; allein versuch's: verbirg's, wenn dir übel ist! «Wie gefällt es Ihnen bei uns? haben Sie sich allmählich ein bißchen eingelebt?» – «O ja! sehr!» versicherte er eifrig, stöhnend wie ein harpunierter Walfisch.

Da begannen sie ihn zu trösten. Auf landläufige Manier, nach dem Volkslied «Ihr eigener Fehler». Hinter jedem Trostspruch kam eine Ermahnung getröpfelt, wie aus jenen doppelten Brüheschüsseln, wo aus dem obern Schnabel das Fett, aus dem untern der Satz läuft. Eine unaufhörliche Beugung seiner Person mit Hilfszeitwörtern: «Sie müssen», «Sie sollten», oder, rückwärts angespannt: «Sie müssen nicht», «Sie sollten nicht». Laß sehen, was sollte er dann eigentlich nach ihrer Meinung? und was sollte er nicht? Er sollte nicht: «sich gehen lassen», «sich einwickeln», «sich einspinnen». Er sollte «sich überwinden», «aus sich herausgehen», «Sich aus seiner Lethargie aufrütteln» (Viktor, merk dir dein Zeichen, du bist lethargisch), allmählich mit der Zeit vielleicht heiraten; warum denn nicht? und zwar womöglich eine etwas angriffslustige, derbe Dame, damit sie ihn aus seiner Lethargie (entschieden, das Wort hatte es ihnen angetan) gewaltsam herausreiße. Einstweilen möge er doch die mannigfachen Gelegenheiten benützen, die einem in hiesiger Stadt geboten würden; oder ob er denn für gar nichts Höheres Sinn habe? Am Donnerstag zum Beispiel wäre ein interessanter Vortrag über die Liebe bei den alten Germanen, am Sonntag gebe es einen siebenjährigen Geiger; wohlverstanden durchaus nicht etwa bloß so ein unnatürliches bedauernswürdiges Wunderkind, sie wären vielmehr die letzten, solch eine künstliche Treibhauspflanze zu begrüßen, sondern diesmal ein echter, gottbegnadeter Künstler. Und ob er denn wirklich auch gar nicht singe oder wenigstens irgendein Instrument spiele? Ein Einfall, ein Vorschlag: am vierten  Dezember, zum Stiftungsgedenktag der Idealia, wird ein Festspiel vom Kurt aufgeführt: «Könnten Sie da nicht vielleicht eine Rolle übernehmen, zum Beispiel als Meergreis oder als einer der Berggeister?» Und warum er sich denn nicht einfach als Mitglied der Idealia anmelde? Und ob es nicht viel natürlicher und gemütlicher wäre, wenn er sich mit den Männern duzte, wie die übrigen?

Oder sie versuchten ihn «aufzuheitern». Gab es ein Tänzchen oder ein Gesellschaftsspielchen, Ringsuchen, Tellerdrehen und dergleichen, so rissen sie ihn herzhaft am Arm: «Kommen Sie! ziehen Sie kein so verzweifeltes Gesicht und helfen Sie mit! Man braucht nicht immer so feierlich zu sein.» Wie dann alles nichts helfen wollte, wie er sich je länger, je mehr als ein «Egoist» entpuppte, der F-Moll bekannte, wenn die andern Cis-Dur anstimmten, überdies als verstockter «Realist», der sich für nichts, aber auch für gar nichts interessieren wollte, überdies von haarsträubender, geradezu empörender Unwissenheit (er hatte zum Beispiel den «Tasso» nicht gelesen!), nahmen sie die Tonart ein bißchen schärfer, und zu den Ratschlägen, zu den Ermahnungen gesellte sich der Tadel. Immer natürlich in aller Freundschaft; oder ist denn nicht Tadel an sich der untrüglichste Beweis von Freundschaft? Sie besserten also in der wohlmeinendsten Absicht an ihm herum; lediglich, um ihn der Idealia anzugleichen; ungefähr so, wie ein Familienrat vor der Reise einen Frack behandelt, damit er in den Koffer gehe: der eine meint, man müsse die Ärmel so falten, der andere vielmehr so; der dritte richtet den Kragen in die Höhe, der vierte schlägt die Schöße um; ihrer zwei drücken schonend mit Fäusten und Knien auf das Präparat, und das Virgineli setzt sich darauf.

Dabei traf es sich ungeschickt, daß Viktor gerade dagegen einen entschiedenen Widerwillen verspürte, an sich herumbessern zu lassen; deshalb, weil er dieses Geschäft selber besorgte. Am ungeduldigsten ertrug er die Nörgeleien an seiner leiblichen Erscheinung. War das ein unaufhörliches Zupfen und Häkeln an seinem Äußern! Nichts erschien an ihm richtig, vom Scheitel bis zur Zehe; weder seine Sprache noch Aussprache, weder sein Haar- noch Bartschnitt, weder sein Kleid noch seine Schuhe; vollends über seinen Hemdenkragen vermochten sie sich gar nicht zu trösten. Schüchterne Versuche, mit Gegenkritik zu lohnen, fanden kein geneigtes Ohr.

Und dann die tausenderlei kleinstädtischen Übelnehmereien! erwidert von seiner unglaublichen Empfindlichkeit, der Empfindlichkeit des Phantasiemenschen (der Rückseite der Feinfühligkeit), die durch unablässiges Wühlen einen Nadelstich zur schwärenden Wunde entzündet, eine kleine Rücksichtslosigkeit zur tödlichen Beleidigung vergrößert! So trug von beiden Seiten jedes das Seinige bei, um jenen Qualzustand zu schaffen, den man mit dem Lindwort «Mißverständnis» zu beschönigen pflegt. Nun hatten zwar nach ihrer Auffassung «Mißverständnisse» wenig auf sich. Du lieber Himmel! in dieser friedlichen Idealia, wo jahraus, jahrein immer eins mit dem andern verzankt war und an Festtagen alle mit allen, was wollten da «Mißverständnisse» besagen! Nahmen einander alles übel, aber trugen sich nichts nach. Er dagegen, mit seiner Überempfindlichkeit und Vergrößerungssucht, mit seinem monströsen Gedächtnis, welches nichts, aber auch gar nichts in die heilsame Vergessenheit entließ, mit seinem metaphysischen Lebensgefühl, welches das kleinste Vorkommnis mit pathetischem Nachdruck belastete, mit seiner summarischen Phantasierechnungskunst, die immer sämtlichen ankreidete, was ihm ein einzelner angetan (es ist am einfachsten so), geriet allmählich in einen Zustand wie ein von Bienen überfallener Bär. Gewiß, gern gab er zu, alles widerfahre ihm aus lauter Freundschaft; allein ihm kam vor, die Freundschaft habe hierzulande eine verwünschte Ähnlichkeit mit einem Zahnschmerz. Und unversehens waren die Bienen, von seiner Phantasie ausgiebig genährt, zu Ungetümen angewachsen, die ihn mit tückischen Blicken umlauerten. Dadurch wurde er jetzt argwöhnisch wie ein Kettenhund in der Dämmerung; überall böse Absicht witternd, links und rechts Erläuterungen heischend, Ehrenerklärungen, Entschuldigungen fordernd, wobei er mitunter ins Kindische fiel. Die Frau Pfarrer Wehrenfels hatte ihm die linke Hand gereicht: «War das mit Vorbedacht geschehen, um mich zu demütigen?», so daß er nach einer schlaflosen Nacht von ihr eine Erklärung verlangte, mit der Miene eines beleidigten Offiziers. «Mit Ihnen ist überhaupt nicht auszukommen», rief nach einem ähnlichen läppischen Stücklein Frau Doktor Richard ärgerlich. Der Vorwurf peinigte nun wieder seine gewissenhafte Seele, die er jeden Augenblick so blank in Bereitschaft halten mochte wie zur Parade am jüngsten Gericht, mit kummervollern Bedenken. «Wenn sie recht hätte? Warum auch nicht? wohl möglich. Allein wie abhelfen? ich kann mich bessern, aber nicht ändern.» Und ganz klein und demütig schrieb er an eine auswärtige Freundin: «Aufrichtig, ohne die mindeste Rücksicht: Ist mit mir nicht auszukommen?» Die Antwort lautete: «Ich lache über Ihre Frage. Kinderleicht, wie mit einem Kaninchen. Nur muß man Sie halt tüchtig liebhaben, wie sich's gehört, und es Ihnen auch von Zeit zu Zeit sagen.»

Das einfältigste war, daß er jene, die er in der Idealia suchte, um deretwillen er sich all dem Freundschaftsungemach unterzog, nur ausnahmsweise zu Gesicht bekam. «Frau Direktor Wyß ist ungemein häuslich», lautete die Erklärung, «sie lebt ganz allein für ihren Mann und ihr Kind.» Er ahnte indessen wohl, daß dies nicht der einzige Grund war, sondern daß sie hauptsächlich deshalb wegblieb, um nicht mit ihm zusammenzutreffen. Das war aber so ziemlich das Schlimmste, was ihm widerfahren konnte. Wenn er dann erschien und sie nicht vorfand, starrte er geistesabwesend auf den Stuhl, auf welchem sie, wenn sie gekommen wäre, vermutlich würde gesessen haben, redete kein Wort und hörte nicht, was man zu ihm sagte. Zu der Unseligkeit des Wartens erhielt er hiermit noch die Beschämung der getäuschten Erwartung. Und jedesmal, den folgenden Tag nach einer solchen Enttäuschung, irrte er verstört in der Stadt umher, wie ein Gespenst, das den Rückweg nach dem Kirchhof verloren hat.

In den Ausnahmsfällen wieder, wo Pseuda zugegen war, zahlte sie ihm die Mißhandlung ihres Bruders getreulich heim, aufrechten Hauptes, herzhaft und tapfer, ihn als Türkenkopf gebrauchend, nach welchem sie widrige Bemerkungen schleuderte, einerlei was für? denn zur Genauigkeit fühlte sie sich nicht verpflichtet. Kaum daß er den Mund auftat, fuhr sie ihm darüber. Hierbei setzte es mitunter schwere Verwundungen seines empfindlichen Ehrgefühls. «Ich liebe nicht die Schmeichler», warf sie ihm einmal herrisch zu, als ihm der Ausruf entschlüpfte: «Sind Sie schön!» Ein anderes Mal, als er den Satz bestritt, der Adel Europas wäre idiotisch und verkrüppelt, schalt sie ihn «Snob». Das war nun natürlich bloß als weibliche Stimmungsmusik gemeint; er aber faßte jungtörichterweise das Wort wörtlich, und da er es wörtlich faßte, mußte er's auch ernst und schwer nehmen. Drei Nächte würgte er an dem vermeintlichen Schimpf. Eine Rute, ein Feuer, einen Skorpion legte er neben sich und prüfte seine Seele in den hintersten Winkeln, um sich nötigenfalls schonungslos zu büßen; bis er endlich die tröstliche Gewißheit gewann, daß das schimpfliche Merkmal ihm nicht gebühre. Nein, wer vor dem Bettler, während er ihm das Almosen reicht, den Hut abnimmt, wer gleich einem evangelischen Pfarrer einem überführten Dieb den Handschlag nicht verweigert, wer es wagt, am hellen Mittag eine Dirne zu grüßen, ist kein Snob; und wer zeitlebens das Kunststücklein verschmähte, die Gunst einer Frau durch Herabsetzung ihrer Feindin zu gewinnen, ist kein Schmeichler. «Also warum sagt man mir's dann!» schrie seine Empörung; und fortan saß er Pseuda mit einer Miene gegenüber, als hätte sie ihm ein Auge ausgeschlagen und er hätte ihr's verziehen.

Dem konnte die Regierungsrätin nicht länger zusehen; denn ihre friedliche Natur ertrug keine tiefspältige Zwietracht in ihrer Umgebung. Und da sie sowohl dem Viktor wie der Frau Direktor herzlich zugetan war, schloß sie nach der liebenswürdigen Unlogik des Frauenherzens, welches da meint, wenn ich A und B gern habe, so müssen sich A und B ebenfalls gern haben, auf ein bloßes «Mißverständnis» zwischen den beiden. Demgemäß unternahm sie jetzt die Vermittlung, indem sie dem Viktor die Tugenden der Frau Direktor, und dieser wieder die Vorzüge des Viktor schilderte. Großartig, gemäß ihrer lautern und einfachen Natur, wo die Tugenden in kräftigen Zügen wie in Fresko gemalt waren, erklärte sich Frau Direktor willens, die Geschichte mit dem Kurt zu vergessen, vorausgesetzt, versteht sich, daß Viktor sich künftig der Verträglichkeit befleißige. Hingegen den Lobpreisungen über Viktor lauschte sie mit ungläubiger Miene. Und während Frau Keller sich zugunsten ihres Schützlings in eifriger Rede abmühte, sammelte sie sachte für sich selber ihre Eindrücke zu einem Charakterbilde Viktors, ungern zwar, denn es widerstrebte ihr, die Gedanken mit ihm zu beschäftigen.

Daß dieser Mensch ihr zuwider war, und zwar je länger, desto mehr (ganz abgesehen von der Beleidigung ihres Bruders), das brauchte sie sich nicht erst zu fragen, das spürte sie deutlich. Schon sein lockerer Lebenswandel, aus welchem er nicht einmal ein Hehl machte! «Doch seien wir nicht ungerecht; suchen wir ihm eine gute Seite abzugewinnen.» Allein sie mochte ihn drehen, wie sie wollte, es kam nirgends eine gute Seite zum Vorschein, und sein Eigenschaftsverzeichnis sah einem Sündenregister nicht unähnlich.

Sein unmännliches, übersanftes, fast süßliches Auftreten, ohne Mark, ohne Kraft, ohne Charakter, mit seiner leisen Stimme, seiner übertriebenen Höflichkeit, seiner geckenhaften Kleidung, seiner gezierten, fremdartigen Sprache – sein undurchsichtiges, vielgestaltiges und vieldeutiges Wesen, verschlossen und hinterhältig, wo man nie weiß, woran man mit ihm ist, jeden Tag ein anderes Gesicht («ich liebe einfache, offene, aufrichtige Menschen») – seine höhnische, frivole Gesinnung, die alles, selbst das Heiligste, Heimat und Vaterland, Moral und Religion, Poesie und Kunst mit wohlfeilen Paradoxen in den Spott zog – ohne Ernst und Tiefe, ohne Grundsätze, ohne Ideale – kein Schwung, keine Wärme, kein Gefühl (wie kann zum Beispiel jemand die Musik nicht lieben? außer er habe kein Herz!). «Gemüt jedenfalls hat er keines; an wen hat er sich denn in den drei Wochen angeschlossen? An niemand.» – Und dann seine anmaßlichen Absprechereien, seine albernen Taktlosigkeiten und Narrheiten, die mitunter an Beleidigung streiften! Hatte man doch zum Beispiel die größte Mühe gehabt, ihm abzugewöhnen, daß er sie «Fräulein» nannte.

Nein, ihr Widerwille war nicht ungerecht; was auch Frau Keller und ihr Mann zu seinen Gunsten sagen mochten. Auch ihr Vater würde ihn verurteilt haben; mit einem einzigen Wort hätte er ihn verdammt: «Er ist nicht klar.» Sie hörte den Ton seiner ehrwürdigen Stimme, wie er das gerufen hätte. Und da eben Frau Keller Viktors Talente rühmte: «Ja, wo sind sie denn, seine Talente?» rief sie, «bitte, zeigen Sie mir an ihm ein Talent, ein einziges! Was kann er denn? oder was weiß er? Ich sehe überall von den Talenten nur die Abwesenheit.»

«Geist wenigstens werden Sie ihm zugeben müssen», mahnte Frau Keller.

Jetzt aber riß der Frau Direktor die Geduld: «Geist?» brauste sie unwillig auf, «auch ich liebe und schätze den Geist; doch es fragt sich, was für ein Geist. Geist nach meiner Meinung fördert etwas Rechtes zutage, Wahrheit oder Schönheit, Taten oder Werke; Geist verehrt das Ehrwürdige, verneigt sich vor dem Verdienst, begeistert sich für das Hohe und Edle; Geist spricht vor allem, wo es sich um ernste Dinge handelt, ernst. Dagegen diese windigen, witzigen Sprachspielchen, ich gestehe, wenn das Geist sein soll, dann mache ich mir aus dem Geist gar nichts, nicht das mindeste; diese Art Geist hasse ich. Statt ‹Natur› zu sagen ‹Madame Pferdekraft›, was habe ich davon? ‹Die Psychologen – die schlechtesten aller Psychologen›, was soll das heißen? Wenn das Geist sein soll, so beanspruche ich als eine Auszeichnung, für dumm zu gelten. Der Kurt, nicht wahr, hat doch auch Geist, aber da sieht es anders aus!» Und da Frau Keller jetzt eifrigst einstimmte, so mündete die beabsichtigte Erhebung Viktors in einen Lobgesang auf den Kurt.

Nachdem sie dann beide an dem Kurt ihr Herz sattsam gelabt, erklärte sich Frau Direktor schließlich bereit – Verträglichkeit kann niemals schaden, und sie vergab sich ja nichts damit –, mit dem leidigen Menschen glimpflicher umzuspringen.

Wer sich dagegen bock und stock weigerte, die angebotene Versöhnung anzunehmen, war Viktor. Natürlich, er ließ ja Pseuda, also die wirkliche, leibhaftige Frau Direktor, gar nicht als zu Recht und Tat bestehend gelten. Ehe sie sich «bekehrt» hätte, also rückwärts wieder in die Seele der Jungfrau Theuda hineingeschlüpft wäre, gab es für ihn keine Verhandlung mit ihr.

Hier abgeschlagen, suchte die Regierungsrätin den Frieden von einer anderen Seite: den Kurt und den Viktor miteinander aussöhnen. «Es ist ja doch ganz unmöglich, wenn sich die beiden nur erst kennenlernen, und so weiter.» Das ergab dann eine jener verunglückten Harmonieaufführungen, welche die Sache noch weit schlimmer machen als vorher. Und wieder war es Viktor, der den Widerborstigen spielte. Zwar hatte er sich mit Ach und Krach zu einer Zusammenkunft herbeigelassen, enthielt sich auch – so viel vermochte er über sich – eines feindseligen Wortes; zur Entschädigung dafür behandelte er jedoch mit Blick und Gebärden den Kurt dermaßen hochfahrend, daß es der schlimmsten Beleidigung gleichkam. Diesmal aber gab es keine Entschuldigung, die beleidigende Absicht war offenkundig. «Warum nur», fragte er sich nachher selber verwundert, «warum muß ich diesen Menschen durchaus demütigen, ob er mir schon nichts zuleide getan, ob ich schon weiß, daß es unklug ist, daß ich mir durch ein artiges Benehmen die Gunst Pseudas erwerben könnte?» Er fand keine Antwort; es war ihm gekommen wie dem Hund, wenn er eine Katze sieht; läßt sich der vom Angriff zurückhalten, so verschlingt er wenigstens die Katze mit den Augen.

«Naturgeschichten!» meinte er ratlos, «unerklärliche, aber unüberwindliche Idiosynkrasie!» Er täuschte sich; es war ein Berufshandel: der Zorn des echten Propheten gegen den falschen Propheten, die Entrüstung des Erben über den Erbschleicher; mit einem Wort: ihn hetzte gegen dieses Talmi-Genie der heiße Atem der Strengen Frau.

Jetzt gab die Regierungsrätin die Vermittlung auf. Mit Pseuda aber war es nun natürlich gründlich vorbei. «Zu allem obendrein noch ein boshafter Mensch, der aus eitel Neid auf meines Bruders Genie sich an ihm zu reiben versucht.» So lautete fortan ihr Urteil über ihn; und sie sorgte dafür, daß er über ihr Urteil nicht im unklaren blieb. Wozu hat man denn sonst Seitenbemerkungen und Anspielungen?

Über diese neue «Ungerechtigkeit» empörte er sich dann wieder mit einer Beimischung des Erstaunens. «Was geht sie überhaupt ihr Bruder an? Der gehört ja gar nicht zur Handlung. Schon sein Dasein bedeutet einen Fehler im Stück.» Und daß nun vollends sein Verhältnis zu Pseuda Rückschritte statt Fortschritte machen wollte, ging doch gegen allen Sinn. Schon öfters hatte er sich ärgerlich gefragt: «Was zaudert sie? wann will sie endlich aufwachen? meint sie etwa, ich hätte Lust und Zeit, Jahrzehnte auf ihre Bekehrung zu warten?» Und nun sollte es gar noch rückwärts gehen?

Eine unerträgliche Vorstellung. Allein, wie dem steuern? Er wußte kein anderes Mittel als seine «Magie», dieselbe Magie, die bisher so kläglich versagt hatte. Wie ging das zu, daß sie versagte? daß seine strahlenden Herrschaften nicht aus ihm hinaus in ihre Seele hinüberzündeten? Eine Vermutung: möglicherweise teilt sich der Funke bloß im Zustande der Ekstase mit, so daß also die Wirkung einzig ausgeblieben wäre, weil er bisher der Dame immer nur lahmen Mutes, mit abgespannter Kraft gegenübergetreten war? Wie er daher eines Abends nach schöpferischer Phantasiearbeit seine Seele dermaßen mit erleuchten Gestalten übervölkert fühlte, daß er meinte, es müsse davon wie ein Dunstkreis um ihn zu spüren sein, faßte er sich ein Herz und suchte sie zu Hause auf, in der heimlich bewußten Absicht, seine Magie diesmal konzentriert auf sie wirken zu lassen, gleichsam im Kurzschluß. Also eine Art psychologisches Experiment, doch beileibe kein leichtfertiges, denn es handelte sich ja um sein Heil.

Der Zufall wollte, daß sie jenen Abend eine Schulfreundin bei sich hatte, mit welcher sie, die Vergangenheit zurückspielend und ihre neubackene Mutterwürde auf ein Stündchen abschüttelnd, die harmlose Wonne ausgelassener Kindsköpfereien kostete; es tut ja so wohl, nicht wahr? einmal zur Abwechslung wieder so recht von Herzen töricht zu sein. Da hatte denn die eine ein Kinderhäubchen, die andere einen Zylinderhut aufgestülpt, und die Seligkeit verlangte, damit im Zimmer herumzuhüpfen. Für solch eine Null aber galt Viktor, daß sie ihn bei seinem Eintritt nicht einmal der Störung wert hielten, den Schabernack zu unterbrechen. Da saß er nun und durfte dem Lustspiel zusehen. Nachdem er das eine Viertelstunde getan, wußte er fortan für sein Leben, was es mit der Seelenmagie auf sich hat! Unbeachtet, wie er gekommen, entfernte er sich und schlich kleinmütig nach Hause.

Jetzt zum ersten Male kam ihm seine Zuversicht abhanden. Ein Schreck durchbebte ihn, als ob an seinem Siegeswagen die Hinterräder abgebrochen wären und die Achse mit harten Stößen auf dem Boden schleifte. Und wie er seinen Geist nach Trost ausschickte, entdeckte er vor seinem Blick einen schwarzen Vorhang, zwar noch aufgerollt, indessen mit unheimlichen Bewegungen, als könnte er einesmals ungesinnt herniederfallen, ohne ein Klingelzeichen.

Nachdem seine Magie sich als unzulänglich erwiesen, was blieb ihm dann? Angst klemmte ihn, und in seiner Angst griff er vorzeitig zu seinem letzten Trumpf, den er eigentlich für später aufgespart hatte, wenn ihr Herz bereits erschüttert worden wäre: die Bekehrung durch ihr eigenes Bildnis aus früherer, edlerer Jungfernzeit. Der Anblick ihrer einstigen jungfräulichen Erscheinung, berechnete er, müsse die Erinnerung wecken, und Theuda werde Pseuda strafen; etwa so, wie wenn ein Verbrecher, dem man unvorbereiteterweise sein Abbild aus seiner unverdorbenen Kinderzeit vorhält, plötzlich in Tränen ausbricht, seine Missetat bereut und schwört, fortan wieder ein rechtschaffener Mensch zu werden wie vormals. Er holte also mit bebender Hand jenes Theudabild (sein Heiligenbild) hervor, das ihm vor drei Jahren Frau Steinbach zugeschickt hatte, ängstlich vermeidend, es anzuschauen, weil er sich nicht die Kraft zutraute, den Ansturm der Erinnerungen zu bestehen. Mit diesem Bilde bewaffnet, wie mit einem geladenen Revolver, pilgerte er am nächsten Tage nochmals zu ihr, gefährlich, so daß er beinahe Mitleidbedenken verspürte, von einer so fürchterlichen Waffe Gebrauch zu machen. Das Bild stellte er dann, ehe sie eintrat, aufs Klavier und erwartete mit klopfendem Herzen die Wirkung.

Kaum erschien sie unter der Tür, so gewahrten ihre scharfen Augen auch schon das Bild. «Wer hat Ihnen das gegeben?» heischte sie im scharfen Ton eines Untersuchungsrichters; «woher bezieht Frau Steinbach das Recht, Ihnen meine Photographie weiterzuschenken?» Darauf zuckte sie die Achseln. «Übrigens ein schlechtes Bild; ich habe es nie gemocht.» Das war die Wirkung des Heiligenbildes.

Nun wurde seine Lage ernst; denn er hatte keinen Trumpf mehr in der Hand. Noch hielt er zwar an seiner Hoffnung fest, weil er sie eben nötig hatte, allein mit krampfhafter Faust, und der Hoffnung fehlte die vernünftige Berechtigung, da er sich gestehen mußte, daß das, was er hoffte, nunmehr unwahrscheinlich geworden war, daß etwas Unvorherzusehendes ihm von außen zu Hilfe kommen müsse, damit es sich erwähre. Darob sammelte sich in den Gründen seiner Seele Trauer. Diese kam eines Tages ins Gefühl herausgestiegen und zeugte Weh.

Es war anläßlich eines Gesprächs über «Tasso». Dabei kam die Rede auf die angebliche Anziehungskraft des Genies auf die Frauen. Mit instinktiver Unfehlbarkeit, behauptete Pseuda, fühle sich das Herz des Weibes zu einem wahrhaft bedeutenden, außerordentlichen Mann hingezogen. Nachdem sie das gesagt hatte, seufzte sie sinnend vor sich hin.

«Sind Sie der Wahrheit Ihres Satzes so sicher?» wagte er einzuwenden.

«Ebenso sicher», trotzte sie, «wie der andern Tatsache, daß wir mit Gewißheit spüren, wer jedenfalls kein bedeutender, außerordentlicher Mensch ist.» Und damit ihm ja die Anzüglichkeit nicht entgehe, schenkte sie ihm einen spöttischen Nick und Blick dazu.

Da riß ihn ein tiefes Weh; dann schoß ihm die Empörung das Blut in die Stirn. «Sage, was du zu sagen hast», befahl die Stimme der Strengen Frau.

Widerstrebend gehorchte er, denn sein Schamgefühl und seine Bescheidenheit sträubten sich gewaltig; dennoch gehorchte er. Also redete er und sagte: «Wer bürgt Ihnen dafür, daß ich kein außerordentlicher, bedeutender Mensch bin?» Dieser Spruch, mit seiner zaudernden Stimme in die vier Wände des tageshellen Zimmers herausgesägt, tönte so unerträglich häßlich, daß er selber sich dessen schämte und sämtliche Anwesenden vor Verlegenheit die Augen niederschlugen, als wäre eine Unanständigkeit vorgefallen.

Der Pfarrer Wehrenfels fand das erlösende Wort: «Es könnte halt doch nicht schaden», meinte er, mit milder Mahnung gegen Viktor gewendet, «wenn einer erst den ‹Tasso› läse, ehe er in dieser Frage mitspräche.»

«Brav gegeben!» jubelten aller Augen.

In die Trauer über seine entziehende Hoffnung mischte sich, anscheinend unabhängig von der Idealia, eine merkwürdige Allgemeinverstimmung, er wußte nicht ob körperlicher oder seelischer Art oder beides zusammen; ein Elendgefühl, dessen erste Anzeichen er schon gleich nach seiner Ankunft verspürt hatte und das ihn nie mehr gänzlich losließ. Jetzt, in seiner übrigen Niedergeschlagenheit, kam die schleichende Krankheit – denn so etwas war es wirklich – zum Ausbruch. Was mochte es nur sein? Ein abscheuliches Gefühl der Leere, eine öde, widerlich schmeckende Empfindung, als ob er eine Lehmwüste verschluckt hätte. Heimweh? Ja, etwas dergleichen; indessen ein Heimweh ohne Poesie, ohne Glanz und Farbe, eine zentrifugale Trostlosigkeit, ein Wegweh. Eines Abends, wie er aus der Idealia durch die finstern Gassen heimkehrte, nirgends Licht und Leben außer in den Wirtsstuben, aus welchen ihm Gejohl, Krakeel und Alkohol entgegenschlug, erkannte er plötzlich sein Leiden: das Elend des Großstädters, der in die Kleinstadt verschlagen worden ist. Auf einer Kirchentreppe heulte ein verlassener Hund. Den Hund begriff er; er hätte mitheulen mögen.

Trotz alledem war sein Verhältnis zur Idealia bisher ein freundschaftliches geblieben. Sie fanden zwar manches an ihm zu tadeln, genauer gesagt: alles, doch betrachteten sie ihn immer als einen der Ihrigen; er wieder hielt tapfer still, auf bessere Zeiten wartend, so daß er sich wie ein frommer Dulder vorkam, selber ganz gerührt über seine unglaubliche Sanftmut. Da entzündete ein einfältiges Gespräch, das sich ganz harmlos, ja vergnüglich angelassen hatte, innige Feindschaft; nicht bei den andern, denn der Feindschaft war das gemütliche Volk überhaupt nicht fähig, wohl aber bei ihm, dem Ideeneifrigen, Wahrheitsgrimmigen. Das geschah durch eine groteske Szene, die er später seine «Amazonenschlacht» nannte. Bei Frau Doktor Richard nämlich traf es sich, daß er als einziger Herr einem kleinen Dutzend hübscher Damen, worunter Pseuda, gegenübersaß. Durch den lieblichen Anblick aufgemuntert, begann er die Damen zu necken, wie man das darf und soll; allerlei kleine Bosheiten über die Frauen, von welchen er eine ansehnliche Zahl auf Lager hatte, zum besten gebend, aus lauter Liebe zum weiblichen Geschlecht. Nun huldigte jedoch, was er nicht wissen konnte oder in der Fremde vergessen hatte, die hiesige Frauenwelt dem Dogma vom Mysterium des germanischen Weibes, so daß sie, im Gegensatz zu dem intereuropäischen Brauch, zwar persönliche Grobheiten verziehen, dagegen den leisesten Zweifel an der heiligen Geschlechtshoheit des Weibes als einen Altargreuel verdammten. Da stak er denn bald in einem vielstimmigen Entrüstungsgeschrei (Schlachtruf der Amazonen), gegen welches er nicht aufkam. Und in der Hitze des Streites, wie er sich unterfing, das Zigarettenrauchen der Frauen zu entschuldigen, ließen sie sich hinreißen, über das qualvolle Ende einer russischen Studentin, welche vorige Woche beim Zigarettenrauchen jämmerlich verbrannte, laut jubelnd zu triumphieren. «Freut mich.» – «Ist ihr recht geschehn.» – «Möge es jeder, die da raucht, ähnlich ergehen.» Da schäumte in ihm das Gerechtigkeitsgefühl jählings in wildem Zorn empor; eine förmliche Prophetenwut, daß er hätte Feuer und Schwefel auf die blutdürstigen Anstandspriesterinnen herunterfluchen mögen. Er sah nämlich deutlich vor seinen Augen die arme Studentin in brennenden Kleidern herumtanzen, schreiend und sich windend, bald hoch aufspringend vor Schmerz, bald sich zu Boden duckend, und um sie herum beifallklatschend die teuflisch grinsenden Pharisäerinnen. «Mörderinnen!» schrien seine haßerfüllten Blicke. Und bei diesem Anlaß verstand er plötzlich die tödliche Feindschaft zwischen den Propheten und den Weibern.

