Heimatscholle: ELTeC Ausgabe Berlepsch, Maria Goswina (1845-1916) ELTeC conversion Johanna Meyer Transcription UB Bern 160 28754

2020-05-18

Heimatscholle Berlepsch, Maria Goswina Adolf Vogel Winterthur 1914 page images

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Der Schatz von ehedem

Ja, das war noch die gleiche Schrift. Diese steilen, trotzigen Buchstaben — ganz sie selber — nur ausgeschriebener, persönlicher noch, so, wie ein Antlitz die Jugendähnlichkeit behält, indessen Leben, Schicksal doch ihre eigenen Züge hineingezeichnet haben.

„Hochgeehrter Herr Geheimrat und Freund von ehedem! Ich habe erfahren, welche Auszeichnung Ihnen, wie obiger Titel besagt, widerfahren ist. Was ein Geheimrat bedeutet, verstehe ich zwar nicht in seinem ganzen imponierenden Umfang. Sie wissen, bei uns in der Schweiz gibt es keine solchen Größen. Aber ich habe eine Ahnung davon. Und da wandelte mich, als ich von Ihren Ehren erfuhr, plötzlich ein Heller Stolz an, daß ich mit einem so großen Herrn vor vielen vielen Jahren, als er noch die Farben der Tigurinia trug, manchen herrlichen Walzer getanzt habe, wobei er mir fleißig den Hof machte. Da wir jetzt alte Leute sind, und man heutzutage überhaupt viel mehr Dinge offen ausspricht als in unserer schönen Jugendzeit, darf ich das ja sagen. Es hat keine Gefahr mehr. Darum gebe ich der Lust nach, Ihnen einen Gratulationsbrief zu schreiben. Aber nicht nur um zu gratulieren, nein, eigentlich mehr, um meine Gedanken in einem Rosengärtlein spazierengehen zu lassen, das längst verblüht ist, und wo es nun doch auf einmal wieder duftet und singt. Es ist zum Lachen: bloß durch den ,Geheimrat', von dem ich da erfahren habe. Der Doktor Nahn ritt heute Morgen bei mir vorbei, auf dem Weg zu einem Kranken. Ich war im Garten. Da stieg er ab und erzählte mir das von Ihnen, seinem ehemaligen Korpsbruder. Er war ja damals ein grüner Fuchs, als Sie Senior waren. Er hat alles famos im Gedächtnis von einst. Mitunter kommt er zu mir in mein stilles Berghaus, wo ich schon über zwanzig Jahre Hause, und da reden wir von den Lebendigen und von den Toten und trinken ein Fläschchen dazu, dem Abstinenzgebot zum Trotz, das jetzt die Welt durchzieht. Neulich erinnerte er mich an jenen Sommerabend in Zürich, wo eigentlich unsere Bekanntschaft begann, nämlich Ihre und meine. Sie haben es wahrscheinlich schon lange vergessen: Jenen glänzenden Kommers — er war irgend einer besonderen Gelegenheit zu Ehren — bei dem mich der gute Nahn, weil mich meine siebzehnjährige Neugier dazu verlockte, heimlich an eine Tür des großen Saales führte, damit ich einmal das Schauspiel eines solennen Kommerses sehen könnte. ,Mit Stiefel und Kanonen!' Einer von den Jünglingen drin erblickte mich, und im Nu waren ein paar ganz schmucke Bürschlein in Jerevis und Flaus vor mir, die mich gleich unter das rauchende, lärmende Studentenvolk führen wollten. Ich hätte in den Boden sinken mögen. Da kamen Sie dazu in Ihrer Seniorenherrlichkeit und befreiten mich ritterlich. An Ihrem Arm durfte, nein, mußte ich, da Sie mir schon die Ehre antaten, einen Augenblick, wie unter dem Schutz eines Halbgottes, in den Saal schauen. Dann ging's wie der Blitz wieder die Stiegen hinunter, der gute Nahn hinter mir her, um mich heimzubringen. Sie hatten damals gerade einen frischen Schmiß auf der Wange. Der große rote Strich in Ihrem Angesicht fiel mir trotz aller Verlegenheit auf. Es war die Tiefquart, die mir spater so imponierte, als ich Sie ein Jahr nachher auf meinem ersten Ball wiedersah. Es waren dann noch einige Schmisse dazugekommen. Ach, jener akademische Ball, jene Zeiten! Gibt's etwas Schöneres in der Welt? Sie tanzten ideal, und ich war sehr stolz auf meinen Tänzer, den nachherigen, den heutigen Herrn Geheimrat. Und dann, ja, dann kamen noch andere schöne Bälle und schöne Zeiten. O tempora, o mores! —

Ihr 'Geheimrat' hat diese ganze Frühlingswelt in mir wachgerufen, 'ein wenig melancholisch zwar', wie Nietzsche sagt, 'mit einem alten kleinen Rosengeruch des Unwiederbringlichen' — aber schön! Vielleicht ist das eine feinere Freude für mich, als es für Sie der große Titel ist.

Item , ich gratuliere Ihnen dazu. Und sollten Sie einmal in die Schweiz und in meine Nähe kommen, so sagen Sie mir den üblichen Dank dafür : p. r. lieber mündlich als schriftlich, auch wenn es erst übers Jahr oder mehrere Jahre sein sollte. Sie finden eine heimsässige alte Jungfrau , die mit Gott und der Welt auf gutem Fuß steht und sich freut , wenn ein gescheiter Mensch an ihre Tür klopft.

Ich grüße Sie aus weiter blauer Rückwärtsperspek- tive, mit dem gehörigen Respekt und Abstand zwischen einst und heute. Und doch im Augenblick ganz eingesponnen von dem rosigen Dazumal!

Ursina von Tschavell.

Berghaus Capaul im Domleschg . Graubünden.

6. Juni 1913.

Der Geheimrat hatte glänzende Augen und wirbelte an dem leicht ergrauten Schnurrbart. Zurückgelehnt saß er vor seinem Schreibtisch, auf dem eine Menge anderer Postsachen lagen. Ein verträumtes, ganz junges Lächeln glitt über sein Gesicht. Weiß Gott, das Ding machte ihm mehr Freude als die andere Dutzendware von Gratulationen, die er lesen und beantworten mußte. Denn wie durch Zauber war auch er auf einmal „eingesponnen von dem rosigen Dazumal" vor dreiunddreißig Jahren!

Ursina! - Zug für Zug stand sie vor ihm, wie sie damals gewesen. Und ledig geblieben — solch ein Wesen!

Ja , die Zeiten, wo man so verliebt sein konnte — so glücklich in den Tag hinein! Geschwärmt, Verse gemacht, lustige und auch romantische. Und sie darauf stets prompt geantwortet mit ihren Vierzeilern. Das war so eine Marotte von ihr gewesen, diese schnurrigen Vierzeiler, immer ohne Unterschrift. Denn das poetische Hin - und Herüber mußte geheimbleiben vor den Argusaugen der Tante Orelli in Zürich, bei der Ursina, schon als Kind verwaist, erzogen und aufgewachsen war — ein Adler-Junges im Hühnerhof! Ganz merkwürdig waren die schnurrigen Verse oft gewesen, kurz und bündig, humorvoll bockig. Und hinter allem steckte doch ihre eigensinnig verschlossene Mädchenliebe, rätselhaft, widerspruchsvoll, so wie ihre dunkeln italienischen Augen zu dem goldigen Blondhaar ihrer Zöpfe stimmten.

Und dann eines Tages alles vorbei. Eine Studentenschwärmerei! Das Leben kam heran — anderes. Noch ein paar Briefchen hie und da. Dann Schweigen, keine Antwort mehr von ihr. Wie verschwunden war sie für ihn. Vielleicht aus Stolz. Ihm war es ein hübsches Jugendkapitel gewesen — ihr vielleicht mehr. ---

Ursina — eine „heimsässige, alte Jungfrau!" --

Und wir sitzen — als alter Knabe in wohlgepolsterten Stühlen, bringen unsere Tage im Operationssaal, in Sprechstunden und überschwemmender Privatpraxis zu, haben Namen, Titel, Würden, verdienen mehr Geld, als man braucht — und fahren doch manchmal, in den kurzen Ruhepausen, die man hat, über die Stirn, über den dünner werdenden Haarschopf, als fiele einem etwas Versäumtes ein, das nun weit, in jenen gewissen Jenseits -Bezirken liegt, von denen dieser liebe Brief da erzählt.

Hm! — ja, ja! -

Der Geheimrat sah auf die Uhr.

Ein energischer Ruck dem Schreibtisch näher, einem wahren Prachtschreibtisch, der von dankbaren Patienten mit allen erdenklichen Utensilien ausgestattet. Die Feder wurde eingetaucht — wieder mit dem stillen, verträumten Lächeln von vorhin.

„Liebe, liebe Ursina ! Oder soll ich sagen : Fräulein Ursina ? — Gnädiges Fräulein ? — Gnädige Herrin vom Berghaus Capaul?

Sie schütteln den Kopf, ich weiß es. Deshalb ohne Umstände weiter.

Sie haben eine alte Weise angestimmt, ach so hübsch, so traulich, daß ich sie gleich weiter klingen lassen muß, ehe der Alltagslärm wieder dazwischen kommt. Es soll ein reines Echo sein, das Ihnen zurücktönt, damit Sie erfahren, welche Freude mir Ihr lieber Einfall, diesen Brief zu schreiben, gemacht hat. Was rief er mir nicht alles zurück! Die schönste Zeit des Lebens. Ja, ich möchte mit Ihnen einmal davon plaudern, mündlich, behaglich, wie zwei alte Freunde, die bei einem Glase Wein auf Bergeshöhe sitzen, ins Land Hinausschauen auf wiedergefundene Heimatsfluren und von längst vergangenen Dingen reden, von Glück, von Tollheiten, Jugendeseleien und schönen Träumen. Die Distanz wäre ja da, wo man das unbefangen tun kann. Das vermöchte mich wirklich zu einer Sommerreise in die Schweiz zu bestimmen, die ich sonst, des großen Trosses wegen, nicht liebe. Aber Berghaus Capaul, das hat einen Klang von Einsamkeit, der mich anzieht, abgesehen von seiner Herrin. Ich denke mir da Felswände, Wildwasser, Matten, Bergwald, weiße Spitzen und Kuppen, ernste Graubündner Natur. Und mitten hinein gebaut dieses Berghaus Capaul, allein, trotzig für sich: da gefällt' s mir — da steh' ich. Ganz so wie seine Herrin. Denn Sie sind sicherlich noch so wie damals, trotz den dreiunddreißig Jahren, die dazwischen liegen. Der Stoff, aus dem Sie gemacht sind, ist echt und bleibt, wie er ist, allen Göttern und Schicksalen gegenüber. Prächtig, nur schade, so unverbraucht! Sie hätten heiraten, sechs Söhne haben, dem Vaterland tüchtige Männer schenken müssen, statt als cheimsässige alte Jungfrau', wie Sie sich ausdrücken (was übrigens nicht zu Ihnen paßt), da oben in einsamer Vergnüglichkeit zu Hausen. Glaube wohl, daß Sie mit Gott und der Welt auf gutem Fuß stehen in Ihrem Einsiedlertum. Das ist aber kein Los für Sie, wie ich Sie im Gedächtnis habe.

Nun, wir werden vielleicht eines Tages uns wiedersehen und dann Gelegenheit haben, uns allerlei gescheite Dinge zu sagen.

Was soll ich Ihnen von mir erzählen? Das kann ich, trotz des kurzen Inhalts, nicht einmal mit dem klassischen Wort erledigen: wurde geboren, nahm ein Weib und starb. Denn da stimmt nur das Geborensein. Nun,und heute also Geheimrat. Dazwischen Arbeit, viel Arbeit, und einiges andere nebenher, was man als sogenannter Kulturmensch genießt, etwas Freundschaft, hie und da gute Musik und dergleichen.

Wie gesagt, darüber einmal mündlich, auch wenn wir uns gegenseitig auf den ersten Blick einen kleinen Schreck bereiten sollten. Denn dreiunddreißig Jahre! — Solche Demonstrationen erschüttern selbst den hartgesottensten Philosophen.

Einstweilen grüße ich Sie in herzlicher Dankbarkeit für den guten Einfall Ihres BriefeS und schüttle die liebe Hand, die immer noch trotzig die Buchstaben hinstellt wie junge Rößlein, die sich bäumen, ganz wie ehedem.

Denken Sie noch an unsere Verse?

Sie haben mich in einen Sonnennebel von Erinnerungen eingesponnen, und das will bei einem Berufsphilister, wie ich einer geworden, etwas sagen.

Ihr alter Verehrer

Ferdinand Weiser."

Er schloß den Brief und steckte ihn gleich in die Brusttasche, um ihn selbst einzuwerfen.

Vor dem Hause wartete das Automobil, das ihn ins Sanatorium zu den Privatpatienten bringen sollte, bevor er in das große Hospital ging.

Gefolgt von jungen Ärzten trat er bei ihnen ein, in einer so hellen Stimmung, daß es wie ein Strom von Hoffnung auf die Kranken wirkte.

Verbände wurden gelöst, Wunden untersucht, dann freundliche, ermutigende Worte gesprochen. Der anstrengende Tageslauf des Arztes begann.

Dazwischen huschte es trotzdem einige Male: Berghaus Capaul -- .

* * *

Das Sommersemester ging zu Ende. Nun freute sich alles auf die Ferien. Auch er sehnte sich danach, der vielgesuchte Mann mit den Titeln und Würden.

Unter den Assistenten des Geheimrats war ein junger Schweizer, ein Prachtmensch von Kraft und Gesundheit, der gelegentlich im Übermut, wenn man frei unter sich war, einen „ Hosenlupf " demonstrierte, seinen Partner kunstgerecht warf oder auch in die Luft hob und dann ganz sänftiglich wieder auf den Erdboden stellte.

Der trat jetzt an seinen Vorgesetzten mit der Bitte heran, seinen Urlaub früher, als ursprünglich festgesetzt, antreten zu können.

„Warum wollen Sie das ?"

Dem jungen Herkules schoß es übers Gesicht wie einem Mägdlein, bei dem eine Frage ins Schwarze trifft.

„Ich möcht' halt gern, Herr Professor, wieder einmal daheim den Heuet mitmachen."

„Sonst nichts ?" fragte der Professor mit freundlichem Humor.

Der andere lachte glänzenden Auges. „Ich bin vom Land, wie Sie ja wissen, und hab' manchmal heillos Heimweh nach Bergen und grünen Matten", sagte er in seinem schwerlautigen Halbdeutsch-Halbdialekt.

„Gehen Sie — Sie Glücklicher. Heimweh ist was Schönes, wenn es so leicht geheilt werden kann. — Haben Sie noch Ihr Elternhaus ?"

„Nur die Mutter noch und - ein paar Jugendbekanntschaften —." Dem jungen Menschen lachte etwas Verschwiegenes, Warmes aus den Augen.

Sein Professor betrachtete ihn einen Moment mit stiller Freude, als dächte er: Ja, ja — Jugend! — „Gehen Sie," sagte er, ihm väterlich auf die Schulter klopfend, „und versäumen Sie den Heuet nicht!"

„Ich danke Ihnen vielmals, Herr Professor!"

Er schaute dem frischen Menschen mit Wohlgefallen, fast mit Neid nach, als er nach einem festen Händedruck von ihm ging.

Auch ich will Berge und grüne Matten aufsuchen, beschloß er, und meinen alten Studentenschatz — mag's werden, wie es will.

Die kleine Episode mit dem Schweizer brachte wie auf einen Ruck den Gedanken zum Entschluß.

Er hatte ans Meer gehen wollen, zuvor nach Bay- rmth, im Herbst an den Gardasee. Nun kam die Schweiz zuerst, Graubünden , Berghaus Capaul.

* * *

Er meldete sich nicht an. Es war überhaupt kein Brief wieder seit dem einen von jeder Seite gewechselt worden.

Nun erkundigte sich der Geheimrat den Tag nach seiner Ankunft beim Wirt des Domleschger-Hotels nach dem Berghaus Capaul.

„Das ist der Sitz von Fraulein von Tschavell. Kein bequemer Weg! Eine Stunde mit dem Wagen und dann noch eine gute Halbstunde zu steigen. Werden Sie erwartet?"

„Nein."

„Dann tun Sie wohl, sich zuerst anzumelden oder etwas frisches Gebäck mit hinaufzunehmen, wenn Sie zu einer Mahlzeit kommen. Das ist so Brauch für die Gäste von Capaul. Das altgebackene Maisbrot hierzulande schmeckt nicht jede. Kennen Sie Fräulein von Tschavell?"

„Ja. Hier habe ich sie aber nie besucht."

„Sie rat es ihren Gästen nämlich selber, wenn sie nicht einen guten Magen und feste Zähne haben, das Gebäck mitzubringen. Im übrigen ist sie schon versorgt. Sie hat ausgezeichneten Wein, Eigenbau im Veltlin, von dem wir auch beziehen. Und wenn die Jagd offen ist, schießt sie sich manchmal selber einen Braten."

„Sie geht auf die Jagd ?"

„Warum nicht ? Auch auf die Gemsjagd. Sie ist eine passionierte Jägerin. Überhaupt keine Dame, wie man sich' s gewöhnlich vorstellt. Aber bitte, nicht etwa ein Mannweib, was Sie ja selbst wissen werden — im Gegenteil, ein Frauenzimmer, wie sie der Herrgott gemeint hat."

„Ich sah sie seit ihrer Jugend nicht mehr."

„Oh, sie ist im ganzen Domleschg bekannt. Wenn sie mit ihrem Ochsenwagen hemnterkommt, grüßt sie jeder am Wege."

„Im Ochsenwagen ? "

„Ja, weil das letzte Stück Weg für Pferdefuhren zu schlecht ist. Sie holt ja alles mögliche auf ihren Berg, nicht nur den Proviant fürs ganze Jahr. Wenn sie wieder irgendwo etwas Altes aufgegabelt oder aus Italien mitgebracht hat, das geht alles mit den Ochsen hinauf; auch wenn sie an ihrem Berghaus etwas baut.

Da macht sie den Entwurf immer selber und nimmt auch gelegentlich die Maurerkelle selbst zur Hand. Vor ein paar Zähren hat sie drei Fuhren alte Grabsteine hinausschaffen lassen, alles von Grabstätten ihrer Familie, der Tschavell und Zenins und Planta. Die stehen jetzt unter den alten Tannen in ihrem Garten. Es sieht merkwürdig aus, etwa fünfzehn Stück."

Der Geheimrat schmunzelte. Das hatte sich ja, wie es schien, zu einem richtigen Original ausgewachsen. Sollte das Wiedersehen am Ende eine Enttäuschung bringen? —

Am nächsten Vormittag brach er auf.

Ein herrlicher Sommertag. Eine Strecke weit ging es durch das schöne weite Tal, an Burgen, Ruinen, stillen Dörfern vorbei. Dann bog der Weg ab. Es ging bergauf. Endlich blieb der Zweispänner stehen. Ein Päckchen mit frischem Gebäck und etlichen Zutaten für einen Imbiß wurde herausgelangt, Überzieher und Schattenspender genommen, und nun ging es auf steinigem Weg, der für ein geheimrätliches Stadtschuhwerk nicht gerade passend war, hinauf.

Still und einsam war es. Dem Wandernden begegnete kaum ein Mensch. Aus dem Tal rauschte der Rhein herauf. Dazwischen der Schrei eines Vogels, eines kreisenden Habichts, oder aus einem der Dörfer unten ein ferner Laut. Kein Jauchzer, wie in anderen Berggegenden der Schweiz. Das Volk hier ist schwerblütig, schweigsam.

Jetzt klapperte es wie schwere Bergschuhe von oben herunter.

Ein Mann kam daher mit Tasche und Bergstock. Er sah wie ein Landdoktor aus, brauner Strohhut und derber, ziemlich verwetterter Lodenrock.

Die beiden Männer faßten sich scharf, wie überrascht, ins Auge. Dann blieben sie stehen.

— „Ist's so — oder nicht? — Weiser?" fragte der mit der Tasche.

„Jawohl!'s ist so —Sie schüttelten sich mit Heller Freude die Hände. — „ Grüß Gott, Bruder Spiegelberg! Das ist ja prächtig, daß wir uns gleich hier finden. Kommst du etwa daher, wohin ich gehe?"

„Von Capaul, ja. Ich hab' da oben einem neuen Weltbürger zum Glück des Daseins verholfen."

„Im Berghaus?"

„Beim Pächter. Das erste Kind — eine schwere Geburt. Die Ursina ließ mich spornstreichs holen. Du wirst sie nicht gerade empfangsmäßig für so einen nobeln Besuch vorfinden. Sie war die halbe Nacht bis jetzt drüben im Pächterhaus."

„Macht nichts. Ich kehre nicht um. Heute will ich sie nun einmal besuchen. Hab'ich doch überhaupt die Schweizerreise deshalb gemacht."

„Ich weiß. Sie hat mir von deinem Brief erzählt, über den sie sich riesig freute." Der Doktor betrachtete den einstigen Korpsbruder von oben bis unten.

„Stattlich sind wir geworden, Donnerwetter! Ja — so gehen die Wege auseinander : Du bist ein großer Herr — und ich ein Bauerndoktor geworden, — und sie — nicht wahr, dieser reizende Kerl von ehedem — wer hätte das geglaubt — horstet jetzt da oben allein, als alte Jungfer!"

Der Geheimrat schwieg einen Augenblick.

„Na, freuen wir uns, daß wir wieder einmal zusammentreffen! Kehr um — komm mit hinauf!" „Heute geht's nicht. Ich habe gerad' jetzt ein paar Patienten weit herum, die mich brauchen. Meine Praxis erstreckt sich über ein halbes Dutzend Dörfer. Aber morgen würde ich mich auf etliche Stunden freimachen. Oder hast du da Nachtzeug und Zahnbürste mit zum übernachten oben?"

„Nur Proviant."

Sie lachten beide.

„Kann nicht schaden! Woher weißt du den Haus¬ brauch so gut? — Vom Hotel? — Ja, die Ursina ist bekannt wie eine Art Landesmutter. Verdient es auch."

Sie plauderten noch eine Weile und betrachteten sich dabei immer von neuem: Der Mann mit dem braunen verwetterten Gesicht und den sonnverbrannten Händen — ihn, den Feinen, der Karriere gemacht hat. Glück und Namen hat und doch einsam geblieben ist.

„Bist du verheiratet?" fragte der Geheimrat.

„Aber natürlich! Schau dir meine Brut an. Vier gesunde Buben, ziemlich Wildlinge, aber von gutem Stoff wie die Mutter."

Endlich schieden sie, mit der Verabredung auf den folgenden Tag.

Und nach einer halben Stunde gemächlichen Steigens war er dann oben.

Da stand das Haus auf einer Bergterrasse im hellen Sonnenschein, uralte Tannenriesen zur Seite, die sich gegen den jäh ansteigenden Hochwald hinzogen. Eine niedrige Steinmauer grenzte das Besitztum ab. Darüber heraus winkte ein bunter Garten mit hohen Sonnenblumen und allerlei anderem Sommerblust, ein Bild heitersten Friedens, auf das ein wahrhaft südlicher Himmel herablachte.

Die Torflügel waren geschlossen, eine ziegelüberdachte Steinpforte mit schönem Schmiedeeisenwerk. Der Ankömmling sah sich vergeblich nach einer Glocke um, versuchte zu öffnen, aber das Schloß gab nicht nach. Und drinnen rührte sich nichts. Die Grillen zirpten im sonnigen Gras, sonst kein Laut. — „Hallo!" — Der Wald gab klingend das Echo zurück, doch im Hause blieb es still, und die Grillen zirpten weiter.

Da bemerkte der Geheimrat ein Horn an der Innenseite der Pforte hängen, an eiserner Kette und eisernem Haken. War dies etwa das Mittel zur Anmeldung? Wohl möglich. Ohne Besinnen nahm er das Ding, wischte weislich das Mundstück ab und blies ins Horn. Da ging im Hause eine Tür auf, und ein dunkeläugiger Frauenkopf spähte nach dem Ankömmling.

"Ist Fräulein von Tschavell vielleicht zu sprechen?"

„Wer ist's?"

„Melden Sie nur: Ein guter Freund!"

Der Frauenkopf verschwand hierauf wieder und ließ den Fremdling vorläufig draußen stehen. — Um die Mundwinkel des Geheimrats begann der Humor zu spielen. Eine nette Gastlichkeit! dachte er bei sich.

Aber jetzt kam eine andere — und das war sie! Gleich erkannte er sie wieder, trotz der Veränderung. Eine stattliche Gestalt in losem Leinenkittel kam daher geschritten —.

Dieselben Augen noch — das Blondhaar dunkler geworden, an den Schläfen ergraut — das rosige Angesicht von einst gebräunt und von den Jahren gezeichnet - und doch — —

„Ursina!" rief es ihr entgegen.

„Weiß Gott, er ist's!" sagte sie ganz ruhig, aber durch ihre Augen schoß der alte, seelenhafte Glanz, und langsam stieg eine Freudenröte in ihre Wangen, die das Antlitz merkwürdig verjüngte.

Das Tor ging auf. Zwei Hände streckten sich aus zum Willkomm. Beide schauten sich einen Moment stumm an — dreiunddreißig Jahre!

— „ Ich habe Sie diesen Sommer erwartet — und mich darauf gefreut wie auf ein schönes Kapitel in einem schönen Buch -"

„Dem Buch der Jugend! Sie haben es wieder vor mir aufgeblättert — und fast ein Heimweh danach wachgerufen."

„Wirklich?"

„Darum bin ich da. Und jetzt wollen wir ein paar Stunden beisammen sein und genießen, trotz dem neu angekommenen Weltbürger, der Ihnen diese Nacht zu schaffen machte."

„Woher wissen Sie das?"

„Von Ihrem Leibarzt."

„Aha, er ist Ihnen begegnet. Wie mag der die Augen aufgerissen haben! Nicht wahr, das schlanke Füchslein von damals ist der richtige Landdoktor geworden, ein Bauer, wie ich? — Was tragen Sie denn da?"

„Etwas zu essen."

Sie lachte hellauf. „ Bravo! Sie sind wahrscheinlich gewarnt worden? Das ist sehr vernünftig. Man ist hier oben nicht immer auf hohen Besuch vorbereitet. Aber Sie sollen auch ohne das so fein als möglich bewirtet werden, nach unseren Begriffen halt, wie es unsere Wildnis gibt."

Sie schritten miteinander durch den sonnigen Garten, durch den buntesten Blumenreichtum, über dem die Bienchen und Schmetterlinge flogen. Und dann traten sie an die Stelle, wo eine weite Schau war auf die Bergwelt ringsum, auf Firnfelder, die wie Silber in die Bläue des Himmels flimmerten, auf Tal und Fluß und ernsten Tannenwald, die aus der Tiefe grüßten.

Im Tal schlängelte sich eben ein Eisenbahnzug dahin.

„Lockt Sie das nicht manchmal in die Ferne?" fragte er.

Sie schaute sinnend hinab. — „ Jetzt nicht mehr."

Nicht mehr! — Und da stand sie doch noch in voller Kraft, wenn auch auf der neigenden Linie des Lebens.

Er betrachtete sie, ohne das Haupt zu wenden, in eigentümlicher Ergriffenheit. Doch nur einen Augenblick konnte er es unbemerkt tun, denn wie um ihr Wort zu verwischen, sagte sie lebhaft: „Jetzt aber sollen Sie sich zuerst ausruhen und erfrischen. Ich führe Sie zu einem guten Plätzchen. Und da erholen Sie sich von ihrem Aufstieg, bis ich dem Gast zu Ehren festliche Gewänder angelegt habe. Oder wollen Sie zuvor in mein Berghaus treten?"

„Wozu festliche Gewänder?"

„Aus Eitelkeit. Ich will möglichst gute Figur machen. Und — heute ist doch ein Festtag!"

Sie standen sich lächelnd gegenüber, ach! mit einem so eigenen, inhaltvollen, schicksalüberlegenen Lächeln, aus dem so viel sprach, so viel Erinnern winkte.

„Ja, heute ist ein Festtag!" sagte er dann. „Lassen Sie mich in Ihr schönes Graubündner Land hinausschauen, bis Sie die festlichen Gewänder haben. Hier ist ja ein köstliches Ruheplätzchen."

Sie ging, um binnen kurzem mit einem jungen Mägdlein wiederzukommen, das Tischzeug, Speis und Trank herbeitmg.

„Siehst du, Lisa," sagte die Herrin, „ das ist ein Freund aus der Zeit, wo ich so jung war wie du. Biete dem Herrn nur deinen Gruß!"

Lisa antwortete etwas in romanischer Sprache und hielt dem Gast unbefangen die Hand hin, die er mit Wohlgefallen schüttelte, denn es war ein reizendes Geschöpf, mit einer Hautfarbe wie junge reifende Kastanien und einem feinen Madonnengesichtchen.

Zwei Gläser hatte sie mit der Flasche gebracht, die auf einer alten, wappengeschmückten Silberplatte standen.

Ursina schenkte ein. Wie dunkles Blut rann es in die Kelche.

„Willkommen!" sagte sie herzhaft, ernst.

„Auch ich sage: Willkommen! Das Heute und Ehedem!"

Sie stießen an und tranken.

„Potztausend, ist das ein feuriger Tropfen!"

„Eigengewächs ", bemerkte Ursina stolz.

„Aus einem Jungfrauenweingarten kommt so was! Hm —" lachte er, „da ist's kein Wunder, daß das Fräulein von Tschavell so geworden ist, wie sie einmal war und jetzt wieder vor mir steht."

„Gottlob!" war die Antwort, in die er allerlei Deutungen legen konnte.

Nun ließ sie ihn eine gute Weile allein. Und das war gar nicht übel. Eine angenehme, traumhafte Stimmung kam über ihn in der leis rauschenden Stille und Weite dieser Einsamkeit, ein köstliches Ausruhen, bei dem die ferne Jugend wie ein Lichtphantom ihm über die Schulter sah und allerlei alte Weisen zuraunte.

Das Mägdlein erschien dann, um den Gast ins Haus zu holen, wo ihre Herrin ihn erwartete.

Ursina war noch bei der jungen Wöchnerin im Pächterhaus gewesen, um die sie mütterlich besorgt war.

„Einen Prachtbuben hat sie, ein wahres Bärenkind, " verkündete sie voll Freude, „ und beiden geht es gut."

Ah, jetzt sah die Herrin von Capaul anders aus als vor einer Stunde! Sie hatte das volle Haar mit einem großen, silbernen Kamm aufgesteckt, der sich strahlenförmig ausbreitete, in der Art, wie die Frauen der Brianza ihren nationalen Kopfschmuck tragen. Dazu hatte sie ein loses Gewand aus Rohseide an, mit weiten Ärmeln und einem breiten, echten Spitzenkragen, dessen feine gelbliche Farbe und Zeichnung nach dem ehrwürdigen Alter eines Familienerbstückes aussah. Keine Spur von Mode war an ihr, aber etwas absolut Eigenwüchsiges in der Erscheinung. Wie vom Reif angehaucht, krausten sich um das frische Kolorit des Angesichts weiße Fädchen und Ringelchen des einst goldenen Haares.

Der Geheimrat betrachtete sie sinnend, mit heiterem Wohlgefallen.

— „Zug um Zug wacht das alte Bild wieder auf! Bis ich zu Tal fahre, sind Sie vor meinen Augen wieder jung geworden — und der Zauber von ehedem fängt von vorne an."

„So ein Mitternachtszauber, der verfliegt, wenn der Hahn kräht", lachte sie. „Warum nicht? Alte Leute können sich einen solchen Spaß gönnen."

„Auch der alte Ton ist's! Herrgott, waren Sie ein Wildkätzchen! Kein Schatten von Sentimentalität."

„Zum Glück!" sagte sie ernst, mit eigener Betonung. Fast klang es wie Vorwurf heraus. — „Wollen Sie ein wenig sehen, wie ich hause?"

„Natürlich will ich das."

Sie führte ihn durch ihre Stuben, die ein ebenso eigenes Gepräge hatten wie sie selber, halb bäurisch, halb aristokratisch. Tiefe Fensternischen, die auf eine schier burgartig-solide Stärke der Mauern deuteten. Wuchtige Öfen, deren einer ein prächtiges altes Stück aus blauweißen Porzellankacheln war, mit Bildem aus dem Alten Testament und griechischer Mythologie zugleich; ein Wintersitzlein daneben, zu dem zwei schmale Stufen hinaufführten, alles aus den gleichen sauberen, mit Gestalten geschmückten Kacheln. Altväterische Möbel, Familienbilder an den Wanden, allerlei Uhren mit tönendem Stundenschlag und viel künstlerisch wertvolle Dinge da und dort, die ein bewußter Geschmack an die rechte Stelle zu setzen wußte.

„Das nenn'ich ein Daheim ", sagte der Gast, rundum blickend. „Ist's überkommen oder von Ihnen geschaffen?"

„Gebaut hab'ich es mir, in einer Zeit, wo ich etwas zu tun haben mußte und einen eigenen Sitz haben wollte. Mein alter Familienkram gehört zu mir und ich zu ihm. Der durfte nicht von Rost und Motten gefressen werden, solang die Letzte lebt."

„Sie sind die Letzte Ihres Namens?"

„Meiner Familie — ja. Als meine Züricher Tante starb, die mich nach dem Tod meiner jungen Eltern, wie Sie ja wissen, schon als Kind zu sich genommen hatte, wollte ich doch meine Graubündner Ahnensippe näher kennen lernen, lauter Herren und Damen, die das Zeitliche längst gesegnet hatten. Da wanderte ich zu allerlei halb und ganz zerfallenen Schlössern und Burgnestern und suchte in Archiven, Bibliotheken. Ich wollte tiefer hinein etwas von meiner Art und Herkunft wissen. Denn was andere durch Vater und Mutter erzählen hören von Familienzügen, Geschichten von Groß - und Urgroßahnen, das erfuhr ich nicht, weil sie mir so früh starben. Und in Zürich interessierte man sich für die Graubündner Käuze nicht, die ich dann in meiner Sippschaft kennen lernte — leider alle erst, als sie schon tot waren, nur aus Schriften, Bildern und allerlei Nachrede. Ich sage Ihnen, da sind Exemplare darunter, daß man ein Buch über sie schreiben möchte."

„Das beweist der letzte Abstämmling."

„Wodurch?"

„Warum muß ein Menschenkind wie Sie so einsam hausen?"

Sie lachte. „ Weil es — sich so herausgebildet hat — mein Geschmack so wurde — vielleicht auch ein ererbter Zug. Meine Vorfahren waren auch keine Stadtmenschen. Übrigens bin ich gar nicht einsam. Arbeit, so viel ich nur mag. Und dann Italien in der Nachbarschaft, wenn ich genießen will."

„Ein stolzes Genügen!" sagte er nachdrücklich.

An einem offenen Büchergestell von respektablem Umfang blieb er stehen und besah sich die Werke. Ernste Bücher, deutsche, englische, französische, Geschichtswerke. Naturwissenschaftliches. Dann Homer, Dante, Shakespeare, die Heilige Schrift, schöne Klassikerausgaben verschiedener Sprachen und viel Schweizerisches, große, kleine und halb verklungene Namen.

Er wurde sinnend bei dieser Betrachtung.

Auf einmal wandte er sich voll seiner Begleiterin zu: „Warum haben Sie nicht geheiratet?"

Einen Moment sahen sich beide rätselnd in die Augen. Sie hielt seinem Blick merkwürdig stand. Dann plötzlich gab es etwas wie Wetterleuchten in ihren dunkeln Augen.

„Pah, wozu die Frage! Liegt etwas daran, ob eins mehr oder weniger allein, statt zu zweien geht?"

„Gewiß — wenn's von Ihrem Stoff ist!"

Da ging ein gescheites, weiches, fast wie verzeihendes Lächeln über ihr Angesicht. —„Weisheit vor grauem Haar! Dozieren Sie das der Jugend, — ihr bringt's Gewinn! — Jetzt aber wollen wir hin- aus ins Freie an diesem schönen Herrgottötag des Wiedersehens."

Sie schritt voraus, wie um das Gespräch abzubrechen.

Draußen an einem schattigen Platz wurde dann der Mittagstisch gedeckt mit feinem gestickten Linnen und alten köstlichen Geschirren und Kristallen. Und Ursina brach das Schönste der Blumen zum Schmuck, während sie an des Freundes Seite durch den Blütenwald des Gartens wandelte.

„Das wird ja eine Festtafel!" rief der Geheimrat staunend.

„Soll es auch sein! Das haben sich sogar die Fischlein gedacht, die für den illustren Gast heute das Leben ließen, Forellen aus meinem Bach."

Wie durch Zauber war in aller Ruhe, ja unbemerkt, ein prächtiges Mahl bereitet, bei dem sie lange saßen und fröhlich von den Züricher Studentenzeiten und allem Drum und Dran plauderten — „ganz objektive Historie jetzt", wie der Geheimrat beim Klingen der Gläser mit ironischem Humor sagte.

Nachher ordnete Ursina eine behagliche Siesta an. Das braune Mägdlein Lisa pflanzte an der Stelle, die ihr die Herrin bezeichnete, einen mächtigen Sonnenschirm über einem Liegestuhl auf, ein Tischchen mit Zigarren und Lektüre daneben. Dahin führte dann Ursina ihren ehemaligen Schatz, fast wie eine Mutter ihren heimgekehrtenSohn. Vor ihren Augen mußte er sich da niederlassen, und er gehorchte ihr willenlos, wie einer guten Macht. Als sie ihm für seine erloschene Zigarre noch das Zündholz anbrannte, sah er in seiner gemütlichen Lage mit einem Blick zu ihr auf, als wollte er sagen: Welch ein — Esel war ich doch!

Vielleicht verstand sie ihn. Sie lächelte und nickte nur, ohne ein Wort weiter zu sagen. Und er schaute ihr nach, wie sie nun durch den Garten ging, durch den strahlenden Sonnenschein und das bunte Blumengewoge rechts und links, eine helle Gestalt in der blauen Sommerluft - und er blies die Rauchwölkchen wie Seufzer in die balsamischen Lüfte, die von Berg und Wald her kosend über seine Stirn wehten.

* * *

Nach einer Stunde etwa kam sie wieder.

Er war trotz seiner tiefsinnigen Betrachtungen schließlich in ein sehr angenehmes Schläfchen gesunken, ein „wahres Paradiesesschläfch"en nannte er es.

„Und geträumt habe ich sogar: Ich sollte Ihren kleinen Bärenjungen aus der Taufe heben. Eigentlich gehörte er aber Ihnen — und ich war gar nicht erstaunt darüber, denn, wissen Sie was? — so können einen Träume hänseln — denn wir waren etwas ganz anderes als alte Junggesellen- "

Sie lachte unbefangen. „ Ein bißchen Wirklichkeit könnte ja an der Sache sein. Man sagt, das Glück kommt oft im Schlaf —"

Der Geheimrat sah fragend zu Ursina auf.

„Ich meine das Glück für meinen kleinen Bären. Übernehmen wir die Patenschaft, Sie und ich, Götti und Gotte. Das wäre so ein lebendiges Denkmal des heutigen Tages, an dem man vielleicht einmal seine Freude haben könnte."

„Ein brillanter Einfall! Topp!" Mit einem fast jugendlichen Schwung war der Freund auf den Füßen, gleich tatbereit, zu den Eltern zu gehen, um sich als Götti zu melden.

Ein niedriges massives Steinhaus, mit schießlukenartigen Fenstern war es, vor dem sie bald nachher standen. Der Ehemann kochte gerade für sein Weib eine Milchsuppe, weil sie Hunger habe. Er war über den Besuch mhig erfreut, besonders als er hörte, daß der Herr ein Doktor und Professor sei, der seinen Erstgeborenen sehen wolle. Nur in Verlegenheit war er jetzt, was zuerst geschehen sollte, die Milchsuppe fertig kochen oder seinen Buben holen. Da nahm ihm Ursina die Pfanne aus der Hand und kochte die Suppe fertig, dieweil er drinnen in der Wohnstube nach seinem Weibe sah. Der Geheimrat mußte sich wie ein Riese bücken, als er durch die niedrige Tür in die Küche trat. Von der Stube her hörte er ein recht gesundes Stimmchen schreien, dann eine halblaut redende Frauenstimme und aus dem nahen Stall das Schnaufen und Muhen einer Kuh. In das friedliche Gemisch dieser Laute und in den Dämmerschein der niedrigen Küche jubilierte von draußen das sonnige Grün wie lauter Glück herein.

Ursina richtete die Milchsuppe gleich selber an und nahm sie mit, als sie nun in die Stube traten.

Da lächelte ihnen aus einer Ecke, wo das Bett stand, die junge Mutter entgegen, halb verlegen, halb freudig über den unerwarteten Besuch. Und der Vater hatte, in ein blauweiß kariertes Kissen eingebunden, seinen Stammhalter auf den Händen, der mit seinen Fäustchen schon energische Zickzackbewegungen machte und über seinem runden Gesichtchen bereits einen schwarzen Haarschopf hatte.

Dem Mann mit dem stillen, braunen Angesicht zuckte eine verborgene Freude um Mund und Augen, als der Geheimrat sagte: „Ja, das ist ein Prachtexemplar. Ursus muß er heißen. Der Name gebührt ihm."

Da verkündete Ursina die angebotene Patenschaft.

Die zwei Eheleute schauten einander an mit glänzenden Augen, wußten aber nicht gleich, was sie zu der Ehre sagen sollten. Auf einen Wink seines Weibes bot der Gatte dann dem fremden Herrn die Hand und sagte, in der Meinung, etwas Rechtes, weil Wahres zu sprechen: Kennen täten sie einander zwar nicht, was bei einer Patenschaft sonst doch das erste sei, aber wenn die Fräulein Ursina selber jemand bringe, mit dem sie sich für dieses Amt verbinden wolle, dann könne man wohl vertrauen.

Da wurde die Taufe womöglich für den nächsten Tag festgesetzt, und der junge Bärenvater schickte sich deshalb gleich an, beim Pfarrer der Talgemeinde, wohin Capaul gehörte, die nötigen Schritte zu tun.

Der Taufstaat für den neuen Erdenbürger war schon längst bereit, denn damit hatte es seine eigene Bewandtnis. Ursina holte ihn aus einer Truhe herbei und versprach, den Täufling morgen selbst damit zu schmücken.

Dieses Taufzeug hatte vor etwa sechzig Jahren eine junge, landfremde Frau dem Großvater des Pächters von Capaul gesandt zur Erinnerung an einen denkwürdigen Tag in ihrem und ihres Gatten Leben. Ein deutsches Flüchtlingspaar nach den Kämpfen des Jahres 1848, hatten sie in der Schweiz eine neue Heimat gesucht und nach Zeiten banger Sorge gefunden. An dem Tage, wo ihnen in der Graubündner Berggemeinde das Bürgerrecht zugesprochen werden sollte durch eine Versammlung von ernsten Landleuten, die in der niedrigen Stube eines Gebirgshauses über ihr Schicksal berieten, während sie, die Heimatlosen, draußen im Freien standen, die gewaltige Bergwelt vor Augen, hochklopfenden Herzens der Entscheidung harrend — und sie dann hineingerufen wurden, um durch Wort und Handschlag ihre Aufnahme in die neue Heimat zu vemehmen — in dem Augenblick, wo das junge Weib, glückerschüttert, in Tränen an die Brust des Gatten sank — flog die Tür der Gemeindestube auf, und eine Frauenstimme rief erregt herein: „Vitali, komm g'schwind heim! Du häscht en Bueb übercho!" Dieser Bub war der Vater des Pächters von Capaul gewesen, und der hatte von zwei Generationen her den zierlichen Taufstaat geerbt, den einst die neue Bürgerin seines Bergdorfs dem jüngsten neugeborenen Bürger schenken zu dürfen sich ausgebeten.

Feine vergilbte Spitzen und Bändchen an dem puppenhaften Kleinzeug erzählten diese stille hübsche Schicksalsgeschichte. Der stattliche Gast hörte sie mit aufmerksamem Wohlgefallen und gab hierauf den Eltern seines wie aus den Wolken ihm zugefallenen Patenkindes das Versprechen, daß er bei solchen historischen Überlieferungen doppelt trachten werde, ein gewissenhafter und würdiger Götti zu werden.

Hernach traten die beiden aus dem Pächterhause wieder hinaus, um noch einen Rundgang auf dem Besitz Ursinaö zu machen. Da kamen sie an die Stelle, wo die Grabsteine standen, von denen der Hotelier erzählt. Unter alten, schwerästigen Bergtannen standen sie, in Moos gebettet, da und dort hingesetzt, wie es eben dem Auge gefallen, einer im tiefen Schattengrün, andere von Sonnenlichtern gestreift, eine seltsame Gesellschaft.

„Wie kamen Sie aus diesen absonderlichen Gedanken?"

„Ich sagte Ihnen ja, daß mich meine Sippschaft interessierte, nachdem ich als einsamer Sprößling und Letzte von ihnen aufgewachsen war. Ich trat ihre Erbschaft an und wollte doch wissen, von welchen Käuzen ich dies und jenes habe. Denn daß eS Käuze damnter gab, das wußte ich. Und so kam ich allgemach auf eine lange, ganz bunte Familiengeschichte, die ich nicht bloß aus vergilbten Papieren, Büchern und Bildern sammelte; auch die Gräber interessierten mich. Und weil die meisten alt und halb zerfallen waren, nahm ich die Reste da zu mir herauf, zu einer kleinen intimen Ahnenversammlung. Wenn die sich so miteinander unterhalten könnten wie ich mich mit ihnen! Das wäre eine Kurzweil! Unter dieser Grabplatte hier, die ich an einer Kirchenmauer gefunden habe, da schlief der feinste Kopf von allen, den sie ihm um ein Haar durch das Richtschwert genommen hätten, wenn er nicht bis zum letzten Moment der Überlegene geblieben und seinen Humor behalten hätte. Der ist aus der Zeit, wo bei uns noch jede Gemeinde ihre eigene Souveränität hatte, wo die blutigen Kriege und Kämpfe im eigenen Land, die Aufstände gegen die Patrizier kein Ende nehmen wollten. Und so kam die Reihe der Volksabrechnung halt auch an diesen da. Es wurde ihm kurzerhand das Todesurteil gesprochen. Auf den Tag seiner Hinrichtung nun ließ er im Dorfwirtshaus noch ein Mahl bestellen, an dem die ganze Gemeinde samt dem Scharfrichter teilnehmen sollte, eine Art Totenmahl, bei dem der Verurteilte selbst noch mit ihnen seine letzte Mahlzeit halten wollte, zum Abschied und um ihnen quasi zu zeigen, was sie an ihm verloren. Sie ließen es sich denn auch alle im wahrsten Sinne mordsmäßig schmecken. Der Veltliner floß in Strömen, so daß es bald mehr wie auf einer Kirchweih als bei einem Totenmahl zuging. Da schlich der Diener seines Herrn, des armen Sünders, der auch noch recht aufgeräumt und immer leutseliger wurde, zu dessen Richtern und sagte, es sei doch eigentlich eine rechte Dummheit und Sünde obendrein, einen solchen Herrn und Gastgeber um einen Kopf kürzer zu machen. Darob wurden sie stutzig und steckten ihre eigenen erhitzten Köpfe zusammen. Und einer meinte endlich, man könnte ja noch einmal, weil die Gemeinde jetzt g'rad beisammen sei, darüber reden und von dem armen Sünder allenfalls Bürgschaften und ein schönes Loskaufgeld verlangen, was jedenfalls einträglicher wäre, als den Kopf abzuschlagen. So geschah's richtig. Man unterhandelte und kam zum schönsten Einvernehmen. Der Scharfrichter wurde heimgeschickt, der Wein ausge- trunken, was nicht so schnell getan war, und der arme Sünder kehrte mit seinem treuen Diener als Herr wohlgemut auf sein Schloß zurück, wo er sich noch lange des Lebens freute, bis er in einem Treffen mit den Österreichern in Italien einen ritterlichen Tod fand."

Um das verwitterte Wappen dieses schlauen Kämpen, an dem die Spätgeborene noch ihre Freude hatte, spann das Moos jetzt seine feinen smaragdgrünen Gebilde.

Ursina zeigte dem Freund auch die Stelle, wo sie dereinst inmitten ihrer Ahnendenkmale liegen wollte. Sie hatte darüber alles fest bestimmt, sogar ihre eigene Todesanzeige verfaßt, „um fremden Leuten dann nicht mehr Mühe, als notwendig, zu machen."

Während sie so sprachen, flog ein Häher mit spottendem Ruf über ihren Häuptern durch die Tannenwipfel.

Fast erschrocken über die Stimme in dieser tiefen Einsamkeit sah der Professor empor.

„Da oben lacht's," sagte er tiefsinnig, — „über Sie, oder über mich?"

Sie sah ihn an wie das helle Leben, mit ihren großen braunen Augen, diesen erinnernden, gleichgebliebenen Augen, die wie in einer reineren Atmosphäre ihren Jugendglanz bewahrt hatten.

„Vielleicht über uns beide!"

Er nahm ihre Hand, und so gingen sie dann weiter, wie selbstvergessen, eine ganze Strecke.

Am Abend wollte der Geheimrat noch zu Tal wandern. Sein Wagen erwartete ihn.

Ursina hatte zwar ein feines Gaststübchen, das sie ihm anbot. Aber er dankte ihr.

„Ein andermal — heute nicht."

So saßen sie denn, bevor der Weg angetreten wurde, noch beim Abendbrot im Freien, bis am lichten Abendhimmel die ersten Sternchen kleinwinzig zu blinzeln begannen. Die weite Bergwelt lag vor den beiden noch in so stillem Glänze, daß sie den Aufbruch vergaßen. Sie wurden nicht müde, sich gegenseitig aus der langen Zeit, die zwischen heute und einstmals lag, zu erzählen, zu erinnem, bald lachend, bald mit nachdenklichem Sinnen. Ein Reigen von Jugendgestalten zog an ihnen vorüber, von Frühlingstagen des Lebens. Jetzt erst, in der dämmerigen Märchenstimmung des Abends, wachte das alles so recht auf — ein wundersam aufklingendes Fest der Erinnerung.

Ursina brachte einen goldenen Becher herbei.

„Mit diesem müssen wir den heutigen Tag noch weihen", sprach sie. „Der wurde seit Jahrhunderten nur bei besonderen Gelegenheiten kredenzt. Heute ist so eine — wer weiß, kommt ihresgleichen noch einmal."

Es war ein feines altes Stück, ein Reitersmann mit Harnisch und Schwert, der als Prunkgefäß einst manche Tafel der Tschavell geschmückt haben mochte und nun zum Hausschatz der Letzten ihres Geschlechtes zählte.

Sie füllte ihn mit einem besonderen Saft, „einem ebenbürtigen", wie sie sagte, und bot ihn dann dem Gastfreunde — ganz leise das Gaudeamus anstimmend.

„Fiducit!" Er trank und reichte ihr den Pokal, indem er ebenso leise, nur summend, in das liebe alte Lied einstimmte. Dann nach einer Weile des Schweigens reichte er ihr die Hand über den Tisch.

„War das ein Einfall von Ihnen, dieser Brief! Ohne den hätten wir das Heute nicht erlebt."

„Ja — vielleicht nie erlebt —"

„Sie haben mir jetzt, weiß Gott, eine Stunde Jugend wiedergeschenkt! — Und es kommt mir vor — als — als wären unsere Jahre nur geträumt — und ich könnte Ihnen etwas sagen, was ich versäumt wähnte — und worauf — Sie vielleicht einmal gewartet haben — —. Sagen Sie mir, Ursina — war es so?" —

Sie sah ihn weich, fast träumerisch an — und nickte. — „Ja — es war so —"

Er stand stracks auf. — „Und da geht man als Hagestolz in der Welt herum — und erkennt nachträglich erst —"

„Was vielleicht gar nicht so glatt, als man glaubt, ausgefallen wäre. - Schön war's doch!"

Er stand dicht vor ihr. Sie schaute lächelnd zu ihm auf.

— „Schön war's doch!! — Ursina — ich danke Ihnen für dieses liebe — bittersüße Wort! Ich nehme es mit und — werde oft dran denken. - Gute Nacht jetzt —."

„Also morgen bei der Taufe!"

„Richtig — noch so einen biederen Philisterbissen."

„Oho!"

„Ursus soll er heißen — und einmal klüger werden wir!"

Er küßte ihre beiden kräftigen, ausdrucksvollen Hände und besah sie einen Moment ganz tiefsinnig, als er ihr für ihre „herzerquickende" Gastfreundschaft dankte.

„Schön war's doch-!"

Beim Hause wartete der Pächter mit einer Laterne, bereit, den Geheimrat bis zu seinem Wagen zu begleiten.

Ein Stück Weges ging Ursina mit durch die duftende, sternhelle Sommernacht und blieb dann im Dunkeln stehen, den Tritten der Abwärtsgehenden nachlauschend.

„Schön war's doch-!"

* * *

Als sie am andern Tag mit dem Täufling in dem bescheidenen Pfarrhaus einrückten, wo man sich treffen wollte, kam statt des Geheimrats der Doktor, als dessen Stellvertreter, mit einem Brief für Ursina. Ein glänzendes Patengeschenk für den klemm Ursus lag darin in Form einer Anweisung. Dazu folgende Zeilen:

„Liebe, einst und noch geliebte Ursina!