Während jedoch seine anmutigen Gegnerinnen, sobald sie sich von der stürmischen Sitzung erhoben hatten, den heftigen Handel hurtig hinter sich schüttelten – eine Tasse Tee darauf, ein Schinkenbrötchen darüber, und man spürt nichts mehr davon –, blieb in seinem Gedächtnis das grausige Bild der Totentänzerin inmitten jubelnder Pharisäerinnen haften. Die zwölf schuldigen Damen, die in Wirklichkeit keiner Mücke etwas zuleide zu tun vermochten (mit Ausnahme der Motten), bekamen von seiner Phantasie ein Kainszeichen auf die Stirn geprägt, und die gesamte Idealia, weil ja solidarisch für jedes ihrer Mitglieder haftbar, erschien ihm fortan erinnyenfähig, in düsterer Atridenbeleuchtung. «Ob euch schon Polizei und Gericht nicht zu fassen vermögen, ob ihr noch so sittsam einhertrippelt und scheinheilig Schumannlieder schmachtet, in meinen Augen seid und bleibt ihr Verbrecherinnen: Mörderinnen!» Und er verspürte den finsteren Groll des Rächers. Denn die brennende Studentin zeigte beständig mit den verkohlten Fingern nach der Idealia, ihn mahnend wie das Gespenst den Hamlet.

Noch brodelte seine Feindschaft unter der Decke; sie grollte, aber blitzte nicht; ihn gelüstete ein Angriff, aber er wollte ihn noch nicht. Da erhielt er, wenige Tage nach der «Amazonenschlacht», verspätet die ersten Briefe aus der Ferne. Was für ein anderer Atem! «Gefeiert und verehrt im Kreise der lieben Ihrigen, werden Sie hoffentlich Ihren alten fernen Freunden...» Gefeiert und verehrt, o Ironie! die lieben Meinigen, o Jammer! «Ihre hervorragenden Eigenschaften, Ihre Kenntnisse, Ihre Herzensgüte werden nicht ermangeln...» Was für Neuigkeiten! was für verlernte Dinge! Er und hervorragende Eigenschaften! Kenntnisse! Waren das schöne Zeiten, wo noch jemand an ihm nichts auszusetzen, sogar etwas zu loben gefunden hatte. Diese Briefe wirkten wie ein Wecker. Nämlich sein Selbstgefühl, täglich von der Vielzahl mattgesetzt, war allmählich verblödet, und unmerklich hatte ihn ein neuer, engerer Horizont umzogen, der hiesige, so daß er nachgerade anfing, für selbstverständlich hinzunehmen, was ihn zuerst aufgebracht hatte: die Voraussetzung, er wäre das fehlerhafte Pferd, an welchem jeder herumbessern dürfe. Nun wachte er auf, der enge Horizont entschwebte, sein Stolz erinnerte sich, und sein Gedanke verglich. Was für ein Gegensatz! und welch ein Hohn im Gegensatz! Draußen in der Fremde: offene Arme, warme Aufnahme, gutwillige Duldung seiner Eigentümlichkeit, Nachsicht gegen seine Fehler; hier in der Heimat: engherzige Nörgelei, Unfehlbarkeitsdünkel, Verneinung seiner gesamten Persönlichkeit. Durch diese Vergleichung wurde alle Bitterkeit aufgerührt, die er seit sechs langen Wochen geschluckt hatte, und jäh wie er war, entbrannte er in heißem Kriegszorn. Nicht mehr schweigend dulden! zum Angriff. Ich will unter euch treten, euch die Pharisäermaske herunterreißen, euer heuchlerisches Prahlwörterbuch zerzausen. Haltet still und merket auf, was ich euch sagen will, denn ich will euch zeichnen. Seid ihr bereit? Gut, dann fange ich an. Das habe ich euch zu sagen: Eure «Tugend»? Ein Mundstück, um den Nebenmenschen zu verlästern. Eure «Offenheit»? Ein angemaßtes Vorrecht, dem Nächsten Schnödigkeiten anzuwerfen, ohne selber den mindesten Tadel zu ertragen. Eure «Aufrichtigkeit»? Ein Erlaubnisschein, einem hinterrücks noch viel Schlimmeres nachzusenden, als was ihr einem ins Gesicht sagt. Eure «Wahrhaftigkeit»? Erkauft euch durch Wahrheitspedanterei in Nebensachen die Erlaubnis, im entscheidenden Falle ausnahmsweise zu lügen. Wenn ich mit solch einem Wahrheitsbold ein Geschäft abzuschließen hätte, der Halunke müßte mir's schriftlich unter vier Zeugen geben! Eure «Gemütlichkeit»? Egoismus in Herdenformat, schafwollene Oberhautanwärmung; wettert ein Unglück, hilft keins dem andern. Eure Familienseligkeit, eure Verwandtenliebe? Wirf ein Erbschäftlein dazwischen und sieh dann die Liebe! Eure Musik? O ihr jauchzenden Eiszapfen! Eure Bildung, eure Wonne über Kunst und Literatur? Wenn man euch zur Rechten die Tür zum Paradiese auftäte und zur Linken einen Vortrag über das Paradies ankündigte, ihr würdet sämtlich am Paradies vorbei in den Vortrag laufen. «Interessant, interessant!»

So werde ich mit euch reden; macht euch gefaßt und setzt euch bereit. Leider fiel ihm ein, daß in den Empfangszimmern der Idealianer keine Kanzeln stehen, von wo man die Leute hätte insgesamt herunterstriegeln können wie eine bußfertige Gemeinde zur Fastenzeit. «Getrost, so werde ich euch die Bescherung einzeln auftragen. Der erste, der mir eine tugendhafte Miene gleißt, bekommt die ganze Schüssel. Wem beliebt's?» Und wie ein Stier senkte er die Hörner, den Feind erwartend. Allein wie er sich kampflustig umsah, war nirgends ein Feind zu erspähen. Alle standen ihm entgegen, doch keiner; ob ihn niemand sonderlich mochte, bot ihm niemand Übelwollen. Ja, wie aus absichtlicher Bosheit geschah es, daß gerade jetzt, wo er zum Kampfe gerüstet war, sich alle schienen das Wort gegeben zu haben, ihm Freundlichkeit zu bieten; womit sie ihn dann natürlich sofort entwaffneten. Die Möglichkeit, jemand auf die Hörner zu nehmen, der einem mit treuherzigem Gruß entgegenkommt! «Nun, wie geht es Ihnen? Hoffentlich haben Sie sich bei dem ‹unnatürlichen› Wetter nicht etwa auch erkältet?» Gierig, doch umsonst ersehnte er einen Feind. Der Kurt? ein wehrloser Mensch, der die Flucht ergriff, wenn er nur Viktors Hut im Vorzimmer erblickte; zudem hatte der Kurt, das war nicht zu leugnen, zwei schöne, gutblickende Augen; was kann man da tun? So wußte sein schnaubender Zorn nicht, wen aufspießen.

Einstweilen, in Ermangelung eines Feindes und eines Streitfalles, offenbarte sich sein ohnmächtiger Grimm durch eine mörderliche Laune. Sein Blick wurde drohend, seine Miene höhnisch, der Ton seiner Stimme herausfordernd, der Spruch seiner Behauptungen despotisch, jeden Einwand von vornherein verbietend. Ohnehin als ernster Wahrheitsdenker den Widerspruch angelernter Weisheit ungeduldig ertragend («ich liebe nicht, wenn man mit geliehenen Gedankengabeln gegen die Wahrheit fuchtelt»), setzte jetzt seine Stimme noch ausdrücklich die Warnung hinzu: «Untersteh dich, du Wicht, und widersprich!» Es fehlte ihm bloß die Leibwache von Söldnern, um den Gegner am Kragen packen zu lassen.

Damit erreichte er jedoch keineswegs den ersehnten Kampf; es ging ihm nur fortan jedermann aus dem Wege, wie einem unberechenbaren und unzurechnungsfähigen Tiere. Der Pfarrer, wenn über Viktor gesprochen wurde, nannte ihn jetzt einen toll gewordenen Nepomuk; der Doktor verglich ihn mit einer stigmatisierten Nonne, der Förster mit einem sonst durch und durch gutartigen, lammsanften, aber plötzlich aus unbekannter Ursache wild gewordenen Elefanten. Allerdings konnte er bisweilen einen Abend lang bescheiden und stumm dasitzen, trüb und traurig vor sich hin starrend; doch war man nie sicher, was für ein Unwetter vielleicht noch aufziehen mochte; da aber niemand die Verpflichtung hat, sich unliebsamen Überraschungen auszusetzen, ließ man ihn eben mit seiner stillen Wut allein.

Ein Beispiel: Der Doktor Richard hatte ein neues wissenschaftliches Werk gepriesen; «dieses Buch müssen Sie unbedingt lesen», schloß er, zu dem teilnahmslos dasitzenden Viktor gewendet. Schäumend sprang dieser in die Höhe: «Wie unterstehen Sie sich, mir Befehle zu erteilen?» Und den ganzen Abend ging es: «Herr Doktor, Sie müssen unbedingt diesen Bleistift in den Mund nehmen.» – «Herr Doktor, Sie müssen mir unbedingt mein Schnupftuch aus dem Überzieher holen.» – «Herr Doktor, Sie müssen jetzt unbedingt sofort nach Hause.» Nein, mit einem solchen Menschen zusammenzutreffen, dafür bedankte sich ein Jeder.

Als Direktors ein kleines Nachtessen veranstalteten, zu welchem auf des Statthalters steifen Willen auch Viktor geladen werden mußte, kamen in letzter Stunde Absagen über Absagen, so daß der grausam enttäuschten Hauswirtin zuletzt als einziger Gast der Unhold von Viktor nachblieb, den sie nun betrachtete wie einen Knopf im leeren Kirchenbeutel. «Bah!» tröstete er sich, «nässer als naß kann ich doch nicht werden.» Frau Direktor Wyß aber nannte seither den Viktor klipp und klar einen «Greuel».

«Mit dem Viktor ist's nicht mehr auszuhalten», lautete das allgemeine Urteil. «Der Viktor ist krank», antwortete die einstimmige Entschuldigung.

Die Entschuldigung sprach richtig: der Stier stand quadrato, das Blut floß ihm über die Nase. «Mein Gott, wie sehen Sie aus», schrie Frau Steinbach entsetzt, als sie einmal um die Straßenecke auf ihn prallte. Denselben Tag noch erhielt er eine besonders dringliche Aufforderung, sie zu besuchen. Vergebens; denn er scheute seine Freundin wie die leibhaftige Vernunft.

Viktor im Zweikampf mit seiner Feindin

Nässer als naß kann ich nicht werden», hatte er gemeint. Irrtum! Der Hauptguß kam erst. Es begab sich nämlich eines Tages, daß Frau Direktor Wyß in seiner Gegenwart gegen die Galanterie eiferte (Galanterie, das war auch so ein Uhu für die Idealia). «Hm, hm!» lächelte Viktor, «Sie würden nicht übel erbosen, Frau Direktor, wenn Ihnen ein Mann tatsächlich die Galanterie verweigerte.» Und da sie diesen Satz hochfahrend bestritt, beteuernd, weder verlange noch wünsche sie Galanterie, vielmehr wäre sie dankbar, wenn man sie damit verschone, reizte ihn der Geist der Wahrheit, daß er beschloß, ihr eine Lehre zu erteilen. Zu diesem Zwecke stellte er sich nachher beim Abschied im Vorzimmer auffällig vor sie hin, mit auf dem Rücken verschränkten Armen, und ließ sie ihre Pelzjacke allein vom Haken nehmen und anziehen. Die Ärmel waren zu eng, so daß es ein mühseliges Freiturnen absetzte. Ergötzt spotteten seine Blicke: «Merkst du jetzt, Maidlein, wozu die Galanterie nütze ist?» Doch siehe da, nicht möglich, sie merkte nichts; Widerlegung durch Rebus, Rückbeziehung einer Handlung auf frühere Reden, diesen Belehrungsstil verstand sie nicht; offenbar war ihr noch nie dergleichen vorgekommen. Dagegen spürte sie natürlich gar wohl die Absichtlichkeit seiner Hilfeversagung, weil er es ja auffällig tat und weil er überdies als überförmlicher «Zeremonienmeister» in Verruf stand. Folglich mußte sie seine Unterlassung als böswillige Beleidigung auslegen. Der Blick, den sie ihm zuwarf! kein Auge mehr, bloß ein weißer Gallert, mit einem Tintenfleck darin. – Was tun? Sie aufklären? Unnütz, sie glaubte es ihm doch nicht. Sich entschuldigen? Ein weibliches Wesen nimmt niemals eine Entschuldigung an. «Legen wir's zum übrigen; ist es doch nicht die erste Ungerechtigkeit, die du erleidest. Und wer weiß, vielleicht ist es auch nicht so schlimm, wie es aussieht.»

Es war jedoch so schlimm, wie es aussah. Wo und wann sie ihn fortan erblickte, entfuhr ihr ein Naturlaut des Hasses, etwas wie das Fauchen eines jungen Panthers: «Rha! Cha!», und mit schlankem Schwung drehte sie ihm den Rücken.

Das erste und zweite Mal nahm er's überlegen, fand sogar Freiheit genug, um seine Blicke an dem gelenkigen Rückenschwung zu weiden. Allein beim dritten Mal fuhr ihm jählings der rote Kasper in die Nase: «Ach du einfältiges Affengesicht in deinem Thusneldahöschen!» schrie es in ihm, «wenn ich wollte! wenn ich dich nicht schonte! Was gilt's, ich möchte handkehrum dein kindisches ‹Rha! Cha!› in ein schmachtendes Gugurr umwandeln. ‹Jetzt müssen Sie mich selber verachten› (Seufzer), ‹Wie kann ich fortan meinem Mann und meinem Kinde› (Tränen), ‹Aber wirst du mir auch immer› (Umarmung), und so weiter der ganze übliche Trallala. – Doch halt! Hand davon! ob du's schon verdient hättest mit deinem albernen Getu'. Ehebruch in Ehren; aber es muß wenigstens ein gesunder, gerader Ehebruch sein, Liebe um Liebe oder Lust für Lust; dagegen eine Frau hinterlistig mittels Kunst und Berechnung zu überrumpeln, eine unschuldige Familie aus gemeiner gekränkter Manneseitelkeit zu vernichten – denn die geht ins Wasser, wenn sie gefehlt hat, daran ist gar kein Zweifel –, holla! so etwas tu' ich nicht. Erstens, weil ich's nicht tue, zweitens, weil ich für meinen Lebensberuf eine saubere Seele nötig habe. Und dann ihr Mann, der mein Freund ist! Darum nein und nein und nochmals nein! Lauf hin und sag Dank, Bebé! Aber wenn du mich hassen willst, so tu es auch recht; was gilt's, ich will dich mich hassen lehren, daß du vor Wut die Wände hinaufspringst. Ich aber werde gelassen einen Rettich dazu verspeisen. Je gründlicher du mich hassest, desto inniger soll's mich freuen. Das glaubst du nicht? Getrost! ich werde dir's sogleich beweisen.»

Und begann sie – zwar immer in den Grenzen des Erlaubten, aber hart an der Grenze – aus Leibeskräften zu reizen und zu ärgern, zu welchem Zwecke er sich ihr rücksichtslos aufdrängte, schonungslos an ihrer Seite klebend. Je nach Laune bediente er sie mit Spott oder mit Hohn, auf geradem Wege oder auf Umwegen.

War seine Stimmung im Zeichen des Hohnes, so ließ er schauerliche Sprüche vom Stapel, welche ihre heiligsten Gefühle rundum drehten. Ob ihr nicht schon aufgefallen wäre, daß bei den Frauen oft eine erstaunliche Gemütsroheit zutage trete? Ob sie nicht auch schon beobachtet habe, daß man nirgends einen erschrecklicheren Mangel an Gemüt und Herz finde als bei den Musikbolden? Oder er bewunderte den treffsicheren Instinkt des Frauenherzens, welches mit wahrhaft genialer Unfehlbarkeit unter hundert Männern den größten Esel herausfinde, um sich in ihn zu verlieben. Oder befürwortete den Ehebruch als ein Erziehungsmittel für den Ehemann, damit er sich gegen seine Frau artiger betrage. Oder beklagte sein erbarmungswürdiges Schicksal, in diesem elenden Neste «zur Sittlichkeit verdammt» zu sein. Und warum man denn ihn und seinesgleichen Wüstlinge nenne, man müßte ihn vielmehr einen Schönling nennen, da er doch von der Schönheit des Frauenkörpers angezogen werde. Überhaupt, was das für ein verlogenes pharisäisches Gekeif gegen die Lüsternheit sei: «Wenn ich eine Frau unappetitlich finde, nicht wahr, so fühlt sie sich dadurch beleidigt; folglich, wenn mich der Appetit nach ihr lüstert, erweise ich ihr damit eine Huldigung, das ist doch klar.» Gelt, das schmeckt dir, wie wenn du eine Blindschleiche verschlucken müßtest? Wohl bekomm's, darum laß uns fortfahren. «Was ich nie habe begreifen können, ist das, daß ein Seeräuber mit einer geraubten Jungfrau Umstände macht. Sie kann ihn ja doch nur mit dem Gesicht gehässig ansehen, nicht mit den Beinen; das Gesicht aber ist in solchen Fällen Nebensache.» Noch mehr in diesem Stil gefällig? nein? Nun, darum also weiter. «Jeder Mann begehrt jeden Augenblick jede schöne Frau; wenn einer das abstreitet, so ist er entweder kein Mann, oder er lügt.»

Sie mochte ihm nicht die Ehre antun, mit ihm zu streiten; nur ihre Blicke verkündeten ihm: «Falls Sie etwa, mein Herr, das Unglück haben sollten, unter einen Eisenbahnwagen zu geraten, so würde ich das zwar aufrichtig bedauern, aber keineswegs beklagen.»

Worauf sein frecher Blick höhnisch erwiderte: «Gnädige Frau, falls Sie etwa geruhen, platzen zu wollen, so, bitte, sagen Sie mir's voraus, damit ich mir ein auserwähltes Stück sichere.»

War er gelinder gestimmt, so begnügte er sich mit der Verletzung ihrer Überzeugungen und Schulsätze, gegen ihren alpenrosenfarbigen Patriotismus, ihre hirtenselige Volksbegeisterung und dergleichen zielend.

Sie liebte auf Spaziergängen das Volkslied zu jauchzen: «Am Morgen in der Frühe, da melken wir die Kühe.» «Ja, können Sie denn überhaupt melken, Frau Direktor?» fragte er in bewunderndem Tone. – Und als sie mit einem andern Liede loreleite: «Jedem sag' ich einfach du», klatschte er eifrig Beifall. «Es war schon lange mein stiller Wunsch gewesen, daß wir uns duzten.» – Neben ihrem Bruder war ihr besonderer Staat ein langbeiniger Vetter namens Ludwig, der jahraus, jahrein ruhelos Gipfel stürmte; diesen stürmischen Ludwig nannte er einen Duliehu. – Und überhaupt, warum denn seine lieben Landsleute sich so gewaltig viel auf die Alpen einbildeten? «Sie haben sie ja doch nicht gemacht; hätten sie sie machen müssen, so wären sie wahrscheinlich etwas flacher ausgefallen.» Ohnehin, ganz abgesehen von den Alpen, würde die leblose Natur gegenwärtig unendlich überschätzt; die kleinste Zehe einer schönen Frau wäre vor dem Antlitz Gottes wertvoller als der anspruchsvollste Gletscherklotz, und er gestehe offen, in einem tadellos sitzenden Zylinderhut mehr Seele und Geist zu entdecken als in einem Sonnenaufgang; «denn einen Sonnenaufgang kann ein Mammut begreifen; einen Zylinderhut dagegen bloß ein Kulturmensch von feinem Geschmack.» – Oder er erteilte ihr unerbetene Ratschläge. Beklagte sie die vandalische Zerstörung der heimischen Altertümer, so riet er: «Kanonen auffahren und den hölzernen Plunder zusammenschießen!» Bedauerte sie das allmähliche Verschwinden der Trachten und der Dialekte, so empfahl er, man solle Verbrecher zur Strafe in die Volkstracht stecken und den Dialekt auf erblich belastete Familien beschränken.

In solchen Stimmungen waren Namensumtaufungen sein Lieblingsvergnügen. Ihre gemeinsame stolze Vaterstadt nannte er Muhheim; die hiesige Politik eine periodische Aufregung darüber, ob man den Franz oder den Fritz wählen solle. Statt eine «Roheit» sagte er: ein «Patriotismus», statt eine «Grobheit»: eine «Germanität»; Taktlosigkeiten nannte er «Dialektfehler der Seele»!

Zuweilen ärgerte er sie auf weiten Umwegen mit scheinheiliger, unschuldiger Miene. Zum Beispiel mittels Anekdoten und Denkwürdigkeiten, die er für den guten Zweck schlankweg erfand. – «Kennen Sie, Frau Direktor», konnte er harmlos anheben, «die Anekdote von der Gräfin Stepansky, Beethoven und dem Kapellmeister Pfuschini?»

«Ich will sie gar nicht kennen», schnurrte sie, eine Bosheit witternd.

«Da haben Sie unrecht, sehr unrecht, denn sie ist ebenso lehrreich wie ergötzlich. Als die Gräfin Stepansky, welche den Beethoven und den Pfuschini gleichzeitig zu Tisch gehabt hatte, gefragt wurde, welchen von den beiden sie für den Bedeutenderen halte, den Beethoven oder den Pfuschini, zog sie ein überlegen gescheites Gesicht: ‹Das läßt sich nicht vergleichen; jeder in seiner Art; sie ergänzen einander.›»

«Überhaupt die Musik und die Frauen! Wollen wir einen Versuch anstellen, gnädige Frau? Lassen Sie das genialste Musikmädchen im Konservatorium ausbilden, halten Sie nachher jede männliche Anregung von ihr fern, und sehen Sie nach zehn Jahren nach: sie hat den Flügel abgeschlossen und sich eine Katze angeschafft. Den Flügel, weil sie keine Zeit hat, die Katze, weil sie nicht weiß, was mit der vielen Zeit anfangen.»

Und als sie wieder einmal im Gespräch den Überwert des Weibes vor dem Manne behauptete: «Ich würde Ihnen mit Vergnügen beipflichten», sagte er, «wenn nur nicht die Frauen selber in unbeobachteten Augenblicken den Mehrwert des Mannes predigten.»

«?»

«Nun, freilich. Denn wenn einer Mutter nach sechs weiblichen Mißgeburten endlich ein Bub gelungen ist, so erhebt sie ein Siegesgegacker, als hätte sie den Messias geboren. Und alles Weibliche auf eine Quadratmeile im Umkreis eilt freiwillig herbei, um dem wundersamen Übermädchen unterwürfig zu dienen. Der ‹Bube›, der ‹Bubi›, der ‹Bub›! als wäre ein Bube ein Weltwunder. Aus dem Messias wird dann später ein Kantonsrat, wenn's hoch kommt.»

Mit alledem erreichte er in der Tat mühelos, was er erwartet hatte, nämlich ihren tiefsten, gründlichsten, herzinnigsten Abscheu. Nicht mehr «Rha! Cha!» rief sie bei seinem Anblick, sondern «Äh! Uäh!» wie vor einem schmierigen Lurch. Darüber frohlockte er dann, als hätte er weiß was für einen Sieg über sie errungen. «Siehst du jetzt», lachte er in sich hinein, «wie gleichgültig dein Urteil mir ist!» Und belustigt zog er einen Vergleich: «Von den Fröschen wolltest du sie erlösen, und nun bist du selber der Frosch.»

«Viktor, jetzt fange ich an, selber zu glauben, du bist wirklich verrückt. – Ein Grund mehr, um verrückt zu tun», lachte er.

Da hörte er eines Nachmittags, gerade wie er um eine Straßenecke biegen wollte, hinter sich mit lauter Stimme rufen: «Lama!» Und als er sich jähzornig nach dem Rufer umdrehte, fuhr die Stimme fort: «Du brauchst dich nicht umzudrehen; ich bin's, dein Verstand, der dich Lama nennt.»

«Mit welchem Rechte nennst du mich Lama?»

«Weil du mit Teufels Gewalt auf das Gegenteil von dem arbeitest, was du bezweckst.»

«Ich bezwecke ja gar nichts.»

«Doch, du bezweckst etwas, und ich will dir sagen, was. Du hast im geheimen, ohne daß du dir's selber gestehst, den Plan, das unerfahrene Dämchen dermaßen konfus zu ärgern, daß sie den Orient verliere und dir eines Tages vor lauter Horniszorn unversehens an den Hals fliege wie eine gewittertolle Bremse.»

«Und gesetzt der Fall, wäre denn die Berechnung gar so falsch? Es hat sich schon oft Weibeshaß urplötzlich in Liebe verwandelt.»

«Romani Romana», erwiderte der Verstand, «doch mach, was du willst, ich bin nicht deine Gouvernante!»

Viktor aber stutzte, von Zweifel berührt. Unsicher und verwirrt kehrte er nach Hause. Und wie er mit umsichtigem Geiste seine Stellung prüfte, erschrak er, von Schwindel ergriffen: er war auf einem falschen Wege; er hatte sich verstiegen. Nicht zu bestreiten, der Verstand hatte recht, Pseudas Haß war nicht von jener Art, die sich in Liebe verwandelt. Eine böse Entdeckung. Vorwärts konnte er nun länger nicht; denn nachdem ihm die geheime Hoffnung auf einen plötzlichen Umschlag geraubt war, hatte es keinen Sinn mehr, Pseudas Haß zu verstärken, das hieße ja nur, den Entfernungswinkel zwischen ihm und ihr zu vergrößern. Ja, aber was dann? Umkehren bis zum Ursprung und ganz von vorn anfangen? Sittiglich und sänftiglich zunächst ihren Haß beschwichtigen, hernach mühsam erst ihren Abscheu überwinden, hierauf die Abneigung heilen und dann geduldig, Schritt für Schritt, Stufe um Stufe um ihre gnädige Gunst werben? «Warum nicht gar! fällt mir nicht ein! Da müßte ich ja mein ganzes Selbstbewußtsein abdanken. Habe auch gar keine Zeit dazu. So weit sind wir übrigens, Gott sei Dank, noch lange nicht!» – Ja, aber wenn das nicht, was dann? Er mochte noch so scharf rundum spähen, nirgends ein Ausweg. Plötzlich stampfte er mit dem Fuße: «Wer verpflichtet mich denn, mich um sie zu kümmern? Mag sie bekehrt oder unbekehrt sein, im Sumpf oder im Tümpel waten, wenn sie will, was geht das mich an? Ich hin doch nicht ihr Beichtvater und Seelsorger. Oder meint sie etwa, ich gäbe Privatstunden in Psychologie? Viel zuviel Ehre, die ich ihr antat, sie zu ärgern. Aber ehe ich mich jemals wieder um sie bemühe, müßte sie mich erst angelegentlich darum bitten. Einstweilen fahr hin, ich kenne dich nicht. Was ist das – Frau Direktor Wyß? Lebt das im Wasser oder nistet es auf den Bäumen? Pickt es Körner oder frißt es Insekten? Gnädige Frau, haben Sie jemals einen Floh von einem Fingernagel springen sehen? Genauso springen Sie hiemit aus meinem Gedächtnis. Eins – zwei – drei! geschehen; nichts mehr. Pseuda, du bist nicht.»

Sprach's, drehte sich auf dem Absatz um und schlug ein Schnippchen. Oh, wie war ihm jetzt leicht, seit er dieses schädliche Geschöpf vergessen hatte! Ein böser Zahn, den er los war! Was nun mit der jungen Freiheit beginnen? Tausend köstliche Möglichkeiten winkten. «Wie wäre es zum Beispiel, wenn wir uns zur Abwechslung einmal in jemand verliebten?» Ein guter Einfall! denn seit unvordenklichen Zeiten hatte er diesen kleinen Sirup nicht mehr gekostet; das ist doch unnatürlich! Und zwar womöglich in ein ganz untergeordnetes, ungebildetes Geschöpf, damit, wenn sie's erfährt (und in diesem Klatschnest erfährt sie's sicher), es sie ärgert und demütigt. Also zum Beispiel in eine Kellnerin. Zu diesem Zwecke begab er sich, seinen Widerwillen gegen den Alkohol und dessen Huldinnen überwindend, ins nächste Wirtshaus. Pamela hieß sie, die ihn bediente. Die nötigte er neben seinen Platz und kandierte sie mit Redezucker, indem er nach bewährter Regel die Teile ihres Gesichtes einzeln einmachte. Eine Weile hörte die Pamela schmunzelnd zu, sich behaglich schmiegend wie eine Schnecke unterm lauen Mairegen. Bis sie unversehens rauchend und zischend hinter den Käsekatheder schnurrte, wie eine Katze, der man auf den Schwanz getreten hat. «Dummkopf, alter, ungebildeter!» keifte ihr Gruß. Ach so, er hatte ihre Perlenzähne gepriesen, und sie besaß gar keine Zähne mehr. Er hatte es nämlich nicht einmal über sich vermocht, sie nur anzusehen.

Am drittfolgenden Tage eilte ihm Frau Direktor Wyß freundschaftsstrahlend über die Straße entgegen. Ei sieh, welch eine plötzliche Verwandlung! Was soll das bedeuten? «Man darf, scheint's, Glück wünschen!» heuchelte sie, «auf wann die Hochzeit mit der Pamela?»

«Ach, du Verschmitzte!» – so hatte er's nicht gemeint.

Nein, mit der Liebe ging es nicht. Wie er gleich bei seiner Ankunft richtig geahnt hatte: auf diesem Kalkboden wächst keine Liebe. Versuchen wir's mit der Freundschaft. Ein gewisser Andreas Wixel, Archivar, war ihm hiefür besonders empfohlen, deshalb, weil ihn Frau Direktor Wyß nicht ausstehen konnte; einen scheuledernen Andreas pflegte sie ihn zu nennen. Für diesen Andreas verspürte er jetzt, unbekannterweise, plötzlich eine stürmische Zärtlichkeit, eilte, ihn aufzusuchen, und freundete sich ihm an, ganz gerührt von seinem scheuledernen Anblick. Der Wixel wiederum war gerührt von Viktors jäher Freundschaft, und um den Freundschaftsbund einzuweihen, verabredeten die beiden auf nächsten Sonntagnachmittag einen Ausflug auf die Guggisweid. Von dort stierten sie dann den unendlichen, schauerlichen Sonntagnachmittag auf die Stadt hinunter, zwischen einem kegelnden Turnverein und einer weinerlichen Blechmusik; Viktor stockstumm, die Blicke auf die Münstergasse geheftet, der Wixel querköpfiges Zeug über den Unterschied von Goethe und Schiller von sich gebend, in unerbittlichem Klavadatsch, daß es einen zum Erbrechen hätte erbarmen mögen. Es half nichts, Pseuda mochte sagen, was sie wollte, er war wirklich ein scheulederner Andreas, der Wixel.

Mit der Männerfreundschaft also war es auch nichts. Dann etwas anderes. Theater? Puh! was für ein Theater in dieser Stadt! Überhaupt liebte er nicht das Theater. Vielleicht ein Konzert? Gut; versuchen wir's mit einem Konzerte. Aber, o weh, da saß sie in der zweitvordersten Reihe, und mit einem Male tönten alle Instrumente falsch. Auch Besuche wurden ihm verleidet, dadurch, daß man ihm überall von einer gewissen sogenannten Frau Direktor Wyß sprach. «Wissen Sie nichts Neues von Frau Direktor?» – «Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?» und ähnliches. Dann suchte er mühsam an der Zimmerdecke in seiner Erinnerung: «Frau Direktor Wyß? Wo habe ich doch diesen Namen schon einmal gehört?» Sogar auf der Straße wurde er angeredet, damit er Nachricht über das Befinden einer Frau Direktor Wyß erteile, die ja doch gar nicht vorhanden war. Nein, er wußte zwar, daß es aufdringliche Weiber gibt, allein eine so unverschämt klebrige, harzige Klette wie diese sogenannte Frau Direktor Wyß hätte er doch nicht für möglich gehalten. Oh, diese Kleinstadt, wo man beständig über die nämlichen Menschen, oder wenn nicht über die Menschen, doch über ihre Namen stolpert! Wohin vor dieser unseligen, unvermeidlichen Direktorsgattin sich retten? Man müßte hinaus, weit hinaus aufs Land flüchten können, wo keine Ziege von ihr weiß.

Nun, warum denn nicht? Wozu ist denn die Eisenbahn da? Er erinnerte sich, einmal aus ihrem Munde den Ausruf vernommen zu haben: «Merkwürdig, ich bin in meinem ganzen Leben noch gar nie in Lengendorf gewesen.» Dieses Lengendorf war demnach erinnerungsrein, pseudasauber. Also fuhr er mit der Eisenbahn nach Lengendorf. Dort angekommen, gestattete er sich, um das Bewußtsein ihres Nichtvorhandenseins gründlich auszukosten, ein kleines, abgefeimtes Lustspielchen: Kaum ausgestiegen, begab er sich zum Bahnhofsvorstand und bat ihn mit der ausgesuchtesten Höflichkeit um die Gefälligkeit einer Auskunfterteilung. Er wäre nämlich nach Lengendorf gekommen, um eine gewisse sogenannte Frau Direktor Wyß zu besuchen; ob er vielleicht die große Liebenswürdigkeit haben würde, ihm den Weg nach ihrer Wohnung zu erklären. Der Stationsvorstand erstaunte, schüttelte den Kopf und rief den Kassier zu Hilfe; dieser den Türmann, der Türmann den Knecht vom «Hirschen» und den Kutscher vom «Storchen». Sämtlichen war der Name Frau Direktor Wyß unbekannt. Der Polizeidiener, ferner einige Herumstehende mischten sich in die Frage. «In Lengendorf», lautete einstimmig der bedauernde Bescheid, «wohnt eine Frau Direktor Wyß nicht»; und betrachteten den Viktor mit Beileidsmienen. Dieser aber frohlockte in seinem Herzen: «Siehst du jetzt, du anspruchsvolle, zudringliche Person, nicht einmal das Dasein deiner Wenigkeit ist bei den Menschen bekannt; folglich, was dünkst du dich so über alle Maßen wichtig?» Diese saubern Lengendorfer, die von Frau Direktor Wyß nicht einmal den Namen kannten, taten ihm's an; und mit herzgewinnender Leutseligkeit, wie ein Fürst, der inkognito abgestiegen ist, bezauberte er alles Lebendige, was ihm über den Weg lief, durch seine Liebenswürdigkeit. Den ganzen Tag spielte er den Kaiser Joseph; übrigens nicht nur äußerlich; nein, er hatte sie wirklich von Herzen lieb, diese guten, wackern, hochachtbaren Lengendorfer, welche Frau Direktor Wyß nicht einmal dem Namen nach kannten. Und die entzückende Umgegend, wohin sie nie den Fuß gesetzt! Diese freundlichen Waldhügelhäupter, nach welchen sie niemals einen Blick geworfen! Man atmete ordentlich auf in dieser Luft! Spürt ihr's nicht selber? Und pries das Lengendorfer Klima so überschwenglich, daß der Wirt «Zum Storchen», wo er eingekehrt war, von fremdenindustriellen Hoffnungen beschwingt, ihm mit flüsternder Stimme Preisermäßigung antrug, für den Fall, daß ihm etwa künftigen Sommer eine Luftkur in Lengendorf belieben sollte. Er hatte sogar keine kleine Mühe, seine schuldige Gebühr für das Mittagessen entrichten zu dürfen. Wie er am Abend schied, hatte er das ganze Dorf zu Freunden, vom Doktor und Pfarrer bis zum Hausknecht und Hofhund. Gerührt und glückselig fuhr er heim, denn selten hatte er so ungetrübte Stunden verlebt. Entschieden, er hatte das Landvolk bisher weit unterschätzt.

Noch ganz verträumt dem idyllischen Tage nachsinnend, drängte er sich bei der Heimkunft in die Stadt durch die Menschengruppen im Bahnhof. Pfui Ärger; da stand sie selber, im Gespräch mit dem Professor Pfininger, und mit der Seligkeit über ihr Nichtvorhandensein war es vorbei.

«Jetzt, bitte, wo sind die Naturgesetze? und was sagt denn dazu die Logik? Wenn sie nicht existiert, so kann ich sie doch unmöglich sehen; und wenn ich sie sehe, so muß sie doch existieren; sie existiert ja aber doch nicht, wie kann ich sie dann sehen? Da soll ein Sophist klug daraus werden! – Ich weiß nur noch ein einziges Mittel: ich schließe mich in mein Zimmer ein; durchs Schlüsselloch wird sie schwerlich den Weg finden!» Schloß die Tür, schob den Riegel vor, legte sich aufs Sofa und drehte die Daumen. Nachdem er eine Weile so gelegen hatte, erschien im Zimmer etwas wie ein Lichtnebel; der Nebel verdichtete sich mehr und mehr, ein menschliches Antlitz leuchtete daraus hervor, immer deutlicher und schöner, und siehe da, es war ihr Antlitz. «Jetzt, Pseuda», sprach er sanft, aber ernst, «jetzt rufe ich dein Billigkeits- und Gerechtigkeitsgefühl an. Gegen deine Abneigung, deinen Haß will ich nichts einwenden; die Straßen, die Stadt, die gesamte Außenwelt überlasse ich dir; aber den Hausfrieden achte; auf meinem Zimmer sollst du mich nicht heimsuchen.»

«Aber! aber! Viktor!» belehrte ihn der Verstand, «Sie ist ja doch nicht selber da, sondern einzig Schwester Anastasia Phantastasia gaukelt dir etwas vor.»

«Die könnte auch etwas Gescheiteres gaukeln!» meinte er ärgerlich.

«Ich gaukle, was ich will», maulte die Phantasie, «der Pseudakopf gefällt mir nun einmal; wenn du anderer Ansicht bist, so brauchst du einfach nicht hinzusehen, niemand zwingt dich dazu.» Und blieb bei ihrem Spiel; so daß Viktor nun auf seinem Zimmer, mit seltenen Pausen, beständig den Pseudakopf um sich schweben hatte; namentlich des Abends, wenn Dämmerung das Zimmer füllte. Was war da zu machen? Es scheint, er war nun einmal dazu verurteilt, immer und überall diese eingebildete, aufdringliche Null vor Augen sehen zu müssen. Schließlich: eine Störung ist noch lange kein Unheil; andere haben Mücken im Zimmer, er hatte Pseuda; der ganze Witz besteht darin, sich nicht darüber aufzuregen. Und fand sich mit der Tatsache ihrer Allgegenwart in Weisheit ab.

Plötzlich, wie eine Granate in ein Haus, schlug ihm die Nachricht zu Ohren, sie wäre krank. Das war abends gegen sieben Uhr; das Dienstmädchen hatte es heimgebracht. Nachdem er sich von seiner ersten Bestürzung erholt, verspürte er eine wilde Aufregung und Verwirrung, als hätte er einen Ameisenhaufen in sich und er läge mitten darin. Wie sollte er sich nun zu dieser Tatsache stellen? Von herzlicher Teilnahme konnte natürlich keine Rede sein; oh, weit weg davon! Seine boshafte Feindin! die Verräterin der Parusie! die Vergifterin Imagos! Anderseits konnte er wieder nicht umhin, sie aufrichtig zu bedauern; denn sie war ja trotz allem in diesem Augenblick ein leidendes Geschöpf. Wo ist nun da die scharfe Trennungslinie? und welches ist die genaue, richtige Mitte? Eine schwierige Aufgabe für das Gefühl, und noch dazu eine gefährliche; denn wenn er Pseuda nur ein wenig zuviel bedauerte, so sähe es ja danach aus, als ob sie seinem Herzen nicht gleichgültig wäre; wenn er sie aber zuwenig bedauerte, so stand er da als ein gemütloser, hassenswürdiger Mensch. Diese Aufgabe war so schwierig, daß er sich bis Mitternacht den Kopf darüber erhitzte, und um Mitternacht war er nicht klüger als am Anfang, im Gegenteil. Und wehe! eine schlimme Möglichkeit! wenn es nun eine ernstliche Krankheit wäre! wenn sie am Ende gar...! Doch nein, das wäre ja geradezu eine teuflische Bosheit vom Schicksal, ihn durch solche niederträchtige Kunststücke zwingen zu wollen, dieser Verräterin herzlich gut zu sein. Und die andere Hälfte der Nacht verbrachte er in angstvollem Gebet an das Schicksal, daß sie gesund werden möge, damit er ihr nicht gut sein müsse. Durch diese heftige Gemütsarbeit war er dann am Morgen dermaßen verstört, daß er selber halb krank aus dem Bette stieg.

Das Frühstück verschmähend, eilte er in die Münstergasse. «Statthalter, wie geht es Ihrer Frau; hoffentlich nichts Schlimmes?» rief er ihm schon vom Hausflur angstvoll entgegen.

Der Statthalter erstaunte: «Warum? sie ist doch nicht krank; höchstens ein wenig Zahnschmerzen. – Aber warum nennen Sie mich denn Statthalter?»

«Nichts, nichts», jauchzte er und eilte erleichtert davon; das Schicksal hatte also sein Gebet erhört. Allein Zahnschmerzen, ob es schon nichts Gefährlicheres ist, das tut weh. «Halt! etwas Hübsches, sehr Hübsches! Weißt du – unbeschadet des Kriegszustandes, in welchem ich mich mit Pseuda befinde –, zum Dank dafür, daß sie mir nicht krank geworden ist, will ich ihr jetzt auch etwas Artiges erwidern (man kann ja auch einen Krieg ritterlich führen). Also paß auf. Während sie Schmerzen leidet – meinst du nicht? –, will ich ebenfalls Schmerzen leiden, und zwar genau an der nämlichen Stelle, also an den Zähnen. Gelt, das ist fein? das ist hübsch? das ist eine höfliche Kriegsführung?» Ging hin und klingelte beim Zahnarzt Effringer, dessen Wohnung er leider schon kannte. Er solle ihm den und den Zahn ausziehen, begehrte er.

«Der Zahn ist ja ganz gesund! Sie meinen wahrscheinlich eher den faulen Stockzahn daneben? Um den Kerl wäre es allerdings nicht schade.»

Viktor kämpfte mit seinem Gewissen: Ist es auch anständig, mit dem Schmerz zugleich einen Nutzen zu verbinden? Schließlich entschied er sich doch lieber für den bösen Stockzahn als für einen gesunden.

Als dann der Effringer mit seinem Lachgas anrückte, meldete sich das Gewissen zum zweiten Mal: «Viktor, schäme dich! warst gekommen, um Schmerzen mit ihr zu leiden; und nun willst du Feiglings an den Schmerzen abmarkten.»

Wohl schämte sich Viktor. Allein in Anbetracht der unheimlichen Zange fand er es doch für zuträglicher, das tröstliche Zeug, das er zwar nicht verlangt hatte, nicht abzulehnen, als es freiwillig ankam. Um indessen sein Gewissen einigermaßen zu versöhnen, ließ er sich gleich noch einen zweiten Stockzahn ziehen, ebenfalls einen wurmstichigen, und wieder mit Lachgas.

Nachher auf dem Heimwege kam er nicht mit sich ins reine, ob er nun eigentlich etwas Ansehnliches geleistet habe oder nicht. Auf der einen Seite ist es doch nichts Alltägliches, sich zwei Zähne ziehen zu lassen, nur weil ein anderer Mensch Zahnschmerzen hat, andererseits sind zwei faule Zähne gerade kein so fleckenloses Opfer, und Schmerzen mit einem schmerzstillenden Mittel zu dulden, für dieses Martyrium hätte ihn schwerlich ein Papst heiliggesprochen.

Allein er fühlte sich plötzlich ein wenig angegriffen und schwach, so daß er sich gerne irgendwo hingesetzt hätte. Als Privatmensch aber, der niemals Wirtshäuser besuchte, verfiel er nicht auf diese nächstliegende Auskunft, sondern wußte im Augenblick keinen anderen Rat, als trotz der ungebräuchlichen Stunde (es war ein wenig mehr als neun Uhr) die Gastlichkeit eines Bekannten in Anspruch zu nehmen. Frau Doktor Richard wohnte am Wege. Sie möchte gütigst entschuldigen, er fühle sich nicht ganz wohl. Eifrig besorgt machte sie sich um ihn zu schaffen; nötigte ihn aufs Sofa, zwang ihm ein Gläslein Malaga auf, das ihm wirklich gut tat, und als er sich dankend entfernen wollte, überredete sie ihn zu bleiben. «Sie sind immer noch ein bißchen blaß; ich versichere Ihnen, Sie stören mich nicht im mindesten.» – Als er ungefähr ein halbes Stündchen so dagesessen hatte, trat in Hut und Mantel ein lebhaftes, mutsprudelndes Fräulein herein.«Dieses hübsche Fräulein», sagte Frau Richard, «muß Ihnen besonders sympathisch vorkommen – abgesehen davon, daß sie ohnehin jedermann sympathisch vorkommt – oder nicht? –, ich meine besonders sympathisch, weil ihr Frau Direktor Wyß vorzeiten einmal das Leben gerettet hat.» Darauf vorstellend: «Fräulein Marie Leona Planita, die beste Klavierspielerin unserer Stadt, und zugleich, wie Sie bemerken, das reizendste Geschöpflein, das jemals den Männern den Kopf verdreht hat.»

«Ja, ohne Frau Direktor Wyß wäre ich nicht hier», bestätigte Fräulein Planita mit einem auflodernden Dankesfeuer im Blick, «und ich machte nicht so viele Dummheiten im Leben und Fehler in den Oktavengängen. – Ja», lachte sie, «sie hat mich aus der Taufe gehoben.»

Frau Doktor Richard gab ihm mit zwei Worten Aufschluß: Es war in der Schulzeit gewesen; beim Baden war die Marie Leona in eine Tiefe geraten, und die schöne Theuda (wie sie schon damals allgemein genannt wurde) hatte sie herausgezogen.

«Nur so eins, zwei in den Kleidern ins Wasser gesprungen, als wäre das die natürlichste Sache der Welt», ergänzte Fräulein Planita. «Ich sehe noch ihren Blick vor mir, wie er mich traf, als ich so mit den Händen herumpatschte und nicht schreien konnte, weil ich den Mund voll Wasser hatte. Ich hatte noch nicht einmal Zeit, tot zu sein, so war ich schon wieder am Leben. Aber übel war mir nachher! übel! das kann ich Ihnen sagen! – Ja, es gibt zwar viel Schönes in der Musik, und ich bin gewiß die erste, dies mit dankbarer Bewunderung anzuerkennen, aber alle Musik zusammen reicht doch an Schönheit nicht an den einzigen Blick heran, der mir zurief. ‹Getrost, Marie Leona, ich helfe dir.› Ein halb Dutzend Mädchen badeten in meiner nächsten Nähe, sie hätten bloß die Hand auszustrecken gebraucht; aber nicht eine von ihnen hat etwas gemerkt; sie hätten mich alle verzappeln lassen. – Und keins von uns beiden konnte schwimmen, weder ich noch Theuda. Wie wir da nicht beide zusammen ertrunken sind, begreife ich heute noch nicht.»

Bei dieser Erzählung machte Viktors Herz ein Gesicht wie der Bauer, wenn ihm ein Meteorstein vor den Pflug fällt. Wie bringt diese boshafte Frau Direktor Wyß es fertig, einer solchen edlen Aufopferung fähig zu sein? Oder versparte sie vielleicht ihre ganze Bosheit nur für ihn? Warum aber gerade denn für ihn? Hundert Gedanken pochten ungestüm an seinem Geist um Einlaß. Allein er vermochte gegenwärtig keinen Gedanken anzuhören; er mußte nur immer dieses frische, lebhafte Jüngferlein ansehen, welches ohne Frau Direktor Wyß im Grabe modern würde. Und als Fräulein Planita sich erhob, bot er ihr sein Geleit an, um die mit einem Wunder Behaftete noch länger ansehen zu können. «Darf ich Sie heimbegleiten, Fräulein Lazarus?» fragte er.

Sie lachte. «Ja, Fräulein Lazarus, so kann ich füglich heißen.»

«Oh, jetzt ist mir um unsern Viktor nicht mehr bange», scherzte Frau Richard, «denn wenn der ein hübsches Fräulein heimbegleiten darf, ist er augenblicklich genesen.»

Nachdem sich Viktor von Fräulein Lazarus verabschiedet hatte, fuhr er in seinen Gedanken fort: «Wenn ich am Ertrinken gewesen wäre, mir hätte sie nicht die Hand gereicht! O nein! mit Steinen hätte sie nach meinem Kopf geworfen! Doch halt! wer kommt dort? Fast hätte ich geglaubt – wahrhaftig, sie ist es: die leibhaftige Pseuda! Anscheinend ganz gesund und fröhlich, nicht einmal die bewußte Unglückswatte um die Wangen.» Jetzt, das ist merkwürdig, das gibt zu denken: hatte vielleicht das Opfer seiner beiden Zähne ihre Peiniger besänftigt? Eigentlich Wahnsinn; immerhin doch nicht ganz unmöglich. Im Bewußtsein seiner verdienstlichen Opferhandlung schritt er ihr ein wenig zuversichtlicher entgegen als sonst. Beinahe ein kleines Wörtlein des Dankes erwartete er. Siehe, da gaffte sie ihn fremdsachlich an, als ob sie ihn nicht erkenne, drehte sich abseits und betrachtete aufmerksam in gebückter Haltung, bis er vorüber war, einen Hut im Fenster einer Modenhandlung.

«Gut so! fahr weiter! Jetzt grüßt sie mich nicht einmal mehr! das fehlte eben noch!» Und mit königlicher Verachtung den Arm ausstreckend: «Da hast du's, so sind die Menschen! Während du dir ihretwegen die Nächte vergällst, den Schlaf versagst, verweigert sie dir den Gruß!» Und so niedrig schien ihm ihr Verhalten, daß er es mit erhabener Gleichgültigkeit aus dem Sinn warf. Aber empörend war es doch gewesen. Und die Empörung wühlte nun nachträglich seine Seele auf, mit jedem Schritt heftiger, unter bittern Gedanken, so daß es ihm schließlich geradezu wehe tat, als ob man in seinem Zorn ein Messer umdrehte. Entschieden, es war so: alles Böse ihm, das Gute den andern. Immerhin, wenn man's bedenkt: es braucht doch eine bodenlose Schlechtigkeit dazu, mit Steinen nach einem Ertrinkenden zu werfen! Und würgte beständig an dem bösen Brocken. Was aber geradezu teuflisch war: sie hatte gerade heute äußerlich noch viel schöner ausgesehen als je, seit er die Geschichte mit Fräulein Lazarus wußte.

Plötzlich tauchte in dem Erinnerungsbilde ein fraglicher Punkt auf. «Hat sie nicht hinter den Augen heimlistig gelächelt, als sie dich so fremdsachlich angaffte? Ihr Blick schien mir verdächtig.»

Er kam den ganzen Tag nicht zu einer bestimmten Ansicht hierüber. Aber als ihm abends im dunkeln Zimmer wie gewöhnlich wieder der Pseudakopf erschien, und zwar noch leuchtender als sonst, siehe da, kein Zweifel mehr, jetzt sah er es mit aller Deutlichkeit: sie lächelte heimlistig hinter dem Blicke.

Darob wallte sein Zorn: «Was soll dies Lächeln?» rief er drohend, «Lächeln ist eine vieldeutige Sprache; ich fordere redliche Auskunft. Pseuda, ich befehle dir, mir zu sagen, aus welchem Grunde du hinterlistig über mich lächelst.»

Anstatt einer Antwort erschien jetzt mitten zwischen dem hinterlistigen Lächeln ein spöttischer Punkt, der sich mehr und mehr vergrößerte.

Darob entfuhr ihm ein Wutschrei: «Weib, boshaftes! spotte nicht! Genug, daß du mich mit deinem giftigen Hasse verfolgst, täglich und stündlich hinter mir her, ohne Ruhe und Unterlaß, mit Steinen nach mir werfend, wenn ich ertrinke, aber spotte nicht, verstehst du, spotte nicht, das verbiete ich dir.» Allein der spöttische Punkt blieb, als ob er nichts gesagt hätte; und siehe, jetzt erschien, von unsichtbarer Hand bewegt, ein triumphierendes Siegesfähnlein über dem leuchtenden Spottgesichte.

«Was triumphierst du?» schrie er. «Was für einen Sieg hast du denn über mich errungen? Ich wüßte nicht, welchen! Also bitte, im Namen des guten Geschmackes, tu mir den Gefallen, laß das alberne Triumphtüchlein unterwegen!»

Doch es war, als ob er nichts gesagt hätte. Das Siegesfähnlein blieb, und sieh die neue Bosheit: das Spottlächeln ihrer Augen versetzte sich abwärts um die Mundwinkel, welche sich jetzt zu frechem höhnischen Grinsen verzerrten. Und das Grinsen nahm mehr und mehr einen höllischen Ausdruck an. Schließlich wurde aus dem Menschengesicht eine Teufelsfratze mit Hörnern und Schnabel, so eine Art höllischer Spottvogel, der aber doch zugleich die schönen Züge Pseudas aufwies.

Das war denn doch Viktors klarem Geiste zu viel. «Hinweg, Phantom!» rief er und schlug nach dem Phantom. Da barst das Phantom entzwei und flüchtete nach allen Seiten. Aber langsam, langsam kehrten die einzelnen Teile zurück, aus der einen Ecke das Siegesfähnlein, aus einer andern der teuflische Spottvogel mit Hörnern und Schnabel und aus der dritten Pseudas schönes Menschenangesicht; und sämtliche Teile blieben fortan durch einen Zwischenraum getrennt. Statt eines einzigen Phantoms hatte er nun drei. Da überfiel ihn bleiche Angst. «Viktor, was ist jetzt das? Bist du etwa wahnsinnig?» Mit scharfem Geiste prüfte er seine Gesundheit. «Was ist das Merkmal des Wahnsinns? Daß man Phantome nicht für Phantasiegebilde erkennt, sondern mit der Wirklichkeit verwechselt. Tust du das?» – «Fällt mir nicht ein; ich weiß gar wohl, daß ich bloß einen Phantasiespuk vor mir habe, nur gelingt es mir eben nicht, mit dem Willen den Spuk zu beseitigen, weil ich eben mit einer übermächtigen Phantasie behaftet bin.»

«Dann gut, laß die Phantasie spuken und kümmere dich nicht darum.» Und beruhigt legte er sich schlafen.

Den nächsten Morgen, wie er im nachtschwarzen Zimmer die Augen öffnete und bei allmählich erwachendem Bewußtsein durch den Gedankennebel die Erinnerung sich zu regen anfing, gewahrte er den ganzen Spuk von neuem: das triumphierende Fähnlein, den höhnisch grinsenden Teufelsvogel, die schöne menschliche Pseuda.

«Ja, soll jetzt das so fortgehen?» Es ging so fort. Sein gesamter Lebensinhalt, Sekunde für Sekunde ward jetzt der Kampf mit seiner Phantasie, die Berichtigung des Phantoms, die bange Sorge, nicht etwa den Spuk mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Eine angestrengte, fürchterliche Arbeit, die für keinen anderen Gedanken mehr Raum ließ. Und das Verzweifeltste dabei: die Arbeit war zugleich nötig und zugleich vergeblich; nötig, damit er dem Wahnsinn entrinne, vergeblich, weil, was die eine Stunde mit unendlicher Mühe erstritten hatte, die nächste Stunde wieder vernichtete. Als wäre nichts gewesen; vom Morgen bis zum Abend immer das höllische Trio ihn umschwebend, erbarmungslos, ohne einen Atemzug Pause. Und statt zu schwinden, wuchs es ins Riesige, ins Ungeheuerliche. In der Finsternis grinste es ihn aus den Zimmerecken an, am Tage vom Fenster, von den Dächern, von den Hügeln, von überall.

Wahnsinnig wurde er nicht, aber rasend. Es kam vor, daß er wutschreiend durch die Wälder rannte, daß er einen Menschen, der friedlich mit ihm sprach, plötzlich wild anfletschte, weil er das höllische Phantom zwischen sich und jenem erblickte. Und in seinem Innern flutete unaufhörlich ein schwarzer Strom, das Bewußtsein umkreisend, mit roten Flecken darin, als ob aus einer Wunde blutige Tinte quölle.

Eines Abends unterlag er der Müdigkeit: «Ich kann einfach nicht mehr, ich weiß nicht mehr aus und ein.»

Da war ihm, als ob er einen schönen Mann neben sich erblickte, der ihm die Hand auf die Schulter legte. «Viktor», sprach der schöne Mann, sonst nichts.

Viktor schaute den schönen Mann kummervoll an, darauf senkte er die Stirn, die er mit den Händen stützte. «Ich will gut sein», murmelte er schließlich, «das ist das einzige, was ich noch verstehe.»

«Ja, sei du gut», tröstete der schöne Mann, «alles übrige, Wahnsinn oder nicht Wahnsinn, ist ja schließlich Nebensache.»

Nach diesen Worten versiegte der schwarze Strom mit der blutigen Tinte aus der Wunde. Die Gespenster dagegen beharrten nach wie vor.

Das war an einem Donnerstag. Am Samstagmorgen gewahrte er sie leibhaftig auf der Straße, etwa einen Steinwurf entfernt vor ihm einhergehend, durch andere Leute von ihm getrennt. «Ah, hab' ich dich endlich!» seufzte er auf und eilte ihr im Laufschritt wolfsgierig nach. Und da er die Augen des schönen Mannes auf sich gerichtet sah: «Keine Besorgnis! weder ein scharfes Wort noch eine unziemliche Bemerkung; nichts als dem tückischen Feind, der mich aus dem Unsichtbaren hetzt, in die Augen sehen.»

Als er sie eingeholt hatte, erstarrte er, sprachlos vor Verblüffung. «Nichts als das?» Zusammengeschrumpft in kläglicher Begrenzung, lächerlich klein, das Ganze kaum ein Meter achtzig hoch, schritt sie einher; nichts von ihr außerhalb ihrer Haut; keine Phantome um sie herum, keine Spiegelfechterei, keine Ungeheuerlichkeit. Und der geschmacklose Hut, den sie aufhatte! Welch eine erbärmliche Entpuppung!

Hiermit hatte er den Talisman gegen ihre teuflischen Gaukeleien gefunden. Er brauchte sie nur körperlich vor sich zu haben, so war es mit ihren Zauberkünsten vorbei. Offenbar – mit Hinterlist ist ja meistens Feigheit gepaart – fürchtete sie sich vor ihm. Deshalb begab er sich nun so oft als möglich zu ihr heim und bannte sie mit seinen drohenden Blicken, vor ihrem Gesichte lauernd wie die Katze vor dem Mauseloche. «Gelt, du getraust dich nicht?» und weidete sich an ihrer Ohnmacht. Eigentlich, es nahm ihn doch wunder, hätte er gerne einmal mitangesehen, wie sie den Gespensterspuk bewerkstellige; ein Frauenkopf plötzlich in einen Vogelkopf verwandelt, das sieht man nicht alle Tage. Zu diesem Zwecke, also um sie beim Gesichtertausch zu überraschen, blickte er sie zuweilen, wenn sie es am wenigsten erwartete, blitzschnell an. Doch vergebens, sie war geschwinder als er.

Die Phantome aber, da sie sich entlarvt sahen und inne wurden, daß sie ihren Meister gefunden hatten, gaben das Spiel auf, erschienen noch ein paar seltene Male, doch ohne Überzeugung, nur um das Gesicht zu retten; endlich blieben sie gänzlich aus.

Das hätte noch eine unabsehbare Weile so weitergehen können.

Da ereignete es sich eines Abends, im Beisein eines anderen Gastes, aber in Abwesenheit des Statthalters, daß sie dem andern, nachdem sie verschiedene gleichgültige, unnütze Lieder vorgetragen hatte, auch jenes Lied singen wollte, das sie einst ihm, dem Viktor, in der Parusie gesungen hatte. Sie tat das ohne Arg, da ja für sie jenes Lied einfach ein Musikstück wie jedes andere bedeutete. Er aber spürte vor der bevorstehenden Entweihung seines heiligsten Besitzes einen wahnsinnigen Schmerz toben. «Das Ewigkeitsgold der Parusie durch gemeine Übermalung besudeln! Das Grab Theudas, ihrer Schwester, meiner Braut, einem Fremden vorzeigen! fühllos, lediglich zur Kurzweil, noch dazu in meiner Gegenwart! Ist das nun Teufelsbosheit oder Vertiertheit?» Ohnehin mit Wort und Rede kläglich beschlagen, verlor er in solchen Zuständen höchster Erregung die Stimme. Stummen Entsetzens verfolgte er, wie sie das Notenheft, jenes nämliche Heft von damals, nur mittlerweile ein wenig an den Rändern angegilbt, hervorkramte und gleichgültig auf dem Klavierpult ausbreitete. Als sie sich jedoch zum Singen zurückstellte, erzwang er, vorspringend, gewaltsam die Sprache: «Dieses Lied werden Sie nicht singen!» verbot er. Er hatte flehentlich darum anhalten wollen, allein Schmerz und Empörung verwandelten ihm unterwegs vom Herzen zur Stimme die Bitte zum schroffen Befehl.

Heftiger Unwille rötete ihre Stirn. «Ich möchte denn doch wissen», trotzte sie, «wer sich erlaubt, mir verbieten zu wollen, jene Lieder zu singen, die ich will.»

«Ich», stöhnte er.

Jetzt erst, jetzt erst recht mochte sie das Lied singen; seinem anmaßlichen Verbot zum Trotz. Öffnete den Mund und sang wahrhaftig das Lied der Parusie; wahrhaftig, sie sang es, erbarmungslos, eine unendliche Zeit, von der ersten Note bis zur letzten. Und er mußte dabeisitzen und es über sich ergehen lassen. Er fand die Kraft, an sich zu halten und sich nicht zu bewegen. Kaum aber hatte sie geendet, so lud er seinen Blick mit leidenschaftlicher Beleidigung, stand auf, trat vor sie hin und warf ihr aus den Augen ins Antlitz Verachtung.

«Halt da!» drohte ihr Auge zurück. «Entschlüpft Ihnen jemals ein einziges unehrerbietiges Wort...»

Nein, so konnte es nicht weitergehen; es mußte sich etwas entscheiden. Und neugierig, obschon vergeblich, befragte er seine Ahnung, was.

Viktor ergibt sich

Dem unverhofften Frühschnee zum Gruß – man war ja fast noch im Oktober – hatte die Idealia eine Schlittenfahrt veranstaltet, und auf dem Rückweg wurde in einem Waldwirtshaus eingekehrt. Als nach genossenem Tee Viktor gleich den übrigen seinen frühern Schlitten wieder aufsuchte, zeigte der Kutscher, der ihn zusammen mit Pseuda und zwei andern Herren geführt hatte, mit der Geißel nach vorn. «Eure Frau sitzt jetzt im vordern Schlitten.» Der hatte demnach, wer weiß warum, mag sein, weil sie sich beständig zankten, Viktor und Pseuda für Mann und Frau gehalten.