Ich will den Nachklang von gestern ganz genießen und bin deshalb schon über die Berge, wenn wir vor dem Taufstein stehen müßten. Der Doktor wird mich vertreten, und vor allem Sie, die ja alles gut macht.

Ich weiß, Sie fühlen es mir nach, warum ich durchgebrannt bin. Erst jetzt ist es mir klar, was ich versäumt habe. Und solch eine Frau haust allein in ihrem einsamen Berghaus und versammelt die Grabsteine ihrer Ahnen um sich, statt einer Schar gesunder Nachkommen!

Ihre Antwort lautet — ich höre sie: Jetzt wollen wir uns halt an unsem Ursus halten.

Nun, gut also. Durch Sie wird er etwas Rechtes werden. Übrigens habe ich mir vorgenommen, öfters darüber Nachschau zu halten. Wir wollen uns wiedersehen und aus der Morgenröte von einst ins Abmdrot blicken lernen, ohne Reue; wollen zuweilen Hand in Hand wie gute Freunde auf den Pfaden der Erinnerung wandel,nein wenig seufzend vielleicht doch auch jene Poesie nachgenießen, von der wir einst gesungen haben— entsinnen Sie sich etwa noch des Liedes, das wir einmal in einer Juninacht unter Ihrem Fenster steigen ließen—:

Ihr Fröhlichen, singt, weil das Leben noch mait, Noch ist die schöne, die blühende Zeit, Noch sind die Tage der Rosen!

Ja, ja! — Es war auch gestern schön, Ursina!

Ich danke Ihnen!

Ihr getreuer

Ferdinand Weiser."

Invasion

Das Kurhaus Wonnenstein ist eines jener schweizerischen – der verherte Leser gestatte, dass ich es beim helvetisch-volkstümlichen Namen nenne –"Frauen- und Fressbädli", deren es in jedem Kanton, besonders in der Ostschweiz, von hervorragender Berühmtheit gibt, berühmt natürlich in den engeren Grenzen des Vaterlandes. Man lebt allda ganz paradiesisch, was leibliche Genüsse angeht, und auch des übrigen in sonnigster Zufriedenheit, obgleich, wie obige Bezeichnung andeutet, fast ausschliesslich Frauen und von diesen ein Teil leber -, gallen -, bleich - und anderssüchtige verschiedensten Alters es sind, die hier im Sommer ein paar Wochen ERholung und auch ein wenig Lustbarkeit suchen.

Viermal im Tage wird mit einmütigem Appetit zu Tisch gegangen. Das Essen ist hier Kur- und Lebenszweck, also schliesst sich niemand von einer der Mahlzeiten aus, es sei denn ein Neuling, der seiner Aufgabe noch mit unangemessenen Kräften gegenübersteht oder bereits, im guten Willen, es den anderen gleichzutung, sich eine kleine Indigestion zugezogen hat.

Wer hier die Mittagstafel mit ihren bieder gehäuften Schüsseln sieht und dazu die munteren, rot und rötlich angehauchten Gesichter rings umher, der hält die Klage über teure Zeiten für ein Märchen, oder er glaubt, umgekehrt, hier in einem Märchenlande zu sein.

Nachmittags, wenige Stunden nach der Haupt¬ mahlzeit, klappern an den langen Tischreihen schon wieder lustig die Kaffeetassen, ordentliche, große, in denen etwas Platz hat. Zweimal wird eingeschenkt und dazu in entsprechendem Maße Weißbrot mit Butter und Honig verzehrt, um für die nächsten drei Stunden bis zum Abendbrot ausgiebig vorzusorgen.

Daß bei solcher Atzung der Mensch und sein Humor gedeihen, kann man sich denken. Diese Weiblein sind denn auch so vergnügt, wie es ihre respektiven „ Leiden"— meist sehr gelinder Art — nur irgend zulassen, nämlich so, als ob ihnen auf der Welt gar nichts zu wünschen übrig bliebe, am wenigsten die sonst so begehrte Gesellschaft des stärkeren Geschlechtes. Kommt dann und wann einmal ein zärtlicher Gatte oder gar ein hoffnungsreicher Bräutigam, um nach dem Befinden der Herzliebsten zu sehen, so muß er zu seiner Bestürzung wahrnehmen, daß hier das „Ewig-Männliche"durchaus nicht als jenes Salz des Lebens gilt, ohne das kein Glück zu denken ist. Ganz verschüchtert trabt er an der Seite der Seinigen — sie erscheint hier als die Beschützerin — in den Speisesaal und ist froh, wenn er nur geduldet wird.

So schlimm, wie der erste Eindruck vermuten läßt, ist die Sache indessen nicht. Hat der Betreffende ein bißchen Mut und Witz, so kann er seine Lage ganz erträglich gestalten. Er muß es nur anzufangen wissen, mit ein paar frischen, kecken Worten, daß die Tischnachbarinnen lachen; dann hat er schon halb gewonnen. Die Antwort erfolgt in gleicher Tonart, denn daran fehlt es der Schweizerin unter ihresgleichen selten, und siehe, in kurzer Zeit kann das schönste Kreuzfeuer eröffnet sein, bei dem der eine gegen eine ganze Schar Amazonen sich verteidigen muß, doch nur scheinbar. Er hat sein Terrain erobert, er ist aufgenommen und befindet sich gar nicht übel dabei. Er darf sogar rauchen, wenn ihn die Lust ankommt.

Die Gesetze der Natur triumphieren also doch. Sie sind nur ein wenig zurechtgerückt. Es ist eine sozusagen rotbackige Art, in der hier das eine Geschlecht sich zum anderen stellt. Das „unterdrückte" kommt hier zu seinem Recht; das „übermütige" wird in dem einen Exemplar gleichsam symbolisch auf den ihm gebührenden Standpunkt verwiesen, nämlich auf den: „Ihr habt zu werben, wir haben zu gewähren!" Und dieses, notabene, ohne den schnöden Unterschied von schön oder häßlich, jung oder alt!

Ist es nicht eine wahre Insel der Seligen, dieses Wonnenstein?

Dem allda gelandeten oder gestrandeten Manne mögen freilich mancherlei Gedanken kommen über das Weib in der Freiheit. Das spendet da seine Gnaden förmlich souverän, durchaus nicht, als ob es jenseits dieser Gestade das halb sich fühlende, ergänzungssehnsüchtige Wesen wäre, als das es nun einmal naturgeschichtlich beglaubigt ist. Macht das hier das Bewußtsein der Menge? Oder die Befreiung aus alltäglichem Joch? Der gesegnete Appetit? Oder bewirken es sonst aufspringende Quellchen des Selbstbewußtseins, der Lebenslust?

Soll das am Ende gar ein Bild der Zukunft sein?

* * *

Im Wonnensteiner Speisesaal wurden einmal wieder die Tische abgeräumt.

Es war Mittag vorüber und erheblich warm, ein schöner, wolkenloser Augusttag, ideales Heuwetter. Rings auf den Bergwiesen lag das Heu, das die ganze Luft mit seinen Wohlgerüchen erfüllte.

Im Hause war jetzt die stillste Stunde. Die meisten Kurgäste befanden sich hinter fest geschlossenen Jalousien in ihren Zimmern, süß schlummernd. Da lag nun so ein recht gesättigter Verdauungsfriede über der ganzen Ansiedlung. Im Speisesaal summten die Fliegen; es roch noch nach Braten und allerlei guten Dingen. Ein warmes Lüftchen blähte die weißen Vorhänge an den Fenstern auf und ließ sie sachte wieder sinken. Zwischen den Laden blinzelte die Sonne herein, da und dort ein blendender Streif, ein Fleck, der auf den Dielen, auf einem Strauß Alpenrosen lag, daß sie rubinrot in der schattigen Umgebung aufglühten.

Und draußen die Landschaft in sonnenflimmeriger Mittagsruhe; das Gebirge von Lichtduft umschleiert, mit seinen zackigen Konturen gewaltig in die Himmelsbläue ragend. Das Dorf unten wie im Schlaf; kein Hund bellt, kein Hahn kräht, der Schlag der Turmuhr sogar klanglos — alles in brütendem Sonnenschein.

Unter den Bäumen um das Kurhaus saßen wenige vereinzelte Gestalten, seitab ein junges Mädchen mit einem Buch, das es heimlich verschlang; auf einer Bank am Hause ein hageres Fräulein, ganz vertieft in das Problem einer Handarbeit, und weiter draußen im Schatten der Allee eine einsame Kranke, die auf Kosten guter Menschen die Wohltat des hiesigen Aufenthalts genießen darf und deshalb jede Stunde desselben ausnutzen will.

Keine von ihnen merkte, wie in dieser Stille die Zeit verging, bis von den Schläferinnen, schön gemach, eine nach der anderen wieder zum Vorschein kam, wohl ausgeruht, mit hellen Augen, zu neuen Taten bereit. Im Saale klapperten denn auch schon verheißungsvoll die Kaffeetassen. Es war jedoch noch eine Weile Zeit, bis das liebe Glöcklein wieder rief.

Jede der Damen hatte eine kleine Arbeit mit; natürlich, denn das gehörte sich, wenn auch bloß pro forma. Große und kleine Gruppen bildeten sich, wo unverweilt ein munteres Plaudern, Sticken, Häkeln und Hecheln begann, alles mit gegenseitigem Wohlwollen und in schönster Harmonie. Der schattige Wiesenplatz mit den vielen Frauengestalten sah jetzt wie ein Blumengarten aus, in dem die verschiedensten Blüten und Pflanzen, als striche ein frischer Ostwind darüber, sich hurtig regten. Besonders dort drüben, ein wenig abseits, wo eine Anzahl junger Frauen und Mädchen einfach auf dem Erdboden im Heu kampierte, ging es lebhaft zu. Sie warteten, wie regelmäßig um diese Zeit, auf den hinkenden Landbriefträger, der hier oft während einer Reihe von Tagen die einzige männliche Erscheinung und ein sehr umworbener Held ist. Kommt er die Straße vom Dorf herauf, dann fliegt ihm die Jugend, für die der Postbote einen besonderen Reiz hat, stürmisch entgegen, und der Mann mit seinem braunen Ledergesicht verschwindet für einige Augenblicke förmlich zwischen einem Gehege von hübschen, lachenden Geschöpfen.

Es dauerte nicht lange, so kam richtig etwas des Weges, diesmal jedoch nicht vom Dorf her und nicht der Briefträger, sondern von entgegengesetzter Richtung, direkt über den steilen, grünen Abhang des Berges herunter.

"Ah voici, l'hôtel!" rief es frohlockend.

Sämtliche Köpfe derer unten im Heu reckten sich empor.

„Lueged — Militär!"

Hinter den Tannen hervor war der erste gekommen; es folgte ihm ein ganzer Trupp. Säbel klirrten — es waren Offiziere, natürlich vaterländische.

„Et une belle société, par exemple!" meldete der erste zurück; „des dames en bon nombre!"

Jedes Wort hallte so deutlich, daß man es unten verstehen konnte. Die Mädchen sahen einander an und kicherten.

„Pen – sion Won – nen – stein." buchstabierte einer der Offiziere, durch sein Fernrohr guckend. „Très bien! Nous allons nons restaurer à fond."

Die Truppe hielt an. Es wurde angesichts der belle société etwas Toilette gemacht. Kragen zugeknöpft, die Stirn getrocknet, das Käppi zurechtgerückt.

Diese société, wenigstens das Häuflein zunächst am Wege, in seiner zwanglosen Lagerung zwischen den Heuhaufen, war über das plötzliche und höchst ungewohnte Schauspiel etwas verwirrt und uneins, ob man den Platz räumen sollte oder nicht.

„Dummheiten!" sagte ein resolutes Weibchen; „wir werden da g'schämig tun und davonlaufen! Wir sind hier daheim und nicht diese!"

„Unterstützt!" sprachen die anderen. Und so blieb die kleine Ansiedlung unerschrocken sitzen, nur daß man der Ehrbarkeit wegen sich etwas mehr mit der Arbeit oder dem Buche, was man gerade in Händen hatte, zu schaffen machte.

Die Frage, ob solche Einquartierung überhaupt angenommen werde, beschäftigte die Damen nun sehr.

Wonnenstein hatte nämlich keine Restauration. Es war ausschließlich Kurzwecken gewidmet und besaß demgemäß bestimmte Hausgesetze, zum Beispiel, daß alleinstehende Herren keine Unterkunft noch Labung finden, bloß Angehörige, Väter, Gatten und so weiter, je älter, desto besser, als Begleiter oder Gäste ihrer respektiven Töchter oder Ehehälften. Wonnenstein hatte deshalb allerlei Spitznamen, war jedoch gerade dieser seiner Spezialität halber sehr beliebt. Wußte man doch, daß hier das jüngste Mädchen allein zur Kur hergesandt werden konnte und dabei wie in Abrahams Schoß aufgehoben war.

Nun spitzte man schon die Ohren auf die salomonische Entscheidung, die hier bevorstand. Denn Vaterlandsverteidiger, das konnte immerhin zu einer Ausnahme führen!

Ein Backfisch wollte gleich gehen, der Frau Verwalterin die Ankömmlinge melden.

„Warum nicht gar," hieß es, „das hätte keine Gattig! Sie werden sich schon selber melden."

„Aber wenn sie dann nichts bekommen und recht Durst haben?"

„Es wär' aber auch eine Schand', an so einem heißen Tag ihnen nichts zu geben!"

Ja, dieser Ansicht waren sie alle einmütig.

Während solcher Verhandlungen kam es, wie der Feind, klirrend, sausend, schnurstracks den jäh ab¬ fallenden Berg herab. Man hätte glauben können, es handle sich um einen Überfall.

Und jetzt waren sie da, eine ganze Schar, sonnverbrannt, erhitzt, staubig, aber doch schmuck anzusehen und äußerst höflich, die meisten offenbar französische Schweizer; wenigstens redeten alle deren Sprache. Sie dämpften sogleich die laut geführte Unterhaltung, grüßten im Vorübergehen und betrachteten mit sichtlichem Wohlgefallen die jugendliche Frauenversammlung da zuvorderst am Wege, in der sich einige sehr anmutige Erscheinungen befanden.

Drüben in der Allee hörte nun ebenfalls mit einemmal das Summen der Unterhaltung auf. Auch dort gab es gespannte Aufmerksamkeit. Einige der Älteren kamen neugierig näher, um zu erfahren, was dieser Einfall bedeute.

Indessen sah sich die Kriegerschar nach einer passenden Niederlassung um. Siehe da, alles von Damen okkupiert! Nirgends ein Ruheplatz, nirgends ein Wirt, eine Bedienung zu sehen, die ihnen entgegenkam. Und dazu Durst, Durst zum Verschmachten.

„Sapristi! Un drôle d'hôtel!"

„Am End chömmed mir da gar nüt über,"sagte einer, dessen Enttäuschung jetzt in der Muttersprache sich Luft machte. „L'enseigne porte: Pension."

„Pension de demoiselles peut-être – haha"

„Pour quel âge? Regardez donc!"

"Chut! Point de critique!"

„Ach was, mir gönd einfach i's Dorf abe, — au village; ce n'est pas bien loin."

„Eh bien, allons!"

„Aber 's Wirtshus ist usbündig schlecht da une. L'auberge y est bigrement mauvaise. Pourquoi pas rester ici, parbleu!"

"Luter Frauezimmer!"

„Je ne vois pas un seul homme!"

„N'importe! Essayons-le! Où est l'hôtelier, – holla!"

So schwirrte und brummte es lebhaft, ungeduldig durcheinander.

Niemand von der Bedienung des Hauses — es war natürlich auch bloß weibliche — ließ sich blicken. Die Frau Verwalterin samt ihrem Stabe schien sich verschanzt zu haben.

Da trat eine der Frauen, welche die Bemerkungen gehört und verstanden hatte, freundlich an die Marssöhne heran — es bildete sich sogleich ein Kreis um sie — und machte ihnen mit dem Französisch, das sie aus den Jugendtagen noch im Kopf hatte, begreiflich, daß dies hier eben kein gewöhnliches Gasthaus sei.

„Mais quoi donc?"

„Eine Kuranstalt."

„Tant mieux! Nous allons aussi faire notre cure! Nous sommes fatigués, avons faim et soif!"

„Mir wänd lieber schwizerdütsch rede,"nahm jetzt einer der Herren das Wort, indem er, zu einem Sturmangriff entschlossen, sich an die freundliche Matrone wendete. „ Sie werdet doch öppis im Cheller ha?"

„Das scho — g'nueg!"

„Also, mehr wänd mir ja nüd! — Quelque chose à boulotter!" übersetzte er den anderen.

,Mais rien de plus!"schallte es im Chorus.

„Ja ja — oui —" lautete die verlegene Zustimmung. „Aber —"

Eine zweite trat nun herzu, ebenfalls sehr befangen vor allen diesenmilitärischenMännern, doch äußerst wohlwollend, mütterlich sie anlächelnd.

„Es söll halt öpper mit der Frau Verwalter rede," raunte sie in breitem Jürcherdialekt der ersten zu.

Eine dritte, dies hörend, machte sich schon auf, die Unsichtbare zu suchen.

Aus den Küchenfenstern sahen mit verstohlener Neugier ein halb Dutzend lachender, rotbackiger Gesichter den Verhandlungen zu.

Alles geriet jetzt in Bewegung. Man schämte sich wirklich, die Ankömmlinge fortschicken zu lassen.

„Das sind solche von der Gebirgsartillerie; die haben es am strengsten bei den Übungen," sagte jemand, der Sachkenntnis hatte.

„Nein, die darf man nicht so behandeln!"

Zu allem tönte nun auch noch die Kaffeeglocke, schreiend laut, wahrhaft unverschämt.

Einige schnöde Selbstlinge folgten sofort dem Rufe. Die Mehrzahl aber blieb erregt, unschlüssig auf dem Platze. Man sah durch die offene Haustür riesige Kaffee - und Milchkrüge nach dem Speisesaal tragen. Ein wahrer Hohn für die draußen Stehenden!

Da schlüpften einige von denen, die unten im Heu gesessen und ebenfalls herbeigekommen waren, wie auf Verabredung ins Haus.

Nach wenigen Minuten waren sie wieder da, jede mit Flasche und Gläsern. Das Rot stieg ihnen zwar tüchtig in die Wangen, als sie, kurz gefaßt, unter di Kriegerschar traten und artig den Trunk darboten, aber ihre Augen glänzten wagemutig. Eine von ihnen rief sogar den anderen zu: „Mach's nach, wer will!"

Ein Hallo empfing die anmutigen Wohltäterinnen.

Und nun ward die Situation plötzlich anders. Es entstand ein fröhliches, heilloses Durcheinander, ein Rennen treppauf, treppab, von Alten und Jungen. Niemand wollte dahinten bleiben. Die einen kamen mit Wein, die anderen mit Brot, Schinken, Butter, dritte gar mit den Kaffeekannen. Auch die Mägde waren bei der Hand, um Tische und Bänke herbeizuschaffen. Kurz, es entwickelte sich, ehe noch die Oberbefehlshaberin von Wonnenstein, die Frau Verwalterin, erschienen war, ein förmliches kleines Feldlager.

Wie ein zündender Funke war es in die Schar der Frauen gefahren; sie wurden ganz kampflustig, und keine wollte nachstehen, wo es dem Vaterland zu dienen galt, das hier gewissermaßen verkörpert und obendrein in ansehnlichster Gestalt vor ihnen stand.

Der Speisesaal mit seinenKaffeetischenwar verödet und beraubt. Alles, was eßbar, wurde lachend hinausgeschleppt. In den Vorratskammern aber setzt es einen regelrechten Kampf; hier brach helle Anarchie aus.

Die Frau Verwalter war außer sich vor Verwirrung. Sie protestierte, sie deckte mit ihrem Leib die leckeren Vorräte und rief: „Was denken Sie denn? Wir dürfen ja keine Passanten bewirten! Ich werde ja gestraft! — O Himmelherrgott, ist das eine Verfassung! So was hab' ich noch nicht erlebt!"

Es half nichts. Das Ereignis nahm seinen Verlauf.

Zuletzt ließ die Verwalterin einfach rat- und tatlos, verzweifelt die Hände sinken.

Die Weiblein, schnell gefaßt, hatten auf ihre Rechnung das Nötige begehrt und die weitere Verantwortung auf sich genommen. Da konnte es keine Widerrede geben.

Indessen ließen die Helden es sich herrlich munden und machten daneben ihren Wirtinnen ohne Unter¬ schied der Persönlichkeit den Hof, daß es eine Art hatte. Mancher Ehrbaren verging unter dem Kreuzfeuer solch ungewohnter Huldigungen Hören und Sehen. Aber schön war's und lustig. Das sah man auf ihren erhitzten Wangen, aus ihren Augen leuchten. Die Waadtländer besonders machten Glück mit ihrem lebhaften Temperament.

Unbemerkt verfügten sich schließlich einige von ihnen als Zahlmeister ins Haus. Sie kehrten mit heiter-verwunderten Mienen zurück und raunten dm Kameraden etwas zu. Diese stutzten, lachten, beratschlagten: „Was tun? Unterhandlungen anknüpfen? — Pah, das hätte keinen Witz!"

Man beschloß, noch einmal zur Wirtin zu gehen, kehrte jedoch abermals unverrichteter Sache zurück.

So waren sie in der Tat die Gäste von Wonnenstein gewesen!

„Nehmen wir' s an, bei Gott!"riet einer der Gelabten großmütig; „ wir wollen ihnen die Freude nicht verderben!"

„Gut! Aber wie sich arrangieren? Revanchieren?"

Da trat plötzlich einer von ihnen vor.

„Mesdames!" rief er laut.

Es wurde still. Man horchte auf.

Eine schöne, männliche Erscheinung war es, die mit kühnem Feldherrnblick die Versammlung überflog.

„Mesdames!"sagte der Offizier in seinem schmeichelnden Französisch, wir erfahren soeben, daß wir die Ehre hatten, von Ihnen als Gäste betrachtet zu werden. Solchen Edelmut erwarteten wir wahrlich nicht! Wie hätten wir ihn auch erwarten dürfen? Aber wir sind entzückt davon, entzückt von Ihnen, von Ihrer Liebenswürdigke!it Jetzt ist nur die Frage: Wie tilgen wir unsere Schuld? Wie danken wir Ihnen?"

Ein Lächeln ging durch die Frauenschar.

„Nüt z' danke!" erwiderte eine Stimme.

Es war eine stattliche Matrone, die dies eigentlich mehr für sich gesagt hatte und jetzt wie ein junges Mädchen errötete. Trotzdem setzte sie beherzt in ihrem Dialekt hinzu: „Wir haben auch Söhne und Männer bei den Waffenübungen und wollten nicht, daß sie Durst leiden, dieweil es uns gut geht. Gelled, ihr?" wandte sie sich an die übrigen.

„Allweg nüd!" tönte es aus dem Frauenkreise.

Gegenüber erscholl lautes Bravo.

"Eh bien," fuhr der Redner lächelnd fort, „wir sehen, daß die Frauen, die einst unseren Vorfahren zu Siegen verhalfen, keineswegs ausgestorben sind, sondern noch immer im Fall der Not uns beistehen, wenn auch nicht mit Waffen, aber mit Taten ihrer edeln Herzen."

„Bravo! Bravo!"

„Kameraden! Lassen wir sie hochleben, nos chères compatriotes. Das ist der einzige Dank, den wir ihnen darbringen können. — Qu'elles vivent! Vivent! Vivent!"

Es war ein seltsames Tönen in Wonnenstein, dieses vielstimmige Hochrufen aus männlichen Kehlen. Die Leute auf den Bergwiesen, die jetzt mit Heugabeln und Rechen kamen, die duftende Emte einzuheimsen, schauten verwundert dorthin. „Das geht lustig zu, bigott, bei denen Weibervölkern," sagten sie; „da hat es, scheint's, Einquartierung gegeben!"

Als es gerade am lebhaftesten zuging mit Gläserklang, Händeschütteln und Danksagungen, was nach dem allgemeinen nun im einzelnen fortgesetzt wurde, — keine der Holdseligen ging leer aus —, da kam gerade der gegenwärtig einzige Mann der Kurgesellschaft — es war ein junger Gatte, der bei seinem blutarmen Weibchen einige Tage zu Besuch war — von einer Bergpartie heim. Er traute seinen Augen und Ohren nicht. Was bedeutete das? Es ging ja zu wie auf einem Schützenfest. Und all diese ehrbaren Frauen mitten im heitersten Gewühl, ganz zutraulich, als wäre das nichts Außergewöhnliches!

Höchst betroffen ob des merkwürdigen Schauspiels, wollte er auf einem Umweg ins Haus gelangen, als sein bleichsüchtiges Frauchen ihn schon erblickt hatte und strahlend vor ihm stand, mit so blühenden Wangen und Lippen, wie er' s lange Zeit nicht an ihr gesehen. Er mußte sie nur so anschauen und hatte nicht übel Lust, die Stirn zu runzeln, den zürnenden Herrn zu spielen. Sie beachtete es gar nicht, sondern erzählte in herrlichster Laune das Wie und Warum dieser improvisierten Festlichkeit. Da besiegte der Triumph seines Geschlechts denn doch die Eifersucht des Ehegewalthabers. „Aha!" sagte er in einem Tone, den er sich bisher in Wonnenstein noch nicht erlaubt, „die Weltordnung steht also doch noch nicht auf dem Kopf!"

„Natürlich nicht, Mannli!"rief sie lachend.

Und dabei gab sie ihm einen Kuß, so verliebt wie in den allerersten bräutlichen Zeiten, ganz direkt auf den Mund. Er erschrak ob dieser öffentlichen Zärtlichkeit und sah verlegen hinüber nach seinen Geschlechtsgenossen.

Die zogen aber bereits den gewundenen Weg bergab und verschwanden bald um eine Biegung. Zugleich mit ihnen verschwanden sämtliche Frauen vom Platze. Wohin? Ein paar Junge flogen voraus; die Älteren und Alten folgten richtig nach, auf die andere Seite des Kurhauses, von dessen Terrasse sie den Scheidenden aus Leibeskräften nachwinkten.

„Merci! — Grandmerci! — Au revoir!" tönte es von unten.

Vierzig bis fünfzig wehende Taschentücher gaben in verschiedenstem Tempo darauf Antwort.