«Warten Sie einen Augenblick», rief Viktor leidenschaftlich, und hastig seine Börse ziehend, drückte er ihm ein Goldstück in die Hand.

Der Kutscher spiegelte das Geld im Laternenschein. «Das ist ja ein Goldstück», machte er verwundert, fast vorwurfsvoll.

«Weiß schon. Behalten Sie's nur.»

"Ja wofür denn?»

«Weil Sie unter vielen Tausenden der einzige vernünftige Mensch in der Stadt sind.» Nach diesen Worten setzte er sich ein und sprach auf der ganzen Heimfahrt kein Wort mehr. Kaum jedoch zu Hause angelangt, berief er seinen Verstand:

«Ich habe dich zwar in der letzten Zeit ein wenig stark vernachlässigt. Nimm mir's, bitte, nicht übel und hilf mir.»

«Ich nehme überhaupt nie etwas übel», erwiderte der Verstand. «Womit kann ich dienen?»

«Das und das ist mir in der Aufregung entschlüpft. Es kommt mir ein wenig verdächtig vor. Sag mir offen, was bedeutet das?» Und erzählte ihm den Vorfall mit dem Goldstück.

«Ja, willst du wirklich die Wahrheit hören?»

«Jedenfalls die Wahrheit. Nur nicht sich selber anlügen, nur das nicht.»

«Gut, so setz dich und hör zu. Aber rechne genau nach, ob ich nicht etwa einen Fehler mache. Also, ich fange an: Indem du dem Manne ein Goldstück schenktest, dafür, daß er Pseuda für deine Frau hielt, wolltest du ihn dafür belohnen, nicht wahr?»

«Selbstverständlich.»

«Und wenn du ihn dafür belohnen wolltest, so beweist das, daß dir sein Irrtum lieblich tönte.»

«Vielleicht.»

«Nicht ‹vielleicht›, ich verlange bestimmte Antwort. Ja oder nein?»

«Nun denn, meinetwegen ja.»

«Nicht ‹meinetwegen ja›, sondern bündig: ja oder nein?»

«Ja.»

«Gut. Ich fahre fort. Wenn aber schon die bloße irrtümliche Vorstellung eines Dritten, noch dazu eines gleichgültigen, wildfremden Menschen, eines Kutschers, Pseuda wäre deine Frau, dir armen Schlucker ein Goldstück wert war, so verrät das, daß du namenlos selig sein würdest, wenn Pseuda in Wahrheit deine Frau wäre.» Und da jetzt Viktor mit einer Verwünschung aufsprang, tollwütig gegen den Spruch lärmend, bemerkte der Verstand gelassen: «Ja, wenn du nur das hören willst, was du hören möchtest, so kauf dir einen Lakaien. Leb wohl, ich gehe.»

«Nein, bitte, bleib, es war nicht böse gemeint. Also, du hieltest es wirklich für möglich? Unsinn! Man kann doch nicht lieben, wenn man geringschätzt.»

«O lala! Nichts Gewöhnlicheres als das! Lieben müssen, wen man geringschätzt, ist das Tagblatt der männlichen Liebe. Übrigens ist es ja nicht einmal wahr, daß du sie geringschätzest; du möchtest es wohl, allein es gelingt dir nicht. Und es kann dir nicht gelingen; deswegen, weil du sie im geheimen bewunderst; und du mußt sie bewundern, weil du weder verblendet noch unbillig genug bist, um ihre bewundernswerten Eigenschaften nicht bemerkt zu haben. Doch wozu das Gerede? Zeig mir in meiner Rechnung irgendeinen Fehler.»

Da ward Viktor zumute wie einem, der bei gesundem Befinden ein sonderbares Pustelchen an der Unterlippe entdeckt, und ein teuflischer Gedanke raunt ihm zu: «Doch hoffentlich nicht etwa Krebs!» «Ach was, warum nicht gar?» Und geht lieber gleich zum Arzt, um sich von ihm tüchtig auslachen zu lassen; der aber zieht ein rätselhaftes Gesicht: «Gut, daß Sie rechtzeitig gekommen sind; jetzt ist die geringfügige Operation noch eine lächerliche Kleinigkeit.» Trübsinnig unternahm er einen verzweifelten Versuch, die Diagnose zu entkräften. «So etwas kommt doch nicht plötzlich; da müßten doch noch andre Zeichen von früher her da sein.»

«Sind auch da», versetzte der Verstand. «Zum Beispiel jenen Abend bei Doktors, als du dich wie ein Dieb ins Speisezimmer zurückschlichst, um eine Apfelsine aufzuessen, in welche sie gebissen hatte.»

«Kindereien!»

«Einverstanden. Allein eben das, daß du ihretwegen Kindereien begehst, bedeutet für mich ein Zeichen. Oder bei Direktors, als du vor ihrem offenen Schlafzimmer stille standest – erinnerst du dich? – und das Dienstmädchen dich fragte: ‹Sind Sie unwohl, daß Sie so seufzen? darf ich Ihnen ein Glas Wasser holen?›»

«Ja, habe ich denn überhaupt geseufzt? Ich weiß von nichts.»

«Glaub' ich gerne; die Seufzer geschehen meistens unbewußt; ich denke aber, das Dienstmädchen wird es schwerlich erfunden haben. – Und wieder damals, als du den Kaminfeger mit ‹Pseuda› angeredet hast und er dir antwortete: ‹Das muß eine Verwechslung sein; ich heiße nicht Pseuda, sondern August Hürlimann.›»

«Beweist doch nichts als Zerstreutheit.»

«Beweist, daß du keines andern Gedankens mehr fähig bist als Pseuda. – Und das Taschentuch, das du ihr stahlst und nachher heuchlerisch suchen halfst, warum trägst du das ewig in der Tasche herum? Ich will wetten, du hast es sogar in diesem Augenblick bei dir; gelt, du errötest? – Und dann die Räubergeschichte mit den Zahnschmerzen! Und überhaupt, warum ist dir denn so erbärmlich zumute? Wo ist deine Fröhlichkeit hingekommen? Warum machst du ein Gesicht wie ein Fisch an der Angel, den man auf dem Trockenen herumzerrt? Warum zankst du dich mit jedermann und polterst über die ganze Welt wie ein rheumatischer Major? Das kommt davon, daß dir etwas fehlt. Was dir aber fehlt, läßt sich mit einem einzigen Worte nennen: Pseuda. So, jetzt hast du die Wahrheit, nach der du gefragt hast.»

Nach dieser Unterredung blieb Viktor stundenlang sitzen, gedankenlos, betäubt von der niederschmetternden Entdeckung. Dann plötzlich ermannte er sich. «Der stolze Ritter soll kommen», befahl er in seine Seele hinein.

Er erschien, waffenklirrend, ein Löwe hinter ihm. «Hier bin ich; was steht zu Befehl?»

«Gefahr! Ein Überläufer ist unter uns; ein Elender, der, Imagos heiligen Dienst verratend, mit einer Unwürdigen liebäugelt, einem gewöhnlichen Menschenweib. Halt scharfe Wacht, und den ersten, den du darüber ertappst, daß er sich unterfängt, eine gewisse sogenannte Pseuda, alias Frau Direktor Wyß, anzuliebeln, den bring mir.»

«Gehört, gehorcht», rief der stolze Ritter und entstampfte klirrend mit dem Löwen. Gleich darauf erschien der Löwe, ein ohnmächtiges Kaninchen in der Schnauze. «Da ist der Sünder», knurrte er, warf das Kaninchen auf den Boden, kehrte sich und ging.

«Dacht' ich's doch», zürnte Viktor, «natürlich wieder das Herz, das alberne Kaninchen, das mir alles Unheil anrichtet.» Und das Kaninchen an den Ohren aufhebend, hielt er ihm eine Strafpredigt: «Siehst du denn nicht ein, du einfältiges, hirnloses Geschöpf, daß du dir selber eine Hölle heizest? Merk auf und lerne die fünf Paragraphen der Narrenliebe; sie sind so einfach, daß ein Regenwurm sie begreifen würde.

Paragraph eins: Keine Frau auf der ganzen Welt erträgt, daß man sie zuerst liebt; sondern sie muß dich zuerst lieben, deine Gegenliebe als eine unerhörte Gnade ersehnend. ‹Ich kann es nicht fassen, nicht glauben›, nach dieser Melodie. Sonst quält sie dich. Sie wollen nun einmal gequält sein, und wenn du sie nicht quälst, so quält sie dich. Sie braucht deswegen keineswegs böse zu sein, sie kann einfach nicht anders, es ist ein Naturgesetz. Weißt du, was ein Naturgesetz ist? Etwas, das man weder mit Hörnern noch Klauen ändern kann. Hast du das begriffen? Antworte.»

«Quiek», kreischte das Kaninchen.

«Ja, quiek. Es wäre gescheiter, du tätest danach. Paragraph zwei: Das Herz einer verheirateten Frau will von unten herauf erobert werden, durch den Ehebruch. Den mag ich aber nicht; du auch nicht. Also, was folgt daraus? Antworte.»

«Quiek», lautete die Antwort.

«Dritter Paragraph: Wenn du ein weibliches Wesen hättest heiraten können und hast es unterlassen, einerlei aus welchem Grunde, und stamme er aus dem siebenten Himmel, so verachtet sie dich zeitlebens. – Viertens: In dem Herzen einer zufriedenen Gattin und glücklichen Mutter kannst du so naturunmöglich Liebe reizen wie in einem satten Magen Hunger. Sag quiek.»

«Quiek.»

«Fünftens: Wenn eine Dame dich nicht ausstehen kann ...»

«Quiek.»

«Wart doch mit deinem albernen ‹Quiek›, bis ich den Satz zu Ende gesprochen habe.»

Da war ihm das Kaninchen aus der Hand geschlüpft und purzelte angstschreiend davon. «Ach du!» rief er ihm nach. «Aber nimm dich wohl in acht, denn wenn du mir nur noch ein einziges Schmächterlein schnupperst...!»

«Dem hab' ich's gezeigt», lachte er vergnügt, «das Kaninchen wird künftig nicht mucksen.»

Um jedoch vollständig sicher zu sein, tat er ein übriges und unternahm einen Rundgang durch die Arche Noah seiner Seele, vom obersten Stock bis in die Kellergewölbe des Unbewußten, nach allen Seiten Ermahnungen und Weisheit austeilend. Das edle Getier faßte er beim Selbstbewußtsein, indem er ihm von künftigem Ruhm und Triumphen erzählte, im Gegensatz zu der kläglichen Rolle, die sie als unglücklicher Liebhaber einer Frau Direktor Wyß spielen würden. Das Kleingetier dagegen köderte er mit Süßigkeiten, sie an frühere Liebesgenüsse erinnernd und ihnen noch weit köstlichere in Aussicht stellend, wenn sie sich nur noch ein kleines Weilchen wohl verhielten; endlich zum guten Schluß ließ er den Löwen die Treppe hinunterbrüllen. «Seid ihr nun alle überzeugt?»

«Wir sind überzeugt.»

«Gut, so betragt euch auch danach und gebt gegenseitig aufeinander acht.»

Durch diese Musterung gewann er Ruhe. Allein es war die Ruhe der gewaltsamen Spannung, wo über dem mühsam errungenen Gleichgewicht die Angst flattert. Wie ein Riese, der mit gekrampftem Rücken ein Gewölbe stützt, aber die Pein der Anstrengung ist so groß, daß er zweifelt, ob er nicht wünschen sollte, es möchte lieber gleich über ihm zusammenbrechen, damit die Not ein Ende nehme.

Darauf, nach den ersten vierundzwanzig Stunden, infolge des Wechsels von Tag und Nacht, von Müdigkeit und Erholung, gewöhnte er sich ein wenig daran; der Spannungsschmerz verdummte, die Not wurde erträglicher, das betäubte Bewußtsein der Gefahr unempfindlicher; nur noch ein gründliches Unbehagen meldete von drohendem Unheil, etwa so, wie wenn sich einer fragt: «Bekomm' ich den Typhus, oder ist es nur so ein Gefühl?»

Die nächsten drei Tage brachten denn auch nichts Besorgliches. Im Gegenteil, er hatte mit dem Statthalter, der ihn unterwegs abfing und ins Bierhaus schleppte, ganz sachlich und gelassen, als ginge es ihn nichts an, über den Unterschied der antiken Liebe von der neuzeitlichen, empfindsamen abhandeln können und über die Ursachen dieses Unterschiedes. Nein, wer das kann, ist nicht liebeskrank. Und lächelnd erinnerte er sich, wie dem Statthalter im Eifer des Gesprächs der Satz entschlüpft war: «Tatsache ist, das kann ich Ihnen zugeben, daß mit dem Besitz, also zum Beispiel mit der Ehe, die eigentliche, echte Liebe in poetischem Sinn ein Ende nimmt.» Ei! ei! Statthalter! – schon mehr ein kostverächterischer sofasatter Pascha! Freilich hatte der, sich besinnend, ängstlich den unbedachten Spruch zurückzuholen versucht. «Das heißt, wohlverstanden», verbesserte er sich, «nur die unechte Liebe; die echte, wahre Liebe im poetischen Sinn dagegen, die bleibt in der Ehe bestehen; im Gegenteil, sie fängt mit der Ehe erst eigentlich an.» Wie ihm das übrigens jetzt merkwürdig gleichgültig war, wie, was oder wen der Statthalter liebte oder nicht liebte! Entschieden, der Verstand hatte ihn ganz ohne Grund und Ursache geschreckt. Nur schade, daß er bei diesem Anlaß dem Statthalter hatte versprechen müssen, am Freitagabend zum Nachtessen zu kommen. Allein, wie man so in der Bedrängnis Einladungen annimmt: zu drei Vierteln genötigt und zum letzten Viertel gezwungen.

In der Nacht vom Donnerstag zum Freitag aber, ohne daß etwas Besonderes vorgefallen wäre – er hatte tagsüber gearbeitet und war dann nach dem Abendessen ein wenig ausgegangen –, verriet ihn ein Traum.

Ihm träumte, Pseuda hüpfe in seinem Schlafzimmer herum, das eine Bein im Strumpf, das andere barfuß. «Wo ist denn mein Strumpf?» rief sie ärgerlich, «so hilf mir doch suchen, Faulpelz! Ah bah! weg mit! Der Johann soll den Jakob holen.» Setzte sich auf den Fußboden, zog den Strumpf aus und warf ihn in die Höhe. Da flügelten beide Strümpfe wirblings unter der Decke wie eine Windmühle. Dann war es eine Zeitlang verworren. Plötzlich stand sie neben seinem Bett, in einem kurzen Kinderhemdchen. «Platz da! Dilldapp!» befahl sie, stieß ihn gegen die Wand und lag neben ihm. Verwundert, mit großen Augen fragte er: «Ja, bist du denn nicht mit dem Statthalter verheiratet?» – «Ich? mit dem Statthalter? wie kommst du auf diesen wunderlichen Einfall? Das wäre mir eine saubere Geschichte! da müßte ich mich ja zu ihm ins Bett legen! äh! uäh!» Da tat er aus tiefstem Herzen einen Seufzer, wie ein auf dem Wege zum Schafott Begnadigter. «So wäre es möglich? du wärest wirklich, wahrhaftig meine Frau und nicht dem Statthalter seine? O Gott, ich wage es noch immer nicht recht zu glauben. Wenn es am Ende bloß ein Traum wäre?» – «Was hast du nur heute?» schalt sie unwillig. «Wenn es bloß ein Traum wäre, so schliefe doch nicht unser Kind dort in der Wiege, sondern dem Statthalter seins. Das ist doch klar!» – «O Pseuda, Pseuda, wenn du wüßtest, wie unsäglich, wie namenlos unglücklich ich war, als mir träumte, du wärest dem Statthalter seine Frau!» – «Wie kann man aber auch so einfältig träumen!» schmälte sie, «und noch so unanständig dazu! pfui, schäme dich!» Und stieß ihn mit dem Bein und patschte ihm mit der Hand auf den Mund.

Wie er dann aufwachte und, mit dem Finger die Tapete betastend, erfuhr, daß alles gerade umgekehrt war: er einsam im Bette liegend und Pseuda drüben beim Statthalter, wurde er inne, wie es um ihn stand; denn dieser Traum, das spürte er an seiner Traurigkeit, war ihm nicht von ungefähr gekommen; den hatte seiner Seele Sehnsucht gedichtet. Nicht mehr wegzutäuschen: er war liebeskrank, und zwar durch und durch, bis in die innersten Fasern. Und wen mußte er lieben! – o Schimpf der Demütigung! eine Frau, die er von oben herab zu behandeln pflegte, eine ihm gleichgültige Fremde, namens Ix, eine Frau, die ihn haßte. Er, der Bräutigam der hehren Imago. Jetzt konnte er an sich selber keine Freude mehr haben; am liebsten hätte er überhaupt nicht mehr leben mögen. Trübsinnig drehte er den Kopf gegen die Wand und versuchte, Gefühl und Bewußtsein zu verlernen. Und sooft ein Gedanke ihn berührte, drückte ihn die Schmach von neuem nieder, als ob eine mit Bausteinen geladene Wolke auf ihm lastete. Schließlich mußte er halt doch leben; und da ihm seines Körpers Ungeduld Gesundheit meldete, blieb ihm nichts übrig, als ihn aus dem Bett zu heben und auf die Beine zu stellen. Meinetwegen; es tut denselben Dienst, sich aufrecht zu schämen als liegend.

Da saß er nun den langen Tag, mut- und willenlos, mit stumpfem Geist seiner Erniedrigung nachstarrend. Plötzlich, gegen Abend, überfiel ihn eine garstige Erinnerung: Freitag ist heute; und er, der dem Statthalter versprochen hatte, Freitagabend zum Nachtessen zu kommen! Jetzt, in diesem Zustande, dorthin! zu ihr! Verhaßter Gedanke. Allein sein Versprechen stupfte ihn unablässig mit der Schnauze wie der Metzgerhund das Kalb; es half nichts, und so zwang er sich denn zu Direktors.

War das ein trostloser, von allen guten Geistern verlassener Abend! Er war gar nicht erwartet worden, das merkte er gleich bei seinem Eintritt, er störte bloß.

Er wieder, in seiner Grabesstimmung, wäre lieber überall anders gewesen als gerade hier. Das spürten ihrerseits die andern, was ebenfalls nicht zur Erheiterung beitrug. Zu allem mußte er ihnen obendrein noch das Musikspiel verleiden; eigentlich ganz gegen seinen Willen, denn er war heute nichts weniger als angriffslustig; allein jetzt in seiner Schwermut irgend etwas Aufdringliches, was irgend jemand belieben würde, über sich ergehen zu lassen, nein, dazu fehlte ihm die Kraft.

Wie er dann freilich Pseuda trostlos vor sich hin starren sah, ihrem zerstörten Musikabend nachsinnend, so trostlos, daß sie sogar vergaß, ihm deswegen zu zürnen, tat ihm der Anblick weh; tief schnitt ihn das Mitleid. «Weißt du, arme Pseuda», gelobte er sich im stillen, «ich spare dir's auf; aber heute, nicht wahr, das begreifst du, mußt du mir's verzeihen; denn ich bin wirklich zu traurig.»

Vorzeitig trennte man sich, enttäuscht und übel zufrieden.

Viktor hatte seinen Regenschirm vergessen und kehrte zurück, um ihn zu holen. «Warten Sie», mahnte das Dienstmädchen, nachdem es den Schirm behändigt hatte, «das Gas ist bereits ausgedreht; ich komme gleich mit dem Licht.» «Unnötig», wehrte er ab und war auch schon im Hausflur angelangt. Da warnte ihn von oben Pseudas Stimme: «Geben Sie acht; vor der Haustür kommen noch drei Stufen.»

Die Warnung traf ihn, als blitzte am Himmel ein Fenster auf und ein Sonnenstrahl flöge in sein Herz, mit tausend lachenden Engeln besetzt, die gleichzeitig links und rechts absprangen. Wie! ihn, den sie haßte, und zwar mit vollem Rechte, ihn, der sie unaufhörlich belästigte, reizte, verfolgte, ihn, der ihr soeben noch ihren armen gastlichen Abend schnöde verdorben hatte, ihn warnte sie, damit ihm kein Leid zustoße! O Adel der Großmut, o unermeßliche Herzensgüte! Und du blinder, blöder Tropf, du hast es vermocht, dieses hohe Weib geringzuachten. Wenn denn hier einer verächtlich ist, wer ist es, du oder sie? Du bist es, Elender, denn du bist boshaft, sie aber ist gut. «Geben Sie acht», hast du gehört? Das hat sie dir gesagt, dir, mit ihrer Stimme. Wie Harfenpsalm und Glockenchor läutete der Spruch in seinem Herzen; trunken vor Bewunderung stürzte er von dannen, fieberisch, in taumelndem Lauf.

Daheim, vor der Haustür, kehrte er sich um, nach der Richtung ihrer Wohnung, und breitete die Arme aus: «Imago», rief er ihren Namen. «Nein, mehr als Imago, denn deine Hoheit ist mit dem Pathos der Leiblichkeit geadelt. Theuda und Imago vereint in einer einzigen Person.» Dann, in sein Zimmer stürmend, versammelte er alle Völker seiner Seele. «Kinder! eine köstliche Nachricht. Ihr dürft sie lieben; lieben ohne Bedingung noch Vorbehalt, ohne Maß und ohne Schranken, je stärker, je inniger, desto besser. Denn sie ist edel, und sie ist gut.»

Ein tosender Freudenjubel jauchzte der Erlaubnis Dank; die ganze Arche Noah umtanzte ihn. Und immer neue Scharen, von deren Dasein er gar nichts gewußt hatte, jauchzten aus dem Hintergrunde herbei; Fackeln schwangen sie in den Händen, und Kränze trugen sie auf dem Scheitel. Lächelnd schaute er dem Feste zu, selber selig ob seiner Erlaubnis; gleich einem König, der nach jahrelangem, heftigem Widerstreben endlich eine Verfassung gewährt hat und den des Volkes ungeahnter Dank überwältigt. Da wallte durch die Menge würdigen Schrittes eine Gesandtschaft, angeführt von dem stolzen Ritter im weißen Friedensgewande, den Löwen an der Leine. «Gestatten Eure Majestät, Sie im Namen des gesamten Ritterstandes zu der gnädigen Gewährung zu beglückwünschen; wir haben diese Lösung von jeher für notwendig und billig erachtet.»

«Ja, warum hast du mir denn das nicht vorher gesagt?»

«Wie sollte ich mich erdreisten, Euer Majestät strengem Befehl zu widersprechen?»

Also die stolze Ritterschaft hatte gegen seine Liebe auch nichts einzuwenden? Nun stand er gänzlich sicher und fest, und sein Mut genas frei und froh. O Heil der Erlösung: lieben zu dürfen, wen man lieben muß.

Der Bekehrte

Mit dem Augenblicke, da sich ihm Pseuda in Imago verwandelte, mußte sie ihm in göttlichem Lichte erscheinen. Denn Imago war ja ein übersinnlich Wesen symbolischer Abkunft: die erlauchte Tochter seiner Strengen Frau, die heilige Sängerin der weihevollsten Stunde seines Lebens. Viktors Liebe wurde als Religion geboren. Und, o Wunder! seine Gottheit wohnte in seiner Nähe, sichtbar und erreichbar.

Freilich schmähte bübisches Gelächter seinen Glauben. «Wahnwitz! Albernheit! Schande! Die gewöhnliche Frau Direktor Wyß, die Ehrenpräsidentin der Idealia, urplötzlich in göttlicher Beleuchtung! Lauf zum Arzte, Viktor! Bestell dir rechtzeitig ein Bett in der Irrenanstalt!» Und tausend Erfahrungen erhoben wider ihn ein ohrbetäubendes Geschrei: «Halt! Obacht! warte! wir bringen unumstößliche Beweise!» Allein hat sich jemals ein Gläubiger durch das Geschrei der Beweise irremachen lassen? «Geben Sie acht, vor der Haustür kommen noch drei Stufen», jauchzte sein Herz, und eine Springflut inbrünstiger Liebesandacht schwemmte all den Pöbel aus dem Bewußtsein: Erfahrungen, Zweifel, Bedenken und Beweise, die ganze hämische Rotte. Jeder Einspruch mit Hallo von dannen gejagt wie ein Hund aus der Kirche.

Ihre Nähe! Berge und Wälder, der ganze Horizont rundum verklärt durch ihren Blick; alle Straßen und Wege dieser Stadt geheiligt durch ihren Wandel, die Umgebung durch die Möglichkeit ihres Wandels. Sein Daseinsgefühl schwebte auf Wolken; jeder Atemzug schlürfte Offenbarungsodem; es keimte und blühte um ihn, sein Auge vernahm farbige Arabesken, sein Ohr Orgelrauschen; das kleinste äußere Vorkommnis, der Hammer eines Schmiedes, der Ruf eines Kindes, eine Krähe auf dem Zaun wirkte wie ein kosmisches Gedicht. So reich bevölkerte ihn die Andacht ihrer Nähe, die Vorstellung ihres sichtbaren Vorhandenseins, daß er gar nicht einmal das Bedürfnis verspürte, sie zu sehen; im Gegenteil: er zog vor, sie aus dem Hinterhalt anzubeten, nahe, aber um die Ecke.

Doch ein unleidlicher Gedanke durchquerte seine Andacht: ihr Urteil verdammte ihn nach wie vor, indem sie ja von seiner Bekehrung nichts ahnen konnte. Diesen Gedanken ertrug er länger nicht. Zwar der körperlichen Frau Direktor Wyß seine Bekehrung mündlich oder brieflich mitzuteilen – niemals! sonst hätte er ihr ja zugleich seine Liebe gestehen müssen; dazu aber war er viel zu stolz; auch zu klug; denn da sie ihn doch nicht liebte – oh, nichts weniger als liebte! –, hätte ihn ein Liebesgeständnis in die klägliche Rolle eines schmachtenden Liebhabers hinuntergedrückt; er aber wollte zwar ihr andächtiger Gottesdiener, nicht jedoch ihr bemitleideten Liebhaber sein. Glücklicherweise hatte er den Umweg der gemeinen Mitteilung auch nicht nötig; er wußte eine bessere, sowohl geradere als würdigere Verbindung zu ihr: den Weg der Vision von Seele zu Seele.

Also befahl er jetzt seiner Seele: «Gehe hin zu Theudas Seele, die da ist Imago, und melde ihr: ‹Der Nichtswürdige, mit Blindheit schmählich Geschlagene, welcher dich befeindete und verfolgte, ist tot; ein Neuer steht vor dir, ein Bekehrter, welcher, demütig deine Hoheit und Güte bekennend, dich Imago grüßt und dein Schönheitsantlitz als Symbol der Gottheit andächtig verehrt.› Melde ihr das, und bring mir ihren Bescheid.»

Der Bescheid kam: «Ich traf ihre Seele ans Fenster gelehnt, in die Klarheit des gestirnten Himmels emporbetend. Zurückschauend erteilte sie mir die strenge Antwort: ‹Ich bin ein Weib, Zucht ist mein Stolz, Reinheit meine Ehre. Hinweg, Ruchloser, der du alle Zeit das Weib mit frechem Spott verunglimpfst; eh' daß ich an deine Bekehrung glaube, tue Buße und bekenne den Wert des züchtigen Weibes.›»

Auf diesen Bescheid schickte er abermals seine Seele zu ihr: «Die Buße, die du von mir forderst, ist volltan; denn ich sah in deine Augen: sie straften mich; ich schaute die Hoheit deiner Stirn: sie verdammte mich. Vernimm mein Bekenntnis: Ein Tempel tat sich auf, eine königliche Priesterin trat hervor, hinter ihr die Frauen der Erde, so die gegenwärtigen wie die dahingegangenen, so die wirklichen wie die vom Wunsch gezeugten. Ich aber schaute, glaubte und bekannte: ‹Ich glaube an ein reines, keusches Weib; ihr Gedanke ist Gesang, ihre Werke heißen Hingebung und Aufopferung; auf ihrem Antlitz spielt der Abglanz der Gottheit; auf der Spur ihrer Füße sprießen Hoheit und Adel; sie erhebt die Hand: und das Gemeine entflieht in die Finsternis; sie bewegt sich: und die Sonne jubelt: o Weib, wie bist du schön! Da beugte sie sich tröstend über einen Kranken, der am Wege lag, und ich rief: Weisheit, verhülle dein Haupt; kniet nieder, ihr Tugenden alle, denn Königin ist das Erbarmen.› Gehe hin und überbringe ihr dies Bekenntnis.»

Ihm kam der Bescheid: «Ich traf ihre Seele über die Wiege ihres Kindes gebückt. Aufschauend erteilte sie mir die strenge Antwort: ‹Ich bin eine getreue Tochter, in Lieb und Ehrfurcht den Meinigen ergeben. Hinweg, Ruchloser, der du meinen Vater verachtest und meinen Bruder beleidigst! Eh' daß ich an deine Bekehrung glaube, lerne Ehrfurcht vor meinem Vater und versöhne dich mit meinem Bruder.›»

Ob diesem Bescheid begann Viktor zu seufzen und zu grollen: «Ich will ihren Vater nicht ehren, ich will mich mit ihrem Bruder nicht aussöhnen; denn sie sind Feinde des Geistes, Widersacher der Wahrheit. Ich aber throne auf meinem Rechte, ihnen hoch überlegen.» Und murrte und knurrte in seinem Groll. Da sprach zu ihm die Vernunft: «Darf ich auch etwas reden?»

«Rede.»

«Man ist einem Menschen erst dann hoch überlegen, wenn man ihn nach seinem Wert einschätzt, und wie windig schon der Kurt sein mag, solange er dir etwas verzeihen darf, setzest du ihn über dich. Frisch! hier ist Feder, Tinte und Papier; schreib dem Kurt ein Wort des Bedauerns, so sinkt er in die Versenkung, und du bist einer häßlichen Last ledig.»

Und das Herz schmeichelte: «Er bleibt trotz allem ihr Bruder.» Und der stolze Ritter mahnte: «Dem königlichen Hauptmann der Strengen Frau tut es keinen Abbruch, wenn er freiwillig einen Fehler eingesteht und ihn wieder gut macht.»

«Ich kann nicht; ich will nicht», knirschte sein Grimm. Siehe, da erschien im Zimmer ein himmelblauer Fleck, der Fleck vergrößerte sich, Harfenrauschen ertönte, und durch die Harfen rief eine Stimme, ihre Stimme: «Geben Sie acht, vor der Haustür kommen noch drei Stufen.»

«Imago», schrie seine Liebe, «du Hohe, du Gute, du Edle! ich glaube.» Und schrieb in fieberhafter Hast dem Kurt eine Entschuldigung; kurz und stolz, aber auch redlich und aufrichtig, wie man soll; ohne sich um das gebührende Wort zu drücken.

Tags darauf erhielt er eine mit Bleistift geschriebene Postkarte ohne Unterschrift:

«Geräuschvoller Hühnerflug der Begeisterung!
Philosophen die Clowns der Universitäten!!
In die Oberste die Taube gefahren! Famos!!!»

Frau Keller, welcher er den Wisch vorzeigte, löste ihm das Rätsel: das war die Handschrift des Kurt; die sonderbaren Sätze waren Zitate aus Viktors Kraftsprüchen, die offenbar dem Kurt unbändiges Vergnügen gemacht hatten; das Ganze bedeutete eine Art Versöhnungsurkunde.

«Nicht wahr, originell? genial?» meinte sie begeistert.

«Siehst du jetzt, Viktor?» belobte die Vernunft. «Ist dir nun nicht leichter und freier zumute? Ich bitte um Antwort.» Viktor antwortete: «Mir ist nicht bloß freier und leichter zumute, sondern auch höher und vornehmer.»