* * *

An der Abendtafel von Wonnenstein wurde heute erhöhter Appetit entwickelt. Kein Wunder! Der Nachmittagskaffee war ja ausgefallen, sozusagen als Liebesopfer fürs Vaterland. Jetzt spürte man erst den Hunger. Es wurde aber keineswegs bloß schnöde dem Magen gefrönt; die Unterhaltung spielte eine mindestens ebenso große Rolle. Man blieb nachher auch länger sitzen als sonst und feierte eine Art Nachfest, bei dem der nunmehr wieder einzige Er in der Gesellschaft auch nicht schlecht wegkam, obgleich er sich, plötzlich kühn geworden, einige recht anzüglich-witzelnde Reden über das „Kloster" Wonnenstein erlaubte. Man ließ ihn heute großmütig gewähren. Nicht einmal auf das prachtvolle Glühen der Berge achtete man, das sonst stets ein dankbares Publikum hatte, noch auf den Mond, der hinter einem Felsenkoloß hervorblinzelte, still höher stieg und endlich mit seinem vollen, lachenden Gesicht herüberschaute, als wollte auch er spottend sagen: „Gelt, ihr Frauen von Wonnenstein, die Weltordnung steht noch nicht auf dem Kopfe?"

Recht lebhaft summte es aus den hellerleuchteten Fenstern hinaus in die Abendstille.

Auf einmal aber tönte etwas herein — horch! — Musik!

Alles schwieg, lauschte und eilte an die Fenster, auf den großen Holzbalkon.

Da stand in der mondbeschienenen Wiese unten ein Häuflein Männer im Kreise versammelt, deren Blasinstrumente goldig aufblitzten; vor jedem ein Büblein, das Licht und Notenblatt emporhielt. Sie bliesen feierlich das alte Sempacherlied.

Was war das? Etwa gar eine Serenade?

Etliche Neugierige gingen ins Freie hinaus, um Gewißheit zu holen.

Doch bevor sie zurückkamen, wußte man es oben schon.

In den Speisesaal war nämlich ein altes, verschrumpftes Männchen getreten mit einem großen Tragkorb voll Alpenrosen, den es ohne Umstände abstellte und sich gemächlich die Stirn trocknete, bis die Musik schwieg. Dann rief es mit krähender Stimme in den Saal hinein: „Die Herre Offizier schicket dene Fraue da Alperose. Und d' Musik ist au von ihne b'stellt!"

Das Männchen konnte nicht schnell genug Rede stehen. Es blickte die vielen Fragerinnen, die ihn auf einmal umdrängten, ratlos, fast wild an. „Wenn ihr still sind, will i's säge," gab es zur Antwort.

Da schwiegen sie und horchten.

Die Alpenrosen hatte er von den Bergen heruntergebracht zum Verkauf in der Stadt und sie im Wirtshaus einstellen wollen, wo die Dorfmusik gerade zum Probieren für das Gemeindeschießen nächsten Sonntag beieinander war. Da seien die Offiziere gekommen, hätten grüsli wälsch durcheinander geredet und gelacht und zuletzt ihm und der Musik brav Geld gegeben, daß sie daher gehen, er mit seinen Alpenrosen und die Mannen zum Aufspielen. Und jetzt seien sie also da.

„Nehmet nur; sie sind guet zahlt!" meckerte er und schüttelte den Korb mit den purpurroten Blüten, daß ein Strom würzigen Alpenduftes daraus emporstieg.

Flugs griffen so und so viele Hände in den Korb. Es gab ein Hasten und Raffen, als gelte es, Schätze zu erobern. Sie steckten die Blumen ins Haar, an die Brust, machten Sträuße und schmückten den ganzen Saal damit.

Unten auf der mondbeschienenen Wiese hob indessen schon wieder ein neues Stück an, diesmal weniger feierlich. Es war ein Tanz.

Wie auf Kommando flogen zwei und zwei zusammen. Andere schoben Tische und Stühle an die Wand, und nun ging ein Tanzen los, daß die Dielen ächzten. In jung und alt, leicht und schwer, in die ganze ehrenwerte Versammlung fuhr es wie der Blitz, daß alles sich drehte und hopste auf mehr oder minder beflügelten Sohlen.

Der einzige Mann trieb wie ein Wrack auf sturmbewegter See zwischen den fliegenden Gewändern, bald vom Gewühle verschlungen, bald emportauchend, fremd, seltsam, ein verzauberter Ritter unter Erl¬ königs Töchtern. Er tanzte, daß ihm der Schweiß auf der Stirn stand, nicht aus Leidenschaft, sondern weil jede der Holden ihm die Ehre antun wollte, ihn zu küren.

Es herrschte heute ein Edelmut gegen alles, was Er hieß, daß sogar die Musikanten und das Alpenrosenmännchen ihr Teil davon hatten. Sie konnten fleißig ihre Kehlen netzen.

Als es zehn Uhr war, erschien die Frau Verwalterin wie der verkörperte Paragraph des Hausgesetzes, der da sagt, es müsse um diese Zeit Ruhe sein. Aber ihre Stimme verhallte abermals ohnmächtig im wogenden Reigen.

Geraume Zeit noch strahlten die erleuchteten Fenster in das stille Alpental hinaus, wahrend über den Bergen drüben die Urheber dieses in den Annalen von Wonnenstein einzig dastehenden Tages, nach mehrstündigem Marsch zu ihren Truppen gestoßen, sich bereits aufs Lager gestreckt hatten, vielleicht träumend von den huldreichen Heben, die ihnen heute Labung gereicht.

Hier wie dort schauten im Mondschimmer die Hochwachten des geliebten Vaterlandes herab auf dessen lebmsfrohe Kinder.

Wiedersehen

Das Luzerner Frühboot durchkreuzte die sonnige Bläue des Vierwaldstättersees.

Die Reisezeit war vorüber. Das zeigte die geringere Zahl der Passagiere, auch ihre Art. Es waren andere Leute als vor wenig Wochen noch, nicht die bis an die Zähne mit praktischen Reiseausrüstungen gewappneten Touristen, die gehetzten Vergnügungsreisenden des Sommers, denen man förmlich ansieht, was sie in vierzehn Tagen, drei Wochen alles im Schweiße des Angesichts „ machen" wollen, noch jene Erstklassen -Grandseigneurs, die überall nur in der haute saison auftreten und mit der Miene des Herrenrechtes, wohin sie immer kommen, Raum und Respekt für ihre Person gebieten. Die hier in den leuchtenden Morgen hineinfuhren, gehörten mehr zu den beschaulichen Freunden der Natur, welche jetzt erst, nachdem die großen Wanderschwärme abgezogen, ihre Genüsse suchen. Kleine Gruppen stiegen an den verschiedenen Stationen ein und aus, wo sonst Scharen kamen. Auch Landleute waren darunter, dunkelfarbige Urner mit braunen Fäusten und Gesichtern, verschmitzt und trotzig, etwa von einem Viehtransport heimkehrend; schmucke Unterwaldnerinnen, feine Köpfchen, mit dem schier übergroßen Silberpfeil in den banddurchflochtenen Haaren. Die Tracht hat etwas Festtägliches, und ihre Trägerinnen, trotzdem sie gewohnt sind, unverhohlen betrachtet zu werden, haben etwas reizvoll Sittsames. Sie gingen nach dem zweiten Platz, wo sie dann gelassen im Sonnenschein saßen und den Seewind übers Gesicht streichen ließen.

An die Kajütenwände gelehnt stand ein Trupp italienischer Musikanten, die den Sommer über ihr Wesen hier getrieben, bald auf den Dampfern, bald zur Tafel in den vielen Hotels und Pensionen konzertiert hatten. Verschlafen, frostig lehnten sie da, ein Alter, ein Jüngerer und ein paar blutjunge Bürschchen. Vielleicht waren auch sie auf dem Heimweg nach Süden und nahmen unterwegs noch mit, was etwa vor der Gotthardwanderung zu nehmen war. Ihre Instrumente und ein paar Bündel lagen in einem Häufchen beisammen in ihrer Nähe.

Es roch aus der Schiffsküche schon nach Braten und allerlei kräftigen Sachen. Wenn der Kellner mit so einem Gerichte an ihnen vorübereilte, sahen sie ihm stumpf nach. Sie waren diese leeren Geruchsgenüsse von ihren Tafelkonzerten längst gewöhnt.

Einer jener wundersamen Spätsommertage war heute, wo alles in leuchtenden, förmlich jubilierenden Tönen prangt, die blaugrüne Flut, die Gestade nah und fern. Hier Laubwälder in goldenstem Lichte, schon vom Hauch des Herbstes gestreift, üppige Obsthaine und Gärten, aus denen verführerisch-traulich die Pensionshäuser winken; drüben stille Wiesengelände, Alptriften, dunkel jäh abfallender Tannenwald. Die Luft war so klar, daß man hoch an den Bergen noch jede Hütte, jede Felskluft deutlich wahrnehmen konnte und dahinter in silberigem Glanze mit scharf umrissenen Schatten die Firne des Hochgebirges.

„Der Föhn kommt, " sagte der Kapitän zu einem der Herren, die mit ihm im Gespräch standen.

„Ich hab' ihn diese Nacht schon gespürt," antwortete der Fremde. „Darum entschloß ich mich schnell, noch für ein paar Tage an den Gotthard zu gehen, bevor man den Bergen auf ein Jahr wieder Valet sagt."

Es war ein jüngerer Mann mit lebhaften, nervösen Zügen, der die Wetterzeichen der Gegend offenbar kannte.

„Sie sind heuer lange dagewesen. Ist Ihre Familie auch noch hier?"

„Schon vor zwei Wochen abgereist. Meine Frau mochte nicht mehr bleiben."

„Und Ihnen kommt der Abschied immer zu früh, Herr Professor!"

„Ja — das ist der verschiedene Geschmack," lächelte dieser. „Darum gewähren wir uns gegenseitige Freiheit."

Der Dampfer legte in Vitznau an. Da gab es gleich mehr Leben. Eine Schar Rigigäste stieg ein, unter ihnen ein geschlossener Trupp von etwa dreißig Personen, Männern und Frauen. Sie waren alle sehr vergnügt und hatten die Hüte mit Bergblumen geschmückt. Einer in ihrer Mitte trug, am Stock befestigt, ein eidgenössisches Fähnlein. Er rief etwas wie ein Kommando und marschierte hierauf an der Spitze seiner Gesellschaft in strammem Takt über die Schiffbrücke. Es schien ein Gesang- oder Leseverein zu sein, der da eine Reise ins schöne Vaterland machte. Sofort war das Schiff voll Leben, aber in ehrbaren Schranken und natürlicher Fröhlichkeit. Der Schweizer fühlt sich auf solchen Touren in seinem Lande im Herbst erst recht wieder daheim, wenn die lieben Fremden, die das Geld bringen und deshalb sehr willkommen sind, seine Berge und Täler verlassen haben. Dann genießt er nach des Sommers Trubel seinen gesegneten Boden so ingründig wie nur irgend einer der Ausländer.

Die Kellner bekamen gleich zu tun, denn die vergnügten Leute hatten alle Hunger und Durst. Dann begannen einzelne Stimmen das Grütlilied zu singen.

„Halt!" tönte es dazwischen. „ Das ist noch zu früh; wir sind ja noch nicht einmal in Gersau!" — Gelächter. Also ein anderes, denn gesungen mußte sein. Ein paar helle Mädchenstimmen setzten den Schweizerpsalm ein: „Trittst im Morgenrot daher!" Das fand Anklang. Sofort fielen mehr Stimmen ein, Männer und Frauen, und sie sangen das schöne Lied in seinen feierlichen Rhythmen ernsthaft, mitten aus allem Übermut mit geröteten Wangen.

Die übrigen Passagiere hörten aufmerksam zu, denn es klang weihevoll hinaus in die erhabene Schönheit der Landschaft.

Eine Dame, die allein ganz vorn an der Spitze des Schiffes saß, in den Genuß der Fahrt vollständig versunken, sah sich jetzt nach den Sängern um. Mit träumenden Augen lauschte sie und betrachtete die fröhlichen Leute.

Da fiel auf sie, die sich bisher nicht im mindesten um die Mitreisenden gekümmert hatte, ein Blick, den sie, ohne ihn zu sehen, wie eine Berührung zu fühlen schien. Starr, gebannt hing er an ihrem Profil. Sie wandte sich unwillkürlich danach.

Und bis ins Innerste traf er sie.

Ein Wiedersehen zum erstenmal seit Jahren!

Der Herr, den der Kapitän Professor genannt, stand die halbe Schiffslänge von ihr entfernt, den weichen Filzhut fest in die Stirn gedrückt gegen den Zugwind, die Hände ruhig auf dem Rücken gekreuzt, und dennoch sah sie die Flamme, die in seinen Augen aufschlug, als sie den ihrigen begegneten.

Ein stummer, langer Gruß ging von dem einen zum anderen. Es war, als fragte er: Bist du es — oder ist' s ein Traumbild, was ich sehe? Keine Freude, kein Schreck und doch von beidem etwas lag darin, ein Erkennen, das den Atem raubt: — du?!

Sie erbleichte jetzt erst, nach und nach, und rang den Blick dann langsam, wie voll Anstrengung, von ihm los, wieder der Landschaft zu.

Aber da trat er neben sie, den Hut in der Hand. Und seine Stimme — wie lang nicht mehr vernommen, und doch wie oft im Geist gehört! — sprach leicht vibrierend: „Ich habe mich nicht getauscht — du bist es, Erna!"

Mit großen, verdunkelten Augen schaute sie an ihm empor.

„Erna Remond — ja."

„Woher kommst du? Von drüben — aus Amerika?" „Bitte, lassen Sie das Du."

Er hielt ihr die Hand entgegen. Sie schien es nicht zu bemerken.

„Einen freundlichen Gruß, dächte ich, könnten wir uns nach so langer Zeit doch bieten?"

Sie lächelte flüchtig. „ Warum nicht!"

Das war die warme, schlanke, ruhige Hand von einst! Wie vergessen hielt er sie eine Weile fest. Doch sie entzog sie ihm.

„Darf ich mir einen Sessel hierher holen?"

„Wenn Sie wollen. Ich steige indessen bald aus."

„Und wenn es nur für einen Augenblick ist!"

Er ging, um den Klappstuhl zu holen. Sie rührte sich nicht, war wie gelähmt. Und dennoch sah sie seine Gestalt in dem grauen Reisemantel, wie er eben vor sie getreten und nun die paar Schritte hinüber nach dem Stoß von Sesseln machte, immer noch behend und elastisch, obwohl die Gesichtszüge von Überarbeitung, von Abspannung erzählten. Jede seiner Bewegungen, jeden Zug hatte sie noch so scharf im Gedächtnis, als wären sie erst gestern auseinandergegangen. Und es waren doch sieben Jahre!

Jetzt saßen sie sich gegenüber, dicht am Geländer, durch das die blaue Flut herauflugte. Der Gesang drüben, das Rauschen der Wellen, die sich am Schiffe brachen, tönte auf einmal seltsam ineinander, weiß Gott, wie fem. Und aus diesem Tönen und Rauschen stieg ein Eiland empor, ein Stück Vergangenheit, leuchtend — auch weiß Gott, wie fern!

— „ Woher kommst du, wenn ich dich das fragen darf? Wie lebst du?"

„Ganz gut. Ich habe eben einen kleinen Urlaub — ich mache eine Erholungsreise."

„Woher? — Wohin?"

Es war, als bemerkte sie das Du nicht mehr.

Mit erregtem Blick verschlang er ihre Züge, die puritanisch einfach gekleidete und doch vornehme Gestalt. Sie hatte gekämpft, gearbeitet, hatte sich nicht geschont. Das sah er. Es stand in ihren Augen geschrieben, um ihren Mund, einen schön gezeichneten Mund, weich, rotlippig, der so fein lebensfroh hatte lächeln können — und den er einst stürmisch geküßt bei dem halb ertrotzten Versprechen, daß sie miteinander durchs Leben gehen wollten. Ein bitterer Zug lag jetzt um diesen Mund — vielleicht nur jetzt. Denn im ganzen war sie wenig verändert; dieselben klaren Formen, kaum um eine Nuance schärfer; der Schmelz der Jugend fort, aber dafür ausdrucksvoller, etwas undefinierbar Geschlossenes, etwas Wissendes Fraugewordenes darin. Er konnte sich nicht satt sehen an ihrem Antlitz. Wie eine Heimat grüßte es ihn und wurde unter seinen Blicken wieder ganz wie damals.

Er wiederholte seine Fragen.

Woher? Aus dem Norden Deutschlands kam sie. Sie hatte einige Wochen Ferien nach anstrengender Praxis in der Frauenklinik, der sie seit drei Jahren als Ärztin angehörte. Wohin? Das wußte sie noch nicht oder wollte es nicht sagen, nach Oberitalien vielleicht.

„Wie lange warst du in Amerika?"

„Ein Jahr. Ich habe viel gesehen und gelernt, hätte mir auch eine sehr gute Stellung schaffen können — aber schließlich überfiel mich das Heimweh."

„Das wußt' ich," sagte er, sie betrachtend. „Du paßtest nicht da hinüber. Deine Reise damals war wie ein Sprung ins Wasser — ein Gewaltakt an dir selbst."

Eine leise Röte stieg in ihrem Gesicht auf.

„Durchaus nicht."

„Laß das! Wir haben keine Unwahrheit nötig."

„Das Schiff muß ja wohl bald in Brunnen sein?"

„Fährst du — zum erstenmal wieder hier?"

Sie zögerte einen Augenblick.

„Za."

„Warst du auch in Zürich? Droben auf dem Zürichberg?"

„Ja"

„Dort hinauf, siehst du, zieht es mich jedesmal, wenn ich wieder in die Schweiz komme. Auch so eine Art Heimweh — nach guten, frohen Zeiten!"

Der Gesang auf dem Schiff verstummte. Die Harmonien hatten das, was sie hier sprachen, wie eine weiche Begleitung umschleiert und aus Tiefen hervorgelockt, die sich jetzt, als fiele plötzlich grelles Licht hinein, wieder schlossen.

Erna stand auf und sah mit heißen Wangen in die Landschaft.

„Ein herrlicher Tag heute!"

Dann machte sie Anstalten zum Aufbruch.

„Es hat nocht Zeit," bat er. "Willst du in Brunnen aussteigen?"

„Ja."

„Dann tue ich es auch."

„Nein!"

Das war der alte selbstwillige Blick, mit dem sie das ruhig gesprochene Wort begleitete.

Er lächelte. „Wer kann es mir verbieten? — Ist's dir unangenehm, mir noch eine Stunde zu schenken?"

„Wie Sie wollen übrigens."

„Ich bitte dich darum! So lange hörten wir nichts voneinander... Erinnerst du dich, wie wir zu dritt — du, Vera und ich — diese Fahrt einmal zusammen machten? Die war schön, Herrgott! Zu Pfingsten war's — nicht wahr?"

Sie antwortete nicht.

Da fingen die Italiener drüben, wahrscheinlich der fröhlichen Gesellschaft wegen, an zu musizieren. Die Streichinstrumente klangen gegen den kräftigen Gesang zuvor dünn und klagend in der bewegten Luft.

Verstimmt sah er hinüber. „Ah, diese Landplage!"

„Wie?" fragte sie zerstreut.

„Die Musik."

„Es klingt ganz hübsch auf dem Wasser."

Da war die Begleitung wieder! -

„Weißt du, was mir jetzt bei dem einen Worte, wie du es eben sagtest, vor Augen steht? Eine Kahnfahrt von Rüschlikon nach Zürich eines Sonntagabends. Da zog ein Schiff mit singenden Leuten vor uns her. Wir ließen die Ruder sinken, so gut gefiel es uns. Und der See war still und glatt, daß die Sterne drin funkelten... Ich glaube, es ist deine Stimme, die das alles wachruft — so eine Art Seele, Echo jener Tage... Wie oft haben wir von dir gesprochen! Und nun soll das ein Wiedersehen bloß im Fluge sein?"

„Wie geht es Vera?" fragte sie.

Er sah sie an mit dem guten, bittenden Blick von einst.

„Wir haben ein herziges Kind, das deinen Namen trägt."

„Seltsamer Einfall!"

„Wieso?"

Sie blickte mit festgeschlossenen Lippen hinaus, und er studierte ihr regelmäßiges Profil, gespannt auf Antwort wartend.

Aber sie schwieg.

„Nach Vera fragst du?" Er nahm das Gespräch in anderem Tone auf. Ein tiefes Atemholen. „Sie ist oft leidend und dabei doch immer zu Abwechslung aufgelegt, rastlos, mehr als ehedem. Du kanntest das ja."

„Was fehlt ihr?"

„Anämisch ist sie — nervös überreizt, viel durch ihre eigene Schuld. Es gibt Tage, wo sie die Nähe des Kindes nicht erträgt, aber bis in die Nacht hinein schreibt. Doch das wären Nebensachen." Er zögerte einen Moment — es riß ihn hin. „ Ihr fehlt vor allem ihre Welt. Sie ist nicht für eine deutsche Ehefrau geschaffen!... Das erste Jahr war gut, der Reiz — des ersten Jahres mit einem Wort. Wir reisten auch viel, schrieben, arbeiteten miteinander. Dann trat ich meine Stellung an. Vera und eine kleine Stadt, trotz Universität ein Nest! Kollegenfrauen, Klatsch, gesellschaftliche Verpflichtungen — Vera natürlich renitent! Dazu kam bald das Kind, eine Zeit kleinerer und größerer Leiden, Gefangenschaft. Sie sehnte sich fort, hinaus, oft ganz ungestüm, blindlings. Sie dachte auch daran, ihre Studien wieder aufzunehmen. Der alte Wandertrieb erwachte— "

Erna nickte sinnend. „ Das glaub' ich."

„Und doch hast du sie einst zu meiner Frau gemacht."

Jetzt wandte sie sich leidenschaftlich ihm zu. „ Das ist —" Doch sie hatte sich schon wieder. „Das ist ein Irrtum, " sagte sie kalt. „ Ich trat euch, dir und ihr, nur aus dem Wege! Du liebtest sie ja doch — "

„Ja, das ist wahr — bis zur Narrheit! Ihre Grazie, ihr Temperament. Vergötterten wir sie nicht beide? Du zuerst? Wärest du damals nicht von uns gegangen — "

„Auch das noch!" — Sie erschrak, als ihr das Wort entschlüpft war.

Doch er hörte es kaum. Er war in Grübeln versunken.

„Da erst standen wir uns so recht gegenüber," fuhr er fort, „und es brannte eben lichterloh. Wir würden uns trotzdem, in kurzer Zeit vielleicht, zurückgefunden haben, wir beide — "

„Wer?" fragte sie hart.

Da sah er auf. „Nun — Vera und ich."

Sie schwiegen eine Weile. Es drängte sich zu viel bei diesen Worten zusammen.

„Jeder hat das erste Recht auf sich selbst," sagte sie.

„Das stimmt nicht zu dir! Entstelle dich nicht! Im Gegenteil, — du hast dich geopfert — ja, ich weiß es — in blindem Heroismus, oder nenn es, wie du willst. Du hast' s getan! Und mußtest doch wissen, was du mir warst, immer sein würdest. Du standest über uns beiden."

„Ich — glaubte nicht mehr daran." —

Das Schiff hatte in Brunnen gelandet und war wieder abgefahren, ohne daß sie es bemerkten. Jetzt lenkte es ein in die dunkelgrüne Mut der Urnersees. Der Mythenstein rückte heran mit seinen goldenen Riesenlettern: „Schiller, dem Sänger Tells." Und die Gewaltigkeit des Hochgebirges tat sich mit einemmal auf, fast unheimlich in seinem Glanz und seinen tiefen, schweren Schatten.

Erschüttert blickte Erna hinaus. Seit jener Pfingstfahrt in den Züricher Studienjahren hatte sie das nicht mehr gesehen. Es übermannte sie, der Ein¬ druck dieser Größe und Schönheit — und das Er¬ innern an jene junge, vollbewegte Zeit. Eine auf¬ schluchzende Freude brach plötzlich in ihr los. Sie war wie emporgetragen von einer Macht, die stärker ist als alles. Sieben Jahre versanken in den dunkelgrünen Wellen, und sie fuhren wie damals in diese herrliche Welt hinein, noch einmal ins Leben...

Sie schwiegen beide.

Das Sängervölkchen stand jetzt auf der Seite des Schiffes, wo das Grütli in Sicht kam.

Ganz andächtig standen sie da und sahen hinauf zu ihren Bergen. Es waren kleinere Bürgersleute, die nicht alle Jahre eine Reise machen und von dergleichen noch ehrlich ergriffen werden, zumal sie ihre Schweizergeschichte fest im Kopfe haben, die hier auf Schritt und Tritt zu ihnen redet. „Das ist halt schön, bi Gott!" riefen sie freudig. Und als nun die Grütlimatte kam, inmitten schroffer Felseneinsamkeit, riß einer den Hut vom Kopf und schwenkte ihn aus Leibeskräften mit dem Rufe: „Heil dir, Helvetia!" Die anderen stimmten ganz selbstverständlich ein, und darauf sangen sie das Grütlilied, sanft beginnend, wie es der Text verlangt, und dann immer fröhlicher:

Von ferne sei herzlich gegrüßet, Du stilles Gelände am See!"

Der Kapitän ließ der biederen Gesellschaft zu Ehren das Schiff einen Bogen nahe heran nehmen. Dann steuerte es scharf hinüber nach der Tellskapelle und Flüelen, der letzten Station.

Als es dem Ende seiner Fahrt nahe war, sagte der Freund: „Ich danke dir, Erna!"

„Wofür?" — Ihr Gesicht hatte jetzt einen anderen Ausdruck, wie jemand, der lange gedürstet und einen ersehnten Labetrunk getan.

„Daß wir uns wiedergesehen haben."

„Da müssen Sie dem Zufall danken."

„Schenk mir das gute alte Du für diese kurze — kurze Zeit! Wir waren ja doch ehrlich gute Freunde."

„Ja — das waren wir."

„Und nun? Soll's schon zu Ende sein mit unserem Wiedersehen?"

„Nach welcher Richtung gehst du?"

„Ein paar Tage wandern will ich noch, zu Fuß an den Gotthard, bevor ich heimreise."

„Ich fahre mit dem Schiff zurück."

„Nicht diesen einen Tag wenigstens ganz?"

„Nein — besser nicht."

„Du hast aber Zeit mit der Rückfahrt, über eine Stunde. Erinnerst du dich, dort drüben, an unsere Mittagsmahlzeit damals Weißen Kreuz?"

„Jawohl."

„Laß uns die frohen Erinnerungen wenigstens feiern. Komm — bitte!"

Sie willfahrte ihm.

Und so saßen sie denn auf der bekannten Terrasse einander gegenüber, an einem kleinen Tisch, ohne viel Leute um sich zu haben.

Die anderen Passagiere des Dampfers waren alle gleich weiter, nach Altdorf, gefahren oder gegangen.

Erna legte den Hut ab.

Da sah er ihren Kopf erst ganz, mit dem vollen, natürlich gewellten Haar, wie er ihn im Gedächtnis hatte. Dieselbe Frisur noch, einfach gescheitelt, der Zopf rückwärts im Knoten gesteckt. Aber — erschrocken blickte er hin — ein Reif lag darüber. Eine Menge silberner Fäden!