«Drum also fahre fort. Die erste Hälfte ist getan, vollbringe auch die zweite; lerne Ehrfurcht vor ihrem Vater.»

Da sprach Viktor zu sich selber: «Er war ihr Vater; die Sprache seines Angesichtes ist demnach verwandt mit der Sprache aus Theudas Angesicht. Gut; vor seinem Angesicht mag ich die Ehrfurcht lernen.» Ging hin und kaufte sich in der Buchhandlung das Kopfbild des Staatsmannes Neukomm, um es als Vorbild an die Wand zu heften. Allein, wie er nun den zuversichtlichen, überzeugungsbuchenen Charakterkopf mit dem inhaltlosen Feuerblick darin näher betrachtete, übermannte ihn plötzlich der alte Hohn, so daß er hurtig das Bild unter eine Lage Papier versteckte, mit einem wuchtigen Briefbeschwerer darauf, damit der Charakterkopf nicht etwa heimtückisch hervorkrieche.

«Immerhin, er bleibt halt trotz allem ihr Vater», bettelte das Herz. «Er wird schwerlich ohne Verdienste sein, daß sein Denkmal in Marmor vor dem Rathaus steht», überredete die Vernunft. Da hob er den Briefbeschwerer ab und holte den Staatsmann in Gnaden wieder hervor, den er jetzt wirklich an die Wand heftete, allein verkehrt, die Bildseite nach innen, gegen die Tapete, die leere Rückseite nach außen; denn sooft er versuchte, das Blatt umzudrehen, jubelte ihm der Hohn die Ehrfurcht von dannen.

«Ich möchte aber doch», schalt sich Viktor bekümmert, «dem Gebote Theudas gehorchen; denn Theuda ist Imago. Siehe, ihr Vater liegt im Grabe; das Grab ist ernst; wohlan, an seinem Grabe will ich mir den Hohn abgewöhnen.» Und ließ sich auf dem Friedhof das Grab des Staatsmannes Neukomm zeigen. Wie er vor dem Grabe angekommen war, grüßte ihn eine Stimme aus dem Boden: «Wen suchst du?»

«Den Geist des Staatsmannes Neukomm.»

«Es gibt hier keine Staatsmänner», erwiderte die Stimme, «und keine Geister mit Namen. Ich war, als ich noch über dem Boden wandelte, ein hilfloser Mensch wie alle Menschen, ein machtlos Geschöpf, das da geboren ward, seufzte, sorgte und starb wie die übrigen Geschöpfe. Verzeihung jenen, die mir wehe taten, Heil denen, die mich liebten. Zwei treue Menschen, meine Ebenbilder, meine beiden Kinder, schritten weinend hinter meinem Sarge, mein Andenken mit ihrer Trauer heiligend; Segen über den, der ihnen wohl will. Bist du ein Mensch, in Lebenskraft auf Erden wandelnd, so schenk mir Nachricht von meinen Kindern.»

Da sprach Viktor: «Deinen Kindern ergeht es wohl; sie sind geliebt und geachtet bei den Menschen; und der vor deinem Grabe steht, will ihnen beiden gut Freund sein.» Bei diesem Wort verwandelte sich plötzlich das Denkbild des Kurt und wurde fein und anmutig.

Da seufzte die Stimme: «Dafür, daß du mir von meinen Kindern Nachricht gebracht, schließe ich mit dir den Bund des Dankes; und dafür, daß du meinen Kindern gut Freund sein willst, den Bund des Segens.»

Nachdem Viktor wieder zu Hause angelangt war, konnte er das Bild umdrehen. –

Und wieder schickte Viktor seine Seele zu Theudas Seele: «Dein Gebot ist erfüllt; ich habe mich mit deinem Bruder ausgesöhnt, ich habe mit deinem Vater einen Bund geschlossen. Glaubst du nun an meine Bekehrung?»

Ihm kam der Bescheid: «Ich traf ihre Seele auf der Zinne ihres Hauses stehend, die Türme und Schanzen der Stadt zählend. Herniederschauend erteilte sie mir die strenge Antwort: ‹Ich bin eine brave Bürgerin, meinem Volke und meinem Vaterlande leidenschaftlich ergeben. Hinweg, Ruchloser, der du die Sitten und Gebräuche deines Vaterlandes verspottest; eh' daß ich an deine Bekehrung glaube, tue Buße und lerne Eintracht mit deinem Volke.›»

Ob diesem Bescheid überschäumte sein Zorn in wilder Woge. «Weib», schrie er, «zwar heilig bist du, aber arm an Geiste. Zur Göttin taugst du, nicht zum Gott. Spann's nicht zu scharf! Mein Herz ist dein; nimm meine Andacht, läutre meine Seele; doch meine Überzeugung, Weibsbild, pfusch nicht an! – Geh hin, o meine Seele, und sag ihr das.»

Ihm kam der Bescheid: «So wahr ich Theuda bin, die da heißt Imago: ehe du nicht Fried und Freundschaft mit deinem Volke schließest, gebe ich nichts auf deine Bekehrung.»

Da begann Viktor zu toben und zu rasen und lästerte seine Göttin und verwünschte sie und beschimpfte sie mit gefiederten und gehörnten Namen, wie der Bandit die Madonna, wenn ihm der Postraub mißlang.

«Wenn du dann des Unfugs müde bist», bemerkte die Vernunft, «so will ich auch etwas reden. Nämlich, unter uns gesagt, ihr Verlangen ist durchaus gerecht; denn du bist ein politisches Ungeheuer.»

«Meinst du?»

«Ich meine es nicht bloß, sondern das steht zweifellos fest. Von Kindesbeinen ein Waldmensch und nachträglich durch deinen Auslandssitz vollends verwildert. Pendelst durch die Straßen deiner Vaterstadt wie ein Indianer auf der Oktoberwiese, der einen freien Nachmittag bekommen hat. Ist das natürlich? ist das erträglich? Her mit dir! Setz dich auf den Schulschemel; etwas Patriotismus kann dir, weiß Gott, nicht schaden. – Nur keine Angst; bloß das Allernotdürftigste; es verlangt ja kein Mensch von dir, ein Schützenfestredner zu werden.» Sprach's, nötigte den Viktor auf die Schulbank und erzählte ihm vom «Volke», wie es fühlt, wie es arbeitet, wie es sich sorgt und kümmert, beschrieb ihm das Räderwerk der freien Verfassung, bewies ihm deren ursächlichen Zusammenhang mit der Entwicklung der persönlichen Eigenart und des mannhaften Charakters und lehrte ihn schließlich die Politik als eine Unterart Idealismus begreifen; «ein rebsteckendürrer Idealismus, zugegeben, immerhin ein Idealismus».

Fromm lauschte Viktor der Unterweisung, erst ächzend, hernach bereitwilliger. Plötzlich sprang er auf, mit leuchtenden Augen. «Ich will das Obligationenrecht studieren.»

«Da haben wir's: jetzt springst du natürlich gleich wieder in den gegenüberliegenden Stadtgraben? Es kann ja einer auch ohne das Obligationsrecht ein braver Bürger sein.» Viktor aber versteifte sich halsstarr: «So wahr ich ein braver Bürger bin, ich will das Obligationenrecht studieren.» Ließ die Vernunft im Stich, ging hin und schaffte sich das Obligationenrecht an, entlieh von links und rechts Verfassungsurkunden und Stadtgeschichten, je trockener, desto lieber; bestellte das Amtsblatt, verfolgte in der Zeitung die Reden der Stadträte («etwas schwülstig, meine Herren! um so besser, ich nehm's für Kasteiung»); schob seine Füße durch Altertumssammlungen, pflanzte sich vor baufällige Mauern und Dachstühle auf, um den Geist der Väter auf sich wirken zu lassen, und jedes Bäuerlein, das mit einem Kalbelein zu Markte zog, nachdenklich bekümmert, wen es übervorteile, betrachtete er mit Rührung als seinen Mitbruder im Staate.

Wie er aber dann selbstzufrieden zu ihr sandte, um ihr von dem demokratischen Adam Bericht zu erstatten, erhielt er ungnädigen Abschied. «Aktiv betätigen», habe sie barsch befohlen. «Aktiv betätigen!» wiederholte seine Entrüstung, «wie grob, wie ruppig sie das gesagt hatte, beinahe wie ein Ellbogenstoß. Überhaupt, sie vergißt, daß meine Bekehrung ganz auf meinem freien Willen beruht; ein Schulterlupf, und sie fliegt auf den Boden. Es scheint, sie möchte mich mit der Peitsche dressieren!»

Doch die Hyäne, die durch drei Reifen gesprungen ist, springt auch durch den vierten, wenn schon zähnefletschend. Also behändigte er bei der nächsten Wahlgelegenheit einen Zeddel.

«Du, Förster, gib mir einen guten Rat. Ich möchte meiner Bürgerpflicht genügen – oder sagt man nicht so? –, kenne jedoch leider auf der ganzen Welt keine politische Seele. Wen rätst du mir, daß ich wählen soll?»

«Ja, da mußt du mir vor allem erst sagen, ob du konservativ oder liberal bist.»

«Was ist der Unterschied?»

«Das läßt sich nicht so in der Geschwindigkeit erklären.»

«Wer von den beiden hält es denn mit der Kirchenlehre?»

«Eher die Konservativen.»

«Dann bin ich also liberal.» Und wählte demgemäß. Doch noch immer wollte sich Theudas Seele nicht zufriedengeben. Es komme nicht von innen, habe sie geantwortet.

«Nicht von innen!» tobte er. «Ich will dir zeigen, was von innen kommt.» Und stiftete einen fürchterlichen Aufruhr gegen seine Göttin, daß es in seinem Innern zuging wie in einem Bestienkäfig vor der Fütterung. – «Du willst die Numa Hawa spielen? Wohlan, so ertrage, daß ich ergebenst den Rachen aufsperre.»

Bis ihm eines Tages widerfuhr – er hatte es gar nicht beabsichtigt, es kam ihm von selber, wie der Strahl aus dem kochenden Berge –, daß er zwei fremden Gigerln, die über einen vorüberziehenden Trupp Soldaten spöttelten, mit schnaubender Wut das Maul verbot. Während er noch ganz verblüfft dastand, unschlüssig, ob er sich nun über diesen vorweltlichen Schnarch schämen solle, oder was eigentlich, grüßte ihn ihre Seele hold lächelnd über die Schulter: «Jetzt das, jetzt das hingegen, Viktor, das freut mich.» Und ein See von azurblauem Himmel umschwebte ihn, mit unzähligen Theudaköpfchen darin, die ihm sämtlich huldvoll zunickten.

Hiermit fand seine mühsame Buße endlich Gehör und Genüge.

Also geläutert und entschuldigt, frisch und morgenfreudig im Gefühl der kräftigen Reinigung, tat Viktor seinem Herzen die Tür weit auf. «Heißa, mein Herz! Ich, der da meinte, ich sei weise und du wärst ein albern Kaninchen! Irrtum, verkehrte Welt! Ich war torenwitzig, und du bist der Gescheiteste von uns allen. Denn nicht bloß, daß du einzig von Anfang begriffen hast, sie ist Imago, dir verdanke ich auch meine Buße und Bekehrung. Deswegen sollst du fortan nicht mehr mein verachtetes Hündlein sein, verstoßen und mißhandelt, sondern unser aller Führer und Oberst sollst du sein. Heißa, König Herz, befiehl, so geschieht es; begehre, so wird dir's werden.»

Jauchzend frohlockte das Herz: «O Freiheit! Siehe, man hat mir das Maul verbunden wie einem gestohlenen Stieglitz; darum will ich jetzt zur Entschädigung lieben, lieben, bis ich den letzten Hauch meines Atems erschöpft habe.»

Viktor billigte: «Das sei dir unbenommen; doch wisse, Theuda ist Imago, nämlich hoch und hehr. Ist deine Liebe von einem Wunsch befleckt, so wage nicht, die Reine mit unreiner Liebe anzutasten.»

Ihm erwiderte das Herz: «Hier stehe ich offen vor dir; nimm einen Leuchter und zünde in die verborgensten Gänge, damit du mich prüfest.»

Und Viktor tat demnach und zündete in die verborgensten Gänge seines Herzens; und als er die Prüfung vollendet hatte, rief er: «Deine Liebe ist demütig und wunschlos. Also liebe sie denn, liebe sie, bis du den letzten Hauch deines Atems erschöpft hast.»

Da atmete sein Herz und lechzte: «Ich möchte heimlich zu ihr, ungesehen bei ihr wohnend und beständig mit ihr lebend, was sie irgend selber lebt, jede Stunde, jede Sekunde, vom ‹Grüß Gott› des Morgens, wenn sie die Fensterläden öffnet, bis zum ‹Gut Nacht› am späten Abend.»

«Ja, tue das», erlaubte Viktor. Und das Herz tat, wie es gesagt hatte, und lebte ungesehen mit ihr vom Morgen bis zum Abend, vom «Grüß Gott» des Morgens, wenn sie die Fensterläden öffnete, bis zum «Gut Nacht» am müden Abend. Und wenn sie sich zum Mittagessen setzte, nickte es: «Iß und sei fröhlich», und wenn sie sich zum Ausgehen rüstete, flüsterte es: «Nimm nicht das Alltagskleid, sondern das neue, das helle, das köstliche; denn du bist schön und lieb; das bedeutet: wo du bist, waltet alle Tage Festtag.»

Und weiter atmete das Herz und lechzte: «Ich möchte in ihr eigen Herz tauchen, tief bis in den Quell ihres Gefühles, und aus ihrem Herzen alles liebhaben, was sie selber liebhat, angefangen von ihrem Mann und ihrem Kinde bis zu dem Blumenstöcklein vor ihrem Fenster.»

«Ja», erlaubte Viktor, «tue das.» Und das Herz tat, wie es gesagt hatte, und tauchte in Theudas Herz bis in den Quell ihres Gefühles, und liebte aus ihrem Herzen alles, was sie selber liebte, und sprach zu ihrem Manne: «Bruder, du hast einen Freund, von dem du nicht weißt, und einen Helfer, den du nicht vermutest; getrost, was auch die Zukunft dir schicke, ich bin da, ich werde dir beistehen.» Und sprach zu ihrem Kinde: «Deine Füßlein taumeln ins Ungewisse, und deine Äuglein lächeln in Nebel und Ferne; ich aber weiß Rat; ich will dich vor Fehlgang und Schaden behüten.» Und zu dem Blumenstöcklein vor dem Fenster sprach es: «Du mußt fleißig sein, damit du mit deinen Farben ihr lustig leuchtest und mit deinem Hauch ihren Mut erquickest, denn bedenke, deine Ranken ragen in ein besonderes Stüblein.»

Und wieder atmete das Herz und lechzte: «Ich möchte mich in einen Segen verwandeln und wie ein guter Geist Gottes ihre Schritte umschweben, sie aufrichtend, wenn sie mutlos ist, und von ihr jedes Unheil abwehrend, das nächtens ihre Schwelle umschleicht.»

«Das ist recht und statthaft», erlaubte Viktor, «tue das.» Und das Herz tat, wie es gesagt hatte, und verwandelte sich in einen Segen. Und beim Morgenblaßlicht küßte es Theudas Augen: «Der Hahn ist wach; steh auf und fürchte dich nicht, denn dieser Tag ist ein fröhlicher Tag.» Und wenn sie betrübt war, so sprach es: «Irrtum! du darfst nicht traurig sein, denn du bist der Menschen Lust und Wonne.» Und zu dem Unheil, das nächtens ihre Schwelle umschlich, wehrte es: «Halt! Wer da? Täuschung! Dieses Haus ist gefeit, denn hier wohnt Theuda-Imago.»

«Nun wohl, mein Herz», rief Viktor, «wonach deine Liebe lechzte, das hab' ich dir alles gewährt. Hast du nun Genüge? Oder begehrst du noch mehr?»

Ihm antwortete das Herz: «Ich habe nimmer Genüge; denn meine Liebe gebärt Liebe; je mehr ich die Einzige liebe, desto mehr begehrt mich, sie zu lieben. Siehe, ich habe ihre dermalige Gestalt mit meiner Andacht umwoben, nun will ich es auch mit der vormaligen tun; mit meiner Ahnung ihre verbliebene Erscheinung grüßend, so wie sie einst gewesen, ehe sie geworden, rückwärts über ihre Mädchenjahre bis in die Tage der Kindheit, und von ihrer Kindheit hinauf nach ihrem Ursprung über der Welt, wo ihre Seele keimte, ehe sie den Wandel nach Erden antrat. Allein das vermag ich nicht aus mir; gebiete deiner Phantasie, daß sie mich in jene Höhen enttrage.»

«Ja», erklärte Viktor, «das soll dir werden.» Und befahl seiner Phantasie: «Du loses, unnütz Vögelein, das mir immerfort Unfug und Unmuß stiftet, mit Truggesichtern mich täuschend, daß ich der Torheiten unzählige begehe, auf! erweise dich einmal nützlich. Hast du gehört, was mein Herz von dir heischt? Also rüste deine verwegensten Flügel und enttrage meine Ahnung über die Welt in die Pflanzstatt der Seelen.»

Ihm erwiderte die Phantasie, im Glanzlachen erstrahlend: «Das ist es ja eben, was ich immer ersehnte. Denn dort oben bin ich zu Hause.» Sprach's und enttrug mit verwegenem Fluge seine Ahnung hinaus über alle Welt in die traumumdämmerte Brutstatt der Seelen. Daselbst, mit den Fühlern der Liebe den Pfad erratend, den einst ihre Seele nach Erden angetreten, versuchte Viktor auf ihren Spuren ihr verwichenes Leben nachzuleben, mit dichtendem Geiste ihre irdischen Erstlingsjahre zurückrufend, den Abglanz ihrer Mädchengestalt an den Wäldern ihrer Heimat ablesend, die Felsen grüßend, die ihr staunend Kinderauge zum ersten Male mochte geschaut haben. Ob dieser Arbeit offenbarten sich ihm Neuschöpfungslandschaften mit Durchblicken auf jenseitige Welten, mit Lichtschimmern und Wolkenzügen anderer Gattung, davor seine Seele schauerte. Die Wirklichkeit schwand, die Zeit versenkte sich vor seinen Füßen.

Allein von der Überfülle der Fernwunder erschöpft, versagte sein schwaches Menschenhirn, und sein reisemüder Geist ermattete. «Genug! Gnade! Zuviel!» Doch zornig schüttelte die Phantasie die Schwingen. «Umsonst habe ich nicht diese Höhe erschwungen; hier ist meine Lebensluft, hier will ich kreisen. Ihrer Seele Keim wolltest du erspüren, ertrage auch ihrer Seele Krönung.» Und ungeachtet seines Flehens und Sträubens offenbarte sie, höher kreisend, dem Bebenden ein Zukunftsgesicht, unerwünscht und aufgedrungen, doch unauslöschlich:

Einen Jüngling schaute er neben einer Jungfrau, deren Doppelseele sämtliche Seelen der Welt aufgesogen hatte, also daß außer diesem Paare nichts Lebendiges im unendlichen Raum sich regte. Und dieser Jüngling und diese Jungfrau wandelten zusammen über die Himmelswiese und flüsterten sich zu und blickten einander ins Auge mit einer süßen Innigkeit, gegen welche die zerstückelte Einzelliebe auf Erden bloß ein nichtswürdiges Affenspiel vorstellt.

«Was habe ich mit diesem Jüngling und dieser Jungfrau zu schaffen?» unterbrach Viktors Herz ärgerlich. Siehe, da hatte die Allerseelenjungfrau das Antlitz Imagos.

So vergnügte sich Viktor mit seiner neugeborenen Liebe. Sein Herz umspielte Theudas leiblichen Wandel, seine Phantasie brachte ihm Imagos Lichtgestalt aus der Höhe über den Wolken. Lieben nannte er sein Geschäft, Segnen seine Erholung. Da er aber seine Liebe so rein und schön verspürte, wunschlos in andächtigem Gottesdienst, und ihm die Phantasie unablässig neue Offenbarungen zutrug, armvoll in gehäuften Garben, überquoll endlich seine Wonne, so daß ihm der Atem nicht mehr genügte, sondern daß er mit der Stimme singen mußte, bald in stammelnden Jauchzern, bald leise vor sich hin trällernd, zuweilen in langgezogenen schmelzenden Tönen. Auch mochte er etwa ein Stück Papier mit Linien durchqueren, schräg und krumm mit ungeübter Hand, und seine Jauchzer als Notenkettchen zwischendurch schlingen. Der Worte dagegen bedurfte seine Sangesseligkeit nicht.

«Störe ich etwa?» scholl des Statthalters väterliche Stimme; und nach einigen nichtssagenden Einleitungssätzen knüpfte er bald hier, bald dort ein wissenschaftliches Gespräch an, doch unstet, mit verlegener Miene, wie wer etwas hinter der Rede hält. Endlich rückte er zaghaft hervor: «Am 4. Dezember, wie Sie jedenfalls längst wissen, feiert die Idealia ihr Stiftungsfest. Für diesen Anlaß habe auch ich ebenfalls – wie soll ich sagen? man kann es einen Prolog nennen – einige bescheidene, anspruchslose Verse (fünffüßige Jamben mit je einem Anapäst) in Form eines Dialoges, die alte und die neue Kultur gegenüberstellend... Ob Sie nicht da vielleicht – ich habe an Sie gedacht, weil ich als Gegensprecher einen hochschulgebildeten Mann brauche (es kommen ja selbstverständlich auch griechische und lateinische Zitate vor) – ich würde in diesem Fall, das heißt natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind, die alte und Sie die neue Kultur –, doch, wie gesagt, ganz nach Ihrer eignen Wahl, vorausgesetzt, daß Sie überhaupt Lust und Zeit dazu vorrätig haben...»

Und da sich Viktor gerne zu jeder beliebigen Kultur erbötig erklärte, atmete der Statthalter erleichtert auf. «Ja, und daß ich das nicht vergesse: Meine Frau ist hocherfreut über Ihre Aussöhnung mit meinem Schwager, und warum man Sie denn nie mehr sehe?»

Richtig, jetzt erst fiel es ihm ein: er hatte über dem Eifer seines Gottesdienstes die Gottheit selber völlig vergessen. Das Bedürfnis nach ihrem Anblick hatte sich eben nicht gemeldet; jetzt freilich, von ihr gemahnt, mußte er sich wohl bequemen; und da er es mußte, mochte er es auch. Wie er dann nach einigen Tagen nach der Münstergasse pilgerte, tat er es in der Stimmung eines getauften Heiden, der zur ersten Kommunion schreitet; ein Schritt furchtsam, ein Schritt gefaßt. Gewiß, er konnte sich's nicht verhehlen, es nisteten noch manche Motten im Hermelin seiner Gerechtigkeit, allein seine Bekehrung war doch echt, seine Buße gründlich, seine Liebe rein; und die Götter sind ja gnädig. Zudem hatte er ja nun den Kurt auf seiner Seite.

Huldvoll empfing sie ihn (Wirkung des Kurt? oder las sie ihm die Andacht aus dem Gesichte?), ohne den mindesten Nachhall der alten Feindseligkeit; großartig, mit einem einzigen Pinselstrich die Erinnerung an die frühere Mißhelligkeit ausgelöscht. Sie berichtete ihm den Todesfall einer entfernten Verwandten, welche verwichene Nacht unvermutet verschieden wäre, nur so zwischenhinein, wie ein Nebensatz, mitten in die Vorbereitungen zum Stiftungsfest. Während des Berichtes rollten ihr einige Tränen über die Wangen. Die fing er mit unmerklich vorgeschobener Hand auf, als wäre es Weihwasser. Hernach wurde noch dies und das gesprochen; endlich, zum Abschied, reichte sie ihm freundlich die Hand; zum ersten Male seit der Parusie.

Die Sorge um den Prolog (alte und neue Kultur) nötigte ihn in der Folge noch öfter zum Statthalter; und wenn das Geschäftliche bereinigt war, mochte er jeweilen noch ein Viertelstündchen im Hause säumen, wo er dann meistens schweigend dasaß, mit den feinen Augen eines Onkels, der die Familie hinterrücks in sein Testament gesetzt hat. Dabei gestattete er seiner Liebe den Schmaus, Theudas Bewegungen und Gebärden zu verfolgen, die dem Bekehrten jetzt wie Neuigkeiten vorkamen. Und da er sie nunmehr in ihrem natürlichen Wesen beobachten durfte, so wie sie gewöhnlich war, während er sie ja vordem nie anders als in Verteidigungsstellung gesehen hatte, entdeckte er beglückten Herzens neben den früher bemerkten Vorzügen eine Menge von neuen. Beglückten Herzens, weil ja jede ihrer Tugenden eine Rechtfertigung seiner abgöttischen Liebe, eine Widerlegung der lauernden Einwürfe bedeutete. Nun brauchte er nicht mehr die Zweifel wegzuschrecken; im Gegenteil: er lud sie ein, um sich an ihrer Beschämung zu weiden.

«So kommt doch, ihr Nörgler, spähet, so scharf ihr wollt, setzt meinetwegen Brillen auf. Seht ihr, wie sie freundlich mit ihren Dienstboten umgeht? Habt ihr nicht selber immer behauptet, an der Behandlung der Untergebenen könne man am zuverlässigsten erkennen, ob eines Menschen Kern gut oder böse sei? Darum bekennet: sie ist gut.»

«Gut, allerdings, das ist sie.»

«Und jetzt wieder dem Bettler, wie sie ihm das Almosen nicht etwa gnädig herablassend hinreicht, sondern von gleich zu gleich. Darum gestehet: sie ist barmherzig.»

«Barmherzig ist sie, zugestanden.»

«Geduld, ihr werdet noch mehr zugestehen müssen. Habt ihr bemerkt, wie niemals ein neidischer Zug ihr Antlitz entstellt, wenn die Schönheit einer andern Frau gerühmt wird? wie auch keine Spur von Gefallsucht in ihrer Seele Raum findet, so daß sie die Huldigungen fremder Männer, die meinige eingeschlossen, gar nicht einmal wahrnimmt, oder, wenn sie sie wahrnimmt, nicht beachtet, vielmehr eher als eine Belästigung verspürt? Ist euch nicht aufgefallen, daß von sämtlichen Menschen, die sie der Ehre ihres Umgangs würdigt, auch nicht einer ist, der nicht lauteren Charakters wäre? Und ihre Bescheidenheit, ihre Pflichttreue, ihre Häuslichkeit, ihre stille Hingebung an ihr Kind? Bitte, bestreitet mir das alles, wenn ihr's könnt.»

«Niemand bestreitet ja im mindesten die Menge ihrer außerordentlichen Vorzüge, nur daß du sie als eine Art Gottheit...»

«Genug! kein Wort mehr! Wer jetzt noch zweifelt, verrät bösen Willen.»

Trotzdem – er mochte sich ihre Vollkommenheit noch so begeistert einreden –, ihre körperliche Gegenwart störte ihn eher, als daß sie ihn befriedigte. Nicht ihre menschlichen Schwächen – er wußte ja, daß sie ein Mensch war und liebte, daß sie es sei –, dagegen eine gewisse Lässigkeit in ihrer äußeren Haltung, die nicht immer zu seinen Wünschen und Bedürfnissen stimmte. Sie ließ sich nämlich zuweilen eine ausdruckslose Miene, eine unansehnliche, nicht bildgemäße Stellung, einen matten Blick zuschulden kommen, kurz, sie war nicht jede Minute völlig sie selber, nicht von Morgen bis Abend ununterbrochen Imago, so daß ihm mitunter beinahe der Verdacht kommen wollte, sie sei sich ihrer Aufgabe, der Phantasie Symbol zu stehen, gar nicht einmal bewußt. Dazu ein Augengreuel: ihrem Hauskleid waren schwarze Samtbändlein aufgenäht, unten nahe dem Saume eine doppelte Reihe, und wieder oben am Halse eine, rund um den Ausschnitt. Nein, Imago in der Tracht einer Choristin im «Freischütz», als wollte sie den Jungfernkranz singen, davor entsetzte sich sein Auge, darüber stolperte seine Andacht. Dies und dergleichen erzeugte dann in seinen Gefühlen ein unruhiges Hin und Her, dem er das Alleinsein mit ihr in seiner Phantasie vorzog.

Dagegen suchte er angelegentlich ihre Freunde und Bekannten heim, also die Leute der Idealia, um von ihren traulichen Gesichtern den Widerschein Theudas abzulesen; und jedesmal, wenn beiläufig ihr lieber Name verlautete, glänzte es durch die graue Unterhaltung, als ob ein Zauberzündhölzchen aufsprühte, mit einem farbigen Sternlein im Feuer. Aber mit seinem eigenen Mund ihren Namen auszusprechen, wagte er nicht, weil er schon errötete, wenn er nur das Wort «Münstergasse» sagen sollte.

Hierbei traf er auch einmal mit dem Kurt zusammen. Der eilte ihm freudebleckend entgegen: «Allerkünstedirnen, welche ihre Seele mit jedem hergelaufenen Lumpen von Meisterwerk prostituieren! Greulich, abscheulich, aber famos!» Und ein halbes Stündchen später, als Viktor gegen die vereinigte Moralpriesterei des Pfarrers und des Statthalters den Satz behauptete: «Eine Religion, die sich um die Moral kümmert, ist nicht wert, daß ein ehrlicher Mensch einen Gedanken daran verschwende», kam der Kurt auf ihn zu und fragte herzlich und bescheiden: «Wann können wir einmal miteinander allein sprechen?» Von da an, so oft der Viktor und der Kurt sich in einer Gesellschaft begegneten, setzten sie sich zueinander.

Es konnte nicht ausbleiben, daß Viktors erbaulicher Gesinnungswechsel in der Idealia bemerkt wurde; die Wendung war zu auffallend. Er, der einst so anmaßlich auftrat, der sich gegen jedermann der Unleidlichkeit befliß, der die Flucht ergriff, sobald ein Klavierflügel nur von ferne Miene machte aufzuklappen, der mit seinem höhnischen Überlegenheitslächeln jede Unterhaltung zu Boden schwieg, er hörte jetzt mit weit aufgesperrten Augen den längsten Familiaden nicht bloß zu, sondern rief von Zeit zu Zeit dazwischen: «Nicht möglich!» – «Was Sie sagen!» – «Wirklich?», erkundigte sich nach den Fortschritten der Buben in der Schule, fragte, ob die Gertrud bereits die Masern, der Mimi schon die Sucht gehabt habe, ja, er bettelte aus freiem Antrieb, ihm doch ums Himmels willen «etwas» zu singen. Kurz, er war auf einmal, wie durch ein Wunder, gemütlich geworden. Vor allem aber seine nunmehrigen vernünftigen Ansichten über das heilige weibliche Geschlecht erregten freudiges Aufsehen. War das wirklich der nämliche Viktor, der jetzt Aussprüche hören ließ, wie dieser: «Keineswegs die leichtfertigen Weiber sind die poetischen, sondern die züchtigen sind es; denn die Poesie des Weibes heißt Hingebung, der Name des liederlichen Weibes aber lautet Selbstsucht.» Oder: «Die engherzigste Sittenteufelin wird an Lieblosigkeit noch von der Vielmännerfrau übertroffen.» Ah! Das lass' ich mir gefallen! Das tönte jetzt anders! Leider verdarb mitunter ein bedauerlicher Nachsatz wieder die Erbauung, die sein frommer Vers gestiftet. Nachdem er zum Beispiel das Lob des tugendhaften Weibes mit einem Schwung gepriesen, daß man's hätte für fünfstimmigen Chor mit Orchester setzen mögen, konnte er hinzufügen: «Was in aller Welt aber, bitte, sagt mir, fange ich mit einem tugendhaften Weibe an?» Es war noch nicht ganz das; es haperte noch hier und da ein wenig mit seiner Bekehrung. Immerhin, der bußfertige Wille war unverkennbar, und alle Vollkommenheit auf einmal, nicht wahr, darf man doch billigerweise nicht erwarten. So daß bereits die Hoffnung munkelte, er werde sich vielleicht doch noch mit der Zeit als Tenor im Chor brauchen lassen.

Indessen, was wollte in dieser wichtigen Zeit Viktor, was überhaupt ein einzelner besagen! Das Stiftungsfest der Idealia rückte heran, und Adventsstimmung bemächtigte sich der Gemüter. Endlich wurde sie Gegenwart, die große Woche, unglaubliche, doch unleugbare Gegenwart.

Am Vortage des Festes ergab sich, gewissermaßen von selber, durch die Unfähigkeit, sich mit etwas anderem zu beschäftigen, im Verein mit der ungewöhnlich milden Witterung (elf Grad Celsius im Schatten!) eine Art Vorfeier, indem ein Teil der Mitglieder, darunter Viktor als Gast (sonst fast lauter Damen), verabredeten, nachmittags draußen vor der Stadt in der Waldegg zusammenzukommen; leider ohne Frau Direktor, welche durch Zurüstungen zum Fest ferngehalten war. Nach genossenem Kuchen belustigte sich das muntere Trüpplein mit körperlichen Freispielen, im besondern mit «Platzvertauschen», eins, zwei, drei – husch von einem Baum zum andern; und der gezähmte Viktor sprang zwischen den Idealianerinnen wacker mit wie der Wolf zwischen den Lämmern im Paradiese. Unter dem zahlreichen Volk, das der sonnige Tag in die Waldegg gelockt hatte, saß auch Frau Steinbach; die schaute dem minniglichen Ereignisse mit sonderbaren Augen zu, als gewahrte sie ein Fastnachtwunder. Nicht wenig schämte sich Viktor vor ihr, bestrebt, möglichst korpulente Baumstämme zwischen sich und ihren beobachtenden Blick vorzuschützen. Allein auf das Schämen kommt es ja schließlich nicht an, wofern einem nur bei der Sache, worüber man sich schämt, wohl zumute ist. Und so wagte er sich denn allmählich dreister vor, unbekümmert um die gescheiten Augen der Freundin durch die vordersten Baumreihen springend.

Am Haupttage dann, abends um acht Uhr im Museumssaal, wickelte sich das umsichtig geordnete und fleißig einstudierte Programm zufriedenstellend ab. Zunächst der Prolog zwischen dem Statthalter und dem Viktor (alte und neue Kultur), wobei sich, wie der Pfarrer witzig bemerkte, die alte Kultur der neuen entschieden überlegen zeigte; nämlich Viktor vermochte zeitlebens keine zehn Verse textrichtig auswendig zu lernen. Hierauf, nach etlichen Gesangsvorträgen, kam das gewaltige Festspiel des Kurt an die Reihe. Aber o weh! Bestürzung! Ein Bär sollte zwischen die Nymphen und Meergreise fahren; und jetzt schickte wahrhaftig der Apotheker Röthelin im letzten Augenblick den kostbaren Bärenpelz zurück; so leid es ihm täte, allein eine plötzliche Erkrankung seines Vaters – er müsse unbedingt mit dem nächsten Zug verreisen. Allgemeine Aufregung; nur der Kurt selber, den es doch in erster Linie anging, blieb bewunderungswürdig ruhig; es gehe auch ohne den Bären, tröstete er seine Gemeinde; wiewohl etwas gezwungen, denn ärgerlich war ihm der Ausfall doch. Da kam ihm der Viktor lachend entgegen: «Es wird wohl keine so schwierige Kunst sein, Herr Neukomm», meinte er, «ein bißchen zu brummen. Falls ich also aushelfen kann...», und duckte sich, von Beifall begleitet, in den Bärenpelz; brummte auch in der Tat gar nicht schlecht, soweit es seine kraftlose Stimme erlaubte.

Zum Schluß folgte eine rätselhafte Nummer: Als der Vorhang auseinanderwich, sah man auf der Bühne einen Pflanzenwald mit einer mannshohen glänzenden Schmetterlingspuppe aus Flitterpapier zwischen den Blättern. Frau Direktor Wyß, als Ehrenpräsidentin der Idealia, sang drei Strophen, deren Text auf Verwandlung deutete; dann tupfte sie mit einem Zauberstabe auf die Puppe; die Hülle fiel, und aus der Hülle schlüpfte, statt eines Schmetterlings, zwei wacklige Fühlhörnchen in den Haaren, das mit Blumen und Kränzen lieblich geschmückte «Idealkind». Das sogenannte Idealkind war ein begabtes, hübsches Waisenmädchen, das Frau Direktor Wyß und Frau Regierungsrat Keller in ihren Schutz genommen hatten und auf ihre Kosten erziehen ließen. Mit scherzhafter Anspielung auf die Idealia wurde es «das Idealkind» getauft, machte übrigens auch seinem idealen Namen durch vortreffliche Schulzeugnisse alle Ehre. Das Idealkind nun lispelte, die Fühlhörnchen schüttelnd, einige Verse des Dankes, tat ein paar zierliche Knickse, hierauf wurde es von der Bühne geholt, von den Damen um die Wette abgeküßt und heimlich in den Winkeln mit Geschenken überhäuft. Hiermit war der feierliche Teil des Festes zu Ende; und ein unendliches Erlösungs-Tanzen hub an, mit dem Idealkind als Lieblingsgeschöpf, welches Idealgeschöpf übrigens, ungeachtet ihrer lenzknospigen Jugend, nicht übel nach dem Kurt äugelte. Aber auch Viktor erfreute sich der Bevorzugung, zum Lohn für seine Mitwirkung und gefällige Aushilfe. Kaum ein Paar glitt an ihm vorüber (denn selber zu tanzen fühlte er sich nicht aufgelegt), ohne ihm eine Artigkeit oder eine neckische Anspielung auf seinen Bären oder seine Kultur zuzuwerfen, in verschiedenen Geistesgraden, aber immer im liebenswürdigsten Tone. Ja, den Witzigsten gelang sogar, mit einem als Lasso kühn geschleuderten Gedankenfaden den Bären und die Kultur geschickt zu verknüpfen: «Ich hätte gemeint, der Bär passe besser in die alte Kultur als in die neue» oder: «Haben Sie uns am Ende mit Ihrer neuen Kultur einen Bären aufbinden wollen?»

Ein Strom von harmlosem Wohlwollen flutete ihm entgegen, so daß er sich der schlecht verdienten Gewogenheit ordentlich schämte. Und jählings quollen aus seiner Beschämung Rührung und Dank, die nun wieder aus seinem Herzen dem gutartigen Volke zurückfluteten und endlich im dritten Rückprall ihn selber mit einem gänzlich neuartigen, nie vorher verspürten Glück erfüllten, dem Glück des Gemeingefühls. Er, der eingefleischte Sonderling, lernte heute durch die allgemeine Gunst den Segen der Genossenschaft werten. Oh, spöttle nur, Frau Steinbach, mit deinen gescheiten Augen! Leuchter der Weltgeschichte sind sie ja nicht, zugegeben; allein gute, liebe Menschen sind's, und das ist die Hauptsache.

Friede innen, Friede außen, versöhnt mit sich selber und aller Welt, er wußte gar nicht, wie ihm geschah und wie er die tausendstimmige Harmonie aushalte. Und als er nun gar am nächsten Morgen ein Brieflein – ist's möglich? von ihr! – erhielt, das erste seines Lebens, tat ihm der Überschwang der Seligkeit ordentlich weh. Zwar eigentlich enthielt das Brieflein soviel wie nichts, wenigstens nichts fürs Gemüt; sie ersuchte ihn einfach um die Gefälligkeit, im Museum nachzufragen, ob man nicht ihren Fächer aufgefunden habe. Allein es waren doch Zeilen von ihrer Hand; und darüber hatte sie gesetzt: «Hochgeehrter Herr» und darunter «Ihre Theuda Wyß». Ob er sich schon vorsagte, das sind leere Formeln, so erhob und berauschte es ihn trotzdem, daß sie ihn einen hochgeehrten Herrn zu betiteln nicht für unwert erachtete. Mit der Unterschrift aber unternahm er ein listiges Kunststücklein: er schnitt mit der Nagelschere von den drei Worten «Ihre Theuda Wyß» kreisum die zwei ersten säuberlich aus, das dritte unterschlagend. Siehst du jetzt: sie unterschreibt sich «Ihre Theuda». Das heißt meine Theuda; sie bekennt sich demnach als mir gehörig. Und versorgte das gefälschte Bekenntnis in die Kapsel seiner Uhrenkette. «Nun hab' ich sie sozusagen in meinem Besitz», jubelte sein Herz.

Jetzt überlief ihm die Seligkeit in die Nerven, daß er vor Ausgelassenheit irgend etwas recht Närrisches hätte beginnen mögen, er wußte nur nicht, was. Einstweilen stellte er sich vor den Spiegel und schnitt Grimassen, oder er ahmte Tierstimmen und menschliche Dialekte nach, was bei ihm den Gipfel der Fröhlichkeit bedeutete. Nein wirklich, im Ernst, er wußte nicht mehr, ob es ihm eigentlich wohl oder weh tue, so unausstehlich glücklich war er.

Herzeleid

Eines Tages jedoch wußte er's, ob es ihm wohl oder weh tat.

Er hatte sie eines Vormittags, als er Frau Doktor Richard besuchte, dort vorgetroffen, munter gestimmt und zu harmlosen Scherzen aufgelegt wie er selber; kurz, sie «verstanden sich» heute. So war man denn in traulichem Geplauder sitzen geblieben, länger verweilend, als beabsichtigt gewesen, wie an die Stelle gebannt durch den freundlichen Geist der Stunde.

Vom Nachhall der Übereinstimmung betört, entschlüpfte ihm unten auf der Straße, wie sie ihm zum Abschied mit gutem Blick die Hand reichte, eine kindische Frage: «Und Sie kommen also jetzt nicht mit mir?»

«Natürlich nicht», antwortete sie belustigt, «hoffentlich nicht.»

«Wohin denn sonst?»

«Diese Frage! Heim zu meinem Mann und meinem Buben, die hungrig aufs Mittagessen warten.»

«Und ich? ich bin also ausgeschlossen?»

«Ei, durchaus nicht. Kommen Sie nur mit; mein Mann wird sich freuen.»

Sie war nicht sein! Und wie eine Katze, die einen Schuß bekommen hat, floh er nach Hause. Sie war nicht sein! Und er, der gemeint hatte, seine Liebe wäre wunschlos! Als ob es menschenmöglich wäre, jemand zu lieben, ohne allermindestens seine bleibende Gegenwart zu begehren. Sie war nicht sein! Schlimmer noch: sie gehörte einem anderen, einem Fremden! Gewußt hatte er ja das freilich längst; allein heute zum ersten Male spürte er es auch, da sie ihn verließ, um zu einem andern zu ziehen. Und das nannte sie «heimgehen»!

Die Katze, wenn sie den Schuß hat, verkriecht sich; doch das Schrot nimmt sie mit, und die Wunde, die anfänglich mehr schreckte als schmerzte, beginnt im stillen Winkel und arbeitet. Welch ein unerhörtes Vorrecht! was für eine empörende Ungleichheit! Tag für Tag, Jahr um Jahr bis ans Ende der Ende soll der andere mit ihr wohnen dürfen, er nie. Nicht einen Sommer, nicht einen Monat, nicht einmal ausnahmsweise einen Tag. Jenem alles, ihm nichts. Und nicht bloß mit ihr wohnen, sondern – hinweg, Gedanken! Denn weil der dort ohnehin zuviel hat, schenkt sie ihm zu ihrer Gegenwart noch Liebe und Freundschaft obendrein. Ist jener traurig, so tröstet sie ihn; ist er krank, sie härmt sich um ihn; stirbt er, ihre Sehnsucht folgt ihm übers Grab; gibt es eine Auferstehung, ihr erwachender Blick sucht jenen. Was hat denn der Anmaßliche für einen einzigartigen Wert voraus, daß ihm solch ein schwindelhafter Preis zuteil wird? Ist er etwa nicht auch ein Mensch? oder besitzt er für sich allein mehr Vorzüge und Verdienste als die übrige Menschheit zusammen?

Und keine Hoffnung! Nichts zu ändern! weder zu erklügeln noch zu ertrotzen; rundum nirgends eine Möglichkeit. Im Gegenteil: jede vorüberziehende Stunde, so bei Tag als Nacht, so bei Regen wie Sonnenschein, welches auch sonst ihr Inhalt sei, eines tut ihrer jede sicherlich, die eine wie die andere: sie gräbt die Kluft zwischen ihm und ihr tiefer, schürzt das Band mit jenem enger. Die Angewöhnung, das Verständnis, die gemeinschaftlichen Erinnerungen, die gegenseitigem Dankverpflichtungen, das nimmt ja doch nicht ab; im Gegenteil, das mehrt sich, das häuft sich. Das Kind, das beide vereint, wird je länger, desto mehr ihre Sorge und Teilnahme beanspruchen, mithin die Eltern noch inniger befreunden; es ist ja auch nicht gesagt, daß es das einzige bleibe, es kann möglicherweise ein Brüderchen oder ein Schwesterchen erhalten; warum nicht? wer will's ihnen wehren?

Ach, hatte er sie unterschätzt, die Macht der Ehe, als er sie für eine Art Statthalterei betrachtete, meinend, es ließe sich billig teilen: jenem, dem Statthalter, der Leib und ihm die Seele! So scharf er auch sah, eines hatte er bei seiner Unerfahrenheit doch übersehen, die Hauptsache: das Mysterium des Fleisches, die tierische Gewalt des Naturtriebes, der die Mutter nötigt, Himmel und Erde um eine Kraftbrühe für ihr Kind herzugeben, der die Frau zwingt, das Herz dem Leibe nachzuwerfen, mit allen Fibern dem Manne angehörend, der sie körperlich geprägt, der sie aus der Jungfrau zur Frau und Mutter umgewandelt hat, verurteilt, diesen einen zu lieben, auch wenn sie ihn verachtete. Puppe, Bebé und Papa, diese drei Worte erschöpfen den Lebensinhalt des Weibes. O ihr Toren, die ihr euch darum kümmert, ob euch jene liebt, die ihr zur Frau begehrt! Herzhaft! lache ihres Abscheus, schleppe sie zum Altar; denn die Ehe ist stärker als der Haß, dauerhafter als die Liebe.

Eine Jungfrau wankt mit dem Verhaßten zur Kirche wie zum Schlachthof, leichenfahl, den Tod im Herzen, das einem andern gehört; frag nach zwanzig Jahren nach: «Kinder, freut euch, der Papa kommt morgen heim.» – «Wenn nur dem Papa kein Unglück zustößt!» Der andere dagegen, der einst Heißgeliebte, wenn der stirbt, so erhält er bei der Todesnachricht ein kleines Wehmütchen, wenn's hoch kommt ein mühsam erquetschtes Tränelein; nachher heißt es wieder Papa. Das ist die Macht der Ehe.

Nein, keine Hoffnung. Einen Naturtrieb bekämpfen? Narrheit. Gegen die Weltgesetze streiten? Wahnsinn. Die Wahrheit sprach zu ihm: «Verdammt auf ewig», und sein Gram gestand: «So ist es.»

Da ward er inne, daß, wer einen Menschen zu seinem Gott macht, sich einen Fluch pflanzt. Sind sie zu beneiden, die einen überweltlichen Gott haben, einerlei, was für einen; wäre er ein Zornbold wie Jehova, ein Ungeheuer wie Moloch; denn kein Gott keiner Religion ist unerbittlich, keiner verstößt in die Hölle, wer ihm liebend naht, keiner spricht zum Verzweifelnden: «Ich kenne dich nicht.» Und wäre selbst einer der Himmlischen fühllos wie Stein, eines ist er jedenfalls nicht: er ist nicht kleinlich. Man stößt auf keinen Direktor Wyß zwischen sich und ihm, man hängt nicht von der Gewogenheit eines Kurt ab, die Madonna der Christen gebärt kein Rudel von Buben, um deretwillen sie Himmel und Erde vergäße. Einen Menschen anbeten: nicht viel gescheiter als einen Wurm anbeten. Mit hellem Geiste sah er das ein; allein Einsicht heilt keine Entzündung. Sieh ein, daß das Gift, das dein Blut zu Eiter zersetzt, nur ein verächtliches Körnlein Schmutz ist, der Brand frißt trotzdem weiter.

Eben darum aber, weil seine Liebe Religion war, weil ihm in Theuda-Imagos symbolischem Antlitz alles Leben der Welt mitklang wie im Mutterangesicht die Heimat, verspürte er sein Leiden am schmerzlichsten in den edelsten Teilen der Seele. All die Andeutungen und Bedeutungen, all die Lichter, Gesichter und Gedichter, die da über die Brücke gewandelt kommen, welche die Wirklichkeit mit der Geisteswelt verbindet, langten wund an, mit einem blutigen Stich; sein gesamtes Lebensgefühl erkrankte zu einem sehnsüchtigen Heimweh; Heimweh nach ihr, Heimweh nach der gemeinsamen Heimat aller Geschöpfe, Heimweh nach sich selber. Denn er war ja sie; aber – o Höllenwunder der Unmöglichkeit! – sie war nicht er.

Und da er ein Mensch von Geist war, gezwungen, wenn er gebissen wurde, wissen zu wollen, was für eine Schlange ihn biß, mochte er sich mit seiner Vernunft über das Wunder der Lieblosigkeit unterhalten; zwecklos, wohl wissend, daß ihm die Erkenntnis nichts nützen würde, nur weil er als Denker nicht anders konnte als denken. Herzeleid aber stellt nicht das Denken still, im Gegenteil, es nötigt die Gedanken zu nagen. «Bist du wach? hast du Zeit? kannst du mir das Rätsel lösen, wie es seelenmöglich ist, daß ein Mensch, dem man das höchste Gut, den einzigen Trost auf Erden, also die Liebe schenkt, einem nicht mit Gegenliebe vergilt?»

Die Vernunft antwortete: «Sammle und vergleiche: Wenn du den lieben Gott liebst, liebt er dich wieder?» – «Ohne Zweifel.» – «Wenn du den Papst liebst, liebt er dich wieder?» – «Mäßig.» – «Wenn du die Herzogin von Aragonien und Kastilien liebst, liebt sie dich wieder?» – «Wird ihr schwerlich einfallen.» – «Wenn du eine Schnecke liebst, liebt sie dich wieder?» – «Könnte sie schon gar nicht.» – «Nun also, da hast du's. Je tiefer hinunter mit der Seele, desto weniger Liebe. Liebe bedingt Seelenfülle, Lieblosigkeit verrät Stumpfheit. Punktum.»

«Und das alles klar zu wissen, haarscharf einzusehen, es ist nur dein eigenes Phantasie-Ei, das dir aus dem Gläslein dieses kleinen Weibleins entgegenguckt, und trotzdem verdammt zu sein, dieses kleine Weiblein, das du weit überschaust, überfühlst und überdenkst, wie den Heiligen Gral zu begehren, nach ihr zu lechzen wie ein Verdurstender nach dem rettenden Quell! Wie erklärst du das?»

«Torheit, Torheit, mein Lieber!» lachte die Vernunft. «Doch üb du nur ruhig deine Torheiten weiter; das verspricht mir, daß dereinst noch etwas Vernünftiges aus dir wird.»

So unterhielt er sich mit der Vernunft über seinen Fall. Deswegen wurde ihm nicht um den geringsten Grad besser; im Gegenteil. Es ging ihm wie mit den Zahnschmerzen: je mehr man daran denkt, desto ärger wird es; und wenn man versucht, nicht daran zu denken, so zwingt einen der Schmerz, an den Schmerz zu denken. Wohin sollte er aber auch seine Gedanken retten, daß sie nicht den Schmerz vorfänden? Ob er jenseits des gestirnten Himmels in die Religion, ob er in den strahlenden Schöpfungsäther der Poesie flüchtete, immer stieß er auf seine Verdammnis, immer begegnete er diesem einen unseligen lieben Menschengesicht, das ihn überall hin verfolgte, um ihn von überall her mit seinem schönen kalten Blick zu vernichten.

O ihr Gedankenlosen, die ihr über das Leid unerwiderter Liebe lächelt! Nehmt, eine Mutter sähe ihr verstorbenes Kind, ihr einziges, aus dem Grabe steigen, lieblich und schön, von Himmelsglanz verklärt; sehnsuchtschreiend stürzte sie ihm entgegen; das Kind jedoch kehrte sich von ihr ab, fremden Blickes, mit verächtlichem Lippenrümpfen: «Was will mir die dort?» Würdet ihr da lächeln? Genauso war ihm zumute; das teuerste Stück seiner selbst aus ihm herausgerissen, gesondert umherwandelnd und ihn verleugnend. Und das tat so grausam, so unleidlich weh, daß er manchmal meinte, es dürfe einfach nicht sein, weil er es nicht ertragen könne.

Allein er war kein Schwächling, vielmehr standhaft und zäh. Darum rief er seinen Verstand zu Hilfe. «Da! so steht's. Leben muß ich; ertragen kann ich's nicht. Also was?»

Ihm antwortete der Verstand: «Komm, ich will dir etwas zeigen.» Und führte ihn vors Schlachthaus. «So, jetzt, denk' ich, kannst du's ertragen.» Hierauf, nachdem sie wieder zu Hause angelangt waren, fuhr er fort: «Siehst du, die ganze Kunst besteht darin, nichts Unheilvolles zu tun; tu lieber gar nichts. Beiß die Zähne zusammen, oder schrei meinetwegen, wenn's nicht anders geht; nur schrei nicht mit den Händen. Die Stunde besiegen ist alles; wer die Stunde besiegt, besiegt den Tag; wer den Tag besiegt, besiegt das Jahr; nur immer gerade jetzt nichts Verderbliches begehen. Die Stunde aber besiegt ein Mann – und du bist ja ein Mann –, vorausgesetzt, daß er gesund ist – und du bist ja gesund –, mit Arbeit. Darum laß die Schmerzen machen, das ist ihre Sache, sie können's allein; du arbeite; du weißt, was.»

Er wußte, was. Und da die Arbeit im Dienste seiner Strengen Herrin geschah, die da eine mächtige Göttin ist, flohen vor ihrem Odem die Quälgeister hinter den Vorhang, von wo sie allerdings dann und wann heimtückisch hervorschossen, um ihm einen raschen Stich zu versetzen, doch sich ebenso schnell wieder versteckten.

Freilich, selbst die schärfste Arbeit bringt Pausen; oder sie hört auch einfach auf, abends in müdem Zustande. In solchen Stunden kamen die Überfälle zahlreicher und gefährlicher. Auf der Bibliothek standen, ordentlich gereiht, sämtliche Jahrgänge einer Monatsschrift; während er sorglos darin blätterte, schreckte er plötzlich zurück, wie von einer Schlange gebissen: einer der Bände trug nämlich die Jahreszahl der Parusie; so daß er künftig jeder Zeitschriftensammlung in weitem Bogen auswich.

Er kam an einer Frauenkleiderhandlung vorüber. Im Schaufenster prangte ein weißer Rock mit grünen Knöpfen. O sengender Sonnenstich der Erinnerung! Sie hatte in der Parusie einen weißen Rock und einen weißen Gürtel, mit grünen und goldenen Fäden gewirkt.

Und ähnliches. Unter den scheinbar harmlosesten Gegenständen lauerten Skorpione. Dieser Kamm scheint doch unschuldig, nicht wahr? und dieses Papiermesser auch? Eitel Tücke und Gleisnerei! denn diesen Kamm hatte er sich zwei Wochen vor der Parusie gekauft! das Papiermesser das Jahr darauf während der «fliegenden Hochzeit». Und jedesmal schrie das getroffene Herz auf: «Es kann, es darf ja nicht sein; es ist ja ganz und gar unmöglich.» «Tatata!» mahnte der Verstand, «keine Gaukeleien! Es ist; folglich wird es wohl möglich sein.» Und schleunig duckte er die winselnde Hoffnung.

Immerhin, von Stunde zu Stunde tapfer kämpfend, kam er über die Tage leidlich hinweg; meistens siegreich, zuweilen unentschieden, niemals geschlagen.

Aber die Nächte! Wo im Traum das tagsüber unterdrückte, doch keineswegs vernichtete Heimweh seiner Seele, nun nicht mehr von Arbeit, Wille und Verstand gebändigt, freiledig emporstieg, wie die Dampfsäule aus einem siedenden Kessel, nachdem der Deckel abgehoben worden! Keine Nacht ohne Traum, und kein Traum ohne sie. Und unfehlbar vermählte ihn der Traum mit ihr, behauptend: «Ich bin die Wahrheit, das Gegenteil ist Trug und Täuschung.» Und nicht vereinzelt dichteten die Träume, jeder für sich ein besonderes Ganzes darstellend, heute dieser Traum, morgen ein anderer; nein, der Traum der jeweiligen Nacht bezog sich rückwärts auf die Träume der vorangegangenen Nächte wie eine Romanerzählung auf die früheren Kapitel; seine Träume bildeten Kette. So daß er ein förmliches Doppelleben führte: nachts, herzlich mit ihr vereint, von ihrem Lächeln beleuchtet, von ihrem Liebesblick besonnt, mit ihr plaudernd und kosend, ein Leben voll süßer, goldener Seligkeit; tags ein hoffnungsloses Schmerzensdasein in der Trübsal uferloser Verdammnis. Oh, wozu erwachen! Daß doch niemals die Enttäuschung einsetzte! daß der wonnige Traumwahn auch den Tag tröstete!

«Wenn's nur das ist», meinte die Phantasie, «dem ist bald abgeholfen.» Und eins, zwei, ohne seine Einwilligung abzuwarten, hatte sie den Guckkasten aufgerichtet und die Vorstellung begonnen: Unmöglichkeiten, auf Lügenfüßen stehend, immerhin denkbare Unmöglichkeiten, wofern man von den Lügenfüßen absah.

Eine demütige Greisin hielt auf seiner Schwelle; dahin die Schönheit, zerstoben die Freunde und Anbeter, das erloschene Auge um ein Liebesalmosen bettelnd. «Auch du, natürlich», klagte ihr Blick, «nun ich alt und häßlich bin, kennst mich nicht mehr.»

Er aber rief. «Theuda, meine Braut, umsonst, daß du dich bemühst, die ewige Jugend deiner Schönheit unter der entliehenen Maske des Alters zu verhehlen; denn sie verrät der Glanz der Parusie, der dich umstrahlt. Doch warum stehst du demütigen Blickes auf der Schwelle? Sieh, ich beuge vor deiner Hoheit ehrfürchtig die Knie.»

Ihm antwortete Theuda: «O Wunder der Gnade! Heute, da ich alt und häßlich bin, wird mir aus einem einzigen Herzen der Liebe mehr, als mir von allen Menschen zusammen in meinem ganzen Leben geworden.»

«Gelt?» lachte die Phantasie, «das gefällt dir?» Und fuhr fort zu spielen.

Im Krankenbett sah er sie liegen, von Beulen entstellt, von den Nächsten verlassen, ein Ekel den Menschen. Er aber nahte ihr andächtig wie einem Altar.

«Das ist hingegen kein schönes Bild», tadelte er die Phantasie.

«Soll auch keines sein, denn das ist ja eben das Schöne daran, daß deine Liebe sogar den Ekel übermag. Doch wart, ich habe noch etwas.» Und fuhr fort zu spielen.

Eine Lasterhafte schaute er, von der Welt verurteilt, verstoßen, verspien; dem Trunk ergeben, im Rausch auf dem Boden sich wälzend.

«Pfui!» schalt Viktor entrüstet, «pack auf! was für eine sträfliche, hirntolle Vorstellung! Sie, die Züchtige, die Reine, die Hohe!»

«Aber wenn?» zischelte die Phantasie, «wenn? Sag ehrlich, was würdest du in diesem Falle tun? Würdest du, würdest du sie mit dem Fuß fortstoßen? würdest du das? Du schweigst? Schon gut, ich weiß jetzt genug. Übrigens hab' ich auch allerlei in anderm Stil. Vielleicht ein durchsichtiges Kartenspiel gefällig? Nicht? Schade, da hast du unrecht, es sind wunderhübsche Sächelein darunter. Dann also vermutlich lieber etwas Ernstes? Ja? im Augenblick.»

Und zeigte sie ihm als Witwe im Trauerkleide.

Da warf er ihr in jähem Zorn den Guckkasten über den Kopf Mußte er sie indessen wahnwitzig lieben, daß seine Phantasie sich getraute, ihm solche Unbilder zu bieten!

Die Erinnerung, daß es einst seiner Willkür anheimgestellt gewesen, statt der gegenwärtigen Hölle den Himmel einzutauschen, daß sechs lange Monate das Glück geduldig vor seiner Tür auf- und abwandelte, seiner Erlaubnis gewärtig, die Erwägung, daß er nicht allein ihre huldreiche Gewogenheit, die ihm jetzt als der unerreichbare Gipfel der Gnade erschien, sondern in atemstickendem Reichtum ihre gesamte Person, Leib, Liebe und Leben mit einem einzigen Wort hätte erwerben können, prägte seine Qual mit tragischem Stempel. Hart an der Reue streifte die Erinnerung vorbei, berührte sie jedoch nicht, auch nicht einen Augenblick. Wohl ihm! denn bereute er, so rettete ihn nichts vor Verzweiflung. Nein, er bereute nicht, ob ihm schon die Sehnsucht das Herz wie mit Zangen zerrte. Deshalb fühlte er sich auch beim kläglichsten Geschrei seines Herzens gar nicht einmal unglücklich. Es glänzte etwas wie Glorie um sein Weh; ähnlich der Glorie des Märtyrers, dessen Mund zwar während der Folter jammert, dessen Glieder sich gegen den Henker sträuben, der aber selber zur nämlichen Zeit freudig seinen Gott bekennt. Darob erhöhte sich sein Gefühl zur Passion; seine Seele schritt auf dem Kothurn, sein Geist wogte rhythmisch; der Blick seines Auges, dem der tragische Schmerz jede Träne verweigerte, ward ekstatisch, in solchem Grade, daß eines Tages ein Augenarzt ihn auf offener Straße anhielt, mit dem Gesuch, die erstaunliche Merkwürdigkeit beglaubigen zu dürfen.

Allein, wo Ekstase gedeiht, wächst auch die Anfechtung. Auch ihm widerfuhr sie, die Stunde der Anfechtung.

Direktors feierten in diesen Tagen den Geburtstag ihres Bübleins, des kleinen Kurt; und Viktor, ob er schon sonst zu keinem Menschen mehr zu bewegen war («ein komischer Mensch! kaum, daß man gemeint hatte, es wäre alles gut, spielt er wieder den Einsiedler!»), erachtete es für richtig, bei diesem Anlaß nicht zu fehlen; aus Geschmacksgründen. Irgendein allegorisches Anspiel, vom andern Kurt, dem Ohm und Paten des Geburtstagkindes, ersonnen (dieser geniale Mensch nämlich schüttelte nur so aus dem Ärmel, wozu andere Wochen und Monate brauchen), wurde aufgeführt, worin der Mutter, also der Frau Direktor, die Rolle einer Fee zukam, so daß sie ihre nichtsnutzigen Verslein im weißen Gewande sprach, mit zwei mächtigen Flügeln behaftet, die schwarzen Locken aufgelöst, auf dem Scheitel ein flittergoldnes Krönlein. Schon während der Aufführung, angesichts der hehren Erscheinung im Himmelsgewande, nahm sich sein Herz meuterische Bemerkungen heraus: «Da sieh, du Tropf, du Ehefeigling, was du verscherzt hast.» Wie dann nach Beendigung des Stückes Theuda im Feenkleide verbleiben mochte, also daß Göttin und Menschenweib, Rolle und Wirklichkeit, durcheinanderspielten und das Kind herumgereicht wurde und weihevoller Friede von der Stirn der beglückten Mutter leuchtete, Ort und Stunde und alle Anwesenheit mit Huld und Güte segnend, da begann sein Herz einen solchen unsinnigen, unbändigen Aufruhr wie nie zuvor in seinem ganzen Leben:

«Und wenn alle Götter des Himmels und alle Religionen der Erde und sämtliche Pflichten, Erhabenheiten und Weisheiten vereint auf mich einschrien, ich behaupte ihnen ins Gesicht: es gibt im Weltall keinen Wert, der den Besitz der Geliebten aufwöge, und keinen Lohn im Himmel und auf Erden, der für den Verlust dieses Kleinods entschädigte. Wer diesen Preis hätte haben können und hat ihn verschmäht, und wäre es auf Geheiß des allmächtigen Gottes in Person, der ist kein Märtyrer, kein Held, sondern er ist einfach ein Narr. Recht und billig, daß dich der Fluch der Verdammnis zermalmt.»