Auf einen Schlag erschien sie ihm älter, anders. Wie ein Vorwurf traf ihn der Anblick dieser gebleichten Haare. Gedankenvoll betrachtete er sie, während sie hinausblickte auf den See. Und unwillkürlich tauchte neben ihr ein blonder Kopf auf, mit weißer, sammetner Haut und faszinierenden, eigentümlichen Augen schwermütig — funkelnd — geistvoll — verschleiert, undurchdringlich in müder, kalter Gleichgültigkeit, ein Gesicht voll fliegender Reize und Wechsel des Ausdrucks, immer noch mädchenhaft anmutig — sein Weib.

Die Kellnerin brachte das Essen und eine Flasche Asti spumante, den fröhlichen Wein, der von jenseits des Gotthard kommt. Er perlte und rauschte fein in den Gläsern.

„Worauf stoßen wir an?" fragte er, „auf Vergangenheit oder Zukunft?"

Sie sah ernst in ihr Glas, die Schaumperlen verfolgend, die ununterbrochen darin emporstiegen.

„Auf das Unvergängliche — Echte," sagte sie.

„Ja! Davon hab ' ich heute einen Zug getan, weiß Gott, einen bitteren und süßen! Du warst und bist echt — dir soll es gelten!" Er trank den Kelch auf einen Zug aus. — „Glaub mir, ich habe mich oft nach dir gesehnt, nach deiner Ruhe, deinem Verständnis, deinem — Herzen. Es erschien mir damals — neben Vera — kalt. Du wurdest mir erst eigentlich klar, als wir dich verloren hatten."

„Laß die alten Zeiten ruhen."

„Die alten Zeiten sind wir selber!"

„Nicht mehr! — Wem gleicht euer Kind?"

Er nestelte ein Medaillon los und reichte es ihr hinüber. Da blickte ihr ein engelhaftes Kinderantlitz entgegen, das sie lange betrachtete. „Schön ist es!" Ein eigentümliches Aufschimmern und Erlöschen ging dabei über ihre Augen.

„Und hat ein zärtliches, schier mütterliches Herzchen," erzählte er stolz. „Für alle will sie schon sorgen, alles verschenken. Sie bemuttert ihre Mama. Du würdest das Kind lieb haben, wenn du es sähest."

„Da bist du ja reich!"

„Wirst du nicht einmal kommen, um es zu sehen?"

„Wer weiß — später — vielleicht." Sie hatte die Stirn in die Hand gestützt und sprach, ohne aufzusehen, immer das Bildchen vor sich. Nun richtete sie sich auf und gab es ihm wieder. — „Hege dies mütterliche Herzchen! Es ist das Beste — das Allerbeste in dieser sonderbaren Welt!" Sie sog tief die Luft ein und strich über die Stirn mit beiden Händen, lächelnd, als wollte sie etwas wegstreichen, das sie eben nur so angeflogen. Und dann setzte sie den Hut auf.

Die Dampfschiffglocke drüben lautete das erste Zeichen.

„Muß es wirklich sein?"

„Gewiß. — — So war es schön."

„Das ist ein liebes Wort! Das werde ich behalten!"

Er kannte sie zu gut, um mehr in sie zu dringen. Und so ging er denn mit ihr langsam dem See zu, der auf einmal unruhig geworden war, Wellen und weiße Schaumkrönchen warf. Ein warmer Wind kam aus der Gegend des Bristenstocks her.

„Da ist er, der Föhn, " sagte er. „Du kannst eine bewegte Fahrt bekommen."

Das helle Sonnenlicht war verschwunden, ohne daß sie es bemerkt hatten. Jetzt schimmerten die Schneefelder in stumpfem, aber grellem Weiß aus dem Reußtal herüber, das in beinahe gewitterhafter Beleuchtung lag.

Sie blieben stehen und sahen stumm hinaus, als hätten sie sich nun nichts mehr zu sagen.

Vor dem letzten Läuten wollte sie kurz Abschied nehmen. Aber er hielt sie noch zurück.

„Laß uns nicht wieder auf sieben Jahre scheiden! Versprich mir's."

„Das kann ich nicht."

„Wirst du uns antworten, wmn wir dir schreiben? Ich will dich nicht wieder verlieren."

Sie sah ihn an mit einem Lächeln von eigentümlicher Tiefe, obgleich es nur flüchtig ihre Züge überflog, einem überlegenen, großmütigen Lächeln.

„Grüße Vera —"

„Gib mir die Hand auf das, worum ich bitte!"

"Leb wohl!"

Sie wandte sich rasch ab und ging auf den Dampfer, ohne sich noch einmal umzusehen.

Das Schiff fuhr fort.

Er verfolgte ihre Gestalt, spähte ihr nach, solang er konnte, immer bereit, den Hut noch einmal zu schwenken. Aber sie stand regungslos, abgewendet.

Das Fahrzeug glitt, wie vom Winde gejagt, rasch hinaus durch die Wellen, die der Föhn aufwühlte.

Er stand noch lange, versunken, und schaute ihm nach, der dunkel schleppenden Rauchwolke, die es oft wie mit Flören einhüllte, — den schwanken Boden, auf dem er ein wundersames Stück Jugendgeschichte wieder durchlebt, traumhaft — vielleicht das beste seines Lebens.

Aus meiner Kindheit

Wenn der Märzwind herbfrisch über das erste Wiesengrün weht, noch ziemlich anfröstelnd und doch den vollen Hauch des Frühlings in sich, dann steht mir immer eine Landschaft vor Augen, die für mich das ist, was für Adam und Eva der Garten Eden gewesen sein muß: Die Paradieseslandschaft der ersten Lebenserinnerungen, das Land der Kindheit. Über österlich grüne Wiesenberge schaut der Säntis herüber, noch tief verschneit, aber hell lachend im Sonnenschein wie ein fröhliches Greisenangesicht. Ostwärts blinkt in der Ferne eine blaue Flache, der Bodensee. Im Tal, ganz nah, liegt die Stadt St. Gallen, mit ihren Kirchtürmen und Gassen, scheinbar eng zusammengedrängt, dann weitum ins Freie, Ländliche sich verlierend. An den Höhen hinauf überall noch Häuser und Häuschen bis da, wo die Welt ein Ende hat, nämlich die damalige Vorstellungswelt meiner ersten Kindheit.

Auf dem St. Galler Rosenberg war das. Da wohnten meine Eltern in einem Landhaus, Bellevue genannt, inmitten eines hübschen Gartens, der rings von Wiesen und Obstbaumhainen umgeben war. Das Gut gehörte einem Mann, der mir in freundlichster Erinnerung steht, obgleich er mir den Schmerz des ersten Zahnausreißens antat. Es war unser Hausarzt, Dr. Girtanner, eine kleine behäbige Gestalt mit wohlwollendem Angesicht. Ein Angesicht, wie man es auf alten Miniaturen sieht, bartlos, klar, sonntäglich, mit gütigen, hellen Augen, vor denen wir Kinder uns gar nicht fürchteten. Er trug in seinen kleinen Händen stets einen feinen, hohen Rohrstock mit goldenem Knopf, was ihm eine eigene Würde gab. Das glänzende Ding beguckten wir immer, wenn der Herr Doktor, von den Gängen seiner Praxis heimkehrend, auf den Berg kam und uns lächelnd begrüßte. Sein eigentliches Wohnhaus war in der Stadt unten. Die Familie kam nur für kürzeren Aufenthalt auf das Landgut, zur Zeit der Heu- und Obsternte, in den Ferien der Jugend. Da war es dann lebhafter, als sonst, wo in der ländlichen Stille kaum mehr zu hören war, als das Geläute der Glocken aus der Stadt, das Gackern der Hühner oder das Jodeln eines Sennen, der mit der leeren Milchtanse auf dem Rücken bergan heimkehrte. Damals, kommt mir vor, jauchzten und sangen die Leute bei der Arbeit und Heimkehr von derselben fleißiger als jetzt. Im Heuet stiegen diese Jauchzer aller Orten auf. Es klingt mir noch im Ohr, denn ich war mit dabei und genoß diese Zeit auf die herrlichste Art. Wir waren den ganzen Tag bei den Heuem, kugelten lustig über die abschüssigen Wiesen hinunter durch das duftende Heu und naschten mit vom Moft und Speck und Weißbrot, das in den Ruhestunden verzehrt wurde. Und im Herbst, wenn von den hochwipfeligen Obstbäumen die Birnen und Äpfel geschüttelt wurden, daß es nur so niederprasselte auf Kopf und Rücken und der ganze Grasboden bedeckt war mit der lieben Ernte, da waren wir natürlich erst recht mit dabei und sammelten und bissen in die saftigen Früchte, daß die Backen glühten. Die ganze Luft war erfüllt von — ach, es gibt auch Düfteerinnerungen, — von jenem süßlich aromatischen Obstgeruch, der mit einem gewissen Herbstgefühl zusammenhing, mit bereits feuchten Wiesen, früh einbrechenden Abenden, frostigeren Lüften. Und wir gingen nicht heim, bis die großen Körbe in der Obstmühle waren, wo ganze Berge von Äpfeln und Birnen aufgeschichtet lagen, hell leuchtend mit ihren frohen Farben im Dämmerlicht der Scheune, wo nur durch die weit offenen Tore das Tageslicht und das Grün der Wiesen smaragdgleich hereinschimmerte.

Da war unter denen, die mit „auflesen", d. h. das geschüttelte Obst sammeln halfen, eine Frau oder ein Mädchen, das uns lebhaft interessierte, weil die Leute sagten, daß sie im Kopf „nicht recht" sei. Amerei hieß sie und war nach unseren kindlichen Begriffen schön, hatte dunkle Augen, dunkles, lockiges Haar, das sich in lauter Ringelchen um Schläfen und Hals krauste, und dazu eine gebogene Nase. Sie war arm, wohnte in einem ziemlich verlotterten einsamen Haus gegen Rotmonten hin und lebte offenbar von Zufallsarbeit und -verdienst. Mit uns Kindern war sie immer lustig, erzählte merkwürdige Geschichten und sang uns allerlei Lieder vor, von denen wir nicht viel verstanden. Oft wanderte sie mitten im hellen Werktag langsam allein auf einem der Wiesenwege des Rosenbergs, mit ernstem, fast düsterem Gesicht vor sich hinsummend, einen Grashalm im Mund, einen grünen Zweig in der Hand, mit dem sie herumfuchtelte, nach einem Schmetterling schlug oder über das wogende blumige Gras hinstrich. Erblickte sie uns, so lachte sie gleich und setzte sich mit uns irgendwo am Wegrain unter einem Baum nieder und sang oder erzählte uns eins. Sie hatte immer Zeit und wußte immer etwas Neues. Wenn sie sang, so zog sie die Stirn in schwere Falten über den dunklen, tief liegenden Augen, so daß es uns oft völlig gruselte. Aber gerade das war es, was uns anzog. Selbst ihr Lachen hatte etwas Gewitterhaftes, wie Wetterleuchten jäh da, jäh wieder erloschen; etwas Märchenhaftes war an ihr, wie von einer bösen Fee, die uns ein bißchen unheimlich war und doch unwiderstehlich fesselte. Beim Singen zitterten ihre Nasenflügel, und sie schaute starr in die Ferne, als ob sie dort wirklich sähe, was sie eben sang, z. B. die Geschichte von den „Drei Grafen, die in dem Schifflein warn". So saß sie wie versunken da und konnte recht böse werden, wenn eins von den Bauernkindern, die sich oft zu uns gesellten, über sie lachte. Dann stand sie einfach auf und ging fort, ohne ein Wort weiter zu sagen. Ich sehe ihre Gestalt und höre ihre Stimme noch in der sonnigen Stille jener Landschaft, die scheinbar weiß Gott wie weit von allem Stadtgeräusch war. Ein frisches Berglüftchen wehte über die Höhe, über die weiten blumigen Wiesen und durch die dunklen Haarringelchen unserer Amerei. Etwas wie Poesie umspann sie für uns Kinder. Wie gebannt kauerten wir um sie, ihren sonderbaren Mären lauschend. Ich hörte später nie mehr von ihr. Aber durch meine Erinnerung wandelt sie noch oft, die rätselhafte Scheherazade meiner Kindheit.

Dicht am Saume des Sitterwaldes, der sich stundenweit von der Höhe des Rosenberges hinabzieht gegen die Sitter, lag ein Haus, rundum in Grün gebettet, das uns auch mächtig anzog. Es war ein Wirtshäuslein, zum Waldeck genannt, in dem man gute Sachen bekam, vor allem die köstliche Loggmilch und Straubenküchli, die für uns die herrlichste Näscherei waren. Unter Bäumen standen Tische und Bänke, und ein Gärtchen war dabei, voll von üppigem Wachstum, Gemüse- und Blumenbeeten, alle hoch von Buchs eingefaßt, die Wege dazwischen so schmal, daß man nur eben so durchkommen konnte. Im Hintergrund stand ein uraltes, schindelgepanzertes Gartenhaus, ganz umsponnen von mächtigen Moosrosenbüschen. Wie oft durften wir da von den Johannis - und Stachelbeersträuchern naschen, die in freier Wildwüchsigkeit wie kleine Wälder dem windschiefen silbergrauen Gartenzaun entlang wuchsen. Die Hauptsache aber war das Haus selber, ein urgemütliches altes Giebelhaus, so recht eines wie aus dem Bilderbuch, über und über mit buntem Blumenflor an den niedrigen Fenstern bis unters Dach. Aus dem obersten Dachfenster unter dem Giebel hörte man in der Lauschigkeit der Waldstille ein Schusterhämmerchen fleißig schlagen. Da hauste der einzige Sohn der Wirtsleute, in der Woche ehrbarer Schuster, am Sonntag in der Wirtschaft helfend, ein ältlicher Junggeselle mit einem wahren Apostelkopf, Haar und Bart lang, und Wangen so rot, als wären sie mit Karmin angestrichen. Wir besuchten ihn zuweilen da oben, weil er die ganze Stube voll Waldvögel hatte, unter denen er wie eine Art Hexenmeister lebte. Sie kannten ihn alle. Einzelne pfiffen Weisen, die er sie gelehrt, und plauderten in ihrer Sprache mit ihm, als ob er sie und sie ihn prächtig verstünden. Wenn wir im Winter, im tiefen Schnee, mit den Eltern zuweilen in diese trauliche Einsamkeit kamen, wie war das schön! Ein großer warmer Ofen, um den man sitzen konnte; in der einen Stubenecke ein abgerutschtes Kanapee, der sauber gewaschene Eichentisch davor, auf dem dann bald ein währschafter Kaffee aufmarschierte, von der alten Frau Bruderer selbst gemacht, die eine große Freundschaft mit unserer Familie verband. War sie gut aufgelegt, so spielte sie uns etwa mit ihren alten, steifen Fingern ein Stück auf dem Spinett vor, das in einer Ecke stand, ein wirkliches, altes Spinett, mehr wie Harfe als Klavier klingend. Und dann fingen die Waldvögel, die auch hier in ihren kleinen Holzkäfigen, dicht unter der niedrigen Stubendecke hausten, zu piepsen und rufen und locken an, und guckten mit ihren Schwarzäugelchen auf uns herab, als wollten sie sagen: Wir verstehens auch!

Diese trauliche kleine Welt und ihr geheimnisvoller Hintergrund, der große, große Sitterwald, hinter dem nach unseren Begriffen die weite Welt lag, zogen mich derart an, daß ich zuweilen allein und selbständig Spaziergänge dorthin unternahm, schon in einem Alter, wo bei Kindern solche Expeditionen als „fortlaufen" bezeichnet und bestraft werden. Bei mir bestand die Strafe darin, daß mir mein Vater mit ernster Miene erklärte, wenn es noch einmal geschehe, so würde ich wirklich in die weite Welt hinausgeschickt und könnte dann sehen, wie es da draußen in der Fremde, fern von Eltern und Geschwistern sei. Diese weite Welt spielte in meiner Phantasie aber eine so verführerische Rolle, daß ich ihren Lockungen doch wieder unterlag. Da lautete denn eines Tages logisch die Strafe: „Gut, nun gehe du nur einmal in die richtige weite Welt, und wenn du hungrig bist, so wirst du fremde Leute um ein Stück Brot bitten, und wenn du schlafen gehen willst, mußt du sehen, wo du dein Bett findest." Ich war damals etwa vier Jahre alt und soll wie eine recht verstockte kleine Sünderin, fast mit Freude, dieses Verdikt angehört haben. Und statt nun hübsch brav in den Grenzen des Gartens bleiben zu wollen — was tat ich? Nahm meine kleine „Krenze" auf den Rücken, setzte meine Puppe hinein und ein Stück Brot dazu — und sagte Adieu, jetzt ginge ich eben in die weite Welt hinaus.

Mein Mütterchen war entsetzt über diese Entschlossenheit. Der Vater aber ließ mich scheinbar ruhig wandern. Ich mußte mich hoch auf die Zehen stellen, um das Gartentor zu öffnen. Es ging auf, und ich richtig fort in meiner Abenteuerlustim kleinen Herzen, direkt auf den großen, geheimnisvollen Wald zu, hinter dem mein Wanderziel, die weite Welt lag. Natürlich fand ich rechts und links am Wege allerlei Unterhaltung, Vögel, Blumen, huschende Eidechslein und Eichhörnchen. Dann fiel mir bald mein Stück Brot ein, denn ich war schon hungrig und setzte mich auf der einstweilen ersten Station der Wanderschaft mitten in die Heidelbeeren hinein, die mir sozusagen in den Mund wuchsen. Meine Puppe „Diele" durfte auch Heidelbeeren essen und saß auch, wie ich, mitten in den grünen Büschen. Es war sehr schön, und dazu fiel mir noch ein Liedchen ein, das ich erst auswendig gelernt hatte, vom Büebli im Erdbeerschlag. Ich deklamierte es meiner Puppe Diele vor und war dann sehr begierig, ob es vielleicht auch zu uns käme, wie's in dem Vers heißt:

„Es chunnte schöne Chnab. Er het e Rock wie Silberstaub, Und treit e gold'ne Stab. Er glänzt wie d'Sunn am Schwizerschnee. Si lebelang het's nüt so gseh."

Als wir, meine Puppe und ich, es uns gerade herzhaft schmecken ließen — die gute Diele hatte schon ein recht verschmiertes Gesicht — kam wirklich eine Erscheinung, aber es war nicht der schöne Chnab, sondern das erhitzte Gesicht unserer braven Magd Friederike, das sich von rückwärts über mich beugte.

„Du abscheuliches Kind! So kannst du von mir und von deinen guten Eltern fortlaufen? Schämst du dich denn gar nicht? Einsperren soll man dich — durchhauen soll man dich — jawohl! Das verdienst du. Und jetzt kommst du auf der Stelle mit mir nach Hause. Dein guter Papa hat mich dir nachgeschickt."

— Und ohne viel Federlesens warf sie meine Puppe Diele in meine Krenze, nahm sie und mich auf den Arm und schalt noch eine ganze Weile in ihrer zornigen Liebe auf mich ein. Nachher erschienen wir zwei Weltfahrer, Puppe Diele und ich, mit von den Heidelbeerfreuden recht verschmierten Gesichtern und Händen vor den Eltern, kamen uns nun doch ein wenig wie Sünder vor und schlugen die Augen nieder. Eingesperrt wurden wir aber nicht. Es gab nur eine gründliche Moralpredigt und einen Tag lang sehr ernste, verurteilende Mienen, die mir ärger als jede Strafe waren. Dann war alles vorbei, wenigstens für mich. Auf eigene Faust in die weite Welt hinaus gewandert bin ich dann aber doch nie mehr. Nur die Sehnsucht danach ist mir treu geblieben bis auf den heutigen Tag.

Die allerschönste Erinnerung aus der Kindheitszeit, die freilich in mehrere Jahre später fällt, ist das St. Galler Kinderfest. Ach, Blumen, weiße Kleider, die köstlichen Bratwürste, Spiel und Tanz einen ganzen langen Sommertag — wie leuchtet das heute noch auf in der Seele!

Das Fest fiel in die Zeit nach der zweiten Heuernte. Es wurde auf den frisch gemähten Wiesen des Rosenbergs gefeiert, wohin die ganze St. Galler Schuljugend mit Lehrern, Behörden und Geistlichkeit in festlichem Zuge mit Musik am Morgen auszog. Die Mädchen weiß gekleidet, Blumenkörbe und Girlanden tragend — ein lieblicher, langer Reigen von Kindergestalten und bunter Blumenpracht. Dann die Knaben mit Standarten, Hellebarden, Morgensternen, alles bänder-, blumen-, fahnengeschmückt, und schließlich die Kadetten mit ihren eigenen Kanonen, Protzkasten usw., in unseren Augen natürlich schon das Ansehnlichste der gesamten Schuljugend, beinahe schon Männer. Zum Schluß die Würdenträger und -trägerinnen der Stadt. Und das ging nun im strahlenden Sonnenschein am Berghang empor, in langem Zug auf die Höhe. Und die Musik schmetterte und die Böller krachten, daß es eine Pracht war, und ich glaube, auch die Glocken läuteten. Wenigstens in unseren jungen Herzen läuteten sie!

Oben auf dem Bergplateau empfingen uns wehende Fahnen, Triumphpforten — und alle möglichen, für diesen Tag erbauten Niederlassungen, unter anderem ein großer Tanzsaal, mit Segeltuch überspannt, für die größeren Mädchen, eine Schießstätte für die Knaben, und allerlei Hütten und Buden für Erfrischungen, denn an diesem Tage war nicht allein die Jugend, sondern die ganze Stadt hier oben in Lust und Freude versammelt.

War der ganze Zug oben angelangt und schön geordnet, dann legte sich auf einmal Stille über die tausendköpfige Menge. Eine Ansprache, eine Begrüßung des schönen Freudentages weihte ihn ein. Ich erinnere mich da eines Redners, der auf mein Kindergemüt immer denselben beglückenden, ja einmal einen unauslöschlichen Eindruck machte. Es war Dekan Wirt, ein älterer Herr mit einem schönen, ausdrucksvollen Humboldtkopf, mit großen, dunklen Augen, aus denen die reinste Menschenliebe strahlte. Er trug immer einen feierlichen schwarzen Rock und, nach der Mode vergangener Zeit, ein weißes Battisttuch statt der Krawatte um den Hals gelegt. Streckte er uns die Hand zum Gruß entgegen, so gingen wir mit einer gewissen Scheu verborgener Liebe und Verehrung auf ihn zu. Und diese scheue, ehrfurchtsvolle Liebe bringt mich auf jene unauslöschliche Erinnerung an eine Stunde der Kinderlehre, die Dekan Wirt hielt. Er erklärte uns, was Gottesfurcht sei: nicht Furcht, nicht Bangen vor dem unbegreiflich Großen, dem Schöpfer Himmels und der Erden, dem Herrn, der im Sturm und Gewitter, wie in der Herrlichkeit der Alpen zu uns redet, sondern die scheue Ehrfurcht und Liebe zu einem gütigen Vater, vor den wir nur mit reinem Herzen treten sollen, und, wenn wir fehlten, in banger Sehnsucht nach Verzeihung zu ihm aufsehen, in dem kindlichen Gefühl: ich fürcht' mich, weil ich unrecht tat! Diese für den Kindersinn so einfache und schöne Erklärung, was rechte Gottesfurcht sei, ist mir für's Leben geblieben und mit ihr die sonnenhelle Erinnerung an den Mann, der dieses Samenkorn in unsere jungen Seelen streute.

Am Tage des Kinderfestes hielt Dekan Wirt gewöhnlich die Festrede, mit sonorer weithin schallender Stimme und mit einem wunderschönen, gütigen Lächeln um den beredten Mund. Ich könnte dieses liebe Antlitz Zug für Zug noch zeichnen, so lebendig steht es in meinem Gedächtnis.

Nach der Rede kam Gesang aus Hunderten von jungen Kehlen. Er hallte auf in den weiten blauen Himmel, der über uns stand, der schönste Hymnus der Freude, den man sich denken kann. Und nach diesem Weiheakt lösten sich die Massen auf in einzelne Gruppen, wo nun Spiele und Vorführungen aller Art betrieben wurden, bis die Mittagszeit Jung und Alt zum Mahle versammelte, zu dem altehrwürdigen St. Galler-Bratwurstmahl, bei dem jedes der Kinder eine halbpfündige, köstlich duftende Bratwurst bekam. Wie dieser Leckerbissenmundete, wissen nur die, welche mit dabei waren. Und wie dann die Stunden des Nachmittags unter allen erdenklichen Lustbarkeiten verflossen — ich fühle es heute noch mit Wonne, obgleich Zeit und Raum mich weit von alledem trennen.

Vor einigen Jahren kam ich auf einer größeren Reise durch St. Gallen. Mein Zug hatte so lange Aufenthalt, daß ich dort Mittag halten konnte. Da wurden mächtige Körbe voll Bratwürste an mir vorbeigetragen. Ich fragte ahnungsvoll, wohin sie kämen. „Auf 's Kinderfest", hieß es.

Auf' s Kinderfest! — — Und ich saß als eine Fremde hier unten in der Bahnhofrestauration!

Der Tag gerade so blau, so voll Sonnenjubel wie einst — einst-

Traumhaft zog es an mir vorbei. Ich wurde wehmütig — legte den Kopf in die Hand und schloß die Augen in einer Anwandlung von süßem Heimweh nach längst Vergangenem. Und dann — feierte ich für mich allein ein ganz heimliches stilles Kinderfest in memoriam, indem ich — auch eine Bratwurst verzehrte.