Da eilte er heim auf sein Zimmer und rief in seiner Not seine Strenge Frau an, nicht anders als wie der Gläubige seinen Gott.

«Hilfe!» stöhnte er, «ich vermag's nicht mehr allein. Die Freundin, die du mir verlobtest, deine Tochter, die du mir vermähltest, mit feierlichem Spruch uns ewiglich verbindend, Imago, meine eheliche Braut und Gattin, sie kennt mich nicht, Imago sieht an mir vorbei. Oh, mißverstehe nicht den Schrei meines gefolterten Herzens. Keine Reue befleckt den zuckenden Wunsch meiner blutenden Seele. Flösse die Zeit rückwärts, zum zweiten Mal mir die Entscheidung vor die Füße spielend, ich würde zum zweiten Male entsagen; ja, das würde ich. Auch will ich ja gerne leiden und entbehren, wehmütig, doch gläubig und freudig. Aber warum denn so gräßlich, warum so unmenschlich? Ist es denn ein so unerhörtes Verbrechen, groß zu sein, daß ich dafür über Menschenkraft bestraft werde? Wenn es sein darf, so mildere den Spruch meiner Verdammnis. Öffne deiner Tochter Augen, daß sie mich nicht ganz und gar verleugne; sprich ihr zu, daß sie mich ihren edlen Freund nenne, daß sie mir wenigstens einen Blick der Erinnerung, einen einzigen, gewähre. Leg ihr das ans Herz, befiehl ihr das. Darf es nicht sein, so leihe mir deinen Beistand, damit ich nicht unterliege.»

Da war ihm, als schwebte der Schatten der Strengen Frau durch das Zimmer. Gestärkt stand er auf und litt, was zu leiden war.

Konvulsionen und Illusionen

Inzwischen waren die Winterfeiertage angekommen, Weihnacht mit ihrem schnellen Sprung, hernach der langsam daherkriechende Silvester. Selbstverständlich hielt er sich überall fern; denn ohnehin kein Freund von Familienrührseligkeiten und Kalenderhumanitäten «(muhen das ganze Jahr fühllos aneinander vorbei und bimmeln in der Neujahrsnacht Bruder Lieblich»), brauchte er gegenwärtig wahrlich keine Wachskerzen, um zu wissen, was Wehmut ist.

Dagegen die üblichen Höflichkeitsbesuche am Neujahrsmorgen durfte er anständigerweise nicht unterlassen. So machte er denn geziemlich die Runde, wobei er die schwierigsten Gänge, den zu Frau Steinbach und den zu Direktors, ans Ende schob.

Nicht wohl war ihm zumut, wie er in dem trauten Gartenhaus der Frau Steinbach die Treppe hinaufstieg. «ohne Anzüglichkeiten», mußte er sich sagen, «oder zum mindesten vorwurfsvolle Mienen werde ich schwerlich abkommen.» Allein nichts von alledem; mit unbefangener Freundlichkeit, als wäre er gestern hier gewesen und nicht ein Vierteljahr weggeblieben, empfing sie ihn, höchstens etwas zurückhaltender als früher. «Ich habe in der Silvesternacht», berichtete sie lächelnd, «Ihre Zukunft ausgekundschaftet; Sie wissen, mit geschmolzenem Blei im Wasser. Aberglaube, zugegeben; immerhin, wenn das Orakel günstig lautet, so mag man ihm gerne Glauben schenken. Und was das Orakel mir von Ihnen erzählt hat, das glaube ich wirklich. Nämlich Sie werden einmal eine liebe, treue Frau bekommen, anspruchslos und selbstlos, jung und anmutig, die Ihnen von ganzem Herzen zugetan ist und Ihnen das Leben zur Freude macht; dazu ein paar liebe, gute, schnupperige, kußliche Kinder – kurz, Sie werden glücklich sein.»

«Ich? glücklich sein?» wiederholte er, tieftraurig.

«Ja, glücklich. Und zwar so glücklich, wie ein Mensch auf Erden nur sein kann, ob Sie es schon vielleicht in diesem Augenblick nicht glauben; ich fühle es, ich weiß es, Sie werden glücklich sein, denn Sie haben das Talent zum Glück. Und wissen Sie, was ich tue? Ich liebe Ihre künftige Frau schon jetzt, ohne sie zu kennen. Ob ich's erlebe, kann ich nicht wissen; ich hoffe es, es wäre meine schönste Stunde. Sollte es nicht sein dürfen, so grüßen Sie mir Ihre liebe Braut herzlich von mir, und sagen Sie ihr, daß ich sie innig segne für alles Zarte und Gute, das sie Ihnen antun wird.»

«Seine Frau, seine Braut», was für Worte, was für Vorstellungen! Und mit Traurigkeit getränkt, zog er verstört weiter, zu Direktors.

Er traf sie im Empfangszimmer, das Kind auf dem Schoß, freudig erregt von Festtagen, Geschenken und Besuchern. Treuherzig, ein bißchen nachlässig, bot sie ihm die Hand mit dem üblichen Neujahrsgruß: «Ich wünsche Ihnen recht viel Glück und Gesundheit zum neuen Jahr und alles Gute.»

Das sagte sie! sie wünschte ihm Glück! Von einem jähen Schwall von trostlosem Weh überwältigt, verließ er ohne Gegengruß noch Abschied das Zimmer («entschieden ein komischer Mensch, der Viktor»), stürzte durch die Seitengassen, hernach durch die Vorstadt – o die unendliche Stadt, die zahllosen Menschen, die neugierigen Blicke! –, dem rettenden Walde zu. Doch er gelangte nicht bis zum Walde; denn kaum daß er von ferne den Saum der gastlichen Tannen gewahrte, riß es ihn zu Boden, mitten in den Schnee, eine Beute unsinniger Schluchzer. Da galt keine Überwindung, keine Scham; so wie einer, der Arsenik im Leibe hat, im dichtesten Menschengewühl hinstürzt und sich in Krämpfen windet, ob er schon weiß, das schickt sich nicht, so mußte er die Schluchzer geschehen lassen. «Ich bin nämlich auch noch da», erwiderte sein Körper. «Dem ist jemand gestorben», hörte er eine vorübergehende Bauernfrau mitleidig sagen.

Seit diesem Augenblick war es, als ob ein Strom einen Dammbruch entdeckt hätte und schösse fortan seine Wogen durch die Bresche. Sein ganzes Sehnsuchtweh flutete ihm nunmehr durch die Augen, er lebte nur noch in Tränen oder in Furcht vor den Tränen. Denn in jähen Anfällen übernahm ihn der Tränenkrampf, ohne jede Warnung; und der mindeste Reiz genügte ihm: ein Glockenklang, ein Ton Musik, der Anblick eines Weges, den sie einmal geschritten, der Zug einer Wolke, welche von Kindheit und Heimat erzählte; ähnlich wie das bloße Summen einer Fliege hinreicht, um den Starrkrampf des Tetanuskranken auszulösen. Oh, wo ist eine Stelle, dahin ein Mensch flüchtet, um unbeobachtet und ungetröstet zu weinen? Warum umfriedigt der Staat nicht heilige Stätten für die Traurigen, unnahbar der Neugier? Man besitzt so viele unnütze Rechte, warum nicht das Recht auf Tränen?

In den Pausen der Anfälle fühlte er sich weich gemütet wie ein Genesender; nach guten Menschengesichtern verlangend, aber nach fremden, die ihm noch keinerlei Leid zugefügt; dankbar für einen Gruß, für ein gleichgültiges Wort, dankbar schon dafür, daß jemand an ihm vorüberzog, ohne ihm wehe zu tun. Deshalb mied er seine Bekannten, suchte dagegen Versammlungen, also zum Beispiel Wirtshäuser auf, denn der Anblick volkstümlicher Bewegung, die seiner nicht achtete, das Geräusch menschlicher Reden, die ihm nicht galten, tat ihm wohl.

Freilich verrechnete er sich dabei etwas, indem er dort, wo er Hinterdörfler suchte, auf einen Bekannten stieß. So tauchte einmal in der Bierhalle Dreher plötzlich der Statthalter vor ihm auf, nötigte ihn neben sich und stellte ihm einen fremden Herrn vor, «Doktor Eduard Weber, Ethiker». Kaum hatte der Statthalter das Wort «Ethiker» ausgesprochen, so geschah dem Viktor eine neue Nervenüberraschung: ein Lachkrampf. So gewaltsam, so unwiderstehlich überfiel er ihn, daß er vor Lachen laut aufjauchzen mußte, mitten unter den vielen Leuten. Und statt sich zu beruhigen, kamen die Stöße immer heftiger. «Und Eduard heißt er auch noch.» – «Und hast du das harmonische Weltbesänftigungsgesicht gesehen?» Es blieb ihm nichts übrig, als lachschreiend auf die Straße zu fliehen, während auf seiner Spur alle Welt, vom Gelächter angesteckt, fröhliche Gesichter zog. «Der ist aber lustig.» Und als er am nächsten Tage sich reumütig aufmachte, um dem Herrn sein aufrichtiges Bedauern auszusprechen, und bereits die Klingel ziehen wollte, geschah ihm, nur weil ihm auf dem Namensschild wieder das unglückliche Wort «Ethiker» entgegenjauchzte, der Anfall von neuem. Dreimal flüchtete er, dreimal zwang er sich ernst und entschlossen zurück; es half nichts, das fatale Zauberwort ließ ihn nicht über die Schwelle.

Und einmal angefangen, ging es ihm mit den Lachkrämpfen wie mit den Tränenkrämpfen; sie hatten den Weg gefunden, darum benutzten sie ihn. Und auch ihnen war der nichtsnutzigste Vorwand recht. Er sah ein Huhn Wasser trinken; dabei schob dieses die untern Augenlider hinauf und warf den Kopf zurück; Ergebnis: ein laut aufstöhnendes Gelächter. Er las in einem Buche, an einem Wirtstische wären drei Müller gewesen; darüber jubelndes Lachschluchzen; man denke doch: drei weiße Müller nebeneinander!

«Ach Konrad, wie springst du mit deinem Viktor um!»

«Ja, aber was hast du mir auch seit vier Monaten alles zugemutet.»

Eines Morgens, es war etwas vor elf Uhr, schoß ein leuchtender Gedanke vor seinen Augen auf, steil wie eine Rakete: «Da doch Güte deinem Herzen so wohl tut, warum begibst du dich nicht einfach zu ihr, dem Quell der Güte? Der Arzt, der dir wehe getan hat, wird dich heilen. – Tu nicht so ungebärdig! Was besorgst du? wen fürchtest du? Sie? Von guten Menschen geschieht einem nichts Böses. Dich? Ach Gott, du bist jetzt so gering, so anspruchslos geworden! Versuch's; es ist doch kein so gefährliches Wagnis, einer Dame, mit welcher man befreundet ist, einen Besuch abzustatten; du bist ja schon oft dort gewesen, ohne daß sie dir den Kopf abgebissen hat. Und warum nicht ebensogut heute als morgen? Oder hast du einen Grund, morgen vorzuziehen?»

«Das nicht. Heute oder morgen, das käme ganz auf das gleiche heraus.»

«Wenn du jedoch heute gehen willst, so darfst du nicht säumen; es ist gerade die richtige Besuchszeit,»

«Du bist ein gescheiter Gedanke. Nur laß mich zuerst gründlich nachsehen, ob auch alles inwendig im Gleichgewicht ist, damit mir nicht am Ende wieder der Konrad mit seinen Nervenkünsten eine Überraschung spielt.»

Er prüfte sich. Rundum Ruhe, im Blut und in den Nerven; nirgends etwas Verdächtiges. Also ging er ohne weiteres zu ihr.

Sie saß allein im Zimmer, am Nähtisch. Kaum erblickte er sie, so funkelten alle Gegenstände wie durch Kristall geschaut, hierauf begannen sie zu schwanken und sich zu drehen, immer schneller; dann wußte er nichts mehr, als daß er zu ihren Füßen kniete, in einer Sturmflut von Tränen, ungestüm ihre Hand küssend. Darüber erschrocken, schnellte er tief beschämt empor, im Begriff davonzustürzen.

Sie aber erfaßte mit barmherziger Güte seinen Arm: «Wohin eilen Sie? was wollen Sie beginnen?»

Er stöhnte: «Weiß ich's? Mich irgendwo in einer Waldhöhle zu Tode schämen.»

«So dürfen Sie nicht fort; kommen Sie, ich will Ihnen die Augen waschen.» Und führte ihn ins Schlafzimmer. «Ich wußte von nichts», besänftigte ihre Stimme, «ich hatte keine Ahnung, wenigstens nicht, daß es so tief gehe. Habe ich mir vielleicht etwas zuschulden kommen lassen?»

Er schüttelte den Kopf, der Rede nicht mächtig, und ließ die Augenwaschung willenlos wie eine Operation über sich ergehen. «Welche Schmach!» stöhnte er von Zeit zu Zeit, «welche Schande!»

«Es ist doch keine Schande, jemand liebzuhaben!» tröstete sie, «man kann ja doch nichts dafür. Oder bin ich denn so schlecht, daß es eine Schande wäre, wenn man mich lieb hat?»

Da biß er sich die Lippen bis aufs Blut.

Darüber war das Kind in der Wiege aufgewacht, richtete sich auf und schaute neugierig zu. Die Mutter holte es aus dem Bette. «Siehst du», sagte sie zu ihm, «da steht ein armer Mann, dem etwas furchtbar wehe tut. Allein niemand hat ihm etwas zuleid getan, niemand will ihm etwas Böses; er tut sich nur selber weh, weil er sich in seiner Phantasie Dinge vormalt, welche nicht da sind. – Gelt, Sie versprechen mir, daß Sie nichts Übereiltes begehen?» mahnte sie zum Abschied. «Falls Sie mich wirklich gern haben, so müssen Sie mir das versprechen; ich will es, ich verlange es. Kommen Sie lieber wieder zu uns, wir wollen Sie heilen; wenn Sie mich genauer kennenlernen, werden Sie bald genug selber sehen, daß ich durchaus nichts so Kostbares, Unersetzliches bin, wie Sie sich einbilden.»

«Ihr meine Liebe verraten!» klagte er auf dem Heimwege, «das heißt: mich ihr wehrlos überliefert! Summa: alles verloren! Wie ein lyrischer Apothekergehilfe, wie ein Romanwicht habe ich mich aufgeführt. Tränen, Handkuß, Kniefall, keine Art von Lächerlichkeit hat gefehlt. Bin ich das gewesen? O Konrad! Konrad! Und dieses Mitleid! dieses barmherzige Trösten! Was in aller Welt soll ich nun beginnen?»

«Nichts», erwiderte sein Verstand. «Nur gesund bleiben, alles übrige richtet sich später wieder ein.»

«Aber die Demütigung, die Erniedrigung!!»

«Wenn es keine größere Erniedrigung gäbe, als der Liebe zu unterliegen!»

Der Verstand mochte schon recht haben. Auch war die Sache nun einmal geschehen. Also ließ er's laufen, wohin es dem Konrad beliebte. Hatte sie nicht gesagt: «Wir wollen Sie heilen, kommen Sie nur wieder zu uns»?

Ob er ihre Aufforderung wiederzukehren befolgen solle, war für ihn nicht fraglich. Oder fragt sich etwa ein Kranker, der nach unerträglichen Qualen endlich ein schmerzstillendes Mittel verabreicht erhalten hat, ob er das Mittel wieder nehmen wolle oder nicht? Es gibt eben Grade des Schmerzes, wohin Stolz und Scham nicht reichen, wo nur noch der einzige Gedanke gilt: «Hilfe», einerlei womit, gleichviel durch wen. Er hatte die geliebte Stimme, den guten Spruch ihrer barmherzigen Rede gespürt. Was Stimme! was Rede! Mit ihrer eigenen Hand hatte sie sein Antlitz berührt, mit ihrem Arm seine Wange gestreift. Was braucht es da der Überlegung? Dort ist der Trost, das Heil und das Leben; die übrige Welt ist Kram.

Also zog er schon am folgenden Morgen wieder hin, am übernächsten Morgen von neuem und so weiter jedes Tages Morgen. Und jedesmal fand er sie am Nähtisch allein, und immer durfte er ihr sagen, daß er sie liebhabe. O welche Erleichterung! Statt fern von ihr sein Leid in den kalten Tannenwald zu weinen, es einem warmen Menschen, es ihr zu gestehen, es von ihren schönen Augen bescheinen zu lassen, teilnehmende Worte, freundschaftliche Blicke dafür einzutauschen! Und wie man eines Kindes Tränen durch Anblasen und nichtige Sprüchlein stillt, so brachten ihm ihre unbedeutendsten Worte durch den bloßen Ton der ersehnten Stimme Trost und Linderung, so daß er schon bei seinem zweiten Besuche der Tränennot ledig wurde; nicht anders, als ob seiner Wunde der Stachel wäre entzogen worden. Und mit jedem neuen Male nahm die Entzündung ab. «Wir wollen Sie heilen», hatte sie zu ihm gesprochen; es ließ sich wirklich so an.

Bald gelang ihm sogar – in der Tat, er hatte das Talent zum Glück –, daß er aus dem Vorrecht, jeden Morgen mit ihr allein zu wohnen und ihr seine Liebe darzubringen, Zufriedenheit und hiemit Seligkeit schöpfte; denn wenn ihm nichts unleidlich wehe tat, war er immer selig. Und warum sollte er nicht zufrieden sein? Täglich eine Stunde ihrer Gegenwart in Freundschaft und Eintracht, eine Art neuer Parusie auf höherer Stufe, überdies durch ein gemeinschaftliches Geheimnis, das Geheimnis seiner Liebe, mit ihr verbunden – wer von allen Menschen, außer dem einzigen Statthalter, dessen Rechte zu schmälern er ja niemals beabsichtigt hatte, besaß denn so viel? Ob sie ihn nun liebe oder nicht liebe, darum sorgte er sich nicht; ja, es interessierte ihn nicht einmal, da er, der Frühreife, sich schon seit unvordenklichen Zeiten in die Überzeugung eingelebt hatte, daß des Menschen Heil oder Unheil nicht von außen, sondern von innen kommt, und daß der Schein den nämlichen Dienst tut wie die Wahrheit, meist sogar einen besseren. Nicht ihre Liebe bedurfte er, sondern bloß ihre Gegenwart, damit sein durstiges Herz ihren Anblick, ihre Stimme, ihre Gebärden und Bewegungen trinke. Wie er denn von jeher mit Vergnügen ihren Haß und Abscheu angenommen hätte, wenn er sie dafür hätte heimnehmen, gefangenhalten und an die Wand schließen dürfen. «Zapple, schrei, schilt, verwünsch: nur bleib bei mir.»

Von dieser begehrten Gegenwart nun hatte er, ohne Gewalt zu gebrauchen, ohne sie rauben und an die Wand schließen zu müssen, durch ihre friedliche Einwilligung ein kostbares gesichertes Stücklein; das sie ihm auch sorglich aufsparte und behütete, indem sie, solange er bei ihr war, jede Störung barsch beseitigte, jeden Eindringling kurz abfertigte; nicht einmal ihr Bruder wurde vorgelassen. So daß er sich gewissermaßen ein wenig mit ihr verheiratet fühlte; eine heimliche Ehe zwar, doch nur um so süßer.

Durch das trauliche Sonderstündchen gedieh dann allmählich ein kameradschaftlicher Verkehr zwischen ihnen. Seine Liebe, nunmehr als selbstverständlich vorausgesetzt, hatte nicht nötig, immer von neuem ausgesprochen zu werden, sie rückte zur harmonischen Begleitung in die untere Notenlinie hinab, zwar die Stimmung beherrschend, aber Raum für andere Gespräche und Unterhaltungen freilassend, die dann oben im Diskant wie durchgehende Noten nach Laune und Belieben schalteten. Sie konnten wie Bruder und Schwester miteinander plaudern, Kunstblätter betrachten, vierhändig Klavier spielen «(ich hatte gemeint, Sie wären unmusikalisch!»); oder sie erzählte ihm von ihren Mädchenjahren, besprach mit ihm die Zukunft ihres Kindes, zeigte ihm die Räume und Einrichtungen ihrer Wohnung. Sogar zu Neckereien fanden sie die Unbefangenheit.

«Das also ist die böse Frau, die einem so grausam weh getan hat», lächelte er.

«Huh! huh!» drohte sie, zog eine grimmige Miene und krallte die Finger.

«Laß sehen, zeigen Sie», scherzte er ein andermal, «schauen Sie mich, bitte, wieder einmal so feindselig an wie einst.»

«Das kann ich jetzt nicht mehr», lehnte sie ab, einfach, wahr und gut.

Als er einmal eine Nadel, die ihr entfallen war, blitzschnell vom Boden aufhob, nannte sie ihn «Herr von Wolzogen». – «Frau von Stein», erwiderte er, sich verbeugend.

Wenn er beim Klavierspielen heimtückisch ihren kleinen Finger unabsichtlich berührte, patschte sie ihm auf die Hand; wenn er im Gespräch einen unliebsamen Kraftspruch äußerte, auf den Arm. Eines Morgens überfiel sie ihn mit einem Panthersprung aus dem Hinterhalt und würgte ihn herzhaft. «Ihr Namenstag heute», erklärte sie dem Verdutzten.

Nur ein einziges Bedenken schaffte ihm dann und wann etwas Unbehagen: wo bleibt denn bei alledem Freund Statthalter? warum ist der niemals sichtbar? wieso gelingt uns Tag für Tag das trauliche Alleinsein, obwohl zuweilen oben in der Studierstube ein Stiefel scharrt und Tabakrauch wie ein warnendes Orakel durch die Ritzen qualmt? Das Geheimtun, welches seinem Herzen süß schmeckte, wollte, wenn schon nichts Böses geschah, seinem Gewissen nicht recht munden. Andererseits konnte er doch auch nicht oben an der Studierstube anklopfen und Meldung abstatten: «Herr Direktor, wissen Sie das Neueste? Ich habe nämlich die Ehre, Ihre Frau Gemahlin ergebenst zu lieben; Sie können übrigens ruhig auf beiden Ohren schlafen; denn wir sind unschuldig wie zwei Osterlämmer, ein weißes und ein schwarzes.» Nein, gegen eine solche Biederei empörte sich sein Geschmack. Es gibt eben Dinge, die, obgleich sie nicht böse, vielmehr hoch und edel sind, dennoch die Geheimhaltung verlangen; deswegen, weil sie durch die bloße Kenntnis eines Dritten entweiht würden. «Und schließlich, das geht sie an, nicht mich; er ist ja ihr Ehemann, nicht meiner. Also, wenn ihr Gewissen es erträgt...»

Nachdem das so einige Wochen zwei gedauert hatte, wurde ihr Benehmen anders, nämlich undeutlich, wechselvoll, gegensätzlich; nie fand er sie so wieder, wie er sie tags zuvor verlassen hatte. Zunächst überraschten ihn Rückfälle in ihr altes Mißtrauen; offenbar waren Einflüsterungen geschäftig; vermutlich von Freundinnen, vielleicht auch von Neidern und Eifersüchtigen.

«Wenn es in Dur nicht gegangen ist, versucht man's in Moll», warf sie ihm einmal ohne jeden Anlaß hin, anzüglich, mit gescheitem Blick. Sie war demnach geneigt, wenigstens in diesem Augenblick, das wahnsinnige Herzeleid, das ihn zu ihren Füßen geworfen, für gespielt, für einen abgefeimten Schachzug zu halten!

Ein anderes Mal, als er von ihrer ersten Begegnung, also von der Parusie, erzählte, verlief folgende Rede:

«Sagen Sie mir aufrichtig», fragte er, «haben Sie mich eigentlich damals geliebt, oder haben Sie mich nicht geliebt?»

Sie schüttelte den Kopf. «Ich hielt Sie für falsch.»

«Wie kamen Sie auf diesen abenteuerlichen Gedanken?»

«Weil Sie mir so viele übertriebene Schmeicheleien sagten.»

«Ich sagte Ihnen niemals eine einzige Schmeichelei; ich sagte bloß, daß Sie unbeschreiblich schön seien und daß ich Sie wie ein Symbol der Gottheit verehre.»

«Nun ja eben: solcher abgeschmackter, süßer Schnickschnack. Das mag bei eitlen, inhaltlosen Modedämchen seinen Dienst tun, bei mir nicht.»

«Und jetzt?» lachte er, «halten Sie mich etwa noch für falsch, da ich Sie nach wie vor unbeschreiblich schön finde und heute mehr als je als ein Symbol der Gottheit verehre?»

«Hm?» zweifelte sie mit mißtrauischem Blick, «manchmal nein, manchmal ja.»

Er begriff und entschuldigte: Germania, der es nicht in den Kopf will, ein «Wüstling» könnte einer echten Liebe fähig sein. Ja, sie glaubte noch immer nicht an die Wahrheit und Reinheit seiner Liebe; das verriet ihm mancher Zug ihres Benehmens. So konnte sie zum Beispiel mitten im Gespräch das Kind aus der Wiege holen, es auf den Schoß setzen und wie einen schützenden Schild vorhalten. Oder sie stand bei seiner Ankunft abwehrend unter der Tür, mit ausgebreiteten Armen den Zugang versperrend. «Wolf, komm mir nicht in mein Hürdlein», drohten ihre Augen. Ließ ihn übrigens dann doch ein.

Andere Male wieder rührte sich Eva in ihr. Blieb er einen Tag aus, so forderte sie Gründe, heischte Rechtfertigung. Hatte er sich auf der Straße im Gespräch mit einer andern Dame betreffen lassen, so hielt sie ihm das vor, scheinbar in scherzhafter Meinung, doch mit der Stimme der Empfindlichkeit. «Sie werden sich auch verheiraten wie jeder andere», warf sie ihm etwa vor, in bitterm, fast verächtlichem Ton, als beging er hiemit eine kränkende, niedere Handlung.

Mitunter mochte ihn Eva auch plagen. Warum denn nicht? Benütz die schöne Jugendzeit; noch ein paar kurze, flüchtige Jährchen, ach Gott, und du kannst niemand mehr plagen.

In dieser frommen Absicht redete sie so oft wie möglich von ihrem Manne, natürlich im harmlosesten Ton; zeigte ihm ihre neueste Photographie: «Für meinen Mann zum Geburtstag»; oder sie phantasierte von der Zukunft «unseres» Buben, wenn «wir beide» einmal alt sein werden.

«Welche beide?» fragte er.

«Nun, natürlich mein Mann und ich. Wer sonst?»

Unmerklich hatte sich jedoch ihrem Sonderbund ein Dritter zugesellt: ihr Büblein, der kleine Kurt. War es, weil sich Viktor hin und wieder gnädig mit ihm einließ, der Mutter zuliebe? oder war es im Gegenteil, weil er das überflüssige Wesen anfänglich gar nicht beachtet hatte? Sei es, was es wolle, das kleine Geschöpflein hängte sein Herzchen an Viktor, ihm wie einem Vater entgegenwankend, aber einem Vater ohne Erziehungstücken, der einem niemals etwas verbietet, der nie böse wird, der immer freundlich dreinschaut. Wenn dann die zwei miteinander spielten, Viktor und der kleine Kurt, hielt sich die Mutter geflissentlich abseits, über den Stickrahmen gebeugt, viertelstundenlang stillschweigend, wie absichtlich sich in Vergessenheit hüllend, schaute von Zeit zu Zeit mit einem tiefen Atemzuge auf, und sooft sie aufschaute, glänzte ihr Auge von innerem seelischem Lichte. Es schwebte wie Andacht über der Gegenwart, wie Segen über den drei Menschen.

Unversehens, ohne den mindesten Anlaß, empfing sie ihn eines Morgens feindselig, ja geradezu brutal. «Wann reisen Sie wieder ab?» lautete ihr barscher Gruß.

«Warum? Würde Ihnen etwa meine Abreise erwünscht sein?»

«Ja.»

«Sie tun mir weh.»

«Sie mir auch.»

«Ich? – Ihnen?»

«Ja. Indem Sie mir Sachen sagten, die ich nicht hören darf und die Sie nicht sagen sollen.»

«Die ich auch nicht sagen wollte, aber sagen mußte.»

«Man muß nie, was man nicht soll.»

«Die Natur kennt das Zeitwort sollen nicht; das stammt aus der Sozialgrammatik der Menschen. Übrigens, wenn Sie wirklich wünschen, daß ich abreise, so geschieht es; ein Wort von Ihnen genügt. Also, bitte, wie lautet Ihr Befehl? Wollen Sie, daß ich abreise? Morgen? Oder heute noch?»

Sie sah ihn eine Weile finster an; dann wurde sie unruhig, stellte sich ans Fenster und kehrte ihm den Rücken. Er, wie von einem Magnet angezogen, trat von hinten neben sie und berührte sachte einen Finger ihrer nachlässig herabhängenden Hand, die sie bei der Berührung nicht wegzog. Hiermit waren beide Körper verbunden, und es lief wie eine Strömung hinüber und herüber, davor sie bebte und zuckte. Gab es keine seelische Magie, so gibt es doch sicher eine leibliche.

Ein Gedanke stürmte gegen ihn, begleitet von Fanfaren und Glockenspiel: «Jetzt», hetzte der Gedanke. «Jetzt! Sonst bist du lächerlich; lächerlich auf ewig.»

«Wohlan, seien wir lächerlich», erwiderte er fest und gab ihre Hand frei.

Da platzte in seinem Innern ein schallendes Hohngelächter: «Tugendheld! Tugendheld!»

Verächtlich über die Achsel blickend, gab er zurück: «Ehebruch-Pedanten!»

Ein gefährlicher Boden! Und ziellose Pfade! Wohin die junge Seligkeit wohl taumeln mag? Wird sie, kann sie überhaupt währen? Müßige Fragen; seine Aufgabe war es jedenfalls nicht, der Seligkeit ein Bein zu stellen.

Ein jähes Ende

Am Morgen des Lichtmeßtages, wo die Menschen die ersten Knospen zu grüßen pflegen, die noch nicht da sind, begab er sich wie gewöhnlich zu ihr. «Mein Mann ist im Studierzimmer; wollen Sie, bis ich mit dem Aufräumen fertig hin, einstweilen ihm Gesellschaft leisten?»

Er stutzte. Was für eine neue Sprache! Schickt mich zu ihrem Mann! Hat sie etwa gebeichtet? Eine Auseinandersetzung? Meinetwegen; laß hören; ich bin immer so eingerichtet, daß ich jederzeit jedem Menschen ins Auge sehen darf.

Der Eintritt in das rauchdurchqualmte Stübchen beruhigte sein Blut; so raucht kein Richter. «Aha, willkommen, Sie sind's», scholl es ihm treuherzig entgegen. «Sehen Sie, da schickt mir der Buchhändler soeben wieder so einen Weiberfresser von Philosophen. Sie machen ja doch wahrscheinlich auch nicht mit? Oder was ist denn nun eigentlich Ihre Meinung von den Frauen?»

Eine schwierige Frage! und ein verfängliches Thema! Immerhin, besser an dem Fittich der Theorie gefaßt zu werden als persönlich, denn der ist ziemlich unempfindlich. Die Gerichtsverhandlung über die Frauen nahm denn auch einen friedfertigen, würdigen Verlauf, mit ordentlichen Gedankenschritten, gemessenen Urteilen und willigen Zugeständnissen von beiden Seiten. Wie jedoch Viktor im Eifer seines Frauenlobes den Satz fallenließ: «Ohne die Frau möchte ich überhaupt nicht leben», bemerkte der Statthalter trocken: «Aber jeder mit seiner eigenen Frau, nicht wahr?»

Was war das? Ein Merk's?

Einige Redereihen später, als die Grenzen des weiblichen Horizontes abgesteckt wurden und Viktor eben darauf hinwies, welch ein beschämendes Urteil in der Tatsache verborgen liege, daß alle Welt, auch die weibliche, es für selbstverständlich erachte, die Rolle einer jungen Frau in einem Theaterstück könne einzig eine Liebesrolle sein, öffnete Frau Direktor behutsam die Tür. «Verzeihen Sie, meine Herren, wenn ich Sie in Ihrer gelehrten Unterhaltung störe», hauchte sie zaghaft; «erschrecken Sie übrigens nicht, ich verschwinde im Augenblick.» Mit diesen Worten trippelte sie zum Bücherschrank, kauerte in anmutiger Haltung zu Boden, kramte, ab und zu die ungefügen Locken zurückwerfend, unter den Folianten, und schnellte dann plötzlich, ein Büchlein in der Hand, mit federndem Schwung wieder empor. «So; jetzt sind Sie erlöst», tröstete sie, während sie in ängstlichen Sprüngen auf spitzen Zehen zur Tür hinausflüchtete.

«Jedenfalls ihre einzige Rolle», schmunzelte der Statthalter, «spielen sie gut; im Leben wie auf der Bühne.»

Gleich darauf ertönte ein weicher Klavieranschlag, und ihre Stimme verklärte das Haus. Davor überquoll dem Viktor das Herz. «O mein Gott», stöhnte er, «ist das schön! ist das rein! ist das edel!» Und unversehens stürzten ihm die Tränen über die Wangen, so daß er hastig aufsprang und sich am Bücherschrank zu schaffen machte.

«Das kann ich nun gerade nicht finden», versetzte der Statthalter, «daß das rein und schön sei, wie sie das singt; man sollte sich eben überhaupt nie an ein Stück wagen, das man nicht kann und das einem zu hoch liegt.» Darauf wollte er das Gespräch zurücklenken. Allein Viktor war von dem unsichtbaren Gesange dermaßen gebannt, daß er nichts andres sonst wahrnahm. «Wenn sie doch nur endlich aufhörte! sie singt einem ja das Herz aus dem Leibe.»

Endlich hörte sie auf, und es gelang ihm, sich in geziemender Fassung zu verabschieden.

«Kommen Sie morgen abend zum Tee», begehrte ihre dringliche Bitte, während sie ihre Hand in der seinigen ruhen ließ, «ganz unter uns; niemand als Sie und mein Mann; meine Wenigkeit ungerechnet, die Sie schon mit in Kauf nehmen müssen.» Und bedeutungsvoll flüsternd fügte sie hinzu: «Es gibt nämlich Schlagsahne.» Das war mit einem Ton gesagt, als ob die Schlagsahne den Hauptanziehungsgrund vorstellen sollte. «Also morgen abend!» wiederholte sie, mit dem Finger drohend, «ich zähle darauf»

Jetzt was? hat er etwas gemerkt, der Statthalter, oder hat er nichts gemerkt? Aus diesem behäbigen Pascha wurde er nicht klug. Übrigens nur um so besser, wenn er etwas gemerkt hat (zuviel ist nicht nötig), so war er die leidige Geheimtuerei los und zugleich einer geschmacklosen Beichte enthoben. Nun kommt's recht; genauso hatte er sich's von jeher ausgedacht gehabt: eine einmütige Ehe zu dreien, wo er seinem getreuen Statthalter Imagos Leib und jener ihm zum Dank dafür Imagos Herz und Seele überließ; so tat keiner dem andern Abbruch. Die Vormittage ihm, dem Statthalter die übrige Zeit; der durfte sich wahrlich nicht beklagen, er wäre bei der Teilung zu kurz gekommen. Also morgen abend soll der Dreibund geschlossen werden. «Bei einem Teller voll Schlagsahne», spöttelte ein Gedanke. «Nun, warum nicht ebensogut Schlagsahne wie Wein? Oder hat man etwa zu einem ehrlichen Vertrage Gift nötig?» Und mit innigem Glück verglich er diese Schlagsahne mit jener andern, über welcher er ihr einst zuerst wiederbegegnet war, damals, vor Monaten, bei Frau Regierungsrat Keller. Eine hübsche Strecke Weg zurückgelegt, Viktor, findest du nicht? Von der verächtlichen Gleichgültigkeit am Anfang bis zur heutigen Herzinnigkeit! Und noch stehen wir ja erst am Anfang. O Wonne des Ausblicks!

Darob trendelte er vergnügt durch die Straßen der Stadt, leise vor sich hin singend und mit den Händen ein himmlisches Orchester leitend.

Da begegnete ihm Frau Steinbach. «Kommen Sie heute nachmittag zu mir», verlangte sie kurz, im Vorbeigehen, mit fremder Stimme, «ich habe mit Ihnen zu reden.»

Verstimmt, wie von einem kalten Regenschauer überrascht, trieb er weiter; nunmehr ohne Musikbegleitung. «Ich habe mit Ihnen zu reden.» Ob er schon nicht von ferne erriet, was in aller Welt die Rede aufrühren werde, ahnte ihm doch Verdrießliches; denn es ist selten etwas Erfreuliches, wenn jemand mit einem «zu reden hat». Meinetwegen; ich schüttle es ab wie die Ente das Wasser. Einzig Theuda-Imago bestimmt mein Heil oder Unheil; bei ihr steht ja gegenwärtig alles aufs herrlichste.

«Mein Herr, Sie machen sich lächerlich», empfing ihn Frau Steinbach streng und kalt, ohne ihn anzublicken.

Unwille verfinsterte sein Gesicht. «Womit?»

«Bitte, verstellen Sie sich nicht; Sie wissen ganz gut, was ich meine.»

«Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen widerspreche. Ich verstelle mich nie und habe keine Ahnung, was Sie meinen.»

«Nun, dann werde ich's Ihnen sagen: mit Ihrem ebenso törichten wie unverantwortlichen Benehmen bei Direktors.»

«Darf ich um Belehrung bitten, was Sie dazu berechtigt, mein Benehmen töricht und unverantwortlich zu nennen?»

«Nun, wenn das etwa nicht töricht ist, eine verheiratete Frau mit Liebesergüssen zu belästigen, die Ihrer Liebe nicht bedarf, der Sie vollkommen gleichgültig sind und wo Sie sich höchstens die Brosamen des Mitleids erbetteln können? Wenn das nicht töricht sein soll! Unverantwortlich aber, oder, falls Ihnen der Ausdruck zu stark klingt, unrecht muß ich es nennen, daß Sie versuchen, sich zwischen rechtschaffene, pflichtgetreue Eheleute hineinzudrängen; glücklicherweise umsonst.»

Jetzt errötete er mit heftigem Blutschwall; zugleich vor Scham und Empörung. Wie das brennt, wenn ein Dritter weiß, was unter vier Augen geschah! Grimmig entgegnete er: «Darüber, was ich verantworten kann oder nicht verantworten, darüber werde ich Herrn Direktor Wyß Rede stehen, wenn er es wünscht, aber nur ihm, niemand sonst. Hier hingegen, wo ich töricht und lächerlich gescholten werde, gestatte ich mir die Bemerkung, daß ich in meinem Gedächtnis Gründe finde, die mich zu der Überzeugung berechtigen, Frau Direktor Wyß gewähre mir denn doch ein wenig mehr als die Brosamen ihres Mitleides und ich sei ihr auch nicht gar so vollkommen gleichgültig, wie Sie in so schmeichelhafter Weise anzunehmen belieben.»

Da wandte sie ihm ihr Gesicht zu und trat einen Schritt näher: «Ach, Sie armer, junger, naiver Herr! Ja, naiv, trotz Ihrem überlegenen Geist und Ihrer Welt- und Menschenkenntnis. Meinen Sie denn wirklich, Sie Ärmster, weil eine Frau Ihre Liebesgeständnisse duldet und nicht ungerne anhört, das beweise das mindeste für ihre Herzensneigung? Natürlich hört sie's gerne; selbstverständlich! Ist das doch ein Triümphlein für sie. Und ein klein, klein wenig Blümleinspielen innerhalb der Grenzen des Erlaubten wird sie sich wohl auch nicht haben entgehen lassen; vielleicht ist sie darin ein bißchen zu weit gegangen, das kann ich nicht wissen. Übrigens, was heißt hier zu weit gehen? was für ein Sittengebot verwehrt ihr denn, mit jemand, der sie in unschicklicher Weise belästigt, umzuspringen, wie sie mag? Sie sind ihr ja doch nicht verwandt; sie hat nicht die mindeste Verpflichtung, Sie zu schonen. Wer eine Frau in eine schiefe Lage bringt, muß sich's eben auch gefallen lassen, wenn es ein bißchen krumm zugeht; das ist sein Fehler, nicht der ihrige. Doch gesetzt selbst den Fall, Sie hätten einigen Eindruck auf ihr Herz gemacht, und das scheint mir, aus Ihren Worten zu schließen, in der Tat der Fall zu sein – es wäre auch nichts Verwunderliches, Sie sind ja doch nicht der erste beste –, was haben Sie damit gewonnen? Ein oberflächliches, flüchtiges Gefühlchen, das beim ersten Ruf des Schicksals zerstiebt. Lassen Sie morgen ihr Kind oder auch nur ihren Mann krank werden, was sind Sie dann? wer sind Sie ihr? Eine Null, nein, weniger als eine Null, ein Abscheu, dessen bloßen Anblick sie nicht einmal erträgt. Frau Direktor Wyß, wie ich Ihnen schon früher sagte, ist eine einfache, brave, gerade Frau, die keinen andern Gedanken hat als ihr Kind und ihren Mann; alles, was Sie bei ihr erreichen können, ist, daß Sie sich bloßstellen und sich unglücklich machen, möglicherweise auch, wenn das sträfliche Spiel fortdauert, daß Sie sie ins Gerede bringen; sie hat ja auch Freundinnen. Jetzt handeln Sie, wie Sie wollen und wie Sie's mit Ihrem Gewissen vereinigen können; ich maße mir nicht an, Ihnen Ihre Pflicht vorzuschreiben. Wie indessen ein geistig hervorragender, selbstbewußter und zum Selbstbewußtsein berechtigter Mensch wie Sie es aushält, von der gnädigen Nachsicht ihres Mannes zu zehren, ist mir unbegreiflich; gefallen Sie sich in dieser Rolle?»

«Ja, weiß er's denn?» stammelte er.

«Ob er's weiß? Diese Frage! Natürlich weiß er's; selbstverständlich weiß er's; selbstverständlich hat sie ihm getreulich jedes Wort, jede Träne, jeden Kniefall hinterbracht. Das war nicht bloß ihr Recht, sondern sogar ihre Pflicht; unterließ sie es, so hätte sie's mit ihrem Gewissen zu tun bekommen.»

Da biß er sich auf die Lippen und senkte die Stirn. Plötzlich gewahrte er einen Gedanken, der schon lange unbeachtet vor ihm gestanden hatte. «Und Sie, Sie selber, gnädige Frau, woher, wenn mir die Frage erlaubt ist, woher wissen Sie das alles so genau?»

«Nun, natürlich von ihr. Sie weiß ja doch, daß ich Ihre nächste Freundin bin; mithin war sie sicher, mir mit der Erzählung Ihrer Demütigung weh zu tun; diesen Genuß wird sie sich doch nicht versagen; das ist einmal unter uns Frauen so Brauch. Und sie hat richtig gezielt! Anhören zu müssen, wie Sie Ihre Würde, Ihren Stolz vergessen, wie ein ernster, bedeutender Mann, an welchen man glauben möchte, Taktlosigkeiten begeht, sich wie ein schmachtender Jüngling zu Kniefällen erniedrigt, das schmeckt bitter. Mehr als einmal war ich auf dem Punkt, Sie zu mahnen; allein ich habe keine Lust, in andrer Leute Wohnung einzubrechen wie eine Salutistin; wer mich geflissentlich meidet, wer mir die Ehre seiner Besuche nicht gönnt, dem will ich mich nicht aufdrängen; auch hatte ich immer noch eine kleine Hoffnung, Sie würden sich schließlich von selber auf Ihren Wert besinnen. Bis ich Ihnen dann heute zufällig begegnete.»

«Also, kurz gesagt, Frau Direktor Wyß in Person hat Ihnen alles und jedes, was zwischen uns unter vier Augen geschah und gesprochen wurde, haarklein mitgeteilt?»

«Kurz gesagt: ja.»

«Und alles auf einmal? oder zu wiederholten Malen? Jeweilen die neueste Zeitung? – Sie schweigen? Dann brauche ich keine weitere Antwort.»

Ihm war, er ersaufe in Schande wie eine Maus im Nachttopf. Die Geschichte seiner selbstlosen, andächtigen Liebe von der Geliebten kolportiert wie ein Feuilletonroman im Stadtblatt; Tag für Tag eine Nummer, «Fortsetzung folgt»! Die Tränen, die ihm das unerträglichste Herzeleid erpreßte, ein heiliges Herzeleid, das weit über der Welt in der Heimat aller Seelen wurzelte, dem nüchternen Urteil Unbeteiligter vorgewiesen, zur verstandesmäßigen Prüfung.

Frau Steinbach aber, da sie ihn so kleingeschlagen sah, gedachte seine Zerknirschung zu benützen, um einen rettenden Willensschluß aus ihm hervorzustrafen. « Also was wollen Sie? was hoffen Sie? worauf warten Sie?»

«Ich warte darauf», antwortete er feindlich, «ob Sie mich nun endlich genügsam erniedrigt zu haben glauben oder ob Sie belieben, mich noch länger zu mißhandeln.»

Betroffen schaute sie ihn an. Er war gänzlich verändert; wie ein fremder, finsterer Dämon starrte er ihr entgegen.

«Oh, sehen Sie mich nicht so an», rief sie schmerzlich. «seien Sie doch nicht ungerecht! ich meine es ja gut mit Ihnen; es geschieht, das wissen Sie doch, aus lauter Freundschaft.»

Allein seine Augen rollten, sein Mund verzerrte sich. Plötzlich war er aufgesprungen, erhob den Arm und rief mit lauter, bebender Stimme, als spräche er in die Ferne:

«Wenn ich diese gräßliche Stunde erlebe, wenn ich schimpflich hier stehe wie ein abgestrafter Schulbub, mit Lächerlichkeit übergossen wie ein geprellter Liebhaber am Schluß einer Posse, ein Spielball herzloser Menschen, so erleide ich das, weil ich meinen Fuß auf den Weg zur Größe setzte. Ich hätte es anders haben können: Ruhm und Ehre, Ansehn und Reichtum, Glück und Liebe lagen zu meinen Füßen; ich sah es glänzen, ich brauchte es bloß aufzuheben. Hätte ich's getan, hätte ich als ein Wicht gehandelt, die Niederung vorziehend, ich schwelgte heute in Wonne und Seligkeit, geliebt und umworben; niemand spottete mein, niemand wagte mich zu schmähen, mich zu maßregeln; mit scheuer Ehrerbietung würdet ihr mir heute nahen, die Männer würden sich meine Freundschaft zur Auszeichnung anrechnen, und das unedle Gezücht der Weiber würde mich umbuhlen. Herzlose Menschen! stumpf und fühllos wie das Tier! Siehe da, meine arme Seele überflutet von reiner, heiliger Liebe wie ein brandend Meer, ich begehre zum Entgelt um das Opfer meiner Jugend, meines Lebensglückes nichts als ein winziges, geiziges Tröpflein Liebe für mein durstiges Herz – was sage ich ‹Liebe›, oh, nicht einmal Liebe; nichts als die Erlaubnis, ungestraft lieben und leiden zu dürfen. Und was gebt ihr mir dafür? Spott und Gelächter. Wohlan denn, demütigt mich, nehmt Kübel und Kannen, stürzt eimerweise über meinen Scheitel allen Unrat der Schande, ich werde auch das zu ertragen wissen. Das aber sage ich euch, es wird eine Zeit kommen, wo vor meine Persönlichkeit andersartige Menschen mit ihrem Urteil herantreten werden, Menschen, die ein Herz und Gemüt haben; die werden mir die beschmutzten Wangen mit Ruhm abwaschen, und wenn sie meine Wunden gewahren, werden sie sprechen: ‹Der war kein Narr, sondern er war ein Dulder.› Und meine arme, mißhandelte Liebe, die mir heute zum Verbrechen ausgelegt wird, um deretwillen ich von einer herzlosen Frau genarrt und von einer zweiten herzlosen Frau verunglimpft werde, ich sage euch, manch eine wird dereinst, wenn ich tot bin, in ihrem Herzen sehnlichst wünschen, so geliebt zu werden, wie ich liebte, und jene beneiden, der ein solcher mit solcher Liebe huldigte.»

Kaum hatte er diese Rede gerufen, so erwachte er wieder und war wie zuvor. «Verzeihen Sie mir», bat er trübe, « nicht ich habe das gesagt, sondern das Übermaß des Schmerzes hat es geschrien.» Hiermit schritt er zum Klavier und langte nach seinem Hut.

«Aber es verspottet Sie ja kein Mensch!» klagte sie. «Niemand nennt Ihren Namen anders als mit Wohlwollen und Hochachtung. Und was im besondern Frau Direktor Wyß betrifft, so ist sie Ihnen in warmer Sympathie aufrichtig zugetan und tief betrübt darüber, die unschuldige Ursache zu sein, daß Sie sich ihretwegen so viel unnützes, zweckloses Leid schaffen. – Und mir, mir Herzlosigkeit vorzuwerfen, wie können Sie, lieber Freund, mir das antun! Sagen Sie nicht ‹herzlos›, sagen Sie das mir nicht, sagen Sie das nicht mir!» Es tönte leise und klang doch wie ein Schrei.

Doch seine Sinne waren verschlossen, seine Augen blickten abwesend. Sie umgehend, tat er einige Schritte nach der Tür; dann, sich erinnernd, kehrte er um und verneigte sich. «Gnädige Frau», hub er an, «es bleibt mir noch übrig, Ihnen meinen Dank auszusprechen. Ich finde die Worte nicht; ich kann nur sagen: edle, treue Freundin, Dank, innigen Dank für alles. Und bewahren Sie einem reichlich Bestraften, der wohl manches versehen mochte, aber keinem Menschen etwas Böses wollte, ein nachsichtiges Andenken.»

«Sie reisen?» fragte sie tonlos.

Er nickte. «Morgen früh, so früh als möglich, so früh, als ein Zug abgeht.»

«O Gott!» schrie sie auf. «Und wohin?»

Er zuckte die Achseln. «Weiß ich's? Einerlei.»

«Ach mein lieber, lieber Freund», jammerte ihre Stimme. Und in dem Augenblick, da er ihre Hand erhob, um sie zu küssen, küßte sie die seinige.

Dann riß sie das Fenster auf und spähte in die Nacht. Wie sie den Schatten seiner Gestalt am Gartentürchen wahrnahm, rief sie ihm mit lauter Stimme nach: «Ich glaube an Sie und an Ihre Größe und Ihr Glück.»

Am nächsten Morgen früh, in nebelnasser Dämmerfinsternis, wanderte er, wie beschlossen, reisegerüstet zum Bahnhof, noch nicht völlig aufgewacht, einem Traum nachstaunend, dessen selige Farben bis in die öde Wirklichkeit hereinblühten.

Und, o Schmach! von ihr hatte ihm wieder geträumt, trotz allem. Erst auf dem Bahnhofplatze schaute sein verschlummerter Geist träge um sich. An diesem selben Tage, dessen Beginn ihn jetzt umdämmerte, wird sie ihn heute abend erwarten! «Heute abend», wie das alt ist! Vergangen, ehe nur geschehen. Übrigens nicht das mindeste Gefühl bei dem Gedanken an sie zu spüren, überhaupt keinerlei Abschiedsstimmung, weder Rührung noch Groll, höchstens ein fader Geschmack von Ekel im Gaumen; gleichgültig, wie ein Fremder, verließ er die herbe Heimat.

Ein Schalter war erleuchtet, mit einem Beamtengesicht zwischen dem geöffneten Rahmen. Da können wir also gleich fort. Nachdem er über dem Schalter die Richtung abgelesen hatte, heischte er den Namen irgendeiner fernen Stadt im Auslande.

«Zweiter Klasse?» tönte die Frage.

«Dritter», antwortete er, einem unklaren Bedürfnis folgend; sei es, um sich vor dem Zusammentreffen mit Bekannten zu schützen (die Unwahrscheinlichkeit des Zusammentreffens in dieser Morgenstunde genügte ihm nicht, er wollte gänzlich sicher sein), sei es zum Sinnbild seiner Erniedrigung; es paßte besser zu seiner schimpflichen Flucht: dritte Klasse.

Bei seinem Eintritt in den Wagen bemerkte er gleich auf der ersten Bank, hart neben der Tür, ein freundliches Männlein von bescheidenem Aussehen. «Ein bescheidener Mensch, ein guter Mensch», sagte er sich, «der sei mein Nachbar.» Wie er jedoch sein bißchen Gepäck unterbringen wollte, wehrte das Männlein eifrig ab: «Halt, halt, Herr! dort oben liegen meine Beine.» Nicht gelaunt, heute müßige Späßlein zu enträtseln, stellte Viktor verträglich anderswo ein und nahm dann gleichgültig Platz, sich seitwärts schiebend, um sein Gegenüber nicht an die Knie zu streifen. Das Männlein aber blinzelte schlau: «Herr! wegen meiner Knie brauchen Sie nicht so viel Umstände zu machen; die spüren's nicht, wenn man sie stößt.» Hiermit schlug er eine Decke auseinander, und siehe da, er hatte gar keine Beine! «Die haben sie mir im Spital abgeschnitten», erklärte er schmunzelnd, beinahe stolz. Darauf begann er redselig seine Leidensgeschichte zu erzählen. «Was ich ausgestanden habe, das glaubt kein Mensch», lautete der Kehrreim. Da ging Viktor in sich: «Dem hat's doch noch mehr weh getan!» – «Bürgisser ist mein Name», schloß die Erzählung, «Leonhard Bürgisser von Ötlingen; oder Lienert, wie man bei uns sagt; sonst ein Schreiner.» Nach dieser Auskunft schwieg er befriedigt.

Die Maschine stampfte in regelmäßigen Stößen, so daß Viktor, der die Nacht nicht viel geschlafen hatte, unvermerkt einnickte. Da tupfte ihn sein Nachbar auf die Knie, daß er aufschreckte. «Sehen Sie doch», zischelte der Beinlose, «sehen Sie doch den mordsmäßigen Blumenstrauß mitten im Winter, den das feine, vornehme Fräulein dort spazierenführt, vorn bei der zweiten Klasse! Den hat die auch gern, für den sie alle die köstlichen Blumen gekauft hat; sehen Sie, beständig hat sie mit dem Nastuch an den Augen zu schaffen. – Aber wenn er jetzt nicht bald kommt, so kommt er zu spät; der Zug sollte sogar eigentlich schon abgefahren sein. – Bst! still! jetzt kehrt sie um, gegen uns zu: passen Sie auf. – Und Maienblümlein sind auch darunter; man riecht's sogar von hier. – O jerum, du armes Frauelein! sehen Sie, jetzt bei der dritten Klasse, wo sie weiß, daß kein Mensch sie kennt, fängt sie an zu schluchzen.»

Viktor, nachdem er zuerst das Geschwätz ungeduldig mißachtet, schaute schließlich doch hinaus, mechanisch, wider seinen Willen. Eine schlanke und, soviel er in der düsteren Halle zu unterscheiden vermochte, ausnehmend wohlgestalte Dame schritt draußen mit einem Blumenstrauß vorbei, das Gesicht im Taschentuch verborgen, die Schultern vom Weinen geschüttelt. Darob schnitt ihn eine schmerzliche Vergleichung: «Mir – o weh! keine Gefahr! – mir bringt niemand einen Blumenstrauß. O nein! eher eine Handvoll Disteln, wenn sie von meiner Abreise wüßten.» Hiermit wandte er den Kopf ab und rückte in bittern Gedanken vom Fenster weg.

«Einsteigen!» mahnten plötzlich die Rufe der Schaffner. «Endlich!» scholl aus den Fenstern die höhnische Antwort. Wagentüren wurden zugeschmettert, dann wartete ein Weilchen Stille. «Fertig!» Ein schriller Pfiff. – Da wurde hinter ihm die Wagentür aufgerissen; zwischen kalten Luftstrichen hauchte Blumenduft herein – doch nur einen Augenblick, dann schlug die Tür wieder zu. «O nein, Frauelein», lachte der Schreiner der Verschwundenen nach, «der, den du suchst, sitzt nicht in der dritten Klasse. Aber wenn du nicht schnell abspringst, nimmt dich der Zug mit. – Hören Sie die Schaffner, wie sie aufbegehren? Sie sind aber auch in ihrem vollen Recht; denn wenn es einmal ‹Fertig!› geheißen hat, so hat niemand mehr die Abfahrt aufzuhalten, einerlei ob vornehm oder nicht.»

Ein nochmaliger gebieterischer Pfiff des Zugführers; dann rollten die Räder schwerfällig vom Fleck. Erleichtert seufzte Viktor auf «Auf Nimmerwiedersehn!» gelobte er sich, während sein Blick an den Pfeilern der Bahnhofhalle gierig die erlösende Fortbewegung ablas. – «Doch halt! wart! Ist denn das nicht Frau Steinbach, die dort über die Schienen nach der Station zurückeilt, einen Blumenstrauß in der Hand? Ihr Schritt wäre es wenigstens. Wenn sie mir nur einmal das Gesicht zeigte!»

«Alle Fahrkarten vorweisen, alle! – Fahrkarten gefälligst», forderte der Schaffner, die Hand gegen Viktor vorstreckend. Nach Erledigung des leidigen Geschäftes war der Bahnhof entschwunden; und allerlei Straßen rannten von links und rechts dem Zug entgegen. «Nun, Viktor, schenkst du uns denn kein Grüßlein zum Abschied?» riefen die Häuser im Vorbeilaufen.

«Nein», versetzte er trotzig. «Bitte, tut mir den Gefallen: nur keine gleisnerische Schlußakt-Rührszene! Meint ihr, ich sähe nicht auf euren Dächern die Hohnaffen hüpfen und die Spottdrosseln von euren Bäumen grinsen?» Mählich erhellte sich das Düster; Landhäuser, Gärten, Baumreihen entwichen, die einen nach hinten, die andern seitwärts; endlich sprang aus dem freien Feld der lichte Tag in den Wagen.

Jetzt erst erwachte völlig sein Geist. Mit ihm die Erinnerung; mit der Erinnerung der Groll: «Frohlockt! ihr habt gesiegt; ich fliehe, ein Überwundener, Schmachbedeckter. Doch überwunden von wem? Von der Gewöhnlichkeit, von der Sippschaft, von der hölzernen Stumpfherzigkeit.» Zu finsterm Gewölk sammelte sich sein Groll; das Gewölk ballte sich zum Grimm, und der Grimm kochte den Fluch.

Da traf ihn eine Stimme, daß er zusammenschrak: die Stimme der Strengen Herrin.

«Was trägst du, in der Tasche versteckt, Heimliches mit dir fort?» fragte die Stimme.

«Eine Schrift, von welcher niemand weiß, als ich und du allein.»

«Und von wem zeugt diese Schrift?»

«Sie zeugt von dir, gestrenge Herrin.»

«Und wann hast du dieses mein Zeugnis geschrieben?»

«Ich habe den ersten Zug geschrieben jenen Abend, als ich diese unselige Stadt betrat; und den letzten Zug habe ich verwichene Nacht geschrieben.»

«Und was habe ich zu dir gesprochen, verwichene Nacht, nachdem du den letzten Zug geschrieben?»

«Du hast zu mir gesprochen: ‹Ich nehme dein Zeugnis an, und weil du unbeirrt und unbefleckt trotz Pein und Leidenschaft und Torheit getreulich Zeugnis von mir abgelegt hast, will auch ich von dir Zeugnis ablegen: siehe, ich will dich auf den Gipfel des Lebens erhöhen und den widerspenstigen Ruhm der Menschen an den Hörnern zu deinen Füßen zwingen›, so hast du zu mir gesprochen.»

«Ja, so habe ich zu dir gesprochen. Und nun willst du Undankbarer die heilige Spanne Zeit, darinnen du solches errungen hast, mit deinem Fluch verunehren? Merk auf, was ich dir befehle: Stimme die Saiten deiner Seele und singe und frohlocke und segne diese Stadt mit allem, was darinnen ist; und jede Stunde, jedes Vorkommnis, jedes Leid, das dir widerfuhr; von den Menschen angefangen, die dir weh getan, bis zu dem Hunde, der nach dir gebellt hat.»

Traurig gehorchte er; stimmte mit Mühe und Gewalt die Harfe seiner Seele und sang und frohlockte aus seinen Wunden, und sein Gram segnete seufzend alles, was hinter ihm lag, von den Menschen, die ihm unrecht taten, bis zu dem Hunde, der nach ihm bellte.

«Wohl», sprach die Stimme. «Empfange den Lohn deines Gehorsams; schau auf, schau um.»

Und siehe da: draußen vor dem Fenster neben dem Wagen, im Gleichschritt mit dem enteilenden Zuge, sprengte auf weißem Renner Imago; nicht die unechte menschliche Imago, namens Theuda, die Frau des Statthalters, sondern die Wahre, die Stolze, die Seine. Und von ihrer Krankheit war sie jung genesen, und ein fröhlich Siegeskränzlein hatte sie im Haar. «Ich habe auf dich gewartet», lachte sie zum Fenster herein.

Staunend rief er: «Imago, meine Braut, wie mochte das Wunder geschehen, daß du von deiner Trauer genasest? Und zu welches Sieges Feier trägst du das Krönlein im Haar?»

Sie gab ihm die fröhliche Antwort: «Ich sah deine standhafte Treue durch Trübsal und Schmerzen: darob bin ich genesen. Ich sah dich aus den Strudeln der Leidenschaft ohn' einen Makel emportauchen: darob setzte ich mir vor Freuden ein Krönlein ins Haar.»

«Und kannst du mir auch vergeben, Imago, meine hehre Braut, daß ich närrischer, verblendeter Mensch ein sterblich Trugbild mit deiner Hoheit verwechselte?»

Sie lachte: «Deine Tränen haben deine Narrheiten gewaschen.» Nach diesen Worten sprengte sie mit übermütigem Jauchzen voraus, den Zug überholend.

«Urteile jetzt», begehrte die unsichtbare Stimme, «nennst du mich noch eine Strenge Herrin?»

Ergriffen betete seine Seele den Dank: «Heilige Herrin meines Lebens, dein Name lautet ‹Trost und Erbarmen›. Wehe mir, wenn ich dich nicht hätte; wohl mir, daß ich dich habe.»