Das ewig Weibliche

In einem Lebensstadium, wo der Mensch schon viel auf den Heimplatz hält, in dem er festgewurzelt ist und womöglich bis an das Ende seiner irdischen Laufbahn bleiben möchte, traf den Herrn Professor Keller der harte, ja seiner Ansicht nach der schwerste Schlag, der ihn treffen konnte: seine Mietfrau starb, eine Junggesellin in bestandenen Jahren wie er, mit der er Jahrzehnte hindurch in Ehren unter einem Dach an der oberen Kirchgasse zu Zürich gehaust hatte. Merkwürdigerweise war ihm die Möglichkeit dieses Falles wahrend der langen Zeit niemals in den Sinn gekommen, trotz den mancherlei kleinen Gebrechen, an denen jahraus, jahrein, in fast regelmäßiger Abwechslung, die nun eben verewigte Frälein Emerentia Michel laboriert hatte. Er war diese „Zustände" längst gewohnt gewesen und mit echt männlichem Gleichmut an ihnen vorübergegangen, da sie seine häuslichen Gewohnheiten selten oder nie störten. Nun auf einmal stand er der fast unglaublichen Tatsache ihres Todes gegenüber, wehr- und ratlos wie ein Kind. Ja, wie eine Art Rücksichtslosigkeit gegen seine Person empfand er dieses gewaltsame Lösen eines Verhältnisses, das für ihn einfach die ganze Bequemlichkeit seines Daseins bedeutete. Er kam sich nicht allein völlig heimatlos vor, sondern geradezu vogelfrei, wie einer, mit dem jedermann nun treiben kann, was er will. Da kamen gleich ein paar entfernte Verwandte des Frauleins, auf die sie nie gut zu sprechen gewesen, weil sie sie bei Lebzeiten schon fleißig mit den lauernden Spürnasen künftiger Erben umschlichen hatten. Wie gierige Hyänen erschienen sie dem verlassenen Mietsmann. In alle Winkel guckten sie, stritten untereinander und blieben doch alle am Platze, weil keiner dem anderen traute, trafen zerstörende Anordnungen und spielten so die Herren des Schauplatzes. Gerichtspersonen mit polternden Stimmen und kurzem Verfahren gesellten sich auch noch dazu. Kurz, eine traurig greuliche Verwüstung brach in dem zuvor so stillen und geordneten Haushalt los. Und was das Schlimmste dabei war, das Gewissen, die furchtbare Weisheit verspäteter Einsicht, begann bei dem allgemeinen Rumor auch noch laut zu werden, freilich nur die Weisheit des Egoisten. „Sehen Sie," hörte er die Stimme der Verstorbenen sich zuwispern, „so geht' s, wenn der Mensch nur an sich denkt! Hätten Sie mir vor zwanzig oder dreißig Jahren ehrbar den Bund der Ehe angetragen, so wäre jetzt alles anders. Erstens lebte ich dann wahrscheinlich noch in schönster Harmonie mit Ihnen, denn das Glück erhält den Menschen; merken Sie sich das nur, ich weiß es! Und wenn dem nicht so wäre, so stünden Sie wenigstens als rechtmäßiger Herr im Hause, und niemand könnte einen Stuhl von seinem Platze rücken. Denn damals, als ich —" hier hörte er ganz deutlich ihr kleines, gewohnheitsmäßiges Hüsteln, das sie in solch kritischen Augenblicken stets gehabt, — „als ich — nicht ganz unberechtigte Erwartungen hegte — — jawohl, in allen Ehren, nicht ganz unberechtigte! — und Ihnen das schöne Wort nicht schwer gemacht hätte — damals wäre ich entschlossen gewesen, mein Weibergut ohne Bedenken mit Ihnen zu vereinigen, wobei wir lange und zufriedene Jahre hätten miteinander Hausen können. Ja, sehen Sie, so geht' s, wenn man in jüngeren Jahren so achtlos das Schönste versäumt und neben den zartesten Gefühlen und Wünschen eines anderen Herzens dahintrottet und es heimlich verblühen und verdorren läßt — daß Sie es jetzt zum Schluß nur einmal wissen! Jetzt müssen Sie es in alten Tagen eben büßen!"

Oh, diese Stimmen von drüben, diese Weisheit nachher, diese plötzliche Klarheit, wie einfach einst alles gewesen und wie anders dann alles gekommen wäre!

Und dann nach solchen Folterstunden wieder die Trostsprüche und Späße, mit denen die alten Freunde und Herren in seiner antiquarischen Gesellschaft, die er allsamstäglich besuchte, ihn zu ermuntern trachteten. „Ach was, es gibt noch genug Wohnungen und Weibervölker in Zürich, wo es einem wohl werden kann!" — Oder: „Jetzt kommt's halt doch heraus, was sie ihm war, die nunmehr im Himmel weilende Fräulein Emerentia, über deren Joch er manchmal gebrummt und es doch so standhaft getragen hat!"

Da wurde er aber wild. Zum Donner! Was wußten diese wohlgeborgenen Schmerbäuche und Ehehelden, was für ihn dieser Fall bedeutete. Ausziehen aus dem altehrwürdigen Hause, aus seiner klösterlichen Ruhe und Sauberkeit, wo nichts störte, nichts sich veränderte, alles noch wie vor hundert Jahren war, die steile Wendeltreppe mit den schiefen Fensterchen ins Freie, durch die ein schönes Stadtbild mit heimeligen Gärten, Giebeln und Türmm und blauer Ferne hereinschaute; die großen, hellen Lauben in jedem Stockwerk, die geräumigen Stuben, mit dem unübersehbaren Besitz an Büchern, Schriften und Sammlungen, die gegen dreißig Jahre an derselben Stelle geblieben, von ihr in Ordnung gehalten, alles gelegt und gestellt war, daß er es in der Nacht ohne Licht finden konnte! Noch viel weniger aber wußten sie, was für ihn, nämlich für seine tägliche, stündliche Existenz dieses Fräulein Emerentia gewesen. Wer hatte an alle seine Bedürfnisse, an Nahrung, Kleidung, kurz alles Menschliche je mit so unfehlbarer Pünktlichkeit gedacht wie sie? Wer, vor noch nach ihr, erriet seine Wünsche schon im Keim so wie sie? Sie war seine Uhr, sein Kalender, seine häusliche Vorsehung gewesen. Würde sie jetzt erfahren haben, in welcher Glorie sie ihm vorschwebte, unersetzlich, unerreichbar — es hätte ihr im Jenseits noch warm werden müssen darob.

Er wurde in dieser bösen Zeit um zehn Jahre älter, der arme Verlassene, was nicht wenig sagen wollte, da er seine Vierundsechzig bereits auf dem Rücken hatte. Seine klugen grauen Augen blickten feindselig unter dem Gestrüpp der Brauen hervor. Der gewaltige Haarschopf, ein Wahrzeichen seiner Persönlichkeit, das ihm in seinen Studienjahren Namen Simson eingetragen, bauschte sich in verzweifelter Wirrnis auf seinem Haupte empor, während die auffallend große Unterlippe, das zweite Wahrzeichen seines sonst nicht unschönen willenloser Schlaffheit herabhing, diese für sich allein ein Bild absoluter Hoffnungslosigkeit.

Als man sehen mußte, wie der verstörte Mann nach etlichen schwachen Anläufen, irgendwo anders unter Dach zu kommen, einfach dem Zufall seine weitere Existenz zu überlassen schien, nahm sich die Frau eines Kollegen endlich energisch seiner an, ohne viel Worte zu machen. Sie begab sich auf die Suche und erschien bald mit einem Resultat vor dem alten Freund, dem gegenüber sich dieser jedoch, wie alle ratlosen Leute, ziemlich feindselig verhielt. Das half aber nichts. Er mußte gleich mit, um — er lächelte höhnisch — natürlich gutzuheißen, was ihm da als schönster Ersatz des Verlorenen aufgeschwatzt würde.

So übel war die Sache indessen nicht, wie er sich vorstellte. Zwei freundliche Gemächer, ruhig gen Mittag gelegen, mit Aussicht auf einen Garten: die Vermieterin eine wohlansehnliche Frau, die durch den Tod ihres Mannes auf Verdienst angewiesen war, weshalb sie hoch und heilig alles Gute für den Mieter versprach, der ihr, wie sie freimütig versicherte, lieber als ein Junger sei. Er stellte Betrachtungen darüber an, was ihn nun wohl in den neuen Gemächern erwarten möchte. Es würde doch vielleicht noch glimpflich abgehen.

Die Frau hatte glänzende Kirschaugen, die trotz des Witwentums wie der helle Tag in die Welt schauten und es an sich günstig erscheinen ließen, daß ihre Besitzerin den in diesem Augenblick durchaus nicht besonderer Liebenswürdigkeit sich befleißigenden Professor einem anderen vorzog. Von dem kirschbraunen Glanze bemerkte er indessen nichts, da er in der schwierigen Lage, einen Entschluß fassen zu müssen, eine zornmütige Laune bekam und seine Blicke nur dann und wann mißtrauisch über sie Hinschießen ließ.

Ehe er sich dessen versah, war er eines Tages samt seinem ganzen gelehrten Hausrat in das neue Asyl verpflanzt, und jener Lebensabschnitt, über dem jetzt in diamantenen Lettern der Name Emerentia stand, leuchtete nur noch als ein verlorenes Paradies in der Erinnerung.

Es dauerte lange, bis er sich zurechtfand. Monate hindurch kampierte er unter einem Chaos von halb- und noch ganz vollgepackten Bücherkisten, ohne daß er eine Hilfe zur Ordnung derselben angenommen hätte. Täglich erschien seine Hausfrau, immer mit demselben freundlichen Gesicht, um in den verschiedensten Tonarten die Frage anzubringen, ob sie nicht etwas Luft und Platz schaffen solle. Er aber antwortete stets mit einer gewissen bärbeißigen Verbindlichkeit: „Es geht nicht — lassen Sie nur — ich muß das allein machen."

Nach einem halben Jahr erst begann eine gelinde Lichtung, und dies hatte seinen Grund nur in dem Vermissen eines Buches, nach welchem der Herr Professor wie ein Verzweifelter fahndete. Es war ein heißer Tag, als dies geschah, der erste, wo wirkliche Zeichen einer neu erwachten Tatkraft an ihm sichtbar wurden. Er rumorte ganz merkwürdig vom frühen Morgen an, schob Möbel, hielt halblaute Monologe, kurz, gebärdete sich, daß seine Wirtin etliche Male schon an die Türe seiner Studierstube gegangen war, um zu lauschen, ob er nicht irgend einen Gewaltstreich begehe. Plötzlich schoß er heraus, mit Schweißperlen auf der Stirn und ganz zerfahrenem Aufzug. Er hielt krampfhaft jenes Kleidungsstück, das man Hose nennt, zusammengerafft in der Faust. Beinahe hätte er die Frau niedergerannt. Sie fuhr erschrocken zurück.

„Ja — was — was wollen Sie denn?" fragte er barsch.

„Ich — hab' gemeint, es sei ein Tisch umgefallen —"

„Ein Tisch? Warum ein Tisch? — Haben Sie einen Hammer?"

„Natürlich, Hammer und Nägel. Soll ich Ihnen etwas helfen?"

„Helfen? Mit Nägeln? Santa simplicitas! — — Geben Sie nur her — —" Er entriß ihr das herbeigeholte Werkzeug und verschwand schleunig wieder hinter seiner Tür.

Die Frau begann am Verstand ihres Zimmerherrn zu zweifeln. Da sie nun kein Geräusch hörte, das dem Schlag eines Hammers glich, überhaupt auf einmal alles mäuschenstill war, konnte sie sich nicht enthalten, einen Blick durch das Schlüsselloch zu tun. Nach kurzem Spähen flog ein stilles Lachen über ihr Gesicht, denn sie sah den gelehrten Herrn drinnen am Fenster stehen, einen Knopf in der Arbeit, den er wahrscheinlich zuvor bei der hitzigen Hantierung abgerissen und wieder festzumachen bemüht war. Die Nadel — weiß Gott von welchem Kaliber— wollte nicht durch die Öffnung des Knopfes gehen; nun suchte er dem eigensinnigen Ding mit Gewalt den Weg zu zeigen. Dabei knirschte er mit den wenigen noch vorhandenen Zähnen, und der gewaltige Haarschopf nickte immer tiefer in die prächtige Denkerstirn herein, während er abgebrochene Laute der hilflosesten Wut hervorstieß.

Jetzt klopfte Frau Wehrli resolut an die Tür und tat ganz unbefangen, als sie hineintrat. — „Ja — Herr Professor — was tun Sie denn da? Ich glaub', weiß Gott — nähen!" rief sie mit dem glaubwürdigsten Erstaunen.

Er drehte sich um und warf einen Blick auf sie wie ein Löwe, der seine Beute verteidigt. Das schreckte sie aber nicht. Sie kam mutig näher. „Zu was bin ich denn da? Das ist doch nichts für so einen Herrn," sagte sie, ohne weiteres ihm Nadel und Hammer aus der Hand nehmend.

Er starrte sie sprachlos an. - War das nicht ein Ton wie von ehedem? Einer jener Momente, in denen sie" ganz einfach sich zur Herrin der Situation gemacht hatte, mit einem einzigen Handgriff und Wort, als ob er der Schüler, sie die Meisterin wäre? Wußte auch diese schon, daß es für einen Mannesmensch Lagen gibt, wo auch ein Zahmer dieser Art -? Genug — er ließ es richtig geschehen, daß Frau Wehrli das schwierige Geschäft des Knopfannähens zum Abschluß brachte, und, nachdem es wie spielend getan war, ebenso leichthin fragte, wie denn das Buch heiße, das er nun den ganzen Morgen schon suche; sie werde es sicher finden.

„Den Cicero — Quastiones academicae," antwortete er mechanisch, aber ganz lammfromm, ohne jede Nebenbemerkung, als ob ihr das Lateinische selbstverständlich so geläufig wäre wie ihm.

Sie machte zwar ein unsicheres Gesicht, fragte aber nicht noch einmal, sondern begann unverzüglich die Arbeit, den Titel eines jeden Buches kritisch prüfend. Was nicht Deutsch war, betrachtete sie alles als Latein und zeigte es gewissenhaft vor. Nach emsigem Suchen brachte sie richtig das Vermißte zum Vorschein. Er wurde vor Freude über den Fund schier grob.

„Wer, zum Teufel, hat das Buch aber auch dorthin gesteckt?" rief er mit blitzenden Augen.

„Meinen Sie etwa mich?"

" — Item — ich will es nicht untersuchen. — Gehen Sie jetzt nur -" Am liebsten hätte er sie nun gleich zur Tür hinausgeschoben.

Sie stemmte die Hand in die Seite und lachte wehrbar: „ Ist das der Finderlohn?"

„Wieso?"

„Jetzt soll ich das Buch verräumt haben! Dem wollen wir jetzt aber abhelfen, Herr Professor. Ich lasse Ihnen keine Ruhe, bis das Zeug einmal in Ordnung aufgestellt ist; dann müssen Sie sich nicht mehr wegen eines einzigen dummen Buchs so erzürnen!"

„Wir" wollen dem abhelfen —! Das sagte ihm das Frauenzimmer so rundweg ins Gesicht. War es nicht, als ob Emerentias Geist in diese da gefahren, daß bereits eine andere Weiberhand das Regiment über ihn ergriff? Er warf sich, soweit es ging, in die Brust und schob die Gebüsche seiner Brauen mit einem Ruck drohend zusammen.

Aber Frau Wehrli lachte trotzdem ganz unerschrocken und jetzt so, daß beide Reihen ihrer gesunden weißen Zähne zum Vorschein kamen. „Ja,ja,Herr Professor! Das muß jetzt einmal sein, potztausend, schon der Ordnung wegen!"

Er schnaubte, aber nur einen kurzen Augenblick, dann sagte er fast höhnisch verbindlich: „Erlauben Sie, wer ist hier eigentlich Herr — Sie oder ich?"

„Sie meinen es ja doch nicht so verzürnt, wie Sie tun, ich weiß es!" lachte sie noch immer unerschrocken und ging damit zur Tür hinaus.

Verblüfft sah er ihr nach. Obwohl diese Frau dem ehemaligen Schutzgeist seiner Tage durchaus nicht glich — nein, durchaus nicht — das hatte er soeben wahrgenommen, als sie so mit lachendem Angesicht wie ein sonnenheller Tag vor ihm gestanden — doch derselbe souveräne Ton! Und doch wieder ganz anders: jünger — fröhlicher- -

Ah bah! Wer denkt über solche Weibersachen lange nach!

Im Innersten aber, ohne daß er es sich eingestand, begann er von Stund an in dieser neuen Welt sich heimischer zu fühlen.

Eines Morgens, als er gerade in eine Arbeit vertieft war, klöpfelte es an seiner Tür, und über die Schwelle stolperte ungeachtet des wenig einladenden „Herein!" ein kleines Wesen mit kugelrunden Wänglein und denselben kirschbraunen Augen, wie sie Frau Wehrli hatte, die es an der Hand führte.

„Das ist mein Töchterlein", sagte sie stolz. „Gib dem Herrn Professor die Hand, Marieli!"

Er war über die Störung so aufgefahren, daß das kleine Persönchen nicht in seine Nähe wollte. „Was, Kinder?" rief er.

„Ja, meines", antwortete sie bescheiden, „von dem ich Ihnen ja schon gesagt habe — und das ich jetzt zu mir nehmen möchte, wenn Sie nichts dagegen haben. Es ist ein ruhiges, braves Kind."

„Das geht mich doch nichts an!"

„Dann ist's schon recht", sagte sie, in ihrer Mutterehre ein wenig gekränkt, das Kind gleich wieder an die Hand nehmend, um sich zu entfernen.

Jetzt machte er eine ganze Wendung in seinem Stuhl. „Ja, was wollten Sie denn eigentlich?"

„Ich bitt' ab, daß ich ungelegen gekommen bin." Und schon war die Tür geräuschlos geschlossen.

„Ja, z' Donnerhage!l" kam es im schönsten Zornesanlauf, doch mit so schneller Bemeisterung. daß der Hagel schon ganz diminuendo verrollte.

„Frau Wehrli!"

Keine Antwort.

Da ging er mit riesengroßen Schritten nach der Tür, daß sein Schlafrock wie ein Mantel flog. „Frau Wehrli!"

„Bitte — was?"

„Was soll' s mit dem Kind?"

„Ach — nichts."

Da auf dieses lakonische Nichts weiter nichts folgte, was ihn schier verlegen machte — denn was sollte er nun tun? — so räusperte er ein paarmal energisch und polterte dann heraus: „Was soll ich gegen das Kind haben? Ich bin kein Kindlifresser!"

Sonst lachte sie über so etwas, jetzt aber nicht. Nein, nur aus Gefälligkeit lachte sie nicht! Das flößte ihm Respekt ein. Fast kleinlaut zog er sich, mit schweren Stirnfalten, unter einigen versöhnlichen Worten wieder zurück.

Abends, als er nach Hause kam, holte er ein Päckchen aus der Rocktasche, das nach einem Zuckerbäckerladen aussah. „Geben Sie das dem Kind!" sagte er. „Was ist' s eigentlich, ein Bub oder ein Mädchen?"

„Ich habe Ihnen ja alles erzählt, " sagte Frau Wehrli, nicht ohne einen Nachhall von Groll in der Stimme. „Es ist das arme Waislein, das zwei Wochen nach seines Vaters Tod auf die Welt kam. In dem Elend damals konnte ich es nicht bei mir behalten, weil ich verdienen mußte. Es kam mit dem Buben —"

„Was, auch noch einen Buben haben Sie?"

„Den brauchen Sie nicht zu fürchten; der ist versorgt. Wenn Ihnen aber die Kleine etwa lästig ist" — Frau Wehrli bekam auf einmal rote Augen — „so tue ich sie wieder zur Schwester, wo sie bis jetzt war. Ich muß ja — nach Ihrer Zufriedenheit trachten " —

„Wer sagt denn, daß ich so etwas wolle? Das sind ja Dummheiten!"

„Sagen Sie das nicht, Herr Professor! Sie wissen nicht, wie es mir oft ums Herz ist. Einmal muß ich doch davon reden," sagte sie in Tränen. „Hätten die Kinder einen rechten Vater gehabt, so wären wir jetzt nicht so auseinandergerissen in der Welt." Wie zu ihrer Rechtfertigung erzählte sie die kurze Geschichte ihrer traurigen Ehe. Den Professor überkam dabei ein so menschliches Empfinden, daß er ihrer Erzählung willig standhielt und die durchgemachten Leiden in Ansehung einer so wackeren, tüchtigen und hübschen Persönlichkeit für etwas Unerhörtes hielt. Er hatte sich nie viel um der Menschheit Freuden und Bedrängnisse gekümmert. Seit das Schicksal ihn selbst aber aus seiner Ruhe aufgeschreckt, überkam ihn doch zuweilen eine fast naive Ahnung von den Fährlichkeiten des Lebens.

Sie sah sogar in Tränen so frisch und lebensvoll und für bessere Tage geschaffen aus, diese Frau Wehrli; das mußte er sich unwillkürlich sagen, als er unter seinen buschigen Brauen hervor sie mit einem grimmig aussehenden Mitleidsblick anschaute. Ihre Erscheinung, im Zusammenhang mit der kummervollen Geschichte ihres Ehestandes und der natürlich schönen Mütterlichkeit, die sie nun auch noch schmückte, war für ihn ein Schauspiel, das ihm nach der Spätherbstlichkeit seiner früheren Umgebung merkwürdig neu vorkam.

„Hm - - hm," machte er tröstend, „es können auch noch gute Zeiten kommen - Und was Ihre Kinder betrifft, so geht mich das gar nichts an — gar nichts — wenn sie kein Geschrei machen. Das andere ist Ihre Sache."

„Ich danke vielmals," sagte sie erleichtert, in ganz sanftem Ton und schritt nun mit dem Lichte vor ihm her, um seine Lampe anzuzünden, die Vorhänge zuzuziehen und vor den Stuhl, auf den er sich zu setzen pflegte, die Pantoffeln zu stellen. Das waren kleine Dienste und Aufmerksamkeiten, die nicht im Mietkontrakt standen, und die sie doch vom ersten Tage an wie etwas Selbstverständliches geübt hatte. Eine uneigennützige Person! Es war ihm immerhin über Erwarten wohl gegangen, daß er gerade diese gefunden. Das mußte er im stillen anerkennen und zugleich — so wenden sich die Dinge — einsehen, daß nichts auf Erden unersetzlich ist. — —

In der Nacht, die diesem Gespräch folgte, widerfuhr ihm, was sonst selten vorkam: er träumte, und zwar recht krauses Zeug. Er hörte Gepolter und Kindergeschrei. Aus allen Winkeln kroch kleines Volk gleich Mäusen aus ihren Schlupflöchern hervor, umhüpste, neckte, zwickte ihn lachend, daß er endlich mit einem großen Fliegenwedel dreinfuhr, doch ohne sie zu erwischen. Dann trat Frau Wehrli in großem Putz vor ihn und erklärte, daß ihr der Witwenstand zu langweilig sei, daß sie wieder heirate und nicht mehr für ihn sorgen könne. Da überfiel ihn wieder die ganze Qual der Heimatlosigkeit. Er suchte ohne Unterlaß Bücher und Schriften, packte ein und aus, in unbekannten, leeren Räumen, bis er schweißbedeckt erwachte und aufatmend sich sagen konnte, daß alles nicht wahr sei.

Obwohl er niemals auf Träume geachtet, noch weniger von solchen sich hatte beeinflussen lassen, verfolgten ihn doch diese, weil sie einen realen Hintergrund hatten. Diese Frau Wehrli verstand es immer mehr und immer besser, die Vergangenheit in seinem Gedächtnis auszulöschen und die behaglichste Gegenwart dafür zur Geltung zu bringen. Aber konnte das nicht heute, morgen, übermorgen ein Ende nehmen?! Solche Fragen wurden öfter in ihm laut, wenn er sie draußen mit ihrem Kind scherzen hörte, oder wenn sie in ihren sauberen Gewändern so frisch wie die Personifikation des Lebens vor ihm stand. Gab es für solche Wesen etwa Versicherungen gegen abermaligen Brandschaden des Herzens? Je besser sie sind, desto näher steht ihnen das Verhängnis, weil jeder dumme Kerl eine Großtat zu üben meint, wenn er sich der verlassenen Witwe annimmt, um sich die Schätze ihrer guten Eigenschaften dienstbar zu machen.

Solche Sorgen hielten ihn jedoch nicht ab, in dem neuen Boden immer fester Wurzel zu schlagen, so daß es nach Jahresfrist schon war, als hatten die ehrenwerten Hausgenossen von jeher nebeneinander gelebt. Frau Wehrst kannte „ihren Professor", wie sie mit kräftiger Bildlichkeit sich ausdrückte, in- und auswendig. Sie betreute und beherrschte ihn, wie dies vollkommener zu Emerentias Zeiten nie der Fall gewesen, nur mit dem Unterschied, daß die erste es mit etwas säuerlicher Tugend getan, während die zweite nur mit lachendem Munde. Zuweilen machte sie ihn auch zum Berater in ihren Witwenstandsangelegenheiten, wobei er dann solche Fälle benutzte, um über gewisse „Narreteie" des Frauenvolks (als ob er ein Kenner wäre!) seine Meinung kundzugeben, und zwar eine ganz gesalzene, gleichsam als Prise für die betreffende. Im ganzen floss aber die Zeit doch wie in einem beständigen Sonnenschein dahin. Und wie ein Falter in der wohligen Stille gaukelte das kleine Marieli immer näher und zutraulicher um den bärbeißigen Graukopf, vor dem sie sich schon längst nicht mehr fürchtete. Das kleine Ding hatte es bereits so weit gebracht, daß sie stundenlang bei ihm verweilen durfte, freilich hübsch manierlich, vor einem Buche, dessen Bilder sie ernsthaft betrachtete. Sie hatte eine eigentümliche Liebhaberei für Bücher, selbst für solche, in denen keine Bilder waren. Wie ein Kätzchen kauerte sie dann in einem Winkel am Boden und schlug eifrig um, ohne einen Buchstaben zu kennen, noch je ein Blatt zu zerreißen. „Baleidi" nannte sie das, und der Herr Professor fand diesen selbstgebildeten Ausdruck des Kindes so merkwürdig, daß er ihn in seiner gelehrten Samstagsgesellschaft erwähnte, woran sich ein Meinungsaustausch über das Wortbildungsvermögen der Kinder im allgemeinen entspann. Das Marieli wurde so in dem Gelehrtenkreis eine bekannte Persönlichkeit, nach deren neuesten Worterfindungen man sich gelegentlich bei ihrem alten Freund erkundigte.

Nach einer langen Reihe solch guter Tage sollte sich aber unversehens einmal der Himmel verfinstern, und zwar zunächst über des Professors Haupte.

Er saß in seinen großen Filzschuhen und im Flanellschlafrock, trotz des prächtigen Juniwetters, eines Morgens am Schreibtisch, als draußen — etwas ganz Außergewöhnliches — eine Mannsstimme im Gespräch mit Frau Wehrli laut wurde und nach der ersten Begrüssung sofort hinter der geschlossenen Wohnstubentür verklang.

Männerbesuch? — Der Professor zog die Brauen zusammen und — lauschte. Hm! Das wurde ja eine sehr lebhafte Unterhaltung! Sie lachte — und er, der Unbekannte, ein Brummbaß von einer Stimme, perorierte in einem fort. Sie mußten recht anregende Dinge zu verhandeln haben. Nun lachte auch er — und nun schallten gar beide Stimmen zusammen — und das Erzählen schien kein Ende nehmen zu wollen.

Der Teufel! Da wird doch nicht - - Es kam den Lauscher an, blindlings dazwischenzufahren. Doch an der Tür blieb er stehen. Was wollte er eigentlich da drüben — was hatte er zu wollen? — Die Stiefel! Die standen aber längst spiegelblank an ihrem Platze. Also frisches Wasser. Die Flasche war jedoch gefüllt und perlte noch von der Kühle ihres Inhalts. Ja, das ist es eben, diese Pünktlichkeit, diese Obsorge! Kein Wunder, wenn solche Eigenschaften noch anderen Leuten --

Hm! — Er ging mit Schritten im Zimmer hin und her, daß der Boden krachte. Halt! Plötzlich fällt ihm ein — Tinte kann er brauchen. Ein hartes Anklopfen.

„Herein!"

Da saß ein breiter Mensch auf dem Kanapee, so recht breitspurig, ganz als ob er hier daheim wäre, und glotzte ihn verwundert an. Frau Wehrli stand von ihrem Stuhl auf, der in der Nähe des Bewußten stand. Sie hatte rötere Wangen als sonst und ein recht vergnügtes Gesicht.

„Brauchen Sie etwas, Herr Professor?" fragte sie, die gegenseitige Anstaunung unterbrechend.

„Brauchen — ich? Ja — Tinte brauch' ich."

„Ich habe erst ein Fläschchen gekauft; nehmen Sie das einstweilen!"

„Ist's Galläpfeltinte?" fragte er finster. "Ich schreibe mit keiner anderen."

„Das weiß ich nicht," lachte sie fröhlich, ging aber gleich in die Küche, um es zu holen.

Da blieb ihm nichts übrig, als ihr nachzugehen, da der Klotz auf dem Sofa sich nicht rührte.

„So — sehen Sie, schön schwarz! Und bis Mittag sorge ich für die Galläpfeltinte."

Mit der freundlichsten Miene war er nun heimgeschickt.

Der Besuch blieb auffallend lange und verabschiedete sich ebenso geräuschvoll, wie er gekommen.

„Wer war denn dieser — dieser Riesenmensch, der heute bei Ihnen gewesen?" fragte der Professor mittags, als die Galläpfeltinte kam.

„Dieser Riesenmensch?" Frau Wehrli mußte lachen. — „Das ist mein Schwager."

„Soso! Den haben Sie nie erwähnt."

„Ja, was hätte ich von ihm berichten sollen? Ich wüßte nicht, was. Jetzt freilich schon: Denken Sie, er hat wieder einen Buben bekommen, und ich soll am nächsten Sonntag zur Taufe kommen."

Taufe?! — Der alte Herr schoß unter seinen Haarwäldern hervor einen mißtrauischen Blick. Sie bemerkte ihn nicht und fuhr unbefangen fort: „ Es ist der sechste! Ich täte mich fürchten vor soviel Buben, und ihm macht das gar nichts."

„Es gibt Leute, deren größtes Lebenswerk es ist, daß sie für gehöriges Menschenmaterial sorgen," erwiderte er geringschätzig.

„Das gilt aber bei diesem nicht," verteidigte Frau Wehrst eifrig. „Er ist ein rühriger, braver Mann. — Ja, wenn jede Frau so ankäme!"

„Ist das 'Ankommen' überhaupt so eine wichtige Sache? Aber natürlich denkt da das Weibervolk anders."

„Das kennen Sie ja gar nicht, Herr Professor," lachte Frau Wehrli überlegen, — „ also die halbe Welt nicht oder noch ein bißchen mehr. Es ist doch schad " —

„Wollen Sie mich etwa Weisheit lehren?"

„B'hüt mich Gott — einen so studierten Herrn, der soviel Bücher auswendig weiß. Das Weibervolk ist etwas anderes — so mein ich' s nur. Sie hätten sich vielleicht doch ein schönes Leben einrichten können, wenn" —

„Ach was — wenn! wenn!" — Sie lachte hell zu seinem Brummen und verschwand.

Einige Tage nach dem Schwagerbesuch war der Professor in keiner recht zugänglichen Laune. Frau Wehrli getraute sich deshalb nicht mit der Frage herauszurücken, ob sie ihm für den Sonntag entbehrlich sein würde. Und diese Taufe war für sie in ihrer stillen Witwenschaft doch ein seltenes Fest. Als es Freitag abend war und das Barometer noch keine besondere Steigerung zeigte, mußte sie nun doch die Sache vorbringen, mochte es gehen, wie es wollte. Aber siehe da, kaum gesagt, ward ihr der Urlaub gewährt. Es steckte in dem alten Jüngling anz verborgen eine ritterliche Ader, welche diese freiwillige Abhängigkeitserklärung belohnen wollte.

So stand Frau Wehrli dann am Sonntag in aller Gottesfrühe schon fix und fertig vor ihm, um bis zum Abend, wo sie wieder da sein wollte, Lebewohl zu sagen. Sie trug ihr bestes Kleid und ein Goldkettchen um den Hals, woran in einer Kapsel das Bildnis ihres unglückseligen Ehemanns hing — Überreste aus vergangenen, hoffnungsvolleren Zeiten, die sie, gegen ihre sonst bescheidene Kleidung, heute glänzend erscheinen ließen.

„Sie sehen ja aus," meinte der Professor, nicht unempfindlich für die heitere Festlichkeit, die in ihrer Erscheinung lag — „als ob es zu einer Hochzeit ginge."

„Mein Gott," antwortete sie, „man darf den wohlhabenden Verwandten keine Schande machen, sonst denken sie gleich, daß man ihnen einmal zur Last fallen könnte. Ich zeig' es nicht gern, wie — wie es eben ist."

„Und was soll' s mit dem Kind?" fragte er, auf Marieli deutend, das auch schon im Sonntagswichs steckte.

„Das tu ich zu Nachbarsleuten bis heut abend. Sag jetzt schön adieu, Marieli!"

Die Kleine schaute, im unklaren über die bevorstehende Trennung, an den zwei Großen empor und machte ein ängstliches Gesicht.

„Willst du bei mir bleiben?" fragte er.

Da ließ das kleine Persönchen gleich die Mutter los, an deren Hand es sich gehalten hatte, und umarmte die Knie seines Gönners.

Und so saßen die beiden denn, nachdem Frau Wehrli fort war, einträchtig in der sonnigen Stube, das Kind mit allerlei Proviant versorgt, vor einem Haufen von Spielzeug und von Büchern, in denen es vergnüglich blätterte, — der Greis in eine hochgelehrte Abhandlung vertieft, welche er heute vollenden wollte. Die Kleine verhielt sich nach einigen zutraulichen Plauderanläufen endlich so still, daß man die Fliegen am Fensterglas auf und ab summen hörte und die Vögel, welche drüben in dem großen Garten jenseits der Hofmauer sangen.

Die Mittagszeit war vorbei, als der Gelehrte sich endlich aufrichtete. Die Abhandlung war fertig geworden. Jetzt spürte er auf einmal eine große Leere des Magens. Wieviel Uhr war es denn? Halb drei! Er schmunzelte. Solch ungestörte Ruhe hat auch etwas für sich. Wäre die Hausfrau daheim, so hätte sie ihn längst wegen des Essens aufgescheucht. Die Kleine hatte er ganz vergessen.

Das Kind war in der tiefen Stille eingeschlafen. Mit rosigen Wänglein lag es inmitten seiner Spielsachen und Bücher. Er ließ es ruhig weiter schlafen, bis er seine Pantoffeln mit den Stiefeln, großen, altmodischen Röhrenstiefeln, an die er nun einmal gewöhnt war, und den Schlafrock mit einem Sonntagsanzug vertauscht hatte, der durch Frau Wehrlis Fürsorge schon am gewohnten Platze bereit lag. Dann bückte er sich nicht ohne Anstrengung zu dem Kinde nieder, um es zu wecken.

Ein eigenes Ding, so ein holdes, kleines Geschöpf im Schlaf zu betrachten und über seine Backen zu streichen, daß es aufwache! Er benahm sich beinahe scheu dabei, denn es überkam ihn bei dem Anblick plötzlich wie Bewunderung der Natur, die ein so liebliches Wesen schaffen kann. Die Kleine war das Ebenbild der Mutter. Alle die guten Eigenschaften, wie die äußerlichen Züge, zeigten sich schon wie sprossende Samenkörnlein an ihr — merkwürdig!—

Er streichelte ihre Wänglein, unendlich zart: „Marieli!"

Es schlug gleich die Augen auf.

„Bist du noch nicht hungrig? — Komm, komm!"

Das Kind genoß heute einen rechten Freudentag. Zuerst bekam es zu essen, was es wollte. Und dann gab es einen Spaziergang nach einem lustigen Wirtshaus, wo viel Leute im Freien unter Bäumen saßen. Marieli sah etwas zerknittert aus, und der Hut saß ihr wunderlich, als sie mit ihrem Freund zwischen den besetzten Tischen durchspazierte. Das genierte die beiden aber nicht, so wenig wie die verwunderten Mienen mancher Leute, die den Professor, eine bekannte Persönlichkeit, mit der Kleinen an der Hand, neugierig betrachteten.

„Oho, Herr Kollega — Familienvater geworden?" rief es ihm von einem Tisch entgegen, als er einen Platz zur Niederlassung suchte. Einige Herren aus seiner antiquarischen Gesellschaft saßen da beim Wein und machten gleich Platz für die beiden, wobei das Marieli als die interessante Dame „Baleidi " vorgestellt und mit allen Ehren empfangen wurde.

Bald lockte die Kleine aber eine Kinderschar, die sich in der sonnigen Wiese tummelte, und sie benutzte ihre heutige goldene Freiheit, um zu entschlüpfen. Erst als es Abend ward und die meisten Eltern mit ihren Kindern fortgingen, schmiegte sie sich wieder an ihren Beschützer und wußte bei der lebhaften Untehaltung, welche in dem Männerkreise herrschte, nichts Besseres zu tun, als zum zweitenmal an diesem denkwürdigen Tag einzuschlafen. Beim Aufbruch stand man dann freilich vor der Frage, wie das kleine schlaftrunkene Frauenzimmerchen heimzubringen sei, wobei es wieder allerlei Späße setzte über diese angeflogene Vaterschaft.

Das Marieli saß mit baumelnden Beinchen auf der hohen Holzbank, immer noch an ihren Beschützer geschmiegt, der sie nun in den sanftesten Tönen munter zu machen suchte. Endlich gelang es soweit, daß sie stolpernd an seiner Hand marschierte, während er in der anderen geduldig einen verwelkten Strauß und den Hut der Kleinen trug, der unterwegs schon einmal verloren und wiedergefunden war.

Beizeiten abends kehrte Frau Wehrli von ihrer Tauffahrt zurück, noch gerade so aufgeräumt in ihrem bescheidenen Putz, wie sie des Morgens fortgegangen, nur nicht so fröhlichen Angesichts. Leise ging sie in ihre Stube, in der Voraussicht, daß ihr kluges Töchterchen selbst die gewohnte Schlafstätte aufgesucht haben würde. Sie fand sie aber zu ihrer Überraschung leer. Da klopfte sie beim Herrn Professor an und fand ihn bei Buch und Lampe wie einen guten Wächter in der Nähe ihres Kindes sitzend, das auf dem Sofa gebettet war.

„Nein auch, Herr Professor," sagte sie gerührt, — „daß Ihnen das Kind jetzt noch den Platz wegnimmt! Hätten Sie es doch in sein Bettlein geschickt."

„Warum? Hier schläft es ja auch gut."

„Ist' s brav gewesen?"

„Brav und manierlich."

„Komm, Marieli!" sagte sie, die Kleine zärtlich weckend. „Du bist ja da nicht daheim. Komm, komm — und sag' dem Herrn Professor artig gute Nacht und danke!"

Das Kind schlug verschlafen die Augen auf, schlang die Ärmchen um den Hals der Mutter und machte Miene, gleich weiter zu schlafen. Da nahm sie es auf und legte das Köpfchen an ihre Wange. „Vergelt 's Gott für heut, Herr Professor! Morgen will ich dann schon sagen, was sich gehört."

Er schaute freundlich von seinen Büchern auf und sah ihr nach, wie sie mit dem Kinde davonging, wie die blühende Wange der Kleinen an die der Mutter sich schmiegte. Und es war ihm, als sei ein heller Lichtschein mit ihnen dahingeglitten, etwas ganz sonderbar Hübsches, Ungekanntes.

Am anderen Morgen erschien sie mit einem respektablen Stück Gugelhupf, appetitlich zurechtgemacht. Sie hatte es vom Taufschmaus für ihn mitgebracht und wollte nun eine große Danksagung für ihre Marieli beginnen. Er schnitt ihr aber das Wort ab und sagte, sie müsse die Näscherei für sich behalten, er mache sich nichts aus dergleichen Sachen. Ihr feierliches Gesicht und zerstreutes Wesen fielen ihm auf. Der alte Verdacht und eine beunruhigende Neugier kamen über ihn. Er konnte sich der Frage nicht enthalten: „ Nun — ist die liebe Verwandtschaft wohlauf, und war es unterhaltend gestern?"

„Die liebe Verwandtschaft," lächelte Frau Wehrli schwach, — „ja, der geht es freilich gut, und lustig sind sie auch gewesen" —

Warum brach sie ab? Etwas wie ein Seufzer ließ sich vernehmen. Dies veranlaßte ihn, nach ihr hinzusehen. Sie wandte sich ab und fuhr über die Augen.

„So eine Witfrau ist halt eine traurige Sach'!" — Das klang ja wie die Vorrede zu einem Geständnis.

„Wieso?" fragte er trocken.

„Ach — ein jeder schulmeistert an ihr herum. Da ist das eine zu viel und das andere zu wenig. Ein fröhliches Gesicht kommt den Leuten an ihr schon verdächtig vor. Wer halt mehr Glück hat, meint auch mehr Vorrechte auf der Welt zu haben" —

„Ich weiß nicht, wo Sie hinauswollen, " warf er ein.

Jetzt schneuzte sie energisch, um sich zu bemeistern — aber ihre frischen roten Lippen zuckten schmerzlich. — „Sie wunderten sich gestern, die Verwandten, daß ich das schwarzseidene Kleid und das bißchen Schmuck noch habe, weil nach dem Tode meines Mannes fast alles draufgegangen ist, - als ob der Mensch nicht gern ein kleines Andenken an frühere Zeiten behielte — wenn sie auch nicht die besten waren! Sie haben damals etwas Geld vorgestreckt, daß ich weiter leben konnte — und mit dem Zurückgeben geht es halt nicht so schnell. Da haben sie jetzt miteinander ausgemacht, ich solle alles verkaufen, mein Marieli wieder forttun und eine Stelle antreten, die sie für mich schon in Bereitschaft halten."

Der Professor liess mehrmals nacheinander sein Hm! Hm! hören. — „Wer kann denn so etwas fü einen anderen beschließen. Das sind Dummheiten!"

„Der Schwager ist der Vormund der Kinder. Er will eben, daß ich es tun soll. Wegen ein paar Franken mehr soll ich mein Heim und mein Kind — und Sie aufgeben!" — Daß die lieben Verwandten gesagt: Dein alter Professor kann sterben, dann sitzest du wieder da — verschwieg sie.

Er stand auf und marschierte in großen Schritten hin und her. Einerseits war ihm ein Stein vom Herzen, daß sein Verdacht auf irgend eine Liebelei oder Heiratsgeschichte, der nachgerade zur fixen Idee zu werden drohte, sich nicht bestätigte; andererseits war seine Teilnahme in einer ihm selbst rätselhaften Tiefe aufgewühlt durch das Schauspiel eines so tapferen und scheinbar fruchtlosen Kampfes gegen die Not des Daseins. Sie stand ihm vor Augen, diese wackere Frau, wie sie in der Frühe des gestrigen Sonntags schmuck und fröhlich fortgegangen, als die Ärmste ihrer Sippe, und dennoch neidlos, mit dem schönen Stolz, ihre Armut nicht wie einen Vorwurf unter die Glücklicheren zu tragen. Sie stand ihm überhaupt in der Glorie ihrer ganzen Tüchtigkeit vor Augen. Was sollte nun mit diesen zwei Wesen, Mutter und Kind, geschehen, an die er sich schon wieder mehr denn ein alltäglicher Hausgenosse gewöhnt hatte? Was aus ihm, wenn es so kam, wie sie eben gesagt hatte?

Das Blut stieg ihm ganz rebellisch zu Kopfe. Die seltsamsten Pläne tauchten auf. Bei keinem dachte er an sich allein; es waren immer drei, die da eine Rolle spielten.

Sein schwindelnder Kopf trieb ihn ins Freie. Die Hände auf den Rücken gelegt, den Rock offen, mit fliegenden Schößen, ging er gesenkten Hauptes durch die Gassen, dann draußen auf stillen Wegen, zwischen hohem Gras und Korn — und sann und überlegte. Seine ganze Existenz schien zum zweitenmal aus den Fugen zu gehen.

Am Nachmittag klopfte er an die Tür seines ältesten Freundes, eines Mannes in wohlgeregelten häuslichen Verhältnissen, der trotz seiner meist übellaunigen Ehefrau die Freude am Dasein noch keineswegs verloren hatte. Von diesem Lebenskünstler erhoffte er Rat in der Lösung seiner Zukunftsfrage.

„Heirate sie, das ist der geradeste Weg," antwortete ihm der Schalk. „Sie ist ja auch gar nicht übel."

Der Professor prallte zurück über diese — dieses — diesen - was war es gleich? - über diesen Hohn. Sah er aus wie einer, der mir nichts, dir nichts um junge Weiber freit? Sollte er in seinen alten Tagen noch zum Hansnarren vor aller Welt werden?! Er war außer sich, daß — der Freund aussprach, was heute morgen wie ein huschendes Irrlicht durch das Chaos seiner eigenen Gedanken gefackelt war.

„Es ist das Bequemste, sag ich dir. Schau," sagte er, behaglich in seinem Lehnstuhl sich streckend, „wir brauchen die Weiber, zunächst zur Lebensfreude und dann zur Lebensordnung, z. B. in unseren Jahren. Und da ist ein festes Band das solideste. Einmal — zum allerwenigsten — kommt die Stunde, wo das Schicksal einem auf die Schulter klopft. Du Freund, da heißt' s aufpassen, sonst straft leicht die gleiche Hand, die einmal freundlich gemahnt hat. Ich weiß nicht, was besser oder schlimmer ist, wenn dieses Klöpflen zu früh oder zu spät kommt. Wir sind zwei Exempel dafür."

„Wir?"

„Jawohl! Ich zu früh, zu hitzig — du zu spät!"

Zu spät! Das böse Wort summte und brummte nun wirklich dem aufgeregten Mann fort und fort in den Ohren. Er suchte es zu übertäuben. „Was du meinst, ist barer Unsinn," rief er entrüstet.

,Merci!"

„Was merci?"

„Für deine Grobheit."

„Ach was — du hast gut reden!" Erbost setzte er den Hut auf und ging. Ein heiteres Lachen tönte ihm nach.

Und dieses Lachen verfolgte ihn, gerade so wie die tollen Gedanken, die damit zusammenhingen, bei denen auch noch unausgesetzt das Bild dieser Frau Wehrli ihn umgaukelte, die doch weder ihm, noch er ihr Anlaß zu der ganzen heillosen Verwirrung gegeben.

„Du — Heinrich Keller," knirschte er, „sollte ein Leben lang der Narr, der größte Esel, den es gibt, in dir sich verborgen gehalten haben, um setzt zum Vorschein zu kommen?"

Aber da flüsterte wieder eine Stimme, fast schmeichelnd: „Wäre es denn wirklich so eine Narrheit?"

Wie ein mit Dämonen Ringender blickte er um sich, als wollte er etwas packen, würgen, niederringen. In plötzlicher Eingebung ging er vor den Spiegel, was er sein Lebtag überhaupt nur im unvermeidlichsten Falle getan.

Er mußte es sehr lange nicht gesehen haben, was ihm da entgegenschaute, denn er starrte es an wie etwas völlig Fremdes. Auf einmal ging ein Schein von Befriedigung über sein Gesicht: „Du bist der rechte Freund," nickte er, — „andere brauch ich nicht! Nein, Heinrich Keller, — die Vernunft ist dir noch nicht abhanden gekommen!" -

Nach einer ruhelosen Nacht war er in aller Frühe schon wieder auf den Füßen und hatte zu Frau Wehrlis Staunen vor dem Frühstück, was nie der Fall gewesen, die großen Rohrstiefel an, die vorn immer ein bißchen aufgebogen waren. Sie deutete die Stiefel in ihrer Weise: O Herrgott, jetzt geht er vielleicht schon auf eine andere Wohnung aus! Er schenkte ihr kein Wort, keinen Blick. Sie wollte das gestrige Gespräch wieder anknüpfen, wollte ihm sagen, daß er ihr ja der liebste Zimmerherr sei, den sie sich wünschen könnte, und daß, wenn auch er gerne bei ihr bliebe, sie den Beschluß der Verwandten umzustoßen den Mut haben würde, die doch nur um ihr liebes Geld besorgt waren. Sie hatte es nicht über sich gebracht, ihm das zu sagen, weil es eine gar heikle Sache war. Aber jetzt mußte es geschehen. Es war nicht mehr aufzuschieben.

Doch als sie deshalb gerade bei ihm anklopfen wollte, kam er ihr schon mit dem Hut entgegen, um auszugehen, schnurstracks und mit unerbittlicher Miene.

Er schlug wieder den Weg ins Freie ein. In der frischen Morgenluft wollte er die Gespenster seiner gestrigen Überlegungen endgültig los werden. Seine Gemütsverfassung war eine verzweifelt entschlossene: so oder so, bis zum Abend mußte die Entscheidung gefallen sein.

Es war gerade die Zeit der Heuernte und dazu das goldenste Sommerwetter. Die Sensen rauschten durch das tauige Gras, und ein erfrischender Wohlgeruch entströmte den Schwaden. In der Luft, über der Landschaft lag es wie lauter Lebensfreude.

Der Professor, der für solchen Zauber sonst nicht unempfindlich war, wollte heute nichts davon wissen. Gesenkten Kopfes, die Hände auf dem Rücken, marschierte er den längst gewohnten Weg dahin, der ihm seit Jahren zum Gewohnheitsspaziergang geworden, als er noch, an der oberen Kirchgaß wohnend, den Bestand der Dinge für seine Person als etwas Selbstverständliches genommen hatte.

O tempora! -

Ein schöner Weg war es, durch Hottingen hinaus, auf freier Straße zum Stöckentobel, immer die Alpenkette und jenseitigen Seeufer vor Augen, — Rebgelände, Wiesen, Obstbaumsegen ringsum. Und herrliche Stille. Wenig Spaziergänger begegneten dem finsterblickenden Läufer. Hie und da Kindergruppen auf dem Schulweg, Landleute, Milchmänner, die aus stillen Dörfern von den Höhen kamen, — fast lauter solche, die den Gewohnheitswanderer auf diesem Wege schon seit Jahren kannten. Manche grüßten ihn, ohne seinen Namen zu wissen, bloß weil er ihnen eine bekannte Erscheinung war. Heute aber, in seinem grimmigen Nachdenken, sah er niemand. Den Blick in den Erdboden gebohrt, stiefelte er längs des Wegrandes hin, mit so düsterem Gesicht, daß keiner ihn störte. Rechts und links in den Wiesen tönten Lachen, Zurufe, lustige Gespräche auf. Das Dengeln der Sensen, das Rauschen des Schnittes durch die saftigen Halme klangen wie eine feine natürliche Musik dazu. Der Professor hörte das auf einmal, wie eine Art Weckruf. Er blieb stehen, reckte sich auf und sah mit gerunzelter Stirn nach der Richtung, woher die Laute kamen. War das die helle Morgenarbeit, oder hatten die da drüben denn gar keine Sorgen? Das hantierte mit schweißglänzenden Gesichtern und schwieligen Händen fröhlich und gelassen zugleich, mit Sensen, Rechen und Heugabeln, in gleichmäßigem Rhythmus. Eins wie das andere. Jung und alt half zusammen. Hier schwang ein Greis neben einem halbwüchsigen Burschen mit sehnigem Arm die Sense. Hinter ihnen zettelte eine alte Frau das geschlagene Gras. Jenseits der Straße werkte jüngeres Volk, Männer, Frauen, Mädchen, und ein paar Kinder tummelten sich mit einem Hunde herum.

„Hm! — Was der Alte noch eine Kraft hat!" murrte es fast eifersüchtig in dem Gelehrten, als er dem Greise zusah.

„Wie alt seid Ihr?" rief er hinüber.

Der Bauer richtete sich auf, nahm gelassen die kurze Pfeife, die nicht mehr brannte, aus dem Mund und wischte mit der umgekehrten Hand über die Bartstoppeln. „ Siebenundsiebzig. — Und Ihr?"

„Hm — wieviel meint Ihr?"

„Noch öppis mehr, ha?"

„Etwa zehn weniger."

„So? Das sieht man Euch aber nicht an. Ich hätte Euch für einen behäben Großvater gehalten."

„Das bin ich überhaupt nicht."

Der Alte stützte seine Sense auf und strich mit einem Grasbüschel darüber, während er den Mann auf der Straße betrachtete. „Keine Enkel? Aber Kinder?"

„Nichts — niemand."

„Und ist Euch nicht langweilig geworden?"

Der Professor hielt mit merkwürdiger Geduld dem Verhör stand. Es war fast, als täte es ihm wohl, aus seiner Not eine kleine Ablenkung zu finden.

„Man hat ja noch andere Sachen auf der Welt, " brummte er.

„Ja schon," nickte der Alte. „ Aber wenn man auf die Jahre kommt — was ist' s? So ein alter Mensch läuft dann wie im Ringel um und weiß nicht, für was er sich geplagt hat. — Den Buben da" — er wies mit dem Daumen nach rückwärts —"'s ist ein Gottenkind, den hab' ich mir hergenommen, weil mir die eigenen gestorben sind. Den einen hat ein Roß beim Militärdienst mit einem jähen Hufschlag erschlagen — es werden jetzt bald achtzehn Jahre — und der andere ist am Typhus elend im Spital zugrunde gegangen, ein Kerli wie ein Baum. Hat grad' heiraten wollen. Andere hab' ich nicht gehabt. Da hab' ich mir eine Zeit nachher den Buben da geholt. Sind auch schon wieder elf Jahre. So weiß man doch, für was man noch zu werken hat."

Der Professor hörte dem Mann ernsthaft zu. Was hatten ihn früher solche Geschichten gekümmert? Jetzt auf einmal war das Interesse für menschliche Zustände wie geweckt. Nachdenklich stand er am Wegrand und schaute dem Greise zu, der nun die Sense wetzte und wieder zur Hand nahm, um mit kräftigem Schwung, wie der Jüngling drüben, weiter zu mähen.

Das geizt und plagt sich für fremde Generationen, nicht einmal für das eigene Fleisch und Blut, philosophierte es in dem nun auch schweigenden Zuschauer. Und das geht so fort, ohne viel Aufhebens über Tun noch Schicksale, solange sie die Hände rühren können — hm! eine ungezählte Summe von Pflichterfüllung gegen die Nachlebenden! - Und mit einer Klarheit, die nichts zu wünschen übrig ließ, spürte er urplötzlich den Abstand zwischen dem greisen Mäher in der Wiese und sich selbst, den doch nur die Sorge um das liebe Ich wieder aus dem Gleichgewicht brachte.

In einer Anwandlung von Scham und Neid zugleich rief er dem Alten einen Gruß zu: „Nüd z' flißig!"

„Pa, warum au nüd!" antwortete der andere und hielt einen Augenblick im Mähen inne, um ihm lächelnd, fast mitleidig nachzuschauen.

Wie aber die Erkenntnis immer ein Heil in sich birgt, so geschah es, daß im weiteren Verlauf dieses Sorgenganges dem Professor eine Idee kam, plötzlich, wie eine Erleuchtung, wie salomonische Weisheit, kurz und bündig, etwas, von dem er kaum begreifen konnte, daß es ihm nicht schon früher eingefallen war.

Er blieb mitten auf der einsamen, sonnenbeschienenen Straße stehen, während er die hängende Unterlippe wie in einem Verhalten des Atems einzog — und starrte eine lange Weile den Erdboden an. Endlich machte er energisch kehrt und schlug spornstreichs den Weg nach Hause ein.

Frau Wehrli stand in ihrer blanken kleinen Küche, das Marieli bei sich, das im Sonnenschein am Fenster auf einem hohen Stuhle saß und die Beinchen in der Luft baumeln ließ, während es sich mit dem Erlernen der ersten Strickmaschen plagte. Sie sahen beide empor, als die Küchentür unerwartet aufging und der Professor erhitzt hereinschaute.

„Frau Wehrli, ich habe mit Ihnen zu reden," sagte er kurz, worauf er gleich in seiner Studierstube verschwand.

Jetzt wird' s wohl aus sein, dachte sie mit Herzklopfen, indem sie zwei-, dreimal die Schürze glatt strich, nur um sich ein wenig vor dem herannahenden Unheil zu erholen.

Ein zaghaftes Klöpfeln. „Herein!" — Oh, dieses finstere Gesicht! -

Sie blieb bei der Tür stehen, während er auf und ab ging.

„Setzen Sie sich! Dieses Bei-der-Tür-Stehen kann ich nicht leiden. Haben Sie Zeit? — Also — dann können Sie sitzen bei dem, was ich mit Ihnen zu reden habe."

„Oh — bitte " — sagte sie kaum halblaut und erwartete, auf die äußerste Ecke des nächsten Stuhles sich niederlassend, was da kommen würde.

„Haben Sie — hm — haben Sie — noch Heiratsgedanken?" fuhr er sie in einem Ton an, als stünde er vor einer Schar wilder Buben. Er fühlte sich in dieser Barschheit sicherer.

„Ich? — O Herr Professor! Was denken Sie — eine arme Witfrau mit Kindern" —

„Keine Gefühle! — Haben Sie noch solche — Wünsche oder Gedanken — ehrlich: ja oder nein?"

(Hätte sie jetzt geahnt, welchen Kampf er gestern in der gleichen Frage ausgefochten!)

„Aber bitte, wie kommen Sie nur auf solche Sachen!"

„Sachen — Sachen! — Ist so was eine Sache? Nein! Ihr habt doch vom Sprachgeist keinen blassen Schein " -

Nein, den hatte sie in diesem Moment wirklich nicht. Sie sah ihn nur hilflos an und muckste nicht.

Nach einer schwülen Pause blieb er vor ihr stehen. „Es — hm! — es handelt sich — um eine — eine Lebensfrage — für Sie und für mich, wo keine ausflüchtenden Redensarten am Platze sind " —

Jesses! durchfährt es Frau Wehrli, — will er am Ende — mit einem Antrag herausrücken? Und flugs kehrt ihr bei diesem Gedanken der Mut zurück.

„Ich mache ja keine Ausflüchte, " sagte sie mit einem Lächeln, das immer ein Grübchen in ihrer rechten Wange hervorbrachte, ein Zwitterausdruck von Befangenheit und Erwartung, der ihr sehr gut stand.

Er wich diesem immerhin verwirrenden Schauspiel mit dem Blick aus und räusperte mehrmals.

„Gut denn, so will ich — Ihnen einen Vorschlag machen -: Sie brauchen sich nicht von Ihrem Marieli zu trennen und Ihre Selbständigkeit den Herren Verwandten gegenüber nicht aufzugeben, sofern ich — und Sie" —

„Ach, wie gütig sind Sie!" rief sie, halb in dem Gefühl, etwas aufzuhalten, was ihr, trotz allem, spaßhaft vorkam.

Es wetterleuchtete stark in seinem Gesicht. — „Ob doch ein Frauenzimmer einen anderen ruhig kann ausreden lassen!"

Wieder das Lächeln mit dem Grübchen.

„Ich will schon still sein."

— — „Hm!" — — Ein Gang hin und her.

„Hm! — Ich vermute, daß Sie — doch des Kindes wegen das Opfer brächten?"

Frau Wehrlis Wangen wurden immer schöner rot. Unsicher blickte sie zu ihm auf, als wüßte sie nicht, wie sie das letztere zu verstehen habe, — dann schlug sie ganz merkwürdig mädchenhaft die Augen nieder und antwortete zögernd: „Freilich — was tut man nicht für seine Kinder. — Aber eine arme ungebildete Frau wie ich — was bin ich — neben Ihnen " -

„Wovon reden Sie denn?" fragte er mit weitaufgerissenen Augen, während ihm auf einmal war, als schaukle der Fußboden unter ihm.

Beide sahen sich an, verlegen — ahnungsvoll, als wüßte jedes, was in den Gedanken des anderen vorgegangen — und eine Stille entstand, in welcher, wie man sagt, ein Engel durchs Zimmer fliegt.

„Warum sind denn die Fenster geschlossen? Es ist unerträglich heiß hier. — — Öffnen Sie doch ein Fenster!" sagte er, über die Stirn fahrend.

„Bitte, ist Ihnen unwohl?" fragte Frau Wehrli erschrocken.

„Es muß — die Hitze sein, " antwortete er in verändertem Tone, zog sein geblümtes Schnupftuch und trocknete den Schweiß von der Stirn.

Sie rückte ihm flugs einen Stuhl zum Fenster. Er fühlte ihren Blick angstvoll auf sich gerichtet — dann, wie im Flug bereitet, einen kalten Umschlag auf der Stirn und zwei Samariterhände, die sorgsam sein graues Haupt berührten.

„Danke" — sagte er schwach, — „gehen Sie — gehen Sie jetzt nur — ich rufe schon, wenn" -

Sein sprödes Junggesellenherz war solchen Verwicklungen nicht gewachsen. Dieser Moment ahnungsvoller Stille hatte ihn aus der Fassung gebracht.

„Es ist schon besser," sagte er beim zweiten Umschlag. „Ich danke Ihnen für Ihre Mühe."

„Sie arbeiten halt zu viel, Herr Professor," schalt sie zutraulich. „Wenn man in Ihren Jahren ist, muß man sich schonen."

Er lächelte eigen zu diesem Rat. „Ja, ja, schon recht," nickte er, „ganz recht! — Wir sind mit unserer Unterredung noch nicht zu Ende. Das muß jetzt in Ordnung sein. Und so sage ich in kurzen Worten: Wenn es Ihnen recht ist, so will ich Ihr Hausgenosse bleiben bis — nun, solange es eben mit mir geht. Und als Erkenntlichkeit für alle Obsorge, gegenwärtige und zukünftige, habe ich beschlossen, daß Ihr Marieli dereinst ein Sümmlein von mir bekomme, das ich für meine alten Tage, respektive denjenigen zurechtgelegt habe, der sie mir erträglich machen wird. Dagegen werden Ihre Verwandten ja wohl nichts einzuwenden haben?"

Frau Wehrst blickte ihn groß und sprachlos an. Und auf einmal schössen ihr helle Tränen in die Augen.

„Meinem Marieli wollen Sie so ein Glück zuwenden. Mein Gott! Aber Sie werden doch noch nicht ans Sterben denken?"

„Warum nicht?" antwortete er wie ein ganz hartgesottener Philosoph.

Frau Wehrli eilte zur Tür, um ihr Marieli zu rufen.

„Denk, du darfst bei mir bleiben, " rief sie jubelnd das Kind an, — „wir bleiben alle beieinander. Dank nur recht dem lieben Herrn Professor dafür!"

Dieses „wir alle" rieselte dem alten Junggesellen merkwürdig warm durch Leib und Seele. Wann hatte es bei ihm einmal geheißen: wir alle! — Er schüttelte die kleine „Baleidi" nicht ab, als sie an ihm hinaufsprang und ihn kurzerhand umhalste, denn in dieser lieben Umarmung lag für ihn der erste wirkliche Strahl von Menschenglück und die Ahnung einer für ihn ganz neuen, geheimnisvollen Tiefe des Lebens.

Am anderen Morgen schon ging es zum Notar, um das lakonisch gehaltene Testament mit dem bedeutungsvollen Anhang, das Marieli betreffend, beglaubigen zu lassen. Frau Wehrli mußte Einsicht von demselben nehmen, unter der Bedingung, dem Kinde nie davon zu sprechen. Sie war ganz benommen von dem „großen Glück". Dieses schnelle Ordnen und die plötzliche Sanftmut gestern, mitten in der abgebrochenen Unterredung, als dem Herrn Professor schwindlig wurde, kamen ihr aber fast unheimlich vor. Solche Veränderungen, heißt es, gehen bei solchen vor, die nicht mehr lange leben. Und dann... schämte sie sich, seinem Edelmut gegenüber, „in den Erdboden hinein", ihm auch nur mit einem ganz verborgenen Gedanken „die Dummheit" zugetraut zu haben, daß er in seinen Jahren noch um sie freien könnte... so eine Dummheit von einem so gescheiten Herrn!

Er lebte aber noch manches Jahr, der Herr Professor Keller. Je schneeweißer das Haargestrüpp auf seinem Haupt wurde, desto rosiger blühte die kleine „Baleidi " heran. Ihre Schulgelehrtheit wurde ihm nach und nach so wichtig wie seine eigene Wissenschaft. Das Marieli huschte in sein Arbeitszimmer, wenn es ihr einfiel, und wußte, daß, wenn sie ihm auch ungelegen kam, er selten schalt, sondern mehr pro forma ein wenig brummte; denn das halbwüchsige, frisch knospende Frauenzimmerchen — es war kaum zu glauben — hatte schon längst die dritte und tiefstgehende Frauenregentschaft im Leben dieses Junggesellen angetreten und machte Miene, sie nicht mehr aus der Hand zu geben. Er war ihr Orakel in allen Fragen ihres blutjungen Lebens, zuweilen sogar der Schiedsrichter zwischen Mutter und Kind, da Frau Wehrli bemerken mußte, daß der Einfluß eines so gelehrten Umganges an dem Verstand ihrer Tochter in einer sie oft befremdenden Art sich offenbarte.

Aber viel mehr, als der Greis dem Kinde, war und gab das Kind ihm — freilich Dinge, die nicht in positiven Sätzen und Schätzen liegen, von deren Reiz er früher auch rein nichts gewußt, z. B. von so einem klaren, fragenden, tiefen Kinderblick, der seiner Meinung nach eine ganze Schöpfungsgeschichte erzählte, oder einem hellen Lachen, das wie Vogelsang des Frühlings durch seine Altersstube klang. Es ging ihm für dergleichen noch ein Sinn auf, so empfänglich, wie das Herz eines Jünglings in der ersten Liebe ist, nur nichts für sich begehrend wie diese, sondern selbstlos und bescheiden, alles hinnehmend wie einen holden Segen, wie Sonnenschein, der durchs Fenster kommt.

Zuweilen, nicht oft, fiel ihm wohl ein, was das selige Fräulein Emerentia Michel, die ihn einen Egoisten genannt, zu dieser Wandlung sagen würde. Wer weiß! Vielleicht lächelte sie im Jenseits drüben mit einer Art himmlisch abgedämpfter Genugtuung, daß er, der einst ihr Herz verschmäht, nun doch noch das Kapitel „Liebe" kennen lernen mußte, und jetzt an so einem Falterseelchen, das, seinen Spätherbst umgaukelnd, jeden Augenblick fortflattern kann in sein eigenes Lenzrevier. Aber so sind die Menschen, hörte er sie, noch gerade so wie ehedem, predigen, das Nahe genügt ihnen nicht; sie suchen ihre Rosen im Weiten! Und siehe da, wenn der Rücken steif geworden, bücken sie sich nach ihnen!

Der Professor lächelte jetzt, wenn ihm dergleichen einfiel. Keine Spur von Gewissensbissen quälte ihn mehr, im Gegenteil. In aller Ruhe genoß er diese späte Rosenzeit, von deren wohliger Empfindung er freilich, ganz nach seiner Art, kein Wort laut werden ließ — so wenig, wie von dem anderen Geheimnis: jener Versuchung, die immerhin einmal an ihn herangetreten. — Das schüttelte er, wenn die Erinnerung daran doch einmal auftauchte, mit dem einen Kraftwort „Narrheit" ab.

Überwachsene Pfade

Seit vielen Jahren war ich nicht mehr an der Stätte meiner frühesten Kindheit und ersten Schuljahre, in St. Gallen, gewesen. Geträumt hatte ich oft genug davon und mich zuweilen hingewünscht, wie in ein Paradies, wo für mich noch immer lauter Sonnenschein und Freude sein müßte. Aber es kam nicht zu diesem Wiedersehen, obgleich ich sonst nicht gerade zu den Heimhockern gehöre. Ich glaube, es war eine heimliche Scheu, die mich gerade bei dieser Sehnsucht abhielt, mir nach der Reihe von Jahren eine Enttäuschung zu holen. Denn das stand alles noch so mit Kinderaugen gesehen und in der Erinnerung bewahrt vor mir, daß ich es lieber in diesem Bild wie einen stillen Schatz festhielt, als es durch neue Eindrücke verwischen zu lassen. Alle die Wald - und Wiesenpfade, die wir mit den Eltern, mit Lehrern auf Schulausflügen gegangen, — herrliche Schlittwege, auf denen ich mit meiner „Gaiß" hinabgesaust, — lauschige, alte Häuserwinkel, die meine Phantasie angezogen, — Abendspielplätze, wo wir uns bis in die Dämmerung vergnügt hatten — und alle die Gestalten damals, sie waren mir bis ins kleinste gegenwärtig und zogen, wie oft, Wandelbildern gleich durch meine Gedanken. Dann war es Sonntag in mir. Es fing an zu klingen und zu leuchten — und ich war weitab von dem bunten, nüchternen Allerlei der Gegenwart.

Das ist ja das Schöne, Versöhnende in dem rasch dahinfließenden Leben, daß, indem es Licht um Lichtchen unserer Illusionen löscht, dafür die Rückschau auf so manches in der Vergangenheit wunderbar verklärt und zu einer förmlichen Zuflucht der Seele macht.

Ein Sommertag brachte mir nun doch das langerträumte und zugleich gemiedene Wiedersehen.

Mein Bruder und ich, wir trafen, von verschiedenen Richtungen kommend, an einem göttlich blauen Sommertag am Bodensee zusammen, in Rorschach, das auch einmal eine große Rolle in unseren Wandergenüssen gespielt hatte. Diese weite Seefläche war für uns eine verheißungsvolle Welt gewesen. Da drüben fern lag Deutschland. Was man sich dabei alles dachte! Einmal da hinüber, — da war gewiß alles anders, voll der interessantesten Dinge. Schon die stattlichen, ernsthaften Soldaten, von denen man mitunter ein Exemplar diesseits der Grenze bewundern konnte, gaben einen Begriff davon. Wir waren damals eben noch nicht sehr verwöhnt durch große Reisen, wie es jetzt mit Kindern an der Tagesordnung ist. Eine Fahrt oder gar eine Fußpartie an den Bodensee see war für uns ein glänzendes Ereignis.

Der bayrische Dampfer kam schneeweiß im Sonnenglanz auf der blauen Flut daher, eine prachtvolle Linie bei der Einfahrt in den Hafen beschreibend. Mir klopfte das Herz vor Freude bei dem lange nicht genossenen Anblick. Das Schiff war übervoll von Reisenden. Mitten aus dem Gedränge ein Hutschwenken, ein frohes Grüßen. Und bald hatten wir uns gefunden, um nun also selbander, wie es verabredet worden war, ein paar liebe, sentimentale Gänge auf den Pfaden der Kindheit zu tun.

Womit wurde der Anfang gemacht? Man lache mich nicht aus, denn es gehörte auch zu der Erinnerungsfeier: Der Anfang wurde mit St. Gatter Bratwürsten gemacht, den besten, die es in der Welt gibt. Wir waren hungrig, und es wäre uns wie eine Blasphemie vorgekommen, diesen Hunger mit irgend einem Allerweltsgericht zu stillen, statt mit diesen bräunlichen, duftenden, nationalehrwürdigen Leckerbissen. Bei diesem köstlich mundenden Schmaus auf der Rorschacher Bahnhofterrasse fing es an, das „weißt du noch?" Und dabei gaukelten alle Bratwurstkränze von ehedem, die stets einen großen Tag verherrlichen geholfen hatten, aus dem Ferneduft der Vergangenheit herauf und verschlangen sich zu einem förmlichen Freudenbogen, durch den wir einzogen in die Gefilde unseres Lebensmorgens.

Es war an einem Samstag, als wir nach St. Gallen kamen, Markttag, sehr belebt. Überdies waren fast alle Häuser beflaggt. Was war da los? Das eidgenössische Schützenfest hatte man gehabt.

Wir wanderten durch die buntgeschmückten Straßen. Überall noch Girlanden, Inschriften, wehende Fahnen, frisch heruntergeputzte Häuser. Viel, viel Neues, Fremdes.

Wir suchten nach dem St. Gallen von einst. Wir wurden still und stiller. Kein bekanntes Gesicht, selten mehr bekannte Straßen, Plätze, wie wir sie in der Erinnerung hatten — alles verändert. Unwillkürlich bogen wir ab von den Hauptstraßen, wo es uns gar nicht recht gefallen wollte.

Siehe, da grüßte bald etwas mit den alten Heimataugen. Dort, im kühlen Schatten hinter der St. Laurenzenkirche war' s, wo es immer — und heute noch — nach Spezereien roch aus dem uralten Laden von „Schlatter hinterm Turm". Ich blieb stehen und sog den süßlichen Duft ein. Alle Näschereien von damals, Gerstenzucker, Johannisbrot, usw. und das freundliche Angesicht mit dem schwarzseidenen Käppchen des Herrn Schlatter, der uns diese Herrlichkeiten für fünf, höchstens zehn Centimes verkaufte, fielen mir ein, — dort begann es mir heimelig zu werden. Und dann erst, als ich um die Ecke bog und den alten breiten Giebel der einstigen Mädchenschule erblickte, ganz wie einst, sogar die blühenden Oleanderbüsche rechts und links von den Eingangsstufen, und das trauliche Schwalbenschwirren über dem Platz, der still im Sonnenschein lag.

Um und um schaute ich. Ich sah in den Flur des Hauses, sah die bekannten Türen der Schulzimmer, hier, wo wir unsere ersten Zeichenkünste übten, — dort, die zweite links, wo ich einst eine Beschämung erlebte, die ich nie vergessen werde: Eine Nebenschülerin hatte mich während des Gebetes vor der Religionsstunde zum Lachen gereizt, einem ganz unsinnigen, nicht zu bändigenden Lachen. Deshalb wurde ich verurteilt, eine Weile vor der Türe zu stehen, bis ich mich ausgelacht hätte. Als ich so, eine Ausgeschlossene, gesenkten Kopfes draußen stand, kam über die Eingangsstufen herauf eine von mir schwärmerisch geliebte Lehrerin, die, wie übrigens fast alle meine Lehrer, auch mir gut war. Sie blieb stehen, einen kurzen Moment nur, sanft vorwurfsvoll: „Da mußt du sein?!" — Ich hätte in den Boden sinken mögen; ich brachte keine Antwort heraus, so schämte ich mich. Es war ein schrecklicher Augenblick— und doch wirkten die wenigen Worte viel mehr als eine lange Strafpredigt. -

„Komm, komm!" mahnte mein Begleiter. „ Du kannst nicht schon bei der ersten Station hängen bleiben."

„Ja" —

Und so ging es weiter, über den Platz vor der Stiftskirche, der mir einst so groß erschien und jetzt, dem Erinnerungsbild gegenüber, viel, viel kleiner. Den Weg da quer hinüber hatte ich manches Mal an der Hand meines Vaters gemacht, wenn er in die Stiftsbibliothek ging, wo er in der berühmten Manuskriptenkammer einst auch mit Viktor Scheffel zusammengetroffen, der hier seine Ekkehardstudien gemacht und später noch wiederholt hingekommen war. — In die schöne Stiftskirche traten wir ein. Das Sonnenlicht flutete durch den wundervollen Raum und beleuchtete so recht all seine Pracht. Die alten Heiligen grüßten mich mit ausgebreiteten Armen von den Deckengemälden herab. Ich kannte sie alle wieder, denn ich hatte sie einstmals oft mit kindlichem Sinnen betrachtet und mir bei diesen lebhaft dargestellten Szenen ganz eigene höfische Vorstellungen vom Himmel gemacht, in denen schöne Brokatgewänder, Gold und Silber eine große Rolle spielten.

Und wieder weiter, dahin, dorthin, durch Gegenden, in denen wir uns kaum mehr zurechtfanden, so verändert waren sie. Es trieb uns weg aus diesen neuen physiognomielosen Vierteln, ins Freie, auf eine Höhe hinaus. Auf den „Freudenberg" wollten wir noch, weil der Abend von goldenster Klarheit war.

Ach — da oben dann, wie schön!

Rings auf den Matten weideten Kühe. Das Geläute der Herdenglocken zog wie eine leise, friedliche Melodie durch die Lüfte, anschwellend und wieder verklingend. Die Säntiskette leuchtete ganz verklärt über die grünen Vorberge, und das Toggenburg mit all seinen Höhen und ruhigen Wellenlinien lag in der Glorie des Sonnenuntergangs. Dem Bodensee zu blaute weites Land, Wälder, Täler, ferne Ortschaften, nur so wie weiße Steinchen blinkend— alles von wahren Seligkeiten des Lichtes, der Farben durchtränkt.

Hier oben feierten wir eigentlich erst recht das Wiedersehen. Über die Stadt mit ihren neuen fremden Straßen und Quartieren sahen wir hinweg nach dem, was die Menschen gottlob nicht ändern können. Da erkannten wir die Stätten, die Fluren unserer Kindheit wieder, und es schaute uns etwas daraus entgegen, so hell, wie unsere Seelen damals gewesen, traumhaft entrückt und doch heimatlich, wie aus Märchentiefen:-- es war einmal! --

„Prost! Auch die Gegenwart soll leben!"

Wir stießen an mit glänzenden Augen.

Wir waren allein, die einzigen Gäste im Bergwirtshaus. Gar nichts störte uns. Was zog da nicht alles herauf! Wir kamen ins Plaudern, in so ein eigenes, trauliches Plaudern, wie man es nur in den besten Stunden genießt. Und dabei ließen wir wieder und wieder einmal die Gläser aneinanderklingen — nicht laut, o nein! Leise, sinnend, im Andenken an Lebende und Tote, an Schönes, Frohes und Wehmütiges — stillbewegt, glücklich.

Wir merkten nicht, wie lange wir so saßen. Das verglimmende Abendrot sagte es uns erst. In der Stadt unten fing es an, den Sonntag einzuläuten auf allen Türmen.

Wir lauschten schweigend, bis es verklungen war. Aber horch, nun ließ sich nachträglich noch allein ein helles Glöckchen hören. Das war im Kloster Notkersegg. Dort drüben lag es, von seinen weißen Mauern umzogen, rings eingebettet in Wiese, Wald und süße Stille.

Auch eine Erinnerung! Dorthin waren wir oft gekommen. Es war ein Lieblingsspaziergang unseres Vaters gewesen, durch die Obstbaumallee und die Wiesen dem Freudenbergwalde zu. Dann durften wir im Vorbeiweg im Kloster Nonnenkräpfli holen. Es ging eine steile, gedeckte Stiege außen hinauf, und dann zog man in einem dämmerigen Vorraum an einem hölzernen Kreuz die Glocke. Diese Glocke hatte eine nüchterne, klanglose Stimme. Und dann lauschten wir atemlos auf die geheimnisvollen Schritte, auf ein kaum hörbares, gespenstisches Gewänderwehen, das sich da hinter einem runden, dichtvergitterten Ding näherte, welches sich alsdann drehte.

„Was wend Sie?" fragte es gedämpft durch das Gitter.

„Drei Nonnechröpfli"

Da mußten wir das Geld zuerst hineinlegen. Dann drehte sich das Ding, und nach einem Weilchen drehte es sich wieder, um uns das Nonnengebäck herauszugeben, das uns damals sehr gut vorkam.

"Laß uns über Notkersegg hinuntergehen!" bat ich jetzt.

Wir brachen auf und gingen durch dm Wald hinab, die Obstbaumallee entlang, dem Klösterlein zu. Es war schon dämmerig, mehr Silhouetten als Farben noch zu sehen, — eine wunderbare Stimmung in der Landschaft, helldunkel, hochsommerlich.

Noch einmal fing das Glöckchen an zu bimmeln, wahrscheinlich zu einer späten Andacht, denn im Kloster wird die „ewige Anbetung" gepflogen.

Wie mochte sie aussehen, die da im Schleier das Glockenseil zog? — Und wie viele mochten daran gezogen haben, seit wir als Kinder hier gewesen waren? Wie viele werden fortan denselben Glockenstrang ziehen „vor dem Morgmrot und wenn der Abendstern aufgeht?" Eine nach der anderen, — eine nach der anderen, immer so fort durch die Zeiten, ohne daß die Außenwelt etwas davon weiß. -

Ich ging die steile gedeckte Stiege hinauf und griff nach dem hölzernen Kreuz, um zu läuten. Es war gewiß noch dasselbe, ganz abgegriffen, wie poliert von allen den Händen, die es schon umfaßt.

„Was wend Sie?"

„Drei Nonnechröpfli."

Schlürfende Schritte in der tiefen Stille. Das war eine Alte, mit matter, schon ganz abgebeteter Stimme. Alles wie einst!

Das Gitterlein drehte sich nach einer Weile, und ich hatte meinen Schmaus.

Die kleinen zähen Dinger mochten auch schon ehrwürdig alt sein. Aber sie dufteten genau wie damals, nach Weihrauch und allerlei Gewürzen und verschlossenen Schränken. Und das war die Hauptsache, war die Seele.

Langsam gingen wir dann von der Höhe der Stadt zu, während am Himmel die ersten Sterne blinzelten.

Das alles war wie ein Traum gewesen, der nun verflog, da wir wieder an die Häuser kamen. Ein süßer und doch herzpressender Traum — als wären wir in einem alten, wohlbekannten Garten gegangen, wo die Pfade, die wir suchten, längst übersponnen sind von neuem Wachstum.